Heine und Byron: Poetik eingreifender Kunst am Beginn der Moderne 3110278758, 9783110278750, 9783110283822

Die komparatistische Untersuchung verortet zentrale Texte von Heine und Byron poetologisch und epochengeschichtlich zwis

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German Pages 478 [488] Year 2017

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung — Poetik eingreifender Kunst am Beginn der Moderne: Heine und Byron
I. 1815—1848: Eine europäische Übergangsepoche im Zeichen von Modernität
1. Die literaturwissenschaftliche Diskussion einer Übergangsepoche
2. >Übergänge< im Selbstbewußtsein der Epoche
2.1. Übergänge (I): Zeitbewußtsein um 1800. Die Französische Revolution und das Zerbrechen des Kontinuums von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
2.2. Übergänge (II): Die Kategorie der Gegenwart und die deutsche ästhetische Debatte um 1800 vor dem Hintergrund der französischen Querelle des Anciens et des Modernes
2.3. Übergänge (III): Inszenierung von Epochenschwellen — Gegenwart und Modernität
3. Poetik des >ÜbergangsÜbergangsExil-Poetik< und die Konzepte des Lebens und der Gegenwart
3.4. Heines Forderung einer Literatur der Gegenwart
II. Das literarische Feld 1815-1830: Heines Byron-Rezeption und der öffentliche Diskurs
1. Zur komparatistischen Methode: genetischer und typologischer Vergleich
2. Heines Byronrezeption und der europäische Byron-Diskurs
2.1. »Heine und...« — der heuristische Wert komparativer Forschungsansätze
2.2. Europäischer Byronismus
2.3. Heines Byron-Rezeption: Positionen der Forschung
2.4. Anxiety of Influence? Selbstinszenierung und Publikumslenkung
2.5. Das literarische Feld (Pierre Bourdieu)
2.6. Die exoterisch-esoterische Doppelcodierung der Erzählstimme: Heines Reisebild Die Nordsee III zwischen Revolution und Restauration
2.6.1. Heines Auseinandersetzung mit Schiller und Goethe in Die Nordsee III
2.6.2. Heines Auseinandersetzung mit Byron und Scott in Die Nordsee III
2.6.3. Neue Xenien: Heines Kooperation mit Immermann und der Aspekt der Gegenwart in Die Nordsee III . .
2.7. Intertextualität zwischen Polemik und verstecktem Dialog — Weltschmerz, Sensualismus und politische Emanzipation. . .
2.8. Intertextualität und die moralische Heuchelei in der deutschen literarischen Öffentlichkeit
III. Skandal und Öffentlichkeit: Byrons The Vision of Judgment und Heines Die Bäder von Lukka
1. >Skandalöse< Kunst
2. Byrons The Vision of Judgment: Cant und Skandal
2.1. Cant und die >öffentliche Meinung< der Restauration: England und Italien
2.2. The Vision of Judgment als Replik auf A Vision of Judgement
2.3. Das Sublime und das Soziale
2.4. Die ironische Destruktion des Sublimen
2.5. Literatur als Provokation
3. Heines Die Bäder von Lukka als Skandalschrift
3.1. Kunst und Öffentlichkeit (I): Salonkultur
3.2. Kunst und Öffentlichkeit (II): Die Oper und der Tanz
3.3. Der Naturbegriff und die Kritik am Unzeitgemäßen und Leblosen
3.4. Skandal als Herstellung von Öffentlichkeit: Platen >aufs Tapet< gebracht
3.5. Transgression in die Wirklichkeit: Der >tanzende< Text
4. Resümee
IV. Melancholie und eingreifende Kunst in den Schwellennarrativen Childe Harold IV und Reise von München nach Genua
1. Melancholische Autorinszenierung: Heines intermediales Bildzitat von Byrons >Westall-PorträtRuinologie< in Childe Harold IV und in Reise von München nach Genua
4. Byrons Childe Harold IV (1818): Melancholische Klage und politischer Aufbruch am Beginn der Restauration
4.1. Vanitas und Geschichtsphilosophie
4.2. Imagination, Kunst und Wirklichkeit
4.3. Freiheit im Gesang - Eingreifende Kunst
4.4. Das Leiden an der Zeitlichkeit: organische Konzepte der Erneuerung
4.5. »And I have loved thee, Ocean!« — Rousseauistische Natureinheit als Lösung?
4.6. Heilung der Melancholie: Narrative Identitätskonstitution und Akzeptanz der Zeitlichkeit
4.7. Zirkularität und Linearität: Echo, Kette, Meer
5. Heines Reise von München nach Genua (1828): Elegische Klage und politischer Aufbruch vor der Juli-Revolution
5.1. Krise und Pilgerschaft
5.2. Melancholie und Zeitlichkeit
5.2.1. Der erhabene Baum der Alpen als destruierte Metapher des Ewigen
5.2.2. Zeitlichkeit und Erinnerung — die leitmotivische Figur der Maria
5.2.3. Idylle und Labyrinth: Aufhebung der Zeit im Augen-Blick der Spinnerin
5.2.4. Lineare und zyklische Theorien des Geschichtsverlaufs in Heines Reise von München nach Genua
5.3. Performanz, Kunst und Politik — die Reise von München nach Genua und die zeitgenössische Gegenwart
5.3.1. Selbstreflexivität und Intermedialität
5.3.2. Öffentlichkeit und Performativität der Kunst in Italien
5.3.3. Eingreifende Kunst und die zeitgenössische Oper
5.3.4. Kritik an den >deutschen Zuständen
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Heine und Byron: Poetik eingreifender Kunst am Beginn der Moderne
 3110278758, 9783110278750, 9783110283822

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HER MAEA GER MANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HER AUSGEGEBEN VON CHR ISTINE LUBKOLL UND STEPH AN MÜLLER

BAND 126

A LEX A NDR A BÖHM

Heine und Byron Poetik eingreifender Kunst am Beginn der Moderne

De Gruyter

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Zugl.: Universität Erlangen-Nürnberg, Diss., 2010

ISBN 978-3-11-027875-0 e-ISBN 978-3-11-028382-2 ISSN 0440-7164

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort

Die vorliegende Studie ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Juni 2010 an der Philosophischen Fakultät der Universität ErlangenNürnberg eingereicht habe. Sie wurde gefördert vom Hochschul- und Wissenschaftsprogramm für Frauen der Universität Erlangen-Nürnberg und vom Graduiertenkolleg »Klassizismus und Romantik im europäischen Kontext. Die ästhetische Erfindung der Moderne in Literatur, bildender Kunst und Alltagskultur« der Universität Gießen. Bedanken möchte ich mich bei den Sprechern Prof. Dr. Günter Oesterle und Prof. Dr. Ansgar Nünning für die produktiven Gespräche und Anregungen, die ich im Rahmen des Graduiertenkollegs für meine Arbeit erfahren habe. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften danke ich für die großzügige Förderung der Drucklegung. Mein großer Dank für die Betreuung der Arbeit gilt meiner Doktormutter Prof. Dr. Christine Lubkoll, der ich für die Aufnahme der Dissertation in die Reihe Hermaea sehr verbunden bin, sowie Prof. Dr. em. Jürgen Lehmann, dessen Oberseminar die Entstehung der Dissertation mit konstruktiven Diskussionen begleitet hat. Besonders bedanke ich mich bei Prof. Dr. Christoph Bode (Universität München), der neben seinen vielfältigen Forschungsprojekten die Zeit aufgebracht hat, ein engagiertes und anregendes Zweitgutachten zu erstellen. Das Projekt hatte viele Helfer, denen ich für die persönliche Unterstützung und praktische Mitwirkung herzlich danken möchte: Prof. Dr. Antje Kley, Dr. Kathrin Schödel, Theresia Ritter und Susanne Kollmann. Mark Schönleben schließlich hat mir die Arbeit durch seine Geduld, Einsicht und Anerkennung erst ermöglicht. Ihm gilt mein ganzer Dank. Erlangen, im September 2012

Alexandra Böhm

V

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung – Poetik eingreifender Kunst am Beginn der Moderne: Heine und Byron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

I.

1815–1848: Eine europäische Übergangsepoche im Zeichen von Modernität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die literaturwissenschaftliche Diskussion einer Übergangsepoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. ›Übergänge‹ im Selbstbewußtsein der Epoche . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Übergänge (I): Zeitbewußtsein um 1800. Die Französische Revolution und das Zerbrechen des Kontinuums von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft . . . . . . . . . . . . 2.2. Übergänge (II): Die Kategorie der Gegenwart und die deutsche ästhetische Debatte um 1800 vor dem Hintergrund der französischen Querelle des Anciens et des Modernes . . . . . 2.3. Übergänge (III): Inszenierung von Epochenschwellen – Gegenwart und Modernität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Poetik des ›Übergangs‹: Postromantische Neuakzentuierungen in Texten von Byron und Heine (1815–1830) . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Byron und Heine als Autoren des ›Übergangs‹ . . . . . . . . . . . 3.2. Revisionen romantischer Ironie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Byrons ›Exil-Poetik‹ und die Konzepte des Lebens und der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Heines Forderung einer Literatur der Gegenwart . . . . . . . . .

II. Das literarische Feld 1815–1830: Heines Byron-Rezeption und der öffentliche Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur komparatistischen Methode: genetischer und typologischer Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Heines Byronrezeption und der europäische Byron-Diskurs. . . . . 2.1. »Heine und...« – der heuristische Wert komparativer Forschungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

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32 41 53 53 57 73 81

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2.2. Europäischer Byronismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2.3. Heines Byron-Rezeption: Positionen der Forschung . . . . . . . 95 2.4. Anxiety of Influence? Selbstinszenierung und Publikumslenkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2.5. Das literarische Feld (Pierre Bourdieu) . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2.6. Die exoterisch-esoterische Doppelcodierung der Erzählstimme: Heines Reisebild Die Nordsee III zwischen Revolution und Restauration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 2.6.1. Heines Auseinandersetzung mit Schiller und Goethe in Die Nordsee III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 2.6.2. Heines Auseinandersetzung mit Byron und Scott in Die Nordsee III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2.6.3. Neue Xenien: Heines Kooperation mit Immermann und der Aspekt der Gegenwart in Die Nordsee III . . 135 2.7. Intertextualität zwischen Polemik und verstecktem Dialog – Weltschmerz, Sensualismus und politische Emanzipation. . . 148 2.8. Intertextualität und die moralische Heuchelei in der deutschen literarischen Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

III. Skandal und Öffentlichkeit: Byrons The Vision of Judgment und Heines Die Bäder von Lukka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. ›Skandalöse‹ Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Byrons The Vision of Judgment: Cant und Skandal . . . . . . . . . . . . 2.1. Cant und die ›öffentliche Meinung‹ der Restauration: England und Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. The Vision of Judgment als Replik auf A Vision of Judgement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Das Sublime und das Soziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Die ironische Destruktion des Sublimen . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Literatur als Provokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Heines Die Bäder von Lukka als Skandalschrift . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Kunst und Öffentlichkeit (I): Salonkultur . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Kunst und Öffentlichkeit (II): Die Oper und der Tanz . . . . 3.3. Der Naturbegriff und die Kritik am Unzeitgemäßen und Leblosen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Skandal als Herstellung von Öffentlichkeit: Platen ›aufs Tapet‹ gebracht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Transgression in die Wirklichkeit: Der ›tanzende‹ Text . . . . 4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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183 183 189 189 199 202 207 222 225 227 234 242 250 258 264

IV. Melancholie und eingreifende Kunst in den Schwellennarrativen Childe Harold IV und Reise von München nach Genua . . . . . . . . . . . 1. Melancholische Autorinszenierung: Heines intermediales Bildzitat von Byrons ›Westall-Porträt‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. »Bin ich doch selbst eine Ruine, die unter Ruinen wandelt«: Melancholie in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. ›Ruinologie‹ in Childe Harold IV und in Reise von München nach Genua . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Byrons Childe Harold IV (1818): Melancholische Klage und politischer Aufbruch am Beginn der Restauration . . . . . . . . . . . . 4.1. Vanitas und Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Imagination, Kunst und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Freiheit im Gesang – Eingreifende Kunst . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Das Leiden an der Zeitlichkeit: organische Konzepte der Erneuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5. »And I have loved thee, Ocean!« – Rousseauistische Natureinheit als Lösung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6. Heilung der Melancholie: Narrative Identitätskonstitution und Akzeptanz der Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7. Zirkularität und Linearität: Echo, Kette, Meer . . . . . . . . . . . 5. Heines Reise von München nach Genua (1828): Elegische Klage und politischer Aufbruch vor der Juli-Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Krise und Pilgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Melancholie und Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1. Der erhabene Baum der Alpen als destruierte Metapher des Ewigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2. Zeitlichkeit und Erinnerung – die leitmotivische Figur der Maria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3. Idylle und Labyrinth: Aufhebung der Zeit im Augen-Blick der Spinnerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4. Lineare und zyklische Theorien des Geschichtsverlaufs in Heines Reise von München nach Genua . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Performanz, Kunst und Politik – die Reise von München nach Genua und die zeitgenössische Gegenwart . . . . . . . . . . 5.3.1. Selbstreflexivität und Intermedialität . . . . . . . . . . . . . 5.3.2. Öffentlichkeit und Performativität der Kunst in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3. Eingreifende Kunst und die zeitgenössische Oper . . . 5.3.4. Kritik an den ›deutschen Zuständen‹: Nationalismus und fehlende Öffentlichkeit . . . . . . . .

269 271 278 282 285 287 291 297 300 304 310 313

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IX

5.3.5. Italiens Kunst der Gegenwart und seine Kultur der geschichtlichen Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.6. In der Gemäldegalerie: Die Malerei, der Künstler und die Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.7. Ein doppeltes Déjà-vu: Die Porträts des Künstlers und seiner Geliebten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Narrative Identität und postromantische Autorschaft: Überschreitungen zwischen Kunst und Leben in Heines Reise von München nach Genua und in Byrons Childe Harold IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

397 406 418

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Resümee und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Siglen und Kurztitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

439 439 439 443

Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465

X

Für Mark, Jakob und meine Eltern

Einleitung – Poetik eingreifender Kunst am Beginn der Moderne: Heine und Byron

»Ich konnte als Repräsentanten der neuesten poetischen Zeit […] niemanden gebrauchen als ihn, der ohne Frage als das größte Talent des Jahrhunderts anzusehen ist. Und dann, Byron ist nicht antik und ist nicht romantisch, sondern er ist wie der gegenwärtige Tag selbst.«1 Auf den Aspekt des Gegenwärtigen, den Johann Wolfgang von Goethe hier betont, bezieht sich auch Percy Bysshe Shelley, wenn er über die Bedeutung von Byrons Versepos Don Juan am 8. August 1821 an seine Frau Mary Shelley schreibt: »It fulfills in a certain degree what I have long preached of producing something wholly new and relative to the age—and yet surpassingly beautiful.«2 Die Bemerkung Goethes zu Johann Peter Eckermann über die Bedeutung Byrons als Euphorion in Faust II und Shelleys Kommentar über das gänzlich Neue und Zeitgemäße von Don Juan führen ins Zentrum des Problemhorizonts, dem sich diese Arbeit widmet. Eine der zentralen Ausgangsbeobachtungen der Untersuchung ist die schwierige literaturgeschichtliche Einordnung sowohl von Byron als auch von Heine, die in der jeweiligen Nationalliteraturwissenschaft aus oft ähnlichen Gründen umstritten ist. Während auf Byrons Texte jedoch immer wieder neue Kriterien angewendet werden, um sein Werk in den Kanon der Romantik zu integrieren, ist Heines literaturgeschichtliche Positionierung zwischen Romantik und Vormärz davon abhängig, ob der romantisch-zerrissene oder der politische Zeitschriftsteller im Vordergrund steht. An diese Zuordnungsschwierigkeiten schließt sich die Frage an, inwiefern sich diejenigen Aspekte der Poetik beider Autoren, die ihre ambivalente Positionierung als Romantiker ausmachen, miteinander vergleichen lassen. In bezug auf Byron ist die Frage nach der Zuordnung zu einer bestimmten Epoche ebenso charakteristisch wie in bezug auf Heine – Goethe beantwortet sie für ersteren mit dem Hinweis auf die Gegenwart.3 Die Bedeutung der Kategorie ›Gegenwart‹ in politischer, ästhetischer und kultureller Hinsicht für Heines und Byrons Texte wird im Hinblick auf die mikroepochengeschichtlichen Konzepte Klassizismus und Romantik sowie den Langzeitzusammenhang der Makroepoche Moderne Gegenstand dieser Untersuchung sein. 1 2 3

Goethe, J. P. Eckermanns Gespräche mit Goethe, MA 19, S. 231. The Letters of Percy Bysshe Shelley Bd. II: Shelley in Italy. Hrsg. von Frederick Lafayette Jones. Oxford 1964, S. 323 (meine Hervorhebungen, A.B.). Mit der Epochenfrage beschäftigen sich in bezug auf Byron u. a. die Beiträge des Sammelbands von Andrew Rutherford (Hrsg.), Byron: Augustan and Romantic. London 1990.

1

Die Arbeit widmet sich drei zentralen Aspekten, die im folgenden einführend kurz dargestellt werden sollen: erstens der Analyse und Neubewertung von Heines Byron-Rezeption, zweitens der Epochenproblematik des literarischen Feldes, in dem beide Autoren agieren, und drittens der Frage nach einer Poetik eingreifender Kunst bei Byron und Heine. (1) Ein Blick auf die wissenschaftliche Forschung zu Heines Byron-Rezeption zeigt ein überraschendes Bild. Heines Beziehung zu Byron, zuletzt 1903 bei Felix Melchior und 1905 bei Wilhelm Ochsenbein Gegenstand umfangreicher positivistischer Monographien, wurde vor allem – der Forschungsmethode der Zeit entsprechend – unter dem Postulat des ›Einflusses‹ des englischen Dichters auf den deutschen betrachtet. Die bereits seit dem 19. Jahrhundert kontrovers diskutierte Bedeutung Byrons für Heines Werk wird auch in den Studien von Melchior und Ochsenbein entweder als geringfügig oder als grundlegend bewertet.4 Bis hin zu kürzeren Forschungsbeiträgen der letzten Jahrzehnte herrscht allerdings weitgehend der Konsens, die Rezeption auf das von der zeitgenössischen Mode des Weltschmerzes geprägte Frühwerk sowohl von Heine als auch von Byron zu beschränken.5 So spricht zuletzt Ralph Häfner in seiner Untersuchung zu Heine von 2006 zwar davon, »daß Byrons Poetik auf ihn [Heine, A.B.], von seinen literarischen Anfängen bis zu den Dichtungen der spätesten Zeit, eine bestimmende Wirkung ausgeübt hat«.6 Trotz dieser Beobachtung und eines kurzen Kapitels zu Byrons Don Juan berücksichtigt die Studie, die Heines Werke vor allem im Prisma zeitgenössischer französischer Schriftsteller und Künstler betrachtet, jedoch wie schon frühere Untersuchungen, die auf Heines Byron-Rezeption eingehen, vornehmlich Heines frühe Texte wie sein Drama Almansor und seine Byron-Übersetzungen, die im Kontext des Weltschmerzes stehen. Für diese einseitige Fokussierung lassen sich vor allem zwei Gründe ausmachen. Zum einen kann hier die Beschränkung auf den Aspekt der Zerrissenheit als Vergleichskriterium genannt werden, das sich seit den frühesten Rezensionen beharrlich tradiert und das mit der im deutschsprachigen Raum vorherrschenden Wahrnehmung von Byron als Weltschmerzdichter zusammenhängt. Zum anderen haben Heines eigene Stellungnahmen zu Byron die Einschätzung seiner Rezeption entscheidend gelenkt. Während Heine im Kontext seiner frühen literarischen Produktionen die Verbindung mit Byron emphatisch begrüßte, lehnte er, nachdem er sich mit seinen Reisebildern in der Öffentlichkeit als erfolgreicher Autor etabliert hatte, den Vergleich mit Byron ab. Die Bezeichnung als ›deutscher 4

5 6

Vgl. Felix Melchior, Heinrich Heines Verhältnis zu Lord Byron. Berlin 1903 und Wilhelm Ochsenbein, Die Aufnahme Lord Byrons in Deutschland und sein Einfluss auf den jungen Heine. Bern 1905. Vgl. dazu ausführlich Kap. II. 2.3. Ralph Häfner, Die Weisheit des Silen. Heinrich Heine und die Kritik des Lebens. Berlin, New York 2006, S. 338.

2

Byron‹ wirkte sich zunehmend negativ für ihn aus, indem sie keine originäre Identität als Schriftsteller begründete, sondern eine derivative. Öffentlich polemisierte Heine gegen Byron 1826 in dem Reisebild Die Nordsee III, das von der Forschung als zentrales Indiz seiner endgültigen Abkehr von Byron und vom ›Byronismus‹ gewertet wird. Der Zeitpunkt der letzten monographischen Publikationen zu Heines Byron-Rezeption von Melchior und Ochsenbein verweist auf eine prinzipielle Verschiebung des dominierenden Forschungs- und Publikumsinteresses. Galt Byron in der deutschen Öffentlichkeit 1904 noch als »der größte englische Dichter des 19. Jahrhunderts«,7 verebbte die Manie für den englischen Lord nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zusehends.8 Byron hat seitdem für das deutschsprachige literarische Publikum seine ehemalige Bedeutung nicht wiedererlangt. Im Zuge der kulturwissenschaftlichen Erweiterung des Kanons der Romantik, der sich lange Zeit auf die Big Six – William Wordsworth, Samuel Taylor Coleridge, William Blake, John Keats, Percy Bysshe Shelley und Byron – konzentrierte, nehmen Byrons Texte selbst in der englischsprachigen Forschung gegenwärtig keine vergleichbare beherrschende Rolle wie im 19. Jahrhundert mehr ein. Aktuelle Untersuchungen zu Byron beziehen ihre Gegenstände vor allem aus kulturwissenschaftlichen Perspektiven9 wie den Performanz- und Theatralitätstheorien,10 den gender und queer studies, die die Sexualität des Autors fokussieren11 oder die sich auf spezifisch weibliche Themen und Schreibweisen konzentrieren.12 Daneben werden Byrons Texte auch

7 8 9

10

11 12

Meyers Großes Konversations-Lexikon, s.v. »Byron«. 6. Aufl. Leipzig, Wien 1904–1908, Bd. 3, S. 670–672, hier S. 670. Das dokumentiert etwa die Untersuchung zu deutschen Byron-Biographien von Georg Tannheimer, Die deutschen Byrons. Biographien. Hamburg 2001. Einen der ersten Versuche, Byrons Texte mit aktuellen Theorien zu analysieren, stellt der Sammelband zu Don Juan aus der Theory in Practice Series von 1993 dar (Nigel Wood (Hrsg.), Don Juan. Buckingham 1993); vgl. auch die von Jane Stabler herausgegebene Aufsatzsammlung Palgrave Advances in Byron Studies. Basingstoke, New York 2007, die das breite Spektrum unterschiedlicher kulturwissenschaftlicher Ansätze dokumentiert, mit denen Byron und seine Texte aktuell analysiert werden. So etwa Michael Simpson, Closet Performances: Political Exhibition and Prohibition in the Dramas of Byron and Shelley. Stanford 1988 und Nicole Frey-Büchel, Perpetual Performance. Selfhood and Representation in Byron’s Writing. Tübingen 2007. Vgl. Eric Clarke, Virtuous Vice: Homoeroticism and the Public Sphere. Durham/NC 2000 sowie Jonathan Gross, Byron: The Erotic Liberal. Lanham u.a. 2001. Vgl. dazu die Aufsätze von Susan Wolfson, »›Their She Condition‹: Cross-Dressing and the Politics of Gender in Don Juan«. In: English Literary History 54 (1987), S. 585–617 und Jerome J. McGann, »›My Brain is Feminine‹: Byron and the Poetry of Deception«. In: Rutherford (Hrsg.), Byron: Augustan and Romantic, S. 26–51, sowie die Monographien von Caroline Franklin zu Byron’s Heroines. Oxford 1992 und Jane Stabler, Byron, Poetics and History. Cambridge u.a. 2002, die Byrons Poetik der Digression unter Aspekten des gender liest.

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hinsichtlich der literarischen Produktionsbedingungen in Regency England13 oder im Kontext kolonialer Fragestellungen um 1800 diskutiert.14 Angesichts dieser Forschungslage stellt sich die Frage nach dem methodischen Standort und den Zielen der vorliegenden Untersuchung von Heine und Byron. Bei der komparatistischen Analyse unterscheidet die Arbeit zwei verschiedene methodische Herangehensweisen, die in Anlehnung an die Differenzierung des russischen Literaturwissenschaftlers Viktor Žirmunskij als historisch-genetischer und als historisch-typologischer Vergleich bezeichnet werden: So dominiert in dem Teil, der sich mit Heines Byron-Rezeption auseinandersetzt der historisch-genetische Vergleich, während der Teil, der die Poetik der beiden Autoren vergleicht, typologisch orientiert ist. Die hermeneutische Praxis zeigt jedoch auch, daß die beiden Varianten des Vergleichs nicht strikt voneinander getrennt werden können. Anstelle von positivistischen Einflußtheorien erweisen sich neuere, kulturtheoretische Ansätze der Literaturwissenschaft für die Analyse von Heines Byron-Rezeption als gewinnbringend. Mit Rekurs auf Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Feldes, die soziale, ökonomische und kulturelle Faktoren berücksichtigt, können Heines Stellungnahmen zu Byron als Selbstinszenierung gelesen werden. Sie sind Teil einer bewußten Marktstrategie, die sowohl auf den ökonomischen Erfolg als auch auf literarische Anerkennung abzielt. Originalität ist für Bourdieu ein zentrales Kriterium, mit dem sich ›Neulinge‹ Anerkennung im literarischen Feld verschaffen können. Da also die Kundgebung von Differenz wesentlich die Existenz und den Erfolg eines Autors beeinflußt, mußte sich Heine aus dem Vergleich mit Byron lösen, um sich einen eigenen Namen machen zu können – um also nicht mehr der ›deutsche Byron‹, sondern um ›Heinrich Heine‹ zu sein. Heines Stellungnahmen zu Byron werden deswegen unter Berücksichtigung von ökonomischen Faktoren und im Hinblick auf den ›Byron-Diskurs‹ des 19. Jahrhunderts15 analysiert, um ihre Komplexität zu erfassen. Die umfang13

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Der literarische Markt und seine Bedeutung für Autor und Öffentlichkeit sind Gegenstand zahlreicher neuerer Studien. Hier sei nur verwiesen auf Philip W. Martin, Byron: A Poet Before His Public. Cambridge 1982, Jerome Christensen, Lord Byron’s Strength. Romantic Writing and Commercial Society. Baltimore, London 1993, Caroline Franklin, Byron: A Literary Life. Basingstoke 2000, Tom Mole, Byron’s Romantic Celebrity: Industrial Culture and the Hermeneutic of Intimacy. Basingstoke u.a. 2007. Die Ursachen von Byrons literarischem Erfolg und die sozio-ökonomischen Bedingungen der Literaturproduktion untersucht bereits Thilo von Bremen, Lord Byron als Erfolgsautor. Leser und Literaturmarkt im frühen 19. Jahrhundert. Wiesbaden 1977. Sowohl Nigel Leask als auch Saree Makdisi widmen in ihren postkolonialen Arbeiten zu britischen Autoren der Romantik Byrons ›orientalischen‹ Texten umfangreiche Kapitel (vgl. Leask, British Romantic Writers and the East. Anxieties of Empire. Cambridge 1992, S. 13–67 und Makdisi, Romantic Imperialism: Universal Empire and the Culture of Modernity. Cambridge 1998, S. 122–153). In einem der einschlägigen Handbücher zur englischen Romantik nennt Christoph Bode in einer Übersicht zur europäischen Dimension der Romantik neben Jean Jacques Rousseau und Johann Wolfgang von Goethe Byron als einen der Autoren, deren Einfluß nationale, kultu-

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reichen intertextuellen Bezüge zu Byron in Heines Texten zeigen, daß Byron gerade als Autor der Gegenwart – ein Charakteristikum, auf das, wie oben genannt, schon Goethe und Shelley hinwiesen – zur Orientierung gegen den deutschen klassizistisch-romantischen Diskurs der Kunstperiode diente. Methodisch partizipiert die Arbeit so zum einen an neueren kulturhistorischen Lesarten der Zeit um 1800, die im Kontext kulturwissenschaftlicher Theorien in den letzten beiden Jahrzehnten erstarkten. Zum anderen knüpft sie thematisch an Fragestellungen an, die bereits in der Literaturwissenschaft der 1970er Jahre virulent waren. Spätestens seit 1960 rückten Forscher wie Elizabeth Boyd, Andrew Rutherford, Michael G. Cooke und George M. Ridenour Byrons politisch-satirische Texte in den Fokus literaturwissenschaftlicher Untersuchungen.16 In der Folge wurden Byrons späte ottava rima-Gedichte Beppo, Don Juan und The Vision of Judgment nicht nur unter stilistischen Aspekten, sondern auch unter einem politisch-kulturellen Paradigma betrachtet.17 Die politische Wende in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft Ende der 1960er Jahre veränderte in ähnlicher Weise das Verständnis von Heines Texten. Galt das Interesse der Forschung und der literarischen Öffentlichkeit bis dahin vorwiegend dem romantischen Weltschmerzdichter, was sich etwa in der Vorliebe für die Gedichte aus dem Zyklus Buch der Lieder ausdrückte, stand nun der ›politische Heine‹ im Zentrum des Interesses.18 Dabei ist gerade auch aus sozialhistorischer Perspektive das Verhältnis von Ästhetik und Politik in Heines Texten umfangreich herausgearbeitet worden.19

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relle und sprachliche Grenzen überschreitet – »who created a truly international European literature« (Christoph Bode, »Europe«. In: Nicholas Roe (Hrsg.), Romanticism. Oxford 2005, S. 126–136, hier S. 127). Insofern läßt sich von einem europäischen Byron-Diskurs sprechen. Vgl. Elizabeth Boyd, Byron’s »Don Juan«. London 1958, Andrew Rutherford, Byron. A Critical Study. Edinburgh, London 1961, George M. Ridenour, The Style of »Don Juan«. New Haven 1960, Michael G. Cooke, The Blind Man Traces the Circle. On the Patterns and Philosophy of Byron’s Poetry. Princeton/New Jersey 1969; sowie speziell zu Byrons Satire: Alvin Kernan, The Cankered Muse. New Haven 1959 und Kernan, The Plot of Satire. New Haven 1965. Siehe etwa das Kapitel zu Byron in Carl Woodrings Studie Politics in English Romantic Poetry. Cambridge/Massachusetts 1970, S. 148–229. Vgl. Manfred Windfuhr, Heinrich Heine. Revolution und Reflexion. Stuttgart 1969, Dolf Sternberger, Heinrich Heine und die Abschaffung der Sünde. Hamburg, Düsseldorf 1972 sowie zur gleichen Zeit in der DDR: Heinrich Heine. Streitbarer Humanist und volksverbundener Dichter. Hrsg. von Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Leipzig 1973. Aus der Vielzahl von Untersuchungen, die sich mit der Fage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik bei Heine beschäftigen, sei hier vor allem auf folgende verwiesen: Willfried Maier, Leben, Tat und Reflexion. Untersuchungen zu Heinrich Heines Ästhetik. Bonn 1969, Albrecht Betz, Ästhetik und Politik. Heinrich Heines Prosa. München 1971, Günter Oesterle, Integration und Konflikt. Die Prosa Heinrich Heines im Kontext oppositioneller Literatur der Restaurationsepoche. Stuttgart 1972, Wolfgang Kuttenkeuler, Heinrich Heine. Artistik und Engagement. Stuttgart 1977. Auch die umfassende Studie von Sabine Bierwirth untersucht

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An die Fragestellung des Verhältnisses von Ästhetik und Politik schließt die vorliegende Arbeit an, wenn sie die Entwicklung einer Poetik ›eingreifender‹ Kunst in Heines und Byrons Texten in der literaturhistorischen Übergangsphase zwischen 1815 und 1830 verfolgt, einem in historisch-politischer Hinsicht besonders markanten Zeitraum, der von den Eckdaten des Beginns der Restauration in Europa und der französischen Juli-Revolution geprägt ist. Die komparative Analyse der Texte wählt dabei als Fokus nicht das bislang in der Forschung dominierende tertium comparationis des Weltschmerzes, sondern die transgressive Schreibweise von Byron und Heine, die eng mit einer Poetik eingreifender Kunst bei beiden Autoren verbunden ist. (2) Einen weiteren Schwerpunkt der Untersuchung stellt die Epochenproblematik dar. Die epochengeschichtliche Schwellenposition von Byron und Heine ist mit unterschiedlicher Akzentuierung in der Forschung vielfach diskutiert worden. Besonders im Hinblick auf Heine herrscht weitgehend Einigkeit, daß seine literarischen Verfahren der Romantik verpflichtet seien, während er sich politisch-intellektuell von ihr distanziere.20 Die Frage nach der Epochenzuschreibung wird in dieser Arbeit im Kontext des Modernisierungstheorems aus kulturhistorischer Perspektive erneut gestellt. Um das Verhältnis der beiden Autoren zur Romantik genauer zu bestimmen, wird auf einen Modernebegriff rekurriert, der die von Reinhart Koselleck als Sattelzeit bezeichnete Periode von ca. 1750–1850 umspannt. Unter dem Eindruck der Ereignisse der Französischen Revolution löst sich am Ende des 18. Jahrhunderts das Traditionskontinuum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zunehmend auf. Es entwickelte sich ein neues Zeitbewußtsein, das von der Erfahrung der Beschleunigung und des Wandels geprägt war und sich bei den Zeitgenossen als Eindruck niederschlug, in einer Zeit des Übergangs zu leben. Die Gegenwart steigt dabei zunehmend zu einer eigenen Kategorie auf. Durch die umfangreiche Darstellung einer für den Beginn der Moderne zentralen Problemkonstellation im ersten Teil der Arbeit sollen im Hinblick auf die literaturgeschichtliche Verortung von Byron und Heine sowohl die Kontinuitäten als auch die Differenzen innerhalb des längeren Zusammenhangs der Moderne sichtbar gemacht werden – und zwar jenseits von etablierten Epochenzuordnungen. Ihre Texte, die die massiven Umwälzungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dokumentieren, stehen mit Aufklärung, Klassizismus und Romantik in einem epochalen Langzeitzusammenhang. Das heißt, sie besitzen einen gemeinsamen Problemhorizont, auf den divergierende Antworten gegeben werden. Die Umakzentuierungen und Verschie-

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den Zusammenhang zwischen dem, wie es dort heißt, »Kunstbereich« und »Politikbereich« bei Heine im Hinblick auf seine Dichterbilder (Bierwirth, Heines Dichterbilder. Stationen seines ästhetischen Selbstverständnisses. Stuttgart, Weimar 1995). Vgl. dazu Kap. I. 3.1.

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bungen zwischen einem ersten und einem zweiten Modernisierungsschub, die sich innerhalb des postulierten Modernezeitraums beobachten lassen, werden in bezug auf Byron und Heine vor allem anhand der Bedeutung von Gegenwart und der damit verbundenen Temporalisierung verfolgt.21 Wenn für das Zeitbewußtsein um 1800 allgemein als Charakteristikum gelten kann, daß die Gegenwart als transitorisches Stadium zwischen Vergangenheit und Zukunft wahrgenommen wird, so zeigen Byrons und Heines Texte, daß sich diese Einschätzung in ein emphatisches Verständnis von Gegenwart wandelt. Gegenwart erhält einen Wert an sich, und zwar nicht erst – wie etwa in der germanistischen Forschung im Hinblick auf das Junge Deutschland postuliert wird – seit Mitte der 1830er Jahre, sondern schon seit den 1820ern.22 In dieser Periode, die von den Zeitgenossen als Phase der kulturellen und politischen Stagnation empfunden wurde, was sich an der verbreiteten Metaphorik der Kälte und Erstarrung ablesen läßt, betonen Byrons und Heines Texte besonders die Aspekte der Gegenwart, des Lebens und der Bewegung. (3) Der letzte Aspekt, der hier skizziert werden soll, betrifft die Frage nach einer Poetik eingreifender Kunst bei Byron und Heine zwischen 1815 und 1830. Die Parallelen zwischen den Poetiken ihrer Texte in diesem Zeitraum werden als Versuch gelesen, romantisch-autonomes mit politisch-engagiertem Schreiben zu verbinden. Die Bezeichnung ›eingreifende Kunst‹ soll den Problemhorizont der Texte kennzeichnen, die in Kapitel III. und IV. der Untersuchung im Zentrum stehen – The Vision of Judgment, Die Bäder von Lukka sowie Childe Harold IV und Reise von München nach Genua. Es geht dabei um die für beide Autoren grundlegende Frage nach der Beschaffenheit einer Literatur, die zugleich autonom und engagiert sein soll – die also keine ausschließlich autonome Kunst ist, sondern auch direktes gesellschaftliches Wirkpotential besitzt. Für beide Autoren ist ein zentrales Desiderat, daß ihre Texte den Bereich der Kunst überschreiten und ins Leben eingreifen sollen. Aus kulturhistorischer Perspektive entsteht diejenige Konstellation, auf die das Konzept eingreifender Kunst antwortet, mit der zunehmenden Ausdifferenzierung verschiedener Gesellschaftsbereiche. Damit einher geht der Prozeß der Autonomisierung der Literatur seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, denn auch die Kunst entwickelt sich zu einem eigenständigen Teilsystem. Der Zugewinn an Unabhängigkeit der Literatur von externen Zweckbestimmun-

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Siehe dazu u.a. die Aufsatzsammlung von Reinhart Koselleck Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1989. Die Bedeutung des Augenblicks, der reinen Gegenwart ließe sich auch an der Lyrik der späten 1810er Jahre von John Keats zeigen. Vgl. hierzu Christoph Bode, Selbst-Begründungen: Diskursive Konstruktion von Identität in der britischen Romantik I: Subjektive Identität. Trier 2008, S. 197–234. Bei Keats ist der Kontext seiner sensualistischen Ästhetik des Moments allerdings weniger das aktuelle Tagesgeschehen als vielmehr die Problematik von Zeitlichkeit.

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gen korreliert also mit der immer stärkeren Abgrenzung von anderen sozialen Systemen wie der ›Religion‹, der ›Moral‹, dem ›Recht‹ oder der ›Wissenschaft‹.23 Die Epochen Klassizismus und Romantik stehen am Anfang dieser Entwicklung und verweisen in vielfältiger Weise auf diesen Problemhorizont, indem ihre literarischen und theoretischen Entwürfe sich etwa dezidiert von äußeren Funktionalisierungen zu befreien suchen.24 Daß aber die Entfunktionalisierung der Kunst auch problematische Aspekte in sich birgt, verdeutlicht Niklas Luhmann in seiner systemtheoretischen Beschreibung romantischer Kunst: Die Systemautonomie, auf die die Romantik […] zu reagieren sucht, ist dem Kunstsystem als Folge der funktionalen Gesellschaftsdifferenzierung zugefallen, da man jetzt weder vom Religionssystem noch vom politischen System, noch vom Wirtschaftssystem […] erwarten kann, daß sie Instruktionen geben, wie Kunstwerke zu machen seien. Fast könnte man deshalb sagen: Autonomie wird zum Schicksal, das als Abwehr externer Intervention interpretiert wird; oder zum unsichtbaren Käfig, in dem der Künstler zur Selektion, zur Originalität, zur Freiheit genötigt wird.25

Mit dem Käfig des Künstlers beschreibt Luhmann metaphorisch die Selbstreferentialität des Kunstsystems. Die »Abwehr externer Intervention« des Sozialsystems Kunst eröffnet zwar neue ästhetische Möglichkeiten, impliziert in der Umkehr aber auch den Verlust von Interventionsmöglichkeiten in andere Teilsysteme der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft. Aus systemtheoretischer Perspektive läßt sich also formulieren, daß Byrons und Heines Poetik eingreifender Kunst eine Reaktion auf die engen Systemgrenzen der Literatur darstellt, die sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelten. Wenn in diesem Zusammenhang von einer Ästhetik des Performativen die Rede ist, und diese als spezifisches Moment der Poetik Byrons und Heines ausgewiesen werden kann, dann geht es weniger um die Frage nach Performativität im Kontext der Konstitution von Identität, sondern vielmehr um die Überschreitung des Status des Kunstwerks als autonomes und abgeschlossenes.26

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Siehe dazu aus systemtheoretischer Sicht Niels Werber, Literatur als System: Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation. Opladen 1992. Vgl. dazu auch Friedrich Vollhardt, »Autonomie«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 173–176. Ein wirkmächtiges Konzept, das sich in der Folge entwickelt, ist die Vorstellung vom Autor als Genie, das sich seine eigenen Regeln gibt. Wirkungsästhetische Kategorien verlieren zunehmend zugunsten von produktionsästhetischen Kategorien wie ›Imagination‹, ›Enthusiasmus‹ oder ›Originalität‹ ihre Bedeutung. Zu Byrons und Heines Poetik in diesem Kontext vgl. Kap. III. Einen umfangreichen Überblick zur Geschichte des ›Genies‹ gibt Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1850. 2 Bde. Darmstadt 1985. Niklas Luhmann, »Eine Redeskription ›romantischer Kunst‹«. In: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hrsg.), Systemtheorie der Literatur. München 1996, S. 325–344, hier S. 335. Bisherige Arbeiten, die den Aspekt des Performativen bei Byron oder Heine aufgreifen, fokussieren stärker Fragen der Identität und des Marktes (vgl. zu Byron Martin, Byron: A Poet Before His Public, Bode, Selbst-Begründungen, S. 117–143 sowie Frey-Büchel, Perpetual Per-

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Zur theoretischen Fundierung werden hier besonders die Arbeiten von Erika Fischer-Lichter herangezogen, die unterschiedliche Inszenierungsstrategien betrachtet, wie in der performativen Kunst der Gegenwart die Grenze zwischen Kunst und Leben permanent überschritten wird.27 In diesem Zusammenhang kann gezeigt werden, daß Byrons und Heines Poetik innerhalb der Sattelzeit von einem zweiten Modernisierungsschub zeugt, in dem die Systemgrenzen zwischen Kunst und Wirklichkeit in Abgrenzung zu Lösungsmodellen der Kunstperiode neu verhandelt werden: Die untersuchten Texte von Byron und Heine zielen darauf ab, die Systemgrenze der Kunst, die sich im Zuge des Autonomisierungsprozesses herausbildete, in Richtung ›Lebenswelt‹ zu überschreiten, um der Kunst selbst das wirksame Eingreifen in öffentliche Diskurse zu ermöglichen. Eine performative Ästhetik zeigt sich in Byrons und Heines Texten, so die These dieser Untersuchung, als Prozeß der kontinuierlichen Überschreitung zwischen Kunst und Leben. Dabei ist es wichtig zu betonen, daß Byrons und Heines Poetik eingreifender Kunst keine Entdifferenzierung, also keine Auflösung der Systemgrenzen anstrebt. Vielmehr gilt, daß die performative Ästhetik ihrer Texte die Grenzen zwischen Kunst und Leben permanent überschreitet und – darauf weist auch Fischer-Lichte als Charakteristikum einer Ästhetik des Performativen hin – auf die Überwindung starrer, dichotomer Gegensätze abzielt.28 Ohne die Grenzen ausdifferenzierter Teilsysteme aber gäbe es keine Möglichkeit zu einer solchen transgressiven Überschreitung. Spätestens seit den 1960er Jahren kursieren in der Forschung verschiedene Bezeichnungen für die Öffnung des Kunstsystems für politische Belange wie etwa ›engagierte Literatur‹, ›operative Literatur‹ oder ›politische Dichtung‹ sowie im englischsprachigen Raum, ›engaged art‹, ›committed art‹ oder ›interventionist literature‹. Unter diese »negative[n] Identitätsformel[n]«29 des bürgerlichen Kunstverständnisses können allerdings sowohl Byrons als auch Heines Texte nicht problemlos subsumiert werden, da sie einer Literatur kritisch gegenüberstehen, die sich für politische Zwecke instrumentalisieren läßt. Der Frage, »[h]ow can art be both autonomous and interventionist?«30, die für Byron und Heine zentral ist, gehen auch die Beiträge der Online-Ausgabe Reading Shelley’s Interventionist Poetry, 1819–20 nach. Shelleys interventioni-

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formance) oder der Theatralität (vgl. zu Heine Frank Schwamborn, Maskenfreiheit. Karnevalisierung und Theatralität bei Heinrich Heine. München 1998). Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004. Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 356f. Nikolaus Wegmann, »Politische Dichtung«. In: Klaus Weimar/Jan-Dirk Müller/Harald Fricke u.a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3: Berlin, New York 2003, S. 120–123, hier S. 120. Michael Scrivener, »Editor’s Introduction«. In: Scrivener (Hrsg.), Reading Shelley’s Interventionist Poetry, 1819–20. Romantic Circles Praxis Series (2001): www.rc.umd.edu/praxis/ interventionist/srivener/scrivener.html [zuletzt aufgerufen am 25.4. 2012], Abschnitt 3.

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stisches Dichtungskonzept, das dort im Zentrum des Interesses steht, wird im folgenden kurz dargestellt, um anschließend Differenzen zur Poetik eingreifender Kunst bei Byron und Heine deutlich herausstellen zu können. Mark Kipperman, der sich in seinem Essay mit Shelley und Adorno und dem Problem engagierter Kunst beschäftigt, unterscheidet in seiner Kritik an Susan Wolfsons Lesart von Shelleys Gedicht The Mask of Anarchy zwischen »political import« und »political impact«.31 Für Wolfson liege der fundamentale Konflikt des Gedichts in der Frage, ob Dichtung politische ›agency‹ besitzen kann oder ob sie politischer Aktion nur beigesellt ist – wogegen Kipperman mit Referenz auf Adorno argumentiert, daß politische Bedeutung nicht mit politischer Wirkung im Sinne eines unmittelbaren Eingreifens verwechselt werden darf. In seiner zentralen Schrift zum Begriff der Kunst in der Moderne, Ästhetische Theorie, schreibt Adorno dazu: Daß Kunstwerke politisch eingreifen, ist zu bezweifeln; geschieht es einmal, so ist es ihnen meist peripher; streben sie danach, so pflegen sie unter ihren Begriff zu gehen. Ihre wahre gesellschaftliche Wirkung ist höchst mittelbar, Teilhabe an dem Geist, der zur Veränderung der Gesellschaft in unterirdischen Prozessen beiträgt und in Kunstwerken sich konzentriert […]. Die Wirkung der Kunstwerke ist die der Erinnerung, die sie durch ihre Existenz zitieren, kaum die, daß auf ihre latente Praxis eine manifeste anspricht; von deren Unmittelbarkeit hat ihre Autonomie allzuweit sich wegbewegt.32

Kunst, die eingreifen will, geht »unter ihren Begriff«, ist also im Kunstverständnis von Adorno keine Kunst mehr im eigentlichen Sinne. Wenn Adorno zudem behauptet, daß die gesellschaftliche Wirkung von Kunstwerken keine direkte, augenblickliche sein kann, verweist er nicht nur auf den autonomen Charakter von Kunst, sondern er impliziert auch den Aspekt des Zukünftigen. Mit Blick auf Shelleys poetologische Schrift A Defence of Poetry verweist Christoph Bode auf den Aspekt der Zeit und der zukünftigen Rezeption für die Einschätzung der Wirkung von Dichtung auf die Gesellschaft: »Die als neue Struktur in die Welt gesetzte Intervention des Dichters regt an zu immer neuen Korrelationierungen, auch selbstverständlich zu solchen, die von dem Autor selbst gar nicht abzusehen waren […].«33 Der Aspekt der zukünftigen Rezeption, die der Dichter nicht steuern kann, oder wie es bei Adorno heißt, die Dimension der »geschichtlichen Stunde«, bestimmt demnach erst, inwie-

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Mark Kipperman, »Shelley, Adorno, and the Scandal of Committed Art«. In: Michael Scrivener (Hrsg.), Reading Shelley’s Interventionist Poetry, 1819–20. Romantic Circles Praxis Series (2001): www.rc.umd.edu/praxis/interventionist/kipperman/kipperman.html [zuletzt aufgerufen am 25.4. 2012], Abschnitt 3. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Hrsg. von Gretel Adorno/Rolf Tiedemann. 9. Aufl. Frankfurt a.M. 1989, S. 359. Bode, Selbst-Begründungen, S. 169f.

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weit »Kunstwerke praktisch eingreifen«.34 Adornos Vorstellung, daß die Kunst an einem Geist partizipiert, der zu den nicht sichtbaren Prozessen der Veränderung in der Gesellschaft beiträgt, findet sich auch bei Shelley. In A Defence of Poetry schreibt er in der berühmten programmatischen Passage am Ende des Textes über die politische Bedeutung von Dichtung: »The most unfailing herald, companion, and follower of the awakening of a great people to work a beneficial change in opinion or institution, is Poetry.«35 Und über die Dichter der Gegenwart heißt es weiter: »They measure the circumference and sound the depths of human nature with a comprehensive and all-penetrating spirit, and they are themselves perhaps the most sincerely astonished at its manifestations, for it is less their spirit than the spirit of the age.«36 Zwar mißt Shelley einerseits der Dichtung und ihrem Potential öffentlich-politische Diskurse zu beeinflussen eine herausragende Rolle zu, die Wirkweise bleibt jedoch eigentümlich transpersonal – es ist nicht ihr individueller Geist, sondern der Zeitgeist (»spirit of the age«), der durch die Dichter hindurch wirkt – mit einem starken Fokus auf die Rezeption späterer Generationen. In »A Defence of Poetry« vergleicht Shelley die Wirkweise eines ›großen Gedichts‹ mit einem Springbrunnen, »for ever overflowing with the waters of wisdom and delight; and after one person and one age has exhausted all its divine effluence which their peculiar relations enable them to share, another and yet another succeeds, and new relations are ever developed«.37 Es ist denkbar, daß Shelleys interventionistisches Dichtungskonzept, das die Futurität großer Dichtung hervorhebt, mit der realen Publikationssituation seiner Texte zusammenhängt.38 Wie Michael Scrivener betont, konnten Shelleys interventionistische Gedichte zu der Zeit, als sie geschrieben wurden, schon deshalb nicht politisch eingreifen, da sie – mit der Ausnahme von Oedipus Tyrannus; or Swellfoot the Tyrant – während seiner Lebenszeit nicht publiziert waren.39 Generell muß betont werden, daß sowohl die englische wie auch die deutsche literarische Romantik, die am Beginn des ersten Modernisierungsschubes stehen, eine eminent politische Epoche darstellen. Bei der Rekonstruktion des öffentlichen Diskurses zeigt sich, daß romantische Autoren auf das fundamen34 35

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Adorno, Ästhetische Theorie, S. 359. Percy Bysshe Shelley, »A Defence of Poetry or Remarks Suggested by an Essay Entitled ›The Four Ages of Poetry‹«. In: Shelley’s Poetry and Prose. Hrsg. von Donald H. Reiman/Sharon B. Powers. New York, London 1977, S. 480–508, hier S. 508. Shelley, »A Defence of Poetry«, S. 508. Shelley, »A Defence of Poetry«, S. 500. Shelleys Vision findet, wie Robert Kaufman zeigt, in der späteren Rezeption seiner Texte durch Brecht, Adorno und Benjamin eine Bestätigung (vgl. Robert Kaufman, »Intervention and Commitment Forever! Shelley in 1819, Shelley in Brecht, Shelley in Adorno, Shelley in Benjamin«. In: Michael Scrivener (Hrsg.), Reading Shelley’s Interventionist Poetry, 1819–20. Romantic Circles Praxis Series (2001): www.rc.umd.edu/praxis/interventionist/kaufman/ kaufman.html [zuletzt aufgerufen am 25.4. 2012]). Vgl. Scrivener, »Editor’s Introduction«, Abschnitt 1.

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tal erschütternde Ereignis der Französischen Revolution in mehr oder weniger direkter Weise reagierten und oftmals aktiv an den politisch-gesellschaftlichen Debatten partizipierten. Paul Magnuson etwa hat den öffentlichen Diskurs rekonstruiert, in dem die Gedichte von Samuel Taylor Coleridge oder William Wordsworth stehen, und zeigt die Durchdringung des scheinbar rein Privaten mit dem Öffentlichen. Gedichte, die lange Zeit ausschließlich als Ausdruck subjektiven Gefühls galten, werden so in ihrer Teilhabe an politisch-öffentlichen Diskussionen lesbar.40 Byrons und Heines Texte, die einen zweiten Modernisierungsschub indizieren, reagieren auf die zunehmende Tendenz zur Erstarrung politischer Verhältnisse und zum Rückzug ins Private in der Restaurationsepoche mit einer dezidierten Poetik des ›Eingreifens‹. Im Unterschied zu Shelley verfügten sowohl Byron als auch Heine über eine große Leserschaft und waren im öffentlichen Diskurs extrem präsent.41 Byron und Heine geht es nicht so sehr um die zukünftige (politische) Bedeutung ihrer Texte, auch wenn das ein Aspekt ist, der etwa in Heines Reise von München nach Genua dezidiert reflektiert wird, sondern um die unmittelbare Wirkung – das Eingreifen und damit um das Überschreiten der Grenzen des Kunstwerks. Es ist nicht allein – um Adornos Worte zu verwenden – die latente Praxis, sondern die manifeste, auf die Byron und Heine mit ihrer Poetik eingreifender Kunst abzielen: In Umkehrung von Mark Kippermans These zu Shelley liegt bei Byron und Heine der Akzent tatsächlich auf der Frage nach dem ›impact‹ von Dichtung.42 Es ist eine verbreitete Vorstellung, Literatur generell aufgrund ihres entpragmatisierten Status, wie Christoph Bode schreibt, als »institutionalisierte Interventionsmöglichkeit« zu begreifen, die tradierte Weltsichten verändern kann.43 Diese Einschätzung, Literatur habe gerade in ihrer Autonomie eine exponierte Stellung, die sie gegenüber anderen Diskursen besonders befähigt

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Vgl. Paul Magnuson, Reading Public Romanticism. Princeton/New Jersey 1998. Zu den geringen Verkaufszahlen von Shelleys wenigen Veröffentlichungen zu seinen Lebzeiten vgl. die umfangreiche und detaillierte Studie von William St Clair, The Reading Nation in the Romantic Period. Cambridge 2004, bes. S. 317–320. Zur enormen Auflage von Byrons Texten vgl. S. 322–336 u. 682–689. St Clair zufolge überstieg keine von Shelleys Publikationen eine Auflage von 750 Exemplaren, von denen die meisten zudem nicht verkauft wurden – von Byrons Don Juan dagegen wurden, noch während Byron lebte, in verschiedenen Editionen ca. 100 000 Exemplare produziert und schließlich auch verkauft. Diese Differenzierung ermöglicht die neue Betrachtung eines Dilemmas, auf das etwa Michael Scrivener hinweist. Galten Byrons Satiren, so Scrivener, lange Zeit als Ausnahmen zur romantischen Lyrik, würden neuere Lesarten zeigen, daß viele Texte der Romantik sich aktiv an den öffentlich-politischen Debatten beteiligten. Dagegen läßt sich festhalten, daß Byrons wie auch Heines Texte nicht der (latente) politische Gehalt charakterisiert, sondern eine manifeste Poetik des Eingreifens (vgl. Scrivener, »Literature and Politics«. In: Thomas Keymer/Jon Mee (Hrsg.), The Cambridge Companion to English Literature 1740–1830. Cambridge 2004, S. 43–60, hier S. 44). Bode, Selbst-Begründungen, S. 12.

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sich einzumischen, soll hier allerdings nicht zur Diskussion stehen.44 Wenn in dieser Untersuchung von eingreifender Kunst die Rede ist, wird die Problematik der Intervention spezifischer gefaßt und bezeichnet intendierte Überschreitungen des autonomen Kunstwerks. In diesem Zusammenhang ist die Poetik oder Schreibweise der Autoren von Bedeutung. Die vorliegende Arbeit versucht zu zeigen, daß Byron und Heine nach einer spezifischen Poetik suchen – was auch in ihren fiktionalen Texten selbst poetologisch reflektiert wird –, die das Überschreiten des Kunstwerks ins Leben und damit sein Eingreifen und Wirksam-Werden ermöglicht. Öffentlichkeit erzeugen Byron und Heine, indem sie gezielt Techniken der Skandalisierung einsetzen.45 Schon Herbert Clasen hat in seiner grundlegenden Untersuchung zu Heines Romantikrezeption von der »eingreifen wollenden Schreibweise« des Autors gesprochen.46 Wie aber kann Literatur eingreifen und dabei ihren autonomen Status als Kunst nicht verlieren? Diese bereits oben gestellte Frage, erweist sich als zentrales Problem für diejenige Literatur der Moderne, die, um es mit Luhmann zu formulieren, die operative Schließung des Systems der Kunst überwinden will. Welche Probleme und Gefahren eine engagierte Literatur, die konkret in Politik und Gesellschaft hineinwirken will, mit sich bringt, betont Nikolaus Wegmann: »Die engagierte Literatur stellt die fremd-referentielle Funktion literarischer Texte so sehr ins Zentrum ihrer Selbstaussage, daß ihr eigener Status als Kunst in Gefahr gerät.«47 Peter Uwe Hohendahl verweist im Kontext dieses Dilemmas in seiner maßgeblichen Studie zur Modernität Heines auf die Bedeutung der Schreibweise: »Nicht dadurch wird moderne Kunst für Heine politisch, daß sie sich zum Sprachrohr der Parteiinteressen macht; ihr politischer Charakter drückt sich vielmehr in der Werkstruktur ab, der Modus der Darbietung selbst wird zum Politikum.«48 Hohendahls treffende Beobachtung läßt jedoch die Frage nach dem Modus der Darbietung – also der spezifischen poetischen Verfahren – weitgehend offen. Sie wurde bisher in der

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Jürgen Link etwa beschreibt in Anlehnung an Foucault Literatur als Interdiskurs, der das Wissen von Spezialdiskursen reintegriert. Dieses Wissen kann die Literatur insofern auch in Frage stellen oder subvertieren (vgl. dazu Jürgen Link, »Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik«. In: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hrsg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M. 1992, S. 284–307). Zwar war Byrons skandalumwitterte Persönlichkeit im Sinne einer postmodernen ›celebrity‹ Gegenstand zahlreicher Untersuchungen, aber der Zusammenhang zwischen Skandalisierung, Öffentlichkeit und eingreifender Kunst wurde noch nicht ausreichend betrachtet. Vgl. dazu Kap. III. Herbert Clasen, Heinrich Heines Romantikkritik. Tradition – Produktion – Rezeption. Hamburg 1979, S. 54. Nikolaus Wegmann, »Engagierte Literatur«. In: Fohrmann/Müller (Hrsg.), Systemtheorie der Literatur, S. 345–365, hier S. 354. Peter Uwe Hohendahl, »Geschichte und Modernität. Heines Kritik an der Romantik«. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 17 (1973), S. 318–361, hier S. 360.

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Heine-Forschung etwa mit dem wichtigen, aber nicht erschöpfenden Hinweis auf die Verfahren von Witz, Humor und Ironie beantwortet. Auf diese von der Forschung vielfach analysierten Bereiche wird in dieser Arbeit daher nur am Rande eingegangen. In Zusammenhang mit der Frage nach der Möglichkeit einer eingreifenden Kunst stehen vielmehr transgressive poetische Verfahren und Wirkstrategien im Vordergrund, deren Aktualität und Modernität von Autoren der Avantgarde wie der Gegenwart bestätigt wird. Programmatische Überschreitungen von Grenzen finden sich bei Byron und Heine etwa im Verfahren der Skandalisierung, in der Verwendung halbfiktionaler Genres oder im Spiel mit der Figur des Autors. Zugleich können textimmanente poetologische Reflexionen von öffentlichen, performativen Genres beobachtet werden, so etwa der Oper, der commedia dell’arte oder der Pantomime, die die Grenze zwischen dem Kunstbereich und der Lebenswelt übertreten. Die damit eng verbundene Reflexion auf die Konzeption von Autorschaft ist hierfür, wie sich in Kapitel IV. zeigen wird, zentral. Nicht zuletzt soll darauf hingewiesen werden, daß die Formulierung ›eingreifende Kunst‹ an Bertolt Brechts Konzept des eingreifenden Denkens erinnert, das die Soziologin Ingrid Gilcher-Holtey in ihrer gleichnamigen Studie zu den Wirkungschancen von Intellektuellen seit dem 18. Jahrhundert aufgegriffen hat.49 Gilcher-Holtey verwendet Brechts Formulierung, die Kontradiktorisches – den Bereich des Denkens und den des Handelns – verbindet, vor dem Hintergrund der Autonomisierung der Felder, deren Grenzen der Intellektuelle überschreiten muß, um öffentlich zu wirken. Auch die in dieser Untersuchung verwendete Formulierung ›eingreifende Kunst‹ zielt auf eine Problemlage der Moderne, die auf Prozessen gesellschaftlicher Ausdifferenzierung beruht. Die Antwort der Autoren Byron und Heine, die darauf zielt, poetische Lösungsmodelle der Kunstperiode neu zu überdenken und zu bewerten, zeigt sich in dem provokatorischen Experiment, die Grenzen des Kunstwerks bewußt zu überschreiten, ohne jedoch die Autonomie der Kunst aufzugeben. Durch den interdisziplinären Vergleich entstehen neue Perspektiven im Hinblick auf die Texte und poetischen Verfahren beider Autoren. Der Vergleich von zentralen Texten und poetischen Verfahren der beiden Autoren, die das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit neu definieren, läßt allgemeine Charakteristika einer europäischen Konstellation in der zweiten Hälfte der Sattelzeit hervortreten. Aus der Beobachtung einer eingreifenden Poetik und einem performativen Autorschaftskonzept ergeben sich neue Perspekti49

Vgl. Bertolt Brecht, »Über eingreifendes Denken«. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Bd. 20: Schriften zur Politik und Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1967, S. 158–178 sowie Ingrid Gilcher-Holtey, Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen. Weilerswist 2007. Vgl. dazu auch das von Mark Schönleben und mir betreute Online-Projekt »Eingreifendes Denken« unter www.eingreifendes-denken.phil.uni-erlangen.de/ [zuletzt aufgerufen am 25.4. 2012].

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ven sowohl für Heines wie auch für Byrons Texte: Neben dem maßgeblichen Bezugsfeld der englischen Romantik eröffnet sich durch die kontrastive Lektüre ein neuer Blick auf das Verhältnis von Ästhetik und Politik in Byrons Texten, der nicht bestimmt ist vom romantisch-ironischen Paradigma, das die Forschung lange Zeit dominierte. Zugleich möchte die Untersuchung durch die komparative Analyse zentraler englischer und deutscher Werke im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts – mit speziellem Fokus auf der zunehmenden Politisierung des ästhetischen Diskurses – einen Beitrag zur Erforschung der europäischen Moderne im Sinne einer europäischen Literatur- und Kulturwissenschaft leisten. Die Auswahl der untersuchten Texte in den Kapiteln III. und IV. erfolgt entsprechend dem Erkenntnisinteresse dieser komparatistischen Arbeit, die Fragen der Rezeption und Intertextualität mit der Beschreibung einer europäischen Konstellation am Beginn der Moderne verbinden will. Maßgeblich ist hierfür die Beschränkung auf den Zeitraum zwischen 1815–1830, der die politischen Eckdaten vom Beginn der Restauration bis zur französischen JuliRevolution erfaßt. In dieser Zeitspanne ist die restaurative Repression und Erstarrung besonders dominant und verlangt bei beiden Autoren nach einer Resondierung des künstlerischen Ausdrucks. Gleichzeitig ist die Periode hinsichtlich Heines Byron-Rezeption auch lebensbiographisch motiviert, da sich die Publikation ihrer Texte hier zeitlich am stärksten annähert. Byron schreibt seine ottava rima-Gedichte zwischen 1817 und 1824, Heines erstes ›Reisebild‹ entsteht 1824. Ihre Schriften stehen aber nicht nur in zeitlicher Nähe, sondern auch in einem geographischen Zusammenhang: Die untersuchten Texte von Byron entstanden im italienischem Exil und befassen sich zum Teil mit Italien – Heine reiste bereits 1828 nach Italien, also nur vier Jahre nachdem Byron in Griechenland als ›Held‹ der Befreiung starb, und verfaßte anschließend seine Italienreisebilder. Durch den Fokus auf den Aspekt der eingreifenden Kunst tritt beim Vergleich der beiden Autoren Byrons berühmte Weltschmerzpoesie gegenüber den späteren, in Italien entstandenen Texten, in den Hintergrund. Das I. Kapitel setzt sich zunächst mit der Problematik der Epochenbestimmung zwischen Romantik und Realismus (1815–1848) auseinander – und zwar bewußt über den Blickwinkel einzelner Nationalliteraturen hinaus. Nach einem allgemeinen Aufriß, der in Anlehnung an die Studien Reinhart Kosellecks die Phänomene der Temporalisierung und des Übergangs thematisiert als Kennzeichen von Modernität im Kontext der Querelle des Anciens et des Modernes, steht im letzten Teil des Kapitels Byrons und Heines postromantische Poetik im Mittelpunkt. Die spezifisch postromantischen Charakteristika ihrer Texte werden in Abgrenzung zu Forschungsrichtungen herausgearbeitet, die bei beiden Autoren das Paradigma der romantischen Ironie verfolgen. Dabei ist vor allem die Bedeutung des Konzepts der Gegenwart für die Poetik der beiden Autoren zentral. 15

Unter dem Fokus von genetischer Rezeption und Intertextualität widmet sich das II. Kapitel Heines Byron-Rezeption, die sowohl in Heines markierten Zitaten und Stellungnahmen zu Byron als auch in unmarkierten intertextuellen Bezügen untersucht wird. Heines Byron-Rezeption wird unter Berücksichtigung der kulturhistorischen Zusammenhänge und der Theorie des literarischen Feldes von Pierre Bourdieu untersucht. Dabei wird deutlich, daß etablierte Positionen der Forschung zu Heines Rezeption von Byron einer Revision bedürfen. Im Hinblick auf Skandal und Skandalisierungsstrategien zur Erzeugung von Öffentlichkeit in der Restaurationsphase werden im III. Kapitel die transgressiven Schreibweisen der Texte The Vision of Judgment und Die Bäder von Lukka vergleichend analysiert. Beide Texte, die auf die literarische ›Exekution‹ jeweils eines Konkurrenten im literarischen Feld abzielen, Robert Southey und August von Platen, wurden von den Zeitgenossen als ebenso skandalös wie revolutionär empfunden. Das Kapitel stellt die programmatisch von Byron an Southey beziehungsweise von Heine an Platen formulierte Kritik dar, die nicht nur auf der inhaltlichen Ebene explizit geäußert wird, sondern sich auch implizit in der Poetologie der Texte ausdrückt. Im abschließenden IV. Kapitel stehen zwei Texte im Zentrum des Vergleichs, die beide dem Genre der Italienreisebeschreibung angehören, Byrons Childe Harold IV und Heines Reise von München nach Genua, die ein halbfiktionaler Status kennzeichnet. Sie bewegen sich zwischen Fiktion und Autobiographie, was bereits auf ihren grenzüberschreitenden Charakter hindeutet. Die poetologische Dimension von Byrons und Heines Italientexten wird zudem von den vielen intermedialen Kunstreflexionen unterstrichen. Die Analyse der Texte weist sie beide als postromantische Schwellennarrative aus, in denen sich ein Wandel in der Konzeption von Autorschaft vollzieht: Das melancholische Selbstbildnis des Künstlers wird transformiert in den Entwurf des aktiven, eingreifenden Autors. Die Politisierung der Poetik vollzieht sich bei beiden Autoren in Auseinandersetzung mit dem Italien ihrer Gegenwart. Das Reisebild Reise von München nach Genua kann nochmals die zentrale poetologische Bedeutung von Heines Byronrezeption für die Auseinandersetzung mit der deutschen Klassik und Romantik verdeutlichen. Italien bildet für Heine die Wegscheide zwischen Goethe und Byron, zwischen Antikenbegeisterung und politischem Aufbruch. Denn Childe Harold IV, so wird die Analyse des Textes zeigen, problematisiert intensiv im Hinblick auf die Situation Italiens die Durchdringung von Kunst und Wirklichkeit und die Überschreitung der Kunst ins Leben, die Byron später in seinem Ravenna Journal von 1821 unter Bezug auf die österreichische Herrschaft in Italien nach dem Wiener Kongreß 1815 exemplarisch artikuliert: »It is no great matter, supposing that Italy could be liberated, who or what is sacrificed. It is a grand object—the very poetry of politics. Only think—a free Italy!!!« (BLJ 8, 47) 16

I.

1815–1848: Eine europäische Übergangsepoche im Zeichen von Modernität

1.

Die literaturwissenschaftliche Diskussion einer Übergangsepoche

Die literaturgeschichtliche Verortung von Byron (1788–1824) bzw. von Heine (1797–1856) ist immer wieder ein zentraler Gegenstand der Forschung gewesen. In vergleichbarer Weise widmen sich zahlreiche Untersuchungen der Beziehung des jeweiligen Autors zur Romantik. Mit Bezug auf Heine zählt Gerhard Höhn die Frage nach dem literaturgeschichtlichen Ort des Autors zu den »umstrittensten der Rezeption und zu den komplexesten der Forschung«.1 Auch Byrons Verhältnis zur Romantik wird in der Forschung immer wieder kontrovers eingeschätzt. Sie ist besonders schwierig zu bewerten, weil seine frühen orientalisierenden, melancholischen Texte mit der Figur des rebellischen Byronic Hero eine Richtung der englischen Romantik am Beginn des 19. Jahrhunderts entscheidend prägten. Byron distanzierte sich allerdings auch explizit von dieser Form der Literatur, wie etwa in seinem berühmten Brief an Thomas Moore, der unten noch ausführlicher zur Sprache kommen wird, und verstärkte nach 1816 auffallend seine Kritik an den führenden Vertretern der englischen Romantik wie William Wordsworth, Robert Southey, Samuel Taylor Coleridge oder John Keats, deren ästhetische und politische Positionen er in seinen literarischen, sowohl fiktionalen als auch nicht-fiktionalen Stellungnahmen scharf attackierte.2 Im folgenden soll im Sinne einer europäischen Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung eine umfangreiche Bestimmung der Zeit von 1815–1848 als einer transnationalen Übergangsepoche erfolgen, um vor diesem Hintergrund die literaturgeschichtliche Position der beiden Autoren Byron und Heine zu diskutieren.3 Byron und Heine können beide als Schwellenautoren gelten, deren ambivalentes Verhältnis zur Romantik die literaturgeschichtliche Einordnung ihrer

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Gerhard Höhn, »Weder ›Passionsblumen‹ noch ›nutzloser Enthusiasmusdunst‹. Heine – Romantik – Vormärz«. In: Bunzel/Stein/Vaßen (Hrsg.), Romantik und Vormärz, S. 257– 274, hier S. 273. Vgl. dazu Kap. III. Vgl. dazu etwa Silvio Viettas Forderung, die nationalen Literaturgeschichten in einer »Kartographie der europäischen Kulturgeschichte und ihrer regionalen und temporalen Diffusionsfelder« zusammenzuführen (Silvio Vietta, Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung. Paderborn 2007, S. 14).

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Texte schwierig macht. Einen großen Teil ihres literarischen Werks schrieben und publizierten Byron und Heine in der Zeit zwischen 1815 und 1848, in einem Zeitraum also, der traditionell in der deutschen und in der englischen Forschung als Übergang zwischen den deutlich konturierten Epochen der Romantik und des Realismus gilt.4 Aufgrund der Heterogenität seiner zahlreichen widersprüchlichen und parallel existierenden Strömungen hat der Zeitraum die unterschiedlichsten Epochenbezeichnungen erfahren. Eine Vielzahl von Byrons und Heines Texten, die in dieser Arbeit zur Diskussion stehen, entstanden in einer Zeit, die in der literaturwissenschaftlichen Forschung kontrovers diskutiert wird, da sie einerseits – ein Phänomen der literarischen Moderne um 1900 vorwegnehmend – keine offensichtliche epochale Einheit aufzuweisen hat und andererseits als bloße Übergangsepoche ohne eigene Ästhetik gehandelt wird.5 Dennoch wird immer wieder der Versuch unternommen, in integrativen Großkonzepten diesen Zeitraum als Ganzes zu erfassen, wie etwa in der deutschen Forschung Friedrich Sengles Begriff der ›Biedermeierzeit‹ demonstriert.6 Der Begriff ›Biedermeier‹ taucht in jüngster Zeit bei Michael Titzmann wieder auf, der die »Phase zwischen Goethezeit und Realismus [...] mangels besserem [...] als ›Biedermeier‹« bezeichnet.7 In der Formulierung Titzmanns spiegelt sich die Beschreibungsnot der Germanistik für die ästhetisch oft wenig geschätzte literarische Produktion in der ›Lücke‹ zwischen Romantik und Realismus. Gerade wegen der Einschätzung als Übergangsphase wurde diesem Zeitraum in der Forschung lange Zeit keine Eigenständigkeit zugesprochen, eine Perspektive, die sich bis in die Gegenwart fortschreibt. Darum soll es im folgenden jedoch nicht gehen, wenn von ›Übergang‹ die Rede ist. Vielmehr gilt das Interesse der Schwellenstruktur des ›Nicht-mehr‹ und ›Noch-nicht‹ als einem Spezifikum von Modernität, das sich im Epochenbewußtsein der sogenannten ›Sattelzeit‹ herausbildet.8 Das Augenmerk richtet sich also auf einen, 4

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Seit im Zuge der gender studies und der kulturwissenschaftlichen Perspektivierung der Literaturwissenschaften der Kanon der romantischen Epoche zunehmend problematisiert wird, kann allerdings von einer homogenen Einheit der Epoche ›Romantik‹ nur noch bedingt gesprochen werden. Vgl. dazu Christoph Bode, »Redefinitions of the Canon of English Romantic Poetry in Recent Anthologies«. In: Barbara Korte/Ralf Schneider/Stefanie Lethbridge (Hrsg.), Anthologies of British Poetry: Critical Perspectives from Literary and Cultural Studies. Amsterdam, Atlanta 2000, S. 265–288. »Was die Kunst der Moderne von der aller vorausliegenden Epochen unterscheidet«, schreibt Rainer Warning in bezug auf die Epochenschwelle um 1900, »ist der Verlust epochaler Einheit« (Rainer Warning, »Surrea listische Totalität und die Partialität der Moderne«. In: Warning/Winfried Wehle (Hrsg.), Lyrik und Malerei der Avantgarde. München 1982, S. 481– 519, hier S. 481). Vgl. dazu Friedrich Sengles Monumentalwerk Biedermeierzeit. 3 Bde. Stuttgart 1971–1980. Michael Titzmann, »Zur Einleitung: ›Biedermeier‹ – ein literarhistorischer Problemfall«. In: Titzmann (Hrsg.), Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier. Tübingen 2002, S. 1–7, hier S. 5. Gerade die ältere Epochenforschung konnte in dem »Nebeneinander romantischer und reali-

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wie Burkhart Steinwachs es formuliert, »peripetische[n] Epochenbegriff«, der mit Wandel zu tun hat.9 Zugleich wird jedoch auch mit einem »strukturelle[n] Epochenbegriff« operiert, da ein Zeitraum postuliert wird (von ca. 1750 bis 1850), in dem es einen längerfristigen Zusammenhang von Problemstellungen und Lösungsstrategien gibt.10 In der deutschen Literaturwissenschaft drückt sich die Problematik des Nebeneinander der verschiedenen Strömungen und Tendenzen des Zeitraums schon in der Fülle der Bezeichnungen aus, die miteinander konkurrieren: ›Biedermeier(zeit)‹, ›Vormärz‹, ›Junges Deutschland‹, ›Restaurationsliteratur‹, ›Frührealismus‹.11 Diese Bezeichnungen konkurrieren jedoch nicht nur miteinander darum, adäquate Termini zur Beschreibung des Zeitraums zu sein, sondern sie akzentuieren auch verschiedene Epocheninhalte – von Weltschmerz, Ästhetizismus und zurückgezogener Beschaulichkeit bis zu politischem Engagement und Hinwendung zur Empirie. Zugleich dienen sie wie kaum andere Epochenbegriffe zu spezifischen, ideologisch geprägten Wertungen, da die Zuordnung entsprechend der politischen Einstellung der Autoren nach dem Schema konservativ – progressiv erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist die Suche nach »ästhetisch-poetologischen Gemeinsamkeiten der divergierenden Zeittendenzen«12 zu sehen, die auch dem von Titzmann herausgegebenen Sammelband als Problemstellung zugrunde liegt:

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stischer Stil- und Formelemente« nur ein »unsicheres Schwanken zwischen einem Nicht-mehr und Noch-nicht« erkennen, »was doch immer nur Gestaltlosigkeit bedeuten würde« (Ulrich Fülleborn, »Frührealismus und Biedermeierzeit«. In: Elfriede Neubuhr (Hrsg.), Begriffsbestimmungen des literarischen Biedermeier. Darmstadt 1974, S. 329–364, hier S. 333). Burkhart Steinwachs, »Was leisten (literarische) Epochenbegriffe? Forderungen und Folgerungen«. In: Hans-Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer (Hrsg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Frankfurt a.M. 1985, S. 312–323, hier S. 314. Steinwachs schlägt in seinem Aufsatz vor, den strittigen Epochenbegriff durch eine »neu- oder umzuschreibende Geschichte der Einstellungen« zu ersetzen, um die »Komplexität literaturgeschichtlicher Prozesse adäquater erfassen« zu können (»Was leisten (literarische) Epochenbegriffe?«, S. 321). Die Bemühungen von Steinwachs um einen möglichst ausdifferenzierten, reflektierten Apparat zur Beschreibung von literarischen Texten bestimmter Zeiträume, stehen im Kontext einer generellen Problematisierung von Epochenkonstruktionen im Zuge kulturwissenschaftlicher Kritik an totalisierenden Narrationen. Steinwachs, »Was leisten (literarische) Epochenbegriffe?«, S. 313. Vgl. dazu: Sengle, Biedermeierzeit; den Sammelband von Elfriede Neubuhr (Hrsg.), Begriffsbestimmungen des literarischen Biedermeier. Darmstadt 1974, darin zum Begriff des ›Frührealismus‹: Ulrich Fülleborn, »Frührealismus und Biedermeierzeit« sowie Günter Blamberger/ Manfred Engel/Monika Ritzer (Hrsg.), Studien zur Literatur des Frührealismus. Frankfurt 1991; zum Begriff des ›Vormärz‹: Peter Stein, Epochenproblem »Vormärz«. (1815–1848). Stuttgart 1974. Neueren Datums ist der Band von Wolfgang Bunzel/Peter Stein/Florian Vaßen (Hrsg.), Romantik und Vormärz. Zur Archäologie literarischer Kommunikation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 2003, aus der Reihe der Vormärz-Studien der »Forum-Vormärz-Forschung«. Blamberger/Engel/Ritzer, »Vorwort«. In: Blamberger/Engel/Ritzer (Hrsg.), Studien zur Literatur des Frührealismus, S. 9–13.

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Die eine Frage war nun somit, ob es hinter diesen Differenzen der ideologischen Präferenzen der Texte bzw. Autoren dennoch übergreifende gemeinsame Strukturen der Literatur des Zeitraums gibt: ob also ein Literatursystem »Biedermeier« von den Texten abstrahiert werden kann, oder ob es nur konkurrierende Teilsysteme gibt, oder ob diese Phase tatsächlich nur als eine Zwischenphase ohne eigenständiges System beschrieben werden kann, in der Altes ausläuft und Neues vorbereitet wird.13

Titzmanns umfassender und auch differenzierter Ansatz, der nicht nur nach möglichen Gemeinsamkeiten der einzelnen Gruppierungen, sondern auch nach den interepochalen und intraepochalen Prozessen des Wandels fragt, rekurriert dennoch auf den Begriff des ›Biedermeier‹. Auch wenn die Wahl des Begriffs im Sinne einer Anschließbarkeit an die literaturgeschichtliche Forschung verständlich ist, eignet dem Begriff ›Biedermeier‹ von Beginn an ein abwertender Maßstab, der nicht zuletzt auf die damit verbundene Weltanschauung zurückgeht.14 Die Erfinder des Wortes, Ludwig Eichrodt und Adolf Kußmaul, machten ab 1855 in den Münchner Fliegenden Blättern die Figur des Gottlieb Biedermeier populär – eine Karikatur auf den naiven, quietistischen deutschen Philister. Die Problematik der Verwendung des Begriffs ›Biedermeier‹ für alle Strömungen des Zeitraums zwischen 1815–1848 führt die Charakterisierung im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte deutlich vor Augen: Das B. als »letzte noch einigermaßen einheitliche dt. Kulturepoche« (Kluckhohn) ent wickelt ein eigenes Lebensgefühl, eine Haltung später Reife und weisen Alters. Milde, Maß und Anspruchslosigkeit sind typisch für die Seelenhaltung des Nachsommers. Der bm. Mensch hat Sinn für Bindung und stilles Reifen; er ist demütig und gemessen, aber auch lehrhaft und streng sittlich. Er »sammelt und hegt« die Dinge voll Andacht auch zum Unbedeutenden, er ehrt das Organische und scheut sich, in das Bestehende einzugreifen; daher übt er Zurückhaltung in Fragen der Politik und der Religion. Sein historischer Sinn führt ihn zur konservativen Gesinnung, zur Ehrfurcht vor dem Gewordenen und zum Einfügen in die Gemeinschaft. Dabei liebt er sein stilles Glück im umhegten Bezirk […].15

Die Versuche, die Bezeichnung ›Biedermeier‹ zu neutralisieren, scheitern an der humoristisch-parodistischen Suggestivität des Wortes und seinen Konnotationen, die dem Begriff bis heute eingeschrieben bleiben. Deswegen bleibt auch Sengles Bemühen um eine Differenzierung zwischen ›Biedermeier‹ als Teilgruppe und ›Biedermeierzeit‹ als Begriff für die gesamte Epoche wenig anschlußfähig.

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Titzmann, »Zur Einleitung«, S. 5. Vgl. dazu Willi Flemming, »Die Problematik der Bezeichnung ›Biedermeier‹«. In: Neubuhr (Hrsg.), Begriffsbestimmung, S. 274–286. Berthold Emrich, »Biedermeier, literarisches«. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 5 Bde. Begr. von Paul Merker/Wolfgang Stammler. 2. Aufl. Hrsg. von Werner Kohlschmidt/Wolfgang Mohr, Bd. 1: Berlin, New York 2001, S. 168–173.

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Während einige der Bezeichnungen in der deutschen Literaturgeschichte, die für den Zeitraum zwischen 1815 und 1848 zur Verfügung stehen, negativ besetzt sind (und dadurch zum Teil auch die Einschätzung der literarischen Produktion der Zeit widerspiegeln), präsentiert sich die Situation in der englischen Literaturgeschichte ebenso schwierig, da keinerlei Begriffe zur Verfügung stehen, die speziell die Literatur kennzeichnen, die nach der Restauration der europäischen Monarchien und vor den Anfängen des Realismus entstanden ist. Die Übergangsphase erhält nicht nur keine Eigenständigkeit, sondern wird durch einen erweiterten Romantikbegriff (bis ca. 1830) und einen frühen Beginn des ›Viktorianismus‹ (ab ca. 1830) förmlich weggerechnet. Dieser Periodisierungsversuch hat in der deutschen Literaturgeschichte sein Pendant in der Rede von der ›Goethezeit‹ oder ›Kunstperiode‹, die sich bis 1832 erstreckt und in den Frührealismus mündet. In der anglistischen Forschung ist die Frage nach dem Zeitraum zwischen 1815 und ca. 1835 untrennbar mit der Debatte um die Definition der Epoche der Romantik verbunden.16 Byrons Texte stehen in dieser Diskussion an prominenter Stelle, da sie sich nicht in das Schema von ›Imagination‹, ›Natur‹ und ›Mythos‹ integrieren lassen, das René Wellek anhand der Poetik von William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge prägte und das Forscher wie Meyer H. Abrams als organizistisches Paradigma weiterführten.17 Da Byron, wie unten noch ausführlicher gezeigt wird, nicht aus dem romantischen Kanon ausgeschlossen werden sollte, mußten die Paradigmen des Romantischen, vor allem im Hinblick auf seine späteren Texte, erweitert werden. Das lange Zeit fehlende Interesse an einer spezifischen Literatur der 1820er und 1830er Jahre erklärt Jerome McGann nicht nur mit den Berührungsängsten der Wissenschaftler mit den sogenannten »documents of barbarism – the gilded poetry and silverfork novels of the 1820s and 1830s« im Gegensatz zu den »documents of civilization – High Romanticism«, sondern auch als Effekt des historischen Denkens und seiner kausalen Modelle.18 So seien McGann zufolge zwar die Zusammenhänge der Romantik mit dem Material des vorausgehenden Zeitraums als Vorläufer oder als Präromantik in der Forschung gut aufgearbeitet – der Frage nach dem Verhältnis des romantischen Paradigmas

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Diese Debatte beginnt spätestens mit dem richtungsweisenden Aufsatz zur Romantik von Arthur O. Lovejoy »On the Discrimination of Romanticisms«, der bereits 1924 argumentiert, daß der Begriff ›Romantik‹ im Plural gebraucht werden sollte, um die Illusion von Einheit und Kohärenz der Epoche zu vermeiden (in: PMLA 39 (1924), S. 229–253). Vgl. dazu René Wellek, »The Concept of Romanticism in Literary Scholarship«. In: Concepts of Criticism. Yale 1963, S. 147–172 und Meyer Howard Abrams, Natural Supernaturalism. Tradition and Revolution in Romantic Literature. New York, London 1973. Jerome McGann, »Rethinking Romanticism«. In: McGann, Byron and Romanticism. Hrsg. von James Soderholm. Cambridge 2002, S. 236–255, hier S. 248. [zuerst in English Literary History 59 (1992)].

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zur nachfolgenden Literatur ab 1815 würde aber weiterhin kaum Beachtung geschenkt.19 Von komparatistischer Seite gibt es nur wenige Versuche, diesen Zeitraum vergleichend in den Blick zu nehmen, was angesichts der reichhaltigen Sekundärliteratur zur europäischen Romantik verwundern mag, nach der Kenntnisnahme der unübersichtlichen Situation in den einzelnen Nationalliteraturen jedoch nicht weiter überrascht. Dennoch besteht das Desiderat einer europäischen Perspektive. Zurecht klagt Silvio Vietta ein, daß die »europäische Vernetzung des modernen Ästhetikdiskurses‹« viel zu wenig erforscht sei, im Vergleich zur »Entwicklung der einzelnen Nationalliteraturen«.20 Auch Hans Robert Jauß schreibt schon 1970 über die Literatur der 1830er Jahre, daß der »Blickzwang der Nationalliteraturen und ihrer vermeintlich autochthonen Entwicklungsgesetze« die Forschung daran gehindert habe, »die übergreifenden Tendenzen dieser neuen literarischen Epoche zu untersuchen«. 21 Während Jauß aber erst ab Ende der 1820er Jahre, vor allem hinsichtlich der französischen Literatur seit Victor Hugos Préface de Cromwell, von der ›Juli-Revolution‹ in der Literatur spricht, kann mit Verweis auf Texte Byrons festgehalten werden, daß ähnliche Strukturen und Problemstellungen schon zu einem früheren Zeitpunkt auftreten und somit in keinem direkten kausalen Verhältnis zur französischen Juli-Revolution von 1830 stehen. Auch Wolfgang Bunzel, Peter Stein und Florian Vaßen kommen aus anderer Perspektive zu dem Ergebnis, daß »die Juli-Revolution die deutschen Intellektuellen nicht automatisch politisiert und dazu angeregt [habe], engagierte Literaturkonzepte zu entwikkeln, sondern sie diente im wesentlichen als geeigneter Bezugspunkt für eine Gruppe von jungen Schriftstellern, um die eigene ästhetische und politische

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Vgl. McGann, »Rethinking Romanticism«, S. 247. Dieser Zusammenhang wird für die deutschsprachige Literatur in der germanistischen Literaturwissenschaft seit einiger Zeit mehr in den Blick genommen, wie etwa in dem bereits genannten Band von Bunzel/Stein/ Vaßen (Hrsg.), Romantik und Vormärz. Siehe darin vor allem die Einführung der Herausgeber: »›Romantik‹ und ›Vormärz‹ als rivalisierende Diskursformationen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, S. 9–46. Silvio Vietta/Dirk Kemper, »Einleitung«. In: Vietta/Kemper (Hrsg.), Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik. München 1998, S. 1–55, hier S. 1. Vietta läßt zwar die ästhetische Moderne in der (Früh-)romantik beginnen, argumentiert dann aber an der Problematik der Sattelzeit vorbei, wenn er davon ausgeht, daß »erst die literarische Produktion des 20. Jahrhunderts die in der Frühromantik vorgedachte Programmatik« einlöse (Vietta/Kemper, »Einleitung«, S. 9). Hans Robert Jauß, »Das Ende der Kunstperiode – Aspekte der literarischen Revolution bei Heine, Hugo und Stendhal«. In: Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M. 1970, S. 107–143. Auch Jörg Schönert schlägt vor, den »literarischen Wandel im Prozeß der gesellschaftlichen Modernisierung darzustellen«, was »einen systematisch anzulegenden Vergleich zwischen Konstellationen und Prozessen in den entsprechenden Nationalliteraturen« erlaube. (»Gesellschaftliche Modernisierung und Literatur der Moderne«. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der DFG. Hrsg. von Christian Wagenknecht. Stuttgart 1989, S. 393–413, hier S. 399 u. 398).

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Position zu stärken und zu legitimieren«.22 Neben anderen politischen und kulturellen Faktoren ist vor allem auch der kritisch-reflexive Bezug zur ›Diskursformation Romantik‹ für die Literatur des Zeitraums von Bedeutung. Den Bezug der Literatur der 1820er, 30er und 40er Jahre zur Romantik betont auch Virgil Nemoianu, dessen wichtige und materialreiche Studie The Taming of Romanticism einen der wenigen komparatistischen Versuche darstellt, die Literatur Deutschlands, Englands, Frankreichs und Osteuropas in der Zeit von ca. 1820–1840 zu untersuchen. Nemoianu, der sich auf den Begriff des ›Biedermeier‹ bezieht, der von Paul Kluckhohn, Julius Wiegand, Günther Weydt und Wilhelm Bietak in den 1920er und 30er Jahren als literarische Epochenbezeichnung eingeführt wurde, schreibt demgemäß: »wherever some kind of high romanticism flourished, it was followed by something resembling Biedermeier discourse and mentality«.23 Das Problem von Nemoianus Ansatz für die vorliegende Untersuchung liegt darin, daß er die Geisteshaltung der Epoche des ›Biedermeier‹, in Anlehnung an die Ergebnisse von Sengles Untersuchung Biedermeierzeit, als von Angst und Unsicherheit dominiert sieht. Charakteristikum des Zeitraums sei, Nemoianu zufolge, die ›Zähmung‹ (taming) des hochromantischen Paradigmas: The insecurity created by the vast upheavals of revolution and imperial wars led to doubts about the solidity of the ensuing Restoration [...]. The need to seek refuge in the coziness of home and hearth, garden and family follows naturally, and the wish to proclaim a soothing reform of social and national arrangements is equally escapist and angst-ridden. [...] The feeling of a drastically endangered existence in some ways caused and in some ways was the effect of the rejection of the visionary, all-integrating, titanic claims of high romanticism and led to a partial return to eighteenth-century attitudes.24

Nemoianu präsentiert das Verhältnis zwischen Aufklärung, Romantik und Biedermeier als eine ›natürliche‹ Geschichte von Aufstieg und ›titanischer‹ Größe, auf die der Fall und eine teilweise Rückkehr zu vorherigen Anschauungen erfolge. Diese Form zyklisch argumentierender Geschichtsmodelle hat McGann in seiner bedeutenden Untersuchung The Romantic Ideology kritisch als Übernahme organizistischer Argumentationsmodelle der Romantik in die Literaturwissenschaft beleuchtet.25 Die Unsicherheit in der Beschreibung des auf die Romantik folgenden Zeitraums und der Beziehungen zwischen den beiden Epochen ist charakteristisch

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Bunzel/Stein/Vaßen, »›Romantik‹ und ›Vormärz‹«, S. 11f. Virgil Nemoianu, The Taming of Romanticism. European Literature and the Age of Biedermeier. Cambridge/Massachusetts, London 1984, S. 2. Nemoianu, The Taming of Romanticism, S. 6. Siehe dazu Jerome J. McGann, The Romantic Ideology. A Critical Investigation. Chicago, London 1983.

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für die meisten europäischen Nationalphilologien. So schreibt etwa der Slavist Thomas Grob über die Lage in der russischen Literaturwissenschaft: Die russische Literatur der 1830er Jahre scheint sich einer literaturgeschichtlichen Bestimmung weitgehend zu entziehen. Kaum je wird dieses Jahrzehnt im Übergangsbereich zwischen Romantik und Realismus als Phase der literarischen Entwicklung in seiner eigenen Spezifik betrachtet [...]. In literaturgeschichtlichen Darstellungen wird das Jahrzehnt schon mangels Alternativen durchwegs der Romantik zugeschlagen, auch wenn abstrakt auf eine Übergangszeit rekurriert wird.26

Grob unternimmt es, die russische Literatur der Übergangszeit am Ende der Romantik in Anlehnung an den Begriff der ›Postmoderne‹ als ›Postromantik‹ zu charakterisieren, die er – Jauß’ Ansatz vergleichbar – allerdings auf die 1830er Jahre beschränkt.27 Für Grob »bildet das zweischneidige Bezogensein des Späteren auf das Frühere in seiner Ambivalenz von Zugehörigkeit und distanziertem Rückblick geradezu die ›Essenz‹ der Postepoche«.28 Zwar ist mit dem Konstatieren einer »Postepoche« zunächst nur ein negatives Verhältnis ausgedrückt und noch nicht das Spezifikum, das Neue dieses Zeitraums beschrieben. Es gelingt Grob jedoch über die neue Perspektivierung den spielerischen, dekonstruktiven Charakter der Texte dieses Zeitraums, hier am Beispiel der Metafiktionalität und Phantastik von Osip Senkovskij, zu fokussieren und in den Vordergrund zu rücken. Grob zufolge sei die »Pluralisierung der Dominanten [...] nicht gleichzusetzen mit mangelndem Eigencharakter«.29 Auch Byrons und Heines ›postromantische‹ Texte weisen Merkmale der Theatralität und der Maskerade, des Metafiktionalen und Zitathaften auf. Wie in dieser Untersuchung anhand ausgewählter Texte, die zwischen 1815 und 1830 entstanden sind, gezeigt werden soll, besitzen diese performativen und textüberschreitenden Aspekte bei beiden Autoren auch eine politische Dimension, die sie kritisch gegen die Literatur und Ästhetik der Romantik richten. Auch wenn hier nicht das Ziel verfolgt wird, einen weiteren Epochenbegriff einzuführen, erweist sich der Begriff des ›Postromantischen‹ für eine komparatistische Arbeit als förderlich, da mit ihm, jenseits von etablierten Epochenzuordnungen, die durch die Besonderheiten der verschiedenen Nationalliteraturen bedingt sind, eine europäische Dimension des Zeitraums herausgearbeitet

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Thomas Grob, »Metafi ktionalität, Nullpunkt und Melancholie. Osip Senkovskijs ›Phantastische Reisen des Baron Brambeus‹ am ›Ende‹ der Romantik«. In: Christine Gölz/Anja Otto/Reinhold Vogt (Hrsg.), Romantik – Moderne – Postmoderne. Frankfurt a.M. u.a. 1998, S. 71–102, hier S. 71f. Siehe auch Thomas Grob, Russische Postromantik. Epochenkrise und Metafiktionalität in der Prosa der 1830er Jahre und das Problem der literaturhistorischen Modellierung. Ms. Habilitationsschrift, Universität Konstanz 2002. Grob, »Metafi ktionalität, Nullpunkt und Melancholie«, S. 88. Grob, »Metafi ktionalität, Nullpunkt und Melancholie«, S. 74.

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werden kann.30 Dabei korrespondiert die Offenheit des Begriffs zugleich mit einem Charakteristikum der Übergangsphase zwischen 1815 und 1848: dem Umstand, daß die Normen der ›Kunstperiode‹ größtenteils verabschiedet werden, aber noch keine neue, positive Norm gesetzt ist. Darin liegt der Krisencharakter und zugleich auch die ›Modernität‹ des Zeitraums begründet.31 Angesichts der generellen Problematik von Epochenzuschreibungen stellt sich die Frage nach dem Sinn von epochenspezifischen Überlegungen. Trotz aller kulturwissenschaftlichen Problematisierungen besitzen Epochenbegriffe jedoch einen heuristischen Wert.32 Zugleich eignet Epochenkonstruktionen eine ungeheure diskursformatorische Kraft, die in einem engen Wechselverhältnis mit Prozessen der Kanonbildung steht. Gerade wegen der Bedenken gegen die Macht etablierter oder starrer Epochenbegriffe ist es daher notwendig, sie zu hinterfragen und neue Perspektiven zu wählen. Die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Texte von Byron und Heine sind zwar nicht gefährdet, aufgrund von Epochenkonstrukten in Vergessenheit zu geraten. Spezifische Merkmale ihrer Texte werden jedoch durch zu schnelle Zuordnungen zu etablierten Epochenkonstrukten dem Blick entzogen. Demgegenüber versucht diese Arbeit durch verschiedene Perspektivierungen – sowohl auf die Makrostruktur (Sattelzeit, Moderne) als auch auf die Mikrostruktur der Epoche (Romantik, Junges Deutschland, Vormärz) –, eine spezifische postromantische Schreibweise der Autoren auszuleuchten.33 30

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Interessant ist in diesem Zusammenhang die komparatistische Untersuchung von Franziska Schmitt, die deutsche und englische Texte der Romantik im Hinblick auf den Aspekt des Fragmentarischen betrachtet und für Byrons Ausnahmestellung unter den Romantikern auch den Begriff des ›Postromantischen‹ verwendet. Sie kommt in bezug auf Byrons Versepos Don Juan zu dem Ergebnis, daß das »völlige Fehlen jeder Teleologie […], jedenfalls im Vergleich mit der Frühromantik, geradezu als postromantisch betrachtet werden« könne. Die Einschränkung auf den Vergleich zu den deutschen Romantikern, die sie vornimmt, überrascht insofern, als sie schon an früherer Stelle betont, daß alle Romantiker, englische und deutsche, mit »Ausnahme von Byron […] eine Totalität als prä- oder parasubjektive Einheit, die dem reflexiven Bewußtsein nicht verfügbar ist«, postulieren (Franziska Schmitt, ›Method in the Fragments‹. Fragmentarische Strategien in der englischen und deutschen Romantik. Trier 2005, S. 370 u. 311 ). Günter Oesterle, der auf den experimentellen Charakter der Texte dieses Zeitraums hinweist, spricht von »kühnen literarischen, die Innovationen der Wissenschaften aufgreifenden Experimente[n]« (Günter Oesterle, »Zum Spannungsverhältnis von Poesie und Publizistik unter dem Vorzeichen der Temporalisierung«. In: Bunzel/Stein/Vaßen (Hrsg.), S. 199–211, hier S. 199). Vgl. in diesem Kontext auch die Arbeit von Gustav Frank, Krise und Experimente. Komplexe Erzähltexte im literarischen Umbruch des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1998. Vgl. dazu auch Christoph Bode, der den Konstruktcharakter des Epochenkonzepts ›Romantik‹ hervorhebt, ihm aber trotz aller Heterogenität einen Erkenntniswert zuspricht. Denn das Konstrukt ›Romantik‹ trage zu einer Fokussierung der Diskussionen bei und lasse im Hinblick auf eine europäische Romantik Ähnlichkeiten und Unterschiede erst erkennbar werden (Bode, »Europe«, S. 126f.). Für die Unterscheidung zwischen einer literarischen Epoche der Moderne, welche die Zeit um 1900 (Mikroepoche) bezeichnet und einem Makroepochenbegriff ›Moderne‹, der den Langzeitzusammenhang von ca. 1750 bis in die Gegenwart beschreibt vgl. Silvio Vietta, Die

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2.

›Übergänge‹ im Selbstbewußtsein der Epoche

Zur Liste der Kennzeichen, die in der Forschung zur Beschreibung von Modernität ab 1800 dienen, gehört die Rede von ›Transitorität‹ und vom ›Übergang‹.34 Im folgenden Kapitel soll gezeigt werden, wie das Epochenbewußtsein die Rede vom Übergang bereits selbst hervorbringt und sich selbst als transitorisch begreift, was in ein anhaltendes Krisenempfinden mündet. Um den historischen Zusammenhang der Rede vom ›Übergang‹ darzustellen, richtet sich der Blick zunächst auf den diskurs- und mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund der zeitgenössischen Rede vom ›Übergang‹ und dem Empfinden einer Krisis, also auf den größeren literarischen und soziokulturellen Zusammenhang von Modernität und Modernisierung der sogenannten Sattelzeit, die Reinhart Koselleck von ca. 1750 bis 1830 datiert.35 Um den spezifischen Schwellencharakter des Zeitraums zwischen 1815 und 1848 präziser zu bestimmen, wird der politische und literarisch-ästhetische Kontext des Schwellenbewußtseins der Sattelzeit hinsichtlich einer radikalen Veränderung des Zeitbewußtseins näher dargestellt. Dabei wird sich zeigen, daß der Topos der Krise und des Übergangs sich bereits früh im Selbstbewußtsein dieses Langzeitzusammenhangs, der von gesellschaftlichen, politischen, sozialen, ökonomischen und ästhetisch-kulturellen Umbrüchen gleichermaßen gekennzeichnet ist, herausbildete. Daran anschließend (Kap. I.3) wird die Übergangsposition der Poetik von Byrons und Heines Texten im Fokus stehen im Hinblick auf postromantische Verschiebungen innerhalb des Modernisierungstheorems der früheren zur späteren Phase der Sattelzeit.

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literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard. Stuttgart 1992, S. 33ff. und Vietta/Kemper (Hrsg.), Ästhetische Moderne in Europa, S. 17ff. sowie den zusammenfassenden Aufsatz von Dirk Kemper: »Moderneforschung als literaturwissenschaftliche Methode«. In: Das Wort. Germanistisches Jahrbuch GUS (2003), S. 161–202. Vgl. Britta Herrmann/Barbara Thums, »Einleitung«. In: Herrmann/Thums (Hrsg.), Ästhetische Erfindung der Moderne? Perspektiven und Modelle 1750–1850, Würzburg 2001, S. 7–26, hier S. 7. Den Begriff der »Sattelzeit« führt Koselleck ein in der Einleitung zu Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck. Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIII-XXVII, hier S. XV. Auf die Modernität dieses Zeitraums wurde in der Forschung der letzten drei Jahrzehnte wiederholt hingewiesen. Hier sei nur auf die Sammelbände von Dieter Bänsch (Hrsg.), Zur Modernität der Romantik. Stuttgart 1977 und Ernst Behler (Hrsg.), Die Aktualität der Frühromantik. Paderborn u.a. 1987 verwiesen.

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2.1.

Übergänge (I): Zeitbewußtsein um 1800. Die Französische Revolution und das Zerbrechen des Kontinuums von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Als Übergangsperiode stellt sich die Sattelzeit nicht nur für den reflektierenden (Literar-)Historiker dar, sondern auch im geschichtlichen Selbstverständnis der Zeitgenossen wurde der transitorische Charakter der Gegenwart immer wieder betont und reflektiert. Georg Wilhelm Friedrich Hegel schrieb bereits 1807 in seiner »Vorrede« zur Phänomenologie des Geistes, es sei »nicht schwer zu sehen, daß unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist«.36 Das Bewußtsein der Zeitgenossen, an einer epochalen Wende zu stehen, ist eng verknüpft mit dem Ereignis der Französischen Revolution. Einer der deutschen Augenzeugen der Revolution, Joachim Heinrich Campe, der seine Erlebnisse in Frankreich unmittelbar dokumentierte und als Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben veröffentlichte, stellte die herausragende Bedeutung der Revolution für die eigene Epoche heraus, indem er sie als »eins der größten politischen Schauspiele, welche die Welt in neuern Zeiten gesehen hat« kennzeichnet.37 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts prägten aber nicht nur die politisch brisanten Ereignisse in Frankreich die Gesellschaft und das öffentliche Leben, sondern auch die zum Teil damit einhergehenden soziokulturellen Veränderungen, wie der Zerfall der Ständegesellschaft, der rasante Bevölkerungsanstieg, die Veränderung der Kommunikationsstrukturen und nicht zuletzt das stete ökonomische Wachstum, das auf die in Großbritannien

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Bd. 3. In: Werke. 20 Bde. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu ed. Ausgabe. Red. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1970, S. 18. Joachim Heinrich Campe, Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben. In: Die Französische Revolution. Berichte und Deutungen deutscher Schriftsteller und Historiker. Hrsg. von Horst Günther. Frankfurt a.M. 1985, S. 10. [In Buchform zuerst 1790 veröffentlicht]. Die Verunsicherung der Zeitgenossen, wie das Ereignis der Revolution im Geschichtsverlauf zu interpretieren sei, spiegelt sich in den unterschiedlichen Deutungsarten, auf die Friedrich Schlegel neun Jahre später in den Athenäumsfragmenten noch zurückkommt, wobei auch er auf die Metapher des Schauspiels rekurriert: »Man kann die Französische Revolution als das größte und merkwürdigste Phänomen der Staatengeschichte betrachten, als ein fast universelles Erdbeben, eine unermeßliche Überschwemmung in der politischen Welt; oder als ein Urbild der Revolutionen, als die Revolution schlechthin. Das sind die gewöhnlichen Gesichtspunkte. Man kann sie aber auch betrachten als den Mittelpunkt und den Gipfel des französischen Nationalcharakters, wo alle Paradoxien desselben zusammengedrängt sind; als die furchtbarste Groteske des Zeitalters, wo die tiefsinnigsten Vorurteile und die gewaltsamsten Ahndungen desselben in ein grauses Chaos gemischt, zu einer ungeheuren Tragikomödie der Menschheit so bizarr als möglich verwebt sind.« (Schlegel, KSA II, S. 247f.) Zur Schauspielmetapher im Kontext der Französischen Revolution vgl. Gerhard Kurz, »Mythisierung und Entmythisierung der Revolution. Die Französische Revolution als Schauspiel der Geschichte«. In: Dietrich Harth/Jan Assmann (Hrsg.), Revolution und Mythos. Frankfurt a.M. 1992, S. 128–145.

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bereits um 1750 einsetzende Industrialisierung zurückzuführen ist.38 So betont auch Marilyn Butler in ihrer Studie Romantics, Rebels and Reactionaries, in der sie die Kontexte der englischen Literatur für den Zeitraum von 1760–1830 untersucht, daß zwar die politische Veränderung in Form der Französischen Revolution das deutlichste Zeichen des Wandels und Übergangs darstellte, aber die industrielle Revolution zusammen mit dem enormen Bevölkerungswachstum und der Ausweitung von Industrie und Handel eine in ihren Auswirkungen mindestens ebenso große Umwälzung darstellte.39 Unter dem Eindruck eines immer schnelleren Wandels im gesellschaftlichsozialen, politischen und ökonomischen Bereich gehörte, so Koselleck, spätestens seit 1815 »das Bewußtsein der Übergangszeit zur allgemeinen Erfahrung der europäischen Völker«.40 Das deutsche Wort ›Übergang‹ löst sich um 1800 aus der vorwiegend räumlichen semantischen Verwendung hin zu einer temporalen, die nicht mehr nur einen Punkt in der Zeit, sondern – vergleichbar mit dem Bedeutungswandel des Begriffs ›Epoche‹ von Halte- bzw. Zeitpunkt zu Zeitabschnitt41 – einen längeren Zeitraum markiert. Diese Bedeutung wird betont in den zahlreichen Kompositabildungen wie ›Übergangsepoche‹, ›Übergangsstadium‹, ›Übergangserscheinung‹ oder ›Übergangsperiode‹, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts geläufig wurden.42 Bemerkenswert ist, daß diese Beobachtung in ganz ähnlicher Weise auch für den englischen Sprachraum gemacht werden kann. Während das einschlägige Oxford English Dictionary für die Zeit vor 1800 eine Verwendung des Wortes ›transition‹ vor allem in der Rhetorik und Musik nachweist, finden sich allgemein Komposita mit ›transition‹ und besonders solche Zusammensetzungen, die einen Übergangszeitraum ausdrücken, wie »transition period«, »transition state« oder »transition stage«, erst nach 1800.43 Ein Eintrag im

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Vgl. Walter Demel, »Der Prozeß der Modernisierung der Gesellschaft: Französische Revolution, Industrialisierung und sozialer Wandel«. In: Vietta/Kemper (Hrsg.), Ästhetische Moderne in Europa, S. 71–95. Vgl. dazu auch Marilyn Butler, Romantics, Rebels and Reactionaries. English Literature and its Background 1760–1830. Oxford 1981, S. 4. Reinhart Koselleck, »›Neuzeit‹. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe«. In: Koselleck (Hrsg.), Studien zum Beginn der modernen Welt. Stuttgart 1977, S. 264–299, hier S. 285. Vgl. den Artikel von Manfred Riedel, »Epoche, Epochenbewußtsein«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter. Bd. 2, Basel 1972, Sp. 596–599 und Burkhart Steinwachs, »Was leisten (literarische) Epochenbegriffe?«, S. 313. Vgl. den Eintrag »Übergang« in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bearb. von Victor Dollmayr und der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuchs. München 1999 [Fotomechan. Nachdruck der Erstausgabe 1936–1971; Neudruck in 33 Bänden], Bd. 23, Sp. 245–250, bes. Sp. 248–250. The Oxford English Dictionary. Second edition. Bearbeitet von John A. Simpson u. Edmund S. C. Weiner. Oxford 1989, Bd. 18, S. 407. Dies belegt auch Samuel Johnsons Wörterbuch von 1755, in dem unter dem Eintrag ›transition‹ die Bedeutung von ›Zeitraum‹ noch nicht vorkommt und keine Kompositabildungen mit ›transition‹ erwähnt werden. Samuel Johnson, A Dictionary of the English Language: in which the Words are deduced from their Origi-

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OED (James Tait: Mind in Matter, 1884) belegt, daß noch Ende des 19. Jahrhunderts ›transition-stages‹ im Kontext der Beschreibung der Revolutionäre thematisiert wurden, und macht so den ausdrücklichen Zusammenhang zwischen ›Übergang‹ und ›Revolution‹ im Empfinden der Zeitgenossen und im gesamten 19. Jahrhundert explizit.44 Auf die Verbindung zwischen der neuen Zeitwahrnehmung und den Ereignissen der Französischen Revolution verweist auch Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Lexikonbeitrag »Modern, Modernität, Moderne« in dem Standardwerk Geschichtliche Grundbegriffe. Bei den französischen Revolutionspolitikern – so Gumbrecht – erwuchs »aus der sich überstürzenden Abfolge der politischen Umwälzungen die neue geschichtliche Erfahrung, daß die eigene Zeit nur vorbereitender Durchgang zur Zukunft sei«.45 Als Folge der anhaltenden Konfrontation mit politischen und sozialen Veränderungen wurde die Gegenwart im Epochenbewußtsein zunehmend zu einem Provisorium, einer Zwischenzeit zwischen dem Ende der alten und dem Beginn einer neuen Zeit. Die vielfältigen, sich überstürzenden Prozesse des Wandels, die alle Lebensbereiche seit dem Ende des 18. Jahrhunderts erfaßten und nicht selten mit starker Verunsicherung einhergingen, beschreibt Koselleck als Phänomen der Dynamisierung und Beschleunigung, das sich in der Verkürzung der »Ereignis- und Erfahrungsfristen« äußerte.46 Die Wahrnehmung der Gegenwart als Zeit der Krise und des Übergangs korreliert also mit dem Erlebnis einer zunehmenden Beschleunigung der Zeit, das sich in der zweiten Hälfte der Sattelzeit noch verstärkte. So schreibt Ernst Moritz Arndt 1806 über den Geist der neuen Zeit: »Die Zeit ist auf der Flucht […]. Ungeheure Dinge sind geschehen, große Verwandlungen hat die Welt still und laut, im leisen Schritt der Tage und in den Orkanen und Vulkanen der Revolutionen erlitten; Ungeheures wird geschehen, Größeres wird verwandelt werden.«47 Die Geschwindigkeit, in der sich die Relationen von alt und neu verschoben, ließ das Zeit- und Traditionskontinuum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ins Wanken geraten.48 Die Orientierung an der Vergangenheit wird durch den Blick nach vorne abgelöst, den Blick in eine »offene

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nals, illustrated in their different Significations by Examples from the best Writers. London 1983 [photomechanischer Nachdruck der Ausgabe London 1755], o. S. Vgl. The Oxford English Dictionary, Bd. 18, S. 407. Hans Ulrich Gumbrecht, »Modern, Modernität, Moderne«. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93–131, hier S. 103. Koselleck, »Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit«, in: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. München 1987 (= Poetik und Hermeneutik; Bd. XII), S. 269–282, hier S. 280. Ernst Moritz Arndt, Der Geist der Zeit. Hrsg. von Heinrich Meisner. Leipzig 1908, Bd. I, S. 49. Vgl. Reinhart Koselleck »Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt«. In: Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 176– 207, bes. S. 199.

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Zukunft«, die sich in der Erwartung der Zeitgenossen durch ihre Neuartigkeit definiert.49 Auch der Bedeutungsgehalt des Wortes ›revolution‹ unterliegt einer entscheidenden Veränderung, die symptomatisch für den Wandel des Zeitbewußtseins am Ende des 18. Jahrhunderts ist. In der deutschen wie in der englischen Sprache entstammt der Begriff ›Revolution‹ dem Bereich der Astronomie. In diesem Kontext, wie auch in religiösen oder wissenschaftlichen (wie zum Beispiel geologischen) Verwendungsweisen steht das Wort ›Revolution‹ für die Rückkehr zu einem Anfangspunkt nach einer ganzen Umdrehung (von lat. revolutio, ›das Zurückwälzen‹). In der Bedeutung von ›Wiederkehr‹, ›Rückkehr‹ und ›Wiederholung‹ assoziiert der Begriff Kreisläufigkeit, was konträr zu der modernen Verwendung steht, die sich seit der Französischen Revolution durchsetzte. Der neue Sinn von ›Revolution‹ in Geschichte und Politik wurde allmählich im Kontext der Geschichtsphilosophie der Aufklärung dominant und beinhaltete die Vorstellung von einem langfristigen Wandel, die Ablösung der Vergangenheit und die Ausrichtung auf eine andersartige, utopische Zukunft.50 Die Tatsache, daß die Kontinuität mit der Vergangenheit und ihren Autoritäten immer stärker verloren ging, rief aber auch vehemente Gegner auf den Plan, die versuchten, sich dem Wandel und der Modernisierung der Gesellschaft entgegenzustellen. Einer der ausgeprägtesten Gegner der ›neuen‹ Zeit war der konservative Politiker und Theoretiker Edmund Burke. Seine berühmte Schrift Reflections on the Revolution in France von 1790 stellt eines der frühesten Dokumente negativer Reaktionen in England auf die französische Volkserhebung dar und löste unmittelbar eine Flut von Gegenreaktionen aus wie Mary Wollstonecrafts A Vindication of the Rights of Men, in a Letter to the Right Hon. Edmund Burke; ocassioned by his Reflections on the Revolution in France (1790), William Godwins Enquiry Concerning Political Justice and its Influence on Morals and Happiness (1793) oder Tom Paines The Rights of Man (1791/92).51 Burke bekämpft in seiner polemischen Abhandlung die Französische Revolution, gerade weil er sie für den Verlust von Tradition verantwortlich macht und eine ähnliche Entwicklung für die englische Nation zu verhindern sucht. Zu diesem Zweck beschwört er Loyalität und Treue zur alten gewachsenen, organischen Ordnung der Nation mit der Trope des pars pro toto: Der Staat erscheint als große Familie, mit dem Monarchen als Vater an der Spitze. 49 50

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Koselleck, »Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit«, S. 280. Vgl. dazu Reinhart Koselleck, »Revolution. Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg«. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 653–788, hier S. 714ff. So betrachten viele der politischen Schriften, die im Anschluß an die Französische Revolution entstanden, wie etwa William Godwins Enquiry Concerning Political Justice von 1793, die Gegenwart nicht mehr als Endpunkt der Vergangenheit, sondern als Durchgangsstadium hin zu einem Zeitalter utopischer Erfüllung. Vgl. dazu die Textsammlung und den einführenden Essay von Marilyn Butler (Hrsg.), Burke, Paine, Godwin and the Revolution Controversy. Oxford 1984.

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Burkes Perspektive kann als Fixierung auf die Vergangenheit beschrieben werden, insofern er in nostalgischer Rückwendung das Mittelalter verklärt und die mora lischen und nationalen Werte des Rittertums rühmt, um sein Ideal eines hierarchisch geordneten Staates zu verteidigen. Seine Bemühungen, die Tradition zu bewahren, sind aber bereits Symptom ihres Verlustes und sichtbares Zeichen des Umbruchs. In seiner negativen Vision vom Beginn einer moralisch verarmten Zeit durch die Zerstörung des Traditionskontinuums konstatiert auch er den Übergang von einer alten in eine neue Zeit. Sechs Jahre nach dem Erscheinen der Reflections artikuliert Burke in dem Pamphlet A Letter to a Noble Lord (1796) nochmals in besonders eindringlicher und bewußt irrationaler, gegenaufklärerischer Sprache seinen Standpunkt in der Revolutionsdebatte. Das Bedrohliche und Verstörende an der Revolution sei – so heißt es dort –, daß ihre Akteure »left nothing, no nothing at all unchanged«.52 Burke lehnt das auf Innovation basierende Neue ab, was in der Formulierung »[t]o innovate is not to reform« anklingt. Diese Bemerkung erläutert er wie folgt: »It was then not my love, but my hatred to innovation, that produced my Plan of Reform. Without troubling myself with the exactness of the logical diagram, I considered them as things substantially opposite«.53 Das Wort ›Innovation‹ beinhaltet ethymologisch novus, also ›neu‹, und wird schon bald zusammen mit den Schlagwörtern ›Überbietung‹ und ›Innovationsdruck‹ zu einem der dominanten Kennzeichen der Moderne. Während »innovate« folglich ›neu machen‹ oder ›verändern‹ bedeutet und den Revolutionären zugeschrieben wird, sieht Burke seine Position als Reformer, da er das Traditionskontinuum zu bewahren versucht und gewaltsame Veränderungen ablehnt, wie die Umkehrung der etablierten Ordnung und die Auflösung tradierter Werte in der Französischen Revolution. Die grundsätzliche Opposition, auf die Burke durch sein Gegensatzpaar ›Innovation‹ – ›Reform‹ abzielt, ist die zwischen Chaos und Anarchie auf der einen Seite und Form, Gesetz und Ordnung auf der anderen. Die Bedeutung des Wortes ›reform‹, das als Wortstamm ›Form‹ ja schon enthält und bis heute den paradigmatischen Gegensatz zur Revolution bildet, ist dementsprechend nicht ›neu machen‹ wie in ›innovate‹, sondern ›besser machen‹, was die Kontinuität zur Vergangenheit und zu den Vorgaben der Tradition betont. Um das bestmögliche Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie Individuum und Staat bildlich zu fassen, rekurriert Burke auf die relativ junge Metapher des Organismus, die für ihn Kontinuität, innere Notwendigkeit, Gesetzmäßigkeit und sinnvolles Zusammenspiel zwischen Teil und Ganzem, Individuum und Staat bedeutet.54 52 53 54

Butler (Hrsg.), Burke, Paine, Godwin, S. 51. Butler (Hrsg.), Burke, Paine, Godwin, S. 51. Im deutschsprachigen Raum wird das Modell des Organismus in den Schriften Johann Gottfried Herders als Opposition zu der aufklärerischen Metapher von der Maschine eingeführt. Für Manfred Engel ist Herders Organismuskonzept Ausdruck eines »metaphorologischen

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So ist die zentrale These in Burkes revolutionskritischen Schriften, daß nur in der Monarchie die organische Nation verwirklicht werden könne. Burkes Kritik an der Revolution kann als Ausdruck des Widerstands gegen die ›neue Zeit‹ gesehen werden, die von Innovation und Orientierung an der Zukunft geprägt ist. In deutlicher Opposition zu dem neuen Zeitbewußtsein klagt Burke im Modell des Organismus und im Bild des Staates als Familie die Kontinuität mit der Vergangenheit ein.55 2.2.

Übergänge (II): Die Kategorie der Gegenwart und die deutsche ästhetische Debatte um 1800 vor dem Hintergrund der französischen Querelle des Anciens et des Modernes

Auch in der ästhetischen Debatte vollzieht sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allmählich ein Übergang von der Bezogenheit auf die Autorität der Vergangenheit und ihre ästhetischen Normen hin zu einer Orientierung an der Zukunft bzw. an den zukünftigen Generationen.56 Die Frage nach der überzeitlichen Gültigkeit antiker Normen war bereits Gegenstand der Querelle des Anciens et des Modernes, die mit Charles Perrault in Frankreich am Ende des 17. Jahrhunderts begann. Der Gedanke des Fortschritts, der in Anlehnung an die Errungenschaften in den Wissenschaften seit der Neuzeit entstand, führte zu einem neuen Verständnis des Verhältnisses zwischen Antike und Moderne. Den ›Modernen‹ zufolge verkehrte die Zunahme an Erkenntnis seit der Antike die Relation Lehrer – Schüler, die zwischen Altertum und Neuzeit herrschte.57 Die überzeitliche Vorbildhaftigkeit der Anciens wurde von Perrault in seinem

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Paradigmenwechsels« am Ende des 18. Jahrhunderts (Manfred Engel, Der Roman der Goethezeit. Bd. 1.: Anfänge in Klassik und Romantik: Transzendentale Geschichten. Stuttgart, Weimar 1993, S. 51). Wie Herder übt auch Burke Kritik an der Aufklärung, was sich am offensichtlichsten in einem irrationalen Grundzug und der Zuwendung zum Mittelalter äußert. Die Differenzen, vor allem in der Auffassung eines idealen Staates – Herder kritisiert gerade mit dem Modell des Organismus den absolutistischen Staat Preußens als Maschine –, sind allerdings fundamental, auch wenn beide auf die Metapher des Organismus zurückgreifen. Das Bild des Staates als Familie ist auch in den Gesellschafts- und Staatstheorien der deutschen Romantiker zu finden, wie etwa in Adam Müllers Elemente der Staatskunst (1809) oder in Friedrich Schlegels Aufsatz Signatur des Zeitalters (1823). Auch wenn in Deutschland die Schriften und Fragmente von Novalis als Hintergrund für die Vorstellung vom Staat als Familie gelten, muß aus europäischer Perspektive die Bedeutung Burkes für dieses Staatsmodell hervorgehoben werden. Novalis kannte Burkes Reflections – sie wurden bereits 1793 von Friedrich von Gentz ins Deutsche übersetzt – und äußerte seine Faszination für dieses Buch in einem Aphorismus aus der Sammlung Blüthenstaub von 1798 so: »Es sind viele antirevoluzionäre Bücher für die Revoluzion geschrieben worden. Burke hat aber ein revoluzionäres Buch gegen die Revoluzion geschrieben« (Novalis, Vermischte Bemerkungen und Blüthenstaub, NS II, S. 459). Zum Aspekt der Orientierung am Urteil zukünftiger Generationen vgl. Hans Robert Jauß, »Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität«. In: Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, S. 11–66, hier S. 34f. Vgl. Jauß, »Literarische Tradition«, S. 30.

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groß angelegten Werk Parallèle des Anciens et des Modernes (1688–1697) in dem Bereich der Künste hinterfragt. Die Ergebnisse dieser Studie führen jedoch bei Perrault nicht dazu, wie Hans Robert Jauß betont, das Modell des Fortschritts in den Wissenschaften auch für die Künste zu behaupten, sondern vielmehr zu der Einsicht der grundsätzlichen Unvergleichbarkeit antiker und moderner Kunst aufgrund ihrer geschichtlich bedingten Unterschiedlichkeit.58 Dieser erste Schritt zu einer historischen Interpretation antiker Kunst führte sukzessive zur Lösung von der Tradition und ihrer Autorität. Neben das Ideal des ewigen, universellen Schönen (beau absolu) tritt das zeitbedingte Schöne (beau relatif ), das die Fixierung auf eine normativ gedachte Vergangenheit ablöst. Noch Baudelaires Essay Peintre de la vie moderne von 1859 knüpft an die in der Querelle gewonnene Erkenntnis der Historizität des Schönen an und betont die Dimension der Gegenwart für das Schöne. Denn das Schöne, schreibt Baudelaire in seinem Essay, sei wesentlich »ein Doppeltes«, das aus »einem ewigen, unveränderlichen Element [...] und einem relativen, von den Umständen abhängigen Element« bestehe, wie es etwa die Mode oder die Epoche darstelle.59 Auch in der deutschen Ästhetiktheorie macht sich am Ende des 18. Jahrhunderts das neue Zeitbewußtsein, das sich unter dem Eindruck permanenter Veränderungen und Innovationen verstärkt herauszubilden begann, in einem veränderten Bewußtsein der eigenen Modernität bemerkbar. Exemplarisch zeigt sich das anhand der in europäischer Perspektive ästhetisch avancierten, fast zeitgleich entstandenen Schriften Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96) von Friedrich Schiller und Über das Studium der griechischen Poesie (1795/97) von Friedrich Schlegel, die beide das Verhältnis zwischen antiker und moderner Dichtung näher zu bestimmen versuchten. Damit führen beide, wie Jauß in seiner wichtigen Untersuchung »Schlegels und Schillers Replik auf die ›Querelle des Anciens et des Modernes‹« darlegen konnte, in ihren Texten die Fragestellungen der Querelle fort.60 Sowohl Schiller als auch Schlegel formulieren ihre ästhetische Diagnose der Moderne innerhalb einer geschichtsphilosophischen Perspektive des Progresses. Allerdings liegt ihrer historischen Betrachtung der Verschiedenheit zwischen Antike und Moderne

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Vgl. Jauß, »Literarische Tradition«, S. 32. Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens. In: Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden. Hrsg. von Friedhelm Kemp/Claude Pichois in Zus.arbeit mit Wolfgang Drost. Bd. 5: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857–1860. München, Wien 1989, S. 215. Die Verbindung von Zeitbewußtsein, Mode und Moderne beschreibt aus systemtheoretischer Perspektive Elena Esposito, Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden: Paradoxien der Mode (aus dem Italienischen von Alessandra Corti). Frankfurt a.M. 2004. Zur hier beschriebenen Problematik von Wandel und Kontinuität vgl. bes. Kapitel 5: »Die Einzigartigkeit der Gegenwart«, S. 96–113. Vgl. Hans Robert Jauß, »Schlegels und Schillers Replik auf die ›Querelle des Anciens et des Modernes‹«. In: Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, S. 67–106.

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ein triadisches Geschichtsmodell zugrunde, in dem die Gegenwart, vor allem bei Schlegel, als defizitärer Zustand begriffen wird, der in einer utopischen Zukunft durchschritten und überwunden werden soll. Das Ideal einer Versöhnung antik-natürlicher und modern-künstlicher Bildung, das beide Schriften verfolgen, wird bei Schiller in der Figur einer unendlichen Annäherung, bei Schlegel in einer Mischung aus Fortschritt und »plötzliche[m] Sprung« gedacht, den er von einer künftigen ästhetischen Revolution erwartete.61 In seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung gibt Schiller mit Blick auf die Idee von der Natur als »innere[r] Notwendigkeit« und »ewige[r] Einheit mit sich selbst« eine anthropologische Analyse des modernen Gegenwartsbewußtseins: 62 Wir sind frei, und sie [die Erscheinungen der Natur, A.B.] sind notwendig; wir wechseln, sie bleiben eins. Aber nur, wenn beides sich miteinander verbindet – wenn der Wille das Gesetz der Notwendigkeit frei befolgt und bei allem Wechsel der Phantasie die Vernunft ihre Regel behauptet, geht das Göttliche oder das Ideal hervor. Wir erblicken in ihnen also ewig das, was uns abgeht, aber wonach wir aufgefordert sind zu ringen, und dem wir uns, wenn wir es gleich niemals erreichen, doch in einem unendlichen Fortschritte zu nähern hoffen dürfen. Wir erblicken in uns einen Vorzug, der ihnen fehlt, aber dessen sie entweder niemals, wie das Vernunftlose, oder nicht anders als indem sie unsern Weg gehen, wie die Kindheit, teilhaftig werden können.63

Schiller beschreibt den Mangel der Gegenwart als Verlust des ›Naiven‹, der sich erst im Bewußtsein des ›Sentimentalischen‹ äußert. Die Überwindung dieses Mangels wird auf die Zukunft projiziert und nur über einen graduellen, unumkehrbaren Prozeß der Annäherung erreicht. Schillers Fortschrittsmodell kennzeichnet im Gegensatz zu Schlegels jedoch, daß es der Gegenwart einen höheren Wert beimißt als der zwar vollkommenen, aber unbewußten Antike. Obwohl in der Gegenwart ein elementarer Mangel herrscht, zeichnet sich der moderne Mensch gegenüber dem Vernunftlosen der Natur sowie den »Kindern und kindlichen Völkern«64 durch den Vorzug der Bewußtheit und der Reflexion aus. Friedrich Schlegels frühe Schrift Über das Studium der griechischen Poesie, die als eine der ersten den Kanon des Schönen verläßt, rekurriert ähnlich wie Schillers Abhandlung zur Diagnose der modernen Dichtung auf das Modell der Stufenleiter, das von der griechischen Antike bis in die Gegenwart reicht. Auf

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»Die Rückkehr von entarteter Kunst zur echten, vom verderbten Geschmack zum richtigen scheint nur ein plötzlicher Sprung sein zu können, der sich mit dem steten Fortschreiten, durch welches sich jede Fertigkeit zu entwickeln pflegt, nicht wohl vereinigen läßt.« (Schlegel, KSA I, S. 255) Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, SW 5, S. 695. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, SW 5, S. 695f. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, SW 5, S. 696.

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Schlegels Studium-Aufsatz wird im folgenden unter Einbezug seiner frühromantischen Positionen umfangreicher eingegangen. Denn seine theoretischen Äußerungen zur Ästhetik werden sowohl wiederholt in der Byron- als auch in der Heine-Forschung zur Diskussion der Poetik ihrer Texte herangezogen. Das charakteristische Merkmal der modernen Dichtung der Gegenwart ist Schlegel zufolge »das Interessante d.h. subjektive ästhetische Kraft«, was sich in wirkungsästhetischer Hinsicht als das ›Reizende‹ äußert. Anders als Schiller bewertet Schlegel die Gegenwart innerhalb seines geschichtsphilosophischen Ansatzes nur als notwendigen Übergang, um »zum Objektiven und Schönen gelangen« zu können.65 Objektivität als »Wiederherstellung der echten schönen Kunst« sei nicht durch die rückwärtsgewandte Nachahmung der Antike erneut zu erreichen, sondern im progressiven Durchlauf verschiedener Stufen.66 Der an Winckelmann geschulte Klassizist Schlegel gesteht dem »Interessante[n] in der Poesie nur eine provisorische Gültigkeit« zu.67 Die »Anarchie« der Gegenwart, die sich in der Dominanz des Interessanten manifestiert, interpretiert Schlegel demzufolge als »Krise des Übergangs von der zweiten zur dritten Periode«, bevor in Theorie, Nachahmung, Kunst und Geschmack das »Objektive wirklich erreicht« werde.68 Die ersten Anzeichen des Umschlags ins Objektive sieht Schlegel in der Ästhetik von Baumgarten und Sulzer, in der Philosophie von Kant und in der Poesie von Schiller und Goethe realisiert.69 Die Idee des »zweckmäßige[n] Fortschritt[s]« ermöglicht Schlegel somit eine »Erklärung und Rechtfertigung für die Mängel und Ausschweifungen des wahrhaft großen Künstlers«, die er zugleich als Zeichen der bevorstehenden Wende von äußerster Subjektivität ins Objektive deutet.70 Gleichzeitig erfährt die Gegenwart bei Schlegel wie schon bei Schiller eine Aufwertung als vorbereitender Durchgang hin zu einer utopischen Zukunft. In der Deutung der gegenwärtigen subjektiven, modernen Literatur als Zeichen eines Umschlags besteht die »glänzende Rechtfertigung der Modernen«, die Schlegel zu Beginn seines Essays ankündigt.71 Schlegel diagnostiziert mit seiner Theorie des Interessanten im Bereich des Ästhetischen hellsichtig das neue Zeit- und Epochenbewußtsein der Makroepoche Moderne, das auf Wandel und Innovation beruht. Das Prinzip der

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Schlegel, KSA I, S. 208 und 214. Der Begriff des Interessanten besitzt bereits eine Vorgeschichte im 18. Jahrhundert. Vgl. dazu Doris Bachmann-Medick, Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1989, bes. Kap. III: »Interesse: Christian Garves ästhetisch-moralphilosophische Konzeption des ›Interessirenden‹«. Schlegel, KSA I, S. 354. Schlegel, KSA I, S. 215. Schlegel, KSA I, S. 355. Vgl. Schlegel, KSA I, S. 364ff. Schlegel, KSA I, S. 354. Schlegel, KSA I, S. 208.

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Innovation erscheint im ästhetisch-literarischen Diskurs als Kategorie des Neuen, als das Interessante und Reizende, das in immer kürzeren Zeitabständen überboten werden muß, weil – wie Schlegel es formuliert –, derjenige Geschmack, der die »alten Reize je mehr und mehr gewohnt, nur immer heftigere und schärfere begehren« wird.72 Die Feststellung, daß das Neue von heute sich schon bald als das Alte von gestern erweisen wird, führt zu einer wechselhaften Orientierung an der Zukunft, die einhergeht mit dem Verlust des autoritativen und überzeitlichen Stellenwerts antiker Vorbilder. Dieser »Führungswechsel der Zeithorizonte«,73 in dem die Gegenwart nicht mehr den Endpunkt der Vergangenheit darstellt, sondern auf eine offene Zukunft verweist, die von der Gegenwart beeinflußt wird, setzt eine Überbietungslogik und einen Innovationsdruck frei, der für Schlegel im literarischen Bereich in der Erscheinung des »Piquante[n]«, »Frappante[n]« und »Choquante[n]«74 gipfelt, die er mit folgenden Worten erläutert: Das Piquante ist, was eine stumpfgewordne Empfindung krampfhaft reizt; das Frappante ist ein ähnlicher Stachel für die Einbildungskraft. Dies sind die Vorboten des nahen Todes. Das Fade ist die dünne Nahrung des ohnmächtigen, und das Choquante, sei es abenteuerlich, ekelhaft oder gräßlich, die letzte Konvulsion des sterbenden Geschmacks.75

Schlegel schildert hier mit drastischer Semantik und plastischen Bildern das Prinzip der Überreizung in der Literatur der Gegenwart, das Walter Scott noch 1827 in seiner polemischen Rezension On the Supernatural in fictitious Composition an der deutschen phantastischen Literatur, speziell an den Schriften E.T.A. Hoffmanns, beklagte. Während im Studium-Aufsatz für Schlegel die »Herrschaft des Interessanten [...] durchaus nur eine vorübergehende Krise des Geschmacks« darstellt, wird das Interessante in den späteren Athenäumsfragmenten und im Gespräch über die Poesie zur positiven Bestimmung des Romantischen.76 Mit der Charakterisierung der modernen Poesie als »Darstellung der 72 73

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Schlegel, KSA I, S. 254. Niklas Luhmann, »Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme«. In: Hans Michael Baumgartner/Jörn Rüsen (Hrsg.), Seminar: Geschichte und Theorie: Umrisse einer Historik. Frankfurt a.M. 1976, S. 337–387, hier S. 370. Vgl. zu Luhmanns These auch Ingrid Oesterles Aufsatz, der sich mit dem »Führungswechsel der Zeithorizonte« in bezug auf die Konstruktionen von Zeit(lichkeit) und Dauer bei Goethe und den Romantikern ausführlich auseinandersetzt (Ingrid Oesterle, »›Es ist an der Zeit!‹ Zur kulturellen Konstruktionsveränderung von Zeit gegen 1800«. In: Walter Hinderer (Hrsg.), Goethe und das Zeitalter der Romantik. Würzburg 2002, S. 91–119). Schlegel, KSA I, S. 254. Schlegel, KSA I, S. 254. Schlegel, KSA I, S. 254. Zu der in der Forschung kontrovers diskutierten Frage, ob das im Studium-Aufsatz von Schlegel negativ bewertete Interessante in romantischer Perspektive eine Positivierung erfährt, vgl. Günter Oesterle, »Entwurf einer Monographie des ästhetisch Häßlichen. Die Geschichte einer ästhetischen Kategorie von Friedrich Schlegels Studium-

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Verwirrung in höchster Fülle«, deren Schönheit sich mehr in »unbefriedigter Sehnsucht« als »im ruhigen Genuß« ausdrücke, finden sich bereits im StudiumAufsatz zentrale Charakteristika von Schlegels romantischer Ästhetik.77 Allerdings bezieht Schlegel hinsichtlich der neueren Literatur in seinen romantischen Schriften eine eindeutigere Position als im Studium-Aufsatz, in dem er in der Beurteilung der modernen Poesie noch zwischen Faszination und Kritik schwankte. In Schlegels Gespräch über die Poesie von 1800, besonders in dem zentralen »Brief über den Roman«, läßt sich eine Differenzierung in unterschiedlich bewertete Formen des Interessanten beobachten, und zwar in das stofflich und das formal Interessante. Die Spaltung in stofflich Interessantes und formal Interessantes wird zudem flankiert von der Aufteilung der neueren, nicht-antiken Literatur in modern-prosaische und romantisch-poetische Literatur. Das Romantische und das Moderne seien »etwa ebenso verschieden, wie die Gemälde des Raffael und Correggio von den Kupferstichen die jetzt Mode sind«, behauptet der Sprecher im »Brief über den Roman«.78 Während »bei den ältern Modernen« Shakespeare »das eigentliche Zentrum, den Kern der romantischen Fantasie« bilde, sei die Emilia Galotti von Lessing zwar »unaussprechlich modern«, aber »im geringsten nicht romantisch«.79 Das stofflich Interessante, das Neugierde hervorruft und als Reiz immer neue Befriedigung sucht, findet im »Brief über den Roman« also wie im Studium-Aufsatz eine abschätzige Beurteilung. Demgemäß belehrt der Sprecher Antonio im »Brief über den Roman« Amalia hinsichtlich ihrer falschen Lektüregewohnheiten: Fast alle schlechten Bücher haben Sie gelesen von Fielding bis zu Lafontaine. Fragen Sie sich selbst was Sie davon gehabt haben. Ihr Gedächtnis selbst verschmäht das unedle Zeug, was eine fatale Jugendgewohnheit Ihnen zum Bedürfnis macht, und was so emsig herbeigeschafft werden muß, wird sogleich rein vergessen.80

Dieser Angriff auf das Leseverhalten der weiblichen Protagonistin richtet sich vor allem auf den handlungsorientierten Aufklärungsroman, dessen pragmatisch-moralische Ausrichtung und wirkungspoetische Absicht den Leser und seine Wirklichkeit durch eine ungebrochene Illusionsbildung und den Zwang zur Identifikation beschränken würden.81

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Aufsatz bis zu Karl Rosenkranz’ Ästhetik des Häßlichen als Suche nach dem Ursprung der Moderne«. In: Bänsch (Hrsg.), Zur Modernität der Romantik, S. 217–297, bes. S. 229f. Schlegel, KSA I, S. 219. Im Gespräch über die Poesie werden die ›modernen‹ Werke von Shakespeare und Cervantes als Beispiele für die »künstlich geordnete Verwirrung« der »romantischen Poesie« von Ludoviko in der »Rede über die Mythologie« angeführt (Schlegel, KSA II, S. 318). Schlegel, KSA II, S. 335. Schlegel, KSA II, S. 335. Schlegel, KSA II, S. 330. Vgl. dazu Günter Oesterle, »Arabeske und Roman. Eine poetikgeschichtliche Rekonstruktion von Friedrich Schlegels ›Brief über den Roman‹«. In: Dirk Grathoff (Hrsg.), Studien

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Die ›interessante‹ Form dagegen erfährt eine Aufwertung, die Schlegel nun besonders in den »witzigen Spielgemälde[n] [...], die man Arabesken nennt«, verwirklicht findet.82 Schlegel argumentiert im Studium-Aufsatz, daß nur das »höchste Schöne« als Objektives »allgemeingültige[r] Gegenstand eines uninteressierten Wohlgefallens« sein kann, das »von dem Zwange des Bedürfnisses und des Gesetzes gleich unabhängig, frei und dennoch notwendig, ganz zwecklos und dennoch unbedingt zweckmäßig ist«.83 Im »Brief über den Roman« sieht Schlegel nun – geschult an Kants Ausführungen zum Ornament in der Kritik der Urteilskraft – in der gegenstandslosen, fantastisch-subjektiven Form der Arabeske die Möglichkeit des freien, zwecklosen Spiels der Erkenntnisvermögen, wie es sich im Roman von Sterne über Diderot bis zu Jean Paul darstellt. Der Sprecher Antonio macht jedoch deutlich, noch während er Diderots Fataliste als Kunstwerk lobt, daß dieser Roman »keine hohe Dichtung, sondern nur eine – Arabeske« sei.84 Gerade weil die eigene Zeit der Poesie ungünstig ist – so der Erzähler Antonio weiter –, erweisen sich die Romane von Jean Paul wegen ihres »bunte[n] Allerlei[s] von kränklichem Witz« als »die einzigen romantischen Erzeugnisse unsers unromantischen Zeitalters«.85 Er lobt die Romane Jean Pauls im Vergleich zu Sterne, »weil seine Fantasie weit kränklicher, also weit wunderlicher und fantastischer ist«.86 Die schließlich dennoch negative Einschätzung der Arabeske im Gegensatz zur hohen Dichtung erklärt sich dadurch, daß sie – genau wie zuvor schon die moderne Dichtung im Studium-Aufsatz – in Schlegels geschichtsphilosophischer Deutung der Entwicklung der Literatur nur ein Übergangsphänomen darstellt. Weil in den »kränklichen Verhältnissen« der Gegenwart keine objektive Kunst möglich sei, wird die ›kränkliche‹, subjektive Ästhetik der Arabeske aufgewertet.87 Sie repräsentiert ein Zwischenstadium vor dem in der Zukunft erhofften Umschlag ins Objektive, von der Prosa zur Poesie, die eine »Vereinigung des Antiken und des Modernen« in sich bergen würde.88 Insofern ist die projektierte, utopische Zukunft – wie auch bei Schiller – keine Wiederholung der Vergangenheit, sondern ein neuer, anderer Zustand. Da die Eigenart der modernen Dichtung ihr progressiver, ins Unendliche fortschreitender Charakter ist, kann nur

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zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode. Frankfurt a.M. 1985, S. 233–292, hier S. 249f. Schlegel, KSA II, S. 330f. Schlegel, KSA I, S. 253. Schlegel, KSA II, S. 331. Schlegel, KSA II, S. 330. Schlegel, KSA II, S. 331. Schlegel, KSA II, S. 331. Schlegel, KSA II, S. 348. Oesterle spricht in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Hegelsche Begrifflichkeit von einem »dialektischen Umschlag [...] nach dem logischen Schema einer Negation der Negation« (»Arabeske und Roman«, S. 248).

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kraft eines »plötzliche[n] Sprung[s]« diese Zeitlichkeit überwunden werden.89 In Friedrich Schlegels ästhetischer Theorie erhält die Gegenwart somit einen provisorischen Charakter. Sein Bruder August Wilhelm Schlegel faßt den Unterschied des Zeitbewußtseins zwischen Antike und Moderne 1808 in seinen Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur so zusammen: »[D]ie Poesie der Alten war die des Besitzes, die unsrige ist die der Sehnsucht; jene steht fest auf dem Boden der Gegenwart, diese wiegt sich zwischen Erinnerung und Ahnung«.90 Zeitenwendemodelle, die das mangelhafte, defizitäre Jetzt umspannen mit der Erinnerung an eine ideale Vergangenheit und der Ahnung einer utopischen Zukunft, sind bei vielen romantischen Theoretikern und Autoren zu finden, wie etwa auch in der triadischen Geschichtsvorstellung von Novalis. In den Blüthenstaub-Fragmenten schreibt Novalis über das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, daß nichts »poetischer [sei], als die Erinnerung und Ahndung oder Vorstellung der Zukunft«. Die »gewöhnliche Gegenwart« dagegen zeichne sich dadurch aus, daß sie die »Vergangenheit und Zukunft durch Beschränkung« verknüpfe.91 Nach Novalis ist diese beschränkende, bedingte – und man kann hinzusetzen: empirische – Gegenwart nicht die »Atmosphäre des Dichters«, dessen Element vielmehr eine »geistige Gegenwart« ist, die Vergangenheit und Zukunft »durch Auflösung identifizirt«.92 Die Gegenwart ist für Novalis der Punkt, an dem Ahnung und Erinnerung, Zukunft und Vergangenheit ineinander geblendet werden. Die Zukunft wird dabei ›wiedererinnert‹, um die Gegenwart zu überschreiten. Es zeigt sich, daß die Gegenwart seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zwar im Bewußtsein der Zeitgenossen auch in der Ästhetik zu einer zentralen Kategorie aufsteigt, die ein eigenes Gewicht gegenüber der Dominanz der Vergangenheit erhält. Sie besitzt jedoch bei romantischen Theoretikern wie Novalis oder Friedrich und August Wilhelm Schlegel allenfalls die Funktion eines Übergangspunktes, der von der Vergangenheit zur Zukunft führt.93 In seiner einflußreichen Untersuchung Die Kritik der Romantik zielt Karl Heinz Bohrer darauf ab, Heines polemische Kritik an Friedrich Schlegel in Die romantische Schule zu widerlegen. Bohrer versucht vor allem, Heines Vorwurf der reaktionären Vergangenheitsfi xierung der Romantik zu entkräften, und schreibt Schlegel dazu ein emphatisches Gegenwartsbewußtsein zu. Wenn 89 90 91 92 93

Schlegel, KSA I, S. 255. August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Kritische Schriften und Briefe. Hrsg. von Edgar Lohner, Bd. 5, Stuttgart u.a. 1966, S. 25. Novalis, Vermischte Bemerkungen und Blüthenstaub, NS II, S. 461. Novalis, Vermischte Bemerkungen und Blüthenstaub, NS II, S. 461. Das ließe sich an einer Fülle von Beispielen auch für die Literatur der deutschen Romantik zeigen. Hier sei nur stellvertretend hingewiesen auf Friedrich von Hardenbergs Heinrich von Ofterdingen, auf Ludwig Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen oder Joseph von Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart, der schon im Titel das genannte Problem umreißt.

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Bohrer in diesem Kontext allerdings Schlegels Athenäums-Fragment »Wie wäre es möglich, die gegenwärtige Periode der Welt richtig zu verstehen und zu interpungieren, wenn man nicht wenigstens den allgemeinen Charakter der nächstfolgenden antizipieren dürfte?«94 mit dem Hinweis anführt, daß »Gegenwartsbestimmung [...] Erkenntnis der bevorstehenden Veränderung« heißt, benennt er genau diejenige Zeitkonjunktur von Gegenwart und Zukunft, die es problematisch macht, bei Schlegel von einem emphatischen Gegenwartsverständnis zu sprechen.95 Schlegel unternimmt zwar eine Analyse der Gegenwart, betrachtet aber ihren ›kränklichen‹, chaotischen Zustand als Zeichen ihres Übergangscharakters innerhalb eines triadischen, eschatologisch ausgerichteten Modells, das sich einerseits vergleichend auf eine ideale Vergangenheit zurückbezieht und andererseits eine utopische Zukunft prognostiziert. Friedrich Schlegels frühe Schriften zeichnen sich insofern gerade nicht durch ein emphatisches Bewußtsein der Gegenwart aus.96 Bei seiner Gegenwartsbestimmung geht es vielmehr um das Lesbarmachen der geschichtlichen Entwicklung, die Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der tiefgreifenden politischen und sozialen Veränderungen und dem Zuwachs an neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zunehmend fragwürdig wurde.97 Die unverständlichen Zeichen der krisenhaften Gegenwart werden erst aus der geschichtsphilosophischen Perspektive des in der Zukunft erwarteten Umschlags in eine ›neue‹ Zeit in ihrem Sinn wieder entzifferbar. Es läßt sich also zusammenfassend festhalten, daß für das Zeitbewußtsein um 1800 kennzeichnend ist, daß die Gegenwart in ihrer Differenz zur Vergangenheit einerseits und zur erwarteten, heilbringenden Zukunft andererseits begriffen wird. Insofern hat die Gegenwart einen transitorischen Charakter und besitzt keinen ausdrücklichen Eigenwert. Eine Verschiebung innerhalb des Modernisierungstheorems besteht darin, daß die Kategorie ›Gegenwart‹ sich in dem Krisen- und Übergangsempfinden um 1800 durch ihren transito-

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Schlegel, KSA II, S. 248. Karl Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne. Frankfurt a.M. 1989, S. 113. In dem zeitgleich mit Die Kritik der Romantik erschienenen Beitrag »Zeit der Revolution – Revolution der Zeit. Die Hermeneutik revolutionärer Gegenwart bei Friedrich Schlegel (1795–1800) und Heinrich Heine (1831–1855)«, liest Bohrer Schlegels und Heines Zeitbewußtsein als Formen eines Momentanismus, der sich in einer »emphatische[n] Hermeneutik der Gegenwart« zeige (In: Die Ideen von 1789 in der deutschen Rezeption. Hrsg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg. Frankfurt a.M. 1989, S. 128–155, hier S. 152). Bohrer räumt dort selbst ein, daß »Schlegels Ereignisbegriff [...] einem geschichtsphilosophischen Schema abgezwungen [war], in dem die Kategorie der Zukunft trotz Absage an eine orthodoxe Teleologie nie wirklich vergessen war« (S. 142). Zur Problematik der Lesbarkeit des geschichtlichen Prozesses um 1800 vgl. Peter Schnyder, »Die Disziplinierung des Zeichens. Kants Lektüre der Französischen Revolution«. In: HansGeorg von Arburg/Ulrich Stadler (Hrsg.), Wunderliche Figuren: Über die Lesbarkeit von Chiffrenschriften. München 2001, S. 263–276.

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rischen Charakter auszeichnet, in den 1820er und 1830er Jahren hingegen das Moment des transitorischen Charakters der Zeit die Kategorie der Gegenwart gerade erst eröffnet. 2.3.

Übergänge (III): Inszenierung von Epochenschwellen – Gegenwart und Modernität

Innerhalb des größeren zeitlichen Zusammenhangs der Sattelzeit wird auch der spätere, von der Forschung durch zwei ereignisgeschichtliche Daten umrissene Zeitraum zwischen 1815 und 1848 von den Zeitgenossen selbst verstärkt als Phase des Übergangs empfunden und charakterisiert. So verstand ClaudeHenri de Saint-Simon, der einflußreiche französische Sozialreformer, dessen Doctrine für Heines Denken Anfang der 1830er Jahre von großer Bedeutung war, seine Zeit als eine »époque de crise et de transition«, die sich auf dem Weg zu einem neuen Staat befinde, der die Gleichheit aller Menschen durch die Abschaffung der Adelsprivilegien und die Gleichstellung der Frauen verwirklichen sollte.98 Der Engländer Edward Bulwer-Lytton weist in seiner groß angelegten Gesellschaftsanalyse England and the English von 1833 auf den Unterschied hin zwischen der topischen Rede vom Übergang in früheren Zeiten und in der Gegenwart. Die entscheidende Differenz zu seiner eigenen Zeit liegt für ihn im Aspekt der Sichtbarkeit: »Every age may be called an age of transition [...]; but in our age the transition is visible«.99 Bulwer-Lyttons Betonung der Visualität des Wandels verweist darauf, daß sich für die Zeitgenossen der Eindruck, in einer Zeit des Übergangs zu leben, an die Erfahrung der Beschleunigung knüpfte. Konkret visualisierte sich der Wandel und die Beschleunigung etwa im aufkommenden Phänomen der Mode: Der Übergang vom Alten zum Neuen erfolgt in so kurzen Abständen, daß er förmlich sichtbar wird.100 Auch viele Schriftsteller und Kritiker der jüngeren Generation in Deutschland verstanden ihre Zeit als Übergang und setzten sich kritisch von der Kunstepoche ab, die Goethe, Schiller und die Romantik für sie repräsentierten und die sie seit 1830 verstärkt als politisch und ästhetisch überholt empfanden. Der Ästhetiktheoretiker und Publizist Ludolf Wienbarg beschreibt in seinen populären Kieler Vorlesungen von 1833, die ein Jahr später unter dem programma-

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Zitiert nach Thomas Petermann, Der Saint-Simonismus in Deutschland. Bemerkungen zur Wirkungsgeschichte. Frankfurt a.M. u.a. 1983, S. 27. Edward Bulwer-Lytton, England and the English. Paris 1833 [Erstausgabe 2 Bde., London 1833], S. 352. Den Zusammenhang zwischen Mode und Moderne untersucht Ingrid Oesterle, »Paris, die Mode und das Moderne«. In: Thomas Koebner/Sigrid Weigel (Hrsg.), Nachmärz. Der Ursprung der ästhetischen Moderne in einer nachrevolutionären Situation. Opladen 1996, S. 156–174.

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tisch-kämpferischen Titel Ästhetische Feldzüge publiziert wurden und sich gegen eine, wie er betont, veraltete Philosophie und Ästhetik richteten, die Gegenwart als eine »Übergangsepoche«, als eine »drückende Zeit«, die »nächtlich mit neuen Geburten schwanger geht«.101 Die Dissonanz der Gegenwart und ihr Übergangscharakter resultieren für Wienbarg aus dem noch nicht abgelegten Alten und dem noch nicht vollständig hervorgetretenen Neuen: »Vergebens aber schminkt sich diese alte Zeit mit Hoffnungen, die Totenfarbe schimmert hindurch; vergebens sucht sie sich an das junge Leben anzuklammern, jeder Pulsschlag drängt sie weiter zurück«.102 Eine solche Personifizierung der Zeit in Begriffs-Oppositionen ›jung‹/›alt‹, ›Tod‹/›Leben‹, ›krank‹/›gesund‹ begegnet immer wieder in den Texten der 1830er Jahre, die auf das Verhältnis der vorangegangenen zur gegenwärtigen Epoche Bezug nehmen.103 Betrachtet man den englischen Kontext, ist vor allem William Hazlitts Charakterisierung seines Zeitalters interessant. Der Literaturkritiker publizierte 1825 mit The Spirit of the Age: Or, Contemporary Portraits ein journalistisch-assoziatives Porträt von so unterschiedlichen Repräsentanten des Zeitalters wie William Wordsworth, Samuel Taylor Coleridge, Jeremy Bentham oder Thomas Campbell und George Crabbe. Hazlitt versucht in seinen verschiedenen Charakteristiken, das Eigentümliche der porträtierten Person durch eine jeweils individuelle Methode des Vorgehens hervorzuheben. Dazu erzeugt er ein buntes Nebeneinander von philosophischen Analysen, anekdotischen Bemerkungen und physiognomischer Beschreibung des Aussehens, der Kleidung und Angewohnheiten der jeweiligen Person.104 Seine Charakteristik zu »Mr. Coleridge« leitet Hazlitt mit einer kritischen Reflexion über den Geist der Zeit ein: »The present is an age of talkers, and not of doers; and the reason is, that the world is growing old«.105 Hazlitt kritisiert den spekulativen Geist und ungegenständlichen Charakter der idealistischen Epoche (»age of talkers«), die für ihn den zeitlichen Referenzpunkt darstellt. Als Begründung

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Ludolf Wienbarg, Ästhetische Feldzüge. Berlin, Weimar 1964, S. 76. Wienbarg, Ästhetische Feldzüge, S. 76. Vgl. Wulf Wülfing, Schlagworte des jungen Deutschland. Mit einer Einführung in die Schlagwortforschung. Berlin 1982, S. 159–172. Es wäre interessant zu verfolgen, inwiefern sich Hazlitts Spirit of the Age in das Genre der Charakteristik einordnen ließe, das Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland im Umkreis der Brüder Schlegel Konjunktur hatte. Die für Hazlitt wichtigere Traditionslinie des Begriffs ›Charakteristik‹ kommt allerdings aus England und reicht zurück bis zu Shaftesburys Charakteristicks of Men, Manners, Opinions, Times von 1711. Zum Genre der Charakteristik in Romantik und Vormärz vgl. Günter Oesterle, »›Kunstwerk der Kritik‹ oder ›Vorübung zur Geschichtsschreibung‹? Form- und Funktionswandel der Charakteristik in Romantik und Vormärz«. In: Wilfried Barner (Hrsg.), Literaturkritik – Anspruch und Wirklichkeit. Stuttgart 1990, S. 64–86. William Hazlitt, The Spirit of the Age. In: The Complete Works. 11 Bde. Hrsg. von P. P. Howe, nach der Ausgabe von A. R. Waller/Arnold Glover, Bd. 11: The Spirit of the Age and Conversations of James Northcote, Esq. London, Toronto 1932, S. 28.

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für die Abstraktheit der Gegenwart führt er einen Aspekt an, der bereits in der Querelle des Anciens et des Modernes bei Charles Perrault zu finden ist, nämlich die Überzeugung, daß sich die Gegenwart im Verhältnis zur Antike im Greisenalter befindet.106 Bei Hazlitt heißt es: We are so far advanced in the Arts and Sciences, that we live in retrospect, and doat on past achievements. The accumulation of knowledge has been so great, that we are lost in wonder at the height it has reached, instead of attempting to climb or add to it; while the variety of objects distracts and dazzles the looker-on. What niche remains unoccupied? What path untried? What is the use of doing anything, unless we could do better than all those who have gone before us?107

Der Fortschrittsoptimismus der Franzosen, die die ›Akkumulation des Wissens‹ in der Gegenwart als Beweis sahen, daß die Modernen den Antiken überlegen seien, verkehrt sich bei Hazlitt in die Beobachtung, daß die Gegenwart in handlungsunfähiger Erstarrung (»lost in wonder«) gefangen sei, da in den Wissenschaften und in der Kunst kaum mehr etwas Neues geleistet werden könne: Fortschritt kulminiert in der endlosen Ausdifferenzierung der Wissensgegenstände, die zu einer lähmenden Reizüberflutung des Betrachters führt. Die Schultern des ›Riesen‹ – um ein Bild aus der Querelle zu zitieren – können aufgrund ihrer Höhe (»lost in wonder at the height«), aber auch Breite (»variety of objects«), nicht mehr erklommen und dadurch überboten werden. Bei Hazlitt wendet sich nunmehr das Verhältnis des Gegenwärtigen zum Vergangenen ins Epigonale, dessen Ausweglosigkeit sich in seinen resignativen Fragen »What niche remains unoccupied? What path untried?« offenbart. Das Problem des Epigonentums wurde auch in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts virulent im Zusammenhang der Diskussion um das Ende der Kunstperiode. Die jüngeren deutschen Autoren wehrten sich vor allem gegen die dominierende Präsenz Goethes, die als überwältigende Lähmung hinsichtlich der Produktion eigenständiger Literatur empfunden wurde und die Karl Immermann in seinem programmatischen Roman Die Epigonen von 1836 thematisch verarbeitete. Während Hazlitt in der Diagnose der eigenen Zeit verharrt und ihr mangelnde Plastizität und Tatkraft vorwirft, wollen sich die jungen deutschen Autoren gerade durch den Aufruf zur Handlung und zur Tat von der Fessel des Epigonalen befreien. Die Aufforderung zeigt sich aus politischer Perspektive auch in der aktivistischen Parole des exilierten deutschen Schriftstellers Ludwig Börne: »Die Zeiten der Theorien sind vorüber, die Zeit der Praxis ist gekommen. Ich will nicht schreiben mehr, ich will kämpfen«.108 Daß in Deutschland die Ankündigung einer neuen Zeit des 106 107 108

Vgl. dazu Jauß, »Literarische Tradition«, S. 30f. Hazlitt, The Spirit of the Age, S. 28f. Ludwig Börne, Briefe aus Paris (58. Brief vom 19. November 1831). In: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Inge u. Peter Rippmann. Bd. 3: Dreieich 1977, S. 351.

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Handelns zugleich in Zusammenhang mit der Befreiung aus der Übermacht Goethes steht, zeigt auch ein viel zitierter Brief Heines, den er an Varnhagen von Ense im Februar 1830 noch vor der Julirevolution und seinem eigenen Aufbruch nach Paris schrieb. Heine spricht dort davon, daß »nur unsre ästhetisirende, philosophirende Kunstsinnzeit [...] dem Aufkommen Goethes günstig« (HSA 20, 390) gewesen war. Eine »Zeit der Begeistrung und der That« dagegen, die auf die von Heine wiederholt ausgerufene »Endschaft der Kunstperiode« folgen werde, könne die »Kunstbehaglichkeit des großen Zeitablehnungsgenies« Goethe nicht mehr brauchen (HSA 20, 389f.).109 Hazlitt und die Jungdeutschen beschreiben das gleiche Phänomen aus verschiedenen Perspektiven: In der Offenheit der Übergangszeit der 1820er und 30er Jahre akzentuiert vor allem die nachfolgende Generation das Gefühl, am Anfang von etwas Neuem zu stehen, während Hazlitt das Zu-Ende-Gehen in den Mittelpunkt rückt. Die Opposition ›alt‹ – ›jung‹, die sich zum europaweiten Schlagwort entwickelte, ist aber nicht nur auf den Generationenunterschied und die damit verbundene Befreiung aus dem Epigonalen reduzierbar, sondern wird synonym gesetzt mit Veränderung, Innovation und Zeit überhaupt. Jung ist, wer sich ›bewegt‹. Die ›Jugendbewegung‹, die sich gegen Tradition, Norm und Aristokratie wendete, verstand sich nicht nur in Deutschland für kurze Zeit als eine Gruppe. Dem ›jungen Deutschland‹ widmete bereits Wienbarg seine Vorlesung Ästhetische Feldzüge – eine Bezeichnung, die von Karl Gutzkow 1835 aufgenommen wurde, um auf einzelne deutsche Schriftsteller zu verweisen. Die Namensgebung Junges Deutschland für das lose Bündnis von jungen Autoren erfolgte mit großer Wahrscheinlichkeit in Anlehnung an die Bezeichnung für die politischen Geheimbünde in Italien (La giovine Italia), in Frankreich (La jeune France), in der Schweiz (La jeune Suisse) oder auch in Polen (Nowa Polska). Die Bewegungen der einzelnen Länder formierten sich aus revolutionären Exilanten, die sich unter der Führung von Giuseppe Mazzini in der Schweiz zu dem Gesamtbund La Giovine Europa zusammenschlossen.110

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110

Heine stellte bereits in seinem kleinen Aufsatz Die deutsche Literatur von Wolfgang Menzel von 1828 die Prognose vom Ende der Kunstperiode auf. Erneut nimmt er sie in der euphorischen Verkündung einer neuen Zeit und einer neuen Kunst im Anschluß an die Juli-Revolution in Französische Maler auf und verweist auf die Richtigkeit seiner Einschätzung in seinem großen Essay Die romantische Schule. Im Umfeld der Aussagen vom Ende der Kunstperiode finden sich wiederholt wechselnde Einschätzungen von Goethe. Vgl. Wülfing, Schlagworte, S. 176–180. Mazzini war nicht nur Kämpfer im italienischen Risorgimento, sondern auch ein glühender Verehrer von Byron, dessen Engagement für die Befreiung Griechenlands er vor allem im Sinne seiner eigenen nationalistischen Ziele deutete. 1839 erschien im Monthly Chronicle sein Essay »Byron e Goethe«. Zu Mazzinis ByronRezeption siehe Edoardo Zuccato, »The Fortunes of Byron in Italy (1810–70)«. In: Richard A. Cardwell (Hrsg.), The Reception of Byron in Europe. 2 Bde. London, New York 2004, Bd. 1, S. 80–97, hier S. 88ff.

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Für Wienbarg drückt der Begriff ›jung‹ nicht nur die (biologische) Jugend aus, sondern hat auch die Bedeutung des ›Progressiven‹, das sich dem ›Alten‹, ›Reaktionären‹ entgegensetzt. Vor allem im Gelehrtentum und in der Aristokratie verberge sich, so Wienbarg, das alte, reaktionäre Deutschland: Wer aber dem jungen Deutschland schreibt, der erklärt, daß er jenen altdeutschen Adel nicht anerkennt, daß er jene altdeutsche, tote Gelehrsamkeit in die Grabgewölbe ägyptischer Pyramiden verwünscht und daß er allem altdeutschen Philisterium den Krieg erklärt und dasselbe bis unter den Zipfel der wohlbekannten Nachtmütze unerbittlich zu verfolgen willens ist.111

Der euphorische Aufruf an die Jugend Deutschlands hat eine doppelte Bedeutung: Er ist einerseits als eine politische Kriegserklärung gegen die restaurativen Verhältnisse zu verstehen, in denen sich der deutsche ›Philister‹ nach den Enttäuschungen von 1815 eingerichtet hatte. Andererseits sind Wienbargs Ästhetische Feldzüge eine Kampfansage innerhalb des Literatursystems. Die junge Generation beanspruchte gegenüber den etablierten Größen der Klassik und Romantik zunehmend einen eigenen Platz. Die Betonung des innovatorischen Moments der Jugend, vor allem in den Texten der 1830er Jahre, inszeniert den Generationenunterschied als Epochenschwelle. Auch Heine, der bis an sein Lebensende darauf bedacht war, auf seine »Doppelbedeutung« (DHA 15, 13) als Schwellenautor hinzuweisen, als »destructeur initiateur« (DHA 15, 121), mit dem »die alte lyrische Schule der Deutschen geschlossen« wurde und »zugleich die neue Schule, die moderne deutsche Lyrik, […] eröffnet ward« (DHA 15, 13), rekurriert für seine Charakterisierung der Gegenwart in Die romantische Schule (1832-35) auf den Gegensatz zwischen jung und alt, der mit der politischen Opposition von demokratisch und aristokratisch überblendet wird: Frau v. Staëls Werk de l’Allemagne ist die einzige umfassende Kunde, welche die Franzosen über das geistige Leben Deutschlands erhalten haben. Und doch ist, seitdem dieses Buch erschienen, ein großer Zeitraum verflossen und eine ganz neue Literatur hat sich unterdessen in Deutschland entfaltet. Ist es nur eine Uebergangsliteratur? hat sie schon ihre Blüthe erreicht? ist sie bereits abgewelkt? Hierüber sind die Meinungen getheilt. Die meisten glauben, mit dem Tode Goethes beginne in Deutschland eine neue literarische Periode, mit ihm sey auch das alte Deutschland zu Grabe gegangen, die aristokratische Zeit der Literatur sey zu Ende, die demokratische beginne, oder, wie sich ein französischer Journalist jüngst ausdrückte: »der Geist der Einzelnen habe aufgehört, der Geist Aller habe angefangen.« Was mich betrifft, so vermag ich nicht in so bestimmter Weise über die künftigen Evoluzionen des deutschen Geistes abzuurtheilen. Die Endschaft der »goetheschen

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Wienbarg, Ästhetische Feldzüge, S. 3. Obwohl Wienbarg vom neuen, jungen Deutschland spricht und sich gegen die von ihm als veraltet empfundene Philosophie und Ästhetik der Kunstperiode richtet, führt seine Philisterkritik und Opposition zum mechanisch-abstrakten Denken der Aufklärung einen zentralen Gedanken der Romantik relativ bruchlos weiter.

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Kunstperiode«, mit welchem Namen ich diese Periode zuerst bezeichnete, habe ich jedoch schon seit vielen Jahren vorausgesagt. Ich hatte gut prophezeyen! Ich kannte sehr gut die Mittel und Wege jener Unzufriedenen, die dem goetheschen Kunstreich ein Ende machen wollten, und in den damaligen Emeuten gegen Goethe will man sogar mich selbst gesehen haben. Nun Goethe todt ist bemächtigt sich meiner darob ein wunderbarer Schmerz. (DHA 8/1, 125)

Anders als Wienbarg übernimmt Heine hier am Beginn seines Essays über die deutsche romantische Literatur und die Entwicklung der Literatur der letzten Jahrzehnte nicht die Rolle des Agitators, sondern die des distanzierten Beobachters und Berichterstatters. Zur Bestimmung des Ortes der zeitgenössischen Literatur verweist er vor allem auf die Meinungen und Ansichten anderer, wie etwa durch das Zitat eines französischen Journalisten. Dabei enthält er sich bewußt einer eigenen Stellungnahme »über die künftigen Evolutionen des deutschen Geistes« und verweist nur auf seine frühere Prophezeiung der »Endschaft der ›goetheschen Kunstperiode‹«. Mit dieser Form des Zitierens fremder Stimmen unter Zurücknahme der eigenen versucht Heine dem Leser ein Höchstmaß an Objektivität für seine Darstellung der Entwicklung der Literatur in ihrem geschichtlichen und politischen Kontext vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart zu suggerieren.112 Die scheinbar neutrale Position, die Heine von sich entwirft, steht in offenbarem Gegensatz zu dem polemischen Charakter seiner Auseinandersetzung mit der Literatur der unmittelbaren Vergangenheit. Insofern müssen die tentativen Fragen, die sich auf die geschichtliche Bedeutung und Stellung der »ganz neue[n] Literatur« beziehen, als rhetorische Strategie betrachtet werden, mit der Heine implizit in seiner Literaturgeschichte den epochalen Umbruch inszeniert: »Ist es nur eine Uebergangsliteratur? hat sie schon ihre Blüthe erreicht? ist sie bereits abgewelkt?« Die Fragen, die den zeitgenössischen Topos des Übergangs ebenso aufrufen wie organologische Erklärungsmodelle des geschichtlichen Verlaufs (»Blüthe«, »abgewelkt«), werden in Heines Literaturgeschichte ex negativo beantwortet. Durch die Darstellung der romantischen Literatur als vergangenheitsfi xiert, spiritualistisch und mystizistisch und der klassischen Werke als leblos, kalt und erstarrt, werden der Kunstperiode genau solche Attribute zugeschrieben, deren begriffliche Oppositionen in der Debatte der 1830er Jahre einen emphatischen Gebrauch fanden, wie die Schlagworte ›Leben‹, ›Bewegung‹ und ›Gegenwart‹.113 Die Betonung des Unzeitgemäßen der Kunstperiode, wie Heine sie porträtiert, soll ihr Ende deutlich signalisieren und zugleich indirekt auf das Zeitgemäße der eigenen, ›modernen‹ Literatur verweisen, als deren Begründer sich Heine

112

113

Heines Vorwurf des Reaktionären stellt ein beharrliches Klischee der Romantik-Rezeption dar, das sich bis weit ins 20. Jahrhundert fortsetzte (vgl. Bohrer, Die Kritik der Romantik, S. 7). Vgl. dazu vor allem Wülfing, Schlagworte des jungen Deutschland, S. 152–168 u. 201–217.

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gerne verstanden wissen wollte. Besonders deutlich läßt sich diese Vorgehensweise Heines in Die romantische Schule an seiner Besprechung von Ludwig Uhlands Gedichten zeigen. Er beschreibt dort, wie er nach einer Periode von zwanzig Jahren erneut Uhlands Gedichte zu lesen versucht. Die Begeisterung seiner Jugendjahre für den romantisch-chevaleresken Charakter von Uhlands Gedichten bleibt jedoch aus, und statt dessen klagt er nun ihre »blassen Entsagungsgefühle [...] und das ewige Wehmuthgewimmer« an (DHA 8/1, 231). Anhand dieses gescheiterten Versuchs einer Re-Lektüre von Uhlands Gedichten verdeutlicht Heine das ›Unzeitgemäße‹ der romantisierenden Literatur über »Ritter« und »Edelfrauen« (DHA 8/1, 231) in der Gegenwart: Das Haus, worin ich eben sitze und lese, liegt auf dem Boulevard Mont-Martre; und dort branden die wildesten Wogen des Tages, dort kreischen die lautesten Stimmen der modernen Zeit; das lacht, das grollt, das trommelt; im Sturmschritt schreitet vorüber die Nazionalgarde; und jeder spricht französisch. – Ist das nun der Ort, wo man Uhlands Gedichte lesen kann? (DHA 8/1, 233)

Auch seinem Freund Heinrich Laube gegenüber betont Heine im April 1833 mit Bezug auf die ersten Teile von Die romantische Schule, die in der Europe littéraire erschienen waren, sein Bewußtsein einer Zeitenwende, bei der er selbst eine herausragende Position einnehme: »Es war nöthig nach Goethes Tode dem deutschen Publikum eine literarische Abrechnung zu überschicken. Fängt jetzt eine neue Literatur an, so ist dies Büchlein auch zugleich Program und ich, mehr als jeder andere, mußte wohl dergleichen geben.« (HSA 21, 52) Jenseits der offenkundig polemischen Intention der Abgrenzungsbemühungen vieler junger Autoren, die mit ihren Äußerungen zu einer neuen Kunst ihrem Übergangs- und Krisenbewußtsein Ausdruck verliehen und zugleich einen ästhetischen und politischen Epochenwandel einleiten wollten, stellt sich die Frage, welche Verschiebungen unter dem Aspekt des Modernisierungstheorems innerhalb des epochalen Langzeitzusammenhangs der Sattelzeit tatsächlich festgestellt werden können. Dazu ist die Betrachtung des Wandels im Begriff des Modernen und in der Vorstellung der Zeitgenossen von ihrer eigenen Modernität aufschlußreich. Wie bereits dargestellt wurde, versuchten Schiller und Friedrich Schlegel Ende des 18. Jahrhunderts im Horizont der Fragestellungen der Querelle des Anciens et des Modernes der Gegenwart gegenüber dem bindenden Paradigma der Antike einen Eigenwert zuzusprechen und begründeten dabei ihre spezifische Modernität. Bei Schlegel mündete die Vorstellung der Modernität der Gegenwart in das Postulat eines romantischen Zeitalters, dessen Beginn und Höhepunkt er in bewußter Antithese zur Antike im christlichen und nationalen Mittelalter verortete.114 Insofern erhält das Moderne bei Schlegel nur

114

Vgl. Jauß, »Literarische Tradition«, S. 38f.

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mittels der näheren Bestimmung durch das Romantische einen positiven Wert, wie das Gespräch über die Poesie zeigt. In seinen 1815 veröffentlichten Vorlesungen zur Geschichte der alten und neuen Literatur kritisiert Schlegel dann explizit das Moderne wie das Antikisierende als Repräsentationsformen der gegenwärtigen Kunst und Literatur und stellt beide dem Romantischen gegenüber: Nicht dem Alten und Antiken, sondern nur dem unter uns fälschlich wieder aufgestellten Antikischen, allem was ohne innere Liebe bloß die Form der Alten nachkünstelt, ist das Romantische entgegengesetzt; so wie auf der andern Seite dem Modernen, d.h. demjenigen, was die Wirkung auf das Leben fälschlich dadurch zu erreichen sucht, daß es sich ganz an die Gegenwart anschließt, und in die Wirklichkeit einengt, wodurch es denn, wie sehr auch die Absicht und der Stoff verfeinert werden mag, der Herrschaft der beschränkten Zeit und Mode unvermeidlich anheim fällt.115

Schlegels Ausführung ist der Einsicht in die Eigengesetzlichkeit und Eigenwertigkeit verschiedener historischer Epochen verpflichtet, die aus der Querelle des Anciens et des Modernes resultiert. Nachdem das Romantische, wie Schlegel schreibt, nicht die Opposition zum »Alten und Antiken« darstellt, sondern vielmehr der Nachahmung der Alten im »fälschlich wieder aufgestellten Antikischen« entgegengesetzt ist, argumentiert er mit der Position der ›Modernen‹, die die Historizität antiker Kunst betonen. Zugleich bezieht Schlegel mit der Gegenüberstellung des Romantischen und des Modernen den Standpunkt eines ancien, der das zeitbedingte Schöne – das beau relatif »der beschränkten Zeit und Mode« – zurückweist, da es zu sehr an der beengenden Wirklichkeit der Gegenwart orientiert ist. Die Beschränkung und Einengung durch das Stoffliche, das »sich ganz an die Gegenwart anschließt«, hatte Schlegel schon im »Brief über den Roman« anhand von Amalias ›falscher‹, handlungsorientierter Lektüre kritisiert. Den negativen Aspekt ›moderner‹ Repräsentation sah er in der Beschränkung auf die wechselhafte Gegenwart, was er auch an einer weiteren Stelle in seinen Vorlesungen expliziert. Am Beginn der zwölften Vorlesung, die unter anderem vom Roman, dem spanischen Drama, sowie von den Autoren Spenser, Shakespeare und Milton handelt, geht es darum, das »wahre und richtige Verhältnis der Poesie zur Gegenwart und zur Vergangenheit zu bestimmen«.116 Dort schreibt er: Beengend aber, bindend und beschränkend ist die Deutlichkeit der Gegenwart jederzeit für die Fantasie; und wenn man dieser im Stoff unnützerweise so enge Fesseln anlegt, so ist zu besorgen, daß sie sich nur von einer andern Seite in Rücksicht der Sprache und Darstellung desto mehr dafür entschädigen werde.117

115 116 117

Schlegel, KSA VI, S. 286. Schlegel, KSA VI, S. 275. Schlegel, KSA VI, S. 276.

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Insofern sei, so Schlegel weiter, »die indirekte Vorstellung der Wirklichkeit und Gegenwart, die beste und angemessenste«.118 Das »wahre Verhältnis der Poesie zur Zeit« schildert Schlegel als Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das eigentliche Sujet der Dichtung, deren wesenhafte Aufgabe es ist, »das Ewige, das immer und überall Bedeutende und Schöne dar[zu]stellen«, die aber der »Hülle« und des »körperlichen Bodens« bedarf, sieht Schlegel in der »nationalen Erinnerung und Vergangenheit«. In die Darstellung dieser Vergangenheit muß der Dichter »den ganzen Reichtum der Gegenwart, so weit dieselbe dichterisch ist«, hineintragen. Zugleich soll im »Zauberspiegel« seines Kunstwerks die Zukunft als »Ahndung des herannahenden Frühlings« sichtbar werden. Auf diese Weise werde seine Schöpfung, »alle Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereinend«, zur »wahrhaft sinnliche[n] Darstellung des Ewigen, oder der vollendeten Zeit«. Diesen Zusammenfall der verschiedenen Zeitdimensionen im Ewigen will Schlegel im philosophischen Sinne aber nicht als Aufhebung und »bloße Negation der Zeit« verstanden wissen, sondern als »ihre ganze ungeteilte Fülle, in der alle Elemente derselben vereint sind«. Vom Studium-Aufsatz, der noch dem Klassizismus verpflichtet war, über das romantische Manifest Gespräch über die Poesie bis zu den religiös gefärbten späten Vorlesungen zur Geschichte der alten und neuen Literatur ändert sich, so kann jetzt festgehalten werden, Schlegels Einschätzung der Gegenwart im triadischen Zeitengefüge wenig. Die Gegenwart wird nicht vollständig negiert, aber weitgehend auf ihren transitorischen oder dissoziierten Charakter festgelegt, den es in der Figur des Umschlags, im Sprung aus der Zeit – wie im Studium-Aufsatz – oder im (eschatologischen) Modell der Vereinigung aller Zeiten – wie in der Geschichte der alten und neuen Literatur – aufzuheben gilt. Der Fülle der »vollendeten Zeit« im Romantischen steht bei Schlegel die oben genannte »Herrschaft der beschränkten Zeit und Mode« im Modernen gegenüber, die aus der zu starken Annäherung an die Gegenwart resultiert. Schlegels Beurteilung der Zeit in seinen Vorlesungen, die für viele Romantiker repräsentativ ist, sowie seine Kritik an der Tendenz des Modernen, sich zu sehr an die Gegenwart anzuschließen, wurde genau 1815, am Umbruch zwischen der ersten und der zweiten Phase der Sattelzeit, publiziert. Bereits fünfzehn Jahre später kontrastierte dieses Verständnis der eigenen Zeit aufs Schärfste mit dem programmatischen Gegenwartsbewußtsein der jungen Generation. Der Begriff des ›Romantischen‹ als positiv konnotierte Beschreibung der eigenen Literaturproduktion wurde allmählich vom ›Modernen‹ abgelöst.119 Das neue Empfinden der Modernität zeichnet sich dadurch aus,

118 119

Schlegel, KSA VI, S. 276. Alle folgenden Zitate S. 276 u. 277. Jauß sieht die »fällige Absetzung des Modernen vom Romantischen« vor allem in der Ästhetik Heines und Stendhals realisiert (vgl. Jauß, »Das Ende der Kunstperiode«, S. 121).

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daß es sich nicht mehr einer bestimmten Vergangenheit epochal entgegensetzt. Vielmehr ist es von der Vorstellung des Aktualistischen, Zeitgemäßen und Gegenwärtigen geprägt. Die daraus resultierende Aufgabe des Schriftstellers besteht nun darin, den gegenwärtigen Augenblick einzufangen und möglichst unmittelbar wiederzugeben. Insofern erhalten Tagesgeschehen und Zeitbezüge einen breiten Darstellungsraum in den ›modernen‹ Publikationen. Nicht nur fingieren viele der Texte eine direkte Nähe zum Geschehen durch das Genre des Augenzeugenberichts, sondern sie nützen auch die veränderten medialen Möglichkeiten, die ihnen mit der Tagespresse zur Verfügung stehen, um innerhalb kürzester Zeitabstände auf Ereignisse reagieren zu können. Die Forderung des Aktuellen, die eine maximale Annäherung an die Gegenwart verlangt, ist auch einer der Gründe dafür, daß die kleine Prosa der Skizze, des Feuilletons, des (Reise-) Berichts, der Reportage und des Essays, um nur einige zu nennen, zwischen 1820 und 1850 eine beispiellose Blütezeit erlebte, wie etwa in den Texten von Heinrich Heine, Ludwig Börne, Karl Gutzkow und Heinrich Laube. Die Verbreitung und außerordentliche Popularität dieser ›niedrigen‹ Genres weisen auch noch auf einen anderen Aspekt hin. Die Umsetzung des Aktualismus und der erfahrungsgesättigten Gegenwart in den literarisch-feuilletonistischen Texten, die nicht nur politische Ziele verfolgten, machte eine neue Poetik erforderlich: Nicht nur das Sujet sollte zeitgemäß sein, sondern auch seine Behandlung. Wolfgang Preisendanz betont deswegen mit Bezug auf Heine zurecht, daß die neue Schreibart trotz ihrer publizistischen Wirkungsabsicht dennoch als ein »primär artistisches Phänomen« gesehen werden muß.120 Der Begriff des ›Modernen‹ steht nun für das unmittelbar Gegenwärtige, dasjenige, was ›der Zeit gemäß‹ ist. Heines Inszenierung eines epochalen Umbruchs zeigte sich bereits in seiner Beschreibung von Uhlands Gedichten in Die romantische Schule. Angesichts der Pariser Gegenwart, den »wildesten Wogen des Tages« und ihren »Stimmen der modernen Zeit« (DHA 8/1, 233) erklärt Heine die Unangemessenheit der romantischen bzw. romantisierenden Literatur. Das Moderne, verstanden als die Erfahrungsfülle der Gegenwart, weist dem Romantischen strategisch den Platz des Unzeitgemäßen zu. Vor den akuten Forderungen der Gegenwart versage, Heine zufolge, die romantische Literatur, da sie sich primär mit der Vergangenheit beschäftige. Die Betonung des Einstigen und Vergangenen soll eine möglichst drastische Differenz zum euphorischen Jetzt plausibilisieren.

120

Wolfgang Preisendanz, »Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik«. In: Preisendanz, Heinrich Heine. Werkstrukturen und Epochenbezüge. München 1973, S. 21–68, hier S. 25.

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Obwohl Heines Vorwurf der Vergangenheitsfi xierung der triadischen Struktur der romantischen Zeitauffassung, die zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfaßt, nicht gerecht wird,121 differiert das romantische Konzept der »ungeteilte[n] Fülle« der »vollendeten Zeit« entscheidend von dem der konkreten Erfahrungsfülle der Gegenwart, das wie die folgenden Kapitel zeigen sollen, bereits seit ca. 1820 beobachtet werden kann. Die Forderung nach dem Eigenwert einer emphatisch verstandenen Gegenwart gegenüber Vergangenheit und Zukunft, die die Literatur am Ende der Kunstperiode prägte, formulierte Heine prägnant in seinem kurzen, unveröffentlicht gebliebenen Essay von 1833. Gegen geschichtsphilosophische Modelle, die der Gegenwart nur den Status des Durchgangs einräumen, verteidigt Heine die »Interessen der Gegenwart« und verlangt, »daß die Gegenwart ihren Werth behalte, und daß sie nicht bloß als Mittel gelte, und die Zukunft ihr Zweck sey« (DHA 10, 302). Wie sich zeigte, wurde zur Charakterisierung der eigenen Zeit im Selbstbewußtsein der Zeitgenossen beider Modernisierungsphasen der Sattelzeit der Topos des Übergangs verwendet. Er dient zur Inszenierung eines Epochenwandels, der sich jeweils unter dem Zeichen von Gegenwart und Modernität ereignet. In den fragmentarischen Reflexionen »Über den Begriff der Geschichte« beschreibt Walter Benjamin hundert Jahre später das Aufsprengen des Kontinuums der Geschichte zugunsten der Gegenwart durch die Französische Revolution. Das Geschichtsbewußtsein, das in den Handlungen der Revolutionäre zum Vorschein kommt, ist Benjamin zufolge eines, das die zeitliche Dimension der Gegenwart eröffne, und »von dem es in Europa seit hundert Jahren nicht mehr die leisesten Spuren zu geben scheint«.122 Bei der französischen Juli-Revolution habe sich, so Benjamin, ein »Zwischenfall zugetragen, in dem dieses Bewußtsein zu seinem Recht gelangte«.123 Am Abend des ersten Tages der Juli-Revolution, so heißt es, wurde an mehreren Orten in Paris unabhängig voneinander auf die Turmuhren – Repräsentanten der chronologischen Zeit – geschossen. Dieser Ausdruck des Gegenwartempfindens, das sich im Wunsch nach dem Anhalten der Zeit äußert, wurde, so Benjamin, von einem Augenzeugen in folgendem Vers festgehalten: Qui le croirait! on dit qu’irrités contre l’heure De nouveaux Josués, au pied de chaque tour Tiraient sur les cadrans pour arrêter le jour.124

121 122

123 124

Vgl. dazu Bohrer, Die Kritik der Romantik, S. 109–119. Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1980. Bd. I.2: Abhandlungen, S. 702. Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, S. 702. Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, S. 702.

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Die Formulierung ›nouveaux Josués‹ verweist auf die biblische Konnotation von Paris als ›neuem Jerusalem‹, die in der zeitgenössischen Sprache verbreitet war. Die ›neuen Josuas‹, die auf die Ziffernblätter der Turmuhren schießen, zeigen eindrücklich den Wunsch nach Präsenz, nach reiner Gegenwart (»arrêter le jour«), die sich aus dem Vorher und Nachher der chronologischen Zeit befreit. Im Anschluß an die Französische Revolution und die folgende Beschleunigung im Wandel der Zeitfristen sahen die Zeitgenossen des späten 18. Jahrhunderts, wie Benjamins Beispiel eindringlich zeigt, in ihrer Gegenwart zwar einen zentralen Bezugspunkt, verstanden sie aber dennoch als Provisorium. Insofern ist Schlegels Figur des Umschlags, die er bereits im Studium-Aufsatz formulierte, paradigmatisch für diese Zeit zu verstehen. Seit den 1820er Jahren und verstärkt nach der Juli-Revolution in Frankreich wurde erneut die Vorstellung eines epochalen Umbruchs artikuliert. In der Schwellenstruktur des »Nicht-mehr« und »Noch-nicht« am Ende der Kunstperiode eröffnet sich für die junge Generation ein neuer Raum der Gegenwart, der einen Wert aus sich selbst heraus erhält und gegen den Geist der Tradition und der Vergangenheit sowie gegen die Inanspruchnahme durch das Zukünftige behauptet wird. Die peripetische Struktur des neuen Epochenbewußtseins bedeutet jedoch nicht nur, daß sich im Raum des Übergangs die neu erfahrene Dimension der Gegenwart eröffnet. Die Schwellenerfahrung des Übergangs zwischen dem Nicht-Mehr und Noch-Nicht heißt zugleich auch, daß sich zusammen mit dem Eindruck des beschleunigten Wandels ein anhaltendes Krisenbewußtsein ausbildet. Die dementsprechende Verschiebung im Epochenbewußtsein, die sich in der zweiten Modernisierungsphase vollzieht, beschreibt Burkhart Steinwachs folgendermaßen: »Dem nach- und antiromantischen Bewußtsein von Modernität korrespondiert kein positives Epochenbewußtsein als Selbstbewußtsein, sondern die Vorstellung permanenter Krisen- oder – in positiver Metaphorik – immer neuer Schwellenerfahrung«. 125 Mit Radikalisierungen, Revisionen und Umakzentuierungen von gesellschaftspolitischen und ästhetischen Fragestellungen, Problemen und Konzepten in der zweiten Modernisierungsphase der Sattelzeit in theoretischen Positionierungen und fiktionalen Texten von Byron und Heine wird sich das folgende Kapitel auseinandersetzen. Bei beiden Schriftstellern findet sich bereits in den 1820er Jahren eine Fokussierung auf Konzepte wie ›Gegenwart‹, ›Leben‹ und ›Bewegung‹, die sie kritisch-polemisch gegen den romantischen Diskurs einsetzen.126 Auch wenn Byron und Heine ihre literaturästhetische 125 126

Steinwachs, »Was leisten (literarische) Epochenbegriffe?«, S. 315. Wulf Wülfing hat in seiner Grundlagenforschung auf die Bedeutung der Schlagwörter ›Gegenwart‹, ›Leben‹ und ›Bewegung‹ hingewiesen, mit denen romantische Positionen kritisiert wurden. Wülfing konzentriert sich aber vor allem auf die deutsche Vormärz-Diskussion nach 1830 (vgl. Wulf Wülfing, Schlagworte des Jungen Deutschland und Wülfing, »›Die jrine Beeme‹. Einige Bemerkungen zur Romantik-Kritik im Vormärz, speziell bei Börne,

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und epochengeschichtliche Position in Abgrenzung von dem dominanten Literatursystem inszenieren, muß betont werden, daß sie innerhalb des dargestellten Modernisierungstheorems dem gleichen Horizont von Fragestellungen und Problemlagen verpflichtet sind wie die von ihnen kritisierten Texte und Autoren. Dazu zählt vor allem das Verhältnis zwischen Kunst und Leben, das, wie die Kapitel III. und IV. zeigen werden, in Byrons und Heines Texten eine maßgebliche Umakzentuierung gegenüber klassizistischen und romantischen Positionen erfährt. Neben den Kontinuitäten gilt es also gleichzeitig den Differenzen Rechnung zu tragen, die nicht nur aus der Praxis einer subjektiven, marktstrategischen Abgrenzung von den konkurrierenden kulturellen und literarischen Produktionen der dominanten ›Kunst‹-Epoche resultieren, sondern maßgeblich auch von der Positionierung zu den historisch-politischen Ereignissen nach 1815 bedingt sind. Im folgenden sollen in bezug auf Byrons und Heines Poetik zentrale Verschiebungen innerhalb des Modernisierungstheorems fokussiert werden. Dies geschieht im Hinblick auf ihre Konzeptualisierung von ›Leben‹, ›Bewegung‹ und ›Gegenwart‹ sowie der Beziehung zwischen Kunst und Leben. Gerade der Bezug beider Autoren zur Romantik ist Gegenstand von zahlreichen Untersuchungen der beiden Nationalphilologien. Deswegen soll zunächst ein vergleichender Forschungsüberblick erfolgen, der sich nach einem allgemeinen Abriß von Positionen, die das Verhältnis der beiden Autoren zur Romantik zu bestimmen versuchen, besonders auf den kontrovers diskutierten Aspekt der Ironie konzentrieren wird.

3.

Poetik des ›Übergangs‹: Postromantische Neuakzentuierungen in Texten von Byron und Heine (1815–1830)

3.1.

Byron und Heine als Autoren des ›Übergangs‹

Die literaturgeschichtliche Verortung von Byron bzw. von Heine ist in hohem Maße abhängig von der jeweiligen Epochenbestimmung. Ob Byron als paradigmatischer Romantiker wahrgenommen wird, hängt entscheidend vom jeweiligen Romantikbegriff einer Zeit ab. Für die literaturhistorische Rezeption von Byrons Texten war René Welleks Studie The Concept of Romanticism in Literary History von 1949 besonders einflußreich, in der Wellek das Romantische so bestimmt: »Imagination for the view of poetry, nature for the view of

Heine und den Jungdeutschen«. In: Bunzel/Stein/Vaßen (Hrsg.), Romantik und Vormärz, S. 293–312). Innerhalb der Modernediskussion von Heines Werk betont auch Sabina Becker den Aspekt der Bewegung (Becker, »›…fortgerissen in Bewegung‹. Heinrich Heine und die Moderne«. In: Werner Frick (Hrsg.), Heinrich Heine: Neue Lektüren. Freiburg i.Br. 2011, S. 297–312).

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the world, and symbol and myth for poetic style«.127 Ein Problem der Konzentration auf Imagination, Natur, Symbol und Mythos, die die Forschung bis in die 1980er Jahre prägte, ist, daß sie zwar die Texte von Autoren der englischen Romantik wie William Blake, William Wordsworth, Samuel Taylor Coleridge, John Keats und Percy Bysshe Shelley gut erfassen kann, aber nicht die ottava rima poems von Byron – dem letzten der lange Zeit kanonischen ›Big Six‹. Da sich die späten Texte wie das komische Epos Don Juan, das anerkannt zu den bedeutendsten Werken Byrons zählt, in diesen Rahmen nicht integrieren lassen, haben zentrale Untersuchungen zur englischen Romantik Byron kategorisch aus ihrem Korpus ausgeschlossen, wie etwa in den 1970er Jahren Meyer H. Abrams, der im Vorwort zu seiner einschlägigen Untersuchung Natural Supernaturalism betont: »Byron, I omit altogether«.128 Während Abrams Byron zwar aus seinem Korpus ausschließt, aber dennoch sein Werk der Romantik zurechnet, betonen neuere Untersuchungen speziell die antiromantischen Elemente von Byrons Texten.129 Norbert Lennartz etwa argumentiert, daß Byrons Sarkasmus, Zynismus und Pessimismus angesichts der Abwesenheit metaphysischer Sicherheiten ihn in die Nähe moderner und absurder Literatur eines Gottfried Benn oder der Dadaisten rückten.130 Neben solchen und anderen Versuchen, Byrons Schreibweise in den ottava rima-Gedichten auf die literarische Moderne des 20. Jahrhunderts in a-historischen Vergleichen mit Autoren wie James Joyce oder Samuel Beckett131 zu beziehen, läßt sich seit den 1980er Jahren eine Gegenbewegung verzeichnen, die sich auf die Identifizierung eines romantisch-ironischen Paradigmas vor allem in Don Juan konzentriert, womit Byrons Hauptwerk in den romantischen Kanon, wenngleich kontinentaleuropäischer Prägung, reintegriert wurde. Das nächste Kapitel wird darauf zurückkommen. Besondere Aufmerksamkeit bei der literaturgeschichtlichen Verortung von Byron verdienen die Arbeiten von Jerome McGann. Als einer der wichtigsten Byronforscher und Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe von Byrons Werken sowie als Wissenschaftler, der mit seiner Untersuchung The Romantic 127 128 129

130 131

Wellek, »The Concept of ›Romanticism‹ in Literary History«, S. 161. Abrams, Natural Supernaturalism, S. 13. Vgl. Jonathan Bate, »Apeing Romanticism«. In: Michael Cordner/Peter Holland/John Kerrigan (Hrsg.), English Comedy. Cambridge 1994, S. 221–240, hier S. 228; Norbert Lennartz, »Re-mapping Romanticism: Lord Byron – Britain’s First Anti-Romantic«. In: Christoph Bode/Fritz-Wilhelm Neumann (Hrsg.), Re-Mapping Romanticism: Gender, Text, Context. Essen 2000, S. 101–112, hier S. 112; Vgl. auch Lennartz, Absurdität vor dem Theater des Absurden. Absurde Tendenzen und Paradigmata untersucht an ausgewählten Beispielen von Lord Byron bis T.S. Eliot. Trier 1998. Vgl. Lennartz, »Re-mapping Romanticism«, S. 112. So etwa Hermione de Almeida, Byron and Joyce through Homer. Don Juan and Ulysses. London, Basingstoke 1981 oder Bernard J. Gallagher, »Hitting the Road: Byron, Beckett, and the ›Aimless Journey‹«. In: Alice Levine/Robert N. Keane (Hrsg.), Rereading Byron. Essays Selected from Hofstra University’s Bicentennial Conference. New York, London 1993, S. 87–100.

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Ideology das organizistische Paradigma der Forschung als romantische ›Ideologie‹ entlarvte, berühren seine Studien immer wieder auch die Frage nach Byrons literaturhistorischer Positionierung.132 Schon der Titel seines Buches Byron and Romanticism verrät, daß Byronforschung und Romantikforschung für McGann ineinandergreifen. In der Einleitung zu seiner Essay-Sammlung aus den letzten drei Jahrzehnten formuliert McGann dementsprechend als sein wesentliches Anliegen, »to rethink Byron and, through him, the history and forms of Romanticism«.133 Wie Byron, der in der Forschung über ein Jahrhundert als Inbegriff der Romantik galt, aus zentralen wissenschaftlichen Studien zur Epoche verschwinden konnte, versucht McGann aus der Sonderstellung des Dichters und der Historizität des Romantikbegriffs zu erklären. Seine Untersuchung Don Juan in Context leitet McGann mit der Beobachtung ein, Byrons mock epic sei zugleich »a critique and an apotheosis of High Romanticism«.134 In The Romantic Ideology begründet McGann Byrons ›Abweichung‹ vom ›Zentrum‹ des Romantischen damit, daß Byron von seinen frühen bis zu seinen spätesten Texten versucht habe, über den Schwächen, Problemen und Widersprüchen seiner Zeit zu stehen.135 In dem Essay »Rethinking Romanticism« schließlich, der sich ausgehend von Byron mit Fragen der Periodisierung der Romantik auseinandersetzt und René Welleks Definition des Romantischen als historisch bedingte problematisiert, formuliert McGann die These, daß Byron vom Zentrum romantischen Ruhms mit Rändern, Brüchen und Fissuren ›kokettiert‹ habe: »Himself at odds with so much of his age’s systematic theorizing […] Byron courted marginality and inconsequence from the very center of the Romantic fame he had acquired.«136 In McGanns Argumentation – das zeigen die genannten Texte – rückt Byron als ›verdeckter‹ Romantiker wieder ins Zentrum des Romantischen. Ein Blick von hier aus auf die wissenschaftliche Rezeptionsgeschichte von Heines Beziehung zur Romantik läßt eine ganz ähnliche Situation wie bei Byron erkennen. Auch die Heine-Forschung ist mit einer Fülle von selbstreflexiven Aussagen des Autors konfrontiert, in denen er sich als Schwellenautor, als »destructeur initiateur« (DHA 15, 121), inszeniert, mit dem die alte, roman-

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Vgl. McGann, The Romantic Ideology, S. 1: »The ground thesis of this study is that the scholarship and criticism of Romanticism and its works are dominated by a Romantic Ideology, by an uncritical absorption in Romanticism’s own self-representations.« Jerome McGann, »General analytical and historical introduction«. In: Byron and Romanticism, S. 1–15, hier S. 2. Jerome J. McGann, »Don Juan« in Context. Chicago 1976, S. ix. Vgl. McGann, The Romantic Ideology, S. 138. McGann, »Rethinking Romanticism«, S. 238. Vgl. dazu auch meinen Aufsatz »›Romantic Ideology‹ and the Margins of Romanticism: Byron, Heine and Musset«. In: Christoph Bode/ Sebastian Domsch (Hrsg.), British and European Romanticisms. Selected Papers from the Munich Conference of the German Society for English Romanticism. Trier 2007, S. 179– 202.

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tische Schule endet und eine neue, moderne Schule beginnt. So gehen viele Untersuchungen zu Heines literaturgeschichtlichem Ort von den Positionierungen des Autors aus, wie etwa von seinen späten Bemerkungen in Geständnisse zum Urteil des Franzosen Henri Blaze de Bury, Heine sei ein »romantique défroqué« (DHA 15, 13), oder sie entzünden sich an seinen zentralen, kritischen Essays wie dem epochemachenden Text Die romantische Schule.137 Für die Beurteilung von Heines Beziehung zur Romantik ist, ebenso wie für Byron gezeigt wurde, die Definition der Epoche entscheidend, worauf bereits Herbert Clasen in seiner grundlegenden Untersuchung zu Heines Romantikkritik hingewiesen hat.138 Heine selbst trug in seinen Schriften wesentlich dazu bei, ein restauratives, fortschrittsfeindliches und vergangenheitsorientiertes Bild der Romantik zu entwerfen. Die Entdeckung einer ›anderen‹, modernen Romantik war die Voraussetzung für eine Neubewertung von ›romantischen‹ Paradigmen in Heines Texten und von seiner Beziehung zur Romantik.139 Heines Romantik-Bild wurde in der Folge als falsches, verkürzendes Verständnis der Romantik gedeutet, das die progressiven ästhetischen Positionen der Frühromantik absichtlich ausblendet und negiert, um sich selbst als ersten ›Modernen‹ stilisieren zu können. Am prominentesten hat Karl-Heinz Bohrer in seiner bereits erwähnten Untersuchung Die Kritik der Romantik auf Heines Selbststilisierungen hingewiesen und die solchermaßen verdeckte Fortführung der ästhetisch-imaginativen, modernen Konzepte der Romantik betont. Heines ambivalentes Verhältnis zur Romantik pointiert Bohrer folglich als »[p]olitische Kritik und ästhetische Faszination«.140 Die Darstellung von Affinitäten und Differenzen von Heines Texten zur Romantik war in den letzten vier Jahrzehnten Gegenstand zahlreicher Untersuchungen, die sich einzelnen Motiven, ästhetischen Theoremen, Verfahren und Konstellationen widmeten.141 In diesem Zusammenhang stehen auch 137

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So etwa Hohendahl, »Geschichte und Modernität« und Fritz Mende, »Zu Heines selbstkritischer Einschätzung: ›Entlaufener Romantiker‹«. In: Mende, Heinrich Heine. Studien zu seinem Leben und Werk. Berlin 1983, S. 218–229. Joseph A. Kruse wendet sich in seiner Untersuchung »Die romantische Schule« dagegen bewußt von der Frage nach »Heines Herkunft aus der Romantik« ab (Joseph A. Kruse, »Die romantische Schule«. In: Internationaler HeineKongreß 1972. Hamburg 1973, S. 448–463, hier S. 448). Vgl. Clasen, Heines Romantikkritik, S. 9. Dort findet sich zudem ein umfangreiches Kapitel zur Rezeptionsgeschichte von Heines Beziehung zur deutschen Romantik seit 1823 (vgl. S. 147–213). Vgl. etwa Helmut Schanze (Hrsg.), Die andere Romantik. Frankfurt a.M. 1967 sowie »Noch einmal: Romantique défroqué. Zu Heines Atta Troll, dem letzten freien Waldlied der Romantik«. In: Heine-Jahrbuch 9 (1970), S. 87–98. Schanze deutet Heines Romantikkritik als Reaktion auf die biedermeierliche, domestizierte Rezeption der Romantik bei seinen Zeitgenossen. Bohrer, Die Kritik der Romantik, S. 97. Hier soll nur auf folgende Untersuchungen hingewiesen werden: Herbert Gutjahr, Zwischen Affinität und Kritik. Heinrich Heine und die Romantik. Frankfurt a.M. u.a. 1984, Diana I. Behler, »Heine and Early German Romanticism«. In: Markus Winkler (Hrsg.), Heinrich Heine und die Romantik. Tübingen 1997, S. 86–103; L. Fallon Duncan, »Allegory and

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die umfangreichen Monographien von Maria-Christina Boerner und Sandra Kerschbaumer, die Heines Beziehung zur Romantik zum Thema haben.142 Verschiedene Aspekte von Heines Ästhetik werden in diesen Studien differenziert auf frühromantische Positionen zurückgeführt, wobei sich beide vor allem auf die Bedeutung von August Wilhelm Schlegel bzw. von Friedrich Schlegel für Heines ›moderne Romantik‹ konzentrieren. In beiden Untersuchungen nimmt die Ironie eine wichtige Rolle ein, da sie aufgrund von Strukturanalogien eine Kontinuität zwischen den romantisch-ästhetischen Positionen der Brüder Schlegel und Heines poetischer Praxis herstellen kann. Darauf wird gleich noch zurückzukommen sein. Gerhard Höhn weist zurecht darauf hin, daß eine Gefahr von Untersuchungen, die die Abhängigkeit des Autors von ästhetischen Praktiken der Romantik fokussieren, die erneute Romantisierung Heines sei, die auf Kosten des politischen Autors gehe.143 Höhn dagegen betont die Ambivalenz von Heines Verhältnis zur Romantik, die sich nicht weginterpretieren lasse, und schlägt die Differenzierung zwischen »diskursiver, antiromantischer Kritik« und »proromantischer, poetischer Praxis« vor: »Der Kritiker und moderne Intellektuelle Heinrich Heine hat sich zeitweilig in scharfen Gegensatz zur romantischen Literatur gestellt, während der Dichter und Poet ihr zeitlebens produktiv verpflichtet geblieben ist.«144 Höhns griffige Formel geht zwar nicht auf Kosten des politischen Autors, trennt aber wiederum die Ästhetik des Dichters von der Politik des Kritikers Heine. Wie die Forschungsdiskussion zeigen konnte, nehmen Byron und Heine durch die Poetik ihrer Texte eine Schwellenposition ein, die bei Heine zudem einen inszenatorischen Charakter trägt. Die These einer (verdeckten) Kontinuität zu ästhetischen Positionen der Romantik im Hinblick auf das Verfahren der Ironie, die eine zentrale Forschungsrichtung sowohl zu Byron als auch zu Heine darstellt, wird im folgenden Kapitel problematisiert. 3.2.

Revisionen romantischer Ironie

Meyer H. Abrams begründet den Ausschluß Byrons aus seinem Standardwerk zur englischen Romantik Natural Supernaturalism mit dem Hinweis auf die Ironie von Byrons späten Texten: »[N]ot because I think him a lesser poet than the others but because in his greatest work he speaks with an ironic counter-

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Ambiguity. Heine’s Ideen. Das Buch Le Grand in the Light of Schlegel’s Lucinde.« In: HeineJahrbuch 32 (1993), S. 48–73; Christian Liedtke, »›Mondglanz‹ und ›Rittermantel‹. Heinrich Heines romantische Masken und Kulissen«. In: Bunzel/Stein/Vaßen (Hrsg.), Romantik und Vormärz, S. 237–256) Vgl. Maria-Christina Boerner, »Die ganze Janitscharenmusik der Weltqual«. Heines Auseinandersetzung mit der romantischen Theorie. Stuttgart 1998; Sandra Kerschbaumer, Heines moderne Romantik. Paderborn u.a. 2000. Vgl. Höhn, »Weder ›Passionsblumen‹ noch ›nutzloser Enthusiasmusdunst‹«, S. 260. Höhn, »Weder ›Passionsblumen‹ noch ›nutzloser Enthusiasmusdunst‹«, S. 260f.

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voice and deliberately opens a satirical perspective on the vatic stance of his Romantic contemporaries.« Abrams’ Definition des Romantischen, die Byrons Texte im romantischen Kanon marginalisiert und exkludiert, ist spätestens seit den 1980er Jahren mit Forschungspositionen konfrontiert, die den Begriff ›Romantik‹ neu bestimmen. Das naturalistisch-organizistische Paradigma, das Abrams in seinen Studien verfolgt, wurde durch philosophische Positionen des subjektiven Idealismus als einem weiteren wirkmächtigen Paradigma des Romantischen ergänzt. In diesem Zusammenhang wenden sich Romantikforscher wie Anne K. Mellor kontinentaleuropäischen Konzepten des Romantischen zu, vor allem dem deutschen Idealismus und Friedrich Schlegels Konzept ›romantischer‹ Ironie. Mellors Studie ist die erste umfangreiche Analyse von Don Juan als Beispiel romantischer Ironie. Wenn sie betont, »Byron’s mature works are probably the most masterful artistic examples of romantic irony in English«, rückt der marginalisierte Dichter wie bei McGann wieder ins Zentrum der englischen Romantik.145 Die Studien von Mellor und anderen Forschern, die die späten Texte Byrons als Ausdruck romantischer Ironie interpretieren, zeigen ein extrem offenes Verständnis des Begriffs, obwohl sie ihn theoretisch in Friedrich Schlegels Fragmenten und Notizen fundieren. So verwendet Mellor den Begriff der Ironie, um intendierte Widersprüche, beabsichtigte Inkonsistenzen und paradoxale Konstruktionen zu beschreiben. Zugleich rekurriert sie dabei aber speziell auf Schlegels Ironie-Konzeption: »[A]rtistic irony can manifest itself in the work of art as a process of simultaneous creation and de-creation: as two opposed voices or personae, or two contradictory ideas or themes, which the author carefully balances and refuses to synthesize or harmonize.« Auch Frederick Garbers Untersuchung Self, Text, and Romantic Irony widmet sich Byrons Ironie, speziell im Verhältnis zu organologischen Denkfiguren bei Coleridge und anderen Romantikern. Garbers Analyse von Don Juan als ›ironischem‹ Text ist Paul de Mans Lektüre von Friedrich Schlegels Theorien verpflichtet. Er begreift dementsprechend Offenheit und Unabschließbarkeit als positive Werte, die Byrons Versepos von Coleridges totalisierenden Konzepten – »the closed world of organic synthesis« – unterscheide: »Reconciliation, synthesis, the making of wholeness and therefore of closure, are at the center of Coleridgean organicism.«146 Gleichzeitig betont Garber, sich von de Man abgrenzend, daß bei Schlegel und Byron keine »void of signification« entstehe, wie sie de Man in Allegories of Reading postuliert: »[T]he irony of Schlegel and

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Anne K. Mellor, English Romantic Irony, Cambridge/Massachusetts 1980, S. 31. Frederick Garber, Self, Text, and Romantic Irony. The Example of Byron. Princeton 1988, S. 246.

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Byron, that steady ›Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung‹, is not a dead end but a very lively one, a dialectic of break-up and renewal«.147 In der Folge der Studien aus den 80er Jahren von Forschern wie Anne K. Mellors, Frederick Garbers und Lilian Fursts148 untersucht Suzanne Ferriss 1993 erneut Byrons späte Texte im Hinblick auf das Paradigma der romantischen Ironie. Ferriss verbindet das Konzept romantischer Ironie mit der Kategorie des Karnevalesken und seiner ›fröhlichen Relativität‹ aus den kulturwissenschaftlichen Studien Michail Bachtins. Ferriss zufolge nehme Byron die Haltung ›transzendentaler Buffonerie‹ an, womit sie eine zentrale Formulierung aus Schlegels AthenäumsFragmenten aufgreift. Byron, so folgert Ferriss weiter, »perches on a promontory, a transcendent height, ›amidst life’s infinite variety‹«.149 Durch die Distanzierung von der Welt könne er erkennen, daß die bedingten Schöpfungen des Menschen, auch die der Dichtung, die unendliche Vielfalt und das Chaos des Lebens niemals völlig zu erfassen vermögen.150 Auf die Probleme dieser Einschätzung, die wörtliche Zitate aus Don Juan aufnimmt und an Schlegels philosophische Fragmente anschließt, wird noch näher einzugehen sein. Untersuchungen wie Mellors, Garbers oder Ferriss’, die Schlegels theoretische Äußerungen zur Ironie auf die literarische Praxis von Byrons späten Texten anwenden, konzentrieren sich auf zwei wesentliche Punkte. Schlegels Charakterisierung des Produktionsprozesses des Kunstwerks als ›Selbstschöpfung‹ und ›Selbstvernichtung‹ wird erstens in den selbstreflexiven und widersprüchlichen Eigenschaften eines literarischen Textes gesehen. Zweitens vertreten sie in Anlehnung an Schlegel die Auffassung, daß der Künstler, indem er gleichzeitig schöpft und zerstört, sich über die bedingte Welt erhebt und dadurch unendliche Freiheit gewinnt.151 Die Forschung zu Heine zeigt vergleichbare Tendenzen. Allerdings dominierte in den Untersuchungen der 1960er und 70er Jahre das Interesse an Heine als politischem Dichter und Kritiker der Romantik, wie er es in seinen Deutschlandschriften Die romantische Schule und Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland ist. Entsprechend wurden die ironischen Verfahren seiner Texte als politische Ironie bestimmt, die gegenüber der romantischen frei von ästhetisch-philosophischen Reflexionen sei.152 Wäh-

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Garber, Self, Text, and Romantic Irony, S. 258. Auch Lilian Furst widmet Byrons romantischer Ironie ein ausführliches Kapitel in ihrer Untersuchung Fictions of Romantic Irony. Cambridge/Massachusetts 1984. Suzanne Ferriss, »Romantic Carnevalesque: Byron’s The Tale of Calil, Beppo, and Don Juan«. In: Levine/Keane (Hrsg.), Rereading Romanticism, S. 133–149, hier S. 145. Vgl. Ferriss, »Romantic Carnevalesque«, S. 145. Kritisch zur Kategorisierung von Byrons Texten als romantische Ironie äußert sich dagegen etwa Drummond Bone, »Romantic Irony Revisited«. In: Martin Procházka (Hrsg.), Byron: East and West. Prag 2000, S. 237–247. Vgl. dazu Ursula Lehmann, Popularisierung und Ironie im Werk Heinrich Heines. Die Bedeutung der textimmanenten Kontrastierung für den Rezeptionsprozeß. Frankfurt a.M. 1976.

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rend Wolfgang Preisendanz die Einordnung Heines in die Traditionslinie der romantischen Ironie noch als Verflachung des Begriffs versteht, die durch die unvermeidliche Suche nach diachronen Zusammenhängen entstehe,153 eröffnet Karl Heinz Bohrers These in Die Kritik der Romantik, Heine habe absichtlich vergessen, »Friedrich Schlegel als Erfinder jener romantischen Ironie zu nennen, deren Spätform er selbst darstellte«, erneut das Paradigma der romantischen Ironie.154 In diesem Zusammenhang stehen auch noch die Analysen von MariaChristina Boerner und Sandra Kerschbaumer um 2000, die die Kontinuität zwischen den poetologischen Konzepten der Frühromantik und Heines literarischer Praxis betonen. Besonders die Ironie in Heines Texten wird in beiden Arbeiten auf Schlegels Fragmente zur Ironie zurückgeführt. Kerschbaumer, die sich explizit auf Bohrers Interpretationsansatz bezieht, betont, daß der »verwendete Ironie-Begriff dabei der romantischen Bestimmung von ›Selbstschöpfung und Selbstvernichtung‹« entspricht, »die ein nicht festlegbares, sich selbst transzendierendes Denken und Schreiben zu charakterisieren versucht«.155 Als romantische Ironie in Heines Lyrik werden Phänomene der Uneindeutigkeit, Selbstrelativierung und der selbstreflexiven Darstellung des Autors im Werk verstanden.156 Boerner wiederum, die ausführlich die gesamte historische Ironiediskussion bei Schlegel, Hegel und Solger aufgreift und Heines Texte in diesem Zusammenhang verortet, sieht in Heines ›Weltironie‹ die Bestätigung eines metaphysischen Ironieverständnisses, was für sie bedeutet, daß »in seiner Sicht der Bezug auf das ›Höchste‹ bestehen« bleibe.157 In der englischsprachigen Heine-Forschung vertritt am nachdrücklichsten Jocelyne Kolb in ihrer Darstellung von Heines Ironie die Auffassung, daß sich eine »uncanny correspondence between the theories of the early Schlegel and the poetic practice of Heine« zeige.158 Als gemeinsamen Nenner der Diskussionen zur romantischen Ironie sieht Kolb »a sense of dualism«, der fruchtbar auf

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Vgl. Wolfgang Preisendanz, »Ironie bei Heine«. In: Albert Schaefer (Hrsg.), Ironie und Dichtung. München 1970, S. 85–112, hier S. 105. So auch Lehmann, die schreibt, daß diese »Interpretationshaltung durch die Beobachtung der illusionszerstörenden Schlußwendungen, die man in Heines Lyrik exemplarisch verwirklicht sah«, mitbestimmt wurde, »ohne daß man sich bewußt war, in diesem Sinne einem verkürzten Verständnis romantischer Ironie anzuhängen« (Lehmann, Popularisierung und Ironie, S. 88). Beide, Preisendanz und Lehmann, reagieren wiederum in ihren Untersuchungen auf frühere Versuche, Heines Ironie in die Tradition der romantischen Ironie einzureihen. Bohrer, Die Kritik der Romantik, S. 104. Kerschbaumer, Heines moderne Romantik, S. 22. Vgl. Kerschbaumer, Heines moderne Romantik, S. 172–179 und 191–245. Boerner, »Die ganze Janitscharenmusik der Weltqual«, S. 295. Jocelyne Kolb, »›Die Puppenspiele meines Humors‹: Heine and Romantic Irony«. In: Studies in Romanticism 26 (1987), S. 399–419, hier S. 400. Es ist bezeichnend, daß Kolb ihrer Untersuchung zu Heine ein Zitat aus Byrons Don Juan als Motto voranstellt.

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die unlösbare Ambivalenz von Heines Texten angewendet werden könne.159 Die Einwände von Preisendanz und anderen, die Heines ironische Verfahren von romantischer Ironie abgrenzen – Jeffrey Sammons etwa spricht sogar von »Heine’s anti-Romantic irony« –,160 weist sie mit dem Hinweis auf Schlegels literarische Gewährsmänner für sein Konzept der Ironie zurück: Shakespeare, Cervantes, Diderot und Sterne, in deren Tradition sich auch Heine selbst verorte.161 Für Kolb bezeichnet romantische Ironie wie für Mellor und Furst, auf deren Studie sie explizit zurückgreift, ein Verfahren, das nicht auf die Epoche der Romantik beschränkt ist. Diese Ausweitung des Konzepts ist charakteristisch für die anglophone Forschung und prägt auch die Arbeiten des renommierten Schlegel- und Romantikforschers Ernst Behler, der sich in seinen Arbeiten wiederholt mit dem Phänomen der Ironie beschäftigte.162 Behler unterscheidet zwischen zwei überzeitlichen Typen der Ironie – der rhetorischen (klassischen) und der modernen (romantischen). Während die rhetorische Ironie als Figur der Verstellung (dissimulatio) das Gegenteil des Gemeinten äußert, zeigt sich die romantische Ironie »in dem literarischen Verhältnis zwischen Autor und Leser, wobei der Autor die Rolle der Verstellung übernimmt, ironische Wendungen äußert und sich darüber hinaus in einer spielerischen, subjektiven, scheinbar unverpflichteten, schwebenden und skeptischen Pose gefällt«.163 Behler identifiziert die romantische Ironie mit dem »selbstreflexiven Stil der Poesie«, der für ihn ein »charakteristisches Merkmal der literarischen Moderne« ist.164 Das bedeutet, daß illusionszerstörende, metafiktionale Verfahren eines Textes für Behler generell romantische Ironie darstellen. Zu den Positionen der Forschung, die Byrons und Heines Texte als praktische Umsetzung romantischer Ironie verstehen, läßt sich zusammenfassend festhalten: Sie betonen textuelle Merkmale wie Ambivalenz, Widerspruch und Paradox, die auf Schlegels Aussage: »Ironie ist die Form des Paradoxen« 159 160 161 162

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Kolb, »›Die Puppenspiele meines Humors‹«, S. 401. Jeffrey Leonard Sammons, Heinrich Heine. A Modern Biography. Princeton/New Jersey 1979, S. 62. Vgl. Kolb, »›Die Puppenspiele meines Humors‹«, S. 408. Vgl. Ernst Behler, Klassische Ironie, romantische Ironie, tragische Ironie. Zum Ursprung dieser Begriffe. Darmstadt 1972 und Behler, Ironie und literarische Moderne. Paderborn 1997. Dort heißt es etwa: »Obwohl diese literarische Taktik [der Illusionszerstörung, A.B.] gewöhnlich als ›romantische Ironie‹ bezeichnet wird, ist sie aber keineswegs auf die Epoche der Romantik begrenzt, nicht einmal im Sinne der Entstehung. Bereits im achtzehnten Jahrhundert ist diese Ironie ein beherrschendes Merkmal in den Romanen Fieldings und Diderots. Ein Meisterwerk dieser Art ist der Roman Tristram Shandy von Lawrence Sterne« (S. 55). Behler zufolge hatte die romantische Bestimmung der Ironie am Ende des 18. Jahrhunderts nicht den Anspruch, »etwas Neues zu erfinden«, sondern versuchte nur, »einem wesentlichen Charakterzug der europäischen Literatur, der seit langem in Übung war, seinen entsprechenden Namen zu geben« (Behler, Art. »Ironie«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Tübingen 1998, Bd. 4, Sp. 599–624, hier Sp. 607). Behler, Ironie und literarische Moderne, S. 22. Behler, Ironie und literarische Moderne, S. 90.

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bezogen werden.165 Schlegels Formulierung vom »steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung« wird als Stimmungsbrechung gedeutet, die ein typisches Verfahren in Byrons und Heines Texten ist.166 Insgesamt ist in der Forschung die Tendenz zu beobachten, daß überwiegend einzelne Fragmente Schlegels aufgegriffen und auf die literarische Praxis der beiden Autoren übertragen werden. Diese Vorgehensweise soll im folgenden kritisch beleuchtet werden. Denn unabhängig davon, wie historisch fundiert oder offen der Begriff der romantischen Ironie in der Forschung verwendet wird, erscheint es sinnvoll, bei der direkten Referenz auf Schlegels Bestimmungen der Ironie zu beachten, daß die Fragmente Teil eines umfassenderen ästhetisch-philosophischen Ideen-Zusammenhangs sind. Allzu schnelle Identifikationen von Schlegels Äußerungen in den Ironiefragmenten mit Heines und Byrons poetischer Praxis können leicht entscheidende Differenzen und Umakzentuierungen verdecken. Um die spezifischen, postromantischen Verschiebungen und Transformationen der romantischen Ironie in Byrons und Heines Texten zu präzisieren, soll zunächst Schlegels Ironie-Konzeption in aller Kürze umrissen werden. Grundzüge von Schlegels ästhetischen Überlegungen wurden bereits oben im Zusammenhang mit seinem Studium-Aufsatz und dem Gespräch über die Poesie im Hinblick auf die Begriffe des ›Interessanten‹ und der ›Arabeske‹ aufgegriffen. Bei einer Darstellung der ›romantischen Ironie‹ muß zunächst betont werden, daß Schlegel in bezug auf diesen Begriff keine systematische Theorie entwickelte.167 Es gibt nur verstreute Aufzeichnungen in seinen Fragmenten, Essays und Notizbüchern. Zentrale Aussagen zur Ironie finden sich vor allem in den Fragmenten des Lyceum und Athenäum sowie in den beiden Essays Über die Unverständlichkeit und Über Goethes Meister. Anhand einer Systematisierung seiner Äußerungen lassen sich jedoch drei verschiedene Aspekte der Ironie bestimmen.168 Ironie ist relevant (1) für den künstlerischen Schaffensprozeß, (2) für die Werkstruktur und (3) für die Rezeption des Kunstwerks als 165 166 167

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Schlegel, KSA II, S. 153. Schlegel, KSA II, S. 172. Die in der Forschung gebräuchliche Bezeichnung ›romantische Ironie‹ kann tatsächlich nur bedingt auf Schlegel zurückgeführt werden. In seinen veröffentlichten Schriften spricht er entweder von ›Ironie‹ oder von ›Sokratischer Ironie‹. Lediglich in seinen privaten Notizbüchern finden sich Hinweise auf die Bezeichnung »romantische Ironie« (vgl. KA XVI, S. 126, Nr. 503, S. 145f., Nr. 709, 713, 716). Diese Bücher wurden allerdings erst 1957 von Hans Eichner veröffentlicht (Friedrich Schlegel, Literary Notebooks. 1798–1801. Hrsg. von Hans Eichner. London 1957). Vgl. dazu die grundlegenden Arbeiten von Ingrid Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung. Tübingen 1960 und »Zur Poetik der deutschen Romantik II: Die romantische Ironie«. In: Hans Steffen (Hrsg.), Die deutsche Romantik: Poetik, Formen und Motive. Göttingen 1967, S. 75–97, hier S. 79 sowie Peter Szondi, »Friedrich Schlegel und die romantische Ironie. Mit einer Beilage über Tiecks Komödien«. In: Helmut Schanze (Hrsg.), Friedrich Schlegel und die Kunsttheorie seiner Zeit. Darmstadt 1985, S. 143–161. Vgl. dagegen Paul de Man, der die Systematisierung der Ironie in den Untersuchungen von Strohschneider-Kohrs und anderen als Entschärfung zurückweist (Paul de Man, »The Concept of

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Symbol des Unendlichen, als allegorischer Verweis auf das Absolute. Alle drei Aspekte bestimmt ein dialektischer Prozeß. Im Lyceumsfragment 37 verlangt Schlegel für den Schaffensprozeß des Künstlers »Selbstbeschränkung, die […] für den Künstler wie für den Menschen […] das Notwendigste und das Höchste ist«.169 Sie ist das Notwendigste, »denn überall, wo man sich nicht selbst beschränkt, beschränkt einen die Welt; wodurch man ein Knecht wird«.170 Zugleich ist sie das »Höchste: denn man kann sich nur in den Punkten und an den Seiten selbst beschränken, wo man unendliche Kraft hat, Selbstschöpfung und Selbstvernichtung«.171 Im Kontext der Produktion des Kunstwerks heißt das, die unbewußte Kreativität (»Erfindung und Begeisterung«) des Schaffenden soll im Wechsel mit bewußter Reflexion und Distanzierung (»Besonnenheit«) stehen.172 Im Unterschied zu demjenigen »Schriftsteller […], der sich rein ausreden will und kann, der nichts für sich behält, und alles sagen mag, was er weiß«, befreit sich der Künstler, der den »Wert und die Würde der Selbstbeschränkung« erkennt, aus einem »illiberalen Zustande«.173 Insofern ist die Ironie die »freieste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst weg«.174 Der Wechsel zwischen Bedingtem und Unbedingtem ist das Wesen und die Leistung der »Sokratische[n] Ironie«. »Sie enthält und erregt ein Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung.«175 Der Wechsel zwischen Bedingtem und Unbedingtem, zwischen »Selbstschöpfung und Selbstvernichtung« kennzeichnet auch den Aspekt der Werkstruktur. Für die Dichtung, in der die Ironie zum strukturbestimmenden Moment avanciert, prägt Schlegel im Athenäums-Fragment 238 die Bezeichnung »Transzendentalpoesie«.176 Analog zur »Transzendentalphilosophie«, die »das Produzierende mit dem Produkt darstellte«, soll die Transzendentalpoesie »in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen, und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein«.177 Die Ebene der Darstellung – der »vollständigen Mitteilung« – wird durch »Reflexion« und »Selbstbespiegelung« durchbrochen.178 Die Aufhebung der Fiktion durch die Reflexion auf das Kunstwerk zeigt dieses einerseits als Bedingtes. Andererseits wird zugleich, wie

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Irony«. In: Aesthetic Ideology. Hrsg. von Andrzej Warminski. Minneapolis, London 1996, S. 163–184, hier S. 169f.). Schlegel, KSA II, S. 151. Schlegel, KSA II, S. 151. Schlegel, KSA II, S. 151. Schlegel, KSA II, S. 151. Schlegel, KSA II, S. 151. Schlegel, KSA II, S. 160. Schlegel, KSA II, S. 160. Schlegel, KSA II, S. 204. Schlegel, KSA II, S. 204. Schlegel, KSA II, S. 204.

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beim Akt der Produktion durch die Ausübung der »unbedingte[n] Willkür«, in der freien Reflexion, die sich über die eigene Bedingtheit erhebt, auf das Unbedingte verwiesen. Das bestätigt auch das Lyceums-Fragment 42, das explizit auf die Ironie Bezug nimmt: Es gibt alte und moderne Gedichte, die durchgängig im Ganzen und überall den göttlichen Hauch der Ironie atmen. Es lebt in ihnen eine wirklich transzendentale Buffonerie. Im Innern, die Stimmung, welche alles übersieht, und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigne Kunst, Tugend, oder Genialität: im Äußern, in der Ausführung die mimische Manier eines gewöhnlichen guten italiänischen Buffo.179

In dieser viel beachteten Auslegung der Ironie werden zwei wesentliche Züge von Werken genannt, in denen die ›göttliche‹ Ironie »durchgängig im Ganzen« – im Unterschied zur rhetorischen Ironie, die punktuell wirkt – die Struktur bestimmt: zum einen die Manier eines italienischen Buffo und zum anderen der transzendentale Charakter. Als innere Stimmung und äußere Ausführung korrespondieren die beiden Bestimmungen miteinander und müssen dementsprechend in ihrer Wirkweise vergleichbar sein. Der Buffo, der aus dem Maskentheater der commedia dell’arte stammt, tritt aus seiner fiktiven Rolle heraus, wenn er das Publikum anspricht. Entsprechend wurde er in der Forschung als Unterbrechung der narrativen Illusion gedeutet.180 Die »Ironie ist«, wie Schlegel es formulierte, »eine permanente Parekbase«, eine andauernde Unterbrechung der ›Rede‹.181 Zugleich unterscheidet sich der Buffo in seiner überzeichneten, stilisierten »mimische[n] Manier« von der natürlichen Gebärdensprache und betont so die Medialität der Darstellung. Insofern verweist er auf die Distanzierung von der Unfreiheit des stofflichen Interesses, das Schlegel, wie oben für das Gespräch über die Poesie gezeigt wurde, im Hinblick auf den Aufklärungsroman kritisierte. Die Unterbrechung des Interesses korrespondiert wiederum mit dem Aspekt der Produktion: »Um über einen Gegenstand gut schreiben zu können, muß man sich nicht mehr für ihn interessieren«.182 Die Bestimmung der Ironie als ›transzendental‹ betont ebenfalls das distanzierende, reflektierende Moment, indem sie »Poesie und Poesie der Poesie« ist, »alles übersieht, und sich über alles Bedingte unendlich erhebt«. Gleichzeitig verweist der Begriff ›transzendental‹ auch auf das »Verhältnis des Idealen und des Realen«.183 Schlegel betont an einer anderen Stelle, daß »transzendental eben das ist, was auf die Verbindung oder Trennung des

179 180 181 182 183

Schlegel, KSA II, S. 152. Vgl. De Man, The Concept of Irony, S. 178. Schlegel, KSA XVIII, S. 85. Schlegel, KSA II, S. 151. Schlegel, KSA II, S. 204.

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Idealen und des Realen Bezug hat«.184 Die Ironie bewirkt den Wechsel zwischen Realem und Idealem, Bedingtem und Unbedingtem, die in ihrer Verbindung auf ein Absolutes zielen, über das Schlegel schreibt: »Hat man nun einmal die Liebhaberei fürs Absolute und kann nicht davon lassen: so bleibt einem kein Ausweg, als sich selbst immer zu widersprechen, und entgegengesetzte Extreme zu verbinden.«185 Schlegel führt anhand seiner ›ironischen‹ Fragmente über die Ironie die unabschließbare Konstitution von Sinn und Bedeutung vor.186 Vergleichbar mit der oben beschriebenen Figur der Arabeske, ist die Ironie das formal Interessante, das auf einen unendlichen Prozeß hinweist, der im undenkbaren, präreflexiven Grund des Absoluten aufgehoben ist. Die in der Schlegel-Forschung viel diskutierte Frage, ob die Widersprüche in einem von der Philosophie Fichtes oder Schellings abgeleiteten Begriff des Absoluten gründen oder ob der Prozeß der unendlichen Signifikation als Negation der Synthese (metaphysikkritisch im Sinne Derridascher différance) zu verstehen ist, kann hier nicht weiter verfolgt werden.187 Unabhängig von der Frage nach der Aufhebung der Ironie in einem Absoluten interessiert hier der Aspekt der Rezeption des ironischen Kunstwerks als Symbol des Unendlichen im Hinblick auf Zeitlichkeit und vor allem auf die Zeitdimension ›Gegenwart‹. Während für Schlegel die Arabeske, wie oben gezeigt wurde, als ›interessante‹, kränkliche Form in der Gegenwart die Abwesenheit des zukünftigen Objektiven anzeigt und insofern einen Übergangscharakter besitzt, ist die Struktur der Zeitlichkeit und der Differenz in die Ironie selbst eingeschrieben. Insofern ist das romantisch-ironische Kunstwerk als »progressive Universalpoesie«, die »ewig nur werden, nie vollendet sein kann« und »die Reflexion immer wieder potenzier[t] und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfach[t]«, in der Rezeption das inverse Zeichen des selbstpräsenten Seins

184 185 186 187

Schlegel, KSA II, S. 169. Schlegel, KSA II, S. 164. Vgl. dazu Matthias Schöning, Ironieverzicht. Friedrich Schlegels theoretische Konzepte zwischen Athenäum und Philosophie des Lebens. Paderborn u.a. 2002, S. 182. Vgl. dazu die einschlägigen Arbeiten von Paul de Man, »Die Rhetorik der Zeitlichkeit«. In: Die Ideologie des Ästhetischen (aus dem Amerikanischen von Jürgen Blasius). Hrsg. von Christoph Menke. Frankfurt a.M. 1993, S. 83–130, bes. S. 105ff., Winfried Menninghaus, Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt a.M. 1987, Eckard Schumacher, Die Ironie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man. Frankfurt a.M. 2000, S. 159–255 sowie dagegen die Ausführungen zur Ironie und ihrer Fundierung in der Philosophie des deutschen Idealismus bei Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik. Frankfurt a.M. 1989, S. 287–379. Speziell dem Verhältnis von Frühromantik und Dekonstruktion widmet sich die Darstellung von Moon-gyoo Choi, »Frühromantische Dekonstruktion und dekonstruktive Frühromantik: Paul de Man und Friedrich Schlegel«. In: Karl Heinz Bohrer, Ästhetik und Rhetorik. Lektüren zu Paul de Man. Frankfurt a.M. 1993, S. 181–205, zur Ironie siehe bes. S. 191ff.

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des Absoluten.188 Als äußerste Steigerung des Subjektiven, das ins Objektive umschlagen soll, bzw. als unendliche Verschiebung, annihilieren die Arabeske und auch die Ironie bei Schlegel die Gegenwart und verweisen auf ein Zukünftiges. Bei einer Übertragung von Schlegels Konzept der Ironie auf Byrons und Heines Texte konzentrieren sich die meisten Untersuchungen auf den zweiten der oben genannten Aspekte der Ironie, nämlich die Struktur des Kunstwerks. Dabei ist neben der dem Dekonstruktivismus verpflichteten Akzentuierung von Textmerkmalen wie Offenheit, Unentscheidbarkeit oder Spiel die Stimmungsbrechung das zentrale Kriterium, das auf Schlegels Begriffe der »Selbstschöpfung« und »Selbstvernichtung« bezogen wird. Auch wenn das strukturelle Moment der Ironie zweifellos vergleichbare Kriterien besitzt, liegen bei Byron und Heine, so die hier verfolgte These, eine andere Autorkonzeption und Zeitkonjunktur vor, die dem Kunstwerk eine von Schlegels Theorie abweichende Funktion zuweisen. Bei Byron und Heine ist die Ironie ein Verfahren, das die Aufmerksamkeit auf die Materialität und die Gegenwart richtet, dies aber gerade nicht, um sie auf Zukünftiges zu beziehen. Die Ironie ist in ihren Texten vielmehr ein materialisierendes Mittel, das häufig ausdrücklich als Gegenpol zu metaphysischen Spekulationen der romantischen Theorie eingesetzt wird. Ein offenkundiges Beispiel für dieses Verfahren findet sich bei Byron etwa im ersten Canto von Don Juan (1819) in der Julia-Episode. Der Erzähler berichtet dort, wie der junge Juan, der in die verheiratete Donna Julia verliebt ist, schweigsam und nachdenklich die einsamen Wälder durchstreift, während er über einem unverständlichen Schmerz brütet. In seinem Zustand denkt er auch über ›Unsagbares‹ nach: »Young Juan wander’d by the glassy brooks/ Thinking unutterable things […].« (CPW V, 37) Juans metaphysische Grübeleien werden kurz darauf mit den körperlich-materiellen Bedürfnissen der Gegenwart konfrontiert: »He found how much old Time had been a winner—/ He also found that he had lost his dinner.« (CPW V, 38) Zugleich werden durch die vielen impliziten und expliziten intertextuellen Anspielungen in der Passage auf Autoren wie Roger Campbell, William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge Juans »[l]ongings sublime, and aspirations high« (CPW V, 38) in den Kontext romantischer Dichtung gestellt: He, Juan (and not Wordsworth), so pursued His self-communion with his own high soul, Until his mighty heart, in its great mood, Had mitigated part, though not the whole Of its disease; he did the best he could

188

Schlegel, KSA II, S. 182f.

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With things not very subject to control, And turn’d, without perceiving his condition, Like Coleridge, into a metaphysician. (I 91; CPW V, 37)

Wordsworths Dichtung und Coleridges metaphysische Spekulationen werden auf diese Weise materialisierend von Juans Pubertät affiziert: »If you think ’twas philosophy that this did,/ I can’t help thinking puberty assisted.« (CPW V, 38) Für den pubertierenden Don Juan besitzen die mystisch verschleierten Andeutungen in den petrarkistischen Dichtungen von Juan Boscán Almogáver und Garcilaso de la Vega eine magische Anziehungskraft. Wie die dunklen, verworrenen Ausdrücke in Liebesgedichten Campbells (»twisted to a phrase of some obscurity«, CPW V, 36), über die sich der Erzähler mokiert, nähren die Petrarkisten Almogáver und de la Vega eine unbestimmte Sehnsucht, die jedoch das reale, körperliche Bedürfnis verschweigt – »[t]hus would he while his lonely hours away/ Dissatisfied, nor knowing what he wanted« (CPW V, 39). Weder seine glühenden Träumereien (»glowing reverie«, CPW V, 39), noch die Lieder der Dichter (»poet’s lay«, CPW V, 39) können Juan das verschaffen, was seine ›Seele‹ tatsächlich verlangt – und zwar, »[a] bosom whereon he his head might lay,/ And hear the heart beat with the love it granted« (CPW V, 39). Im bathos des abschließenden Reimpaars der Stanze wird durch die Rhetorik der Aussparung deutlich, daß der Erzähler als unentbehrlich nicht nur das seelische Verlangen nach einem liebenden Gegenüber betrachtet, sondern auch die körperlich-erotische Erfüllung: »With——several other things, which I forget,/ Or which, at least, I need not mention yet.« (CPW V, 39) Die typographische Leerstelle, die durch den Gedankenstrich entsteht, und das bewußt inszenierte ›vergessende‹ Verschweigen imitieren und subvertieren ironisch die rhetorische Praxis der obscuritas mystisch-spiritueller Texte der romantischen Tradition. In Don Juan dagegen wird der Vollzug körperlicher Liebe als ein materielles Bedürfnis des Menschen anerkannt, das, ebenso wie der profane Hunger, der vom Hinweis auf das verpaßte Abendessen aufgerufen wird, in der Gegenwart auf Erfüllung drängt. Die Digressionen und die Ironie des Erzählers in dieser Passage sind zwar stimmungsbrechend, aber kein Akt der ›Selbstvernichtung‹, wie ihn Schlegel postuliert. Sie richten sich vielmehr konkret gegen eine romantisch-spiritualistische Sehnsucht, die sich im Widerspruch zu den Forderungen der Gegenwart befindet. Heines Texte kennzeichnet an vielen Stellen eine vergleichbare digressivironische Schreibweise, die den Blick auf die Bedürfnisse in der Gegenwart richtet. In dem Reisebild Die Harzreise (1824) unternimmt der Erzähler eine Wanderung zum Brocken im Harzgebirge, wo er auf dem Gipfel des Berges in einem Gasthof übernachtet. In der Morgendämmerung bricht er mit einer Gruppe von Gästen auf, um den Sonnenaufgang anzusehen. Die romantische Szenerie auf dem berühmten Berg der Walpurgisnacht wird in einer hohen 67

poetischen Stillage beschrieben. Daran schließt sich ein lyrisches Gedicht im Volksliedton an, um »das Gesehene und Empfundene in Worten fest zu halten« (DHA 6, 127). Diese Stimmung wird abrupt zerstört durch einen Kommentar des Erzählers über seinen hungrigen Magen: Indessen, meine Sehnsucht nach einem Frühstück war ebenfalls groß, und nachdem ich meinen Damen einige Höflichkeiten gesagt, eilte ich hinab, um in der warmen Stube Kaffee zu trinken. Es that Noth; in meinem Magen sah es so nüchtern aus, wie in der Goslarschen Stephanskirche. (DHA 6, 128)

Die vorhergehende, fast mystische Atmosphäre, die das in den Prosatext eingeschobene Gedicht »Heller wird es schon im Osten« (DHA 6, 127) expressiv umsetzt, wird gebrochen durch den Hinweis des Erzählers auf sein materielles Verlangen nach Frühstück und Kaffee. Romantische ›Sehnsucht‹ wird im Verlauf der Narration durch die materielle ›Sehnsucht‹ des gegenwärtigen Hungers ironisch kommentiert. Der Vergleich des leeren Magens mit der Stephanskirche in Goslar wiederholt dieses Verfahren punktuell in einem einzigen Satz: In grotesk-komischer Weise werden bei Heine – vergleichbar mit dem genannten Verfahren des bathos bei Byron – im letzten Satzteil der zitierten Stelle Materialität und geistige Spiritualität, also der Magen und die Stephanskirche, über das Adjektiv ›nüchtern‹ als tertium comparationis miteinander verbunden. Die häufigen Hinweise auf Essen und Trinken sowie Ausscheidungs- oder Verdauungsvorgänge in Byrons ottava rima-Gedichten und in Heines Texten sind Schlegels Forderung, daß das Selbst sich über seine eigene Bedingtheit erheben solle, in materieller Hinsicht diametral entgegengesetzt. In Don Juan wird die Abhängigkeit geistiger Prozesse vom Körper wiederholt thematisiert. Der Erzähler, statt sich im Sinne Schlegelscher Ironie über alles Bedingte unendlich zu erheben, fragt sich vielmehr, [...] when a roast and a ragout, And fish, and soup, by some side dishes back’d, Can give us either pain or pleasure, who Would pique himself on intellects, whose use Depends so much upon the gastric juice? (V 32; CPW V, 250f.)

Die unmittelbare Abhängigkeit der intellektuellen Geisteskraft von physiologisch-materiellen Prozessen wie dem Essen und der Verdauung (»gastric juice«) läßt die Vorstellung einer überlegenen Freiheit des Geistes anmaßend erscheinen (»who/ Would pique himself on intellects«). Auch in Heines Texten finden sich vergleichbare Kommentare zum Zusammenhang zwischen geistigen Tätigkeiten und materiellen Bedürfnissen. In dem Romanfragment Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski (1833) etwa berichtet der autodiegetische Erzähler von den philosophischen Diskussionen der Studenten, die er in ein direktes Verhältnis zur Qualität ihres Essens stellt: »Wenn der Braten 68

ganz schlecht war disputirten wir über die Existenz Gottes.« (DHA 5, 178) Geistiges wird hier nicht nur in Abhängigkeit vom Körper dargestellt, sondern ironisch zum Supplement der eigentlichen Bedürfnisbefriedigung degradiert. Im Unterschied zu Schlegel stellen die Verweise auf die materielle Realität bei Byron und Heine keine Negation des Bedingten dar, das transzendiert werden soll. Sie dienen vielmehr dazu, die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart zu lenken, deren Bedeutung und Werthaftigkeit anerkannt wird. In einer zentralen poetologischen Passage von Don Juan bemerkt der Erzähler, »I perch upon an humbler promontory,/ Amidst life’s infinite variety« (CPW V, 594). Diese Verse wurden bereits im Kontext der Untersuchung von Suzanne Ferriss zur ›romantischen‹ Ironie in Byrons Versepos erwähnt, die Schlegels Terminologie auf Don Juan überträgt. Ferriss zufolge zeigt sich hier Byrons Haltung ›transzendentaler Buffoonerie‹. Damit meint sie, daß Byron, der hier mit dem Erzähler verschmilzt, durch seine Dichtung auf einer transzendenten Höhe throne, aus deren Distanz er auf die Welt und die Bedingtheit ihrer Schöpfungen herabblicke.189 Betrachtet man den ersten Vers allerdings genau, fällt das einschränkende Adjektiv »humbler« in den Blick, auf das Ferriss nicht eingeht. In der Bemerkung des Erzählers, daß er auf einem Vorgebirge (»promontory«) throne (»perch«), ist das Wort jedoch zentral, da es die Aussage entscheidend modifiziert. Sein Standpunkt ist gerade deswegen ›bescheidener‹ (»humbler«), weil er sich mitten im Leben befindet, wie es der folgende Vers beschreibt: »Amidst life’s infinite variety«. Die genannten Verse rufen zwar das Bild des Künstlers auf, der über allem Bedingten schwebt, kehren es aber um, indem der Erzähler sich gerade nicht abseits, sondern inmitten (»[a]midst«) des Lebens befindet. Auch Heine verwendet bekanntlich vielfach romantische Topoi, die er in analoger Weise zu Byrons poetischem Verfahren anklingen läßt, um sie zu dekonstruieren. In der genannten Passage der Harzreise spielt er mit den romantischen Leseerwartungen eines philiströsen Publikums. Die Gäste des Brockenwirts versammeln sich am frühen Morgen, um vom Gipfel den Sonnenaufgang zu verfolgen: Endlich stand die stille Gemeinde von gestern Abend wieder ganz versammelt, und schweigend sahen wir, wie am Horizonte die kleine, carmoisinrothe Kugel empor stieg, eine winterlich dämmernde Beleuchtung sich verbreitete, die Berge wie in einem weißwallenden Meere schwammen, und bloß die Spitzen derselben sichtbar hervor traten, so daß man auf einem kleinen Hügel zu stehen glaubte, mitten auf einer überschwemmten Ebene, wo nur hier und da eine trockene Erdscholle hervortritt. (DHA 6, 127)

189

Ähnlich konstatiert Sandra Kerschbaumer, daß Heine sich durch »die selbstreflexive Ironie […] ›sich über sich selbst hinweg‹« setze (Kerschbaumer, Heines moderne Romantik, S. 177).

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Die poetische Schilderung des weißen Frühnebels, aus dem andere Erhebungen herausragen assoziiert romantische Landschaftsdarstellungen.190 Der kontemplative Blick des Wanderers, der einen Berg besteigt, um den Sonnenaufgang zu betrachten, ist ein verbreitetes Sujet in Texten der europäischen Romantik. Die Differenz von Heines postromantischer Szenerie zeigt sich besonders plastisch beim Vergleich mit der Beschreibung einer romantischen Bergbesteigung von William Wordsworth in dem Versepos The Prelude. So berichtet Wordsworths autobiographischer Sprecher, daß er den Mount Snowdon in Wales besteigt, um von oben die Sonne aufgehen zu sehen – »I […] took my way to see the sun/ Rise from the top of Snowdon«.191 Der Blick des Betrachters vom Gipfel des Berges in Wordsworths Darstellung zeigt zunächst Parallelen zur Bildlichkeit von Heines Text: [...] on the shore I found myself of a huge sea of mist, Which meek and silent rested at my feet. A hundred hills their dusky backs upheaved All over this still ocean, and beyond, Far, far beyond, the vapours shot themselves In headlands, tongues, and promontory shapes, Into the sea, the real sea [...].192

Auch Wordsworths Sprecher verwendet für seine Beschreibung des Ausblicks vom Berggipfel das Bild des Meeres (»huge sea of mist«), aus dem Bergrücken herausragen (»[a] hundred hills their dusky backs upheaved«). Die folgenden Verse schildern, wie dahinter, in weiter Ferne, sich die gebirgigen Konturen des Nebeldunsts mit dem tatsächlichen Ozean vereinigen (»vapours shot themselves/In […] promontory shapes/ Into […] the real sea«) und aus einer Kluft im Nebel das Getöse unzähliger Bäche und Wasserfälle mit einer Stimme dröhnt – »roaring with one voice«.193 Später, aus meditativer Distanz, sieht der Sprecher in der Szenerie des Berges, The perfect image of a mighty mind, Of one that feeds upon infinity, That is exalted by an under-presence, The sense of God, or whatsoe’er is dim Or vast in its own being [...].194

190 191 192 193 194

Als Beispiel aus der bildenden Kunst sei hier auf Caspar David Friedrichs berühmtes Gemälde »Der Wanderer über dem Nebelmeer« (um 1817) verwiesen. William Wordsworth, The Prelude. 1799, 1805, 1850. Hrsg. von Jonathan Wordsworth/ Meyer Howard Abrams/Stephen Gill. New York, London 1979, S. 458 (XIII, V. 3–5). Wordsworth, The Prelude, S. 460 (XIII, V. 42–49). Wordsworth, The Prelude, S. 460 (XIII, V. 59). Wordsworth, The Prelude, S. 460–462 (XIII, V. 69–73).

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Die Naturerscheinung, die als »most awful and sublime« bezeichnet wird, besitzt im Prelude einen symbolischen Charakter.195 Sie veranschaulicht die Idee (»perfect image«), daß die einzelnen, individuierten Erscheinungen Teil eines größeren, kosmischen Ganzen sind (»infinity«, »under-presence«, »sense of God«). Dafür steht sowohl die bildliche Vereinigung des Nebels mit dem Meer, die zugleich die Horizontlinie ausblendet, als auch der Zusammenklang des Mannigfaltigen im mit einer Stimme rauschenden Wasser. So ist auch Wordsworths autobiographischer Sprecher – obwohl er sein unmittelbares körperlich-materielles Alleinsein unterstreicht (»Ascending at loose distance each from each«196) – in einem unendlichen Ganzen aufgehoben. Christoph Bode bemerkt zu dieser Stelle im Prelude, daß die »Bergerfahrung zu einer Selbsterfahrung« werde.197 Er sieht in der Szene eine Allegorie auf die Erhabenheit der Imagination und ihre Funktionsweise, für die vor allem der Wechsel von der ursprünglichen Absicht, den Sonnenaufgang zu beobachten zur Beschreibung der Szenerie im Mondlicht bedeutend sei. Der Aufstieg auf den Snowdon mit dem für das Prelude charakteristischen Blick nach unten sowie der Identifikation des Subjekts mit der Macht oben, dem Mond, repräsentiert Bode zufolge eine Form des Erhabenen, in der Wordsworths Dichtungsauffassung kulminiere.198 Beim Vergleich zwischen der Bergerfahrung in Wordsworths Prelude, die letztlich im Mondlicht stattfindet, und dem Erlebnis des Sonnenaufgangs auf dem Brocken in Heines Harzreise lassen sich mehrere Punkte festhalten. Im Unterschied zur erhabenen Naturerfahrung des einzelnen, ›egotistischen‹ Subjekts auf Mount Snowdon im Prelude wird das Naturspektakel auf dem Brokken in der Harzreise durch groteske Verfahren demystifiziert. Das geschieht vor allem durch die unmittelbaren Kontextualisierungen: zum einen durch den unvermittelten Übergang des Erzählers zum bereits genannten Hungergefühl und dem Verlangen nach einem Frühstück, wodurch die kontemplative Stimmung abrupt gebrochen wird. Die Bemerkung: »Indessen, meine Sehnsucht nach einem Frühstück war ebenfalls groß« (DHA 6, 128), schließt direkt an das Ende des eingeschobenen Gedichts »Heller wird es schon im Osten« an. Zum anderen bilden die Beschreibung des Sonnenaufgangs und des Sonnenuntergangs am Abend zuvor eine inhaltliche Klammer, die die Nacht im Gasthaus des Brocken umschließt. Die Gruppe, in der sich der Erzähler befindet, um den Sonnenaufgang zu betrachten, hat sich als eine heterogene Gesellschaft von Philistern verschiedener Couleur erwiesen, die sich in der Nacht einem »verworrenen Treiben, wo die Teller tanzen und die Gläser fliegen

195 196 197 198

Wordsworth, The Prelude, S. 462 (XIII, V. 76). Wordsworth, The Prelude, S. 460 (XIII, V. 34). Bode, Selbst-Begründungen, S. 57. Vgl. Bode, Selbst-Begründungen, S. 58.

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lernten« (DHA 6, 124), hingegeben hatte. Insofern erhält die Bemerkung des Erzählers, daß »[e]ndlich […] die stille Gemeinde von gestern Abend wieder ganz versammelt« war, durch die grotesken Exzesse der Nacht einen ironischen Hintersinn.199 Statt am ›Wir‹ der Gruppe zu partizipieren, distanziert sich der Erzähler in Heines Harzreise bissig-subtil von der philiströsen Gemeinschaft. In einer genau umgekehrten Bewegung also zu Wordsworths Sprecher, der als Einzelner dennoch im Ganzen aufgehoben ist, erweist sich Heines Sprecher als isoliertes Subjekt, das nicht in der Gemeinschaft aufgeht. Symbolisch zeigt sich das in der Landschaftsbeschreibung. Während die Sonne am Abend zuvor noch als »schöne[r] Feuerball«, der »die Seele zum Gebet stimmt« (DHA 6, 119), beschrieben wurde, ist sie am Morgen eine »kleine, carmoisinrothe Kugel«. Der Vergleich des Ausblicks mit einer »überschwemmten Ebene« mit vereinzelten »trockene[n] Erdscholle[n]«, auf denen auch der Betrachter steht, besitzt keinen erhabenen, sondern einen melancholischen Charakter, der das pantheistisch-religiöse Empfinden beim Sonnenuntergang durch das nüchterne Gefühl der Vereinzelung des Subjekts ablöst. Anhand der gezeigten Beispiele der ›Stimmungsbrechung‹ in Byrons und Heines Texten, die in der Forschung immer wieder für romantische Ironie einstehen, zeigt sich eine Säkularisierung der Ironie,200 die mit romantischen Topoi spielt, sie umkehrt oder kritisiert. Im Unterschied zum philosophischmetaphysischen Aspekt der Ironie bei Schlegel, der einen futurischen Charakter besitzt, indem er auf Unendlichkeits- oder Totalitätskonzepte bezogen ist, lenkt die Ironie bei Byron und Heine die Aufmerksamkeit auf eine neue Zeitdimension, und zwar auf die Gegenwart, ihre Realität und ihre Materialität, sowie auf das gegenwärtige Leben mit seinen körperlichen Bedürfnissen selbst. Im folgenden soll gezeigt werden, inwiefern Leben und Gegenwart sich als zentrale Begriffe in Byrons und Heines Poetik entwickeln, die sich jeweils dezidiert gegen romantische Positionen richtet. Dabei wird zunächst der Fokus auf Byron gerichtet.

199 200

Meine Hervorhebung, A.B. Von einer »secularization of irony« im Biedermeier spricht Virgil Nemoianu in seiner Untersuchung »Romantic Irony and Biedermeier Tragicomedy«. In: Gerald Gillespie (Hrsg.), Romantic Drama. Amsterdam, Philadelphia 1994, S. 399–411, hier S. 399. Nemoianu versteht darunter den Niedergang der romantischen Ironie im Biedermeier aufgrund ihrer zu hohen Ambitionen. An Byrons und Heines Ironie betont er die nihilistischen Züge, sowie ihren bitteren und entlarvenden Charakter (vgl. S. 410). Trotz einer prinzipiellen Zustimmung zu Nemoianus Abgrenzung der Ironie beider Autoren von romantischen Konzepten, liegt in dieser Untersuchung die Betonung gerade nicht auf dem Aspekt des Nihilismus, sondern auf dem emphatischen Gegenwartsverständnis der beiden Autoren.

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3.3.

Byrons ›Exil-Poetik‹ und die Konzepte des Lebens und der Gegenwart

Byrons späte Poetik, in der die Konzepte des Lebens und der Gegenwart eine bedeutende Rolle einnehmen, steht im Kontext der Auseinandersetzung mit der Debatte um Romantik und Klassizismus, mit der Byron während seines Exils auf dem europäischen Kontinent näher vertraut wurde. In dem viel zitierten Brief an John Murray von 1817 findet sich dazu ein zentraler Kommentar, auch wenn der Begriff ›Romantik‹ nicht explizit verwendet wird: With regard to poetry in general I am convinced the more I think of it—that he [Thomas Moore, A.B.] and all of us—Scott—Southey—Wordsworth—Moore— Campbell—I—are all in the wrong—one as much as another—that we are upon a wrong revolutionary poetical system—or systems—not worth a damn in itself—& from which none but Rogers and Crabbe are free—and that the present & next generations will finally be of this opinion. (BLJ 5, 265)

Byrons Kommentar zur zeitgenössischen Literaturproduktion ist eine unmittelbare Reaktion auf die Lektüre von Thomas Moores orientalisierendem Versepos Lalla Rookh (1817). Die falschen poetischen Systeme, von denen Byron spricht, lassen sich unschwer als die verschiedenen Formen und Varianten der englischen Romantik identifizieren wie etwa die Fokussierung des Mittelalters bei Scott, des Natürlich-Organischen bei Wordsworth oder des Orients bei Moore. Byron distanziert sich von dieser Art des Schreibens, obwohl er auch seine eigenen, frühen Texte in die Kritik mit einbezieht. Ausgenommen sind Byron zufolge von dem ›falschen revolutionären System der Literatur‹ lediglich Autoren wie Samuel Rogers (1763–1855) und George Crabbe (1754–1832), deren poetischer Stil zu realistischer Beobachtung und Beschreibung der äußeren Wirklichkeit tendiert und deswegen eher als anti-romantisch zu bezeichnen ist. Byron kam mit der zeitgenössischen ästhetischen Differenzierung zwischen ›klassisch‹ und ›romantisch‹ spätestens im Sommer 1816 in Berührung. Zu dieser Zeit verkehrte er – bereits im Exil – häufig im Salon von Mme de Staël in Coppet am Genfer See, wo er auch August Wilhelm Schlegel kennenlernte. Von de Staël erhielt Byron im August 1816 Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (1808), in denen der bedeutende Theoretiker der deutschen Romantik den grundlegenden Gegensatz zwischen griechischer Antike und romantischer Moderne ausführt.201 Diese Gegenüberstellung verwendet Byron in seinem Brief an Murray von 1817, in dem er 201

Vgl. dazu die Anmerkungen von Andrew Nicholson über Byrons Prosanotiz Some Recollections of my Acquaintance with Madame de Staël von 1821 (CMP, S. 492). Byron kannte August Wilhelm Schlegel von seinen Besuchen in Coppet persönlich, ihr Verhältnis war jedoch angespannt. Wie aus Byrons späteren Briefen hervorgeht, distanzierte er sich von A. W. Schlegel wegen dessen berüchtigter Eitelkeit und Arroganz. Siehe dazu etwa die Briefe Byrons an Thomas Moore und John Murray im August 1821 (BLJ 8, S. 164–167 u. 172f.).

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aber, anders als Schlegel, das ›romantische System‹ vehement zurückweist im Kontrast mit ›klassischen‹ Autoren – »I am the more confirmed in this—by having lately gone over some of our Classics—particularly Pope« (BLJ 5, 265). Beim Vergleich der Gedichte Popes mit Texten der genannten romantischen Zeitgenossen zeigt sich Byron »mortified—at the ineffable distance in point of sense—harmony—effect—and even Imagination Passion—& Invention« (BLJ 5, 265). Byron impliziert mit dieser Aufzählung von Begriffen aus der zeitgenössischen ästhetischen Diskussion, daß Popes Gedichte nicht nur im Hinblick auf die Kategorie des sinnlich Schönen (»sense—harmony—effect«), sondern auch in bezug auf das Erhabene (»and even Imagination Passion—& Invention«)202 – einem der zentralen Theoreme romantischer Ästhetik – der gegenwärtigen Literaturproduktion weit überlegen sind. ›Passion‹ ist spätestens seit John Dennis’ Unterscheidung zwischen ›vulgar passions‹ und ›enthusiastic passions‹ ein zentraler Begriff der Debatte um das Sublime.203 Die Begriffe der Imagination und Erfindung greift Byron 1821 im Zusammenhang mit der Bowles/Pope Controversy in A Letter to John Murray Esqre erneut auf und bezieht sie abschätzig auf die poetische ›Mode‹ seiner Zeitgenossen: »It is the fashion of the day to lay great stress upon what they call ›Imagination‹ and ›Invention‹ the two commonest of qualities—an Irish peasant with a little whisky in his head will imagine and invent more than would furnish forth a modern poem.« (CMP, S. 143f.) In seinem Brief an Murray begreift Byron den Gegensatz zwischen Pope und den Romantikern analog zu dem Unterschied zwischen den antiken Schriftstellern Horaz und Claudius Claudianus, der in der Zeit des Niedergangs des römischen Imperiums schrieb – »[i]t is all Horace then, and Claudian now among us—and if I had to begin again—I would model myself accordingly« (BLJ 5, 265). Es stellt sich nun die Frage, was Byron mit seiner Kritik an der zeitgenössischen Dichtung und der Hinwendung zu Pope beabsichtigt – ob etwa klassizistische Kriterien in der Dichtung wieder etabliert werden sollen. Byrons Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen ästhetischen Debatte führt aber, trotz seiner Wertschätzung von Horaz und Pope, in seiner eigenen literarischen Produktion gerade nicht zu einer Rückkehr zu klassischen Kategorien wie dem Schönen oder Harmonischen oder der Befolgung des decorum.204 Denn Byrons 202

203 204

Auf Byrons Position in dieser Debatte, in der zeitgenössische ästhetische Positionen anhand von Popes Person und von seinen Werken verhandelt werden, geht das Kap. III. 2. im Kontext des ottava rima-Gedichts The Vision of Judgment genauer ein. Vgl. dazu John Dennis, »The Grounds of Criticism in Poetry« und Edmund Burke, A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful. Die Frage, wie Byrons Reverenz für Pope mit seiner eigenen Poetik vereinbar ist, die den klassizistischen Dichtungskriterien nicht entspricht, wird in der Forschung immer wieder gestellt. So beschäftigt sich etwa auch Franziska Schmitt mit dieser Unvereinbarkeit. Da sie aber Byrons Bewunderung für Pope ausschließlich auf die klassizistische Regelpoetik bezieht, kann sie als Fazit nur konstatieren, daß ein Widerspruch vorliegt (vgl. Schmitt, ›Method in

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Distanzierung vom ›falschen poetischen System‹ der Romantik findet nahezu zeitgleich mit dem Beginn der Arbeit an dem ersten ottava rima-Gedicht Beppo statt. So kündigt Byron seinem Verleger Murray, bereits zwei Tage nachdem er ihm gegenüber in seinem Brief das ›romantische System‹ kritisierte, ein neues humoristisches Gedicht an: »I have since written a poem (of 84 octave Stanzas) humourous, in or after the excellent manner of Mr. Whistlecraft (whom I take to be Frere), on a Venetian anecdote—which amused me [...].« (BLJ 5, 267) Mit der ›venezianischen Anekdote‹ Beppo imitiert Byron den Stil von Luigi Pulcis Morgante Maggiore (1461–1470), mit dem er durch John Hookham Freres Whistlecraft – einer zeitgenössischen Nachahmung von Pulcis Epos – bekannt wurde. Byron wählte sich also tatsächlich ein neues Vorbild, und zwar Pulcis Epos Morgante Maggiore, mit dem er sich intensiv auseinandersetzte und das er teilweise ins Englische übertrug.205 Das ist umso bemerkenswerter, weil sein Werk kaum literarische Übersetzungen aufweist. Pulcis derb-komisches ottava rima-Gedicht mit seinem Rabelaisschen Humor – ein Vorläufer der kultivierteren Versepen von Ariost und Tasso – diente Byron als Orientierung bei der Suche nach einer neuen Darstellungsweise.206 In Byrons »Advertisement« zu seiner Übertragung des Morgante Maggiore formiert Pulci entsprechend als »founder of a new style of poetry very lately sprung up in England«, was sich in der Dichtung des »ingenious Whistlecraft« zeige (CPW IV, 247). Aufschlußreich ist, daß Byron von einem neuen Dichtungsstil spricht, »a new style of poetry« und bewußt nicht von einen neuen ›System‹. Byrons Briefe und literarische Texte zeigen, daß er Systemen oder Systembildungen grundsätzlich skeptisch gegenüber steht und sie vor allem mit der zeitgenössischen, romantischen ›Schule‹ assoziiert. An Thomas Moore etwa schreibt er im Juni 1818, sich kritisch über ein Gespräch mit Leigh Hunt äußernd, »when a man talks of system, his case is hopeless« (BLJ 6, 46).

205

206

the Fragments‹, S. 257–260). Frederick Shilstone wiederum versteht Byrons späte Stellung zu Pope, wie sie in der Bowles/Pope Controversy zum Ausdruck kommt, als Projektion seiner eigenen Situation auf den klassizistischen Dichter und insofern als »thinly veiled personal apology« (Shilstone, Byron and the Myth of Tradition. Lincoln, London 1988, S. 235). Byron übersetzte das erste Canto bereits 1820; es wurde allerdings erst 1823 anonym veröffentlicht, nachdem sich Byron von seinem Verleger John Murray getrennt hatte. Die Veröffentlichung von Byrons Morgante Maggiore Di Messer Luigi Pulci war Murray aufgrund der moralischen Freizügigkeit des Textes zu gefährlich (vgl. dazu CPW IV, S. 247–278 sowie S. 506–510), auch wenn Byron versuchte, seine Übersetzung des Morgante Maggiore – und damit indirekt auch die Freiheiten seines eigenen Versepos Don Juan – durch die Nähe zum Original zu verteidigen. Im Februar 1820 schreibt er entsprechend an Murray, »I think my translation of Pulci will make you stare—it must be put by the original stanza for stanza and verse for verse—and you will see what was permitted in a Catholic country and a bigotted age to a Churchman on the score of religion« (BLJ 7, S. 35). Umfangreich setzt sich neuerdings Peter Cochran mit Byrons italienischer Lektüre auseinander (Cochran, Byron and Italy. Newcastle upon Tyne 2012). Vgl. zu Pulci v.a. S. 45–59. Vgl. dazu Bassnett, »Byron and Translation«. In: ByronJournal 12 (1986), S. 22–32, hier S. 29.

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Byrons Reverenz für Pope, die sich am deutlichsten in der Bowles/Pope Controversy manifestiert, kann im Rekurs auf das intensive Interesse für Pulcis Versepos, das in der Tradition der menippeischen Satire steht, in einen anderen Kontext als den des Klassizismus gestellt werden. Denn wie an dem italienischen Renaissanceschriftsteller Pulci bewundert Byron an dem englischen, klassizistischen Dichter Pope die Welthaltigkeit seiner literarischen Texte, und betrachtet sie als vorbildhaft.207 Explizit zeigt sich das im Kontext der Bowles/Pope Controversy, wo Byron mit einer biblischen Anspielung Popes Dichtung als »the Book of Life« (CMP, 158) charakterisiert. Popes ›Buch des Lebens‹ stellt er den Texten der »System-maker« (CMP, 157) gegenüber. Zu den Dichtern des ›Systems‹, gegen die er in seinem Letter to John Murray Esqre Pope verteidigt, zählt Byron neben dem Pfarrer William Lisle Bowles die englischen Romantiker Wordsworth, Southey, Coleridge sowie Keats und seine ›Cockney Schule‹. Ihnen wirft er vor, keine Erfahrung des tatsächlichen Lebens zu besitzen: When they have really seen life—when they have felt it—when they have travelled beyond the far-distant boundaries of the wilds of Middlesex—when they have overpassed the Alps of Highgate—and traced to it’s [sic] sources the Nile of the New River—then—& not till then—can it properly be permitted to them to despise Pope [...]. (CMP, 157)

Also erst wenn die romantischen »System-maker« ihre beschränkte Perspektive des Lebens erweitern und ihre engen geographischen Grenzen überschreiten würden, die hier spöttisch als »far-distant boundaries of the wilds of Middlesex« bezeichnet werden, sei es ihnen erlaubt, Pope zu verachten. Erfahrung wird hier ganz konkret als Reisen, also als Er-fahren der Welt verstanden. Es gibt zahlreiche Belege für Byrons Wertschätzung faktischer Erfahrung, des wirklichen Lebens, das er während seiner Arbeit an Don Juan dem ausschließlich Fiktiven und Imaginativen dezidiert entgegenstellt. So betont er gegenüber John Murray im April 1818: »I hate things all fiction […]—there should always be some foundation of fact for the most airy fabric—and pure invention is but the talent of a liar.« (BLJ 5, 203) In diesem Zusammenhang müssen auch seine wiederholten Versicherungen gelesen werden, daß fast alles in Don Juan wirkliches Leben sei: »Almost all Don Juan is real life—either my own—or from people I knew.« (BLJ 8, 186) Auch gegen die Vorwürfe des Anzüglichen und Lasterhaften verteidigt Byron sein komisches Epos Don Juan mit dem Hinweis auf das wirkliche Leben, wie aus einem Brief an Douglas Kinnaird vom Oktober 1819 hervorgeht:

207

Vgl. den Brief an John Cam Hobhouse vom 11. November 1818, in dem Byron sowohl Pulci als auch Pope im Kontext von poetischer Freiheit erwähnt, die er über den Bezug zum wirklichen Leben begründet (BLJ 6, S. 77).

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As to »Don Juan«—confess—confess—you dog—and be candid—that it is the sublime of that there sort of writing—it may be bawdy—but is it not good English?—it may be profligate—but is it not life, is it not the thing?—Could any man have written it—who has not lived in the world?—and tooled in a post-chaise? in a hackney coach? in a Gondola? against a wall? in a court carriage? in a vis a vis?— on a table? and under it?« (BLJ 6, 232)

›Leben‹ bedeutet an dieser Stelle nicht mehr nur die Erfahrung, die während des Reisens entsteht beim geographischen Kontakt mit dem anderen, der den eigenen Horizont erweitert. In dem Brief an Kinnaird wird ›Leben‹ aus der Perspektive des Körperlichen betrachtet und speziell auf Sexualität zurückgeführt. Derbe umgangssprachliche Formulierungen wie »the thing« und »tooled« (›tool‹ steht vulgär für ›Penis‹) spielen explizit auf den sexuellen Kontakt mit dem anderen an, der zudem über die verschiedenen genannten Transportmittel (»post-chaise«, »hackney coach«, »Gondola«, »court carriage«) mit Bewegung assoziiert wird. Byrons emphatischer Lebensbegriff unterscheidet sich grundlegend von den naturphilosophischen und medizinisch-anthropologischen Spekulationen über Theorien des Lebens seiner Zeitgenossen.208 Nicht organizistischen Modellen, sondern dem erfahrungsgesättigten Leben, das an das Erleben des Augenblicks in der Gegenwart gebunden ist, gilt Byrons Interesse. Vielfalt, Heterogenität und Widersprüchlichkeit werden als positive Charakteristika des Lebens verstanden, die jeglichem Systematisieren diametral entgegengesetzt ist. Aus den Briefzitaten geht hervor, daß Byrons Konzept des Lebens auch eine poetologische Dimension besitzt, die besonders für seine ottava rima-Gedichte von Bedeutung ist. Das betrifft einerseits die Betonung des Faktischen gegenüber dem Fiktionalen, andererseits aber auch grundsätzliche strukturelle Aspekte der Texte. So ist die narrative Poetik der ottava rima-Gedichte geprägt von der Kontingenz des Lebens. Darauf reflektieren die Verse der oben bereits erwähnten poetologischen Stanze aus dem XV. Canto von Don Juan. Nachdem der Erzähler dort auf seinen Standpunkt »[a]midst life’s infinite variety« hingewiesen hat, heißt es weiter:

208

Zu Lebenstheorien der Romantiker vgl. die umfangreiche Untersuchung von Richard R. Roberts, The Romantic Conception of Life: Science and Philosophy in the Age of Goethe. Chicago, London 2002. Byron wurde mit philosophischen Theorien des Lebens spätestens durch seine Gespräche mit Percy Bysshe Shelley bekannt. Das geht hervor aus Mary Shelleys »Introduction« zu ihrem Roman Frankenstein, in der sie über das berühmte Treffen von Byron, den Shelleys und Polidori in der Schweiz im Sommer 1816 schreibt: »Many and long were the conversations between Lord Byron and Shelley, to which I was a devout but nearly silent listener. During one of these, various philosophical doctrines were discussed, and among others the nature of the principle of life, and whether there was any probability of its ever being discovered and communicated.« (Mary Shelley, »Introduction« [1831]. In: Frankenstein or The Modern Prometheus. Hrsg. von M. K. Joseph. Oxford 1990, S. 8)

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With no great care for what is nicknamed glory, But speculating as I cast mine eye On what may suit or may not suit my story, And never straining hard to versify, I rattle on exactly as I’d talk With any body in a ride or walk. (XV 19; CPW V, 594)

Der Erzähler thematisiert in der Stanze seine Rolle als ›Autor‹ des Textes sowie seine poetologischen Prinzipien. Seinen Schaffensprozeß charakterisiert er als mühelos (»never straining hard to versify«) und unbekümmert (»I rattle on«). Das Künstlermodell, das hier zum Ausdruck gebracht wird, konterkariert den Typ des solipsistischen Dichtergenies. Byrons Erzähler, der sich mitten im Leben befindet, repräsentiert eine Poetik des ungezwungenen Gesprächs, auf die das Bild der Unterhaltung bei einem Ausritt oder Spaziergang (»in a ride or walk«) hinweist. Diese Art des Sprechens, die der Stilebene des zur Unterhaltung dienenden genus mediocre entspricht, paßt auch zum Gegenstand der Erzählung. Statt den hohen, erhabenen Themen – für die der Erzähler, wie er deutlich macht, kein großes Interesse hegt: »With no great care for what is nicknamed glory« – wendet sich der Text alltäglichen und gewöhnlichen Dingen des Lebens zu. Spontanes, assoziatives Improvisieren, das sich Plan und System widersetzt, wird in der nächsten Stanze explizit als sein Erzählmodell genannt: I don’t know that there may be much ability Shown in this sort of desultory rhyme; But there’s a conversational facility Which may round off an hour upon a time. Of this I’m sure at least, there’s no servility In mine irregularity of chime, Which rings what’s uppermost of new or hoary, Just as I feel the ›Improvisatore‹. (XV 20; CPW V, 594)

Nach dem Muster italienischer Stegreifkünstler entwirft sich der Erzähler als »Improvisatore«, dessen unregelmäßig ›klingelnder‹ Reim das Aktuellste vom Neuen oder auch Alten berichtet (»rings what’s uppermost of new or hoary«). Obwohl die Brauchbarkeit dieser Art des flüchtigen Reimens zunächst in Frage gestellt wird – »I don’t know that there may be much ability/ Shown in this sort of desultory rhyme« – erweist sich gerade diese Form des Schreibens als ›politisch‹, wie die zweite Hälfte der Stanze andeutet. Die ›plaudernde‹, digressive Dichtung des Erzählers ist nicht servil (»at least, there’s no servility«), sondern widerständig, sie verstößt permanent gegen Regeln und Gesetze, wie das Wort »irregularity« in der Bedeutung des ›Ungesetzlichen‹ oder ›Ungehörigen‹ betont. Die assoziative, spontane und somit additive Struktur des Textes wirkt als zentrifugale, transgressive Kraft, die keinem ›System‹ folgt und die 78

konventionelle Ordnung verletzt.209 Auch Byron selbst betont gegenüber seinem Verleger Murray, der ihn nach den weiteren Plänen für sein Versepos Don Juan fragt, den unsystematischen Charakter seines Textes – »[y]ou ask me for the plan of Donny Johnny—I have no plan—I had no plan« (BLJ 6, 207). Das Wesen dieser Art des Schreibens sei, so Byron weiter in dem Brief an Murray vom August 1819, ihre poetische Freiheit – »the Soul of such writing is it’s [sic] licence« (BLJ 6, 208). Die politische Sprengkraft, die diese Art des Schreibens impliziert, ist Byron bewußt, da er seinem konservativen Verleger versichert, daß es nicht um den Mißbrauch, sondern lediglich um den Besitz dieses Rechtes gehe, was der darauffolgende juristische Vergleich mit der Habeas-CorpusAkte, die 1819 ein hochbrisantes Thema darstellte, zusätzlich verdeutlicht – »at least«, so fährt der zitierte Satz fort, »the liberty of that licence if one likes—not that one should abuse it—it is like trial by Jury and Peerage—and the Habeas Corpus—a very fine thing« (BLJ 6, 208). Die enge Verbindung zwischen Freiheit und Transgression zeigt sich auch in etymologischer Hinsicht, indem das Adjektiv ›licentious‹ – was den Verstoß gegen die Ordnung, das Regel- und Zügellose (auch in sexueller Konnotation) bezeichnet – sich von ›licence‹ (im Sinne von Lizenz, Erlaubnis, Freiheit) ableitet. Als Byron in einem Brief an seinen Freund John Cam Hobhouse im November 1818 sein neuestes Gedicht erwähnt, das erste Canto von Don Juan, nennt er, wie oben erwähnt, Pulci und Pope als Gewährsmänner für die poetische Freiheit seines eigenen Textes: »[W]hen I say free—I mean that freedom— which Ariosto Boiardo and Voltaire—Pulci—Berni—all the best Italian & French—as well as Pope & Prior amongst the English permitted themselves;— but no improper words nor phrases—merely some situations—which are taken from life.« (BLJ 6, 77) Es zeigt sich hier deutlich, daß Byron in Pope weniger den regelgeleiteten, klassizistischen Autor sieht; vielmehr assoziiert er mit Popes Dichtung immer wieder Freiheit und Leben – Prinzipien, die sich als zentrale Anliegen Byrons während seines italienischen Exils erweisen. »I wish men to be free/ As much from mobs as kings—from you as me« (CPW V, 416), ist das entsprechende Credo des Erzählers in Don Juan. Diese Freiheit besitzt in Byrons Texten nicht nur eine poetische, sondern immer auch eine politische Dimension. Dem narrativen Prinzip von Don Juan entspricht eine Poetik des Gegenwärtigen, auf die der Erzähler in seinen zahlreichen Digressionen die Aufmerksamkeit lenkt. »But the fact is that I have nothing plann’d,/ Unless it were to be a moment merry« (CPW V, 204), fokussiert den Augenblick und widersetzt sich damit einem zielgerichteten Plan oder regelhaften System. In dieser metafiktionalen Passage am Beginn des vierten Cantos benennt der 209

Vgl. auch die Untersuchung von Jane Stabler für den kulturhistorischen Zusammenhang zwischen Digression und Transgression (Stabler, Byron, Poetics and History, bes. S. 73ff.).

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Erzähler sein Sujet und weist es als spezifisch modern aus. Zwar übernimmt er die Form des »half-serious rhyme« (CPW V, 204) von Pulci, ›modernisiert‹ sie aber mit einem zeitgemäßen Thema, weil der italienische Dichter zu einer Zeit ›sang‹, als das Rittertum, im Unterschied zur Gegenwart, noch edelmütig und schwärmerisch war – »when chivalry was more Quixotic« (CPW V, 204). Pulci, so heißt es weiter, […] revell’d in the fancies of the time, True knights, chaste dames, huge giants, kings despotic; But all these, save the last, being obsolete, I chose a modern subject as more meet. (IV 6; CPW V, 204)

Die Bemerkung, daß sein Epos einen angemessenen Gegenstand besitze (»a modern subject more meet«) und nicht die obsoleten Themen Pulcis weiter verwende, stellt nicht nur ein poetologisches Programm vor, sondern ist gleichzeitig auch ein Seitenhieb gegen die Dichtungen der zeitgenössischen Romantiker, deren mittelalterliche Sujets so als nicht zeitgemäß charakterisiert werden. Die Distanzierung drückt sich auch in der Doppeldeutigkeit der Passage aus: »Quixotic« kann nicht nur ›edelmütig‹, sondern auch ›töricht‹ bedeuten, während die Phantasien – »fancies« – sowohl positiv auf die kreative Kraft der Imagination verweisen können wie auch auf aberrative Illusionen.210 Für Don Juan als paradigmatisches ottava rima-Gedicht Byrons lassen sich zwei zentrale Punkte im Hinblick auf die in diesem Kapitel diskutierte Epochenfrage festhalten. Zum einen wird in Don Juan die zeitgenössische romantische Dichtung als unzeitgemäßes, ›falsches System‹ kritisiert, wie Byron es in dem genannten Brief an Murray formuliert. Zum anderen positioniert der Text sich gleichzeitig selbst innerhalb der Querelle des Anciens et des Modernes als ein ›modernes‹, zeitgemäßes Epos. Byrons ottava rima-Gedichte zeigen eine Fokussierung auf die Konzepte des Lebens und der Gegenwart, die zugleich in ihrer materiell-körperlichen wie sozio-kulturellen, politischen Bedeutung begriffen werden. Leben und Gegenwart verweisen insofern nicht nur auf die physische Existenz des Menschen im Sinne eines Prinzips des Lebens, das viele seiner Zeitgenossen aus anthropologischer Sicht interessierte, sondern vor allem auch auf seine Wirklichkeit als soziales, politisches Wesen – dasjenige Leben also, das in der Antike mit dem Begriff des bíos, dem politischen Leben, in Abgrenzung zu zoé, dem physischen Leben, bezeichnet wurde.211 Im folgenden Kapitel wird nun gezeigt, daß auch Heine programmatisch eine Literatur der

210 211

Vgl. dazu auch Rainer Warning, »Imagination«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Sp. 217–220 sowie Kap. IV. 4.2. Vgl. Armin Müller, Art. »Bios (Leben, Lebensform)«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Sp. 948–949.

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Gegenwart und des Lebens fordert, die sich dezidiert von der ,romantischen Schule‹ abgrenzt. 3.4.

Heines Forderung einer Literatur der Gegenwart

Heines Auseinandersetzung mit der Romantik, seine Differenzen und Kontinuitäten zur ›Kunstperiode‹ sind in der Forschung umfangreich diskutiert worden, wobei besonders seine essayistische Schrift Die romantische Schule (1832-35) Beachtung findet. So untersuchen – um nur einige zu nennen – Peter Uwe Hohendahl in seinem grundlegenden Aufsatz »Geschichte und Modernität«, Herbert Clasen in seiner Studie Heines Romantikkritik sowie Sandra Kerschbaumer in Heines moderne Romantik mit jeweils verschiedener Akzentuierung und unterschiedlicher Gewichtung Unterschiede und Berührungspunkte von Heines Poetik und Geschichtsverständnis zu romantischen Positionen, speziell auch in dem Essay Die romantische Schule.212 Vor allem Hohendahls Ausführungen sind für die vorliegende Untersuchung zentral, da er Heines Kritik an der Romantik in den Argumentationszusammenhang der Querelle des Anciens et des Modernes einordnet. Wenn Jauß’ These stimme, daß Schlegels Formulierung romantischer Dichtungstheorie die »Wiederaufnahme der alten ›querèlle des Anciens et des Modernes‹ voraufging«, wäre zu überlegen, so Hohendahl, ob Heines Auseinandersetzung mit der Romantik diese Debatte erneut aufgreift – entsprechend der Logik, daß die Modernen von heute unweigerlich die Antiken von morgen seien: »Zu stellen wäre die Frage, ob nicht Heines Kritik der deutschen Romantik eine erneute Umbesetzung derjenigen Positionen darstellt, die im Schema der klassischen ›querèlle‹ fi xiert und dann von Schiller wie Schlegel neu formuliert wurden.«213 Heines Kritik an der Romantik, so läßt sich an Hohendahl anschließen, steht im Zusammenhang mit der programmatischen Formulierung einer modernen Literatur, die im Kern auf den Konzepten ›Leben‹ und ›Gegenwart‹ basiert. Heine beschreibt in seinem Essay Die romantische Schule die Werke von Autoren der Früh-, Hoch- und Spätromantik als einen Schulzusammenhang, wie auch Byron die literarischen Texte der verschiedenen englischen Romantiker als ein System begreift. Ebenso wie Byrons Kritik an der Dichtung seiner Zeitgenossen zentriert sich Heines polemischer Angriff auf die deutsche Literatur um die Aspekte des Lebens und der Gegenwart, die er vor allem in roman-

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Zu Die romantische Schule vgl. bes. Hohendahl, »Geschichte und Modernität«, Clasen, Heines Romantikkritik, S. 76–146 sowie Kerschbaumer, Heines moderne Romantik, S. 133–189, die ihre These von Heines Nähe zur Frühromantik in Heines Essay realisiert sieht, da er in diesem Text – so Kerschbaumer – »das im Athenäum formulierte ästhetische Programm der Romantik adaptiert« (Heines moderne Romantik, S. 134). Eine wichtige Rolle spielt hierbei die bereits oben diskutierte romantische Ironie. Hohendahl, »Geschichte und Modernität«, S. 321.

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tischen Texten vermißt. Ihre Absenz begründet für Heine den unzeitgemäßen Charakter der romantischen Literatur, der im Hinblick auf die Gedichte Uhlands bereits oben exemplarisch gezeigt wurde. Uhlands Ritter, seine »sanften Knappen und sittigen Edelfrauen« (DHA 8/1, 231) sind für Heine in den »wildesten Wogen« (DHA 8/1, 233) der französischen Gegenwart nicht mehr zeitgemäß. Einen der Hauptkritikpunkte, die Abwesenheit des Lebens in der romantischen Dichtung, formuliert Heine am nachdrücklichsten anhand von Achim von Arnims Texten. Der Mangel an Leben erkläre die geringe Popularität von Arnims »grausigen und gespenstischen Geschichten« (DHA 8/1, 213) beim Publikum: »Etwas fehlte diesem Dichter, und dieses Etwas ist es eben, was das Volk in den Büchern sucht: das Leben. Das Volk verlangt, daß die Schriftsteller seine Tagesleidenschaften mitfühlen, daß sie die Empfindungen seiner eigenen Brust entweder angenehm anregen oder verletzen: das Volk will bewegt werden.« (DHA 8/1, 209) Das Verdikt, Arnim sei »kein Dichter des Lebens, sondern des Todes« (DHA 8/1, 209), gilt unter Akzentuierung von Krankheit, Vergangenheitsfi xierung und spiritualistischem Katholizismus auch für Novalis, Hoffmann oder A. W. Schlegel. Die Fixierung der Vergangenheit richte sich gegen das Leben und die Gegenwart – deswegen konnte Heine zufolge Schlegel die »Dichtungen, worinn unsere moderne Gegenwart athmet und lebt« (DHA 8/1, 170), nicht schätzen. »Aber der Tod ist nicht poetischer als das Leben« (DHA 8/1, 170), lautet Heines Bilanzierung von Schlegels literaturgeschichtlichen Untersuchungen. Wie bei Arnim wird so auch in bezug auf Schlegels Dichtung die binäre Opposition ›Tod – Leben‹ aufgestellt, um sie Romantik und Vergangenheit bzw. Moderne und Gegenwart zuzuordnen. Die Bedeutung der Konzepte ›Gegenwart‹ und ›Leben‹ tritt besonders deutlich in Heines bereits genannter, unveröffentlichter Schrift von 1833 hervor, in der zwei Geschichtsmodelle miteinander kontrastiert werden. Das erste Modell beschreibt Geschichte als einen »trostlosen Kreislauf« (DHA 10, 301) entsprechend dem Vers aus Prediger 1.9, »›Es ist nichts Neues unter der Sonne!‹« (DHA 10, 301) Diese Sicht verbindet der Text mit der Position der historischen Schule Leopold von Rankes und mit den »Poeten aus der Wolfgang-Goetheschen Kunstperiode« (DHA 10, 301), die er beide aufgrund ihrer Fixierung auf die Vergangenheit kritisiert. Das zweite Geschichtsmodell, das dieser Konzeption diametral entgegengesetzt ist, begreift den Verlauf der Geschichte als teleologischen Prozeß. Diese Auffassung wird Heine zufolge von der humanistischen und philosophischen Schule repräsentiert, zu der Johann Gottfried Herder, Immanuel Kant und vor allem Friedrich Hegel gehören. Ihrer Ansicht nach, so schreibt Heine, liegt das goldene Zeitalter nicht hinter, sondern vor uns. Während sich die historische Schule der Vergangenheit zuwendet, richtet sich das Interesse der humanistisch-philosophischen Schule auf die Zukunft. Heines ironisch-satirische Beschreibung der Geschichtskonstruktionen läßt keinen Zweifel, daß er beide 82

Modelle ablehnt – denn »[b]eide Ansichten […] wollen nicht recht mit unseren lebendigsten Lebensgefühlen übereinklingen« (DHA 10, 302). Auch hinsichtlich der Kritik an den vorherrschenden Geschichtsmodellen argumentiert Heine also wieder mit dem Lebensbegriff. Die beiden Zeitformen Vergangenheit und Zukunft, die in diesen ›Schulen‹ jeweils dominieren, werden am Ende des Textes durch eine dritte Kategorie ergänzt: die Gegenwart, die entweder mit Blick auf das Vergangene oder das Zukünftige in diesen Modellen übergangen werde. Entsprechend fordert Heine, »daß die Gegenwart ihren Werth behalte, und daß sie nicht bloß als Mittel gelte, und die Zukunft ihr Zweck sey« (DHA 10, 302). Heine verteidigt emphatisch die »Interessen der Gegenwart« (DHA 10, 302), zu denen vor allem »das Recht zu leben« (DHA 10, 302) zählt: »Das Leben ist weder Zweck noch Mittel; das Leben ist ein Recht. Das Leben will dieses Recht geltend machen gegen den erstarrenden Tod, gegen die Vergangenheit, und dieses Geltendmachen ist die Revoluzion.« (DHA 10, 302) Heine insistiert programmatisch auf dem Leben als einem Recht, das zudem mit Bewegung und Veränderung assoziiert wird. Insofern verhält es sich einerseits kontradiktorisch zum »erstarrenden Tod« und offenbart sich andererseits in der »Revoluzion« im Sinne des ›Umwälzens‹, der wörtlichen Bedeutung von revolvere folgend. Nach der französischen Juli-Revolution von 1830 gewinnen die Konzepte des Lebens, der Gegenwart und der Bewegung, die sich im Kontext der Querelle des Anciens et des Modernes herausbildeten, vor allem bei den Autoren des Jungen Deutschland programmatischen Charakter, wie etwa in Ludolf Wienbargs vitalistischer Lebensphilosophie. Wienbarg reklamiert in seinen Vorlesungen Ästhetische Feldzüge, die im gleichen Jahr wie Heines entstanden, die Wertschätzung des Lebens um seiner selbst willen – »Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst«. Leben ist für Wienbarg eine dynamische Aktivität, »ein frisches, wonnigliches, tatkräftiges Prinzip«.214 Heine fordert zwar, wie die genannten Texte gezeigt haben, explizit erst ab den 1830er Jahren programmatisch ›Gegenwart‹, ›Leben‹ und ›Bewegung‹ ein; diese stellen aber nicht erst ab diesem Zeitpunkt zentrale Aspekte seines Schreibens dar, auch wenn sie in den großen essayistischen Schriften, die während des Pariser Exils entstanden, besonders pointiert artikuliert werden. Vielmehr weisen Heines Texte schon in den 1820er Jahren einen emphatischen Gegenwartsbezug auf, der sich, wie hier gezeigt werden soll, im Zusammenhang mit der produktiven Rezeption von Byrons Texten entwickelte.215 Besonders Hei-

214 215

Wienbarg, Ästhetische Feldzüge, S. 46. Wulf Wülfing, der in seiner detaillierten Untersuchung Schlagworte des Jungen Deutschland auch Heine einbezieht, berücksichtigt dagegen hauptsächlich Texte, die nach 1830 entstanden sind.

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nes Reisebilder, die in den 1820er Jahren entstanden, lassen sich als Phase des Experimentierens und Suchens verstehen, in der Entwürfe von ›Autorschaft‹ entwickelt werden, und zwar in der intertextuellen Auseinandersetzung mit Byron, der für Heine einen spezifisch modernen, ›eingreifenden‹ Schriftsteller darstellte. Damit werden sich speziell die Kapitel zu Heines Italienreisebildern Die Bäder von Lukka (III.) und Reise von München nach Genua (IV.) auseinandersetzen, aber auch die Analyse von Die Nordsee III (II. 2.6.) zeigt bereits die Verschränkung der Auseinandersetzung mit Byron, der Betonung der Gegenwart und der Frage nach einer neuen Kunst. ›Gegenwart‹ ist in den literarischen Texten der beiden Autoren nicht nur ein bedeutendes Sujet, sondern prägt auch ihre Poetik einer ›eingreifenden Kunst‹. Zunächst wird nun allerdings eine kritische Revision der in der Forschung kontrovers bewerteten Byron-Rezeption Heines erfolgen. Das Kapitel II. geht dem Forschungsdesiderat nach, aus einer kulturhistorischen Perspektive die zentrale und anhaltende Bedeutung des englischen Schriftstellers sowohl für Heines Poetik als auch für seine Positionierung im deutschen literarischen Feld darzustellen.

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II.

Das literarische Feld 1815–1830: Heines Byron-Rezeption und der öffentliche Diskurs

Das folgende Kapitel wird sich mit Heines Byron-Rezeption im kulturhistorischen Rahmen des europäischen Byrondiskurses auseinandersetzen. Es soll gezeigt werden, daß Heines komplexe Rezeption von Byron in den 1820er Jahren von einer Selbstinszenierung des deutschen Autors geprägt ist, die unter Rückgriff auf die literatursoziologische Methodik der Feldtheorie Pierre Bourdieus untersucht werden kann. Zunächst werden allgemeine komparatistische Differenzierungskriterien dargestellt, mit denen die vergleichende literaturwissenschaftliche Analyse, die über einzelne Nationalliteraturen hinausgeht und zugleich kulturhistorische und kultursoziologische Fragestellungen verfolgt, präzisiert werden kann. Eine grundlegende Unterscheidung liefert hierfür die Methodenreflexion der russischen Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts mit der Unterscheidung zwischen historisch-genetischem und historischtypologischem Vergleich. Ihr Begriffsinstrumentarium soll im folgenden kurz skizziert werden, da es hilfreich ist, um sowohl Heines Byron-Rezeption als auch den angestrebten Vergleich von Byrons und Heines Poetik methodisch zu konkretisieren.

1.

Zur komparatistischen Methode: genetischer und typologischer Vergleich

Für eine komparatistische Untersuchung, in deren Zentrum mit Byron und Heine zwei Autoren aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen stehen, ist es zunächst sinnvoll, zwischen verschiedenen Methoden des Vergleichs zu differenzieren, die sich in der Vergleichenden Literaturwissenschaft herausgebildet haben. Allgemein läßt sich festhalten, daß die Geschichte der Komparatistik in einem engen Zusammenhang mit der Ent wicklung des französischen Positivismus im ausgehenden 19. Jahrhundert steht.1 Die ersten Komparatisten orientierten sich sowohl an der vergleichenden Methode der Naturwissenschaften als auch an deren Streben nach objektiver Faktizität.2 Das Ziel, naturwissenschaftliche Exaktheit zu erlangen, führte letztlich jedoch, wie viele 1 2

Vgl. Peter Zima, Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft. Tübingen 1992, S. 16. Vgl. Zima, Komparatistik, S. 17ff.

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der vergleichenden Untersuchungen aus dem Umkreis des Positivismus zeigen, zu einem ausgeprägten »Faktenfetischismus«.3 Die marxistischen Literaturwissenschaftler Viktor Žirmunskij und Dionyz Durisin entwickelten dagegen neuere theoretische Positionen. Sie lehnen den rein mechanistischen Vergleich ab, der Einflüsse nur feststellt und beschreibt, und stellen statt dessen die in positivistischen Einflußstudien vernachlässigte Frage nach dem »Warum von literarischen Einflüssen und Analogien«4 ins Zentrum ihrer Untersuchungen.5 Dementsprechend unterscheidet Žirmunskij zwei Typen des Vergleichs: den historisch-genetischen und den historisch-typologischen. Während der historisch-genetische Vergleich Einflüsse und Kontakte untersucht und damit eine direkte Abhängigkeit voraussetzt, beschäftigt sich der historisch-typologische Vergleich mit literarischen Analogien und Differenzen und ist folglich von solchen Wirkungsbeziehungen unabhängig.6 Damit liefert die typologische Forschung eine entscheidende Ergänzung zur Praxis positivistischer Einflußstudien in der Folge der französischen Komparatistik. Auf Žirmunskij aufbauend trifft Dionyz Durisin in den 1970er Jahren eine wertvolle Unterscheidung typologischer Analogien nach ihrer »kausalen Bedingtheit«; er teilt sie ein in »gesellschaftlich-typologische, literarisch-typologische (strukturell-typologische) und psychologisch-typologische«.7 Die drei aussagekräftigen Begriffe nennen bereits die verschiedenen Bereiche, in denen es sinnvoll erscheint, typologische Zusammenhänge differenzierter zu beschreiben: Gesellschaft, Werk und Autor. Der erste von Durisin genannte Typus der Analyse konzentriert sich auf die gesellschaftliche Bedingtheit von Tendenzen, die über einzelne Nationalliteraturen hinausgehen. Vergleichbare »sozialökonomische und ideelle Faktoren« würden, so Durisin, ähnliche Entwicklungen begünstigen.8 Hans Robert Jauß verfolgt etwa zur gleichen Zeit wie Durisin eine ähnliche Richtung, wenn er die herkömmliche (positivistisch-)komparatistische Methode in seiner 1970 erschienenen Essay-Sammlung Literaturgeschichte als Provokation,

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Zima, Komparatistik, S. 22. Zima, Komparatistik, S. 43. Die Frage nach dem Warum, die in der marxistischen Literaturwissenschaft dominiert, muß auch als Reaktion auf Positionen der russischen Formalisten gesehen werden, die vor allem nach dem Wie literarischer Verfahren fragten. Am prominentesten wurde diese Richtung von Viktor Šklovskij in seiner programmatischen Schrift Kunst als Verfahren von 1916 vertreten. Dabei sind für den Marxisten Žirmunskij vor allem der sozio-historische Kontext und seine Interpretation von Bedeutung. »[D]er bei einer wissenschaftlichen Untersuchung einzuschlagende Weg [muß] über die einfache Gegenüberstellung der Ähnlichkeiten und Unterschiede hinaus zu deren historischer Deutung führen« (Viktor Žirmunskij, »Die literarischen Strömungen als internationale Erscheinungen«, in: Horst Rüdiger (Hrsg.), Komparatistik. Aufgaben und Methoden. Stuttgart u.a. 1973, S. 104–126, hier S. 105). Dionyz Durisin, Vergleichende Literaturforschung. Versuch eines methodisch-theoretischen Grundrisses. Berlin 1972, S. 93. Durisin, Vergleichende Literaturforschung, S. 93.

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kritisiert und, statt dem »Blickzwang der Nationalliteraturen« zu folgen, übergreifende gesellschaftliche Tendenzen fokussiert.9 In dem Aufsatz »Das Ende der Kunstperiode – Aspekte der literarischen Revolution bei Heine, Hugo und Stendhal«, der in diesem Band enthalten ist, betont Jauß, daß sein Versuch, »Literaturgeschichte als einen allgemeinen, über das Individuelle der Werke, Autoren und Nationen fortschreitenden Prozeß zu erfassen« von der Vergleichenden Literaturwissenschaft als Provokation verstanden werden müsse, da er sich »nicht der komparatistischen Methode bediente«.10 Denn, so fährt Jauß fort, »[w]ie sollte ich auch? Wo keine Einflüsse, Abhängigkeiten oder Wirkungen zwischen Erscheinungen verschiedener Nationalliteraturen auszumachen sind, läßt sich auch kein zweigliedriger Vergleich anstellen«.11 Die zeitgenössische Vergleichende Literaturforschung identifiziert Jauß also um 1970 vor allem mit dem historisch-genetischen Vergleich. Der Beschränkung eines solchen Vergleichs widersetzt sich Jauß’ – in Durisins Terminologie – gesellschaftlich-typologische Analyse, die wichtige Impulse für den hier verfolgten Forschungskontext bereitstellt. Für die erste Variante des typologischen Vergleichs, die gesellschaftlichtypologische Analyse, wählt Durisin als Beispiel das in fast allen europäischen Literaturen verbreitete Phänomen des »Byronismus« bzw. des byronischen Helden, das hier angeführt wird, da es für den vorliegenden Kontext zweifellos von besonderem Interesse ist: Hier bestehen Analogien, die nicht allein auf spezifisch literarische Gesetzmäßigkeiten oder auf das psychologische Gestaltungsvermögen schöpferischer Autoren, sondern vor allem auf analoge gesamtgesellschaftliche Entwicklungen zurückzuführen sind. Eine Analogie des »Byronismus« kann also nicht allein auf Byrons Einfluß oder auf den für ihn typischen Helden reduziert werden.12

Dieser wichtige Ansatz von Durisin führt den europäischen Byronismus nicht ausschließlich auf literarische und psychologische Einflüsse zurück, sondern verweist auf »analoge gesamtgesellschaftliche Entwicklungen«, die für das Phänomen des Byronismus von Bedeutung sind. Er gibt damit einen wesentlichen Hinweis für die Forschung zum europäischen Byronismus, die seit dem 19. Jahrhundert anhaltend und fast uneingeschränkt von den beiden Aspekten des literarischen und psychologischen Einflusses dominiert wurde.13

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10 11 12 13

Hans Robert Jauß, »Das Ende der Kunstperiode – Aspekte der literarischen Revolution bei Heine, Hugo und Stendhal«. In: Jauß, Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a.M. 1970, S. 107–143, hier S. 109. Jauß, »Das Ende der Kunstperiode«, S. 141. Jauß, »Das Ende der Kunstperiode«, S. 141. Durisin, Vergleichende Literaturforschung, S. 94. Auch der Großteil der Beiträge aus der zuletzt veröffentlichten, umfangreichen Auseinandersetzung mit dem europäischen Byronismus untersucht weitgehend die genetische Rezeption Byrons in Europa (Richard A. Cardwell (Hrsg.), The Reception of Byron in Europe. 2 Bde.

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Ergänzend zu solchen sozial-historischen und sozio-kulturellen Faktoren, die Ähnlichkeiten und Differenzen literarischer Texte gesellschaftlich begründen, betrachtet die zweite Variante des Vergleichs, die literarisch-typologische Analyse, Literatur als autonomes Feld mit eigenen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung. Das von Durisin beschriebene Spektrum reicht von Gattungen, Genres, Figuren, Sujets, Bildern, Motiven bis hin zu detaillierten Textverfahren und metrischen Elementen.14 Den letzten Typ des typologischen Vergleichs stellen die psychologischen Analogien dar. »Nicht selten erklären Komparatisten verschiedene literarische Ähnlichkeiten durch einen Hinweis auf verwandte Züge im schriftstellerischen Naturell der zu vergleichenden Autoren«, beobachtet Durisin.15 Dabei handelt es sich sicherlich um den problematischsten Typus, da er Gemeinsamkeiten der literarischen Produktion aus anthropologischen Grundbedürfnissen des Menschen und der damit verbundenen Wirklichkeitsgestaltung ableitet.16 Gerade im Hinblick auf Heines Byron-Rezeption zeigt sich, daß der Vergleich der beiden Autoren immer wieder auf der Annahme einer ähnlichen psychologischen Disposition basierte. Wie Durisin feststellt, ist jedoch eine strikte Trennung von typologischem und genetischem Vergleich selten möglich. In der Praxis zeigt sich, daß beide Varianten sich häufig gegenseitig bedingen, daß gesellschaftlich und historisch bedingte Ähnlichkeiten Einfluß- und Kontaktbeziehungen fördern. Die Forschungsergebnisse seien hier, so folgert Durisin, »besonders davon abhängig, wie detailliert und umfassend die vergleichende Analyse ist, und wie präzise

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London, New York 2004). Der materialreiche und informative Überblick über die Rezeption Byrons veranschaulicht in den 23 Beiträgen auf eindringliche Weise die Präsenz des ›Byronismus‹ in vielen europäischen Ländern – in Frankreich, Italien, Portugal, Polen, Rußland, Dänemark, Norwegen, Georgien, Ungarn und der Türkei, um nur einige zu nennen. Die Aufsatzsammlung von Paul Graham Trueblood widmet sich allgemeiner Byrons politischem und kulturellem Einfluß im Europa des 19. Jahrhunderts (Trueblood (Hrsg.), Byron’s Political and Cultural Influence in Nineteenth-Century Europe. A Symposium. London, Basingstoke 1981). Vgl. Durisin, Vergleichende Literaturforschung, S. 95. Thomas Bourkes Untersuchung zum Stilbruch bei Byron, Heine und Hoffmann ist eine der wenigen Arbeiten, die literarischstrukturelle Analogien zwischen den Autoren vergleicht und nicht auf Einflußbeziehungen zurückführt. Bourkes Ausgangsthese, daß die Parallelen zwischen Byrons und Heines Stilbruch Ausdruck eines übernationalen Impulses zum Stilbruch am Ende der Romantik seien, ist ein Beispiel für Durisins Typus der literarisch-typologischen Vorgehensweise (vgl. Bourke, Stilbruch als Stilmittel. Studien zur Literatur der Spät- und Nachromantik. Mit besonderer Berücksichtigung von E.T.A. Hoffmann, Lord Byron und Heinrich Heine. Frankfurt a.M. u.a. 1980). Durisin, Vergleichende Literaturforschung, S. 97. Einen weniger fraglichen Bereich, in dem auch psychologische Prozesse des künstlerischen Schaffens zur Erklärung von Analogien in den unterschiedlichen Literaturen bzw. mündlichen Traditionen herangezogen werden, stellt etwa die im Strukturalismus verbreitete vergleichende Mythenforschung dar.

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die Erscheinungen aufgegliedert werden.«17 Diese komplexe Situation läßt sich, wie in den folgenden Kapiteln zu zeigen sein wird, gerade in bezug auf Byron und Heine bestätigen. Žirmunskijs und Durisins genaue Differenzierung zwischen literarischen Ähnlichkeiten (und Differenzen) ist prinzipiell für komparatistische Untersuchungen hilfreich und sie erweist sich in besonderer Weise für die vorliegende Arbeit als ein in mehrfacher Hinsicht äußerst produktives Modell. Es ermöglicht über eine rein rezeptionsorientierte Fragestellung hinauszugehen, ohne dabei Formen der direkten Abhängigkeit zu vernachlässigen. Von besonderer Relevanz ist dabei, daß – wie Durisin betont – »[z]wischen dem interliterarischen und innerliterarischen Vergleich [...] prinzipiell kein wesentlicher Unterschied« besteht.18 Das Kapitel II. 2. setzt sich mit Heines Byron-Rezeption im Kontext des europäischen Byronismus auseinander. Dazu wird zunächst kurz die generelle Frage nach dem heuristischen Wert komparatistischer Untersuchungen angeschnitten, um dann das Phänomen des europäischen Byronismus zu umreißen. Daran anschließend erfolgt eine differenzierte Darstellung der historisch-genetischen Beziehungen zwischen Heine und Byron. Dabei geht es aber weniger um eine positivistische Aufzählung von Fakten, die Formulierungen von Byron bei Heine nachweisen.19 Vielmehr wird versucht, die kontroverse Debatte über den Einfluß von Byron auf Heines Schreiben durch den Rekurs auf Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Feldes metareflexiv im Hinblick auf marktstrategische Positionierungen im literarischen Feld zu wenden. Im Anschluß an Harold Blooms Theorie einer Anxiety of Influence wird außerdem die Frage gestellt, warum Heine zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt Byron in seinen Stellungnahmen so explizit ablehnte. Die Analyse wird zudem eine charakteristische Verfahrensweise von Heines Rezeption herausarbeiten – die des exoterisch-esoterischen Vexierspiels mit seinem Publikum.

17 18 19

Durisin, Vergleichende Literaturforschung, S. 100. Durisin, Vergleichende Literaturforschung, S. 97. Nicht nur die älteren Studien von Wilhelm Ochsenbein (Die Aufnahme Lord Byrons in Deutschland) und Felix Melchior (Heines Verhältnis zu Lord Byron), sondern auch neuere Untersuchungen wie etwa von Michael Perraudin (»Heine, the German Byron«. In: Colloquia Germanica 19 (1986), S. 242–273) und Nina Diakonova (»Heine as an Interpreter of Byron«. In: ByronJournal 22 (1994), S. 63–69) sind am Modell des genetischen Vergleichs orientiert und versuchen den Einfluß Byrons auf Heine anhand von spezifischen Textstellen zu beurteilen. Obwohl etwa Perraudin sich bewußt von den positivistischen Arbeiten Ochsenbeins und Melchiors absetzt, gelingt es den genannten Untersuchungen nur selten, mehr als Quellennachweise zu liefern und die produktive Verarbeitung des fremden Textes (von Byron) auf intertextueller Ebene (bei Heine) darzustellen. Eine eingehendere Diskussion der Forschungslage erfolgt in Kapitel II. 2.3.

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2.

Heines Byronrezeption und der europäische Byron-Diskurs »In der Literatur wie im Leben hat jeder Sohn einen Vater, den er aber freylich nicht immer kennt, oder den er gar verläugnen möchte.« (DHA 9, 81)

2.1.

»Heine und...« – der heuristische Wert komparativer Forschungsansätze

Heines Verhältnis zu anderen Autoren ist in letzter Zeit Gegenstand von zahlreichen Untersuchungen gewesen.20 Diesen Umstand hält Gerhard Höhn in der Einleitung zur zweiten Auflage seines Heine-Handbuchs fest. Er kommentiert die neuere Entwicklung in der Heine-Forschung als ein Abrücken von »sozialkritischer Problematik« hin zu »komparatistische[n] Studien mit dem symptomatischen Titel Heine und...«.21 Heines eigene Schriften legen vergleichende Untersuchungen zu einer Vielzahl von Autoren nahe. Seine lebenslange Faszination mit Dichtern wie Cervantes, Shakespeare, Aristophanes oder auch Goethe und Laurence Sterne gibt Anlaß zur intertextuellen Spurensuche – zur Frage, wie er das fremde Wort kreativ für seine eigene moderne Schreibweise verarbeitete. Beleg für die intensive Rezeption und kritische Auseinandersetzung mit anderen Autoren geben einzelne über Heines Werk verstreute Bemerkungen, Briefstellen und Texte wie die Einleitung zu Cervantes de Saavedra. Der sinnreiche Junker Don Quixote von La Mancha und der Essay Shakspeares Mädchen und Frauen, die für Heines eigene Poetologie aufschlußreich sind. Diese Art von Intertextualitätsforschung ist es jedoch nicht, von der Höhn spricht – der zweite Teil des oben zitierten Satzes lautet »worunter zeitgenössische oder spätere Dichter und Denker zu verstehen sind«.22 Konjunktur haben in den letzten Jahren Untersuchungen, die versuchen, Heines geschichtlichästhetische Position über Analogien oder Differenzen zu anderen ›Dichtern und Denkern‹ zu kontextualisieren und zu präzisieren. Welchen heuristischen Wert besitzt nun eine Untersuchung mit dem Titel »Heine und Byron«? In Heines frühem Werk zeigt sich eine intensive Rezeption des frühen Byronschen Werkes. Eine Rezeption von Byrons späteren Werken, die mit Heines eigener Poetik viele Gemeinsamkeiten aufweisen, wurde bislang nicht eindeutig und umfangreich belegt. Gewinnbringend ist neben dem historisch-genetischen Vergleich, der – wie sich im folgenden zeigen wird – Licht auf Heines Strategie der Verschattung wirft, auch der historisch-typologische Vergleich, der in dieser Arbeit den zentralen Fokus bildet. Gerade aufgrund von 20 21 22

Aus der großen Anzahl von Forschungstiteln sei hier nur exemplarisch auf die von T. J. Reed herausgegebene Aufsatzsammlung Heine und die Weltliteratur. Oxford 2000 hingewiesen. Gerhard Höhn, Heine-Handbuch. Zeit – Person – Werk. 2. akt. u. erw. Aufl. Stuttgart 1997, S. XIII. Höhn, Heine-Handbuch, S. XIII.

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Byrons immenser Popularität und Bedeutung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie Heines herausragender Stellung im deutschen Kontext wird der typologische Vergleich der beiden Autoren paradigmatische Aussagen für die Entwicklung der Moderne in ästhetischer und sozialgeschichtlicher Hinsicht in der Übergangszeit zwischen Romantik und Realismus zulassen. Die vorliegende kulturhistorisch-komparatistische Arbeit verfolgt so das Ziel, die Reaktionen der beiden Autoren auf die Herausforderungen der Moderne – gerade auch unter Berücksichtigung der zunehmend sozialkritischen Positionierungen Byrons und Heines – als eine Poetik eingreifender Kunst zu beschreiben. 2.2.

Europäischer Byronismus

Byron ist einer der wenigen Schriftsteller, dessen literarische und kulturgeschichtliche Bedeutung für das 19. Jahrhundert so enorm war, daß nach ihm eine eigene Strömung benannt wurde: der Byronismus. Der Terminus beschreibt den Weltschmerz einer Generation, die von Byrons Dichtung und Leben gebannt war. Das Phänomen des Weltschmerzes, das am Anfang des 19. Jahrhunderts vor allem die jüngere Generation erfaßte, begreift Klaus Heitmann in seinem Beitrag »Der Weltschmerz in den europäischen Kulturen« vor allem als Ausdruck der Verunsicherung durch den Umbruch tradierter Ordnungen: »Weltschmerz als Unsicherheit in den letzten Sinn- und Wertfragen ist weltanschaulicher Ordnungsverlust, Nihilismus in einer entgötterten Welt der reinen Immanenz.«23 Dieser Weltschmerz, der zu einer regelrechten Modeerscheinung avancierte, ist insofern nicht identisch mit der Tradition der Melancholie, deren Thematisierung in Literatur und bildender Kunst historisch weit zurückreicht.24 Der Grund für die omnipräsente Resignation, Zweifelsucht und Kulturmüdigkeit muß neben dem von Heitmann angeführten »von Jahrhundert zu Jahrhundert sich beschleunigenden Prozeß der Ablösung des christlich-theozentrischen durch ein neues, wissenschaftlich-mechanistisches und anthropozentrisches Weltbild« auch in der politischen Situation Europas nach den Napoleonischen Kriegen gesucht werden.25 Die enttäusch-

23

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25

Klaus Heitmann, »Der Weltschmerz in den europäischen Literaturen«. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus von See u.a. Bd. 15: Europäische Romantik II. Hrsg. von Klaus Heitmann. Wiesbaden 1982, S. 57–82, hier S. 57. Diese Linie läßt sich über die berühmte Abhandlung Anatomy of Melancholy von Robert Burton von 1621 nicht nur zu Petrarca oder Dürer zurückverfolgen, sondern bis in die Antike. Siehe dazu die Anthologie von Melancholiegedichten Komm, heilige Melancholie. Hrsg. von Ludwig Völker. Stuttgart 1983 und dort bes. die »Einleitung«, S. 19–43. Zur Melancholie vgl. auch ausführlich Kap. IV. Heitmann, »Der Weltschmerz in den europäischen Literaturen«, S. 57. Das unterscheidet die ›Weltschmerz-Generation‹ auch von früheren, eher vereinzelten Darstellungen von Weltschmerz wie in Johann Wolfgang Goethes Werther (1774) oder in François René Vicomte de Chateaubriands René (1802).

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ten romantisch-revolutionären Hoffnungen ließen Freiheitsideale im individuellen und politischen Bereich, wie sie noch das 18. Jahrhundert kannte, als säkularisierte Kompensation für fehlende religiös-ontologische Sinnstrukturen fragwürdig werden. Weltschmerz und die mit ihm verwandten Erscheinungen wie disgust of life, noia, ennui, mal du siècle kennzeichnen die desillusionierten ›Modernen‹, zu denen sowohl deutsche Autoren wie etwa Georg Büchner, Christian Dietrich Grabbe und Nikolaus Lenau zählen, als auch europäische Berühmtheiten und Skandalschriftsteller wie Alfred de Musset, Giacomo Leopardi, Michail Lermontow und Alexander Puschkin. Das pessimistische, zweiflerische Selbstund Weltgefühl, das einen neuen Dichtertypus hervorbrachte – »le génie du soupçon«, wie Stendhal es formulierte –, fanden die Zeitgenossen am eindringlichsten bei Byron artikuliert.26 Byron und der Byronic Hero seiner Texte – also der rebellische Außenseiter, der sich gegen Gott und die Welt auflehnt – waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders prägend für die jungen Autoren der verschiedenen Länder Europas.27 Byrons außerordentliche Popularität bei der jüngeren Generation von Romantikern bzw. Post-Romantikern ist maßgeblich auf das Versepos Childe Harold (1812–1818) zurückzuführen, das ihn in ganz Europa buchstäblich über Nacht berühmt machte. Vor allem der Aspekt der ›Zerrissenheit‹ des Helden war für die deutsche Rezeption bestimmend.28 Auch für Heines Byronismus ist das Versepos mit seinen vier umfangreichen Cantos zentral. Insofern ist ein Blick auf den historischen Hintergrund sowie die formale Struktur und Poetik von Childe Harold lohnenswert. Dazu werden drei markante Bilder des Textes herausgegriffen: der Hund, die Ruine und der Spiegel. Die ersten beiden Cantos von Childe Harold erschienen 1812, also während einer in Europa politisch äußerst gespannten Atmosphäre. Childe Harold, der Protagonist des Versepos, bereist die von den napoleonischen Kriegen gezeichneten Länder Südeuropas und kommentiert ihre politische Lage. Byrons Versepos ist eine Klage über den Verlust vergangener Größe und eines ganzheitlichen Zustands, der die Kehrseite des Modernisierungsprozesses darstellt.29 Der Typ des aufbegehrenden Byronic Hero, den Byron in seinen frühen orientalischen Verserzählungen und in den düsteren, satanisch-prometheischen Helden 26 27 28 29

Stendhal, Souvenirs d’Egotisme. Neu hrsg. u. komm. von H. Martineau. Paris 1950. Vgl. dazu: Gerhart Hoffmeister, Byron und der europäische Byronismus. Darmstadt 1983. Vgl. dazu Boerner, »Die ganze Janitscharenmusik der Weltqual«, S. 19–92, bes. 74–92. Vgl. auch den Aufsatz von Markus Winkler, »Weltschmerz, europäisch. Zur Ästhetik der Zerrissenheit bei Heine und Byron«. In: Winkler (Hrsg.), Heinrich Heine und die Romantik, S. 173–190. Winkler vertritt die These, daß Byron »am Traum der Wiederherstellung des heroischen, ganzheitlichen Zustandes festgehalten« habe (S. 181). Heine dagegen habe jede Darstellung von Ganzheit in der Moderne als »lügenhafte[n] Anachronismus« abgelehnt (S. 188). Die Berücksichtigung aller Cantos von Childe Harold zeigt jedoch, daß der Gegensatz zwischen den beiden Autoren in dieser Weise nicht aufrecht erhalten werden kann.

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seiner späteren Dramen wie Manfred oder Cain zeichnete, erhielt mit der Zerrissenheit des Junkers Harold eine andere Ausprägung. Die Figur des Childe Harold, die trotz Byrons Bemühungen um eine Differenzierung von den Zeitgenossen mit seiner biographischen Person identifiziert wurde, ist gezeichnet von Weltschmerz und Überdruß. Dafür steht besonders der berühmte vielfach übersetzte Abschiedsmonolog, den übrigens auch Heine ins Deutsche übertrug: »My greatest grief is that I leave No thing that claims a tear. And now I’m in the world alone, Upon the wide, wide sea: But why should I for others groan, When none will sigh for me? Perchance my dog will whine in vain, Till fed by stranger hands; But long ere I come back again, He’d tear me where he stands. With thee, my bark, I’ll swiftly go Athwart the foaming brine; Nor care what land thou bear’st me to, So not again to mine. Welcome, welcome, ye dark-blue waves! And when you fail my sight, Welcome, ye deserts, and ye caves! My native Land – Good Night!« (I, 13 (8–10); CPW II, 15f.)

Harolds Abschied von seiner Heimat England verweist exemplarisch auf das Gefühl der Vereinzelung sowie das Leiden an der fehlenden Stabilität ethischer Normen, die über das rein Materielle hinausgehen: Symbolisch steht hierfür der Hund, der in der Odyssee noch Garant für eine gelingende Heimkehr im Sinne von Kontinuität und verbindlichen moralischen Verhaltens ist, in Byrons Epos Harold aber vergessen haben wird, sobald ein Fremder seinen Hunger gestillt hat. Als Reaktion darauf begrüßt der Protagonist emphatisch die Einsamkeit des Meeres, der Wüsten und Höhlen (»Welcome, ye deserts, and ye caves!«). Harolds Weltschmerz drückte das Lebensgefühl einer Generation von Lesern aus, die am Ende der Romantik sowohl von metaphysischer Enttäuschung als auch von politischer Desillusionierung geprägt war. Die Verschränkung des Persönlichen mit dem Politischen wird in den Cantos III und IV von Childe Harold in der Metapher der Ruine umgesetzt, die das subjektive Befinden mit der objektiven politischen Wirklichkeit korreliert. Die letzten beiden Cantos entstanden in Byrons selbst gewähltem schweizerischen und, ab Herbst 1816, italienischen Exil nach dem einschneidenden Ereignis des Wiener Kongresses und der Restauration der europäischen Königshäuser. 93

In der prägnanten Formulierung des Sprechers, der seinen Zustand als Ruine unter Ruinen beschreibt, »[a] ruin amidst ruins« (CPW II, 132), wird in Childe Harold die Erfahrung des (an seinen Hoffnungen) zerbrochenen Subjekts mit dem Erlebnis einer verwüsteten und zerstörten Welt enggeführt. Ausführlich werden sich die Kapitel IV. 3. und IV. 4. mit der Ruinenmetaphorik im Kontext der vergleichenden Analyse von Childe Harold IV und Heines Reise von München nach Genua befassen. Auf die Fragmentierung des melancholischen Subjekts weist im dritten Canto das Bild des zersprungenen Spiegels hin: Even as a broken mirror, which the glass In every fragment multiplies; and makes A thousand images of one that was, The same, and still the more, the more it breaks; And thus the heart will do which not forsakes, Living in shattered guise, and still and cold, And bloodless, with its sleepless sorrow aches, Yet withers on till all without is old, Shewing no visible sign, for such things are untold. (III, 33; CPW II, 88)

Die Reflexion des Sprechers auf den Verlust von Einheit findet hier im poetischen Bild des zerbrochenen Spiegels statt, das der Metapher der Ruine verwandt ist. Die Stücke des Spiegels geben statt einem einzigen, intakten Bild tausende wieder. Die prononcierte Stellung des rejets »[t]he same« am Anfang des vierten Verses, die durch die umklammernde Setzung der Kommata unterstützt wird, betont zum einen das Identisch-Sein, das zum anderen aber schon im vorhergehenden Vers als verlorenes eingeführt wurde: »of one that was«. Die Trennung von »was« und »same« durch den Zeilensprung verstärkt den Eindruck des Zerrissenen und zeigt, daß Ganzheit der Vergangenheit angehört. Die Gegenwart ist von Zerrissenheit, Vereinzelung und Verlust des Subjekts geprägt, was die Übertragung der Spiegelmetapher auf das gebrochene Herz des Sprechers in der zweiten Hälfte der Strophe hervorhebt. Mit dem Bild des kalten Herzens und den Formulierungen »bloodless« und »sleepless sorrow« wird am Ende der Strophe explizit der Topos der Melancholie aufgerufen.30 Das Herz, das nicht loslassen kann (»which not forsakes«), ist auf die Vergangenheit, die einstige Ganzheit des Empfindens, fi xiert. Wie die Ruine stellt der Spiegel ein äußeres Zeichen dar, das den Verlust heroischer Größe bzw. Ganzheit signalisiert. Das Herz des Melancholikers hingegen, das sich vom

30

Zum Motiv des kalten Herzens als Metapher für die Befindlichkeit des Menschen in der Moderne vgl. Manfred Frank (Hrsg.), Das kalte Herz. Texte der Romantik. Ausgewählt und interpretiert von Manfred Frank. Frankfurt a.M., Leipzig 1996.

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Vergangenen nicht freimachen kann – die Ruine des Selbst – zeigt nach außen kein sichtbares Zeichen, »no visible sign«, seiner Gebrochenheit. Während in thematischer Hinsicht das Versepos Childe Harold die Dissoziation des Subjekts in der Moderne reflektiert, exemplarisch veranschaulicht in den Metaphern der Ruine und des Spiegels, konterkariert die formale Gestalt des Textes den Verlust von Einheit und Größe. Diese Wirkung entsteht vor allem durch die Spenserstanze der englisch-elisabethanischen Tradition, die den Effekt des Geschlossenen und Zentripetalen erzeugt. Durch die verkettende Reimform ab ab bc bc c, die acht jambischen Fünfheber und den abschließenden Alexandriner, der das Ende der Strophe deutlich markiert, wirken die einzelnen Strophen wie abgeschlossene, auf sich selbst beschränkte Einheiten. Vers- und Strophenform sowie der hohe elegische Stil des romantischen Epos bilden insofern ein Gegengewicht zur ›Zerrissenheit‹ der Figur des Harold. Der inhaltlichen Fragmentierung setzt die strenge Form der Strophe also Geschlossenheit und Ganzheit entgegen, die durch die harten Kadenzen der Verse zusätzlich akzentuiert wird. Archaismen wie »shewing«, die den gesamten Text prägen, lassen episch-heroische Totalität als Reminiszenz anklingen, weisen sie zugleich aber als vergangene aus. Winkler spricht in diesem Zusammenhang zurecht von einer Ironisierung der Form.31 Die hier exemplarisch angedeutete sentimentale Zeitdiagnose Byrons in Childe Harold und seine Darstellung und Reflexion des ›zerbrochenen‹ Subjekts, das um den Verlust von Ganzheit trauert, fanden bei der politisch und metaphysisch enttäuschten ›Jugend‹ Europas eine ungeheure Resonanz. 2.3.

Heines Byron-Rezeption: Positionen der Forschung

Die Begeisterung des jungen Heine für Byrons frühe Dichtung und für den Byronschen Heldentypus ist in der Forschung allgemein bekannt und stellt, wie bereits erwähnt, in Europa keine singuläre Erscheinung dar, sondern ist symptomatisch für die Generation der »Weltschmerzpoeten«.32 Als exemplarisch für die Forschung zur Rezeption von Byron in Europa kann Gerhart Hoffmeisters Standardwerk Byron und der europäische Byronismus gelten, das den Einfluß des Dichters in England, Italien, Spanien, Frankreich, Rußland, Polen und Deutschland untersucht.33 Hoffmeisters Studie, die sich vor allem auf die literarische Wirkung von Byrons Weltschmerzdichtung konzentriert, ist symptomatisch für viele der Untersuchungen zur Rezeption Byrons und 31 32

33

Vgl. Winkler, »Weltschmerz europäisch«, S. 181. Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. I: Allgemeine Voraussetzungen – Richtungen – Darstellungsmittel. Stuttgart 1971, bes. S. 222–238, hier S. 225. Vgl. auch Heitmann, »Der Weltschmerz in den europäischen Literaturen«. Vgl. Hoffmeister, Byron und der europäische Byronismus.

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soll deswegen kurz näher betrachtet werden. So erwähnt Hoffmeister zwar die Bedeutung von Byrons ottava rima-Gedichten in seinem Werk, richtet die Aufmerksamkeit in der Darstellung der Rezeption der einzelnen Autoren aber vorwiegend auf den Weltschmerz des Byronic Hero. Im letzten Kapitel seiner Untersuchung setzt sich Hoffmeister mit Byron als Exponenten weltanschaulicher Strömungen auseinander. Neben Weltschmerz und Satanismus wird kurz Byrons wirkmächtiger und medienwirksamer Philhellenismus gestreift, seine politischen Aktivitäten im restaurierten Italien, die besonders auch für Heine bedeutend waren, finden allerdings keine Erwähnung. Italien aber, über das nach den Beschlüssen des Wiener Kongresses von den Österreichern ein politisches Primat ausgeübt wurde, galt den Zeitgenossen als Inbegriff der politischen Unterwerfung der Heiligen Allianz.34 Es überrascht insofern nicht, daß Hoffmeister im speziellen Abschnitt zu Heines Byron-Rezeption vor allem auf die Parallelen zwischen der frühen Dichtung Byrons und Heines eingeht, die schon Ochsenbein in seiner positivistischen Untersuchung vom Beginn des letzten Jahrhunderts herausgearbeitet hatte.35 Dazu zählen in erster Linie Heines Byron-Übersetzungen – seine Übertragungen also von »Gut Nacht« (»Good Night«) aus Childe Harold, der Gedichte »Lebewohl« (»Fare Thee Well«) und »An Inez« (»To Inez«) sowie der ersten Szene aus Manfred ins Deutsche.36 Aus Heines eigener Dichtung sind es vor allem die Gedichte »Belsatzar«, »Götterdämmerung« und »Ratcliff« sowie die gleichnamige Tragödie Ratcliff und das orientalisierende Drama Almansor, die ähnliche Motive und Konstellationen aufweisen wie einige von Byrons Gedichten und orientalischen Verserzählungen und dementsprechend eine produktive Rezeption von Byrons Dichtung nahelegen. Berührungspunkte bestehen zu Byrons Gedichten »Vision of Belshazzar« aus dem Zyklus Hebrew Melodies, »Darkness« und »The Dream« aus den Domestic Pieces sowie zum Byronschen Helden in den orientalischen Verserzählungen wie The Giaour oder The Corsair. In der Einschätzung von Heines Byron-Enthusiasmus kommt Hoffmeister zu dem Ergebnis, daß Byron »nur in wenigen Stücken seiner ersten Dichterjahre literarische Spuren hinterlassen« habe.37 Diese Diagnose basiert zum einen auf dem allmählichen Verebben offensichtlicher Spuren der Rezeption Byrons in Heines Texten. Zum anderen bezieht sich Hoffmeister auf eine viel beachtete Stelle in Heines Reisebild Die Nordsee. Dritte Abteilung, die entscheidend ist

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Heines Italienreisebild Reise von München nach Genua muß z.B. in diesem Kontext gesehen werden. Kap. IV. 5. wird darauf genauer eingehen. Hoffmeister, Byron und der europäische Byronismus, S. 108–112. Vgl. dazu auch Ochsenbein, Die Aufnahme Lord Byrons in Deutschland, S. 128–228. Zu Heines Byron-Übersetzungen vgl. auch Melchior, Heines Verhältnis zu Lord Byron, S. 40–71; Nina Diakonova, »Heine as an Interpreter of Byron«, bes. S. 63–69. Hoffmeister, Byron und der europäische Byronismus, S. 111.

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für die Beurteilung von Heines Byron-Rezeption in der Forschung. Der Erzähler von Heines Reisebild, der autobiographische Züge trägt, distanziert sich in dem Reisebild von der Nachahmung Byrons mit den bekenntnishaften Worten »in diesem Augenblicke fühle ich sehr lebhaft, daß ich kein Nachbeter, oder besser gesagt Nachfrevler Byrons bin«, um sich kurz darauf mit dem emphatischen Ausruf »[von] allen großen Schriftstellern ist Byron just derjenige, dessen Lectüre mich am unleidlichsten berührt« (DHA 6, 162), dezidiert von dem englischen Autor abzugrenzen. Der kulturgeschichtliche Kontext, in dem diese Aussage gelesen werden muß, wird ausführlich in Kapitel II. 2.6. besprochen. An dieser Stelle interessiert nur die Beobachtung, daß diese Bemerkung die Forschung seit dem 20. Jahrhundert entscheidend gelenkt hat. Die Abrechnung Heines mit seinem Byron-Enthusiasmus in Die Nordsee III wird in der Forschung immer wieder als Indiz für seine Abkehr von der Nachahmung Byrons verstanden und als Ende seiner produktiven Rezeption betrachtet. Diese Einschätzung findet sich nicht nur bei Hoffmeister, sondern etwa auch im Kommentar der Düsseldorfer Heine-Ausgabe, der die Passage aus Nordsee III als »öffentliche[n] Widerruf« des »früheren Byron-Kults [...], der jetzt durch den Napoleon-Kult verdrängt« werde, erläutert. Und weiter heißt es: »Daß Heine hier plötzlich eine solche Abneigung gegen Byron äußert, hängt sowohl mit seinen gereifteren politischen Einsichten als auch seinem Überdruß an der Sentimentalität der meisten deutschen Byron-Schwärmer zusammen.« (DHA 6, 762)38 Eberhard Galley sieht die Erklärung für den »Schlußstrich« unter den »frühen Byronkult« und die seltener werdenden Vergleiche der zeitgenössischen Kritik von Heine mit Byron darin, daß Heines »dichterische Entwicklung besonders seit den Reisebildern so deutlich von dem Byronschen Vorbild abgerückt [war], daß der Vergleich nicht mehr paßte«.39 Für Michael Perraudin wiederum liegt das Ende von Heines Byronismus bereits in den Gedichten in Nordsee I/II, da diese nicht mehr die charakteristische Byronsche Stimmung aufweisen würden. In »Heine, the German Byron« argumentiert er: the exploitation of epics of Byron’s in Die Nordsee more or less marks the end of his [Heines, A.B.] Byronism as an aspect of his creative practice. One might argue, indeed, that in a true sense it had ended some time before, since the essential Byronic mood clearly is not carried over into the Nordsee poetry.40

Perraudins Beobachtung ist besonders interessant, da er von Byronismus bzw. der Byronschen Stimmung spricht und damit Heines Distanzierung eingrenzt auf einen literarischen Typus, den Byron mit seiner frühen Dichtung ausschlaggebend geprägt hat.41 Den Byronismus als ein in literarischen und ›kul38 39 40 41

Vgl. auch DHA 7/2, S. 1278. Galley/Estermann, Kommentar zu Bd. 1, S. 9. Perraudin, »Heine, the German Byron«, S. 256. Vgl. auch Boerner, »Janitscharenmusik der Weltqual«, die Heines »Abgrenzung von Byron,

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tivierten‹ gesellschaftlichen Kreisen sich rasch ausbreitendes Modephänomen hatte Heine schon in der Harzreise ironisch behandelt.42 Die Differenzierung zwischen dem Autor Byron und dem Phänomen des Byronismus ist wichtig, um nicht den Blick auf Byrons Spätwerk zu verstellen, in dem sich Byron selbst kritisch zu seinem früheren romantischen Schaffen verhält.43 Die späten grotesk-satirischen ottava rima-Gedichte Beppo, Don Juan und The Vision of Judgment weisen in den literarischen Verfahren, der Thematik und Funktion – so eine der zentralen Thesen dieser Untersuchung – eine erstaunliche Nähe zu der Poetik von Heines Dichtung auf. Auffällig ist, daß es für die Rezeption von Byrons späten Texten bei Heine kaum explizite Hinweise gibt. Die Frage, ob Heine den Wandel verfolgt hat, den Byrons Texte vom Inbegriff der Weltschmerzromantik zur spottenden Kritik der Romantik vollzogen – wie etwa in Don Juan –, läßt sich deswegen positivistisch nur schwer belegen. Die Beschränkung der Rezeption aufs Frühwerk ist in der Forschung bestimmend, selbst in solchen Untersuchungen, die davon ausgehen, daß Heine Byrons Don Juan gelesen hat. Obwohl mehrere Untersuchungen zu Heines Byron-Rezeption die Kenntnis von Byrons späteren Texten voraussetzen, geht keine von ihnen näher auf die Parallelen zwischen den beiden Autoren ein, die jenseits des Byronismus in Heines Frühwerk liegen. Die positivistischen Studien von Ochsenbein und Melchior sind bemerkenswert, da beide wie selbstverständlich davon ausgehen, daß Heine die späten Werke Byrons gelesen hat, und verweisen en passant auf die Parallelen in ihren »bizarren Reimkünsten«.44 Ochsenbein äußert sogar die Vermutung, ohne dies jedoch genauer belegen zu können, daß »[d]ie komischen Reime in LI. 2845 [...] vielleicht aus der etwa gleichzeitigen Lektüre des Don Juan zu erklären« sind.46 Das hauptsächliche Interesse von Melchior und Ochsenbein gilt aber dem Weltschmerz, der Zerrissenheit und der Subjektivität in der Dichtung des jungen Byron und Heine. Auch J. F. Slattery mutmaßt in seiner Untersuchung »The German Byron«, daß Heine Don Juan kannte und sich über den Anfang des neunten Cantos gefreut haben müsse – »[t]he German must have enjoyed the opening of Canto IX of

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genauer vom Byronismus« als Ausdruck der Distanznahme von einer literarischen Tradition sieht, die »Weltschmerz ohne konkrete Ursachen« oder »nihilistisch-resignativen Lebensüberdruß« zum Gegenstand hat. Auf die angeführte Differenzierung zwischen Byron und dem Byronismus geht jedoch auch sie nicht näher ein. Siehe DHA 6, S. 120. Diese Revision des eigenen Schaffens vollzieht sich ab ca. 1817, fast zeitgleich mit Byrons Wechsel vom schweizerischen ins italienische Exil. Melchior, Heines Verhältnis zu Lord Byron, S. 124. Vgl. auch Ochsenbein, Die Aufnahme Lord Byrons in Deutschland, S. 164. Zu weiteren Verweisen auf Beppo und Don Juan siehe S. 168f., 201f. und 225. Insgesamt ist Ochsenbein in seiner Studie bemüht zu zeigen, daß »Heine in seiner Lebensanschauung, in seinem Denken und Empfinden von Byron verhältnismässig unabhängig« (S. IX) war. LI steht hier für Heines Lyrisches Intermezzo. Ochsenbein, Die Aufnahme Lord Byrons in Deutschland, S. 164.

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Don Juan«.47 Die erwähnte Passage in Don Juan verspottet den englischen Politiker Wellington, den beide Autoren ablehnten, da er u.a. eine wichtige Rolle beim Sturz Napoleons hatte. Nina Diakonova, die feststellt, daß Byron und Heine viele Gemeinsamkeiten in ihrer Entwicklung, ihren politischen Ansichten und in ihrer Lebenssituation hatten, betont sogar, daß Don Juan einen offensichtlichen Einfluß auf Heine hatte – aber auch sie beläßt es bei dieser Aussage.48 Eine ausführlichere Diskussion der Frage, ob Heine Byrons späte Werke zur Kenntnis genommen hat, findet sich nur in Thomas Bourkes strukturell-typologischer Arbeit, die E.T.A. Hoffmann, Byron und Heine unter dem Aspekt des Stilbruchs vergleicht. Er kommt aber zu einer negativen Antwort auf die Frage, ob Heine Don Juan kannte. Es gebe, so Bourke, keine Anhaltspunkte für eine Auseinandersetzung Heines mit Byrons »Donjuanismus«.49 Als Resümee läßt sich festhalten, daß in der literaturwissenschaftlichen Forschung die Auseinandersetzung mit Heines Byronismus bis in die Gegenwart dominierend ist. Eine eingehendere Diskussion der späteren, postromantischen Parallelen in ihren Texten findet sich nur in Bourkes Monographie, der jedoch eine Rezeption der späten Texte Byrons durch Heine ausschließt. Eine der Beobachtungen dieser Arbeit ist, daß neben mangelnden expliziten Textzeugen ungenügende Differenzierungen das Verständnis von Heines komplexem Verhältnis zu Byron erschweren. Die Uneinigkeit in der Bewertung von Heines Verhältnis zu Byron, der Frage also, ob Heines Interesse für Byron anhielt oder ob er sich nach einem nur kurze Zeit währenden, frühen ByronEnthusiasmus von dem englischen Dichter abwandte, ist allerdings nicht nur der mangelnden Unterscheidung zwischen Byronismus und der späten Dichtung Byrons geschuldet, sondern resultiert vor allem aus Heines eigenen, höchst widersprüchlichen Stellungnahmen zu Byron. Diskrepante Aussagen finden sich in Heines Texten und Briefen innerhalb eines äußerst begrenzten Zeitraums, so daß die These einer Entwicklung von Byronbegeisterung zu -ablehnung aufgrund seiner »gereifteren politischen Einsichten« (DHA 6, 762) nur schwer nachvollziehbar ist. Um zu einer genaueren Beurteilung zu gelangen, ist es notwendig, die Hintergründe von Heines Äußerungen zu Byron detaillierter zu beleuchten und das Spannungsfeld des öffentlichen Diskurses und die Dynamik des literarischen Feldes, in dem sie stehen, mit zu berücksichtigen.

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J. F. Slattery, »The German Byron«. In: Renaissance and Modern Studies 32 (1988), S. 96–107, hier S. 105. Vgl. Diakonova, »Heine as an Interpreter of Byron«, S. 64. Bourke, Stilbruch als Stilmittel, S. 228. Diese Meinung vertritt auch Laura Hofrichter in Heinrich Heine. Biographie seiner Dichtung. Göttingen 1966, S. 59. Des weiteren ist diese Ansicht bei Maria-Christina Boerner zu finden, die auf Bourke zurückverweist (Boerner, »Janitscharenmusik der Weltqual«, S. 55).

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2.4.

Anxiety of Influence? Selbstinszenierung und Publikumslenkung

In diesem Kapitel wird die Genese des Vergleichs zwischen Heine und Byron in der Kritik der 1820er Jahre dargestellt. Die Zeitdokumente, die Erinnerungen an Elise von Hohenhausens Berliner Salon, Gespräche, Rezensionen und Briefe umfassen, zeigen zum einen Heines allmähliche Distanzierung von dem zunächst emphatisch begrüßten Vergleich mit Byron und zum anderen seine strategische Selbstinszenierung im öffentlichen Diskurs. Im März 1821 verließ Heine die Göttinger Universität, um nach Berlin zu gehen. Schon im Mai desselben Jahres fand er Zutritt zu den literarischen Salons von Rahel und Karl August Varnhagen von Ense und von Elise von Hohenhausen und machte dort die Bekanntschaft mit so herausragenden Persönlichkeiten wie Alexander von Humboldt, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Hegel, Adelbert von Chamisso, Friedrich de la Motte-Fouqué und Friedrich Schleiermacher.50 Zu diesem Zeitpunkt besaß Heine schon ein gewisses literarisches Selbstvertrauen – in der Bonner und Göttinger Zeit waren eine Anzahl von Gedichten, kleinere Byron-Übersetzungen sowie die Tragödie Almansor entstanden. Dieses Selbstvertrauen verdankte Heine wohl nicht zuletzt seinem freundschaftlichen Umgang mit August Wilhelm Schlegel, bei dem er von Dezember 1819 bis Juni 1820 Vorlesungen in Bonn besuchte. Schlegel, der Heine zu Beginn des Jahres 1820 zu sich eingeladen hatte, besprach mit ihm seine Gedichte und war, wie Heine selbst äußerte, mit ihnen »sehr zufrieden, und über die Originalität derselben fast freudig erstaunt« (HSA 20, 25). Wie anregend dieses Verhältnis auf Heines poetische Produktion wirkte, geht aus einem Brief Heines an seinen Freund Friedrich von Beughem vom 15. Juli 1820 hervor: Auch ich hab mahl (schöner Busen halber) die Musen vernachläßigt. Meine Bestrafung hast Du selbst gesehen, nemlich meine poetische Unfruchtbarkeit von vorigem Winter, die mich in so fern ärgerte, da ich mich auf immer von den Musen verlassen wähnte, und nicht ein mahl ein poetisches Klagelied hierüber zu Stande bringen konnte. Aber der alte Schlegel, der überhaupt mit den Damen umzugehn versteht, hat die zürnenden Schönen wieder mit mir versöhnt; und da er ihrer vielgenossenen Reitze satt ist, oder sie vielleicht nicht mehr selber bespringen kann, so hat er sie mir gütigst zugekuppelt, und allen 9 Schwestern habe ich bereits wieder dicke Bäuche gemacht. (HSA 20, 25)

Auffallend ist die sexuelle Metaphorik, die Koppelung von sexueller und poetischer Potenz und Fruchtbarkeit. Der alte Lehrer wird hoch geschätzt,51 gleichzeitig aber von seinem jungen Schüler beerbt und überflügelt. Da Heines Einstellung zu August Wilhelm Schlegel zu diesem Zeitpunkt von dem doppelten 50 51

Vgl. Fritz Mende, Heinrich Heine. Chronik seines Lebens und Werkes. Berlin 1970, S. 23. Im selben Brief heißt es auch, »Je öfter ich zu ihm komme, desto mehr finde ich welch ein großer Kopf er [A.W. Schlegel] ist« (HSA 20, S. 25).

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Antrieb der Reverenz und Überbietung bestimmt war, scheint die Überlieferung eines Gesprächs Eduard Wedekinds mit Heine glaubwürdig zu sein, die Schlegels Behauptung, daß Byron und vor allem sein Drama Manfred unübersetzbar seien, als Grund für Heines Byron-Übersetzungen ausmacht. Wedekind notiert 1824 in seinem Tagebuch die Unterhaltung mit Heine wie folgt: »Schlegel sagte mir immer, Byron wäre nicht zu übersetzen, darum gab ich mich dran und lag Tag und Nacht darüber mit der größten Anstrengung.« – »Nun, und was sagte Schlegel denn da?« – »Ja, er sagte, es wäre wie Original; das Übersetzen müßte mir aber auch leichter werden, wie jedem andern, weil ich einige Ähnlichkeiten im Charakter hätte mit Byron.«52

Heines Übersetzungsproben von Byrons Texten, die von der zeitgenössischen Kritik einstimmig positiv aufgenommen wurden, eröffneten ihm ein von seinem Lehrer Schlegel nicht besetztes Feld.53 Über Schlegels Anregung hinausreichend gibt es noch andere Hinweise, daß Heine vor allem in seiner Bonner Zeit Byron entdeckte und dessen Werke intensiv rezipierte.54 Ein Bekannter Heines aus Bonn, Friedrich Steinmann, schreibt in seinem Essay »H. Heine. Biographie« von 1828 über seine gemeinsame Zeit mit Heine in Bonn: »Mit besonderer Liebe studirte er Byrons Schriften, und nicht zu leugnen ist es, daß sich zwischen beiden eine geistige Wahlverwandtschaft findet. Das fühlte er damals auch selbst, und erkannte es, sich zu Freunden äußernd, auch oftmals an.«55 Auch zu den äußeren Umständen von Heines Byron-Lektüre erfährt man Näheres in Steinmanns Biographie: Er berichtet, daß Heine sich im Sommer 1820 öfter den Rhein hinauf bis nach Godesberg fahren ließ, »wo er dann, ein Bändchen von Byrons Schriften in der Zwickauer Ausgabe in der Hand, im Kahne ausgestreckt zu ruhen pflegte«.56 Diese Information ist besonders interessant, da sie einerseits ein gewisses Maß an Selbststilisierung bei der Lektüre

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Vgl. Michael Werner (Hrsg.), Begegnungen mit Heine. Berichte der Zeitgenossen 1797–1846. Bd. 1, Hamburg 1973, S. 104. So schreibt beispielsweise der anonyme Rezensent mit der Unterschrift ›Schm‹ am 7. Juni 1822 im Rheinisch-Westfälischen Anzeiger über Heines Byron-Übersetzungen: »Aber durch seine Uebersetzungen aus Byrons Werken nimmt Herr Heine ganz und gar unsere unbeschränkte Achtung und unser höchstes Lob in Anspruch; wir erkennen in ihm den großen Meister, der bis in die tiefsten Tiefen des grammatischen Baues, des eigenthümlichen Wesens, und des geistigen Charakters unserer Sprache eingedrungen ist, und der die Meisterstücke fremder Literaturen mit der Treue eines Spiegels in’s Deutsche zu übertragen versteht.« (Galley/Estermann, Bd. 1, S. 43) Auf die literarisch inspirierende Atmosphäre während Heines Bonner Zeit sowie auf Heines Byron-Übersetzungen geht Christian Liedtke ein in seinem Beitrag: »Schlegel, Byron, Drachenfels. Harry Heine an der Universität Bonn«. In: Ingrid Hennemann Barale/Harald Steinhagen (Hrsg.), Auf den Spuren Heinrich Heines. Pisa 2006, S. 19–39. Liedtke macht die interessante Beobachtung, daß Heines Übersetzungen von Byron die einzigen in seinem Werk geblieben sind. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 325. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 325.

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Byrons erkennen läßt und andererseits einen wertvollen Hinweis auf die von Heine verwendete Ausgabe von Byrons Werken gibt. Galley geht in seinem Kommentar zu dieser Stelle davon aus, daß Steinmann hier eine Verwechslung unterlaufen sein muß, da die Zwickauer Ausgabe aus dem Schumannschen Verlag erst 1825–27, also nach Heines Bonner Zeit erschien.57 Er beachtet dabei jedoch nicht ausreichend, daß ein deutscher Nachdruck der englischen Werkausgabe von Thomas Moore als Zwickauer Ausgabe im Taschenbuchformat schon viel früher erschien: Die Brüder Schumann veröffentlichten The Works of the Right Honourable Lord Byron in ihrer Reihe »Pocket Library of English Classics« von 1818–1827 in zweiunddreißig Bänden.58 Allein aufgrund seiner Byron-Übersetzungen ist es naheliegend davon auszugehen, daß Heine Byron auch in englischer Sprache gelesen hat.59 Wie aufgrund des Hinweises von Steinmann anzunehmen ist, las Heine Byron in der englischen Zwickauer Ausgabe, so daß er bereits 1820 mit den ersten Cantos von Don Juan in Berührung gekommen sein kann. Heine scheint die Vorstellung einer Verbindung zwischen sich und Byron gegenüber seinem Bonner Bekanntenkreis, zu dem auch Jean Baptiste Rousseau und Wilhelm Smet gehörten, selbst forciert zu haben, was etwa in dem

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Vgl. Galley/Estermann, Kommentar zu Bd. 1, S. 62. Tatsächlich erschien die deutsche Übersetzung von Byrons Werken als Zwickauer Ausgabe nicht wie Eberhard Galley annimmt von 1825–1827, sondern von 1821–28. Von den einunddreißig Bänden lagen 1821 – also während Heines Berliner Zeit und seiner noch öffentlichen Byronbegeisterung – bereits sechs Bände von verschiedenen Übersetzern vor. Schon Band II und VI enthielten die ersten beiden Cantos von Don Juan. Die Zwickauer Ausgabe umfaßt nicht nur Übersetzungen von Byrons Dichtungen, sondern auch von seinen theoretischen Schriften und Parlamentsreden (Bd. 28, 1827) sowie die kurz nach Byrons Tod von Thomas Medwin veröffentlichten und in ihrer Authentizität umstrittenen Unterhaltungen Byrons mit Medwin (Bd. 17, 1825). Die Popularität der von Medwin aufgezeichneten Unterhaltungen war enorm und prägte in entscheidender Weise die öffentliche Wahrnehmung Byrons. Allein zwischen 1824 und 1842 erschienen die Gespräche in fünfzehn Auflagen und wurden ins Deutsche, Französische und Italienische übersetzt (vgl. Medwin’s Conversations of Lord Byron. Hrsg. von Ernest Lovell. Princeton 1966, S. VIII). Im Jahr 1820 waren bereits 10 Bände der englischsprachigen Zwickauer Ausgabe erschienen. Sie enthielten: Childe Harold (Canto I–IV), The Giaour, The Bride of Abydos, The Corsair, Lara, Ode to Napoleon Buonaparte, Poems, Hebrew Melodies, The Prisoner of Chillon, Manfred, The Vampire, Mazeppa, Don Juan (Canto I und II). Schon Wilhelm Ochsenbein hat darauf hingewiesen, daß Byrons Werke vor allem durch Nachdrucke der englischen Originalausgabe in deutschen Kreisen Verbreitung fanden (vgl. Ochsenbein, Die Aufnahme Lord Byrons in Deutschland, S. 6). Die Zwickauer Ausgabe zeichnete sich zudem vor allem durch ihr praktisches Format (ca. 5 x 7 cm – also kleiner noch als die heutige Reclamausgabe) und einen niedrigen Kaufpreis aus. Bei Siegbert Salomon Prawer findet sich der Verweis auf die Ausleihkataloge der Düsseldorfer Landesbibliothek, aus denen hervorgehe, daß Heine sich während seiner Schuljahre in Düsseldorf englische Grammatiken sowie Shakespeares Werke im Original entliehen habe. Davon läßt sich auf seine frühe Fähigkeit, englische Texte zu lesen, schließen. Siegbert S. Prawer, Frankenstein’s Island. England and the English in the Writings of Heinrich Heine. Cambridge 1986, S. 5.

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Zitat über die charakterlichen Ähnlichkeiten der beiden Dichter sichtbar wird. Dementsprechend verwundert es nicht, daß eine der ersten Rezensionen von Rousseau zu den im Dezember 1821 von Heine veröffentlichten Gedichten auf die Verbindung zu Byron hinweist: »In Form und Gehalt haben viele dieser Dichtungen große Aehnlichkeit mit denen von Byron«, heißt es dort.60 Ob die Bezeichnung Heines als deutscher Byron von seinen Bonner Freunden oder aus dem Salon der Elise von Hohenhausen stammt, ist jedoch unklar.61 Fest steht allerdings, daß Heine diese Assoziation in einer Zeit des allgemeinen ByronEnthusiasmus Interesse und Aufmerksamkeit verschaffte. In Deutschland verband man die Begeisterung für Byron schon sehr früh mit Elise von Hohenhausen aufgrund ihrer Übertragungen von Byrons Schriften ins Deutsche.62 Im gebildeten Kreis des Berliner Salons der von Hohenhausens fand Heine entsprechend ein erwartungsvolles Publikum für seine ersten Werke. Elise von Hohenhausens Tochter Friederike beschreibt die abendlichen Zusammenkünfte folgendermaßen: Heine las dort sein eben erschienenes »lyrisches Intermezzo«, seinen »Radcliff« und »Almansor« vor. Er mußte sich manche Ausstellung, manchen Tadel gefallen lassen, namentlich erfuhr er häufig eine Persiflage über seine poetische Sentimentalität [...]. Ein Gedicht mit dem Schluß: »Und lautaufweinend stürz’ ich mich zu ihren süßen Füßen« fand eine so lachende Opposition, daß er es nicht zum Druck gelangen ließ.63

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Galley/Estermann, Bd. 1, S. 23. Friederike v. Hohenhausen schreibt 1853 rückblickend über die Zeit, als Heine in ihrem Berliner Salon verkehrte, daß ihre Mutter, Elise v. Hohenhausen, »damals mit ihren Uebersetzungen des gefeierten Briten, Lord Byron, beschäftigt war«. Sie, so heißt es bei Friederike weiter, »proklamirte ihn zuerst als dessen Nachfolger in Deutschland, fand aber viel Widerspruch; bei Heine jedoch sicherte ihr diese Anerkennung eine unvergängliche Dankbarkeit« (Werner, Begegnungen mit Heine, Bd. 1, S. 55). Galley wendet dagegen jedoch kritisch ein, daß Elise von Hohenhausen in ihren Besprechungen von Heines Werken diesen Vergleich im Gegensatz zu vielen anderen nie heranzieht (Galley/Estermann, Kommentar zu Bd. 1, S. 8), Rousseau aber schon 1822 in den Anmerkungen zu seiner Liedsammlung Poesieen von Liebe und Freundschaft von Heine als »unser teutscher Byron« spricht (Galley/ Estermann, Bd. 1, S. 55). Elise von Hohenhausen war eine der ersten, die Byron ins Deutsche übersetzte. Bereits 1818 veröffentlichte sie eine Übersetzung von The Corsair und einigen kleineren Gedichten (Melchior, Heines Verhältnis zu Lord Byron, S. 4). Für die 1828 abgeschlossene deutsche Gesamtausgabe von Byrons Werken im Zwickauer Verlag der Brüder Schumann übersetzte sie das skandalumwitterte Drama Cain, The Prophecy of Dante, The Island und eine Reihe von Gedichten (vgl. Ochsenbein, Die Aufnahme Lord Byrons in Deutschland, S. 10 u. 32f.). In ihrer Begeisterung für Byron schickte sie dem gefeierten englischen Dichter zusammen mit Friedrich Johann Jacobsen eine Einladung nach Holstein, der sie ihre Übersetzung von Medoras Lied aus The Corsair und einige von ihr verfaßte Verse über Byrons Scheidung hinzufügte. Ein Kommentar dazu, der Byrons Verwunderung über diese Einladung nach Deutschland ausdrückt, findet sich in seinem Tagebuch Detached Thoughts vom Oktober 1822: »It was odd enough to receive an invitation to pass the summer in Holstein––while in Italy––from people I never knew.« (BLJ 9, S. 24) Werner, Begegnungen mit Heine, Bd. 1, S. 55.

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Trotz der nicht ganz zutreffenden Aussage über die Veröffentlichung des Gedichts LVI »Allnächtlich im Traume seh’ ich dich«,64 ist die Bemerkung interessant, da sie Heines Sensibilität gegenüber Stimmen der zeitgenössischen Kritik herausstellt. Auch Eberhard Galley betont, daß Heine »von Anfang an [...] durch Kritik und Ablehnung leicht verletzlich« gewesen sei.65 Er verweist darauf, daß manche von Heines »offenen und versteckten Fehden« – wie etwa im Fall Platen und Börne – überhaupt erst verständlich werden, wenn man sie als Gegenreaktion auf die scharfen Angriffe seiner Gegner versteht.66 Wie aus vielen seiner Briefe ersichtlich ist, verfolgte Heine aufmerksam die öffentliche Kritik seiner Werke und erbat nicht selten von seinen Freunden eine positive Rezension von seinen Veröffentlichungen, um seinen Bekanntheitsgrad zu steigern und Anerkennung auf dem umkämpften literarischen Markt zu gewinnen.67 Wie die bereits erwähnte Besprechung von Rousseau zu der im Dezember 1822 veröffentlichten Sammlung Gedichte haben viele der Rezensionen aus dieser Zeit immer wieder den Vergleich Heines mit Byron zum Gegenstand. Dabei lassen sich zwei Gruppen von Kritikern unterscheiden: diejenigen, die Heine als deutschen Byron bezeichnen und solche, die widersprechen und behaupten, man könne Heine nicht mit Byron vergleichen. Exemplarisch für die erste Richtung stehen die Rezensionen von Rousseau (Rheinisches Unterhaltungsblatt 13. Januar 1822), Wilhelm Smet (Colonia 20. März 1822) und dem anonymen Verfasser mit der Zeichnung ›Schm‹ (Rheinisch-Westfälischer Anzeiger 7. Juni 1822).68 Bei Smet heißt es in der Besprechung von Heines Gedichte: Und zuweilen gar steigert sich dieser Schmerz zu jener Trost- und Hoffnungslosigkeit, welche die Muse der Byron’schen Poesieen ist, und nicht selten, was auch bei unserm Verfasser nicht ganz ausbleibt, zu jener Manier verleitet die an scheinbare Sinnenverwirrung gränzt. Vorliegende Sammlung schließt mehrere Stücke in sich, die des größten Meisters solcher Dichtungsart nicht unwürdig sind [...].69

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Vgl. den Kommentar der Düsseldorfer Heine-Ausgabe, der Friederike von Hohenhausens Aussage korrigiert: »Da Int[ermezzo] 56 schon vor der Publikation der Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo gedruckt vorlag, kann die Zeitangabe am Anfang nicht zutreffen. Im übrigen unterdrückte Heine das Gedicht nicht, auch nahm er keine Änderung vor.« (DHA 1/2, S. 843) Galley/Estermann, Bd. 1, S. 13. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 13. Vgl. z.B. den Brief an Ernst Christian August Keller vom 27. April 1822. Heine berichtet seinem Freund von der negativen Kritik vom 18. April 1822 im Conversationsblatt und bittet um eine Gegendarstellung (HSA 20, S. 52). Galley hält es für möglich, daß sich hinter diesem Kürzel Chamisso verbirgt. Als Grund nennt er die »Ähnlichkeiten in den poetologischen Gedanken, persönliche Bekanntschaft mit Heine und seinem Werk«. Zudem sei es nicht ungewöhnlich als »Tarnsigel in der Verfasserangabe die Lautumschrift des Namens zu wählen« (Galley/Estermann, Kommentar zu Bd. 1, S. 14). Galley/Estermann, Bd. 1, S. 29.

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Während Smet die Ähnlichkeit zwischen Heines und Byrons Dichtung bestätigt, die er durchaus kritisch als »Manier« und »Sinnenverwirrung« bewertet, vergleicht der mit ›Schm‹ unterzeichnende Verfasser die beiden Dichter über die Nähe ihrer charakterlichen Dispositionen: Man hat noch außerdem zwischen Herrn H. und dem sehr edeln Lord eine geheime Verwandtschaft bemerkt. Es ist etwas Wahres an dieser Bemerkung. Die geistigen Phisionomien beider sind sich sehr ähnlich; wir finden darin dieselbe Urschönheit, aber auch denselben Hochmuth und Höllenschmerz.70

Es sind die ähnlichen »geistigen Phisionomien« des stolzen Leidens, die der anonyme Rezensent als Verbindung zwischen Heine und Byron sieht. »Hochmuth und Höllenschmerz« verweisen auf den satanischen Typus des Byronic Hero – den gegen die Ordnung rebellierenden, gefallenen Engel.71 Noch deutlicher wird ›Schm‹ an anderer Stelle: In Heine’s Gedichten erblicken wir das unheimliche Bild jenes Engels, der von der Gottheit abfiel. Wir sehen hier: edle Schönheit, die verzerrt wird durch ein kaltes Hohnlächeln, gebietende Hoheit, die übergeht in trotzigen Hochmuth, und kolossalischer Schmerz, der sich anfangs windig gebährdet, und endlich versteinert in trostloser Zerknirschung. H’s Liebe ist nicht ein seliges Hingeben, sondern ein unseliges Verlangen, seine Glut ist ein Höllenfeuer, – sein Amor hat einen Pferdefuß.72

Zwar stammt die Charakterisierung von Heines Gedichten mit satanischen Zügen aus dem Vergleich mit dem rebellischen Helden aus Byrons Texten. Die Entwicklung des Bildes aber vom stolzen gefallenen Engel, der an John Miltons Darstellung des Satan in Paradise Lost erinnert, hin zum »Pferdefuß« deutet als latent antisemitisches Stereotyp bereits exemplarisch die Tendenz an, in der sich die negative Kritik von Heines Werken weiter entwickelte. Die Gegenreaktionen, die Heines literarische und persönliche Nähe zu Byron abstritten, ließen nicht lange auf sich warten. Innerhalb dieser Gruppe von Rezensionen können wiederum zwei Tendenzen beobachtet werden: Während die einen den Vergleich Heines mit Byron im negativen Sinne mit der Begründung ablehnten, daß Heine nicht an Byron heranreichen könne, betonten die anderen im positiven Sinne, daß Heine kein bloßer Nachahmer sei.

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Galley/Estermann, Bd. 1, S. 40. Byron wurde immer wieder eine a-religiöse Haltung zum Vorwurf gemacht, die Kritiker in dem Heldentypus der Oriental Tales oder dem faustisch aufbegehrenden Protagonisten Manfred aus dem gleichnamigen Drama verkörpert sahen. 1821, also genau zu jener Zeit, als sich Heine als deutscher Byron feiern ließ, erreichten die Vorwürfe gegen Byron in England ihren Höhepunkt mit dem Skandal um das Drama Cain. Robert Southey bezeichnete u.a. daraufhin Byron als Hauptvertreter einer »Satanic School«. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 38.

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Erstaunlicherweise kommt eine der ersten negativen Reaktionen aus dem Hause Hohenhausen. Elises Mann Leopold v. Hohenhausen bezieht sich explizit auf Rousseaus Besprechung von Heines Gedichten, die ihm zu lobend ausfiel. Rousseaus abschließender Dank an den Verfasser der Gedichte, »daß er uns so Herrliches und Vortreffliches geliefert hat«73 empfindet Hohenhausen als »Posaunenlob«, das keine Steigerung für die Würdigung von Goethe und Schiller übriglasse.74 Dementsprechend findet er auch den Vergleich mit Byron zu hoch gegriffen: [A]uch mit dem Britten Byron vergleicht er [Rousseau] seinen Schützling, mit diesem reichbelaubten Baum eines fremden Himmelsstrichs, der wie der berühmte und berüchtigte Giftbaum Boa-Upas in einer Schönheit prangt, die aus unterirdischen Gluthen erzeugt ward. – Ein zarter Sprößling müßte sterben auf immer in dieser Atmosphäre.75

Das Empfinden der Unangemessenheit des Vergleichs zwischen dem genialischen Byron und dem ›Göttinger Studenten‹76 kommt auch in der Rezension von Karl Köchy vom 18. April 1822 zum Ausdruck. Bei ihm heißt es: Diese Gedichte verrathen eine trübsinnige und verkehrte Ansicht des Lebens, die am wenigsten dem jungen empfänglichen Gemüthe wohl ansteht. Ich finde fast überall Spuren schädlicher Einwirkungen von größeren Geistern aus, die sich nicht mit ihrer Melancholie begnügen, und außer ihr noch Etwas besitzen, das man sich nicht aneignen kann. Der Vf. scheint sich besonders zu Byron hingeneigt zu haben [...]. Ich glaube nichts ist einem mäßigen Talent gefährlicher, als einer fremden Genialität nachzueifern.77

Daß Heine diese Beurteilung besonders getroffen hat, geht aus einem Brief an Ernst Christian August Keller vom 27. April 1822 hervor. Er beklagt sich bei seinem Freund, daß seine »armen unschuldigen Gedichte mit grimmiger rencune ausgehunzt« worden seien und wünscht, daß sich der ihm zu diesem Zeitpunkt noch unbekannte Verfasser »auf eine wirkliche Beurtheilung meiner Gedichte einlassen möge« (HSA 20, 51f.).

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Galley/Estermann, Bd. 1, S. 24. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 28. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 28. Das Verhältnis zwischen Heine und Leopold von Hohenhausen war von Spannungen geprägt. Heine bezeichnet ihn mehrmals in Briefen als ›Ochs‹ nach dem Mädchennamen seiner Frau Elise: »Der Ochs befindet sich gesund und wohl, stößt noch hie und da mit den Hörnern; aber wo man einen Hörnerstoß bekömmt weiß man gleich daß er vom Ochsen herrührt. Ich habe gar nichts gegen seine Hörner, und möchte ihm sogar von letztern noch ein Paar extra aufsetzen.« (HSA 20, S. 52; Brief an Keller vom 27. April 1822) Heine bezieht sich hier zunächst mit dem Bild der Hörner auf die Kritik von Leopold von Hohenhausen, um sie dann in eine sexuelle Anspielung zu wenden. So soll Goethe Heine nach dessen Besuch bei ihm in Weimar jovial bezeichnet haben. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 31.

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Dagegen gibt es aber auch Stimmen, die Heines Originalität betonen und deswegen den Vergleich mit Byron ablehnen.78 Repräsentativ für diese Position ist die Rezension Karl Immermanns vom 31. Mai 1822, die von Heines Verleger Schulz in Auftrag gegeben worden war.79 Schulz bat Immermann, die anonyme Rezension von ›Schm‹, die er kurz zuvor aus Berlin erhalten hatte und die ihm zu lobend erschien, zurechtzurücken.80 Aus Immermanns Besprechung der Gedichte wurde eine Verteidigung der Position des modernen Dichters und dessen »Bewußtseyn eines tiefern Zwiespaltes«, den er in der »kraftvolle[n] Natur« Heines erkannte.81 Mit den Werken Byrons verbinde Heine nur eine »[o]berflächliche Aehnlichkeit«.82 Heine zeigte sich von dieser Rezension stark beeindruckt. Am 15. Juni 1822 schreibt er an Keller: »Die Rezension von Immermann hat mich fast zu Thränen gerührt. Ich stutze würklich daß man mich in Münster am tiefsten begriffen.« (HSA 20, 55) Der Vergleich mit Byron, der Heine in Berlin Aufmerksamkeit verschaffte, kam dem jungen, weitgehend unbekannten Dichter zunächst sicherlich entgegen. Es ist schwer zu beurteilen, ob die Byronsche Pose bewußtes Kalkül war, um von Byrons Berühmtheit zu profitieren – auch dies war ein Vorwurf von Heines Kritikern. An den zitierten Rezensionen kann man jedoch sehen, daß die Verbindung mit Byron sich für Heine zunehmend nachteilig auswirkte, da die Gegenüberstellung der beiden Dichter meist zu Ungunsten Heines ausfiel. Nur wenige würdigten Heines Leistung wie Immermann in seiner Rezension. Heine ging es zunehmend darum, nicht länger als »pocket-Byron« zu gelten; vielmehr war er bemüht, eine eigene poetische Sprache und dichterische Identität zu finden und zu etablieren.83 Heine selbst reagierte sowohl öffentlich in verschiedenen seiner Reisebilder als auch in seinen privaten Briefen auf die wiederholten Vergleiche zwischen Byron und ihm. Die auffällig häufigen, teils ironischen Kommentare zu Byron in verschiedenen Reisebildern spiegeln einerseits kritisch das modische Tagesinteresse an Byron, legen aber auch die Vermutung nahe, daß Heine öffentlich Distanz signalisieren wollte.84

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Vgl. auch Ignaz Lautenbachers Besprechung der Gedichtsammlung Buch der Lieder vom 29. Juli 1818 im Morgenblatt für gebildete Stände. Er betont, wie unterschiedlich die beiden Dichter in fast jeder Hinsicht seien – vor allem, daß Heine kein Nachahmer Byrons sei. Byron ist für den Verfasser ein »ausgebrannter öder Hekla« – Heine ein »Vesuv, der außer dem öden Krater noch zwey Regionen von frischen duftigen Wiesenmatten, grünenden Wäldern und freundlichen Gärten hat« (Galley/Estermann, Bd. 1, S. 342). Vgl. Galley/Estermann, Kommentar zu Bd. 1, S. 13. Vgl. Galley/Estermann, Kommentar zu Bd. 1, S. 13. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 36. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 36. Prawer, Frankenstein’s Island, S. 33. Die Verweise auf Byron finden sich vor allem in der Harzreise, in Nordsee III und in Die Bäder von Lukka. Inwiefern die Aussagen über Byron ambivalent verstanden werden können, wird im folgenden Kapitel genauer untersucht.

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Erneute Äußerungen über Byron in Briefen an Freunde im Mai und Juni 1824, in denen er sich auf den Tod des englischen Dichters in Griechenland bezieht, verdeutlichen besonders eindringlich Heines selbstinszenatorische Strategie. Zu Rudolf Christiani bemerkt er am 24. Mai 1824: »Während ich dieses schreibe erfahre ich, daß mein Vetter, Lord Byron, zu Missolungi gestorben ist« (HSA 20, 163), und gegenüber Friederike und Ludwig Robert am 27. Mai 1824 heißt es in fast paralleler Formulierung: »der Todesfall meines Vetters zu Missolunghi hat mich tief betrübt« (HSA 20, 166). Es ist auffällig, daß Heine in zwei verschiedenen Briefen das gleiche Wort »Vetter« gebraucht, um auf Byron Bezug zu nehmen. Heine geht es nicht nur darum, »seine geistige Verwandtschaft mit Byron anzudeuten«,85 wie es im Kommentar zu den Briefen heißt, sondern darum seine Gleichwertigkeit gegenüber Byron zu betonen. Die Wortwahl macht deutlich, daß Heine sich Byron nicht unterlegen sieht; insofern widerspricht Heine dem Abhängigkeitsverhältnis im Sinne der Nachahmung, die von den Rezensionen oft kritisiert wurde. Der Brief an Moses Moser vom 25. Juni 1824, also ca. vier Wochen später, illustriert diese Strategie noch anschaulicher. In einer längeren Passage erläutert Heine seinem Freund Moser sein Verhältnis zu Byron: Der Todesfall Byrons hat mich übrigens sehr bewegt. Es war der einzige Mensch mit dem ich mich verwandt fühlte, und wir mögen uns wohl in manchen Dingen geglichen haben; scherze nur darüber soviel Du willst. Ich las ihn selten seit einigen Jahren; man geht lieber um mit Menschen deren Charakter von dem unsrigen verschieden ist. Ich bin aber mit Byron immer behaglich umgegangen wie mit einem völlig gleichen Spießkameraden. Mit Shakespear kann ich gar nicht behaglich umgehen, ich fühle nur zu sehr daß ich nicht seines Gleichen bin, er ist der allgewaltige Minister und ich bin ein bloßer Hofrath, und es ist mir als ob er mich jeden Augenblick absetzen könnte. (HSA 20, 170)

Die Feststellung Heines, daß er Byron »selten seit einigen Jahren« gelesen habe, wurde vielfach als Hinweis gewertet auf sein nachlassendes Interesse an Byron und seine Abkehr vom Byronismus. Sie gilt in der Forschung ebenso als Indiz dafür, daß Heine Byrons Spätwerk – Don Juan entstand zwischen 1818 und 1824 – nicht zur Kenntnis nahm.86 Zu wenig wird in dieser These allerdings berücksichtigt, daß Briefe an spezielle Adressaten gerichtete diskursive Konstrukte darstellen. Insofern repräsentieren briefliche Aussagen nicht uneingeschränkt die ›autorisierten‹ Meinungen ihres Verfassers. Heine verfolgt in diesem Briefabschnitt an Moser einen klaren Zweck. Er erinnert Moser an sein

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HSA, Kommentar zu Bd. 20, S. 101. So z.B. Bourke, Stilbruch als Stilmittel: »[I]n dem kurz darauf verfaßten Brief an Moses Moser enthüllt er, daß er Byron seit einigen Jahren selten gelesen hätte, was vermuten läßt, daß er wenigstens bis zu dem Zeitpunkt Don Juan nicht kannte«, S. 228. Vgl. dazu auch Ochsenbein, Die Aufnahme Lord Byrons in Deutschland, S.119 u. 127.

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Versprechen, im Morgenblatt für gebildete Stände eine Rezension über Heines Lyrik zu veröffentlichen. Gleichgültig ist es mir, höchstgleichgültig ob meine Poesien dem großen und dem kleinen Haufen gefallen. Nicht gleichgültig ist es mir aber in diesem Augenblick was man davon schreibt, und ich darf Dir Dein Versprechen in Hinsicht des Morgenblattes durchaus nicht erlassen. Robert besorgt gern den Aufsatz. Byron ist jetzt todt und ein Wort über ihn ist jetzt passend. Vergiß es nicht; Du thust mir einen sehr großen Gefallen; es ist auch das einzige belletristische Blatt, das hier gelesen wird. (HSA 20, S. 169f.)

Es ist Heine sowohl daran gelegen, eine positive Besprechung seiner Gedichte von Moser zu erhalten als auch gleichzeitig am öffentlichen Interesse an Byron, das infolge seines Todes im griechischen Freiheitskampf erneut auflebte, im Hinblick auf die eigene Dichtung zu partizipieren. Heine versucht, Moser eindrücklich klar zu machen, daß er sich als Geistesverwandten, als »Spießkameraden« Byrons sieht und nicht als seinen Nachahmer. Um dies zu unterstreichen fügt er den Vergleich mit Shakespeare hinzu, der nicht »seines Gleichen« ist, und betont, daß er Byron gegenwärtig nicht mehr lese – und insofern auch kein direkter Einfluß auf seine Dichtung vorhanden sein könne. Die ausgewählten Rezensionen und Briefe sollten den öffentlichen Diskurs darstellen und verdeutlichen, daß Heine ganz bewußt versuchte, durch seine Aussagen über Byron den literarischen Markt zu steuern. In diesem Zusammenhang können auch Michael Werners Beobachtungen zu Heines »Imagepflege« herangezogen werden.87 Aufschlußreich ist seine Beschreibung von Heines Verhältnis zur Öffentlichkeit: Heine besaß ein merkwürdig gebrochenes Verhältnis zur Öffentlichkeit. Zwar war er, wie seine Zeitgenossen übereinstimmend versichern, in hohem Grade empfänglich dafür, daß und wie von ihm in der Öffentlichkeit gesprochen wurde; doch versuchte er auf der anderen Seite, sein Privatleben vor dem Publikum zu verbergen. Diese bewußte Trennung von Öffentlichkeit und privater Sphäre hatte eine spezifische Aktivität Heines zur Folge, die man mit einem modernen Begriff seine Öffentlichkeitsarbeit nennen kann.88

Werner beantwortet die Frage, »aus welchem Grund Heine die biographische Berichterstattung der zeitgenössischen Presse über sich selbst dirigierte oder zu dirigieren versuchte«, mit der starken Expansion des Literaturmarktes.89 Denn freies Schriftstellertum, so Werner, bedeute eben nicht nur Emanzipa87

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Michael Werner, »Imagepflege. Heines Presselenkung zur Propagierung seines Persönlichkeitsbildes«. In: Wolfgang Kuttenkeuler (Hrsg.), Artistik und Engagement. Stuttgart 1977, S. 267–283. Werner, »Imagepflege«, S. 267. Siehe auch Galley/Estermann, S. 12. Galley begründet Heines Bemühungen um eine »gute Presse« und sein Interesse für die öffentlichen Kritiken mit der schwierigen Situation Heines, die er als »außerhalb der Gesellschaft stehender junger jüdischer Schriftsteller« innehatte. Werner, »Imagepflege«, S. 267.

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tion vom Mäzenatentum, sondern gleichzeitig eine neue Abhängigkeit von Verkaufszahlen und damit von der öffentlichen Meinung, was eine zunehmende Konkurrenz der Schriftsteller untereinander erzeuge.90 Werners wichtige Ausführungen zu Heines Versuchen der »Presselenkung« lassen sich auf seine Stellungnahmen zu Byron übertragen.91 Allerdings muß ergänzt werden, daß er dabei nicht nur die öffentliche Meinung zu steuern versuchte, sondern daß sich Heine auch in dem privaten Medium des Briefes bewußt selbst inszeniert und strategisch positioniert. Eine der Rezensionen, die Heine besonders beschäftigte, erschien 1825 anonym in der Juli-, August- und September-Ausgabe der Wiener Jahrbücher der Literatur. Er nimmt wiederholt in seinen Briefen auf sie Bezug.92 Die vermutlich von Willibald Alexis stammende Rezension zu Heines Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo fällt in zweierlei Hinsicht auf.93 Zum einen geht der Autor so weit zu behaupten, daß Heines ›Zerrissenheit‹ Mittel ist, um sich von der Byronmode emportragen zu lassen. Er schreibt: Wir sahen Byron, wir sahen, wie die Zerrissenheit seines Inneren sich Luft machte in der Poesie, wir sahen auch, wie diese Zerrissenheit, diese hohle Klage des Jammers eine halbe Welt entzückte. Was Wunder also, wenn dieß lockte, eben so aufzutreten, und auf neue Art, [...] den Beyfall durch das Mitleid zu erzwingen? 94

Zum anderen klingen bei Alexis im Kontext der Besprechung von Heines Tragödie Almansor zum ersten Mal Hinweise auf Heines Glaubenszugehörigkeit an, ironischerweise in zeitlich unmittelbarer Nähe zu seinem Übertritt zum Christentum im Juni desselben Jahres. Alexis schreibt: »So viel wir wissen, bekennt sich Hr. Heine nicht zum christlichen Glauben.«95 Aus einem Brief an Moses Moser vom 19. Dezember 1825 geht hervor, wie Heine besonders diese Bemerkung getroffen hat: Heute morgen hab ich das neue July-August-September-Heft der Wiener Jahrbücher gelesen, mit innerem Mißbehagen. Es steht nemlich eine Rezension darin mehr über mich als über meine Tragödien [...]. Ich sehe noch schlimmeren Ausfällen entgegen. Daß man den Dichter herunterreißt kann mich wenig rühren; daß man aber auf meine Privatverhältnisse so derbe anspielt oder besser gesagt, anprügelt, das ist mir sehr verdrießlich. (HSA 20, 229) 96 90 91 92 93 94 95 96

Vgl. Werner, »Imagepflege«, S. 268f. Vgl. auch Höhns Ausführungen zum literarischen Markt im Heine-Handbuch, S. 18–20. Werner, »Imagepflege«, S. 270. An Moses Moser vom 19. Dezember 1825 und vom 9. Januar 1826, an Karl August Varnhagen von Ense vom 14. Mai 1826 und an Joseph Lehmann vom 26. Mai 1826. Galley kommentiert, daß der Verfasser der Rezension höchstwahrscheinlich Willibald Alexis ist (Galley/ Estermann, Kommentar zu Bd. 1, S. 35). Galley/Estermann, Bd. 1, S. 179. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 198. Siehe auch den Brief vom 9. Januar 1826 ebenfalls an Moser: »Auch such zu erfahren, wer darin die Rezension über mich geschrieben. Ist es nicht närrisch, kaum bin ich getauft so

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Weitere Rezensionen mit antisemitischer Tendenz folgen dann ab 1828 im Kontext der katholischen, antiliberalen Kampfzeitschrift Eos um Joseph Görres.97 In Menzels 1836 erschienener zweiter Auflage von Die deutsche Literatur wird der Vergleich zwischen Byron und Heine dann endgültig antisemitisch gewendet: Wenn er [Heine] dabei an Lord Byron dachte, und dessen Schmerz affectirte, so war er doch viel zu frivol von Natur, um dem großen Britten ernstlich zu gleichen. Er kokettirte mit heißem Schmerz über die Leiden der Völker, mit traumhafter verliebter Zerstreuung, mit genialen Debauchen, mit Wollüstelei, mit antichristlicher Freigeisterei, aber er kokettirte nur damit. Der tiefe Ernst Byrons fehlte ihm gänzlich, und vor allem Byrons Noblesse. Denn schon in seinen ersten Herzensergießungen fiel sein Jüdeln auf, seine Prahlerei weniger mit der Gunst der Schönen, als mit dem Golde, das er dafür auszugeben in Prosa und in Versen versicherte, und die wiederholte Affectation, in Christo nur einen gemeinen Juden und in der heiligen Maria eine schöne Jüdin sehen zu wollen, die er, die Hände in den Hosen, aufs unanständigste beliebäugelte.98

Die angeführten Beispiele können eindringlich demonstrieren, wie wichtig für Heine eine neue strategische Positionierung im literarischen Feld war, um den ins Negative gekehrten, zunehmend antisemitischen Vergleich mit dem ›noblen‹ Schriftsteller Byron zu beenden. Im folgenden soll das Konzept des literarischen Feldes, wie es der französische Soziologe Pierre Bourdieu in seinen Untersuchungen darstellt, kurz skizziert werden, um vor diesem Hintergrund Heines ›Imagepflege‹ zu präzisieren. Das literarische Feld mit seinen ökonomischen Faktoren war bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts vollständig ausgebildet und bestimmte, so die im folgenden ausgeführte These, Heines Selbstinszenierungen als Autor und seine Beziehung zu Byron in den öffentlichen Stellungnahmen. 2.5.

Das literarische Feld (Pierre Bourdieu)

Wie das letzte Kapitel mit der ausführlichen Darstellung der zeitgenössischen Kritik zeigen konnte, ist Heines öffentliche Byron-Rezeption zum Teil von einer Form der Anxiety of Influence bestimmt, wie sie Harold Bloom in seiner gleichnamigen Untersuchung beschreibt.99 Zugleich ist das Verhältnis von Heine zu Byron aber komplexer und von den Gesetzen des literarischen

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werde ich als Jude verschrieen. Aber ich sage Dir, nichts als Widerwärtigkeiten seitdem« (HSA 20, S. 235). Vgl. Galley/Estermann, Kommentar zu Bd. 1, S. 64. Zitiert nach: Heinrich Heine, Sämtliche Schriften. 6 Bde. Hrsg. von Klaus Briegleb. 2. Aufl. München 1995. Bd. 6/II, S. 418f. Vgl. auch Bourke, Stilbruch als Stilmittel, S. 220f. zu weiteren antisemitischen Ausfällen in Heine-Rezensionen, die den direkten Vergleich mit Byron wählen. Vgl. Harold Bloom, The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. New York, Oxford 1973.

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Marktes und der Leseöffentlichkeit bestimmt. Blooms psychoanalytische Literaturtheorie geht von der These eines Machtkampfes der Dichter untereinander aus, bei dem sich der jüngere Autor von Vorläuferfiguren ebenso wie von geistigen Mentoren in einem Prozeß der Destruktion des paralysierenden Über-Ichs befreit.100 Zwar begreift Bloom den poetischen Text innerhalb eines intertextuellen Feldes, in dem es darum geht, sich zu behaupten und von dem übermächtigen Einfluß der Vorgänger zu lösen, um Originalität zu erreichen. Der psychoanalytische Ansatz Blooms, der sich stark auf die ödipale Situation von ›Vater‹ und ›Sohn‹ konzentriert, trifft sicher auf einige Aspekte von Heines literarischen Beziehungen zu. Heine selbst bemerkt über literarische Vorgänger und ihre Nachfolger in der einleitenden Bemerkung zu Der Doktor Faust: »In der Literatur wie im Leben hat jeder Sohn einen Vater, den er aber freylich nicht immer kennt, oder den er gar verläugnen möchte« (DHA 9, 81) – eine Diagnose, die sich konkret auf den von ihm adaptierten Fauststoff bezieht, aber etwa auch sein Verhältnis zu August Wilhelm Schlegel, dem Bonner Mentor, charakterisiert.101 Eine Lesart, die sich allein auf psychologische Beziehungskonstellationen stützt, wäre jedoch zu eindimensional – statt dessen müssen weitere externe Faktoren beim Rezeptionsprozeß beachtet werden. Blooms Versuch, den literarischen Wandel psychoanalytisch als Prozeß einer Auseinandersetzung zwischen einzelnen Autoren, den sogenannten strong poets,102 zu beschreiben, berücksichtigt weder soziale, ökonomische, kulturelle und mediale noch innerliterarische Faktoren in ausreichender Weise.103 Statt als »Duell zwischen isolierten Genies«104 betrachtet Pierre Bourdieu – im Gegensatz zu Bloom – das »literarische Feld« als Ganzes, das er wiederum zugleich im ökonomischen Feld und in einem Feld der Macht verortet.105 Die Dynamik und den Wandel des literarischen Feldes, dessen

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Bloom versucht diesen Vorgang in sechs verschiedenen ›revisionistischen‹ Bewegungen zu beschreiben, die er als »Clinamen«, »Tessera«, »Kenosis«, »Daemonization«, »Askesis« und »Apophrades« bezeichnet (Anxiety of Influence, S. 14f.). Vgl. dazu den oben zitierten Brief an Friedrich von Beughem vom 15. Juli 1820, in dem Heine auf seine Rolle als Nachfolger und Erbe der früheren Potenz August Wilhelm Schlegels hinweist. Heines Entwicklung von der Bewunderung des einstigen Mentors bis zu seinen späteren karikaturistischen Angriffen wie etwa in Die romantische Schule (vgl. z.B. DHA 8/1, S. 176f.) kann als ›revisionistische Bewegung‹ im Sinne Blooms beschrieben werden. In der Beschreibung der Auseinandersetzung des jüngeren Autoren mit seinem Vorgänger spricht Bloom vom Lebenszyklus des ›starken Dichters‹ – und verwendet eine Sprache, die sozialdarwinistische Züge trägt. In der Einleitung betont Bloom etwa: »My concern is only with strong poets, major figures with the persistence to wrestle with their strong precursors, even to the death.« (Bloom, Anxiety of Influence, S. 5) Vgl. hierzu Peter V. Zima, Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik. Tübingen, Basel 1994, besonders das Kapitel »Harold Bloom: influence und misreading«, S. 175–193; zur Kritik an Bloom v.a. S. 191–193. Zima, Dekonstruktion, S. 193. Vgl. Pierre Bourdieu, »Das literarische Feld. Die drei Vorgehensweisen«. In: Louis Pinto/ Franz Schultheis (Hrsg.), Streifzüge durch das literarische Feld. Texte von Pierre Bourdieu,

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Struktur der »permanente[n] Revolution« im fortschreitenden Autonomisierungsprozeß stetig zunimmt, führt Bourdieu auf den »Gegensatz von Positionsinhabern und entsprechenden Anwärtern« zurück:106 Es ist der Kampf zwischen Inhabern und Anwärtern, der die Geschichte des Feldes (aus)macht: das Altern von Autoren, Schulen oder Werken ist Ergebnis der Schlacht zwischen jenen, die Epoche gemacht haben und um Dauer kämpfen, und jenen, die ihrerseits keine Epoche machen können, ohne diejenigen in die Vergangenheit zu verweisen, die Interesse am Anhalten der Zeit, am Verteidigen und Bewahren haben. Epoche machen heißt, sein Erkennungszeichen durchzusetzen, seinen Unterschied erkennbar und anerkennen zu machen, und jenseits der bereits besetzten Stellungen eine neue Stellung zu Bestand zu bringen.107

Das Streben nach Differenz, das heißt vor allem auch nach Originalität, ist Bourdieu zufolge Voraussetzung, um Epoche machen zu können. Deshalb geht der Anstoß für einen Wandel im literarischen Feld »gleichsam per definitionem von den Neulingen aus«, das heißt den Jüngsten, denselben, denen es auch am stärksten an spezifischem Kapital fehlt und die in einem Universum – in dem ›sein‹ so viel ist wie ›sich unterscheiden‹, das heißt eine distinkte und distinguierende Position einnehmen – nur insoweit überhaupt existieren, als sie, ohne es eigens wollen zu müssen, dahin gelangen, über die Durchsetzung neuer Denk- und Ausdrucksweisen, die mit den geltenden Gewohnheiten brechen [...], ihre Identität, das heißt ihre Differenz, zu behaupten, ihr Bekanntheit und Anerkennung zu verschaffen (›sich einen Namen machen‹).108

Bourdieu erklärt die Kämpfe im literarischen Feld, die nach seiner Ansicht die literarische Evolution vorantreiben, mit dem fortschreitenden »Autonomisierungsprozeß des Feldes«.109 Bourdieu unterscheidet zwischen Erfolg und Anerkennung nach dem Prinzip der externen und internen Hierarchisierung, d.h. zwischen »dem Maßstab des weltlichen, an den Zeichen des Geschäftsgangs (wie etwa Buchauflagen, Zahl der Vorstellungen von Theaterstücken etc.) oder gesellschaftlicher Bekanntheit (wie Auszeichnungen, Ämter etc.) meßbaren Erfolges« einerseits und der feldspezifischen Anerkennung, die solche Künstler begünstigt, »die ihr Ansehen der Tatsache verdanken, daß sie keine Zugeständnisse an die Wünsche des großen Publikums machen«, ande-

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Christophe Charle, Mouloud Mammeri, Jean-Michel Péru, Michael Pollak, Anne-Marie Thiesse. Konstanz 1997, S. 33–147. Zum Verhältnis zwischen dem Feld der Macht und dem literarischen Feld siehe S. 36–45. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes (aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer). Frankfurt a.M. 2001, S. 206. Vgl. besonders das Kapitel »Struktur und Wandel: interne Kämpfe und permanente Revolution«, S. 379–384. Bourdieu, »Das literarische Feld«, S. 88. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 379. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 380.

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rerseits.110 Da der literarische Erfolg im Sinne des Bourdieuschen »äußeren Hierarchisierungsprinzips« wesentlich davon bestimmt ist, sich zu unterscheiden, stehen Vergleiche mit anderen Schriftstellern, die zu einer Identifikation führen, in deren Folge der Eigenname ausgelöscht wird (Heine firmiert als ›der deutsche Byron‹), langfristig dem Versuch, sich »Anerkennung zu verschaffen«, entgegen.111 Durch den dominanten Vergleich des jungen Autors mit einem bereits etablierten Schriftsteller wird dem ›Neuling‹ Originalität, die im Zuge der Autonomisierung der Kunst zu einem der wesentlichen Qualitätskriterien des äußeren als auch des »interne[n] Hierarchisierungsprinzip[s]« avancierte, indirekt abgesprochen.112 Wenn also seit dem Beginn der ästhetischen Moderne das ›Sein‹ des Autors zunehmend in »Kundgebungen der Differenz« besteht, kann Heine, solange er mit Byron verglichen wird, keine charakteristische Identität erlangen – er ist der ›deutsche Byron‹, der sich keinen eigenen Namen macht.113 Bei der Übertragung von Bourdieus Beobachtungen zu den Differenzbemühungen der Autoren im literarischen Feld auf Heines Byron-Rezeption läßt sich festhalten, daß Heine sich von der Assoziation mit Byron lösen mußte, um Originalität zu erlangen, die zu den wichtigsten Erfolgskriterien auf dem umkämpften literarischen Markt zählt. In der Forschung wurden Heines Aussagen allerdings nicht als strategische Positionierungen, sondern als Ausdruck seiner persönlichen Entwicklung verstanden. Exemplarisch zeigen dies zwei Untersuchungen, und zwar die am Anfang des 20. Jahrhunderts entstandene Studie von Wilhelm Ochsenbein sowie der Essay von Frank Erik Pointner und Achim Geisenhanslüke, der fast genau hundert Jahre später einen Überblick über Byrons Rezeption in Deutschland gibt. Ochsenbein zieht aus der Analyse von Heines Bemerkungen in seinem Kapitel »Heines persönliche Auffassung von Byron in verschiedenen Lebensaltern« über Byron den Schluß, daß sich die frühe Begeisterung für Byron in Ablehnung und Kritik verwandelt habe.114 Insofern faßt er die Entwicklung von Heines Urteil über Byron so zusammen: In anbetracht der Bedeutung, welche einzelne Beurteiler den Beziehungen zwischen Heine und Byron beilegen, muss uns auffallen, wie verhältnismässig spärlich Heine selbst sich über den englischen Dichter und sein Verhältnis zu ihm ausgesprochen hat. Zugleich hat die zusammenhängende Betrachtung seiner [Heines, A.B.] Urteile deutlich gezeigt, wie seine anfängliche Begeisterung allmählich in Abneigung und schliesslich in vollendete Gleichgültigkeit überging. So erklärt es sich, dass er in der Zeit seiner ausgiebigen kritischen und geistesgeschichtlichen

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Bourdieu, »Das literarische Feld«, S. 39. Bourdieu, »Das literarische Feld«, S. 39. Bourdieu, »Das literarische Feld«, S. 39; vgl. auch Die Regeln der Kunst, S. 345. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 380. Ochsenbein, Die Aufnahme Lord Byrons in Deutschland, S. 114–127.

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Schriftstellerei nur wenige und ablehnende Worte für Byron übrig hat. Den Einfluss des grossen Modedichters haben wir in seinen Jugenddichtungen aufzusuchen.115

Weil Ochsenbein das Verhältnis Heines zu Byron als eine lineare Entwicklung von früher Begeisterung hin zu späterer Abneigung versteht, ist es naheliegend den Einfluß Byrons nur in Heines Jugenddichtungen zu sehen und den Vergleich auf die Aspekte des Weltschmerzes und der Zerrissenheit zu beschränken. Pointner und Geisenhanslüke bemerken noch jüngst in ihrer Untersuchung zur Rezeption Byrons in Deutschland, daß Heine keine lebenslange Begeisterung für Byron empfand. Sie beobachten zwar en passant in einer Fußnote, daß es Gründe gebe, einen Einfluß des satirisch-ironischen Tons der späten Texte von Byron auf Heine zu vermuten: »there is reason to believe that the biting mockery and sarcasm of the later Heine, the poet of Winterreise, is indebted to the spirit of Byron’s D[on]J[uan] and Beppo« – eine weitere Erläuterung erfolgt jedoch nicht.116 Statt dessen stimmen die Verfasser generell dem soeben referierten Fazit von Ochsenbeins Untersuchung zu. Die Beurteilung von Heines marktstrategischen Abgrenzungsbemühungen hat in der Forschung die Wahrnehmung von Heines Verhältnis zu Byron über ein Jahrhundert entscheidend geprägt. Sie trägt auch heute noch maßgeblich dazu bei, daß in der weitgehend rezeptions- und einflußgeschichtlich orientierten Forschung zu den beiden Autoren die jeweiligen Aspekte des melancholischen Weltschmerzes und der modischen Zerrissenheit des Subjekts aus ihren frühen Texte besonders hervorgehoben werden. Die starke Affinität ihrer späteren Poetik, die von einem vielschichtigen Verhältnis zur Romantik und der kritischen Auseinandersetzung mit ihr ebenso wie von einer Politisierung des Ästhetischen geprägt ist, wird hingegen kaum berücksichtigt. 2.6.

Die exoterisch-esoterische Doppelcodierung der Erzählstimme: Heines Reisebild Die Nordsee III zwischen Revolution und Restauration

Als Anhaltspunkt für die soeben dargestellten Einschätzungen, das gilt für Ochsenbein ebenso wie für Pointner und Geisenhanslüke, wird in der Forschung zumeist die bereits erwähnte Passage aus Die Nordsee III herangezogen, die hier nun vollständig zitiert werden soll:

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Ochsenbein, Die Aufnahme Lord Byrons in Deutschland, S. 127. Frank Erik Pointner/Achim Geisenhanslüke, »The Reception of Byron in the GermanSpeaking lands«. In: Cardwell (Hrsg.), The Reception of Byron in Europe, S. 235–268, hier S. 247 (Anm. 21). In dem Zitat findet eine Titelverwechslung zwischen Wilhelm Müllers Winterreise und Heines Deutschland. Ein Wintermährchen statt.

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Wahrlich, in diesem Augenblicke fühle ich sehr lebhaft, daß ich kein Nachbeter, oder besser gesagt Nachfrevler Byrons bin, mein Blut ist nicht so spleenisch schwarz, meine Bitterkeit kömmt nur aus den Galläpfeln meiner Dinte, und wenn Gift in mir ist, so ist es doch nur Gegengift, Gegengift wider jene Schlangen, die im Schutte der alten Dome und Burgen so bedrohlich lauern. Von allen großen Schriftstellern ist Byron just derjenige, dessen Lectüre mich am unleidlichsten berührt; wohingegen Scott mir, in jedem seiner Werke, das Herz erfreut, beruhigt und erkräftigt. (DHA 6, 161f.)

Aufgrund der zentralen Stellung, die dieser Kommentar zu Byron aus Heines Reisebild von 1826 in der Byron-Heine-Forschung besitzt, ist eine Re-Lektüre lohnenswert, die den diskurshistorischen Horizont der Aussage berücksichtigt. Dabei wird das textuelle Umfeld der Passage – das Reisebild Die Nordsee III – sowie der öffentliche Diskurs, auf den sie reagiert und mit dem sie spielt, im Fokus stehen. Um Heines Aussage in der ästhetischen Debatte seiner Zeit diskurshistorisch verorten zu können, muß der Bogen dementsprechend weit gespannt sein. Dazu wird sich dieses Kapitel sowohl mit den deutschen als auch den englischen literaturtheoretischen Auseinandersetzungen der Zeit beschäftigen. Um die Positionen zu verdeutlichen, die Byron und der ihm gegenübergestellte Walter Scott in einem übernationalen Verweisungszusammenhang repräsentieren, wird zum einen Goethes und Schillers Diskussion um das Naive und Sentimentale am Ende des 18. Jahrhunderts aufgegriffen, und zum anderen die zeitgenössische Kritik von Willibald Alexis und William Hazlitt nachgezeichnet. Schließlich kann dabei nicht nur Heines Verhältnis zu Byron und zu seinem deutschen Publikum, sondern auch seine ästhetischpolitische Praxis, die er in dem Nordseereisebild entwickelt, unter Einbezug der von Karl Immermann beigesteuerten Xenien präzisiert werden. Wenn Heines Fazit, daß von allen großen Autoren gerade die Lektüre von Byrons Texten ihn am »unleidlichsten berühr[e]«, nicht als Indiz gewertet werden soll, daß sich der Enthusiasmus für Byron in Heines frühen Jahren spätestens 1826 in eine Ablehnung des großen englischen Vorbildes verwandelt hatte, wie kann der Kommentar des Erzählers über Byron in Nordsee III dann beurteilt werden? Heine oder vielmehr die Persona ›Heine‹, der Erzähler in der eben zitierten Passage aus Die Nordsee III, ist bestrebt hervorzuheben, daß er weder ein Nachahmer Byrons sei noch ein Komplize des Byronschen Aufbegehrens gegen Himmel und Erde, das von der ›spleenischen‹ Melancholie, dem ›schwarzen‹ Blut des metaphysischen Rebellen Byron herrühre. Heines eigenes Blut hingegen, so betont er, sei nicht so »spleenisch schwarz«, seine »Bitterkeit« nicht metaphysischer, sondern materiell-irdischer Natur. Die irdischen Übel, auf die hier angespielt wird, lassen sich unschwer als Klerus (»Dome«) und Aristokratie (»Burgen«) erkennen. Sie sind die ›Schlangen‹ der Restauration, die nach dem Wiener Kongreß danach strebten, die Vergangenheit wieder zur Gegenwart zu machen, indem sie das vor den revolutionären Wirren gültige Herrschaftssystem erneut zu befestigen suchten. Eine angemessene Bewertung 116

dieser Stelle muß sowohl das Thema von Heines Reisebild als auch den diskurshistorischen Kontext der Zeit beachten. Bereits das unmittelbare Umfeld der Aussage ist aufschlußreich, da es zeigt, daß dem abwertenden, ersten Teil des Satzes, mit dem sich der Erzähler von Byron distanziert, in der zweiten Hälfte kontrastiv ein Lob auf die Romane von Walter Scott entgegengesetzt wird. »[W]ohingegen Scott mir, in jedem seiner Werke, das Herz erfreut, beruhigt und erkräftigt« (DHA 6, 162), lautet das Ende des Satzes. Heines Gegenüberstellung von Byron und Scott, der in den bisherigen Untersuchungen nicht ausreichend Aufmerksamkeit gewidmet wurde, hat eine zentrale Funktion, die bei der Analyse berücksichtigt werden muß. Um die Kontrastierung von Byron und Scott kulturhistorisch einordnen zu können, erfolgt zunächst eine kurze Einführung in die kulturhistorische Problematik, mit der sich Heines Reisebild literarisch-narrativ auseinandersetzt, um sie dann in der klassizistischen Diskussion bei Schiller zu verorten. Daran anschließend werden die Analogien zum zeitgenössischen literarischen Diskurs gezeigt. In Die Nordsee III wird vor dem Hintergrund von Heines Badeaufenthalt auf der Insel Norderney, die bis Anfang des 19. Jahrhunderts geographisch und insofern auch kulturell vergleichsweise isoliert war, die geschichtsphilosophische These des Fortschritts in der Menschheitsentwicklung erörtert, mit Blick sowohl auf die positiven als auch die negativen Folgen für das Individuum.117 In dem Reisebild werden die Gewinne und Verluste bilanziert, die im Prozeß der Moderne von der europäischen Aufklärung verursacht wurden, und von denen die »Eingeborenen« der Insel Norderney (DHA 6, 141), wie der Erzähler betont, bisher weitgehend unberührt geblieben seien, wodurch sie sich noch in einem kindlichen Naturzustand befänden: in einem Zustand, der jedoch durch den wachsenden Tourismus auf der Insel zunehmend bedroht ist.118 »Die Eingeborenen sind meistens blutarm und leben vom Fischfang« (DHA 6, 141) – schon die Beschreibung der Bewohner von Norderney im ersten Satz des Reisebilds rückt bewußt die Welt der Insulaner in eine dunkle Ferne, die nicht wie etwa die Südsee geographisch, sondern geschichtsphilosophisch bedingt ist. Im ethnologischen Blick des Erzählers werden die Einwohner der Insel zu einem exotischen Volksstamm mit fremden, unvertrauten Bräuchen und Gewohnheiten; ein Stamm, der sich obendrein in einer völlig unverständlichen Sprache artikuliert. Die Männer Norderneys, die zur See fahren und 117

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Vgl. dazu: Jost Hermand, »Gewinn im Verlust. Zu Heines Geschichtsphilosophie« [zuerst 1982]. In: Hermand, Mehr als ein Liberaler. Über Heinrich Heine. Hrsg. von Helmut Kreuzer/Karl Riha. Frankfurt a.M. 1991, S. 141–160. »Auf einem gewissen Standpunkte ist alles gleich groß und gleich klein, und an die großen europäischen Zeitverwandlungen werde ich erinnert, indem ich den kleinen Zustand unserer armen Insulaner betrachte. Auch diese stehen an der Grenze einer solchen neuen Zeit, und ihre alte Sinneseinheit und Einfalt wird gestört durch das Gedeihen des hiesigen Seebades, indem sie dessen Gästen täglich etwas Neues ablauschen, was sie nicht mit ihrer altherkömmlichen Lebensweise zu vereinen wissen.« (DHA 6, S. 143)

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›kultiviertere‹ Regionen des Südens kennenlernen, sehnen sich, so der Erzähler, dennoch immer wieder zurück nach ihrer Sandinsel, nach ihren kleinen Hütten, nach dem flakkernden Heerde, wo die Ihrigen, wohlverwahrt in wollenen Jacken, herumkauern, und einen Thee trinken, der sich von gekochtem Seewasser nur durch den Namen unterscheidet, und eine Sprache schwatzen, wovon kaum begreiflich scheint, wie es ihnen selber möglich ist, sie zu verstehen. (DHA 6, 141)

Die Differenz zwischen der archaischen Lebensweise der Inselbewohner und der ›modernen‹ Welt des Erzählers konstituiert so von Beginn an den Text: Ihre naiv-mythische Ganzheit, »das naturgemäße Ineinander-Hinüberleben, die gemeinschaftliche Unmittelbarkeit« (DHA 6, 141), steht als geschichtlich überholter Zustand, als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in scharfem Kontrast mit der Vereinzelung des emanzipierten, ›zerrissenen‹ Individuums, das, »überall fremd, und überall in der Fremde« (DHA 6, 142) lebt. Der Verlust des Heims, der ›Heimatlichkeit‹ in der Welt, charakterisiert im Unterschied zu den seefahrenden Norderneyern, die sich in der Ferne nach ihrer Heimat sehnen, die modernen, nomadischen Menschen, die in der ›Fremde‹ leben. Ihr Schicksal klingt sowohl in der mythischen »Geschichte vom fliegenden Holländer« an (DHA 6, 149) als auch im gesellschaftskritischen Bild der fremden Touristen. Für den ideologiekritischen Erzähler gibt es dennoch in der direkten Konfrontation der beiden Gesellschafts- und Sozialformen keinen Weg zurück hinter Aufklärung und Emanzipation in den Mythos. Das natürlich-organische Leben der Einheimischen und ihre mythisch-differenzlose Gemeinschaft stellen keine nostalgisch verklärte, erstrebenswerte Stufe der Entwicklung dar. Die Frage, ob der Mensch in einem vorbewußten Zustand, oder in der gegenwärtigen, sich ausdifferenzierenden Gesellschaft glücklicher zu wähnen sei, diskutiert der Erzähler wie folgt: Wir wissen, daß diese Frage, wenn sie den großen Haufen betrifft, nicht leicht bejaht werden kann; aber wir wissen auch, daß ein Glück, das wir der Lüge verdanken, kein wahres Glück ist, und daß wir, in den einzelnen zerrissenen Momenten eines gottgleicheren Zustandes, einer höheren Geisteswürde, mehr Glück empfinden können, als in den lang hinvegetirten Jahren eines dumpfen Köhlerglaubens. (DHA 6, 142)

Der Preis für Wahrheit, Emanzipation und Freiheit ist der Verlust von Ganzheit, an deren Stelle die Zerrissenheit tritt. Dem beständigen, andauernden Glück der ununterschiedenen Einheit setzt der Erzähler aber das Glück einzelner Augenblicke entgegen: Der zerrissene, jedoch epiphanische »Moment« tritt an die Stelle der harmonischen, aber »dumpfen« Dauer. Heines Reisebild läßt sich begreifen als eine Diskussion der verschiedenen Versuche in der Dichtung der Moderne, die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Ideal zu versöhnen, um die Dialektik des Fortschritts zu überwinden, die 118

für das Leiden des Dichters beziehungsweise des modernen Menschen an der Wirklichkeit verantwortlich ist. Die Thematik von Heines Reisebild schließt insofern bewußt an die Diskussion über das Naive im 18. Jahrhundert an. Vor allem setzt sich Heines Text mit Friedrich Schillers Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung wie auch mit Goethes Ästhetik auseinander, was im folgenden Kapitel gezeigt werden soll. 2.6.1. Heines Auseinandersetzung mit Schiller und Goethe in Die Nordsee III Obwohl in der Heineforschung immer wieder Schillers Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung im Kontext von Die Nordsee III genannt wird, geht keine der Untersuchungen den Bezügen vertieft nach. Jost Hermand etwa, der auf Parallelen zu Schillers Abhandlung hinweist, betont lediglich, daß Heine weder direkt noch indirekt auf sie Bezug nehme.119 Heine beschäftigte sich jedoch schon seit 1822 mit Schiller, vor allem sein Gedicht »Die Götter Griechenlands« aus Nordsee II, das etwa zeitgleich zu dem Prosatext Nordsee III entstanden ist, zeugt von einer intensiven Auseinandersetzung mit Schillers Konzeption einer Versöhnung des griechisch Antiken und des christlich Modernen in der Kunst in dem nahezu gleichnamigen Gedicht »Die Götter Griechenlandes«, zu dem Heines Gedicht einen »Gegenentwurf« darstellt.120 Besonders Ulrich Stadler ist zu nennen, der Schillers Abhandlung als Hintergrund für seine Untersuchung von Heines Reisebild heranzieht.121 Er beschäftigt sich mit der geschichtsphilosophischen Diagnose der Zerrissenheit der Moderne und sieht ihre Überwindung in Anlehnung an Friedrich Schlegels Schriften in der Formulierung einer neuen Mythologie. Auf diese Einschätzung wird am Ende des nächsten Kapitels nochmals kritisch zurückzukommen sein. Friedrich Schiller überträgt den Begriff des ›Sentimentalischen‹ in seiner Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung aus einem rein ästhetischen Kontext in einen kulturhistorischen. Die wirkungsmächtigen Begriffe des ›Naiven‹ und ›Sentimentalischen‹ in Schillers kulturhistorischer Bestimmung sollen deswegen kurz rekapituliert werden.122 Schiller legt in seinem einflußreichen Text anhand der Begriffe des ›Naiven‹ und des ›Sentimentalischen‹ seinen 119 120

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Vgl. Jost Hermand, Der frühe Heine. Ein Kommentar zu den »Reisebildern«. München 1976, S. 86. Höhn, Heine-Handbuch, S. 75; vgl. zu Heines Gedicht »Die Götter Griechenlands« auch: Ralph Martin, Die Wiederkehr der Götter Griechenlands. Zur Entstehung des ›Hellenismus‹Gedankens bei Heinrich Heine. Sigmaringen 1999, S. 29–45. Vgl. Ulrich Stadler, »Heines Die Nordsee III als programmatischer Beitrag zur ›Neuen Mythologie‹«. In: Joseph Kruse/Bernd Witte/Karin Füllner (Hrsg.), Aufklärung und Skepsis. Stuttgart, Weimar 1999, S. 555–570, hier S. 557. Für die Diskussion über das Naive im 18. Jahrhundert, an die Schiller 1795 anknüpft, vgl. z.B. den Eintrag »Naïveté« in der französischen Enzyklopädie von Diderot und D’Alembert sowie Herders Text Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und Goethes Aufsatz In wiefern

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eigenen historischen Standpunkt innerhalb eines triadischen Geschichtsmodells von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fest. Der naive Naturzustand gehört Schiller zufolge der Vergangenheit an und ist unwiederbringlich verloren. Das Sentimentalische ist dagegen der Modus der als defizitär empfundenen Gegenwart, die durch den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit geprägt ist. Zugleich aber zeichnet sich in Schillers Analyse die eigene Zeit positiv durch den Zugewinn des Reflexionsvermögens gegenüber der Antike aus.123 Für die Zukunft wird deswegen keine Rückkehr zum Naiven, sondern eine Versöhnung zwischen dem Naiven und dem Sentimentalischen in einem neuen, dritten Zustand anvisiert, der zugleich die Überwindung des Gegensatzes zwischen Idealismus und Realismus bedeutet. Vom Dichter verlangt Schiller entsprechend: Er führe uns nicht rückwärts in unsre Kindheit, um uns mit den kostbarsten Erwerbungen des Verstandes eine Ruhe erkaufen zu lassen, die nicht länger dauern kann als der Schlaf unsrer Geisteskräfte; sondern führe uns vorwärts zu unsrer Mündigkeit, um uns die höhere Harmonie zu empfinden zu geben, die den Kämpfer belohnet, die den Überwinder beglückt. Er mache sich die Aufgabe einer Idylle, welche […] den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurückkann, bis nach Elysium führt.124

Mit Schiller verbindet Heine die Auffassung, daß eine Rückkehr nach Arkadien, zur ›Natur‹ des verlorenen naiven Zustands, wie ihn etwa die ›kindlichen‹ Insulaner auf Norderney repräsentieren, nicht möglich ist. Insofern ist es naheliegend, daß sich Heine in seinem Reisebild wie schon Schiller in Über naive und sentimentalische Dichtung mit Goethes Bedeutung als naivem Dichter der Gegenwart beschäftigt. Heines autobiographischer Erzähler in Die Nordsee III setzt sich explizit mit Goethes Poetik auseinander, die er als Versuch interpretiert, das Ideale mit dem Wirklichen zu versöhnen. Gegenüber dem »Tugendpöbel« (DHA 6, 146),125 den prüden Kritikern von Goethe, die ihm seine Sinnlichkeit vorwerfen, verteidigt ihn der Erzähler, der das »Nacktgöttliche« seiner Darstellung, also seinen Realismus und seine Plastizität lobt. Vor allem der Adel nehme an der »Genußfähigkeit« (DHA 6,

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die Idee: Schönheit sey Vollkommenheit mit Freyheit, auf organische Naturen angewendet werden könne. Zur geschichtsphilosophischen Dimension von Schillers Schrift zur Ästhetik vgl. Peter Szondi, »Poetik und Geschichtsphilosophie. Zu Schillers Abhandlung ›Über naive und sentimentalische Dichtung‹«. In: Reinhart Koselleck/Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.), Geschichte – Ereignis und Erzählung. München 1973, S. 377–410. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, SW 5, S. 750. Vgl. auch S. 709; dort fordert Schiller nochmals den Dichter als Bewahrer der Natur dazu auf, »ihren unendlichen Vorzug« mit seinem »eigenen unendlichen Prärogativ zu vermählen und aus beidem das Göttliche zu erzeugen«. Alle folgenden Zitate aus Die Nordsee III in diesem Absatz, insofern nicht anders markiert: DHA 6, S. 146.

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145) des »großen Heiden« Goethe Anstoß, da er die Verbindung von »Irreligiosität« mit den »falsche[n] politische[n] Ansichten« fürchte. »Bescheidenheit und Mäßigung« stellen für Goethes Kritiker statt dessen erstrebenswerte, vom »alten Glauben« vermittelte Werte dar, für die Schiller in Anspruch genommen wird. Dem Erzähler zufolge repräsentiere Schiller für den degenerierten, politisch reaktionären »hannövrische[n] Adel« »Tugend und Reinheit«, wodurch er Goethe überrage, dessen sinnlich-lebensbejahende Dichtung für ihn zur politisch gefährlichen Unsittlichkeit tendiere. Der plastisch-sinnliche Aspekt von Goethes Dichtung erhält eine politische Perspektivierung, die auf Heines eigenes sensualistisches Programm verweist, das er in den folgenden Jahren unter dem Einfluß des Saint-Simonismus in Frankreich noch weiter vertiefte. Nach dieser allgemeinen Würdigung des Weimarer Dichters wendet sich der Erzähler Goethes Darstellungsweise im besonderen zu, dessen objektiv-realistischer Modus – wie etwa in Die italienische Reise – Perspektivität vermeide. Andere Italienreisende – zu denen zwei Jahre nach dem Erscheinen von Nordsee III auch Heine zählen wird –, die sich von ihrem subjektiven Interesse leiten ließen, würden, so der Erzähler, einseitig nur das Gute oder Schlechte fokussieren, »während Goethe, mit seinem klaren Griechenauge, Alles sieht, das Dunkle und das Helle, nirgends die Dinge mit seiner Gemüthsstimmung kolorirt, und uns Land und Menschen schildert, in den wahren Umrissen und wahren Farben, womit sie Gott umkleidet« (DHA 6, 147). Heines Beschreibung von Goethes ›naivem‹ Realismus in Nordsee III kongruiert mit den Bestimmungen des »wahre[n] Genie[s]« aus Schillers ästhetischer und kulturhistorischer Abhandlung.126 Für Schiller ist das wahre Genie notwendig naiv und legitimiert sich dadurch, daß »es durch Einfalt über die verwickelte Kunst triumphiert«.127 Schiller schreibt, daß das Genie nicht nach rationalen Prinzipien handle, sondern »nach Einfällen und Gefühlen«, die aber nicht subjektive Willkür, sondern »Eingebungen eines Gottes« seien:128 »alles, was die gesunde Natur tut, ist göttlich«.129 Ein wichtiger Aspekt des Genies ist für Schiller zudem seine Bewußtlosigkeit, die ihm aufgrund der mangelnden Reflexion zukommt: »Es ist bescheiden, ja blöde, weil das Genie immer sich selbst ein Geheimnis bleibt, aber es ist nicht ängstlich, weil es die Gefahren des Weges nicht kennt, den es wandelt.«130 Die leichte Distanzierung, die Schillers implizite Charakterisierung von Goethe in Über naive und sentimentalische Dichtung aufweist, mit der er sich gegen Goethes übermächtiges Genie als sentimentalischen Dichter verteidigte, findet sich auch in Heines Reisebild. Die vorhergehende Würdigung Goethes erhält eine subtil-ironische Wendung: 126 127 128 129 130

Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, SW 5, S. 704. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, SW 5, S. 704. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, SW 5, S. 704. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, SW 5, S. 704. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, SW 5, S. 705.

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Das ist ein Verdienst Goethes, das erst spätere Zeiten erkennen werden; denn wir, die wir meist alle krank sind, stecken viel zu sehr in unseren kranken, zerrissenen, romantischen Gefühlen, die wir aus allen Ländern und Zeitaltern zusammengelesen, als daß wir unmittelbar sehen könnten, wie gesund, einheitlich und plastisch sich Goethe in seinen Werken zeigt. Er selbst merkt es eben so wenig; in seiner naiven Unbewußtheit des eignen Vermögens wundert er sich, wenn man ihm »ein gegenständliches Denken« zuschreibt, und indem er durch seine Selbstbiographie uns selbst ein kritische Beyhülfe zum Beurtheilen seiner Werke geben will, liefert er doch keinen Maaßstab der Beurtheilung an und für sich, sondern nur neue Fakta, woraus man ihn beurtheilen kann, wie es ja natürlich ist, daß kein Vogel über sich selbst hinauszufliegen vermag. (DHA 6, 147f.)

Die Opposition, die hier zwischen dem Kranken, Zerrissenen und Romantischen und dem Gesunden, Einheitlichen und Plastischen formuliert wird, erinnert an Goethes eigene Klassifikation des Romantischen als krank und des Klassischen als gesund in Maximen und Reflexionen.131 Durch das Pronomen »wir« gibt der Erzähler zu erkennen, daß er sich zur ersten Gruppe rechnet, denen sich aufgrund ihres defizitären Zustands Goethes ›griechische‹ Ganzheit nicht unmittelbar erschließe. Allerdings, so bemerkt der Erzähler ironisch, könne Goethe selbst sie ebenso wenig bemerken, da ihm, wie den Griechen in Schillers Schrift, das nötige Reflexionsvermögen, das ein Kennzeichen des sentimentalischen Dichters ist, fehle. »Sie werden entweder Natur sein, oder sie werden die verlorene suchen.«132 Als wahres und insofern unbewußtes Genie muß in Schillers Formulierung Goethe »sich selbst ein Geheimnis bleib[en]«. Deswegen überraschen ihn einerseits fremde Charakterisierungen seiner Darstellungsweise; und andererseits könne er genauso wenig seine eigenen Werke mit seiner »Selbstbiographie« Dichtung und Wahrheit erklären, »wie es ja natürlich ist, daß kein Vogel über sich selbst hinauszufliegen vermag«. Goethes Zusammenschau »mit seinem klaren Griechenauge«, das »Alles sieht«, sein objektiver, distanzierter Überblick, schließt die (Selbst-)Reflexion auf die eigene Person nicht mit ein, da sie sich als Merkmal des sentimentalischen Dichters der Wahrnehmung des naiven Genies entzieht. In seinem Kommentar zur Auseinandersetzung mit Goethe in Die Nordsee III bemerkt Jost Hermand, daß Heine in seinen Briefen seit 1825 wie etwa an

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»Classisch ist das Gesunde, Romantisch das Kranke.« (Goethe, Maximen und Reflexionen, MA 17, S. 893) In Johann Peter Eckermanns Aufzeichnungen seiner Gespräche mit Goethe heißt es ausführlicher dazu: »Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke. […] Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kränklich und krank ist, und das Alte ist nicht klassisch, weil es alt, sondern weil es stark, frisch, froh und gesund ist.« (MA 19, S. 300) Diese Ausführungen können allerdings nur unter Vorbehalt – dem Genre der Gesprächsaufzeichnungen gemäß – als authentische Äußerungen von Goethe betrachtet werden. Vgl. dazu auch den Abschnitt »Glaubwürdigkeit und Charakter« im Kommentar der Münchner Ausgabe von Goethes Werken (MA 19, S. 719–725). Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, SW 5, S. 712.

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Moses Moser vom 1. Juli 1825 Goethes harmonische Plastizität viel kritischer beurteilt hätte, als an dieser Stelle des Reisebilds vom Herbst 1826 (vgl. DHA 6, 748). Wie gezeigt werden sollte, eröffnet die Kontextualisierung von Nordsee III mit Schillers Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung allerdings die Möglichkeit einer ironischen Lesart, die die scheinbar durchweg positive Würdigung von Goethe in einem ambivalenten Licht erscheinen läßt. Insofern müssen auch Positionen überdacht werden, die der Charakterisierung Goethes und Napoleons in Heines Reisebild die gleiche Funktion als positiven Mythos in der Gegenwart zusprechen, da beide mit dem Naturhaften assoziiert und mit ihrem intuitiven Verstand über eine Anschauung des Ganzen verfügen würden.133 Im Gegensatz zu Goethe schildert der Erzähler Napoleon als wahre Synthese des modernen und antiken Geistes: sein Denken ist nicht unbewußt wie Goethes, sondern intuitiv (vgl. DHA 6, S. 159); er handelt nicht ›naiv‹, sondern »naturgemäß« (DHA 6, S. 160). Im Kontext des Aspekts der Gegenwart in Die Nordsee III wird darauf zurückzukommen sein. Wie Schiller vertritt Heine den aufklärerischen Gedanken, daß Autonomie zu den höchsten Zielen des Menschen zählt. Der Preis für Emanzipation und Autonomie ist, wie die Eröffnung des Reisebildes gezeigt hat, der Verlust der Ganzheit, der aber der Lüge vorzuziehen ist. Heines Position innerhalb dieses Gegensatzes zwischen Idealismus und Realismus, zwischen sentimentalischmoderner und naiv-antiker Schreibweise, zwischen aufopferndem Kampf um die Wahrheit und eigennütziger Lüge wird in dem soeben genannten Brief Heines an Moses Moser vom 1. Juli 1825 besonders deutlich artikuliert. Heine schildert seinem Freund Moser, ein halbes Jahr nach seinem Besuch bei Goethe in Weimar am 2. Oktober 1824, seine enttäuschende Begegnung mit dem ›Dichterfürsten‹. Der Student aus Göttingen, der nach seiner eigenen Beschreibung in Die romantische Schule Goethe »viel Erhabenes und Tiefsinniges« (DHA 8/1, 163) sagen wollte und ihm statt dessen – in einer Form des materialisierenden Bathos – erzählte, »daß die Pflaumen auf dem Wege zwischen Jena und Weimar sehr gut schmeckten« (DHA 8/1, 163), fand in Weimar nicht die erhoffte Beachtung. Seine Frustration mag für das Urteil verantwortlich sein, daß bei dem persönlichen Gespräch mit dem alternden Dichter nichts mehr von der früheren Herrlichkeit Goethes zu finden gewesen sei. In der folgenden Briefstelle, die im Kontext des 1826 entstandenen Reisebilds Die Nordsee III aufschlußreich ist, vergleicht Heine seinen eigenen Charakter mit dem Goethes: Im Grunde aber sind Ich und Göthe zwey Naturen die sich in ihrer Heterogenität abstoßen müssen. Er ist von Haus aus ein leichter Lebemensch dem der Lebensgenuß das Höchste, und der das Leben für und in der Idee wohl zuweilen fühlt und 133

Vgl. etwa Höhn, Heine-Handbuch, S. 206f. und Stadler, »Heines Die Nordsee III als programmatischer Beitrag zur ›Neuen Mythologie‹«, S. 560.

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ahnt und in Gedichten ausspricht, aber nie tief begriffen und noch weniger gelebt hat. Ich hingegen bin von Haus aus ein Schwärmer, d.h. bis zur Aufopfrung begeistert für die Idee, und immer gedrängt in dieselbe mich zu versenken, dagegen aber habe ich den Lebensgenuß begriffen und Gefallen dran gefunden, und nun ist in mir der große Kampf zwischen meiner klaren Vernünftigkeit die den Lebensgenuß billigt und alle aufopfrende Begeistrung als etwas Thörigtes ablehnt, und zwischen meiner schwärmerischen Neigung, die oft unversehens aufschießt, und mich gewaltsam ergreift, und mich vielleicht einst wieder in ihr uraltes Reich hinabzieht, wenn es nicht besser ist zu sagen hinaufzieht; denn es ist noch die große Frage ob der Schwärmer, der selbst sein Leben für die Idee hingiebt, nicht in einem Momente mehr und glücklicher lebt als Herr v. Göthe während seines ganzen 76jährigen egoistisch behäglichen Lebens. (HSA 20, 205)

Der »große Kampf« zwischen Leben und Idee, den Heine hier Moser gegenüber beschreibt, ist zugleich eine Selbstverortung des Dichters zwischen den beiden großen Weimarer Dichtern Goethe und Schiller. Die Opposition erinnert an Schillers Beschreibung eines »sehr merkwürdigen psychologischen Antagonism unter den Menschen« – den zwischen Realismus und Idealismus –, den er gegen Ende von Über naive und sentimentalische Dichtung ausführt. Goethe und Schiller sind es, die die beiden Pole verkörpern, allerdings ohne direkt genannt zu werden.134 Auch in Heines Brief repräsentiert Goethe den Lebensgenuß, während Schiller implizit für die Begeisterung für die Idee steht, wobei sich Heine auf die Seite Schillers stellt und sogar die Extremform des sentimentalischen Charakters, den Schwärmer, für sich in Anspruch nimmt.135 Der letzte Satz des Briefs, der hier noch als Frage formuliert wird, nimmt die Feststellung des Erzählers in Die Nordsee III, das dem Glück der Lüge in den »lang hinvegitirten Jahren« (DHA 6, 142) das wahre Glück in den »einzelnen zerrissenen Momenten eines gottgleicheren Zustandes, einer höheren Geisteswürde« (DHA 6, 142) vorzuziehen sei, in auffälliger Weise vorweg. Goethes ›naive‹, ganzheitliche Darstellung des Wirklichen stellt trotz der politischen Bedeutung, die Heine seinen nackten Göttergestalten zuspricht, keine adäquate poetische Lösung dar für die Versöhnung zwischen Ideal und Wirklichkeit in der Moderne. Der Kampf zwischen Leben und Idee, den Heine in seinem Brief an Moser beschreibt, wird in dem ein Jahr später entstandenen Text Die Nordsee III in einem fiktionalen Rahmen kontrovers diskutiert, wie anhand der Auseinandersetzung mit Schiller und Goethe in dem Reisebild gezeigt werden konnte. Schillers kulturhistorisch gewendete Ästhetik der sentimentalischen Moderne und die Diskussion um Goethes naive Plastizität finden eine Entsprechung in der Gegenüberstellung von Byron und Scott, wie im folgenden Kapitel gezeigt werden soll.

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Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, SW 5, S. 769. Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, SW 5, S. 738.

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2.6.2. Heines Auseinandersetzung mit Byron und Scott in Die Nordsee III In Heines Reisebild wird eine weitere Möglichkeit reflektiert, der Zerrissenheit, der modernen Heimatlosigkeit und dem Verlust von Ganzheit zu begegnen. Inwiefern die Werke Walter Scotts im Text auf den zerrissenen Zustand in der Moderne reagieren, soll im folgenden gezeigt werden, bevor der Vergleich zwischen Byron und Scott in Die Nordsee III genauer analysiert wird. Die Romane des populären Schotten hat Heine schon in seinem ersten Reisebild Briefe aus Berlin besprochen. Ein Blick auf das frühere Reisebild, das sich mit dem Phänomen der Scott-Manie in Deutschland beschäftigt, zeigt sowohl eine ähnliche Charakterisierung bei der Gegenüberstellung von Scott und Byron als auch eine vergleichbare Technik der indirekten Ironisierung des Scottschen Werkes.136 Die Werke des Schotten, so heißt es in Briefe aus Berlin werden von der Berliner Bevölkerung begeistert übersetzt und rezipiert. Der satirische Tiervergleich des vorhergehenden Absatzes hat allerdings die Berliner bereits als sprachlich regressive ›Bären‹ und ›Esel‹ ausgewiesen; sie seien »in der Cultur wieder so tief gesunken, daß sie ihre Sprache verloren, und bloß das gemütliche ›I-A‹ und das kindlich-fromme ›Bäh‹ behielten« (DHA 6, 28). Dieser rückschreitenden Kulturstufe werden Scotts »frömmig-heiter[e]« Protagonisten aus seinen Romanen an die Seite gestellt: »Wie komme ich aber vom I–A der Langohrigen und vom Bäh der Dickwolligen zu den Werken von Sir Walter Scott?« (DHA 6, 28), lautet die ironische Frage des Erzählers. In Die Nordsee III wird Walter Scott zunächst im Kontext von Napoleon thematisiert, über dessen Leben und Ende auf St. Helena der Erzähler in dem gerade erschienenen Buch von Frederick Lewis Maitland liest, das ihm ein junger Engländer auf Norderney zukommen ließ. Auch Scott plane eine historische Schrift über das Leben von Napoleon, berichtet der Erzähler und äußert seine Befürchtung, daß dieses Buch »leicht der russische Feldzug jenes Ruhmes werden« könne, »den er mühsam erworben durch eine Reihe historischer Romane« (DHA 6, 160). Scott habe in Europa eine so große Popularität, nicht aufgrund seiner Dichtungskraft, sondern wegen des Themas seiner Romane erlangen können:

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Von den zahlreichen Übersetzungen von Scotts Romanen ins Deutsche wird besonders Elise von Hohenhausens gerade entstehende Übersetzung von Ivanhoe gelobt, die sogar ihre Übersetzungen von Byrons Werken übertreffen werde, »da in dem sanften, für reine Ideale empfänglichen Gemüthe der schönen Frau die frömmig-heitern, unverzerrten Gestalten des freundlichen Schotten sich weit klarer abspiegeln werden, als die düstern Höllenbilder des mürrischen, herzkranken Engländers« (DHA 6, S. 28). Wesentlich weniger idealisierend drückt sich Heine über seine Mentorin in einem Brief an Keller vom 1. September 1822 aus: »Die Ochs befindet sich wohl; sie ochst. Sie hat Scotts Ivanhoe längst fertig, und derselbe wird nächstens erscheinen. Mit Byron treibt sie noch immer geistig Unzucht.« (HSA 20, S. 57f.)

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Dieses Thema ist aber nicht bloß eine elegische Klage über Schottlands volksthümliche Herrlichkeit, die allmählig verdrängt wurde von fremder Sitte, Herrschaft und Denkweise; sondern es ist der große Schmerz über den Verlust der Nazional-Besonderheiten, die in der Allgemeinheit neuerer Cultur verloren gehen, ein Schmerz, der jetzt in den Herzen aller Völker zuckt. (DHA 6, 160)

Was der Erzähler hier als den Verlust der Nazional-Besonderheiten bezeichnet, ist der Verlust der Mythen und Ideale der Vergangenheit im Zuge der rapiden Veränderungen in der Gegenwart, die das Eindringen des Neuen und Fremden in die vertraute Heimat bedeuten; der gleiche Prozeß also, den die Insulaner Norderneys aktuell durchlaufen. Grundsätzlich sympathisiert Heine mit der Klage über die Entzauberung der Welt, die bedauert, wie an die Stelle der alten Götterbilder die rationale Nüchternheit der Engländer tritt. Scotts Thema wird als »elegische Klage« über die einstige Größe Schottlands identifiziert, die den Schmerz über die Verluste in der Folge des Modernisierungsprozesses in Europa ausdrückt. In der Typologie von Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung entspricht das dem sentimentalischen Dichter, der in der Elegie sein Wohlgefallen am Ideal ausdrückt, das aber als Verlorenes betrauert wird. Der Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit ist in der Elegie ausgeklammert. Liest man Scotts nostalgische Darstellung der Vergangenheit, die das verlorene Ideal in elegischem Ton betrauert, im Kontext der leitmotivischen Überzeugung von Die Nordsee III, »daß ein Glück, das wir der Lüge verdanken, kein wahres Glück ist« (DHA 6, 142), erhält sie ein kritisches Moment.137 Dazu paßt auch, daß diejenigen, bei denen Scotts Klage über den Verlust der alten Ordnung auf die größte Resonanz stößt, die Befürworter der Restauration sind: Adel, Philisterbürgertum und Klerus. Dieser Ton klingt wieder in den Herzen unseres Adels, der seine Schlösser und Wappen verfallen sieht, er klingt wieder in den Herzen des Bürgers, dem die behaglich enge Weise der Altvordern verdrängt wird durch weite, unerfreuliche Modernität; er klingt wieder in katholischen Domen, woraus der Glaube entflohen, und in rabbinischen Synagogen, woraus sogar die Gläubigen fliehen; er klingt über die ganze Erde, bis in die Banianenwälder Hindostans, wo der seufzende Bramine das Absterben seiner Götter, die Zerstörung ihrer uralten Weltordnung, und den ganzen Sieg der Engländer voraussieht. (DHA 6, 161)

Trotz des Leidens an der Zerrissenheit der Moderne, die durch die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Ideal geprägt ist, stellt Scotts Flucht in die ›Ganzheit‹ der Vergangenheit – wie auch schon Goethes naive Anschauung – keine für die Gegenwart zeitgemäße Dichtungsform dar. Das Problem an Scotts elegischer Idylle ist für den Erzähler, daß sie, um mit Schiller zu sprechen, den Leser nicht weiter nach »Elysium«, sondern zurück nach »Arkadien« füh-

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Vgl. auch HSA 20, S. 142.

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ren will. Die Inkompatibilität dieser Darstellungsweise mit dem Neuen, das Napoleon verkörpert, wird explizit herausgestellt: Dieser Ton, der gewaltigste, den der schottische Barde auf seiner Riesenharfe anzuschlagen weiß, paßt aber nicht zu dem Kaiserliede von dem Napoleon, dem neuen Manne, dem Manne der neuen Zeit, dem Manne, worin diese neue Zeit so leuchtend sich abspiegelt, daß wir dadurch fast geblendet werden, und unterdessen nimmermehr denken an die verschollene Vergangenheit und ihre verblichene Pracht. (DHA 6, 161)

Heines Text fordert – und dabei grenzt er sich sowohl von dem naiven Dichter Goethe, als auch dem sentimentalischen Romanautoren Scott ab – die Versöhnung des Idealen mit dem Realen, des Sentimentalischen mit dem Naiven, wobei sich die besten Eigenschaften des Antiken und Modernen in einem anzustrebenden Zustand vereinigen sollen. Die Gedankenfigur der Versöhnung erinnert an Schillers Konzeption des Elysiums als dritter, erst zu erreichender Stufe, auf der die Charakteristika des griechischen mit denen des modernen Menschen versöhnt sind. Über die jeweiligen Menschencharaktere, die er dem Naiven und Sentimentalischen zuspricht, versucht Schiller am Ende seiner Schrift das Ideal zu bestimmen, das in der Wirklichkeit nicht existiert und höchstens eine poetische Entsprechung erhalten kann.138 Im Gegensatz zu Schiller bleibt bei Heine dieser ideale Charakter nicht nur theoretisches Postulat, sondern existiert tatsächlich in der Gegenwart. Die Synthese wird für Heine von dem »ganzen großen Menschen«139 Napoleon eingelöst, dem »verschüttete[n] Götterbild« (DHA 6, 159), in dem der Gegensatz von Ideal und Wirklichkeit aufgehoben ist. Ihn charakterisiert die unmittelbare »Anschauung eines Ganzen« (DHA 6, 159), mit der er den von »revoluzionären« und »contrerevoluzionären« Prinzipien (DHA 6, 159) bestimmten Geist der eigenen Zeit intuitiv erfaßt. Das poetologische Programm, das imstande wäre, diese Vereinigung umzusetzen, kann als neue Mythologie verstanden werden – so argumentiert etwa Ulrich Stadler in seinem Beitrag zu Heines Reisebild Die Nordsee III.140 Obwohl

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Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, SW 5, S. 769. Heine schreibt in dem genannten Brief an Moser: »Große Natureindrücke müssen unsre Seele erweitern ehe wir den ganzen großen Menschen fassen können.« (HSA 20, S. 266) Obwohl Heine hier seinen Freund Moser meint, legt der Zeitpunkt des Briefes während der Hauptarbeitszeit an Nordsee III nahe, daß er bei dieser Formulierung auch an seine Darstellung von Napoleon dachte. Vor allem die Gedichte aus Nordsee I und II lassen sich als eine Form neuer Mythologie verstehen. Heine selbst schreibt über sie in einem Brief an Moses Moser kurz nach seiner Rückkehr von seinem Aufenthalt auf Norderney, er habe »eine ganz neue Bahn darin gebrochen, mit Lebensgefahr« (HSA 20, S. 267). Die Gedichte weisen zum einen Versatzstücke der alten griechischen Mythologie auf und imitieren etwa den homerischen Duktus wie in »Gesang der Okeaniden«. Zum anderen schaffen sie mit dem Meer ein neues Mythologem, das etwa vergleichbar ist mit dem von Novalis geschaffenen Mythos der Nacht. Das Meer hat bei

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Stadler Schillers Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung als Kontext für Heines Reisebild nennt, bezieht er sich in seiner Analyse nicht auf ihn, sondern auf Friedrich Schlegel und verwendet als Bezugsrahmen vor allem das frühromantische Konzept der Neuen Mythologie.141 Deswegen akzentuiert er in Anlehnung an Schlegels »Rede über die Mythologie« aus dem Gespräch über die Poesie die Suche nach der wahren Mitte und nicht das prägnante Bild der Versöhnung des griechisch-naiven mit dem modern-sentimentalischen Charakter, der bei Schiller die letzte triadische Stufe kennzeichnet und sich in Heines Reisebild im Charakter Napoleons realisiert. Durch die Identifikation der Funktion Napoleons, den Stadler zurecht als Zentrum eines neuen Mythos erkennt, mit der Rolle Goethes in Heines Text, zieht er zudem den Schluß, daß Goethe sowohl für Die Nordsee III als auch für die folgenden italienischen Reisebilder eine Leit- und Vorbildfunktion einnehme.142 Wie gezeigt werden konnte, weist der Text aber die Möglichkeit des naiven Dichtens, wie sie Goethe repräsentiert, ebenso zurück wie die sentimentalische Variante, für die Scott steht. An ihre Stelle tritt eine Mythologie des Neuen. Darauf wird im nächsten Kapitel noch zurückzukommen sein. Im Kontext der Diskussion von revolutionären und restaurativen Prinzipien der Gegenwart steht nun der Vergleich zwischen Scott und Byron in Die Nordsee III. Im Unterschied zu Scotts Darstellung von Napoleons Leben, die – wie zu erwarten sei – »die contrerevolutionäre Seite seines Geistes vorzugsweise auffassen wird« (DHA 6, 161), würde Byron als Prototyp des modernen, zerrissenen Subjekts, so der Erzähler, nur das revolutionäre Prinzip im Charakter Napoleons schildern: Von dieser letzteren Seite würde ihn Byron geschildert haben, der in seinem ganzen Streben den Gegensatz zu Scott bildete, und statt, gleich diesem, den Untergang der alten Formen zu beklagen, sich sogar von denen, die noch stehen geblieben sind, verdrießlich beengt fühlt, sie, mit revoluzionärem Lachen und Zähnefletschen, niederreißen möchte, und in diesem Aerger die heiligsten Blumen des Lebens mit seinem melodischen Gifte beschädigt, und sich, wie ein wahnsinniger Harlekin den Dolch ins Herz stößt, um, mit dem hervorströmenden, schwarzen Blute, Herren und Damen neckisch zu bespritzen. (DHA 6, 161)

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Heine einen einheitsstiftenden Charakter – sowohl sprachlich durch die Rekurrenz von Bildern, die einen dichten Verweisungszusammenhang schaffen, als auch inhaltlich durch die Integration des Sprecher-Ichs, das sich mit dem Meer identifi ziert, in das Naturganze. Vom romantischen Projekt einer Neuen Mythologie unterscheiden sich Heines Nordseegedichte allerdings auch in wichtigen Punkten. Die Wirklichkeit erweist sich als widerständig und konterkariert immer wieder Einheitserfahrungen des Sprecher-Ichs wie etwa in »Der Schiffbrüchige«. Vgl. Stadler, »Heines Die Nordsee III als programmatischer Beitrag zur ›Neuen Mythologie‹«, S. 563. Vgl. Stadler, »Heines Die Nordsee III als programmatischer Beitrag zur ›Neuen Mythologie‹«, S. 564.

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Diese Stelle, die Byron als »wahnsinnige[n] Harlekin« beschreibt, gilt zusammen mit der oben schon genannten Distanzierung des Erzählers von Byron den meisten Untersuchungen zu Heines Byron-Rezeption als Beweis für Heines Abkehr von Byron und vom Byronismus. In der Heine-Biographie von Jeffrey Sammons, die Byron als »important role model« für Heine begreift, findet sich ein für diesen Kontext interessanter Aspekt.143 Denn als Beleg für die Ähnlichkeit, die Heine zwischen sich und Byron empfunden hätte, zitiert Sammons genau diese Passage aus Die Nordsee III; sie zeige, wie sehr Heine sich selbst in seiner Wahrnehmung von Byron spiegle (»one passage in particular shows how he [Heine, A.B.] mirrored himself in his perception of Byron«).144 Die Charakterisierung von Byron als »wahnsinnige[m] Harlekin« sei, so Sammons, von den Zeitgenossen leicht als eine Selbstbeschreibung Heines erkennbar gewesen. Obwohl Sammons, um seine These zu bekräftigen, den oben zitierten negativen Teil der Beurteilung Byrons in Die Nordsee III, in dem sich der Erzähler von Byron distanziert (»Byron [ist] just derjenige, dessen Lectüre mich am unleidlichsten berührt«), wegläßt, verweist seine Beobachtung auf einen wichtigen Punkt. Tatsächlich stilisiert sich Heine selbst in seinen Texten immer wieder als Harlekin145 und viele der zeitgenössischen Rezensionen sehen den Vergleichspunkt zwischen Byron und Heine in ihrer ›blasphemischen‹ Verunglimpfung alles Heiligen, die als Gefährdung der religiösen und weltlichen Ordnung empfunden wurde.146 So schreibt etwa ein anonymer Rezensent von Reisebilder Bd. 2: »[Heine] zertrümmert meistens selbst […] mit einer gewissen Rohheit der Seele das was er Schönes und Erhabenes erzeugt hat, indem er es mit der schroffsten Trivialität absichtlich paart oder schließt.«147 Diesen destruktiven Aspekt von Heines Texten, der traditionelle oder klassische Werte der Dichtung und der Gesellschaft in Frage stellt, führt der Verfasser sodann auf Byrons Vorbild zurück: »Die Byron’sche Sucht, sich selbst als einen frechen Lästerer des Heiligen […] darzustellen, um interessanter zu erscheinen, ist eine 143 144 145

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Jeffrey Leonard Sammons, Heinrich Heine. A Modern Biography. Princeton 1979, S. 47. Sammons, Heinrich Heine, S. 47. Vgl. etwa Jürgen Voigt, Ritter, Harlekin und Henker. Der junge Heine als romantischer Patriot und als Jude. Ein Versuch. Frankfurt a.M. u.a. 1982, der den Harlekin zu Heines Selbstbildern zählt. Prawer, der auch darauf verweist, daß der Harlekin ein Bild ist, das Heine für sich selbst verwendet, sieht in Scott und Byron zwei Seiten von Heines Charakter, wodurch ihm die subtile Ironie und Kritik an Scotts Vergangenheitsfi xierung entgeht (vgl. Prawer, Frankenstein’s Island, S. 32f.). Noch in dem Bruchstück , das viele der stereotypen Vorwürfe der Kritik gegen Heine bedient, wird »seine Gewissenlosigkeit selbst das Heiligste anzutasten« genannt (DHA 15, S. 111). Das Bemerkenswerte an diesem Text ist, daß Heine ihn im Kontext des Erbschaftsstreits selbst verfaßte und anonym in einer deutschen Zeitung lancieren wollte. Varnhagen, den Heine um eine Gegendarstellung bat, lehnte jedoch ab, und es kam nicht zur Publikation (vgl. DHA 15, S. 1274). Heines Selbstbezichtigung zeigt eindringlich, wie geläufig dieser Vorwurf an seine Texte den Lesern, der zeitgenössischen Kritik und ihm selbst war. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 291f.

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unmännliche Zeitkrankheit […].«148 Auch die bereits genannte, anonyme, mit dem Kürzel ›Schm‹ gezeichnete Rezension von 1822 hatte Heine mit Byron unter dem Blickwinkel des satanischen, gegen die Ordnung rebellierenden, gefallenen Engels verglichen. Der Rezensent identifiziert in Heines Dichtung »ein feindliches Prinzip, eine schneidende Dissonanz, einen wilden Zerstörungsgeist, der alle Blumen aus dem Leben herauswühlt, und nirgends aufkeimen läßt die Palme des Friedens«.149 Bei der Übertragung dieser Vorwürfe, die an ihn selbst gerichtet waren, auf Byron, bezieht sich Heine auf das Bild des englischen Schriftstellers in der deutschen Öffentlichkeit, das zu Beginn der 1820er Jahre stark von dem Skandal um das Drama Cain bestimmt war. Robert Southey – Byrons literarischer und politischer Intimfeind – hatte u.a. nach der Lektüre von Byrons Drama die einflußreiche Bezeichnung ›Satanische Schule‹ geprägt, als deren Begründer er Byron identifizierte.150 Die Vorwürfe gegen Byron richteten sich vor allem auf die vorgebliche Blasphemie und Gottlosigkeit seines Cain, in dem er das Alte Testament neu interpretiert. Wie auch in dem kurze Zeit später entstandenen, mit Cain korrespondierenden Drama Heaven and Earth – beide erschienen 1825 in deutscher Übersetzung von C. Richard und Elise von Hohenhausen in der Zwickauer Ausgabe der Brüder Schumann – geht es um die Frage nach der Emanzipation des Geistes. Diese führt notwendig zum Widerstand gegen die göttlich-autoritäre Ordnung, wofür exemplarisch Kains Mord an seinem Bruder Abel steht; er bedeutet den Verlust des Zustands paradiesischer Ganzheit, in der kein Tod existiert. Für den hier betrachteten Kontext ist es aufschlußreich, daß aus diskurshistorischer Perspektive die Gegenüberstellung von Byron und Scott, die Heine sowohl in Briefe aus Berlin als auch in Die Nordsee III heranzieht, in den 1820er Jahren ein geläufiges Modell in der englischen und auch in der deutschen Literaturkritik war. Zeitgenössische Rezensionen und Literaturkritiken zeigen, daß die beiden Autoren meistens von Traditionalisten und Modernisierungsgegnern einander mit dem Ziel entgegengesetzt wurden, Byron zu kritisieren. Das soll im folgenden exemplarisch bei William Hazlitt für den englischsprachigen und bei Willibald Alexis für den deutschsprachigen Kulturraum gezeigt werden. Der englische Literaturkritiker William Hazlitt benutzt den Vergleich zwischen den Dichtern in The Spirit of the Age von 1825 – einer Sammlung von

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Galley/Estermann, Bd. 1, S. 296. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 37. In Briefe aus Berlin äußert sich Heine dazu folgendermaßen: »Man klagt noch sehr über die Gottlosigkeit seiner Gedichte, und der gekrönte Dichter Southey in London nennt Byron und seine Geistesverwandte ›die satanische Schule‹. Aber Childe-Harold schwingt gewaltig die vergiftete Geißel, womit er den armen Laureaten züchtigt.« (DHA 6, S. 50) Vgl. dazu auch Kap. III.

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Charakterporträts zeitgenössischer Dichter und Denker – zur Bestimmung von Byrons negativen ästhetischen Eigenheiten. Die positive Zeichnung von Scotts Dichtung, die sich, Hazlitt zufolge, durch Natur und Wahrheit auszeichne, wird mit einer negativen Darstellung von Byrons ›modernen‹ Eigenschaften komplementiert: The productions of the Northern Bard have the rust and the freshness of antiquity about them; those of the Noble Poet cease to startle from their extreme ambition of novelty, both in style and matter. Sir Walter’s rhymes are ›silly sooth‹// ›And dally with the innocence of thought,/ Like the old age‹// his Lordship’s Muse spurns the olden time [...]. The object of the one writer is to restore us to truth and nature: the other chiefly thinks how he shall display his own power, or vent his spleen, or astonish the reader either by starting new subjects and trains of speculation, or by expressing old ones in a more striking and emphatic manner than they have been expressed before.151

Während für Hazlitt die leitenden Prinzipien von Byrons Dichtung Innovation und Modernität sind, sowohl in seiner Ästhetik (»extreme ambition of novelty«) als auch in seinen politischen Überzeugungen (»Lord Byron, who in his politics is a liberal«) –,152 ist Scotts Dichtung ›frisch‹, auch wenn sie auf den ersten Blick traditionell und veraltet erscheinen mag (»the rust and the freshness of antiquity«). Das Streben nach dem Neuen, das Hazlitt zufolge Byrons Texte auszeichnet, stumpft die Sinne des Lesers durch die fortwährende Überreizung ab und ermüdet sie (»cease to startle from their extreme ambition of novelty«) – eine These, die bereits Friedrich Schlegel in seinem Studiums-Aufsatz zur Charakterisierung der modernen Ästhetik des Interessanten gebrauchte. Byrons Ästhetik, die die alte Zeit ›verschmäht‹ (»spurns the olden time«) und nach Hazlitt das Prinzip des Interessanten und Modernen repräsentiert, wird kontrastiert mit der schlichten Wahrheit (»silly sooth«) von Scotts Fiktion, die mit einem Zitat aus Shakespeares Twelfth Night beschrieben wird: »dally with the innocence of thought, / Like the old age« – sie verweilt liebevoll bei der Unschuld des Naiven und beschwört das goldene Zeitalter herauf.153 Scotts ›klassische‹ Verse – ihre Klassizität wird durch das ShakespeareZitat unterstrichen – besitzen eine, durch den phonetischen Gleichklang von ›sooth‹ (›wahr‹) und ›soothe‹ (›beruhigen‹) suggerierte, beruhigende Qualität, 151 152

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William Hazlitt, The Spirit of the Age, S. 70. Hazlitt, The Spirit of the Age, S. 70. Der Begriff ›liberal‹ war immer noch vergleichsweise neu zu diesem Zeitpunkt. »Still a new term at this date, and chiefly applied by opponents to the advanced section of the Whig party«, erklärt der Kommentar zu Hazlitts The Spirit of the Age (Hazlitt, The Spirit of the Age, S. 336). The Liberal ist ferner auch der Name von Byrons und Leigh Hunts politisch radikaler Zeitschrift. Vgl. William Shakespeare, Twelfth Night, II.4, V. 46–48. Charakteristisch ist Hazlitts möglicherweise unbewußte Veränderung von »innocence of love«, wie es im Original heißt, zu »innocence of thought«. Wie in Kap. I.2.3 gezeigt wurde, beklagt Hazlitt, daß das Denken in der Gegenwart unweigerlich einen epigonalen Charakter besitze.

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und unterscheiden sich insofern von der Überbietungslogik des Interessanten, das immer neue und stärkere Reize für das Publikum hervorbringen muß. Hazlitt, der – geprägt von der Poetologie der Lake Poets – Scotts Naturgemäßheit schätzt, »in works of genius we prefer him who bows to the authority of nature«154, läßt keinen Zweifel daran, daß gegenüber Byrons Dichtung, die zu stark dem »spirit of the age«155 nachgebe, Scott sein bevorzugter Dichter ist: »In short, we had rather be Sir Walter Scott […] than Lord Byron, a hundred times over.«156 Eine ähnliche Argumentationsweise findet sich auch bei Willibald Alexis, der 1821 in der angesehenen Rezensionszeitschrift Wiener Jahrbücher der Literatur eine vergleichende Besprechung von Byrons und Scotts Werken veröffentlichte. Der Literaturkritiker Alexis, eigentlich Heinrich Georg Wilhelm Häring, war zugleich ein Nachahmer Scotts und wurde bekannt durch Romane wie Walladmor (1824) und Schloß Avalon (1827), die er als freie Übersetzungen von Scotts populärer Fiktion ausgab.157 In seiner Rezension »The works of the right honourable Lord Byron. The works of Walter Scott« betrachtet er, ähnlich wie später Heine in Die Nordsee III, die Werke beider Autoren als jeweils gegensätzlichen Ausdruck des gegenwärtigen Zeitgeistes: »Es wäre höchst interessant, in dem wunderbaren Gegensatze, welche diese beyden fruchtbaren Schriftsteller darbieten, die verschiedenen Einwirkungen einer und derselben Zeit auf ihre gegenseitige Individualität zu betrachten.«158 Wie auch später für Hazlitt, repräsentiert Byron in der Einschätzung des deutschen Literaturkritikers die destruktiven und anarchischen Eigenschaften des Zeitalters – Scott hingegen das bewahrende Element: In einer Revolutionszeit, wo alle Verhältnisse gelöst sind, und im Vernichtungskampfe Altes und Neues einander gegenüber stehen, pflegen auch viele hervorragende Geister die Rettung nur in einem der beyden Extreme zu suchen. Die Einen schreiten unaufhaltsam vor, reißen nieder, und wollen bauen; die Andern kehren in die früheste Vorwelt zurück, und wollen das Heil darin finden, daß sie auch nicht

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Hazlitt, The Spirit of the Age, S. 71. Hazlitt, The Spirit of the Age, S. 76. Hazlitt, The Spirit of the Age, S. 71. Hazlitts Urteil zu Scott ist allerdings nicht einheitlich. So greift Hazlitt in dem Kapitel zu Scott dessen politische Ansichten an – seine Gegnerschaft zu Reform und Zeitgeist (vgl. v.a. S. 66–68): Scott »administers charms and philtres to our love of Legitimacy, makes us conceive a horror of all reform, civil, political, or religious, and would fain put down the Spirit of the Age« (S. 66). Die in allen Bereichen begrüßten Reformen sollen jedoch nicht für die Ästhetik gelten, die bewußt in Hazlitts Aufzählung ausgespart ist. Der Sammelband Willibald Alexis (1798–1871). Ein Autor des Vor- und Nachmärz, der von Wolfgang Beutin und Peter Stein herausgegeben wurde (Bielefeld 2000), widmet sich dem Werk und dem schillernden Charakter des weitgehend vergessenen, monarchietreuen Literaturtheoretikers und Romanschriftstellers. Willibald Alexis, »The works of the right honourable Lord Byron. The works of Walter Scott«. In: Wiener Jahrbücher der Literatur 15 (1821), S. 105–145, hier S. 108.

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den morschen Zierat des alten Baues sinken lassen. Zu den erstern gehört Byron. Er stürzte alle Verhältnisse um, die wie in der wirklichen Welt, so in der Poesie uns heilig waren.159

Scott steht für das Alte und richtet in seiner Dichtung den Blick zurück in die Vergangenheit, in die »früheste Vorwelt«, wohingegen Byron für Alexis das andere Extrem darstellt. Byron verkörpert das Neue – er zerstört, will aber wieder »bauen«, und ist insofern auf die Zukunft gerichtet. Alexis als monarchiefreundlicher, zukünftiger Imitator Scotts ergreift, was nicht überraschend ist, Partei für den schottischen Dichter und lobt seine Objektivität, Klarheit und sein Streben nach Versöhnung der Gegensätze.160 Die innige Liebe in der Auffassung der Dinge mache Scott, der nur selten reflektierend werde und die Leser »mit seinem gesunden Geiste« in die »versunkene Herrlichkeit« des Mittelalters zurückzaubern könne, »wo das jetzt Morsche noch frisch und kräftig da stand«, zu einem echt romantischen Dichter.161 Wie Hazlitt stellt auch Alexis die Verbindung zu Shakespeare her, wenn er betont, daß Scott aufgrund dieser Eigenschaften »ein würdiger Nachfolger Shakespeares« sei.162 Scotts Ästhetik spiegelt sich in seiner politischen Haltung, die auch Alexis befürwortet: Seine Texte, die dem heimatlichen Raum verbunden sind, zeugen von einem nationalen Sinn und der Liebe zum Vaterland.163 Byron, der viel gereist ist, wird dagegen mit der Fremde assoziiert – er »flieht, um Dichter zu seyn, sein Vaterland, und sucht die weite Ferne«;164 der heimatliche Bezug, der ›Raumgeist‹ des romantischen Dichters Scott fehlt ihm. Statt dessen gibt Byron sich in seinen Texten als reflektierender Kosmopolit zu erkennen. »Ein Weltbürger, ein Philosoph wird nie ein Romantiker seyn«, schreibt Alexis mit Blick auf Byron.165 Besonders beklagt Alexis in ästhetischer Hinsicht an Byrons Texten, daß der Schluß eines jeden Gedichts nicht befriedigend ende, sondern einen Stachel hinterlasse.166 Die Charakteristika seiner Texte: Subjektivität, Handlungsarmut und Dissonanz – im übrigen genau jene Merkmale, die Alexis vier Jahre später in seiner anonymen Rezension von 1825 auch Heine vorwarf – erlauben für Alexis, den Befürworter und Nachahmer Scotts, keine objektive Darstellung der äußeren Wirklichkeit.

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Alexis, »The works of the right honourable Lord Byron«, S. 110. Vgl. Alexis, »The works of the right honourable Lord Byron«, S. 109, 131 u. 138. Alexis, »The works of the right honourable Lord Byron«, S. 131. Vgl. S. 135f. u. 139. Alexis, »The works of the right honourable Lord Byron«, S. 139. Vgl. Alexis, »The works of the right honourable Lord Byron«, S. 109. Alexis, »The works of the right honourable Lord Byron«, S. 109. »Scott [sucht] das innerste Heiligthum seiner Heimat, und setzt einen Stolz darauf, nur für sein Vaterland, für Schottland zu dichten.« (S. 109) Alexis, »The works of the right honourable Lord Byron«, S. 137. Vgl. Alexis, »The works of the right honourable Lord Byron«, S. 113.

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Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß Scotts Romane historische Fiktion sind, die eine Nostalgie für die Vergangenheit – für mittelalterliche Werte wie Rittertum und Adel – artikulieren und eine politische Form der Beschäftigung mit der Vergangenheit repräsentieren, die Heine bei deutschen Romantikern wie August Wilhelm und Friedrich Schlegel scharf verurteilte. Auch in formaler Hinsicht widersetzen sich Scotts Romane der Gegenwart und einer modernen, zerrissenen Ästhetik, für die vor allem – sowohl von Hazlitt und Alexis kritisiert – Byrons Texte einstehen. Die zeitgenössische Diskussion von Byron und Scott und die Beurteilung der Poetik ihrer Texte stellen demnach nicht nur ein literaturimmanentes Anliegen dar, sondern bedeuten zugleich eine Positionierung innerhalb der politisch-kulturellen Landschaft. Es zeigt sich auch, daß die Gegenüberstellung des Erzählers von Scott und Byron nicht als direkte Bekundung von Heines Distanzierung verstanden werden kann, sondern als Aussage in einem komplexen kulturellen Feld gelesen werden muß, in dem sich ästhetische mit politischen Interessen verbinden. Aufgrund der mit den jeweiligen Autoren assoziierten politischen Position liegt es nahe, den Kommentar zu Scott und Byron in Heines Reisebild Die Nordsee III ironisch zu verstehen. Eine solche Lesart würde auch der unmittelbare Kontext stützen, wenn der Erzähler auf Alexis im Kontext seiner Scott-Imitationen zu sprechen kommt. Nach dem emphatischen Ausruf des Erzählers, daß Scott ihm »in jedem seiner Werke, das Herz erfreut, beruhigt und erkräftigt« (DHA 6, 162), heißt es weiter über die populären Romane des Schotten: Mich erfreut sogar die Nachahmung derselben, wie wir sie bey W. Alexis, Bronikowski und Cooper finden, welcher erstere, im ironischen Walladmor, seinem Vorbilde am nächsten steht, und uns auch in einer späteren Dichtung so viel Gestalten- und Geistesreichthum gezeigt hat, daß er wohl im Stande wäre, mit poetischer Ursprünglichkeit, die sich nur der scottischen Form bedient, uns die theuersten Momente deutscher Geschichte, in einer Reihe historischer Novellen, vor die Seele zu führen. (DHA 6, 162)

Obwohl die Stelle zunächst wie ein Lob der Scott-Nachahmer und von Alexis selbst wirkt, läßt sich bei einem genaueren Blick eine subtile Spitze gegen den monarchistischen, preußenfreundlichen Alexis feststellen. Die nationalhistorische Fiktion in der Folge Scotts verherrlicht die Vergangenheit – sie zeigt »die theuersten Momente deutscher Geschichte« –, wodurch sie den konservativen und restaurativen Tendenzen dient. Nur wenige Absätze zuvor hatte sich der Erzähler von Die Nordsee III über die ›Teutomanie‹ der deutschen Gelehrten, wie August Wilhelm Schlegel, Ernst Moritz Arndt, Carl Dietrich Hüllmann und Johann Gottlieb Radloff lustig gemacht, bei denen er 1819 in Bonn »vier Collegien« hörte (DHA 6, S. 153). Über Arndt heißt es etwa, daß er »in den altdeutschen Wäldern jene Tugenden suchte, die er in den Salons der Gegenwart vermißte« (DHA 6, S. 154). Auch Jost Hermand hat in diesem Kontext 134

auf Heines Kritik an Versuchen hingewiesen, vergangene Epochen zum Leitbild der Gegenwart zu machen, wie etwa in der burschenschaftlichen Begeisterung für das Germanentum.167 Die historischen Romane in der Folge Scotts sind aber nicht nur politisch regressiv, sondern auch ästhetisch rein reproduzierend: Alexis’ künstlerische Originalität, seine »Ursprünglichkeit«, bedient sich der »Form« eines anderen. In der Gegenüberstellung von Scott und Byron, so läßt sich nun sagen, bezieht sich Heine auf den zeitgenössischen Diskurs und kann auf etablierte Zuschreibungen – wie die Parallelen in der englischen und deutschen Literaturkritik veranschaulichen konnten – zurückgreifen.168 In der Konfrontation von Scott und Byron spiegelt sich das grundsätzliche Thema von Die Nordsee III: ein sorgfältiges Abwägen der Vor- und Nachteile der Aufklärung und ihrer Folgen zwischen Revolution und Restauration, Moderne und Vergangenheit, Zerrissenheit und Ganzheit, Dissonanz und Versöhnung. Welchen Weg wählt nun aber Heine? Ulrich Stadler beantwortet diese Frage damit, daß Heine in der Darbietungsform seines Textes versuche, die Vorzüge beider Zustände umzusetzen.169 Gleichzeitig betont er, daß Heines poetologisches Programm »die Suche nach einer neuen ,wahren Mitte‹ auf dem Umweg über die Extreme« sei.170 Inwiefern aber »extreme unbefriedigende Einseitigkeiten«, zu denen Stadler den Schluß des Reisebilds zählt, als die Verbindung der Vorzüge beider Zustände gelten können, bleibt offen.171 Im folgenden soll eine Lesart versucht werden, die die Integration von Immermanns Xenien weniger als Streben nach einer neuen Mitte versteht, sondern vielmehr als Auftakt zu einem polemisch geführten Kampf gegen die deutschen literarischen und politischen Zustände. Denn diese verhindern in Deutschland – im Unterschied zu Frankreich, wo die objektiven Voraussetzungen gegeben sind – eine Versöhnung zwischen dem Realen und Idealen. 2.6.3. Neue Xenien: Heines Kooperation mit Immermann und der Aspekt der Gegenwart in Die Nordsee III In Die Nordsee III wird eine weitere, dritte Möglichkeit des Verhältnisses zwischen Ideal und Wirklichkeit in der Gegenwart gezeigt, für die Paul Philippe 167 168

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Vgl. Hermand, Der frühe Heine, S. 89. Auch bei Friedrich Schlegel ist eine kurze Gegenüberstellung von Byron und Scott zu finden, und zwar in der 14. Vorlesung seiner Geschichte der alten und neuen Literatur (siehe KSA VI, S. 334f.). Besonders interessant an diesem Umstand ist, daß Heine während seiner Arbeit an Die Nordsee III Schlegels Vorlesungen von 1815 las (vgl. Mende, Heine-Chronik, S. 57). Vgl. Stadler, »Heines Die Nordsee III als programmatischer Beitrag zur ›Neuen Mythologie‹«, S. 559. Stadler, »Heines Die Nordsee III als programmatischer Beitrag zur ›Neuen Mythologie‹«, S. 564. Stadler, »Heines Die Nordsee III als programmatischer Beitrag zur ›Neuen Mythologie‹«, S. 564.

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Comte de Ségurs Histoire de Napoléon et de la grande armée pendant l’année 1812 steht. Im Gegensatz zu Goethes und Scotts ›naiven‹ literarischen Produktionen, die von Zeitenthobenheit und Unbewußtheit sowie Regression in die Vergangenheit zeugen, zeige sich in der französischen Literatur Ségurs eine Zeitgemäßheit, die sich der Gegenwart und dem Neuen statt dem Alten zuwendet. Ségurs episches Gedicht über den Rußlandfeldzug Napoleons ist »ein französisches Volkslied« (DHA 6, 162), das zwar den »Grundton und Stoff der epischen Dichtungen aller Völker« (DHA 6, 163) besitzt: »Aber dieser Ton weckt nicht die Liebe zu längst verschollenen Tagen der Vorzeit, sondern es ist ein Ton, dessen Klangfigur uns die Gegenwart giebt, ein Ton, der uns für eben diese Gegenwart begeistert.« (DHA 6, 164) Die neue Mythologie, in der Napoleon die zentrale Gestalt ist, wird zu einer Mythologie des Neuen, was sich in der Verschiebung der Emphase abzeichnet, die zunächst auf Napoleon liegt, »dem neuen Manne, dem Manne der neuen Zeit, dem Manne, worin diese neue Zeit so leuchtend sich abspiegelt« (DHA 6, 161), und dann auf der neuen Zeit, der er ganz ›gemäß‹ ist. Im Unterschied zu den Deutschen und den Engländern kann Ségurs »Volkslied« das Wirkliche ›naiv‹ abbilden, da in Frankreich die äußeren, politischen Bedingungen dafür vorhanden sind. »Hingegen die Helden des französischen Epos sind wirkliche Helden«, konfrontiert der Erzähler die Deutschen mit den Franzosen, und so bräuchten diese »nur treu zu erzählen, was sie in den letzten dreyßig Jahren gesehen und gethan, und sie haben eine erlebte Literatur, wie noch kein Volk und keine Zeit sie hervorgebracht« (DHA 6, 162). Heine, der während seiner Arbeit an Die Nordsee III im Oktober 1826 den Plan faßte, »Deutschland auf immer zu verlassen« (HSA 20, 263), um nach Paris zu gehen, ist – im Unterschied zu Schiller – zu diesem Zeitpunkt davon überzeugt, daß in Frankreich die Synthese des Idealen und Realen in der Wirklichkeit der jüngsten Geschichte tatsächlich gegeben sei und deswegen nur abgebildet werden müsse. In Deutschland hingegen, und das zeigt eindringlich die Passage, die am Ende des Reisebildes nach der Beschreibung von Ségurs modernem Epos folgt, herrschen keine entsprechenden politischen Bedingungen, sondern Zerrissenheit und Stagnation. Die Partikularinteressen des Landes und generell die politische Situation nach 1815 stehen den Deutschen bei der Schaffung eines Epos, das dem französischen vergleichbar wäre, im Weg: Unsere Leipziger Messen haben wenig profitirt durch die Schlacht bey Leipzig. Ein Gothaer, höre ich, will sie noch nachträglich, in epischer Form, besingen; da er aber noch nicht weiß, ob er zu den 100,000 Seelen gehört, die Hildburghausen bekömmt, oder zu den 150,000, die Meiningen bekömmt, oder zu den 160,000, die Altenburg bekömmt, so kann er sein Epos noch nicht anfangen, er müßte denn beginnen: »Singe unsterbliche Seele, Hildburghäusische Seele, – Meining’sche Seele, oder auch Altenburgische Seele, – Gleichviel singe, singe der sündigen Deutschen Erlösung!« Dieser Seelenschacher im Herzen des Vaterlandes und dessen blu-

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tende Zerrissenheit, läßt keinen stolzen Sinn, und noch viel weniger ein stolzes Wort aufkommen, unsere schönsten Thaten werden lächerlich durch den dummen Erfolg, und während wir uns unmuthig einhüllen in den Purpurmantel des deutschen Heldenblutes, kömmt ein politischer Schalk und setzt uns die Schellenkappe aufs Haupt. (DHA 6, 164)

Bei diesem Spott auf die deutsche Misere trägt vor allem die intertextuelle Anspielung auf Friedrich Gottlieb Klopstock, den patriotisch-nationalen ›Barden‹ des 18. Jahrhunderts und geistigen Vater des ›Göttinger Hains‹, in dem Zitat des ersten Verses seines Messias – »Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung«172 – dazu bei, die Idee der deutschen Kulturnation aufzurufen, die sich im 18. Jahrhundert herausgebildet hatte und besonders von Schiller theoretisch artikuliert wurde. Für Heine steht die aktuelle, politisch zerrissene Situation der Ausbildung von Würde und Selbstbewußtsein des deutschen Volkes entgegen und ist zugleich die Ursache der Lächerlichkeit des deutschen Narren, dem von seinen Fürsten die politische »Schellenkappe« aufgesetzt wurde. Diese Passage liest sich wie eine direkte Replik auf Schillers Idee der Kulturnation, wie er sie in den berühmten Xenien 95 und 96 oder in dem Fragment formuliert: Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge. Die Majestät des Deutschen ruhte nie auf dem Haupt s. Fürsten. Abgesondert von dem politischen hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet, und wenn auch das Imperium unterginge, so bliebe die deutsche Würde unangefochten. Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur und im Charakter der Nation, die von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist. […] Unsre Sprache wird die Welt beherrschen. Die Sprache ist der Spiegel einer Nation, wenn wir in diesen Spiegel schauen, so kommt uns ein großes treffliches Bild von uns selbst daraus entgegen.173

Während für Schiller die Würde und Größe der Deutschen unabhängig vom politischen Zustand des Landes sich in ihrer Kultur zeigen, gibt es für Heine keine vom Politischen abgesonderte ästhetische Kultur, in der sich die Sprache und der Geist der Deutschen ungehemmt entfalten könnten. An Ségurs Epos demonstriert Heines Reisebild, daß die Ästhetik der Spiegel des Politischen ist. Die Sprache als »Spiegel einer Nation« zeigt deswegen nicht ›Deutsche Größe‹, sondern deutsche Unfreiheit und Zerrissenheit. Anders als für Schiller, der Schönheit als Symbol menschlicher Ganzheit betrachtet, die den Grund für künftige politische Freiheit legen soll, sieht Heine – konträr zu Schiller – die politische Freiheit als notwendige Voraussetzung für Schönheit und menschlich-ästhetische Ganzheit. Deswegen kann Goethe, trotz seiner »nackten Göt-

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Friedrich Gottlieb Klopstock, Der Messias. In: Klopstock, Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. I. Abt. Bd. IV, 1. Hrsg. von Elisabeth Höpker-Herberg. Berlin, New York 1974, S. 1. Schiller, , SW 1, S. 473–475.

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tergestalten« (DHA 6, 146) für die Deutschen nicht den Platz einnehmen, den Napoleon in Frankreich hat. Die deutsche Sprache und Literatur können bis zu dem Zeitpunkt der politischen Emanzipation und Freiheit nur die Zerrissenheit der Nation spiegeln. Wie wirkt sich nun aber diese Überzeugung auf Heines Reisebild in werk- aber auch rezeptionsästhetischer Hinsicht aus? Die Form von Die Nordsee III wurde in der Forschung bereits umfangreich kommentiert. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Kompositionstechnik des Textes basiert, ähnlich wie in Heines weiteren Reisebildern, auf Ideenassoziation. Von konkreten Ereignissen im Badeort sowie von persönlichen Erinnerungen ausgehend, werden allgemeine kunsttheoretische, geschichtsphilosophische, soziokulturelle und gesellschaftspsychologische Themen verhandelt, zu denen etwa Literatur, Wissenschaft und Sagenstoffe zählen, aber auch die Gemeinschaft der Insulaner und das Verhalten des Adels. Gerhard Höhn sieht in der Form der Abschweifungen und Assoziationen den »Rhythmus der ständig vor- und zurückdrängenden Meereswellen«; Wolfgang Preisendanz betont, daß ein »verborgenes Kompositionsprinzip«, und zwar der »Bezug auf die Emanzipationsprobleme«, den oberflächlichen Eindruck der Kontingenz aufhebt.174 Jost Hermand stellt den Verzicht auf eine abgerundete ästhetische Form in den Kontext der »dialektische[n] Gespaltenheit des allgemeinen Weltzustandes«, die auf der inhaltlichen Ebene des Textes artikuliert werde: »Und so ist Heines Nordsee III der absolut adäquate Ausdruck einer ortlosen, kritisch-reflektierenden und ständig relativierenden Gesinnung, die sich nur in Kontrasten, Antithesen und Ideenassoziationen ausdrücken kann.«175 Scheinbar willkürliche Passagen, darin sind sich die meisten Untersuchungen einig, sind durch kontrastive oder symmetrische Entsprechungen miteinander verbunden, wodurch die einzelnen Teile eine epische Integration besitzen. Am hartnäckigsten widersetzt sich der Schlußteil – die Xenien, die Karl Immermann dem Text beisteuerte – der Einheit des Textes. So spricht etwa Ulrich Stadler von der Enttäuschung des Lesers bei der Lektüre des Schlusses von Die Nordsee III, der das Reisebild eigenartig unsubstantiell aufhören lasse und den Eindruck erwecke, als ob dem Autor »die Lust vergangen« sei, seinen Text bedeutungsvoll abzurunden.176 Auch die zeitgenössischen Leser nahmen

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Höhn, Heine-Handbuch, S. 204; Preisendanz, »Der Funktionsübergang«, S. 59. Ernst Feise hat bereits 1942 gezeigt, daß trotz der Heterogenität der angesprochenen Gegenstände ein Thema in dem Reisebild auf verschiedenen Ebenen variiert wird (Ernst Feise, »Form and Meaning of Heine’s Essay Die Nordsee«. In: Monatshefte für deutschen Unterricht 34 (1942), S. 223–234). Hermand, Der frühe Heine, S. 92. »Es scheint, als sei dem Autor die Lust vergangen, dem Werk eine wirklich gehaltvolle Abrundung zu geben. Der seltsame Eindruck des Verflüchtigens, dem sich wohl niemand entziehen kann, entpuppt sich jedoch vor dem Hintergrund der indirekten Suche nach einer ›wahren Mitte‹ nicht als kompositorische Schwäche, sondern als Einlösung der immanenten Poetik der ›Nordsee‹. Dieses ›Reisebild‹ soll sich ja gerade nicht abrunden, sondern öffnen zu einer

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bereits Anstoß an der offenen Form. Während Alexis – unter dem Kürzel ›a.‹ – in der Nr. 99 des Berliner Conversations-Blatts vom 18. Mai 1827 zwar die Bemerkungen über Scott lobte und mit zum Besten zählte, was Heine je geschrieben habe,177 fiel sein Urteil über die Form des Reisebilds eine Woche zuvor, am 11. Mai, in derselben Zeitschrift nicht allzu positiv aus: Aber dann [nach den Nordsee-Gedichten, A.B.] kommt es wild und bunt. Auch Immermann hat sich zu Heine gesellt um kritisch auszuschlagen, als geschähe dies in dem nicht allzu voluminösen Buche nicht schon genug. Sollte aber die Zeit der Xenien nicht schon wieder vorüber seyn, nachdem sie zahm und wild, als Raketen und Schwärmer, endlich sogar mit ihren neu aufgelegten Eltervätern an unsern Ohren, in schnellerm und matterem Fluge, vorausgesaust sind?178

Alexis zeigt sich nicht nur von dem chaotischen Durcheinander des Textes befremdet, sondern auch von der zusätzlichen Vermischung der Heineschen mit einer weiteren Stimme, nämlich mit der des befreundeten Autors Immermann. Er stellt jedoch dessen Xenien am Ende des Textes in einen wichtigen Kontext. Denn der zweite Satz des Zitats von Alexis ist eine doppelte Anspielung, sowohl auf die Xenien von Schiller und Goethe, mit denen sie 1797 die deutschen Literaten und ihr Publikum kritisierten und einen Literaturskandal bei den Zeitgenossen provozierten, als auch auf ihre Neuauflage von Wilhelm Ernst Weber. Seine Xeniengabe für 1827, die Immermann und Heine zum Zeitpunkt, als das Reisebild in den Satz ging, bekannt sein konnte, da sie bereits 1826 erschienen war, enthielt neben Webers eigenen Xenien, die er mit Kleine Schwärmer über die neueste deutsche Literatur betitelte, die Xenien des Schillerschen Musenalmanachs von 1797.179 Wie die Rezension von Alexis zeigt, wurden die Xenien am Ende von Die Nordsee III auch tatsächlich unmittelbar in diesen Kontext gestellt. Die Präsenz der fremden Stimme des Autors Immermann am Ende von Heines Schrift Die Nordsee III widersetzt sich der Geschlossenheit und Ganzheit des traditionellen Werk- und Autorbegriffs und ist die konsequente Umsetzung einer Ästhetik des Modernen, Zerrissenen und Offenen, wie sie im gesamten Text des Reisebilds entwickelt wurde.180 Die fehlende ›ästhetische Rundung‹ durch die Integration des Fremden korrespondiert mit der soziokulturellen Befindlichkeit des modernen Intellektuellen, der als fremder, heimat-

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›wahren Mitte‹ hin, die es über extreme, unbefriedigende Einseitigkeiten erst anzuvisieren gilt.« (Stadler, »Heines Die Nordsee III als programmatischer Beitrag zur ›Neuen Mythologie‹«, S. 564) Vgl. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 257f. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 254. Siehe Galley/Estermann, Kommentar zu Bd. 1, S. 48. Feise, der Heines Text gegen den Vorwurf der Formlosigkeit verteidigt, interpretiert seine Struktur – »in its very decentration« – als textuelles Äquivalent des zentralen inhaltlichen Aspekts der Zerrissenheit (Feise, »Form and Meaning«, S. 233).

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loser Reisender seine Gefühle eklektizistisch »aus allen Ländern und Zeitaltern zusammengelesen« (DHA 6, 147f.) hat. Die Integration einer fremden Stimme in Heines Reisebild trägt aber weniger dazu bei, wie Stadler meint, »die Polyperspektivität divergierender Stimmen« abzubilden,181 als vielmehr dazu, nach dem Vorbild von Goethe und Schiller eine geschlossene Front mit Freunden und Gleichgesinnten im Kampf gegen die »deutsche Literaturmisere« (DHA 6, 164) zu formieren. Denn Immermanns Xenien repräsentieren zwar als ›fremdes Wort‹ Zweistimmigkeit; diese ist aber in Heines Reisebild nicht verschieden-, sondern gleichgerichtet.182 So werden die nachfolgenden Xenien von Immermann als Mitteilung eines Geistesverwandten eingeleitet: Eben die Literaturen unserer Nachbaren jenseits des Rheins und des Canals muß man mit unserer Bagatell-Literatur vergleichen, um das Leere und Bedeutungslose unseres Bagatell-Lebens zu begreifen. Da ich selbst mich erst späterhin über dieses Thema, über deutsche Literaturmisere verbreiten will, so liefere ich einen heitern Ersatz durch das Einschalten der folgenden Xenien, die aus der Feder Immermanns, meines hohen Mitstrebenden, geflossen sind. Die Gleichgesinnten danken mir gewiß für die Mittheilung dieser Verse, und bis auf wenige Ausnahmen, die ich mit Sternen bezeichne, will ich sie gern als meine eigne Gesinnung vertreten. (DHA 6, 164f.)

Die Idee, schriftliche Äußerungen seiner Freunde zur gegenwärtigen Literatur und Wissenschaft in den Text zu integrieren, entwickelte Heine während der Arbeit an Die Nordsee III im Oktober 1826. Zu diesem Zweck wünschte er sich von Moses Moser, dem »Gleichgesinntesten meiner Freunde«, »[f]ragmentarische Aussprüche über [den] Zustand der Wissenschaften in Berlin oder Deutschland oder Europa« (HSA 20, 267). Auch an Varnhagen und Immermann richtet sich Heine, mit der Bitte »Lappen« beizusteuern, die er in seinen Text »einflicken« wolle (HSA 20, 271). Immermann war jedoch der einzige, der Heines Aufforderung nachkam. In rezeptionsästhetischer Hinsicht zielt der Text dabei nicht auf Versöhnung ab; vielmehr bedeutet die Frontenbildung mit Immermann eine Kampfansage an das gesamte literarische Feld, zu dem sowohl das Publikum als auch andere Schriftsteller zählen, wie August von Platen, dem einige der Immermannschen Xenien gewidmet sind. Dabei beziehen sich Immermann und Heine, so die These, bewußt auf das Vorbild von Goethe und Schiller, die mit ihren Xenien

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Stadler, »Heines Die Nordsee III als programmatischer Beitrag zur ›Neuen Mythologie‹«, S. 564. Für die hier verwendete Terminologie zur Zweistimmigkeit bzw. Dialogizität vgl. Michail Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs (aus dem Russischen von Adelheid Schramm). Frankfurt a.M. u.a. 1985, S. 222. Bachtin spricht von einer »Stilisierung«, wenn »die Intention des Autors […] sich des fremden Wortes in der Richtung seiner eigenen Absichten« bedient (S. 215).

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die Einseitigkeit und Mittelmäßigkeit der literarischen Produktionen ihrer Zeit sowie den unterentwickelten Publikumsgeschmack anprangerten. Bereits Schillers Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung ist neben ihren kulturhistorischen und ästhetiktheoretischen Betrachtungen als umfassende Literaturgeschichte angelegt, die auch Schillers eigenes literarisches Umfeld in kritischer Perspektive beleuchtet. Die Xenien, die kurze Zeit später zusammen mit Goethe entstanden sind, vervollständigen die satirische Kritik der deutschen Gegenwartsliteratur um 1800. In einem Brief an Goethe vom 17. August 1797 beklagt sich Schiller zum einen über die zur Karikatur neigenden Einseitigkeiten »diese[r] Hölderlins« und äußert zum anderen die Überzeugung, daß man das Publikum »inkommodieren, ihnen ihre Behaglichkeit verderben, sie in Unruhe und in Erstaunen setzen« muß.183 »Das einzige Verhältnis gegen das Publikum, das einen nicht reuen kann, ist der Krieg«,184 lautet dementsprechend Schillers berühmtes Fazit an Goethe von 1799. Heines ›Kriegserklärung‹ an seine Gegner, die er Varnhagen während der Arbeit an Die Nordsee III mitteilt, lautet ähnlich: »Ich darf jetzt Alles sagen, und es kümmert mich wenig ob ich mir ein Dutzend Feinde mehr oder weniger aufsacke« (HSA 20, 271). Er richtet an Varnhagen sogar die Frage, ob er »irgend einen unserer Intimen gegeißelt zu sehen« wünsche (HSA 20, 271). Während jedoch Schillers Urteil über die zeitgenössische Dichtung bei der Frage, wie das richtige Kunstwerk auszusehen habe, umso härter ausfällt, je mehr sich die Dichtung mit der empirischen Wirklichkeit einläßt, verfolgt Heines Poetik die entgegengesetzte Richtung. Seine Kritik, die er vor allem in Die romantische Schule weiterentwickelt, gilt derjenigen Literatur, die sich zu weit von der Wirklichkeit entfernt. In Briefe aus Berlin rügt er die deutschen Autoren im Vergleich mit den französischen, die beständig in der Gesellschaft leben, und mit den englischen, die permanent reisen würden. Im Unterschied zum »Charakter der deutschen Romane« seien bei den englischen Schriftstellern »die wirkliche Welt und das wirkliche Leben« (DHA 6, 52f.) Thema. Der deutsche Dichter, so heißt es dort weiter, »verschließt sich in seine einsamen Dachstube, faselt eine Welt zusammen, und in einer aus ihm selbst wunderlich hervorgegangenen Sprache schreibt er Romane, worin Gestalten und Dinge leben, die herrlich, göttlich, höchstpoetisch sind, aber nirgends existiren« (DHA 6, 53). In Die Nordsee III wiederum wird das gleiche Bild der Dachstube verwendet, um auf die Differenz zu den Franzosen hinzuweisen: »Wir Deutschen schreiben auch epische Gedichte, aber die Helden derselben existiren bloß in unserem Kopfe. Hingegen die Helden des französischen Epos sind wirkliche Helden, die viel größere Thaten vollbracht, und viel größere Leiden gelitten, als wir in unseren Dachstübchen ersinnen können.« Wie 183 184

Goethe, Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794–1805, MA 8/1, S. 394. Goethe, Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, MA 8/1, S. 711f.

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gezeigt wurde, ist diese Emphase des Wirklichen auch ein Charakteristikum von Byrons Poetik. Sowohl bei Byron als auch Heine verbindet sie sich mit der Wertschätzung des Reisens, das eine Voraussetzung für die epische Breite in der Erfahrung des Wirklichen darstellt. Zwar ist das Reisen ein Ausdruck der Heimatlosigkeit des modernen Intellektuellen; positiv formuliert ist aber der Reisende auch Kosmopolit, der mit fremden Kulturen und fremden Zeiten bekannt ist.185 Dazu heißt es in Die Nordsee III: Ja, das ganze Corps der deutschen Legion hat viel beygetragen zur Milderung alter Vorurtheile, diese Leute sind weit herum in der Welt gewesen, und in der Welt sieht man viel, besonders in England, und sie haben viel gelernt, und es ist eine Freude, ihnen zuzuhören, wenn sie von Portugal, Spanien, Sizilien, den jonischen Inseln, Irland, und anderen weiten Ländern sprechen, wo sie gefochten, und »Vieler Menschen Städte gesehen und Sitten gelernet«, so daß man glaubt, eine Odyssee zu hören, die leider keinen Homer finden wird. (DHA 6, S. 155)

Da eine Versöhnung des Idealen mit dem Realen unter deutschen Bedingungen, wie in Die Nordsee III gezeigt wurde, nicht möglich ist, will Heine mit seinen Texten das Publikum wie seine literarischen Gegner in ihrer Stagnation provozieren und mit ihrem Mangel konfrontieren. Dazu bedient er sich der Verfahren der Satire, Groteske und Karikatur, die als Formen des Defizitären negativ auf das Ideal bezogen sind. Wie Byron und Schiller schwingt Heine die »vergiftete Geißel« (DHA 6, 50), um das Publikum bloßzustellen. Die oben dargestellte These von Sammons, daß Heines Desavouierung von Byron ein Selbstporträt sei, kann mit Bezug auf die intendierte Wirkung seiner kämpferisch-aggressiven Texte bekräftigt werden: Auch der »Harlekin« Heine bezweckt, »mit seinem schwarzen Blute, Herren und Damen neckisch zu bespritzen« (DHA 6, 161). Daß ihm die Provokation tatsächlich gelungen ist, zeigen die verschiedenen, empörten Reaktionen auf das Reisebild aus allen Gesellschaftsschichten: u.a. von den Einwohnern Norderneys, dem Adel Hannovers oder August von Platen.186 Konterkariert wird die politische und ästhetische Stagnation der deutschen Misere vom neuen Mythos des Meeres. Mit seiner unablässigen Bewegung repräsentiert es den Gegensatz zur Erstarrung und verweist auf die Generierung des Neuen. Auch Gerhard Höhn weist auf die besondere Rolle des Meeres hin, 185 186

Vgl. dazu auch den Brief vom 1. September 1825 an Christian Sethe (HSA 20, S. 214). Vgl. DHA 6, S. 730f. Platen, der sich sofort in einer der Xenien erkannte, schreibt in einem Brief vom 12. März 1828 an Graf Fugger: »Daß Immermann sie gemacht, ist verzeihlich, daß aber Heine sie aufnimmt, sie vertritt, daß er mir Sottisen durch die dritte Hand sagt, ist nicht verzeihlich und ist nebenbei eine ächt jüdische Handlungsweise.« (DHA 7/2, S. 1068) Das antisemitische Stereotyp, das Platen hier verwendet, zeigt an, daß diese Stellungnahme bereits zeitlich zur frühen Phase des sogenannten Platenstreits gehört, für den bekanntlich der Abdruck von Immermanns Xenien in Die Nordsee III den Auftakt bildete. Heine reagierte auf Platens Antisemitismen mit homophoben Klischees wie in Die Bäder von Lukka. Vgl. dazu Kap. III.3.

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das ihm zufolge einerseits als Spiegel des zerrissenen Ich und andererseits als Gegenbild der restaurativ erstarrten und überholten Gesellschaft fungiere.187 Die Bewegung und Größe des Meeres sprengt Grenzen und Beschränkungen – nicht von ungefähr wird der »Dom«, der dem Erzähler nie groß genug war, dem »wogende[n], unermeßliche[n] Meer« (DHA 6, 152) entgegengesetzt. Nicht nur in dem Reisebild, sondern auch in seinen Briefen erwähnt Heine mehrmals seine innige Verbundenheit mit dem Meer.188 Heines Beschreibung des »Salzwasserelement[s]« gegenüber Moser (»es wird mir wohl und leicht zu Muth wenn mein Kahn von den Wellen wie ein Ball hin und her geworfen wird« (HSA 20, 265) und Immermann: »O wie lieb ich das Meer, ich bin mit diesem wilden Ellement so ganz herzinnig vertraut worden, und es ist mir wohl wenn es tobt« (HSA 20, 263), hebt sowohl die unkontrollierbare Dynamik der Naturgewalt als auch seine persönliche Hingabe an die Bewegung des Meeres hervor. Der unablässigen Bewegung des Vor- und Zurückwälzens des Meeres entspricht die Bedeutung von revolutio als einer Umwälzung, die, wie oben gezeigt wurde, nach der Französischen Revolution bei den Zeitgenossen zunehmend den Sinn von Veränderung und Fortschritt annahm. Byron verwendet das Bild des Meeres in einer ganz ähnlichen Weise. In der Vorrede zu seinem Drama The Two Foscari schreibt er im Kontext der Kontroverse mit Southey, den er als reaktionären Apostaten kritisiert, über die Notwendigkeit einer Revolution in England: »[T]hat a revolution is inevitable, I repeat. The government may exult over the repression of petty tumults; these are but the advancing waves repulsed and broken for a moment on the shore, while the great tide is still rolling on and gaining ground with every breaker.« (CPW VI, 224) Heine hat auf diese Stelle sowohl implizit in Briefe aus Berlin hingewiesen – »[d]ie Vorrede zu seinen drey neuen Dramen enthält höchst merkwürdige Worte über unsere Zeit und den Revoluzionsstoff, den sie in sich trägt« (DHA 6, 50), als auch explizit in seiner Börne-Schrift zitiert. Ins Pessimistische gewendet heißt es in dem 1840 fertiggestellten Text: Die Welt bleibt, nicht im starren Stillstand, aber im erfolglosesten Kreislauf. Einst, als ich noch jung und unerfahren, glaubte ich, daß wenn auch im Befreyungskampfe der Menschheit der einzelne Kämpfer zu Grunde geht, dennoch die große Sache am Ende siege... Und ich erquickte mich an jenen schönen Versen Byrons: »Die Wellen kommen eine nach der andern herangeschwommen, und eine nach der anderen zerbrechen sie und zerstieben sie auf dem Strande, aber das Meer selber schreitet vorwärts – –« (DHA 11, 47)

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Vgl. Höhn, Heine-Handbuch, S. 204. In Die Nordsee III gesteht der Erzähler etwa: »Ich liebe das Meer, wie meine Seele./ Oft wird mir sogar zu Muthe, als sey das Meer eigentlich meine Seele selbst […].« (DHA 6, S. 150) An Campe schreibt Heine im Juli 1826: »Das Meer war so wild, daß ich oft zu versaufen glaubte. Aber dies wahlverwandte Element thut mir nichts Schlimmes. Es weiß recht gut, daß ich noch toller seyn kann.« (HSA 20, S. 254)

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Ende der 1820er Jahre richtet sich Heine jedoch in seinem Reisebild Die Nordsee III noch optimistisch und kampfbereit gegen die »gewöhnlichen SüßwasserLeser« (HSA 20, 247) und positioniert sich innerhalb des literarischen Feldes mit einer Kampfansage an die Mittelmäßigkeit und politische Regression seines Landes. In diesem Feld hat Byron eine doppelte Position: Zum einen ist er der populäre europäische Autor, der beim ›Süßwasser‹-Publikum Weltschmerz und Melancholie repräsentiert, und von dem sich Heine abgrenzen muß, um eine eigene Stimme im literarischen Feld zu erlangen – oder in Bourdieus Worten: um sich zu unterscheiden. Zum anderen ist Byron aber genau der kosmopolitische Schriftsteller, der – jenseits der deutschen Literaturmisere – dem Schreiben Heines wesentliche ästhetische und politische Impulse gibt. Es ist erstaunlich, daß der ironische Ton der Passage über Byron und Scott in der Forschung bisher nicht beachtet wurde – vor allem weil Heines extensiver Gebrauch von Ironie in den Reisebildern sowie seine literarische Strategie des doppelt kodierten Sprechens vielfach untersucht wurden. In der Reise von München nach Genua (1828/29) wird der Unterschied zwischen der exoterischen und esoterischen Lektüre von kulturellen Produktionen vom Erzähler kommentiert, der während seiner italienischen Reise auf der Straße die Aufführung einer opera buffa beobachtet: Das [die Begeisterung für die Freiheit, A.B.] ist der esoterische Sinn der Opera Buffa. Die exoterische Schildwache, in deren Gegenwart sie gesungen und dargestellt wird, ahnt nimmermehr die Bedeutung dieser heiteren Liebesgeschichten [...]. Das ist halt närrisches Zeug, sagt die exoterische Schildwache, und es ist gut, daß sie nichts merkt. (DHA 7/1, 49)

Die Begriffsopposition exoterisch und esoterisch verweist auf die Doppelcodierung von Rede, die eine offensichtliche Bedeutung und zugleich einen ›geheimen‹ Sinn für die in den Diskurs Eingeweihten besitzt. Dieses Verfahren wurde vor allem politisch im Sinne des camouflierenden Sprechens aus Gründen der Zensur gedeutet. Daß Heine das Begriffspaar aber auch für nicht politische Kontexte verwendet, zeigt sein Brief an Friederike Robert vom 12. Oktober 1825, in dem Heine den Unterschied zwischen exoterischer und esoterischer Interpretation anhand seiner Lektüre von Aristophanes’ Die Vögel darlegt.189 Betrachtet man nun Heines diskursive Stellungnahmen zu Byron in seinen Texten im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen exoterischen und esoterischen Lesarten, so läßt sich feststellen, daß beide Ebenen gleichzeitig vorhanden sind. Das zeigt etwa ein Abschnitt aus Die Harzreise von 1826, in dem sich der Erzähler über den sentimentalen Byron-Kult des (exoterischen) Publikums lustig macht. Während er mit einer älteren Dame und ihrer jungen Tochter spricht, ereifert er sich über »Byrons Gottlosigkeit, Lieblosigkeit, Trost-

189

Vgl. HSA 20, S. 218.

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losigkeit, und der Himmel weiß was noch mehr« (DHA 6, 120). Die Kritik an Byron, »aus dessen Gedichten die ältere Dame einige Sonnenuntergangsstellen, recht hübsch lispelnd und seufzend, rezitirte« (DHA 6, 120), ist hier deutlich ambivalent, da sie vom Adressaten abhängig ist: den sentimental-gefühlvollen Frauen, über die sich auch Byron in seinen Texten, vor allem in Don Juan mokiert. Diese Strategie wird wiederholt, wenn es im gleichen Satz heißt: »Ich glaube wir sprachen auch von Angorakatzen, etruskischen Vasen, türkischen Shawls, Makaroni und Lord Byron […].« (DHA 6, 120) Die Aufzählung von Byron in einem Durcheinander von exotischen Gegenständen, Tieren und Essen, kann auf der exoterischen Bedeutungsebene als materialisierende Herabsetzung und Respektlosigkeit gesehen werden, die die extravaganten Eigenschaften und exotischen Hobbys des englischen Dichters satirisch verspottet. In einer esoterischen Lesart kann der Satz jedoch als eine Form von Reverenz betrachtet werden, da Heine mit ihm das Verfahren der grotesken Listen imitiert, die Byron exzessiv in seinen romantik- und gesellschaftskritischen Texten wie Beppo und Don Juan verwendete. Heine, so läßt sich zusammenfassend festhalten, inszenierte seine despektierlichen Zurückweisungen von Byron auf der exoterischen Bedeutungsebene der Rede, um sich von nachteiligen Vergleichen zu befreien. Sie haben sich bis heute als äußerst effektiv erwiesen und die esoterische Dimension der Rede, die einen deutlichen Bezug zu Byrons später Poetik zeigt, weitgehend verdeckt. Thomas Bourke etwa wertet die soeben zitierte Stelle aus Heines Reisebild – in genauer Umkehrung zur hier dargelegten These – als Beweis dafür, daß Heine Byrons späte Texte nicht kannte: Dieser Byron, der respektlos in Zusammenhang mit Teigwaren gebracht wird, ist offensichtlich nicht der des Donjuanismus; auch Heine schien sich dessen nicht bewußt zu sein, daß gerade die Aneinanderreihung von Geistigem und Kulinarischem, die Heine perfektionierte, bei Byron selbst in den Briefen und Tagebüchern und später auch in der Dichtung ausgeprägte Antezedenzien hatte.190

Der Kampf im literarischen Feld, den Heine zunehmend radikalisierte, zielt auf den mit Originalität verbundenen Erwerb eines ›eigenen Namens‹. Die Identifikation mit dem berühmten Dichter, die Heine zunächst selbst forciert hatte, wurde für ihn problematisch, da sich, wie gezeigt wurde, der Vergleich zunehmend negativ für ihn auswirkte – besonders die Angriffe auf Heines fehlende Dichtungskraft und seine Religionszugehörigkeit sind dabei hervorzuheben. Das Reisebild Die Nordsee III bildet – ganz in der Tradition der Xenien von Schiller und Goethe – den Auftakt für den Kampf gegen die deutsche »Literaturmisere«, mit dem sich Heine gleichzeitig im literarischen Feld posi-

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Bourke, Stilbruch als Stilmittel, S. 119; vgl. auch S. 227.

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tioniert. Explizit äußert sich Heine selbst dazu in einem Brief an seinen Mentor Varnhagen. Schon im Mai 1826 schreibt er an ihn, daß er »im 2ten Bande der Reisebilder über solche Misere rücksichtslos sprechen werde, die Geißel etwas schwinge und es mit den öffentlichen Stimmführern auf immer verderben werde« (HSA 20, 242). Einen Auslöser für diesen Kriegszug könnte die bereits erwähnte Rezension von Alexis gewesen sein, die in der Zeitschrift Wiener Jahrbücher erschienen war. Sie kritisierte zum einen die Disharmonie in Heines Tragödien und Gedichten als publikumsheischende, unzulängliche Imitation von Byrons Zerrissenheit und schrieb zum anderen das Fehlen der Idee der ewigen Liebe, die über die Zerrissenheit siegt, Heines Religionszugehörigkeit zu.191 Unterstützt wird diese Vermutung dadurch, daß Heine in seinem Brief an Varnhagen mit dem Hinweis auf die Wiener Jahrbücher fortfährt und eine kausale Beziehung herstellt zwischen dem Wunsch eigene, ›geißelnde‹ Kritik zu üben und den Ausfällen gegen ihn selbst: »[W]enige haben den Muth alles zu sagen, ich habe keine zurückgehaltenen Aeußerungen mehr zu fürchten, und Sie sollen ihr liebes Wunder sehen. Die Wiener Jahrbücher haben in dieser Hinsicht gut auf mich gewirkt.« (HSA 20, 242) Der wiederholte Verweis auf die Rezension in seinen Briefen, zeigt die Bedeutung, die Heine ihr zumaß. Er beschäftigte sich nicht nur in mehreren Briefen mit der Verfasserfrage der anonym veröffentlichten Rezension, sondern wünschte auch das Heft, wie er gegenüber Moses Moser im Januar 1826 äußerte, zu besitzen; und am 13. Oktober 1826 – in der Hauptarbeitszeit an dem Reisebild Die Nordsee III – erinnert er sich Friedrich Merckel gegenüber daran, »welch eine Freude mir Campe machte als er mir jenes Heft schenkte« (HSA 20, S. 261).192 Die öffentliche Kritik wie sie am exponiertesten Alexis’ Rezension formulierte, führt bei Heine zu einer Neubestimmung des eigenen Standorts und der Suche nach einer neuen, eingreifenden Poetik. Die Xenien am Ende von Die Nordsee III stellen den Auftakt dar zu einem an Schillers und Goethes Vorbild orientierten, unerbittlichen Feldzug gegen die deutsche »Literaturmisere«, der im Streit zwischen Heine und Platen einen vorläufigen Höhepunkt fand.193 191 192

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Vgl. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 177–202. An Immermann schreibt Heine am 14. Oktober 1826: »Vorigen Winter hörte ich daß in den Wiener Jahrbüchern eine gar merkwürdige Rezension meiner Tragödien erschienen, und da ich damals ganz isolirt lebte hatte ich Müh und Noth jenen Band zu Gesicht zu bekommen, und nachdem dieses erlangt war konnte ich trotz aller Müh und Noth nicht zum Besitz jenes Bandes kommen […] und ich war froh genug bis ich ihn endlich durch die Freundschaft meines Verlegers späterhin erhielt. Dieses Alles drängt sich mir wieder ins Gedächtniß als ich gestern den neuesten Band der Wiener Jahrbücher zu Gesicht bekam und eine, augenscheinlich vom Verfasser der mich rezensirt hat gleichfals geschriebene, unmenschlich lange Rezension Ihrer sämtlichen Werke darinn fand.« (HSA 20, S. 263f.) Auch Ende Mai wiederholt Heine in einem Brief an Joseph Lehmann den gleichen Motivkomplex: In einer Passage wird die öffentliche Kritik an seinen anti-christlichen Werken, seine Absicht, über die deutsche Literatur zu sprechen sowie die Rezension seiner Tragödien in den Wiener Jahrbüchern erwähnt (vgl. HSA 20, S. 246).

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Heine inszeniert in seinem Reisebild für das ›exoterische‹ Publikum eine – in der Terminologie Blooms – befreiende Fehllektüre (misreading) Byrons,194 indem er ihn als melancholischen, unpolitischen Autor des ›Spleens‹ darstellt.195 Zugleich deutet er in Die Nordsee III die Zerrissenheit, die Alexis als Modephänomen melancholischer und juveniler Subjekte à la Byron kritisiert hatte – »[w]ann aber wird man aufhören, die größte Lust darin zu finden, solche zerrissene Charaktere zu entwerfen?«196 –, sowohl aus der ›Dialektik der Aufklärung‹ als auch aus der deutschen politischen Situation heraus als ein spezifisches Merkmal der Moderne. ›Zerrissenheit‹ ist in Die Nordsee III im Gegensatz zu den frühen Gedichten nicht mehr primär individualpsychologisch, sondern auch politisch-ideologisch begründet.197 Gerade in diesem Wechsel hin zum öffentlich-sozialen Raum zeigt sich eine ausgeprägte Parallele zwischen Byrons und Heines Poetik, die in Kapitel III. und IV. im Hinblick auf die Frage nach einer eingreifenden Kunst dargestellt wird. In Die Nordsee III stehen zum ersten Mal explizit und umfangreich Themen im Vordergrund, die Heines Poetik der nächsten Jahre prägten: Gegenwart, Leben und Bewegung. Es zeichnet sich hier ein Prozeß ab, in dessen Folge Heine von der früheren weltschmerzlichen Artikulation des Lebensüberdrusses abrückte und sich hin zu einer Emphase der Gegenwart wendete, die bereits in Kapitel I. vor dem Hintergrund des romantischen Gegenwartsbewußtseins näher betrachtet wurde. Heines Akzentuierung von ›Leben‹ und ›Gegenwart‹ läßt sich in Die Nordsee III fast ein ganzes Jahrzehnt früher als in der ästhetisch-politischen Debatte des jungen Deutschlands feststellen, das in der Folge der französischen Juli-Revolution die ›Dichter der Bewegung‹ feierte.198 Bernd

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»Poetic Influence – when it involves two strong poets, – always proceeds by a misreading of the prior poet, an act of creative correction that is actually and necessarily a misinterpretation, The history of fruitful poetic influence [...] is a history of anxiety and self-saving caricature, of distortion, of perverse, wilful revisionism without which modern poetry as such could not exist.« (Bloom, The Anxiety of Influence, S. 30). Im Unterschied zu Bloom wird hier allerdings die These vertreten, daß Heines ›misreading‹ von Byron ein für die Öffentlichkeit inszeniertes ist. In dem Essay Shakspeares Mädchen und Frauen heißt es kritisch über Alfred de Musset, daß er dazu verleitet wurde »im Costume des spleenigen Lords, jene Uebersättigung und Lebenssattheit zu affektiren, die in jener Periode unter den jungen Leuten zu Paris Mode war« (DHA 10, S. 185). Die charakteristischen Beiwörter für Byron finden sich auch noch in dem Gedicht »Der Ex-Nachtwächter« aus dem Romanzero: »Wie Lord Byron gloomy, stumm.« (DHA 3/1, S. 94) Galley/Estermann, Bd. 1, S. 186. Hermand verweist in diesem Zusammenhang auf Hegels Phänomenologie des Geistes, in der er den Begriff ›Zerrissenheit‹ auch auf den allgemeinen Zustand der Welt und nicht nur auf das Individuum bezieht (vgl. Hermand, Der frühe Heine, S. 93). Auch das Motto von Varnhagen, das Heine seinem Text voranstellt, betont den Aspekt der politischen Zerrissenheit (vgl. dazu DHA 6, S. 739f.; das Motto ist dort vollständig abgedruckt). Theodor Mundt z.B. bezeichnet seinen Text Madonna. Unterhaltungen mit einer Heiligen als ein Buch der Bewegung. Vgl. dazu Wülfing, Schlagworte, S. 209ff.

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Kortländer, der Bewegung als die Maxime der Reisebilder, »und zwar in allen Bedeutungen dieses Wortes«, begreift, verdeutlicht den Zusammenhang, wenn er auf die große Wirkung von Heines neuartigen Reisebeschreibungen bei den Jungdeutschen nach 1830 verweist.199 Heine entwirft in seinem Reisebild Die Nordsee III ein neues Paradigma, das die Auseinandersetzung mit kunstautonomen und ontologisch-metaphysischen Fragen durch eine neue, eingreifende Stoßrichtung der Poetik ersetzen will. Damit verweist Heine schon einige Jahre vor der Zäsur der französischen Juli-Revolution auf das Ende der Kunstidee, das er 1828 in der nur ein Jahr später als das Reisebild erschienenen Rezension Die deutsche Literatur von Wolfgang Menzel explizit konstatiert. Die Verabschiedung des Alten und die Emphase des Neuen, das sich als ästhetische Subjektivität manifestiert, weisen von dort sowohl zurück auf den Schluß von Die Nordsee III sowie voraus auf Heines erste Frankreichschrift Französische Maler: Das Prinzip der Goetheschen Zeit, die Kunstidee, entweicht, eine neue Zeit mit einem neuen Prinzipe steigt auf, und seltsam! wie das Menzelsche Buch merken läßt, sie beginnt mit Insurrekzion gegen Goethe. Vielleicht fühlt Goethe selbst, […] daß neue frische Geister von der neuen Idee der neuen Zeit hervorgetrieben werden, und […] das civilisirte Goethenthum über den Haufen werfen und an dessen Stelle das Reich der wildesten Subjektivität begründen.200 (DHA 10, 247)

Nach der literatursoziologisch perspektivierten Darstellung von Heines Stellungnahmen zu Byron werden sich die folgenden beiden Kapitel mit Aspekten der Intertextualität sowohl in markierten als auch in nicht-markierten Bezugnahmen auf Byrons Texte bei Heine beschäftigen. 2.7.

Intertextualität zwischen Polemik und verstecktem Dialog – Weltschmerz, Sensualismus und politische Emanzipation

Das letzte Kapitel hat sich mit Heines offener Polemik gegen Byron in Die Nordsee III so umfangreich auseinandergesetzt und den textuellen und diskurshistorischen Kontext seiner kritischen Positionierung dargelegt, da sie in der Forschung als Kehrtwende in Heines Beurteilung von Byron gilt. Die herangezogenen Kontexte konnten verdeutlichen, daß der kritische Kommentar des Erzählers über Byron in Heines Reisebild in einem komplexen Verweisungszusammenhang steht, der weniger die Abkehr vom englischen Dichter beweist, als marktökonomische Strategien erkennen läßt. Die Würdigung Scotts und die Kritik an Byron hat sich als Vergleich gezeigt, der eine (kultur-)politische Dimension besitzt und vor allem von Modernisierungsgegnern verwendet wird – diesen Diskurs bildet der Kommentar des Erzählers in Die

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Bernd Kortländer, Heinrich Heine. Stuttgart 2003, S. 146. Meine Hervorhebungen, A.B.

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Nordsee III ironisch ab. Neben den expliziten Stellungnahmen zu Byrons Person, gibt es in Heines Texten vor allem auch intertextuelle Verweise auf Byrons Werk, mit denen sich die folgenden beiden Kapitel beschäftigen werden. Eine Analyse der intertextuellen Verweise auf Byrons Werk ist mit einer kaum zu überblickenden Zahl möglicher Referenzen und Allusionen in Heines Werken auf einzelne Verse oder Motive aus Byrons Texten konfrontiert, die in der älteren Forschung selten plausibel belegt werden. Die umfangreichsten Darstellungen möglicher Bezugnahmen auf Byron finden sich entsprechend immer noch in den frühen positivistischen Arbeiten von Felix Melchior und Wilhelm Ochsenbein. Exemplarisch für den Umgang mit der großen Anzahl von Stellen, die auf eine intertextuelle Bezugnahme auf Byron hindeuten, sollen hier zwei Beispiele aus der neueren Forschung genannt werden. Sie veranschaulichen die Art der Motiv- und Quellensuche, die auch schon von Heines Zeitgenossen praktiziert wurde und gegen die sich der Autor durch seine polemischen Referenzen zur Wehr setzte. So verweist etwa Siegbert Prawer in seiner materialreichen Untersuchung zur Auseinandersetzung Heines mit England und den Engländern, auf den ›Gastauftritt‹ Byrons in Ideen. Das Buch Le Grand. Das Motiv der ungeweinten Träne im Eröffnungsparagraphen von Heines Reisebild sei, so Prawer, ein ›verbales Echo‹ von Byrons frühem, sehr populärem Gedicht The Dream aus der Sammlung Domestic Pieces, das jeder Leser Byrons sofort erkannt habe.201 Prawer deutet zwar an, daß Heines Verwendung der Träne dem Motiv eine andere Bedeutung als bei Byron verleihe, verortet aber Heines intertextuelle Praxis in bezug auf Byron nicht in einem größeren argumentativen Zusammenhang – eine funktionale Analyse im Hinblick auf Heines Poetik bleibt weitgehend aus. Alfred Opitz wiederum erwähnt in seinem Kommentar der Reisebilder in der Düsseldorfer Heine-Ausgabe als mögliche Quelle für die leitmotivische Figur der Maria in der Reise von München nach Genua Byrons Don Juan, auf die auch schon ein Zeitgenosse, der Maler Johann Peter Lyser, in einem Artikel der Abend-Zeitung von 1842 hingewiesen habe.202 Lyser betont in seinem Artikel, daß die Figur der toten Maria, die Heine in seinem Reisebild verwende, keine ›originale‹ Idee sei, die von ihm stamme, sondern auf Heines Lektüre von Byrons Don Juan zurückgehe. Lyser zählt Heines Verwendung des Motivs aber nicht zu den »vielen traurigen Nachahmungen«, sondern zu den »genialen« (DHA 7/2, 996); dokumentiert wird hier nochmals prägnant die große Bedeutung der Originalität eines Autors in der zeitgenössischen Diskussion.203 201 202 203

Vgl. Prawer, Frankenstein’s Island, S. 35. Vgl. DHA 7/2, S. 864f. »Man hält gewöhnlich Heinrich Heine für den ›Erfinder‹ der ›todten Marie‹, dem ist aber nicht so! Freund Heine, der sehr viel lies’t, und das Gelesene sich meisterlich anzueignen weiß, gerieht einmal über Byron’s ›Don Juan‹ und las zu Anfang des sechsten Gesanges: ›I have a passion for the name of Mary,/ For once it was a magic sound to me‹.« (DHA 7/2,

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Spekulative Bezüge auf einzelne Textstellen, die für das frühe Werk Heines und Byrons in der weitgehend einflußorientierten Forschung zu den beiden Autoren ohnedies ausreichend dokumentiert sind, stellen hier nicht den Gegenstand der weiteren Analyse dar. Zwar sind sie an einigen Stellen produktive Adaptationen – wie etwa in dem frühen Gedicht »Belsatzar«, für das Byrons »Vision of Belshazzar« Modell stand 204 –, oftmals besitzen sie aber keine weiterreichende, funktionale Bedeutung für die Poetologie von Heines eigenen Texten. Statt dessen sollen im folgenden drei verschiedene Bereiche dargestellt werden, in denen ein Bezug auf Byron erfolgt, und zwar hauptsächlich nach der Veröffentlichung des Reisebilds Die Nordsee III, das, wie erläutert, in der Forschung zumeist als Wende im Verhältnis des deutschen Autors zu seinem früheren ›Vorbild‹ interpretiert wurde. Die drei zentralen Formen der Bezugnahme in unterschiedlichen Textsorten lassen sich wie folgt untergliedern: (1) Der Verweis auf Byron erfolgt – in Michail Bachtins narratologischer Terminologie – als verschieden-gerichtetes Wort, zu dem die offene Parodie oder Polemik gehört.205 Sie dient in Heines publizierten Texten – wie im letzten Kapitel dargestellt wurde – vor allem dazu, sich von Byron zu unterscheiden und sich ›einen eigenen Namen zu machen‹. (2) Byron findet zudem Erwähnung in den halböffentlichen Medien des Briefs und des Gesprächs sowie in gestrichenen, nicht veröffentlichten Textstellen, überwiegend in nicht polemischer Absicht. (3) Zitate aus Byrons Texten werden in privaten und öffentlichen Texten funktional verwendet, und zwar hier in Form nicht-markierter Intertextualität.206 Mit dem letzten Punkt wird sich vor allem das nächste Kapitel im Kontext von Moral und Heuchelei im öffentlichen Diskurs der Restaurationsepoche auseinandersetzen. In den halböffentlichen Medien des Briefs oder Gesprächs finden sich seit Mitte der 1820er Jahre vor allem zwei verschiedene Arten der Dialogizität des Wortes in bezug auf Byron und sein Werk. Die frühe Dialogizität von Heines Texten, die auf Byron referieren, war durch das gleichgerichtete zweistimmige Wort geprägt, das Heine mit der Absicht der Stilisierung verwendete und das als Zusammenfall des fremden mit dem eigenen Wort in seinen Byron-Übersetzungen die extremste Ausprägung fand.207 In seinen späteren Texten weicht das offen stilisierte Wort zwei unterschiedlichen Formen der Verwendung des

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S. 995) An Lysers Bemerkung ist zu erkennen, daß es für Heines Zeitgenossen keine Frage war, ob Heine Byrons Don Juan kannte. Für einen Vergleich der beiden Gedichte siehe Prawer, Frankenstein’s Island, S. 9. Zur hier und im folgenden verwendeten Terminologie vgl. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 222f. Die Unterscheidung zwischen markierter und nicht-markierter Intertextualität trifft Ulrich Broich. Vgl. dazu: Ulrich Broich, »Formen der Markierung von Intertextualität«. In: Broich/ Manfred Pfister (Hrsg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 31–47. Übersetzungen können als eine extreme Form der Stilisierung gesehen werden, bei der sich

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fremden Wortes: zum einen der inszenierten, teils parodistischen Stilisierung Byrons und seiner Texte zum Inbegriff des Weltschmerzes und zum anderen dem versteckten Dialog mit seinen Texten als Referenzpunkten moderner Literatur, die gerade im Hinblick auf das Konzept eingreifender Kunst für Heine eine fundamentale Bedeutung besitzen. Grob überschneiden sich die verschiedenen Typen des dialogischen Worts aus der Intertextualitätstheorie mit Heines eigener Begrifflichkeit der exoterischen und der esoterischen Lektüre, die im letzten Kapitel zur Interpretation von Textstellen über Byron herangezogen wurde. Die exoterische Lektüre basiert auf einem ›offenen‹ Wort, die esoterische dagegen auf einem ›versteckten‹.208 Auffällig an dem ersten Bereich der Bezugnahmen auf Byron ist, daß alle expliziten Nennungen oder Verweise auf den englischen Dichter in Heines veröffentlichten Schriften mehr oder weniger deutlich die Intention der Abgrenzung erkennen lassen. Diese kann mit polemischem Gestus wie in Die Nordsee III erfolgen oder parodistisch wie in Die Harzreise. Eine Differenz zwischen Byrons politischem Optimismus und Heines gereifterem geschichtsphilosophischen Verständnis wird auch in der bereits zitierten Stelle aus der Börne-Schrift markiert, die Byrons Vorwort zu The Two Foscari über den Progreß des Meeres erwähnt. In fast allen Fällen, in denen Byron bei Heine explizit genannt wird, kongruiert das Bild des Dichters, von dem er bemüht ist, sich abzugrenzen, mit dem öffentlichen Klischee von Byron als Modedichter des Weltschmerzes und der Melancholie. Dieses Bild wird etwa reproduziert in dem Gedicht »Der Ex-Nachtwächter«, in dem Essay Shakspeares Mädchen und Frauen oder auch in Der Doktor Faust, wo Heine nochmals Byron als Schöpfer der Figur des Manfred erwähnt – dem Byronic Hero, der eigentlich ein Faust sei.209 Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang Heines Gedicht »Childe Harold«, auf das ausführlicher eingegangen werden soll wegen des Bezugs auf Byrons gleichnamiges, ›melancholisches‹ Versepos, das den zeitgenössischen Byronismus als Modeerscheinung, wie dargestellt, maßgeblich initiierte. Obwohl Heine das Gedicht »Childe Harold« wahrscheinlich bereits 1824 verfaßte, anläßlich des viel beachteten Tods von Byron in Griechenland, nahm er es erst in Neue Gedichte auf, und zwar in die Abteilung »Romanzen«, deren Gedichte seit 1839 in der Zeitung für die elegante Welt erschienen:

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das eigene Wort dem fremden trotz der Distanz der anderen Sprache möglichst weit anzunähern versucht. Allerdings muß betont werden, daß Heines Begriffe des ›Exoterischen‹ und ›Esoterischen‹ sich nicht notwendig auf das dialogische Wort beziehen, aber dennoch eine Form des versteckten Dialogs – und zwar zwischen dem Autor und dem Leser – implizieren. Siehe DHA 9, S. 108.

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Childe Harold. Eine starke schwarze Barke Segelt trauervoll dahin. Die vermummten und verstummten Leichenhüter sitzen drin. Todter Dichter, stille liegt er, Mit entblößtem Angesicht; Seine blauen Augen schauen Immer noch zum Himmelslicht. Aus der Tiefe klingt’s als riefe Eine kranke Nixenbraut, Und die Wellen, sie zerschellen An dem Kahn, wie Klagelaut. (DHA 2, 76)

Der unmittelbare Hintergrund des Gedichts ist die Überführung von Byrons Sarg von Missolonghi nach England an Bord der Florida.210 Wie schon in Briefe aus Berlin wird in dem Gedicht der biographische Autor des Childe Harold mit dem Protagonisten seines Versepos überblendet.211 Frank Erik Pointner und Achim Geisenhanslüke gilt diese Gleichsetzung der biographischen Person mit der fiktionalen Figur als Beleg ihrer These, daß Heine Byron vor allem als Dichter von Childe Harold’s Pilgrimage wahrgenommen habe. Zwar ist Heines Gedicht durch seinen Titel und das Sujet unverkennbar eine Hommage an den zu früh gestorbenen Dichter des Childe Harold; die verwendete Trope der Antonomasie, die zur Bezeichnung der gemeinten Person eine dem Publikum bekannte Figur verwendet, besitzt jedoch deutlich den Charakter des Inszenatorischen: Heine reproduziert die öffentliche Wahrnehmung von Byron als Weltschmerzdichter. In Heines Gedicht »Childe Harold« läßt sich eine Vielzahl von Gegensätzen beobachten, die das Thema der Zerrissenheit aus Childe Harold spiegeln, so etwa Schweigen und Rufen, Erstarrung und Bewegung, Tiefe und Höhe, hell und dunkel, männlich und weiblich. Die Oppositionen, die auf Geistiges und Sinnliches, Irdisches und Himmlisches verweisen, werden aufgerufen, aber nicht zu einer harmonischen Versöhnung geführt; vielmehr dominiert das Leblose, Sprachlose und Kranke – dem stummen Blick des toten Dichters antwortet nicht der Himmel, sondern – wenn überhaupt – die »kranke Nixenbraut«. Die folgende Analyse des Gedichts wird zeigen, daß die Reverenz an den englischen Dichter nicht nur auf der semantischen, sondern auch auf der formal-strukturellen Ebene erfolgt; dazu zählen neben der Metrik auch die Gat210 211

Vgl. Leslie A. Marchand, Byron. A Biography. 3 Bde. London 1957, Bd. 3, S. 1242. Vgl. Pointner/Geisenhanslüke, »The Reception of Byron in the German-Speaking Lands«, S. 253.

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tungsreferenz sowie die Positionierung von »Childe Harold« im Gedichtzyklus. Der Autor Byron als Personifizierung seiner Figur Childe Harold wird bei Heine zum Protagonisten in einer Romanze, die Züge des Phantastischen trägt.212 Die Romanzenstrophe mit ihren regelmäßigen vierhebigen Trochäen des schlicht gehaltenen Gedichts, das auf konkrete Details verzichtet, bildet sprachlich das monotone Schlagen der Wellen gegen den Kahn nach. Unterstützt wird dieser Effekt zusätzlich durch den fehlenden Reim im ersten und dritten Vers, wodurch akustisch aus den vier Versen einer Strophe zwei Langverse werden. Die drei vierzeiligen Strophen geben keine Auskunft über das ›Wohin‹ oder ›Woher‹ der »Barke«, sondern fokussieren nur den abstrahierten Prozeß der Reise, was den rastlos-melancholischen Charakter des heimatlosen Harold aufruft. Vor allem der im Deutschen eher ungewöhnliche Gebrauch des Wortes ›Barke‹ erinnert an Byrons Versepos, in dem es mehrmals verwendet wird, und wie in der folgenden Stelle, zur Beschreibung der nomadischen, exilierten Existenz des modernen Menschen dient: The race of life becomes a hopeless flight To those that walk in darkness: on the sea The boldest steer but where their ports invite, But there are wanderers o’er Eternity Whose bark drives on and on, and anchored ne’er shall be. (CPW II, 103)

Für diejenigen, die in Dunkelheit ›wandeln‹, ist der ›Wettlauf des Lebens‹ ein ›aussichtsloses Rennen‹, da sie auf keinen Hafen zusteuern, den selbst die ›Kühnsten‹ auf dem Meer des Lebens zu erreichen versuchen. Sie sind, wie Heines fliegender Holländer, ewige Wanderer, deren ›Barke‹ immer weiter treibt und niemals vor Anker geht. In dem Bild von der Schiffahrt des Lebens ist die Barke das Symbol für den Fluch der endlosen Wanderschaft auf dem Meer der Ewigkeit, ohne daß ein Hafen oder die Heimat je erreicht werden könnten. Metrisch werden die Barke und ihre schaukelnde Bewegung durch den Alexandriner des verlängerten letzten Verses nachgebildet, der die achtzeilige, vor allem in der mittelalterlichen Balladendichtung verwendete Spenserstrophe abschließt. Der unterschiedslose Gebrauch der Bezeichnungen Romanze und Ballade um 1800 legt nahe, in der Gattungszuschreibung »Romanze« von Heines Gedicht ein Echo auf Byrons Balladenform in Childe Harold zu vermuten.213

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Ochsenbeins Kommentar zu dem Gedicht, dem er keine weitere Bedeutung zuspricht, ist: »Keine leidenschaftliche Klage, keine schmerzdurchtränkte Schilderung der wirklichen Vorgänge, denn die Leiche Byrons wurde vor dem Transport einbalsamiert! Der Stoff wird nur Anlass zum phantastischen Ausmalen eines schönen Bildes.« (Ochsenbein, Die Aufnahme Lord Byrons in Deutschland, S. 126) Die Bezeichnungen ›Romanze‹ und ›Ballade‹ für Formen des Erzählgedichts wurden um

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Heines »Childe Harold« steht in einem dichten Beziehungsnetz zu den Themen der Sammlung Neue Gedichte wie Wanderschaft, Klage, Verlust und Trauer, die besonders in den »Romanzen« um myth(olog)ische Figuren kreisen. So steht der durch seinen Tod in Griechenland mythisch gewordene Autor des Childe Harold zwischen dem Gedicht »Frühlingsfeyer«, das die Trauer um den Gott Adonis im Adoniskult der Frauen schildert, und dem Gedicht »Die Beschwörung«, das den Versuch beschreibt, die »Leiche der schönsten Frauen« (DHA 2, 77), Helena, wiederzubeleben. Das darauffolgende Gedicht »Aus einem Briefe« hatte, wie die Lesarten zeigen, in der ursprünglichen Fassung einen expliziten zeitgeschichtlichen Bezug auf Napoleon.214 Der unmittelbare Kontext, auf den das Gedicht sich bezog, ist die Überführung von Napoleons Asche 1840 nach Paris und die Leichenfeier, die am 15. Dezember 1840 stattfand, und über die Heine zeitgleich in der Lutezia schrieb. Seine Berichterstattung in der Lutezia macht deutlich, daß die Hoffnung auf Auferstehung der ehemaligen Heroen, die für Freiheit, Schönheit und Liebe standen, der Einsicht weicht, daß sie nicht wiederbelebt werden können, da die »neue Philisterwelt […] ganz andre Heroen bewundert« (DHA 13/1, 110).215 In der Endfassung des Gedichts »Aus einem Briefe« ist der direkte zeitgeschichtliche Bezug gestrichen und es bleibt nur der Kontrast zwischen der Sonne – die Heine oft als Symbol für Napoleon verwendet –, und dem langsam erblindenden Dichter auf der einen Seite sowie dem philiströsen Chor der Affen, Frösche und Maulwürfe auf der anderen. An die Stelle der Hoffnung auf Wiederbelebung des Gottes wie im Adoniskult tritt in den ersten Romanzen die ernüchternde Einsicht in das Verschwinden der alten Götter, zu denen Heine neben Adonis, Helena und Napoleon offensichtlich auch Byron zählt. Einen weiteren intertextuellen Verweis auf Byrons Werk stellt die dritte Abteilung von Heines letzter großer Gedichtsammlung Romanzero dar, die den Titel Hebräische Melodien trägt. Die Bedeutung dieses intertextuellen Bezugs auf Byrons Gedichtsammlung Hebrew Melodies wird in der Forschung kontrovers erklärt. Während Wilhelm Ochsenbein davon ausgeht, daß die gemeinsamen Bezugspunkte sich im Interesse der beiden Autoren am Alten Testament und im gelegentlichen Aufgreifen biblischer Motive erschöpfen, schlägt Alberto Destro im Kommentar der Düsseldorfer Heine-Ausgabe eine komplexere Lesart vor. Heine habe mit dem Verweis auf Byrons Gedichtsammlung

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1800 oft synonym gebraucht. Die Erneuerung der Romanze des spanischen Typs bei den deutschen Romantikern gehört der neueren Balladengeschichte an (vgl. dazu: Sven-Aage Jørgensen, Art. »Romanze«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, S. 331– 333, hier S. 331 und Christian Wagenknecht, Art. »Ballade«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, S. 192–196, hier S. 195). Auch Gerhard Höhn betont im Kontext des Romanzero, daß Heine nicht zwischen Ballade und Romanze unterschieden habe (vgl. Höhn, Heine-Handbuch, S. 140). Vgl. DHA 2, S. 562. Vgl. auch DHA 13/1, S. 47f.

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einen Hinweis geben wollen, sein Werk nicht als Bekenntnis zum religiösen Judentum zu verstehen. Destro betont, daß Heine wie Byron auch weniger die »Darstellung des unmittelbar religiösen Glaubens« (DHA 3/2, 865) anstrebe; vielmehr trete das Historische und Poetische der jüdischen Themen in den Vordergrund. Maria-Christina Börner dagegen vertritt die Ansicht, daß Heine mit seinem Titel Hebräische Melodien Byrons melancholische Dichtung aufrufen wollte und mit den entsprechenden Leseerwartungen des Publikums spielte. Ihre These wird von einer zeitgenössischen Rezension gestützt, die die Diskrepanz zwischen Leseerwartung und tatsächlichem Leseerlebnis artikuliert. Unter dem Pseudonym Max Waldau äußerte sich 1851 ein Rezensent, der beobachtet, daß zwar in den vorhergehenden »Lamentazionen« manches an Byron erinnere, in Hebräische Melodien jedoch »von dem schattig-melancholischen Colorit das den Briten charakterisirt« nichts zu finden sei. In der Annahme, im dritten Teil von Heines Romanzero auf »Weisen zu stoßen welche den ›Hebrew melodies‹ ähneln«, sieht er sich getäuscht und kommt zu dem Fazit: »nirgend ist Heine weniger mit Byron verwandt als hier«.216 Byrons Gedichtsammlung Hebrew Meldodies ist zwischen Ende 1814 und 1815 als Projekt mit dem jüdischen Musiker Isaac Nathan entstanden, der die Judaica, die er von Byron erhielt, mit Musik unterlegen wollte. Gegenstand der sentimentalischen Gedichte ist die elegische Trauer über den gegenwärtigen Zustand, der mit dem verlorenen Ideal der Vergangenheit, dem einstigen Glück und der Größe Jerusalems kontrastiert.217 Heines Anspielung auf Byron erfolgt wieder – wie der Titel Romanzero zeigt – im Kontext der Gattung der Romanze, womit offensichtlich das Bild von Byron als romantisch-sentimentalischem, zerrissenem Autor des Childe Harold aufgerufen werden soll. Boerners und Destros konträre Interpretationen der Funktion des intertextuellen Bezugs können miteinander verbunden werden, wenn die Spannung in Heines Strategie zwischen einer exoterischen und esoterischen Lektüre berücksichtigt wird. Denn der subjektive Schmerz – die Melancholie und das Leiden an der Gegenwart, die in den Gedichten artikuliert werden – ist in den Gedichtsammlungen der beiden Autoren auch auf die außertextuellen, politischen Ereignisse bezogen, die für Byron und Heine von größter Bedeutung waren. Byrons Gedichte für Isaac Nathan entstanden im direkten zeitlichen Umfeld von Napoleons erster Verbannung auf Elba und der Niederlage bei Waterloo 1815. Mehrere Gedichte Byrons wie »Ode to Napoleon Buonaparte«, »On Napoleon’s Escape from Elba«, »Napoleon’s Farewell« oder »On 216 217

Max Waldau (eigentlich Richard Georg Spiller von Hauenschild), Blätter für literarische Unterhaltung, Nr. 127 vom 15. November 1851. Zitiert nach DHA 3/2, S. 868. Willibald Alexis kommentiert die Hebrew Melodies in seiner Rezension »Lord Byron’s und Walter Scott’s Werke« so: »Es sind Elegien über den gegenwärtigen Zustand, voll bitterer Wehmuth, und zugleich ahnender Sehnsucht nach einer bessern zukünftigen Existenz.« (Alexis, »The Works of the right honourable Lord Byron«, S. 130)

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the Star of ›The Legion of Honour‹. From the French« zeugen von seiner zeitgleichen, intensiven literarischen Beschäftigung mit Napoleon und den historischen Ereignissen zwischen 1814 und 1815. Die Hebrew Melodies sind zwar eine melancholische Klage über den Verlust der einstigen Größe Jerusalems, der aktuelle politische Bezug läßt sich aber herstellen über die Artikulation des Wunsches nach der Befreiung des Volkes von seinen Tyrannen. Die Gedichte aus Heines Romanzero wiederum sind in Ton und Inhalt von dem endgültigen Scheitern der Revolution von 1848 geprägt, die Heine als Parallele zwischen seiner subjektiv-persönlichen Biographie und der allgemeinen Geschichte, dem Schicksal des Dichters und den europäischen Nationen empfand.218 In vielen Gedichten spiegeln sich die Erfahrung des Elends und des körperlichen Leidens in den enttäuschten politischen Hoffnungen und in der Verzweiflung am Verlauf der Geschichte, die sich dem Sprecher als sinnloser Kreislauf und ewige Wiederkehr des Gleichen offenbart. Zusammenfassend läßt sich über den ersten Bereich intertextueller Bezugnahmen, also die expliziten Verweise auf Byron in veröffentlichten Texten Heines, sagen, daß der englische Autor bewußt als melancholischer Dichter des Childe Harold aufgerufen und inszeniert wird. Dies geschieht teils mit stärkerer parodistisch-polemischer Absicht wie in Shakspeares Mädchen und Frauen, wo Heine über die Mode des Weltschmerzes und des Spleens spottet, teils mit geringerer Distanzierung, wie in dem Gedicht »Childe Harold« oder in Hebräische Melodien.219 Diese beiden Referenzen stellen über die mittelalterliche Romanzenform nicht nur die Assoziation von Byron mit seinem Versepos Childe Harold her, sondern verorten ihn auch als ›romantischen‹ Dichter in der zeitlich fernen Welt der Romanze, deren Heroen – wie das Gedicht »Childe Harold« besonders prägnant zeigt – einer ganz anderen, mythischen Zeit angehören. Den zweiten Bereich von Heines Bezugnahmen auf Byron stellen die Erwähnungen in den halböffentlichen Medien des Briefs und des Gesprächs dar sowie Hinweise in gestrichenen, nicht veröffentlichten Textstellen, die im folgenden betrachtet werden sollen. Eine getilgte Passage, die – obwohl sie bereits vor Die Nordsee III geschrieben wurde – aufgrund ihrer paradigmatischen Bedeutung von besonderem Interesse ist, stammt aus dem Text Die Harzreise. In Heines Reisebild aus dem Harz gibt es neben dem bereits zitierten Gespräch des Erzählers mit den sentimental-gefühlvollen Frauen eine weitere

218 219

Vgl. Höhn, Heine-Handbuch, S. 138. So schreibt Heine in Shakspeares Mädchen und Frauen über seinen französischen Schriftstellerkollegen Alfred de Musset, zu dem ein angespanntes Verhältnis bestand: »Nur war zu bedauern, daß der damals jugendliche Verfasser, außer der französischen Uebersetzung des Shakspear, auch die des Byron gelesen hatte, und dadurch verleitet ward, im Costume des spleenigen Lords, jene Uebersättigung und Lebenssattheit zu affektiren, die in jener Periode unter den jungen Leuten zu Paris Mode war.« (DHA 10, S. 185)

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Stelle, die Byron erwähnt: es handelt sich um das Bruchstück . Heine hat mit großer Wahrscheinlichkeit diesen Teil, der nur als Manuskript vorliegt, zur besseren epischen Integration des längeren Gedichts »Bergidylle« in den Prosatext bei der letzten Überarbeitung im Mai 1825 geschrieben. Über Byron heißt es dort in direktem Anschluß an das Ende des Gedichts: Weil ich nichts anders hatte schenkte ich dem lieben Kinde, das Bild von Lord Byron, das ich zufällig im Turnister trug. Sie meinte durchaus es sey mein eignes Bild, und es sey gut getroffen; und ich hatte Mühe bis sie mir glaubte es sey ein Griechischer Heiliger. Und bey Gott! ich habe nicht gelogen. – – – (DHA 6, 228)

Der unmittelbare Kontext, auf den Heine sich hier bezieht, ist Byrons Engagement im griechischen Freiheitskampf. Im Sommer 1823 machte sich Byron, der eine beträchtliche Summe seines Vermögens in dieses Unternehmen investierte, an Bord der Hercules zusammen mit einigen Vertrauten von Livorno aus auf den Weg nach Griechenland, um die Griechen bei ihrer Emanzipation von der türkischen Herrschaft zu unterstützen. Byron starb zwar schon 1824 in Missolonghi – nicht im Kampf, sondern an einem Fieber –, sein ›Heldentod‹ rief jedoch großes Aufsehen bei den Philhellenen Europas hervor und löste eine erneute Welle der Sympathie für das unterdrückte griechische Volk aus – dokumentiert in zahlreichen Gedichten, wie etwa in Wilhelm Müllers Neueste Lieder der Griechen oder seinem Gedicht »Byron« von 1824. Heine, der wie gezeigt wurde in seinen Briefen von 1824 ebenfalls mehrfach auf dieses Tagesereignis referierte, beabsichtigte offenbar mit der oben zitierten Passage die große Begeisterung für Byron und die griechische Angelegenheit bei den Deutschen für die Popularität seines Reisebilds in der literarischen Öffentlichkeit zu nützen.220 Jenseits solcher marktökonomischen Strategien stellt sich jedoch die Frage, welche inhaltliche Bedeutung das geplante Einfügen dieser handschriftlich ergänzten Stelle für das Gedicht »Bergidylle« in Die Harzreise hat. Dieses Gedicht, auf das Heine, wie auch auf die anderen Verseinlagen des Reisebilds, besonders stolz war, ist im Ton der volksliedhaften Ballade gehalten.221 Die Ballade »Bergidylle« bildet den strukturellen Höhepunkt der Harzreise und formuliert einen mythopoetischen Gegenentwurf zur Gesellschaftssatire auf

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An Moses Moser schreibt Heine in einem Brief vom 25. Oktober 1824, in dem er sowohl seine Reise in den Harz erwähnt als auch den Beginn ihrer Niederschrift, daß er »es noch immer angemessen [fände], ja jetzt mehr als je, daß Du Dich über Byron & Co vernehmen ließest« (HSA 20, S. 180). Mit »Co« meint Heine natürlich sich selbst und erinnert Moser damit an sein nicht eingelöstes Versprechen, eine Rezension von Heines Gedichten mit Bezug auf Byron für das populäre Morgenblatt zu schreiben (vgl. den Brief an Moser vom 25. Juni 1824, HSA 20, S. 170 und HSA 20, Kommentarband, S. 105). Zu einer solchen Rezension kam es allerdings nicht. Vgl. den Brief an Rudolf Christiani vom 26. Mai 1825 (HSA 20, S. 201).

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dem ›deutschen‹ Brocken.222 In der Ballade wird eine märchenhaft-mythische Welt entworfen, die zwischen den Gegensätzen eines aufgeklärten Rationalismus einerseits und romantischer Beseelung der Natur andererseits vermittelt. Als Chiffre für die Versöhnung von politischer Emanzipation, Rehabilitierung des Sinnlichen und romantisch-spiritualistischer Naturmagie fungiert in der dreistufigen Ballade das Konzept des heiligen Geistes, der zusammen mit Vater und Sohn eine Dreieinigkeit bildet.223 Seine eigene Rolle sieht der Erzähler als »Ritter von dem heil’gen Geist« (DHA 6, 110). Insofern ist er ein Streiter für die ›heilige‹ Sache der politischen und sinnlichen Emanzipation, die für eine umfassende Versöhnung der Gegensätze die Grundlage darstellt. Die entsprechende Stelle im Gedicht lautet: Jetzo, da ich ausgewachsen, Viel gelesen, viel gereist, Schwillt mein Herz, und ganz von Herzen Glaub ich an den heil’gen Geist. Dieser that die größten Wunder, Und viel größ’re thut er noch; Er zerbrach die Zwingherrnburgen, Und zerbrach des Knechtes Joch. Alte Todeswunden heilt er, Und erneut das alte Recht: Alle Menschen, gleichgeboren, Sind ein adliges Geschlecht. Er verscheucht die bösen Nebel, Und das dunkle Hirngespinst, Das uns Lieb’ und Lust verleidet, Tag und Nacht uns angegrinst. Tausend Ritter, wohl gewappnet, Hat der heil’ge Geist erwählt, Seinen Willen zu erfüllen, Und er hat sie muthbeseelt. Ihre theuern Schwerdter blitzen, Ihre guten Banner weh’n;

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»Der Brocken ist ein Deutscher.« (DHA 6, S. 117) Zum Kontext der Harzreise vgl. Norbert Altenhofer, »Harzreise in die Zeit. Zum Funktionszusammenhang von Traum, Witz und Zensur in Heines früher Prosa«. In: Altenhofer, Die verlorene Augensprache. Über Heinrich Heine. Hrsg. von Volker Bohn. Frankfurt a.M., Leipzig 1993, S. 7–57. Für eine detaillierte Interpretation der »Bergidylle« vgl. Olaf Hildebrand, Sinnliche Emanzipation und utopische Versöhnung. Aspekte des Sensualismus im Werk Heinrich Heines unter besonderer Berücksichtigung der »Reisebilder«. Tübingen 2001, S. 42–108, bes. S. 72–89.

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Ey, du möchtest wohl, mein Kindchen, Solche stolze Ritter seh’n? Nun, so schau mich an, mein Kindchen, Küsse mich und schaue dreist; Denn ich selber bin ein solcher Ritter von dem heil’gen Geist. (DHA 6, 109f.)

Die christliche Metaphorik – die Idee der Dreieinigkeit sowie Rittertum und Kreuzzug – wird aufgenommen, um säkularisiert gegen die Kirche selbst ins Feld geführt zu werden: Der große Kampf der »[t]ausend Ritter« für Gleichheit und Freiheit aller Menschen (»Alle Menschen, gleichgeboren,/ Sind ein adliges Geschlecht«) richtet sich gerade gegen Sinnesfeindlichkeit und Mystifizierungsstrategien (»verscheucht die bösen Nebel«) der christlichen Entsagungsreligion (»das dunkle Hirngespinst,/ Das uns Lieb’ und Lust verleidet«). Die letzten beiden Strophen, in denen das »Kindchen«, das diese »Ritter« sehen möchte, angesprochen wird, stellen die Verbindung her zu der handschriftlich ergänzten Stelle, an der der Erzähler dem »lieben Kinde« ein Bild von Byron gibt. Die Charakterisierung Byrons als »Griechische[r] Heilige[r]«, die durch den in feierlichem Ton gesprochenen Zusatz »Und bey Gott! ich habe nicht gelogen« emphatisch betont wird und den Ernst der Aufgabe ausdrückt, spielt auf die politische und sinnliche Emanzipation an, für die Griechenland und der englische Dichter stehen.224 Die Aufnahme des Attributs ›heilig‹ verweist zudem zurück auf das vorangegangene Gedicht, in dem die gelungene Versöhnung des Politischen mit dem Spirituellen, für die die »Ritter von dem heil’gen Geist« kämpfen, poetisch zur Darstellung gebracht wurde. Die Parallele zwischen dem Erzähler und Byron, die beide für die gleiche Sache eintreten, wird zusätzlich durch ihre äußere Ähnlichkeit, auf die das Kind hinweist – es glaubt, es wäre das Bild des Erzählers – unterstrichen. Warum Heine diese Stelle nicht in die endgültige Fassung des Textes aufgenommen hat, ist nicht bekannt. Allerdings erwähnt Heine in einem Brief an Friederike Robert vom 18. Mai 1825 seine Umarbeitungen an dem Reisebild Die Harzreise zwischen April und Mai 1825 und weist sie auf Leerräume hin, die besonders zwischen dem Prosatext und den Gedichten bestünden: »Vieles mußt ich streichen; und zur Füllung mancher Lücke, besonders am Ende der großen Gedichte, fehlte mir die Muße.« (HSA 20, 197) Da er das Bruchstück eigens zur besseren Integration der Gedichte in den Erzählablauf geschrieben hatte, drängt sich die Frage umso mehr auf, warum er sich letztlich gegen seine Aufnahme entschied. An Friederike Robert, der er den Text

224

Zu Heines antik-sensualistischer Programmatik und der Entstehung des HellenismusGedankens vgl. neben Hildebrand, Sinnliche Emanzipation auch Martin, Die Wiederkehr der Götter Griechenlands.

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für den Almanach Rheinblüthen versprochen hatte, schickte Heine das Manuskript des Reisebilds zusammen mit dem genannten Brief, es kam jedoch bis zum Ende des Jahres zu keiner Veröffentlichung. Nachdem sich die Option der Publikation in den Rheinblüthen endgültig zerschlagen hatte, erhielt Heine sein Manuskript zurück und offerierte es daraufhin Ende November dem Gesellschafter, nachdem er es, in seinen Worten, »ein Jahr liegen lassen, jetzt wieder durch und durch gefeilt« hatte (HSA 20, 223). In der Zwischenzeit veröffentlichten die Wiener Jahrbücher im Spätsommer 1825 die Rezension, die ein so unvorteilhaftes Bild von Heines Byron-Nachahmung zeichnete, daß – so die hier vorgelegte These – an eine so weitgreifende, ›exoterische‹ Identifikation, die auf das beiden Autoren gemeinsame politisch-sensualistische Programm Bezug nimmt, nicht mehr zu denken war.225 Nach der Streichung des Bruchstücks zum Gedicht »Bergidylle« in Die Harzreise und der kurze Zeit später folgenden kritischen Äußerung zu Byron in Die Nordsee III finden sich keine öffentlichen Identifikationen mehr mit dem englischen Autor. Dennoch gibt es Spuren, die darauf hindeuten, daß Heine Byrons späte Texte und vor allem auch Don Juan sehr gut kannte, und somit auch mit dem politisch-ästhetischen Programm vertraut war, mit dem Byron sich von seinen frühen Weltschmerzdichtungen abwandte. Einen Hinweis darauf gibt ein kurzer Text, der im Zusammenhang mit Heines redaktioneller Tätigkeit bei der Münchner Zeitung Neue allgemeine politische Annalen entstanden ist. In den »Nachbemerkungen« zu Karl von Hailbronners Aufsatz »Körperliche Strafe« von 1828 illustriert Heine seine Kritik an den englischen Maschinenmenschen mit dem Herzog von Wellington, der bei Waterloo den preußischen Truppen zum Sieg über Napoleon verhalf: Und aye! da ich ihn doch einmal rühmen muß, so gestehe ich, ein ganz vorzüglicher Stock solcher Art ist der ……… Wellington, dieser eckig geschnitzelte Hampelmann, der sich ganz nach dem Schnürchen bewegt, woran die Aristokratie zieht, dieser hölzerne Völkervampyr mit hölzernem Blick (wooden look, wie Byron sagt), und, ich möchte hinzusetzen, mit hölzernem Herzen. Wahrlich Alt-England kann ihn zu jenen hölzernen Schutzmauern rechnen, womit es beständig prahlt. (DHA 7/1, 519)

225

Auf die Diskussion um Heines Originalität verweist etwa Friedrich Gottlieb Zimmermanns Besprechung des ersten Bandes der Reisebilder, der Die Harzreise enthält, gleich im ersten Satz: »Der geistreiche Verfasser ist bereits durch seine im J. 1822 erschienenen Jugendgedichte, so wie durch seine Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo, (Berlin 1823) der heimischen Litteratur bekannt. Man hat ihn, seine Originalität verkennend, den Deutschen Byron nennen wollen. Die Selbständigkeit seines poetischen Lebens wird aus diesem neuesten Erzeugniß seines Geistes zur Evidenz hervorleuchten.« (Galley/Estermann, Bd. 1, S. 218) Heine hatte zu dem Professor aus Hamburg ein gutes privates Verhältnis. Auffällig ist, daß die Rezension vom 4. Juli 1826 sofort auf die beiden zentralen Aspekte der Diskussion um Heines Byron-Rezeption eingeht: Er betont die Originalität und Selbständigkeit Heines sowie seine irrtümliche Bezeichnung als deutscher Byron.

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Dieses präzise, graphisch hervorgehobene und mit dem Autornamen versehene und insofern markierte Zitat setzt nicht nur Heines Lektüre von Don Juan, sondern auch des englischen Originals voraus, denn gegen Ende des XI. Cantos von Don Juan heißt es: »I have seen a Duke (No matter which) turn politician stupider,/ If that can well be, than his wooden look.« (CPW V, 490) Mit dem namentlich nicht genannten Herzog ist Wellington gemeint, den Byron in seinen Texten nach 1815 immer wieder scharf als Instrument der Restauration des Adels in Europa attackierte, wie zu Beginn des IX. Cantos von Don Juan, wo Wellington parodistisch als blutrünstiger Verbrecher entlarvt wird: durch die französische Aussprache seines Namens als »›Vilainton‹« (CPW V, 409; von frz. ›vilain‹: ›böse‹, ›häßlich‹, aber auch engl. ›villain‹: ›Verbrecher‹) und als »›best of cut-throats‹«, einem direkten Verweis auf Shakespeares Macbeth (CPW V, 410; dtsch.: ›Mörder‹, ›Halsabschneider‹). Heine muß mit diesem Kontext vertraut gewesen sein, da sein intertextueller Verweis den »hölzerne[n] Blick« eindeutig Wellington zuordnet. Heines kritische Formulierung »Völkervampyr« verfolgt eine ganz ähnliche Stoßrichtung wie Byrons Charakterisierung von Wellington. Es wäre sogar denkbar, daß die humoristische Szene aus dem Reisebild Englische Fragmente, in der der Erzähler befürchtet, daß der englische Barbier ihm beim Gespräch über Wellington die Kehle durchschneidet – »Gott weiß! was ich noch mehr von Wellington rühmte, als mir das Messer an der Kehle stand« (DHA 7/1, 261) –, auf Byrons Charakterisierung des Herzogs Wellington als ›Halsabschneider‹ hinweist. Dieser bei Heine fast singuläre Verweis auf Byrons Versepos Don Juan wurde ausschließlich in Johann Friedrich von Cottas Zeitung publiziert, die Heine zusammen mit Friedrich Ludwig Lindner betreute. Das nicht besonders gut laufende Veröffentlichungsorgan sprach weniger ein literarisch-belletristisches als ein vorwiegend politisch-journa listisch interessiertes Publikum an; zudem war die Autorschaft der Beiträge nicht an allen Stellen genau ersichtlich. Als Heine die einzelnen Texte, die er für die Annalen geschrieben hatte, später zu dem Reisebild Englische Fragmente zusammenfügte und umarbeitete, hat er seine Bemerkungen zu dem Artikel »Körperliche Strafe« nicht mit aufgenommen. Er schrieb für den Text Englische Fragmente jedoch ein neues Kapitel mit dem Titel »Wellington«, in dem der Herzog zwar mit einer ähnlichen Semantik als »das dumme Gespenst, mit einer aschgrauen Seele in einem steifleinenen Körper, ein hölzernes Lächeln in dem frierenden Gesichte« (DHA 7/1, 261) charakterisiert wird, der Verweis auf Byron jedoch nicht mehr zu finden ist; das direkte Zitat vom »hölzernem Blick« aus Don Juan wird von Heine durch die Formulierung »hölzernes Lächeln« ersetzt. Statt des direkten Verweises auf Byrons ottava rima-Gedicht taucht in Englische Fragmente nun als unmarkierter Referenztext Byrons Childe Harold auf. Die Beschreibung Wellingtons als »dumme[s] Gespenst« findet sich in einem Absatz des Reisebilds, der die Gerechtigkeit des Geschichtsgedächtnis161

ses in bezug auf die gleichzeitige Erinnerung an Napoleon und Wellington in Frage stellt. In Childe Harold findet sich eine ganz ähnliche Reflexion. Byron schreibt dort in einer der umfangreichen Prosa-Anmerkungen des vierten Cantos im Kontext einer Würdigung von Napoleon, daß bei der Erinnerung an die Schlacht von Waterloo nicht Wellington oder Blücher, sondern Napoleon im kulturellen Gedächtnis der folgenden Generationen bleiben werde – und zwar wegen seiner überragenden Talente und guten Absichten, seiner Milde und gleichzeitigen Stärke.226 Napoleons Gegner, so ergänzt Byron, besäßen nicht einmal ein Zehntel dieser Eigenschaften; seine Nachfolger in Europa, wozu vor allem Wellington zu zählen ist, würden in ihrer Imitation der schlechtesten Aspekte von Napoleons politischer Strategie allein von ihrer »comparative impotence, and their positive imbecility« (CPW II, 341) beschränkt. Die Nachwelt werde entscheiden, ob, wie bei der Schlacht von Zama (202 v. Chr.), Hannibal trotz seiner Niederlage anstelle von Scipio erinnert werde – »[f]or assuredly we dwell on this action, not because it was gained by Blucher oder Wellington, but because it was lost by Buonaparte« (CPW II, 341f.).227 Heines Reisebild greift diesen Gedanken auf, modifiziert aber Byrons optimistische Auslegung eines gerechten Gedächtnisses, das sich der (Sieger-)Geschichte widersetzen werde. Zusammen mit dem Helden werde, so beklagt der Erzähler von Englische Fragmente, auch der klägliche ›Verbrecher‹ erinnert: »Was mich am meisten ärgert, ist der Gedanke, daß Arthur Wellington eben so unsterblich wird wie Napoleon Bonaparte. Ist doch, in ähnlicher Weise, der Name Pontius Pilatus eben so unvergeßlich geblieben, wie der Name Christi. Wellington und Napoleon!« (DHA 7/1, 261) Napoleon, in »jede[m] Zoll ein Gott« (DHA 7/1, 261), gleichrangig mit den heroischen, antiken Feldherren Cäsar und Alexander, wird in der Erinnerung der künftigen Menschheit untrennbar mit dem Namen Wellington verbunden sein. Obwohl Wellington mit seiner »aschgrauen Seele in einem steifleinenen Körper« den größten denkbaren Kontrast zu Napoleon darstellt, ist auch er im Gedächtnis der Geschichte unsterblich geworden. Es bleibt festzuhalten, daß Heine zwar einen subtilen Dialog mit Byrons Texten fortsetzt, allzu deutliche Markierungen in seinen Veröffentlichungen für ein literarisches Publikum aber vermeidet und es bevorzugt, Byron als Autor des Childe Harold zu inszenieren. Diese Praxis von Heine ist auch in bezug auf andere Autoren und Texte bekannt. So entwickelt etwa Wolfgang Frühwald über Heines Verhältnis zu Brentano, dem Spätromantiker und Zeitgenossen Heines, eine vergleichbare These, und zwar, daß sich zwischen den Autoren ein Dialog vollzogen habe, der aber nur über Anspielungen in ihrem poetischen Werk rekonstruiert werden könne, da er weder in ihren Briefen 226 227

Vgl. CPW II, S. 340f. Vgl. CPW II, S. 340.

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noch in ihren Tagebüchern dokumentiert sei.228 Ebenso ist Heines Anspielungsreichtum auf Texte von Lawrence Sterne, wie A Sentimental Journey oder Tristram Shandy, deren narrative Verfahren er nachahmte, in der Forschung gut dokumentiert, was einer Äußerung Heines gegenüber von Rosa Maria Assing widerspricht, die in ihrem Tagebuch schreibt: »Er liest nun den ›Tristram Shandy‹ und ›Peregrine Pickle‹ und meinte, er lerne viel von diesen, wie man es nämlich nicht machen müsse, und was man als Schriftsteller zu vermeiden habe.«229 Heines Aussage, wenn sie von Maria Assing adäquat wiedergegeben wurde, liest sich wie eine kritische Distanzierung von Sternes Texten, die aber auch doppeldeutig verstanden werden kann: von Sternes literarischer Technik kann er lernen, wie konventionelle Erzählverfahren (»wie man es […] nicht machen müsse«) aufgebrochen werden können. Weitere Zeugnisse von Heines Verschattungspraxis, mit der er für ihn wichtige Lektüre, die er sich produktiv anverwandelte, bewußt unerwähnt ließ, könnten ergänzt werden; hier soll nur noch auf das Versepos Atta Troll hingewiesen werden, das diese Praxis auch auf intermedialer Ebene exemplifiziert. Heines Text – darüber ist sich die Forschung einig – wurde von den Motiven einer Sammlung von Tiergeschichten inspiriert, den Scènes de la vie privée et publique, die der französische Karikaturenzeichner Grandville illustrierte. Es ist bezeichnend, daß sich Heine über dieses populäre Projekt, an dem so namhafte Autoren wie Honoré de Balzac, Jules Janin, George Sand und Charles Nodier beteiligt waren, an keiner Stelle äußert. Ab Januar 1841 erschien das Werk wöchentlich in Einzelheften, so daß Heine, als er im Sommer 1841 in den Pyrenäen den Plan für sein Versepos Atta Troll faßte, mit den Geschichten bereits vertraut gewesen sein konnte. Winfried Woesler bemerkt dazu in seinem Kommentar in der Düsseldorfer Heine-Ausgabe: Merkwürdig berührt allerdings, daß Heine an keiner Stelle Grandville oder gar die »Scènes« erwähnt, daß weder in An-Briefen noch in den von M. Werner (1973) gesammelten Lebenszeugnissen von ihm die Rede ist. Es läßt sich nicht mit Sicherheit entscheiden, ob hier eher der Zufall verantwortlich ist oder ob Heine, wie Reynaud vielleicht nicht ganz zu Unrecht meint, bewußt jeden Hinweis auf dieses Werk vermieden hat. […] Daß Heine über das aufsehenerregende Grandville-Projekt der Verleger Paulin und Hetzel, an dem bedeutende Autoren mitwirkten, nicht informiert gewesen sein soll, ist ausgeschlossen. (DHA 4, S. 348)

Es zeigt sich, daß Heine die Mechanismen des Literaturmarktes sehr genau kannte und darauf bedacht war, ein Bild von sich in der deutschen Öffent-

228

229

Vgl. Wolfgang Frühwald, »Heinrich Heine und die Spätromantik: Thesen zu einem gebrochenen Verhältnis«. In: Raymond Immerwahr/Hanna Spencer (Hrsg.), Heinrich Heine. Dimensionen seines Wirkens. Bonn 1979, S. 46–55, hier S. 48f. Werner, Begegnungen mit Heine, Bd. 1, S. 137. Zu Heine und Sterne vgl. etwa Prawer, Frankenstein’s Island.

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lichkeit zu entwerfen, das die Originalität und Einzigartigkeit seiner Autorschaft bestätigte.230 So ist es kein Zufall, daß eine weitere Aussage, die Heines Kenntnis von Don Juan bestätigen kann, aus einem Gespräch mit einem englischen Journalisten stammt und für die englische Presse bestimmt war.231 Das Interview mit Heine in Paris wurde in der englischen Zeitung The Critic am 15. April 1852 ohne Nennung des Verfassers abgedruckt, der vermutliche Interviewer, John Crockford, läßt sich ebenso wenig wie die Sprache, in der das Gespräch geführt wurde, genau ermitteln. Obwohl der englische Zeitungsabdruck in The Critic das einzige Dokument dieses Gesprächs ist, muß Siegbert Prawer beigepflichtet werden, daß die Authentizität des Textes relativ hoch einzuschätzen ist, da Heine zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch lebte und Einspruch gegen ein gefälschtes Interview hätte erheben können.232 Die Äußerungen über Byron in diesem Interview stützen Prawers These, da das bereits bekannte Vorgehen Heines beim Entwurf von Byron als romantischem Dichter des Weltschmerzes, der einer vergangenen Zeit angehört, auch hier wieder begegnet. Der englische Journalist stellt sich dem deutschen Dichter als Landsmann von Shakespeare und Milton vor, worauf Heine ihn ergänzt: And of Byron. Ah! Byron! It was not as now, propped upon the pillows of a sick couch, but with the sighing of the German pine forest, and the torrent’s roar for accompaniment, that first I heard thy song. I was young, my friend, young with the life of five-and-twenty, when my bosom echoed the wild melancholy of Childe Harold, when I bounded over the ocean, fierce and free with the Corsair, when I wandered on the beach with Haidee, while the waves softly sang the sun to its rest. Byron is gone, and poetry is going. Type of modern poetry, Heinrich Heine lies sick upon his pillows, drinking the bitter potions of the physician, not the pure waters of the Castalian fount. Poetry and Heine are dying.233

Zunächst verortet Heine Byron neben Englands für die Romantik bedeutendsten literarischen Eminenzen der Vergangenheit: Shakespeare und Milton. Weiterhin wird ein Gegensatz zwischen einst – der begeisterten, bewegten (»bounded«, »wandered«) Jugend – und jetzt – dem desillusionierten, bewegungslosen Alter (»propped upon the pillows of a sick couch«) – markiert, wobei der englische Dichter mit Heines Jugend assoziiert wird. Für seine nostalgischen Erinnerungen an frühere Zeiten wählt Heine Figuren aus Byrons Texten aus, die 230 231

232 233

Zu Heines Konstruktion seines Bildes in der Öffentlichkeit vgl. Werner, »Imagepflege«. Daß Heine ein ausgeprägtes Bewußtsein dafür hatte, wo seine Texte erscheinen, zeigen nicht nur die genannten Beispiele, sondern auch die Umarbeitungen an seinem Reisebild Die Nordsee III für die französische Ausgabe, in der die kritischen Äußerungen über Byron gestrichen sind (vgl. DHA 6, S. 778). Der spezifisch deutsche Kontext, in dem Heine als Nachahmer Byrons bezeichnet wurde, war in Frankreich weniger bedeutend. Deswegen, so läßt sich entsprechend der hier vorgelegten These folgern, war auch die Passage in Die Nordsee III zu Byron unnötig geworden. Vgl. Prawer, Frankenstein’s Island, S. 301. Werner, Begegnungen mit Heine, Bd. 2, S. 295f.

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verschiedene Aspekte des Romantischen repräsentieren: die Melancholie und Zerrissenheit des prototypischen Heimatlosen Childe Harold, das Ungezügelte und Freie des rebellischen Byronischen Helden Conrad aus The Corsair und die romantische Liebe auf Haidees griechischer Insel. In die Reihe von Heines jugendlicher Identifikation mit Weltschmerzfiguren wie Goethes Werther und Chateaubriands René, auf die Heine an späterer Stelle in dem Interview hinweist, gehört auch Lara, der Protagonist aus Byrons gleichnamiger romantischer Verserzählung von 1814.234 Es zeichnet sich ab, daß Byron im Gespräch mit Crockford die romantische Dichtung verkörpert, die seit seinem Tod zu verschwinden begann: »Byron is gone, and poetry is going.« Während die frühere, romantische Zeit der Jugend von reiner dichterischer Inspiration und Begeisterung durchdrungen war – »the pure waters of the Castalian fount« –, ist Heines persönliche und politische Gegenwart charakterisiert von der bitteren Medizin, die er statt des Wassers der Quellnymphe Kastalia nun vom Arzt verabreicht bekommt: »drinking the bitter potions of the physician«. Das Bild der unerreichbaren kastalischen Quelle verwendete Heine schon in dem kurz vor dem Interview veröffentlichten Gedicht »Der Apollogott« aus dem ersten Teil des Romanzero. Das Thema des Gedichts ist auch die Differenz zwischen der begeistert-inspirierten Vergangenheit des Gottes der Dichtung und der Schönheit Apolls auf der einen Seite und seiner glanzlosen, fast lächerlichen Gegenwart im Exil auf der anderen.235 Zu diesem Feld von Oppositionen wie Jugend und Alter, Vergangenheit und Gegenwart, Inspiration und erloschener Schöpferkraft, gehört auch der Unterschied zwischen Romantik und moderner Literatur. Während Byron die romantische Dichtung, Jugend, Inspiration und eine verzauberte Welt repräsentiert, figuriert Heine den Typus der Poesie in der industriellen, kapitalistischen Moderne (»[t]ype of modern poetry, Heinrich Heine lies sick upon his pillows«). Als Parallelismus zwischen den Epochenzäsuren konstruiert, für die das Ende der beiden Autoren jeweils repräsentativ steht, verschwindet mit Heines Tod die Dichtung allerdings nicht nur allmählich wie mit Byron, sondern sie stirbt vollends: »Poetry and Heine are dying.« 234 235

Vgl. Werner, Begegnungen mit Heine, Bd. 2, S. 297. Die beiden Fragen, die im Interview auf »Poetry and Heine are dying« folgen: »Have you heard my swan-song? Have you read my Romanzero?« (Werner, Begegnungen mit Heine, Bd. 2, S. 296) – Fragen, die der Interviewer verneinen muß –, bekräftigen zum einen die Authentizität des Interviews und legen zum anderen nahe, daß Heine bei der Erwähnung des kastalischen Quells im Gespräch mit Crockford tatsächlich auf sein Gedicht »Apollogott« aus dem Romanzero Bezug nimmt. In diesem Gedicht heißt es: »Ich weiß es nicht, wie mir geschah:/ Ich brauchte nur zu nippen/ Vom Wasser der Kastalia,/ Da tönten meine Lippen.// Ich sang – und wie von selbst beynah/ Die Leyer klang, berauschend;/ Mir war, als ob ich Daphne sah,/ Aus Lorbeerbüschen lauschend.// Ich sang – und wie Ambrosia/ Wohlrüche sich ergossen,/ Es war von einer Gloria/ Die ganze Welt umflossen.// Wohl tausend Jahr aus Gräzia/ Bin ich verbannt, vertrieben –/ Doch ist mein Herz in Gräzia,/ In Gräzia geblieben.« (DHA 3/1, S. 33f.)

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Obwohl Byron in diesem Interview erneut als Stellvertreter des Weltschmerzes und der als vorkapitalistisch interpretierten Welt der Romantik porträtiert wird, gibt diese Stelle zugleich einen Einblick in Heines Lektüre von Don Juan. Die genaue Kenntnis von Haidee, deren ungebändigte, romantische Liebe zu Juan im zweiten, dritten und vierten Canto geschildert wird, läßt, unter Berücksichtigung des Wellington-Zitats, die Schlußfolgerung zu, daß Heine tatsächlich mit Byrons ganzem Versepos, nicht nur mit einer partikularen Stelle gut vertraut war. Diese These wird sich vor allem anhand des dritten Aspekts von Heines Bezugnahmen auf Byron bestätigen, dem sich das abschließende Kapitel widmen wird. Im Hinblick auf den heuchlerischen Diskurs der Restauration wird nun die funktionale Dialogizität von nicht-markierten Byron-Zitaten in Heines Texten Die Bäder von Lukka, Die Stadt Lukka, Die Memoiren des Herren von Schnabelewopski und Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland untersucht. 2.8.

Intertextualität und die moralische Heuchelei in der deutschen literarischen Öffentlichkeit

Im zeitlichen Umfeld von Heines Englandreise, die er von April bis August 1827 unternahm, und seinem Italienaufenthalt von August bis November 1828 – Reisen, die im übrigen als geographische Ziele sowohl Byrons Heimat als auch sein späteres Exil haben – finden sich mehrere Hinweise einer intensiven Beschäftigung mit Byrons Biographie und mit seinen Texten. Inwiefern bei Heine nicht nur von einem biographischen Interesse an Byron gesprochen werden kann wie bei vielen seiner Zeitgenossen, sondern auch von einer produktiven literarischen Rezeption, die Byrons kosmopolitisches Kunstverständnis aufgreift und für den eigenen literarisch-publizistischen Angriff auf die »Kunstperiode« Ende der 1820er Jahre produktiv weiter entwickelt, werden vor allem die Kapitel III. und IV. zeigen. Im folgenden geht es um den Diskurs der Heuchelei in der öffentlichen Rede der Restaurationszeit, den Byron als cant (›Heuchelei‹, ›scheinheiliges Gerede‹) immer wieder zum Gegenstand seines satirischen Angriffs machte und den auch Heine in mehreren Texten attakkierte. Zunächst soll an zwei ausgewählten Stellen aus Die Bäder von Lukka und Englische Fragmente Heines diskursive Kritik an der moralischen Heuchelei erläutert werden, um dann auf den intertextuellen Bezug zu Byrons Texten einzugehen. Das Reisebild Die Bäder von Lukka entwirft ein Bild des moralisch erstarrten Restaurationsdiskurses in Deutschland anhand des Figurentableaus eines italienischen Badeortes. Dabei wird von Heine vor dem Hintergrund des südlichen Landes, das traditionell in der Literatur für seine freizügige Sinnlichkeit gerühmt wird, das Thema der Sexualität anhand verschiedener Frauenfiguren aufgerufen, zugleich aber auch die gesellschaftlich-moralische Unterdrückung 166

der Sinnlichkeit problematisiert und ironisiert. Heine greift dabei auf eine Reihe von Intertexten zurück – neben E.T.A. Hoffmann, Shakespeare und der Tradition des Petrarkismus ist es vor allem Byrons Kampf gegen den cant, also die Heuchelei seiner Zeit, auf den Heine in nicht-markierten Zitaten Bezug nimmt. Das erste Kapitel der Bäder von Lukka beginnt medias in res mit dem unerwarteten Wiedersehen des Erzählers und seiner ›närrischen‹ englischen Freundin Mathilde in Italien. Auf ihre Frage, ob er nun die »gelbfettigen Makaronigesichter in Italien« (DHA 7/1, 86) den englischen Frauen bevorzuge, erwidert der Erzähler mit einem oxymorischen Bild in der Tradition des Petrarkismus:236 »Ich bin noch immer nicht abgeneigt Ihren Landsmänninnen zu huldigen; sie sind schön wie Sonnen, aber Sonnen von Eis, sie sind weiß wie Marmor, aber auch marmorkalt – auf ihren kalten Herzen erfrieren die armen Flöhe –« (DHA 7/1, 86) Der Gegensatz zwischen Hitze (»Sonnen«) und Kälte (»Eis«) und zwischen Hohem, Edlem (»Marmor«) und Niedrig-Profanem (»Flöhe«) demonstriert zum einen eines der zentralen Verfahren des Textes – der paradoxalen Verbindung von Entgegengesetztem, das Slobodan Grubačić als wichtigstes Prinzip der Darstellung in Die Bäder von Lukka herausstellte.237 Zum anderen verweist die Charakterisierung der Frauen an dieser Stelle zugleich auf ein Thema, das für Heines Prosatexte, die Ende der 1820er Jahre im Kontext seiner England- und Italienreisen entstanden sind, besonders charakteristisch ist: das der Heuchelei. Die Verstellung der englischen Frauen, die sich nach außen einen ›frostigen‹ Anschein geben, verdeutlicht der Kommentar Mathildes, die auf die Klage des Erzählers über die Kälte der englischen Frauen antwortet: »Oho! ich kenne einen Floh, der dort nicht erfroren ist, und frisch und gesund übers Meer gesprungen, und es war ein großer, deutscher, impertinenter Floh –« (DHA 7/1, 86) Wenn man das Bild topographisch liest, verweist es auf die unbeschadete Heimkehr des ›Flohs‹ nach Deutschland von dem englischen Küstenort Ramsgate, der im nächsten Abschnitt des Textes als Ort der Begegnung zwischen Mathilde und dem Erzähler ausgewiesen wird. mit dem der autobiographische Erzähler gemeint ist. Der metaphorische Charakter der Unterhaltung zwischen dem Erzähler und Mathilde eröffnet noch eine zweite Bedeutungsebene. Wasser ist in Heines Texten häufig mit dem 236

237

Zu petrarkistischen Elementen im Liebesdiskurs bei Heine vgl. Manfred Windfuhr, »Heine und der Petrarkismus. Zur Konzeption seiner Liebeslyrik«. In: Helmut Koopmann (Hrsg.), Heinrich Heine, (Wege der Forschung, Bd. 289). Darmstadt 1975, S. 207–231. Windfuhr hebt den oxymorischen Charakter der Liebeserfahrung in der Tradition des Petrarkismus hervor (vgl. S. 215), betont aber auch die Differenz, die Heines Übertragung des Petrarkismus in die moderne Welt aufweist. Im Unterschied zur ›Grausamkeit‹ Lauras ihrem Verehrer gegenüber, die ihrer moralischen Integrität entspringe, würden die von Heine beschriebenen Frauen aus egoistischen, betrügerischen, quälsüchtigen und gleichgültigen Motiven handeln (vgl. S. 226). Vgl. Slobodan Grubačić, Heines Erzählprosa. Versuch einer Analyse. Stuttgart u.a. 1975, S. 65.

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weiblichen Geschlecht assoziiert und besitzt häufig auch eine sexuelle Konnotation; nicht zufällig werden die englischen Frauen mit »Sonnen von Eis« verglichen.238 Insofern kann der erfolgreiche Sprung über das Meer eines kaltschnäuzigen deutschen Flohs auch als frivole Anspielung auf die Eroberung der Frau jenseits moralischer Etikette verstanden werden. Bestärkt wird diese Lesart durch die mehrfache Nennung des Flohs, der von den Zeitgenossen als anstößig empfunden wurde. Als Intertext ist hier E.T.A. Hoffmanns Erzählung Meister Floh zu nennen, in der der verliebte Meister Floh sich ›wollüstig‹ auf einer schönen Königstochter ansiedelt und von dem es heißt, daß er »nur in der Wonne lebte, auf dem schönsten Halse, auf dem schönsten Busen umherzuhüpfen und die Holde mit süßen Küssen zu kitzeln«.239 Der profanierende »Schnupfen«, den sich der Erzähler »an den brittisch frostigen Herzen« (DHA 7/1, 86) geholt hat, läßt allerdings Zweifel an der sinnlichen Erfülltheit des Abenteuers auf kommen. Die gesellschaftlich-moralische Unterdrückung der Sinnlichkeit, die sich in der Verstellung der Frauen zeigt, wird in Englische Fragmente im Kontext des Zusammenpralls von Frivolität und Puritanismus kommentiert: Am ergötzlichsten zeigte sich mir dieser Contrast beider Denkweisen [der frivolen und der puritanischen, A.B.], als ich einst in der großen Oper neben zwey dicken Manchesternen Damen saß, die diesen Versammlungsort der vornehmen Welt zum Erstenmahle in ihrem Leben besuchten, und den Abscheu ihres Herzens nicht stark genug kund geben konnten, als das Ballet begann, und die hochgeschürzten schönen Tänzerinnen ihre üppiggraziösen Bewegungen zeigten, ihre lieben, langen, lasterhaften Beine ausstreckten, und plötzlich bacchantisch den entgegenhüpfenden Tänzern in die Arme stürzten; die warme Musik, die Urkleider von fleischfarbigem Trikot, die Naturalsprünge, Alles vereinigte sich, den armen Damen Angstschweiß auszupressen, ihre Busen errötheten vor Unwillen, shocking! for shame, for shame! ächzten sie beständig, und sie waren so sehr von Schrecken gelähmt, daß sie nicht einmal das Perspektiv vom Auge fortnehmen konnten, und

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So heißt es etwa in dem Prosaentwurf : »Ein ungeheurer Kalkfelsen, gleich einem schönen, weißen Frauenbusen, erhebt sich über dem Meere, das verliebte Meer drängt sich an ihn heran, umspielt und bespritzt ihn neckend, und umschlingt ihn mit seinen gewaltigen Wellenarmen.« (DHA 2, S. 205) Die Frau wird hier nicht – wie in Heines zahlreichen Nixenfiguren – mit dem gefährlich-verführerischen Wasser identifi ziert, sondern mit dem kalten, unbeweglichen Felsen, wohingegen das Meer die aneignende, männliche Sexualität repräsentiert. Bemerkenswert ist die geographische Parallele zu dem Ort Ramsgate, wo sich der Erzähler und Mathilde »zuerst nahe kamen« (DHA 7/1, S. 87). E.T.A. Hoffmann, Meister Floh. In: Sämtliche Werke, Bd. 6: Späte Prosa, Briefe, Tagebücher und Aufzeichnungen, Juristische Schriften, Werke 1814–1822. Hrsg. von Gerhard Allroggen u.a. Frankfurt a.M. 2004, S. 354. Heines Briefe aus Berlin schildern ausführlich Hoffmanns Erzählung, wobei der Kommentar zum Namen aufschlußreich ist: »Der Titel des Buches wollte mir anfangs sehr unanständig vorkommen; in Gesellschaft mußten, bey der Erwähnung desselben, meine Wangen jungfräulich erröthen, und ich lispelte immer: Hoffmanns Roman, mit Respekt zu sagen.« (DHA 6, S. 51) Zur redaktionellen Streichung des anstößigen Wortes ›Floh‹ aus dem Manuskript der Bäder von Lukka vgl. DHA 7/2, S. 1267f.

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bis zum letzten Augenblicke, bis der Vorhang fiel, in dieser Situazion sitzen blieben. (DHA 7/1, 221)

Die »Damen«, die sich über den sinnlichen Tanz nach außen schockiert zeigen, kommen aus Manchester, der Region Englands, die besonders von der industriellen Revolution geprägt war. Die Ideologie des Puritanismus kennzeichnete besonders die arbeitende Klasse und das englische Besitzbürgertum – also beide sich durch die Industrialisierung entwickelnden Klassen. Heines Text beschreibt die Frauen, die in der Oper mit den Vergnügungen der vornehmen, adligen Welt konfrontiert werden, die sich, wie Günter Oesterle betont, in der Tradition des 18. Jahrhunderts »eine frivole Lebenshaltung des funktionslosen Amusements« erlaubte, zu dem der erotische, anrüchige Auftritt der Tänzerinnen und Tänzer in der Oper gehörte.240 Die Kritik in Heines Text gilt jedoch nicht der Frivolität in der Darstellung von sinnlicher Natur, sondern der Leugnung ihres emanzipatorischen Potentials, die sowohl den Adel als auch das Bürgertum charakterisiert. Das adlige Publikum reduziert die Oper und den sinnlichen Tanz auf reine Unterhaltung, während die nach oben strebende Bourgeoisie dem Schein nach asketischen und puritanischen Idealen verpflichtet ist. In Abgrenzung zur Tradition des Adels und zur herrschenden Praxis des Bürgertums verfolgen Heines Texte eine Politisierung der Frivolität wie auch des öffentlichen Raums der Oper und ihrer revolutionären Sprengkraft. Im Kontext der Analyse der Reise von München nach Genua wird dieser Aspekt noch ausführlicher zur Sprache kommen.241 Mit der satirischen Darstellung der puritanischen Lüge Englands in Gestalt der »Manchesternen Damen«, die Sinnlichkeit nach außen moralisch verdammen, um mit dem »Perspektiv« am Auge dennoch hinzusehen und unter der verurteilenden Maske das Verbotene heimlich zu genießen, kommentiert Heines Reisebild auch indirekt die Heuchelei des heimischen, deutschen Publikums. In der Erzählung Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski spielt Heine dann explizit mit der scheinheiligen, moralischen Entrüstung in bezug auf seine Leser und Leserinnen. Der Erzähler, der sich in diesem Text im Amsterdamer Theater befindet und eine Aufführung des Fliegenden Holländers ansieht, trifft dort eine »holländische Messaline« (DHA 5, 174), die ihm während der Vorstellung Apfelsinenschalen auf den Kopf wirft. Die Verführung der blonden Eva, in deren »Paradies« der Erzähler »hinaufstieg, um die Bekanntschaft fortzusetzen« (DHA 5, 173), kommentiert ironisch das Thema des Fliegenden Holländers: die ewige Treue der Frau. Der Text spart das folgende erotische Abenteuer absichtlich aus, um sich, wie der Erzähler seine Auslassung explizit kommentiert, »dadurch an die Prüden die dergleichen

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Oesterle, Integration und Konflikt, S. 91. Vgl. Kap. IV. 5.3.3.

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Geschichten mit Wonne einschlürfen, und bis an den Nabel, ja noch tiefer, davon entzückt sind, und nachher den Erzähler schelten, und in Gesellschaft über ihn die Nase rümpfen, und ihn als unmoralisch verschreyen«, zu rächen (DHA 5, 173). Aus »Ranküne, zur Strafe für frühere Unbill«, macht der Erzähler »einen langen Gedankenstrich —« und erläutert: »Dieser Strich bedeutet ein schwarzes Sopha, und darauf passirte die Geschichte, die ich nicht erzähle.« (DHA 5, 174) Die vorenthaltene Geschichte sei so »köstlich wie eingemachte Ananas, oder wie frischer Caviar, oder wie Trüffel in Burgunder, und wäre eine angenehme Lektüre nach der Betstunde« (DHA 5, 173). Das frivole Abenteuer wird mit exotischem Essen verglichen, das die asketischen Puritaner in der Öffentlichkeit ebenso ablehnten wie das erotisch-sinnliche Vergnügen. Nur im Verborgenen, also »nach der Betstunde«, konnten sie in der Literatur eine Ersatzbefriedigung finden. Damit spielt der Erzähler, wenn er dann doch berichtet, daß er »noch nie so wild geküßt worden, wie von jener holländischen Blondine«; sie habe »das Vorurtheil, welches ich bisher gegen blonde Haare und blaue Augen hegte, aufs siegreichste zerstört« (DHA 5, 174). Der Unterschied zwischen Sein und Schein, Kälte und Feuer, auf den auch der Erzähler des Schnabelewopski abhebt, führt ihn zu der folgenden Beobachtung: Jetzt erst begriff ich, warum ein englischer Dichter solche Damen mit gefrorenem Champagner verglichen hat. In der eisigen Hülle lauert der heißeste Extrakt. Es giebt nichts pikanteres als der Contrast jener äußeren Kälte und der inneren Glut, die bachantisch emporlodert und den glücklichen Zecher unwiderstehlich berauscht. (DHA 5, 174)

Der englische Dichter, von dem hier die Rede ist, ist Byron. Die Stelle, auf die sich diese Anspielung bezieht, stammt aus einem der späteren Cantos von Don Juan. Der intertextuelle Bezug ist zwar markiert, der Name des Dichters wird jedoch nicht genannt. Die folgenden Ausführungen zu der Passage in Don Juan, auf die das Zitat anspielt, sollen die Berührungspunkte in der Thematik und bei den verwendeten Erzählverfahren verdeutlichen. Das Canto, aus dem die Anspielung in Heines Text stammt, ist in der gehobenen englischen Gesellschaft situiert und Der Erzähler versucht die englische Heldin Lady Adeline Amundeville und ihr vornehm kühles Auftreten zu beschreiben, das nicht für Indifferenz gehalten werden dürfe. Dazu setzt er mit dem locus communis an (»Now for a common place!«, CPW V, 535), sie gleiche einem unter dem Schnee brodelnden Vulkan, um allerdings sofort mit einem »et cetera« (CPW V, 535) die weitere Ausführung der stereotypen Metapher zu unterbrechen. Die rhetorische Frage »Shall I go on?« (CPW V, 535), die er mit »No./ I hate to hunt down a tired metaphor« (CPW V, 535) beantwortet, führt über zum Vergleich der ›kaltblütigen‹ Frauen mit einer Flasche gefrorenem Champagner. Die Aposiopese als bewußter Abbruch der Rede, die das begonnene Bild nicht zu Ende ausführt, spielt mit den Erwartungen des Publikums. Die abgenützte sprachliche Metaphorik ist kein Feuer, sondern nur 170

noch qualmender Rauch: »How frequently […]/ It hath been stirred up till its smoke quite smothers« (CPW V, 535). Durch seine sprachliche Versatilität will sich der Sprecher bewußt unterscheiden von den Sprachkonventionen Regency Englands, die mit der puritanischen Moral enggeführt werden. Gegenüber dem ›Gemeinplatz‹ betont das folgende neue und unverbrauchte Bild des eisigen Champagners, das der Erzähler im Handumdrehen (»in a trice«) parat hat, Spontaneität, Kreativität und auch Sinnlichkeit: I’ll have another figure in a trice:— What say you to a bottle of champagne? Frozen into a very vinous ice, Which leaves few drops of that immortal rain, Yet in the very centre, past all price, About a liquid glassful will remain; And this is stronger than the strongest grape Could e’er express in its expanded shape: ’Tis the whole spirit brought to a quintessence; And thus the chilliest aspects may concentre A hidden nectar under a cold presence. And such are many — though I only meant her, From whom I now deduce these moral lessons, On which the Muse has always sought to enter: — And your cold people are beyond all price, When once you have broken their confounded ice. (XIII 37–38; CPW V, 535f. )

Der hier geschilderte Kontrast zwischen der »äußeren Kälte« und »inneren Glut« in bezug auf den gefrorenen Champagner, der einige Tropfen des köstlichen Nektars unter der kalten Erscheinung konzentriert, dokumentiert erneut Heines Kenntnis von Byrons Versepos Don Juan, wie es die Anspielung aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski belegt. Darauf wurde an unterschiedlichen Stellen in der Forschung bereits hingewiesen.242 Neben Siegbert Prawer und Manfred Frank verweist auch der Kommentar der Düsseldorfer Heine-Ausgabe auf Byrons Don Juan. Daß dennoch immer wieder Heines Kenntnis der späten Texte Byrons in Frage gestellt wird, ist deswegen umso erstaunlicher und ist, wie ausgeführt wurde, maßgeblich auf Heines Praxis der Verschattung zurückzuführen. Byrons ironische Kritik an der puritanischen Verstellung einer Gesellschaft, die Gefühlsregungen als ›moralische Trunkenheit‹ betrachtet – »[a]nd rash Enthusiasm in good society/ Were nothing but a moral Inebriety« (CPW V, 535) –, zeigt sich in der Metaphorik der nächsten beiden Strophen. Sie ver-

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Vgl. Prawer, Frankenstein’s Island, S. 160f.; Manfred Frank, Die unendliche Fahrt. Ein Motiv und sein Text. Frankfurt a.M. 1979, S. 78; DHA 5, S. 827f.

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gleichen den Zugang zum ›verborgenen Nektar‹ der Frau mit der Suche von Seefahrern wie Sir William Parry (1790–1855) nach der von den Zeitgenossen noch nicht entdeckten Nord-West-Passage nach Indien: But after all they are a North-West Passage Unto the glowing India of the soul; And as the good ships sent upon that message Have not exactly ascertained the Pole (Though Parry’s efforts look a lucky presage) Thus gentlemen may run upon a shoal; For if the Pole’s not open, but all frost, (A chance still) ’tis a voyage or vessel lost. (XIII 39; CPW V, 536)

Wenn sie bei ihrer Expedition scheitern und der Pol zugefroren ist (»if the Pole’s not open, but all frost«), verlieren sie, so die euphemistische Formulierung, entweder die Reise oder auch das Schiff (»a voyage or vessel lost«), weshalb das riskante Unterfangen für Anfänger nicht zu empfehlen sei: And young beginners may as well commence With quiet cruizing o’er the ocean woman; While those who are not beginners, should have sense Enough to make for port, ere Time shall summon With his grey signal flag: and the past tense, The dreary ›Fuimus‹ of all things human, Must be declined, while life’s thin thread’s spun out Between the gaping heir and gnawing gout. (XIII 40; CPW V, 536)

An vielen Abenteurern, die den Ozean Frau (»the ocean woman«) zu erkunden strebten und die Nord-West-Passage zum glühenden Indien der weiblichen Seele zu finden hofften, streichen die Jahre vorüber. Den Erfahrenen rät der Erzähler (»those who are not beginners«) deshalb, den Hafen anzusteuern, bevor die Zeit ›ihre Fahne schwinge‹ (»ere Time shall summon/ With his grey signal flag«) und das ›Präteritum dekliniert‹ werden müsse (»and the past tense, […]/Must be declined«). Das quest-Motiv karikiert die Vorstellung eines glühenden, weiblichen Herzens unter der eisigen Oberfläche, das es zu entdecken gilt. Die Verwendung barocker Motive unterstreicht im Sinne des carpe diem, daß der dünne Faden des Lebens (»life’s thin thread«) zu kurz ist, um hinter der puritanischen Maske auf sinnliche Erfüllung zu hoffen. Wie in einer der folgenden Strophen erklärt wird, endet der englische Winter im Juli und beginnt im August, was den unterkühlten Charakter des englischen Volkes auf das Klima des Landes zurückführt. Das geographische Gegenteil, das sich auch im Temperament niederschlägt, wird in dem ottava rima-Gedicht Beppo geschildert, das im venezianischen Karneval spielt und sinnliche Erfüllung sowie die wohltuende Absenz prüder, lebensfeindlicher Moral zum Gegenstand hat. 172

Die Gefährdung des Abenteurers, der sich auf den Ozean Frau begibt, zeigt nicht nur Parallelen zu Heines Memoiren des Herren von Schnabelewopski – Mathilde spielt auf die unbeschadete Rückkehr des impertinenten Abenteurers von seiner Reise über das Meer an – sondern auch zu dem Reisebild Die Bäder von Lukka, wo der Erzähler sich an den eisigen Herzen der englischen Frauen einen Schnupfen zuzog, von dem er sich im südlichen Italien noch immer nicht erholt hat. Die genannten Textstellen bei Heine und die ›Champagner-Passage‹ bei Byron verwenden vergleichbare Techniken der Aussparung, der Digression, des Spiels mit Rezeptionserwartungen und kommentieren ironisch die Sinnenfeindlichkeit der deutschen bzw. englischen Gesellschaft während der Restauration, die sich am deutlichsten in der Verstellung der Frauen ausdrückt. Bei beiden wird die Ästhetik mit der Moral parallelisiert – der Verstoß gegen das decorum in der Dichtkunst, die konventionalisierten ästhetischen Regeln, impliziert auch den Verstoß gegen das moralische decorum, die sozialen Konventionen des Schicklichen in der Gesellschaft. Wie verbreitet in der deutschen Rezeption die Wahrnehmung von Byrons Texten als Entlarvung der puritanisch-moralischen Heuchelei war, können die »Zuschrift« und die »Nachschrift« des deutschen Übersetzers von Don Juan verdeutlichen. Wilhelm Reinhold veröffentlichte 1828, also etwa nahezu zeitgleich zur Entstehung von Heines Die Bäder von Lukka, die letzten Cantos seiner Übersetzung von Byrons Versepos (XII-XVI) in der Zwickauer Ausgabe im Verlag der Brüder Schumann.243 Reinhold erachtet es für notwendig in seiner »Zuschrift« von 1821 den Text gegenüber der öffentlichen Meinung (»[e]s ist ein böses Buch«) moralisch zu verteidigen.244 Reinhold warnt seine fiktive Freundin Henriette, »daß jeder, der dies Buch gelesen, in Zukunft an keinen Ernst des Sprödethuns, an keine Festigkeit weiblicher Grundsätze, an keine Kälte des äußern Scheins mehr glauben wird«.245 Auch seine »Nachschrift« zu Canto XIII von Don Juan, die sieben Jahre später veröffentlicht wurde, betont wieder den Aspekt des cant. Die Frauen, die nach außen ihre moralische Empörung über Byrons Text äußern, bezeichnet er als »Heuchlerinnen, himmlisch schöne Heuchlerinnen«.246 Reinholds Argumentation erinnert an Heines ironisches Spiel mit den weiblichen Leserinnen seiner Texte in den Memoiren des

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In den Jahren 1827 und 1828 erschienen in der Zwickauer Ausgabe Lord Byron’s Poesien in schneller Folge die deutschen Übersetzungen der Cantos V bis XVI von Don Juan. Wilhelm Reinhold, »Zuschrift«. In: Byron, Lord Byron’s Poesien. Zweites Bändchen. 1. Don Juan, erster Gesang. – 2. Gedichte (aus dem Englischen von Wilhelm Reinhold). Zwickau 1821, S. V-XIV, hier S. VI. Zur deutschen Rezeption von Byron vgl. auch die Texte in Die Rezeption Byrons in der deutschen Kritik (1820-1914). Eine Dokumentation. Mit einer Byronbibliographie (1820-1914) von Brigitte Glaser. Hrsg. von Günther Blaicher. Würzburg 2001. Reinhold, »Zuschrift«, S. VIIf. Wilhelm Reinhold, »Nachschrift«. In: Lord Byron’s Poesien. Don Juan. Funfzehnter und sechszehnter Gesang (aus dem Englischen von Wilhelm Reinhold). Zwickau 1828, S. 150–169, hier S. 162.

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Herren von Schnabelewopski, da auch er den Genuß bei der heimlichen Lektüre betont, die in eklatantem Widerspruch zur offiziellen Moral steht: »Welche Blätter tragen die Spur des vielfachen Umgewendet-, also Gelesenseins? Sind’s nicht gerade diese, deren Inhalt Sie verketzern?« Heines Memoiren beantworten diese Frage mit einem »langen Gedankenstrich« (DHA 5, 174), der die vom weiblichen Publikum insgeheim begehrte Szene ausspart. Die Thematik in Zusammenhang mit den erzähltechnischen Verfahren demonstriert eindringlich, daß der intertextuelle Bezug in Heines Prosafragment sich zuvorderst auf Byrons Don Juan richtet. Insofern muß Siegbert Prawers These, daß die Aussparung der Geschichte in Heines Memoiren des Herren von Schnabelewopski von Lawrence Sternes Erzähltechniken in Tristram Shandy oder A Sentimental Journey inspiriert sei, ergänzt werden um Byrons Don Juan als wichtigen Intertext, der nicht nur formale, sondern auch inhaltliche Übereinstimmungen zeigt.247 Die Verbindung zu Byron und dem Thema des cant, der Heuchelei, stellt Heine selbst explizit in dem italienischen Reisebild Die Stadt Lukka her, dem er folgenden Paratext voranstellt: Lachen muß ich immer über die Engländer, die diesen ihren zweiten Dichter (denn nach Shakespear gebührt Byron die Palme) so jämmerlich spießbürgerlich beurtheilen, weil er ihre Pedanterie verspottete, sich ihren Krähwinkelsitten nicht fügen, ihren kalten Glauben nicht theilen wollte, ihre Nüchternheit ihm ekelhaft war, und er sich über ihren Hochmuth und ihre Heucheley beklagte. Viele machen schon ein Kreuz, wenn sie nur von ihm sprechen, und selbst die Frauen, obgleich ihre Wangen von Enthusiasmus glühen, wenn sie ihn lesen, nehmen öffentlich heftig Parthey gegen den heimlichen Liebling – (DHA 7/1, 158)

Dieses Motto ist nicht von Heine selbst, sondern stammt aus den Reisebriefen Hermann Fürst von Pückler-Muskaus, die in vier Bänden ab 1830 anonym erschienen und sofort zu einem Publikumserfolg wurden – nicht zuletzt aufgrund der positiven Besprechungen von Goethe und Varnhagen von Ense.248 Das Zitat ist insofern keine direkte Äußerung von Heine zu Byron, vielmehr verwendet er Pückler-Muskau als ein von Goethe und Varnhagen autorisiertes Sprachrohr. Über Heines Motive, seinem italienischen Reisebild ein Zitat von PücklerMuskau voranzustellen, räsonierte bereits Ludwig Börne, der in einem Brief an Jeanette Wohl vom 15. Februar 1831 auf die marktpolitische Strategie seines Schriftstellerkollegen abhebt: »Heine macht auch oft den Politikus und sucht sich den und jenen Schriftsteller durch ein Motto aus seinen Werken

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Vgl. Prawer, Frankenstein’s Island, S. 160. Vgl. dazu Heinz Ohff, »Der Fürst der deutschen Literatur«. In: Hermann Fürst von Pückler-Muskau, Briefe eines Verstorbenen. Hrsg. von Heinz Ohff. Berlin 1986, S. VII-XV, hier S. XIII.

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zu gewinnen.«249 Börnes Mutmaßung hebt auf textexterne Faktoren ab; auf der textinternen Ebene stellen Paratexte häufig Leseanleitungen dar. PücklerMuskaus Text bestätigt die verbreitete Rezeption von Byron als geniehaftem Erneuerer – er wird bewußt mit Shakespeare zusammen genannt –, der die überkommene Moral der Restauration kritisiert. Es werden die Themen der Heuchelei, der Kälte und Nüchternheit aufgenommen und die heimliche Lektüre der Frauen, deren »Wangen glühen«, auch wenn sie – wie Reinhold es formuliert – den Inhalt öffentlich »verketzern«. Wenn Heine Pückler-Muskau zitiert, ist der Effekt eine gleichzeitige Distanzierung und Affirmation: Zum einen wird kein eigenes, sondern ein fremdes Wort aufgerufen; zum anderen wird das fremde Wort aber in den eigenen Text integriert. Der Paratext kommentiert das folgende gesellschafts- und ideologiekritische Reisebild und kündigt es als Angriff auf die Heuchelei des öffentlichen Diskurses an. Anders als in früheren, expliziten Stellungnahmen zu Byron bleibt der Bezug zwischen Heine und dem englischen Dichter offen. Suggeriert wird allerdings, daß die feindliche öffentliche Rezeption des englischen der des deutschen Autors entspricht und auf ihren Kampf gegen die heuchlerische öffentliche Rede zurückgeht. Daß im Zuge dieser Parallelisierung Heine zudem in die Position eines deutschen Nachfolgers von Shakespeare aufsteigt, ist eine Lesart, die für den Verehrer des Originalgenies der englischen Renaissance wohl ein nicht ungewünschter Subtext war. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Heines Textauswahl aus Pückler-Muskaus Kommentar über Byron in seinen Reisebriefen. Die Passage beginnt mit einem Hinweis auf zwei Porträts von Byron, den Pückler-Muskau mit Napoleon vergleicht: »Gleich Napoleon erscheint er mager, wild und leidend, wo er noch strebte; fett geworden und lächelnd, als er erreicht hatte«.250 Den beiden unterschiedlichen Porträts des Dichters ordnet er das romantische Versepos The Giaour und das postromantische ottava rima Versepos Don Juan zu, die der frühen und der späteren Lebensphase entsprächen. Ebenso wenig wie den Vergleich mit Napoleon nimmt Heine den Hinweis auf Byrons Texte, The Giaour und Don Juan, für sein Motto auf und spart so erneut eine explizite Erwähnung von Don Juan dezidiert aus. Heine bricht Pückler-Muskaus Satz über das weibliche Lesepublikum dort ab, wo er in die private Biographie Byrons übergeht – die Scheidung von seiner Frau Anna Isabella Milbanke und den dadurch verursachten Skandal in der englischen Gesellschaft.251 Heines Fokus liegt auf dem Themenkomplex der Heuchelei, der für sein Reisebild Die 249 250 251

Ludwig Börne, Briefe I. In: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Inge u. Peter Rippmann. Bd. 4: Dreieich 1977, S. 1313. Pückler-Muskau, Briefe eines Verstorbenen, S. 111. Der vollständige Satz lautet bei Pückler-Muskau: »[…] selbst die Frauen […] nehmen öffentlich Partei gegen den heimlichen Liebling, oft zugunsten der gemeinen Seele eines Weibes, die nie würdig war, Lord Byrons Schuhriemen aufzulösen, und deren kleinlicher Rache es

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Stadt Lukka ebenso zentral ist wie für Die Bäder von Lukka. Das vorangestellte Motto besitzt einen funktionalen Charakter, der das Kennzeichen des Allgemeingültigen besitzen soll, und insofern auf die deutsche Situation übertragen werden kann. Byron proklamierte seinen zunehmend politischen Kampf gegen die öffentliche Heuchelei Regency Englands mit einem Zitat Shakespeares aus Twelfth Night, der als Paratext den Cantos VI-VIII von Don Juan vorangestellt ist: »›Dost thou think, because thou art virtuous, there shall be no more Cakes and Ale?‹ – ›Yes, by St. Anne; and Ginger shall be hot i’ the mouth too!‹« (CPW V, 293) In Shakespeares Text entlarvt der Narr die puritanische Heuchelei der Figur des Malvolio als opportunistische Doppelmoral, die in Übereinstimmung mit der öffentlichen Moral asketische Sinnenfeindlichkeit propagiert, sich jedoch heimlich den verbotenen Genüssen hingibt. Heine zitiert genau diese Stelle aus Shakespeares Komödie, die Byron als Motto für Don Juan verwendet, in seinem Essay Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, um die Moral der »tugendhaften Republikaner« (DHA 8/1, 61) zu kritisieren. Die bekannte Stelle, die Heines saint-simonistisch inspirierten Sensualismus programmatisch artikuliert, weist zwar explizit auf Shakespeares Text hin, jedoch nicht auf Byrons Don Juan, der die politische Dimensionierung des sinnlichen Genusses bereits vorwegnimmt:252 Wir wollen keine Sanskülotten seyn, keine frugale Bürger, keine wohlfeile Präsidenten: wir stiften eine Demokrazie gleichherrlicher, gleichheiliger, gleichbeseligter Götter. Ihr verlangt einfache Trachten, enthaltsame Sitten und ungewürzte Genüsse; wir hingegen verlangen Nektar und Ambrosia, Purpurmäntel, kostbare Wohlgerüche, Wollust und Pracht, lachenden Nymphentanz, Musik und Comödien – Seyd deßhalb nicht ungehalten, Ihr tugendhaften Republikaner! Auf Eure censorische Vorwürfe, entgegnen wir Euch, was schon ein Narr des Shakespear sagte: meinst du, weil du tugendhaft bist, solle es auf dieser Erde keine angenehmen Torten und keinen süßen Sekt mehr geben? (DHA 8/1, 61)

Heine modifiziert Shakespeares Originaltext in der Weise, daß er »auf dieser Erde« ergänzt, »cakes« durch »Torten« und das in England verbreitetere »ale« durch »süßen Sekt« ersetzt. Siegbert Prawer betont hinsichtlich der von Heine vorgenommenen Veränderungen die Emphase des hedonistischen Aspekts und seiner globalen Bedeutung.253 Allerdings nimmt bereits die Schlegel-Übersetzung von Shakespeares Twelfth Night eine ähnliche Anpassung an das Deutsche vor: »Vermeinest du, weil du tugendhaft seiest, solle es in der Welt keine Torten

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dennoch leicht wurde, ihn in der englischen Gesellschaft zu Grunde zu richten!« (PücklerMuskau, Briefe eines Verstorbenen, S. 111f.) Zu Heines Sensualismus im Kontext der Saint-Simonisten vgl. Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 241–251. Vgl. Prawer, Frankenstein’s Island, S. 165.

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und keinen Wein mehr geben?«254 Während die strukturell analoge Übersetzung nahelegt, daß Heine Schlegels Übersetzung als Vorlage diente, könnte die stärkste semantische Abweichung – von Wein zum »süßen Sekt«, der auf Englisch ›Champagne‹ heißt – auf die intertextuelle Präsenz der ›ChampagnerPassage‹ aus Byrons Don Juan hinweisen. Deutlich zeigt die 1834 in Frankreich entstandene Passage aus Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland Heines politische Perspektivierung des Themas der asketischen Heuchelei, wenn er »eine Demokrazie gleichherrlicher, gleichheiliger, gleichbeseligter Götter« statt »enthaltsame[r] Sitten und ungewürzte[r] Genüsse« – eine Anspielung auf die folgende Verszeile bei Shakespeare und bei Byron, wo der Narr verlangt, daß der Ingwer im Mund brennen solle – einfordert. Dem defizitären Menschen, dem aufstrebenden Bürger oder »tugendhaften Republikaner«, der eine puritanische Moral predigt und seine Mitmenschen zensiert, stellt Heine mit der religiösen Metaphorik provokativ das Ideal des sinnlich erfüllten, ganzen Menschen gegenüber.255 Den politischen und moralischen Fundamenten der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – wird der Aspekt der individuellen Glückseligkeit an die Seite gestellt: das gleiche Recht aller Menschen auf Herrlichkeit, Heiligkeit und Seligkeit. Obwohl zwischen dem Essay Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland und Heines Italienreisebildern einschneidende Veränderungen liegen – nach der französischen Juli-Revolution siedelte Heine nach Paris über und wurde mit dem Saint-Simonismus intensiv bekannt –, ist die Verbindung von öffentlicher Moral, Politik und Ästhetik auch für die früheren Texte prägend. Besonders Die Bäder von Lukka, die wie Byrons Vision of Judgment im Hinblick auf die Überlagerung moralischer, politischer und ästhetischer Interessen im nächsten Kapitel untersucht werden, zeigen, daß Heines Kampf gegen Heuchelei auf eine Vorstellung des ganzen Menschen abzielt, die nicht nur Körper und Geist versöhnen, sondern auch Kunst und Leben verbinden will. Heines Kritik an der heuchlerischen, puritanischen Moral des aufstrebenden Bürgertums reicht weiter als der Kampf gegen den restaurativen Stillstand. Sie umfaßt den Kern seines ästhetisch-politischen Programms, das sich gegen Erstarrung, verbildlicht in der Metapher der Kälte, und die Traditionen der Vergangenheit richtet; emphatisch begrüßt werden statt dessen Bewegung, Leben und Gegenwart. In seinem Reisebild Die Bäder von Lukka knüpft Heine nicht nur an Byrons Kampf gegen moralische Heuchelei an, sondern, wie zu 254

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William Shakespeare, »Was ihr wollt« (aus dem Englischen von August Wilhelm Schlegel, durchgesehen von Friedrich Gundolf). In: Shakespeare in deutscher Sprache. Hrsg. von Friedrich Gundolf, Bd. 4, Berlin 1925, S. 319. Zum Konzept des ganzen Menschen um 1800 siehe die Forschungsbeiträge in: Hans-Jürgen Schings (Hrsg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1994.

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zeigen sein wird, auch an den »Cant political«, den »Cant poetical« (CMP, 128) sowie den »cant of the love of nature«.256 Nach seinem Tod in Griechenland 1824 war die Popularität Byrons in der deutschen Öffentlichkeit beträchtlich gestiegen – Byron wurde als Held gefeiert, der im Kampf für die Unabhängigkeit Griechenlands sein Leben ließ. Von den zahlreichen Biographien, Erinnerungen und veröffentlichten Gesprächen mit Freunden und Bekannten, die in der Folge das Interesse des literarischen Marktes bedienten, versprach sich das Publikum teils einen Einblick in das ›authentische‹ Leben hinter der skandalösen Fassade des exzentrischen Lords, teils die Dokumentation von Byrons politisch-brisanten Ansichten zu Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung.257 Noch im Jahr seines Todes erschienen Erinnerungen des mit Byron verwandten Robert C. Dallas an Byrons Leben zwischen 1808 und 1814, gefolgt von William Parrys Bericht über Byrons letzte Tage in Griechenland und Pietro Gambas Schilderung von Byrons letzter Reise nach Griechenland.258 1828 erschienen dann Leigh Hunts Erinnerungen an seine Zeit mit Byron in Italien, die sich durch ihren feindseligen Ton von den anderen Enthüllungen unterscheiden. Zwei Jahre nach Hunts umstrittenem Text erschien 1830 die erste Veröffentlichung von Byrons Briefen und Tagebüchern, die von Thomas Moore zusammen mit einem biographischen Abriß von Byrons Leben herausgegeben wurden.259 Die Popularität dieser Texte, nicht nur beim breiten Lesepublikum, sondern auch bei den literarischen Eminenzen in Deutschland, läßt sich besonders gut anhand von Goethes Lektüre dokumentieren, die in seinen Tagebüchern detailliert aufgeführt ist. Zwischen 1824 und 1830 nahm Goethe fast ausnahmslos alle Texte zur Kenntnis, die Byrons Leben und Charakter schildern – er las sie in verschiedenen Sprachen, teils auf Englisch, teils sogar auf Französisch.260

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His very self and voice. Collected Conversations of Lord Byron. Hrsg. u. mit einer Einl. u. Anm. versehen von Ernest J. Lovell. New York 1957, S. 357. Zur Geschichte der Byron-Biographik vgl. Tannheimer, Die deutschen Byrons. Georg Tannheimer untersucht in seiner Arbeit die Biographien von Byron, die von Deutschen im Zeitraum zwischen 1826 und 1929 geschrieben wurden. Eine interessante Beobachtung von Tannheimer, die das außerordentliche Interesse dokumentiert, das Byrons Leben im 19. Jahrhundert in Deutschland erfuhr, ist der Umstand, daß Byrons erster Biograph ein Deutscher ist, und zwar Wilhelm Müller mit seinem Text Lord Byron von 1826 (vgl. Tannheimer, Die deutschen Byrons, S. 60). Vgl. Robert C. Dallas, Recollections of the Life of Lord Byron, from the year 1808 to the end of 1814. London 1824; William Parry, The Last Days of Lord Byron: With his Lordship’s Opinions on Various Subjects, particularly on the State and Prospects of Greece. London 1825; Count Peter Gamba, A Narrative of Lord Byron’s Last Journey to Greece. London 1825. Leigh Hunt, Lord Byron and some of his Contemporaries, with Recollections of the Author’s Life, and of his Visit to Italy. London 1828; Thomas Moore, The Letters and Journals of Lord Byron with Notices of his Life. 2 Bde. London 1830. Siehe etwa die Tagebucheinträge Goethes vom 18., 20., 25. und 26. November 1824, vom 15. und 16. Januar, 6. März 1825, 6. April 1827, 3. Mai 1830 und vom 5. März 1831 (Goethes Werke. Hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 9–13: Goethes Tagebü-

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Besonders beliebt in der literarischen Öffentlichkeit waren die Unterhaltungen Byrons mit Thomas Medwin, die sie zwischen 1821 und 1822 in Pisa führten und die Medwin bereits 1824 veröffentlichte.261 Goethe, dessen Lektüre von Medwins Gesprächen auf November und Dezember 1824 datiert werden kann, hatte zu diesem Buch sogar einen kurzen Aufsatz beigetragen, der sein persönliches Verhältnis zu Byron schilderte.262 Es ist im übrigen wahrscheinlich, daß Goethe im Anschluß an seine Lektüre von Medwins Conversations die Aufzeichnung seiner Gespräche mit Eckermann anregte; von Byrons Unterhaltungen mit Medwin war Goethe zugleich fasziniert und abgestoßen, da sie eine Seite von Byron offenbarten, die ihm, dem Verehrer des kosmopolitischen Dichters, kleinlich involviert in das ›Geschwätz des Tages‹ vorkam und die er in der Dokumentation seiner eigenen Gespräche für die Nachwelt vermeiden wollte.263 Auch Heine kannte die Veröffentlichungen über Byrons Leben und hat Medwins Journal of the Conversations of Lord Byron gelesen, worüber ein Brief vom 14. März 1828 an Johann Friedrich von Cotta Aufschluß gibt. Heines Interesse an Byrons Biographie und Charakter spiegelt das Interesse seiner Epoche an dem Leben des berühmten, kosmopolitischen Skandalautors. Wie aus dem Brief an Cotta hervorgeht, zählte Heine – ganz im Gegensatz zu Goethe, der den öffentlichen Einblick in Byrons skandalöses Privatleben ablehnte – zu den Lesern, die Byrons exzentrisches Leben uneingeschränkt faszinierte. So schreibt Heine an Cotta: »Hunts Leben Byrons hingegen ist sicher eben so interessant wie Medwins Gespräche, und es wäre hübsch wenn Sie uns auch von Hunt, der gleichsam der J. H. Voß von Byron ist, eine gute Uebersetzung gäben.« (HSA 20, 321) Heines Vergleich zwischen Hunt und Voß bedarf

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cher 1823–32, Weimar 1897). Vgl. zudem die Gespräche mit Johann Peter Eckermann, die Goethes Interesse an Byrons literarischen Werken in diesem Zeitraum belegen (z.B.: MA 19, S. 131ff., 160ff., 194f.). Thomas Medwin, Journal of the Conversations of Lord Byron: noted during a residence with his Lordship at Pisa in the Years 1821 and 1822. London 1824. Die deutsche Übersetzung erschien noch im gleichen Jahr unter dem Titel Gespräche mit Lord Byron. Stuttgart 1824. Vgl. , MA 13/1, S. 405–407. Goethe wurde um diese Darstellung von Thomas Medwin durch den Vermittler Frédéric-Jean Soret gebeten. Diese Vermutung würde sowohl zeitlich als auch inhaltlich passen, da die Gespräche zwischen Eckermann und Goethe immer wieder um Byron und Napoleon als Repräsentanten einer untergegangenen, heroischen Epoche kreisen (vgl. MA 19, S. 714f.). Aus Friedrich von Müllers Tagebuchaufzeichnungen ist folgende Bemerkung Goethes überliefert: »Eckermann trat ein, das Gespräch kam auf Byrons Conversations: Ich lese sie nun zum zweiten Male, ich möchte sie nicht missen und doch lassen sie einen peniblen Eindruck zurück. Wie viel Geklatsche oft nur um eine elende Kleinigkeit; welche Empfindlichkeit über jedes alberne Urteil der Journalisten, welch ein wüstes Leben mit Hunden, Affen, Pfauen, Pferden; alles ohne Folge und Zusammenhang.« (Johann Wolfgang Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hrsg. von Ernst Beutler, Bd. 23: Goethes Gespräche. 2. Teil. Zürich 1950, S. 369)

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einer näheren Erläuterung. Heines Verweis gilt Voß’ polemischer Schrift »Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreyer«, die einen öffentlich-publizistischen Streit um die Rechtmäßigkeit der Enthüllungen von Stolbergs Privatleben auslöste, den Heine im ersten Buch seiner essayistischen Schrift Die romantische Schule ausführlich kommentiert.264 Heine ergreift dort Partei für die »literarischen Exekuzionen«, die von der Menge des deutschen Publikums als »engherzige Kleinigkeitskrämerey« verurteilt wurden (DHA 8/1, 147). Vor allem die »Spießbürger«, so schreibt Heine in Die romantische Schule, »eiferten über die Verletzung des literarischen Herkommens, wonach alle Persönlichkeiten, alle Enthüllungen des Privatlebens, streng verboten seyen« (DHA 8/1, 147). Die Grenze zwischen dem Privaten und Öffentlichen, zwischen Kunst und Leben, die Goethe in seiner Kritik an Medwins Unterhaltungen implizit zieht, versucht Heine im Rahmen einer offensiven Wirkstrategie von Literatur zu überschreiten. Der Streit um Stolberg, so hält Heine in Die romantische Schule fest, habe eine immense Wirkung gezeigt, indem sie die Begeisterung der Deutschen für das Mittelalter zurücknahm: »[D]ie vossische Polemik wirkte mächtig auf das Publikum und sie zerstörte in der öffentlichen Meinung die grassirende Vorliebe für das Mittelalter« (DHA 8/1, 147). Die Auseinandersetzung mit der Forschung zu Heines Byron-Rezeption zeigte, daß die Bedeutung Byrons für Heine bereits seit dem 19. Jahrhundert kontrovers diskutiert wurde. Heines Beziehung zu Byron war zuletzt 1905 Gegenstand einer umfangreichen Monographie – Wilhelm Ochsenbeins Die Aufnahme Lord Byrons in Deutschland und sein Einfluss auf den jungen Heine, wo die Einwirkung des englischen Dichters auf den deutschen eher gering eingeschätzt und auf Heines Frühwerk beschränkt wird. Bis in die Gegenwart herrscht in der Forschung weitgehend Einigkeit darüber, die Rezeption auf das Frühwerk – sowohl von Heine als auch von Byron – einzuschränken. Diese Begrenzung, die angesichts der zahlreichen Parallelen in der Poetik und Politik der Texte beider Autoren verwunderlich erscheint, ist in zwei Aspekten begründet. Zum einen tradiert sich die Fokussierung auf den Aspekt der Zerrissenheit als Vergleichskriterium seit den frühesten Rezensionen beharrlich, die mit der vorwiegenden Wahrnehmung von Byron als Weltschmerzdichter zusammenhängt. Zum anderen haben Heines eigene Stellungnahmen zu Byron die Einschätzung seiner Rezeption entscheidend gelenkt. Während Heine im Kontext seiner frühen literarischen Produktionen die Verbindung

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Des weiteren bittet Heine Cotta, ihm »Hazlitts Werk über Napoleon« aus London zukommen zu lassen (HSA 20, S. 321). Dieser Brief ist ein wichtiges Dokument für Heines Rezeption englischer Autoren, da sich an ihm mehrere Aspekte nochmals bestätigen lassen. (1) Heine war über die Neuerscheinungen des englischen Buchmarktes sehr genau informiert (Hunts Lord Byron), (2) er las Bücher, die ihn interessierten, auch im englischen Original (Hazlitts The Life of Napoleon Buonaparte) und (3) er besaß die Möglichkeit, sich aktuelle Bücher aus England direkt beschaffen zu lassen – wie hier von Cotta.

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mit Byron emphatisch begrüßte, lehnte er, nachdem er sich mit seinen Reisebildern in der Öffentlichkeit als Autor etabliert hatte, den Vergleich mit Byron ab, der sich zudem zunehmend negativ für ihn auswirkte. Es konnte gezeigt werden, daß Heines polemische Äußerungen über Byron in Die Nordsee III von der Forschung als zentrales Indiz seiner Abkehr von Byron und vom ›Byronismus‹ gewertet wurden. Unter Rekurs auf Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Feldes, die soziale, ökonomische und kulturelle Faktoren berücksichtigt, wurde jedoch deutlich, daß Heines Stellungnahmen zu Byron als Selbstinszenierung verstanden werden müssen. Sie sind Teil einer bewußten Marktstrategie, die sowohl auf den ökonomischen Erfolg als auch auf literarische Anerkennung abzielt. Originalität ist für Bourdieu ein zentrales Kriterium, mit dem sich ›Neulinge‹ Anerkennung im literarischen Feld verschaffen können. Da also die Kundgebung von Differenz wesentlich die Existenz und den Erfolg eines Autors beeinflußt, mußte sich Heine aus dem Vergleich mit Byron lösen, um sich einen eigenen Namen machen zu können – um also nicht mehr der ›deutsche Byron‹, sondern um ›Heinrich Heine‹ zu sein. Die Analyse veröffentlichter und unveröffentlichter Texte, Briefe und Fragmente erbrachte, daß neben der, in Heines eigener Begrifflichkeit, exoterischen, für die Öffentlichkeit intendierten Rede, es eine esoterische Ebene der Texte gibt, die sowohl eine anhaltende Rezeption Byrons über Die Nordsee III hinaus nahelegt als auch eindrücklich verdeutlicht, daß Heine intensiv vertraut war mit Byrons kritisch-ironischen ottava rima-Gedichten, ihrer Poetik wie auch Thematik. Skandal und Polemik, die Kunst und Leben nicht als voneinander getrennte Sphären anerkennen, stellen wichtige Waffen im Kampf gegen den offiziellen Diskurs der Restaurationszeit in bezug auf Religion, Politik, Moral und Literaturgeschmack dar. Inwiefern Skandal und Polemik bei Byron und Heine als poetische Verfahren einer eingreifenden Kunst im Kampf gegen den cant der Restaurationszeit zu verstehen sind, wird im folgenden die Analyse von The Vision of Judgment und Die Bäder von Lukka zeigen. Die Dimension der Poetik einer eingreifenden Kunst, die in den letzten Kapiteln (im Kontext einer funktionalen Bestimmung der Intertextualität) bereits immer wieder gestreift wurde, steht in den nun folgenden Kapiteln der Arbeit (III. und IV.), in denen der historisch-typologische Vergleich dominiert, im Vordergrund.

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III.

Skandal und Öffentlichkeit: Byrons The Vision of Judgment und Heines Die Bäder von Lukka

1.

›Skandalöse‹ Kunst

Der Skandal als Untersuchungsfeld ist ein komplexes Phänomen, dem in der Forschung der letzten Jahre vermehrt Aufmerksamkeit gewidmet wird. Um den Skandal in Byrons Vision of Judgment und Heines Bäder von Lukka zu erfassen, bedarf es zunächst methodischer Ausführungen, die den theoretischen Rahmen darstellen für die Interpretation des Skandals als Ausdruck einer Poetik eingreifender Kunst. Dazu erfolgt zunächst ein kurzer Überblick über die medientheoretische Diskussion, was ein Skandal ist. Im Anschluß werden Aspekte kulturmaterieller Positionen (Renate Lachmann) und einer Ästhetik des Performativen (Erika Fischer-Lichte) im Hinblick auf die Präzisierung des Skandals in Byrons und Heines Texten herangezogen. Ergänzt wird diese ästhetisch-kulturelle Perspektive schließlich mit dem Begriff der Öffentlichkeit um eine historisch-politische Dimension der Sozial- und Geschichtswissenschaften (Jürgen Habermas, Peter Uwe Hohendahl). Wenn von Skandalen die Rede ist, sind meistens politische oder gesellschaftliche Skandale gemeint. Sie bilden die überwiegende Mehrheit an Skandalen, gegenüber denen Literaturskandale nur eine kleine Zahl ausmachen. Die in der Forschung lange Zeit vernachlässigten Literaturskandale erfuhren in den letzten Jahren zunehmend Beachtung.1 Bei der Frage, was ein Skandal sei und was ihn verursache, betonen die theoretischen Beiträge zum Skandal einhellig die Rolle der Medien – erst durch die Herstellung von Öffentlichkeit durch die Medien könne ein Skandal entstehen.2 Stefan Neuhaus betrachtet die massenmediale Information über Skandale als Voraussetzung ihrer Existenz.3 Für Volker Ladenthin wiederum sind die Faktoren Öffentlichkeit und Demokratisierung Bedingungen dafür, daß der Regelverstoß, den moderne

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2 3

So etwa die materialreichen Sammelbände zum Skandal in der Literatur von Hans-Edwin Friedrich (Hrsg.), Literaturskandale. Frankfurt a.M. 2009 und von Stefan Neuhaus/Johann Holzner (Hrsg.), Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen 2007. Vgl. dazu allgemein Steffen Burkhardt, Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse. Köln 2006. Vgl. Stefan Neuhaus, »Skandal im Sperrbezirk? Grenzen und Begrenzungen der Wirkung von Kunst- und Literaturskandalen«. In: Neuhaus/Holzner (Hrsg.), Literatur als Skandal, S. 41–53, hier S. 42.

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Kunst immer darstelle, in einen öffentlichen Skandal übergehe.4 Auch Martin Eybl argumentiert, daß der Bruch mit Konventionen und die damit einhergehende Innovation seit dem 18. Jahrhundert zur Kunst gehöre, aber noch keinen Skandal auslöse. Erst diejenige Normverletzung, die das Publikum als Grenze der Kunst betrachtet, könne einen Skandal provozieren.5 Der Skandal, so Eybl, statuiere stets Exempel: »Die Normübertretung muss geahndet werden, doch dies geschieht nicht im Sinne moderner Rechtssprechung. Die Sanktionen werden nicht im Geheimen ausgeführt, hinter hohen Gefängnismauern und den Blicken der Öffentlichkeit entzogen.« 6 Den Mechanismus des Skandals vergleicht er mit einem alten Strafspektakel, das die gleichen Merkmale wie der moderne Skandal aufweise. Da »kein Richter für die Bestrafung der Übeltäter zuständig« sei, greife man auf archaische Muster zurück. Alle Merkmale des alten Strafspektakels […] sind im Skandal vorhanden: die Schaustellung und Schmähung der Täter, das quantitative Missverhältnis zwischen der kleinen Gruppe der Delinquenten und dem geschlossenen Kollektiv der Empörten, der (vielleicht auch nur vorübergehende) Triumph der herrschenden Regulative, das Moment der Rache einer mobilisierten Öffentlichkeit, schließlich die erhoffte Abschreckungswirkung.7

Die Beschreibung verdeutlicht mehrere zentrale Aspekte des Skandalisierungsprozesses. Auch Eybl verweist darauf, daß der Skandal den Charakter des Öffentlichen trage – aus dem Verborgenen zerrt er die Normübertretung ans Licht der Öffentlichkeit. Zugleich besitzt der Skandal juristische Konnotationen, die allerdings eher, wie Eybl schreibt, an ein archaisches Ritual des Richtens und Strafens, das in eklatantem Widerspruch zur modernen Gesetzsprechung steht, erinnern. Als archaisches Ritual kann der Vorgang der Skandalisierung auch in Byrons und Heines fiktionalen Texten The Vision of Judgment und Die Bäder von Lukka betrachtet werden. Beide Texte stellen die ›Täter‹ Robert Southey bzw. August von Platen an den öffentlichen Pranger und verwenden Gerichtsmetaphorik. Als parodistische Kontrafaktur von Southeys epischem Gedicht A Vision of Judgement hat Byrons ottava rima-Gedicht das Richten schon im Titel – ›Judgment‹ – und zugleich als Thema: die Vision des letzten Gerichts über George III. Heine dagegen rekurriert hinsichtlich seiner Bädererzählung explizit auf das Bild des Scharfrichters, der sein Amt an Platen vollziehe, worauf später noch genauer einzugehen ist. Neben diesen Übereinstimmungen

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Vgl. Volker Ladenthin, »Literatur als Skandal«. In Neuhaus/Holzner (Hrsg.), Literatur als Skandal, S. 19–28, hier S. 23. Siehe Martin Eybl, »Neun Thesen zu einer Theorie des Skandals«. In: Österreichische Musikzeitschrift 57 (2002), S. 5–15, hier S. 10. Eybl, »Neun Thesen zu einer Theorie des Skandals«, S. 13. Eybl, »Neun Thesen zu einer Theorie des Skandals«, S. 13.

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mit Eybls Charakterisierung des Skandals zeigen sich allerdings bereits auch Differenzen. Das Verhältnis zwischen einer kleinen Gruppe, die gegen die Regeln verstößt und der Mehrheit, die diesen Verstoß ahndet, wodurch eine Bestätigung der herrschenden Normen erzielt wird, beschreibt einen affirmativen Skandalmechanismus, der für die hier untersuchten Texte nicht zutrifft. Byrons und Heines Texte affirmieren, wie noch zu zeigen sein wird, keine tradierten Normen, sondern verkehren vielmehr bestehende Ordnungen. Statt auf Rache einer mobilisierten Öffentlichkeit zielt ihre Schaustellung der Kontrahenten Southey und Platen vor allem darauf, eine kritische (Gegen-)Öffentlichkeit zu mobilisieren oder vielmehr zu konstituieren. Um das Phänomen des Skandals zu präzisieren, wurden in der Forschung verschiedene Skandaltypologien entworfen. So unterscheidet Hans-Edwin Friedrich zwischen autonomen und heteronomen Literaturskandalen. »Bei autonomen Literaturskandalen stehen Kunst und Literatur im Zentrum; es geht in erster Linie um Normkonflikte innerhalb des literarischen Feldes.«8 Dieser Skandal verhandelt Friedrich zufolge die Frage, was Kunst und was keine Kunst sei – insofern geht es um Positionskämpfe innerhalb des literarischen Feldes. Den heteronomen Literaturskandal wiederum beschreibt er als Normkonflikt zwischen dem literarischen und anderen Feldern wie der Religion, Politik oder Justiz. So hilfreich diese Differenzierung ist, zeigt sich doch auch – gerade im Hinblick auf die hier untersuchten Texte –, daß eine scharfe Abgrenzung zwischen beiden Typen nicht immer möglich ist, denn für Byrons Vision of Judgment und für Heines Bäder von Lukka treffen sowohl die Bestimmungen des autonomen als auch des heteronomen Skandals zu: Es handelt sich um Positionskämpfe im literarischen Feld, wobei den Kontrahenten Southey und Platen das Attribut des Dichters abgesprochen wird; zugleich treten die Texte in Konflikt mit politischen, moralischen, religiösen und auch juridischen Normen und Gesetzen. Der Versuch, exakt zu erfassen, was ein Skandal ist, erweist sich als nicht unproblematisch, da der Begriff für verschiedene Momente des Prozesses in gleicher Weise verwendet wird. Die Komplexität des Phänomens zeichnet sich bereits in der Begriffsgeschichte des Worts ab: Das griechische ›skándalon‹ hatte zunächst die Bedeutung des ›Stellhölzchens einer Falle‹; im weiteren hatte der Skandal moralische und religiöse Konnotationen. Erst im 18. Jahrhundert wurde es als Lehnwort aus dem Französischen ins Deutsche übertragen. Das Grimmsche Wörterbuch gibt für ›Skandal‹ die Verwendung »ärgernisz, schmachvolles aufsehen erregender vorgang«.9 Das Oxford English Dictionary dagegen nennt neben der spezifisch religiösen Bedeutung unter-

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Hans-Edwin Friedrich, »Literaturskandale. Ein Problemaufriss«. In: Friedrich (Hrsg.), Literaturskandale, S. 7–27, hier S. 16. Deutsches Wörterbuch, s.v. ›Skandal‹. Bd. 16, Sp. 1306–1307, hier Sp. 1306.

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schiedliche Aspekte des Skandals: (1) »A grossly discreditable circumstance, event, or condition of things«; (2) »A person whose conduct is a gross disgrace to his class, country, position, or the like«; (3) »Offence to moral feeling or sense of decency«; (4) »The utterance of disgraceful imputations; defamatory talk«.10 Besonders hilfreich ist die Differenzierung zwischen Geschehen, Akteur, Gegenstand und Aussageweise, die sich in den verschiedenen Definitionen abzeichnet. Während die meisten Untersuchungen zum Skandal sich auf das Geschehen und den Gegenstand richten – seltener auf den Akteur – und betonen, daß es von der Öffentlichkeit abhänge, ob etwas Skandal werde oder nicht, interessiert im Kontext der Analyse von Byrons und Heines Texten vor allem die Aussageweise. Statt auf textexterne Faktoren wird sich die Aufmerksamkeit auf den Skandal als Kommunikations- und in diesem Zusammenhang auch als Wirkstrategie richten. Inwiefern der Skandal dem Text als Verfahren eingeschrieben ist, untersucht Renate Lachmann in ihrer Studie zu Skandal und Fest bei Fjodor Dostoevskij.11 Lachmann beschreibt den Zusammenhang zwischen Fest und Skandal als Überschreitung. In Anlehnung an J. Huizinga, der den Charakter von Spiel und Fest als strenge Begrenzung und echte Freiheit bestimmt, sieht sie das Gegenfest, den Skandal, als Heraustreten »aus dem Schutzraum der Selbständigkeit und Selbstgültigkeit« der Gesetze des Spiels – »die Vermischung mit der Realität korrumpiert das Spiel/das Fest«.12 Wie Lachmann betont, geht es dabei aber nicht »um das Spiel zwischen Verbot und Übertretung, um das Insistieren des Gesetzes in seiner Überschreitung […], sondern um das Aus-Treten aus der symbolischen Ordnung: die Durchkreuzung der Bedeutungshierarchien, die Aufgabe der Autorität«.13 Beim Auslösen eines Skandals, so Lachmann, spiele die Sprache und die Art ihrer Inszenierung eine zentrale Rolle. Als Beispiele nennt sie Beleidigungen, Enthüllungen, Lügen oder anrüchige Witze. Für Lachmann ist jedoch die Überschreitung der Grenze zwischen Fest und gesellschaftlicher Ordnung der Skandal und nicht das Hyperbolische des Verhaltens.14 Was Lachmann für Spiel und Fest beansprucht, kann auf den Aspekt der Kunst übertragen werden. Autonome Kunst zeichnet sich durch Freiheit, aber zugleich auch durch enge Diskursgrenzen aus. Im Skandal werden die Grenzen des Fiktionalen überschritten, es vermischen sich Kunst und Leben, Öffentliches und Privates. Das gilt für Byrons Vision of Judgment und Heines Bäder

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Oxford English Dictionary, s.v. ›scandal‹. Bd. XIV, S. 573–574, hier S. 574. Vgl. Renate Lachmann, »Die Schwellensituation. Skandal und Fest bei Dostoevskij«. In: Walter Haug/Rainer Warning (Hrsg.), Das Fest (Poetik und Hermeneutik, Bd. XIV). München 1989, S. 307–325. Lachmann, »Die Schwellensituation«, S. 312. Lachmann, »Die Schwellensituation«, S. 312. Vgl. Lachmann, »Die Schwellensituation«, S. 315.

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von Lukka gleichermaßen. Die Texte übertreten ständig die Grenzen autonomer Kunst wie etwa im irritierenden Changieren zwischen Autorfiktion und fiktionalem Text. Am deutlichsten zeigt sich der Übergriff ins Wirkliche im XI. Kapitel von Heines Bäder von Lukka, in dem Platen »aufs Tapet« (DHA 7/1, 135) gebracht wird. Ebenso affirmieren beide Texte nicht das Gesetz im Akt der Überschreitung, vielmehr durchkreuzen sie konventionelle Ordnungen und Hierarchien. Als Effekt der Transgressionen des Skandals beschreibt Lachmann die »Pragmatisierung der Gesellschaftsordnung«: Wenn die Festordnung »über die Rampe tritt, den Spielcharakter preisgibt und Ansprüche an die geltende Ordnung erhebt, wird diese […] als verletzbare entblößt, in die eingetreten und eingegriffen werden kann«.15 In ihrer Analyse von Dostoevskij zeigt sie, daß das skandalöse Gegenfest, das die alten Werte kompromittiert, letztlich auf ein »neues zukünftiges Gegenfest« verweist, und zwar das der Revolution.16 Inwiefern dieser Zusammenhang auch auf Byrons und Heines Texte zutrifft, wird die folgende Analyse zeigen. Der Skandal ist bei Byron und Heine Ausdruck einer Poetik eingreifender Kunst, für die das Überschreiten der Systemgrenzen der Kunst charakteristisch ist. Byrons und Heines Texte konterkarieren das Konzept des geschlossenen, autonomen Kunstwerks, das statisch in sich ruht. Statt dessen betreiben sie durch die exzentrische Sprache, den exzessiven Stil und die karnevaleske Umkehrung von Ordnungen eine Dynamisierung, die den Text nach außen öffnet. Erika Fischer-Lichte setzt sich in ihrer Untersuchung Ästhetik des Performativen mit Formen der Kunst der Moderne auseinander, die eine Kunst der Grenzüberschreitung praktizieren, die also die »Grenze, die in der westlichen Kultur im ausgehenden 18. Jahrhundert zwischen Kunst und Nicht-Kunst, zwischen Kunst und ›Wirklichkeit‹, Kunst und Leben gezogen wurde, […] permanent überschreiten, verwischen, annulieren«.17 Auf diese Kunst der Grenzüberschreitung zielt Fischer-Lichte zufolge eine Ästhetik des Performativen, für die etwa das Hervorkehren der Materialität, der Leiblichkeit der Akteure (ihr leibliches In-der-Welt-Sein), und der Charakter des Inszenatorischen charakteristisch ist – Merkmale, die sowohl auf Byrons Vision of Judgment als auch auf Heines Bäder von Lukka zutreffen. Im Hinblick auf die Avantgardebewegungen am Anfang des 20. Jahrhunderts beobachtet Fischer-Lichte, daß sie eine Annäherung von Kunst und Leben forderten und eine neue Wirkungsästhetik ausriefen, weil sie den Wahrheitsanspruch und Bildungsauftrag der autonomen Kunst in Frage stellten.18 Trotz der historischen Differenz läßt sich ein ähnlicher Zusammenhang für die Texte von Byron und Heine beschreiben. Die

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Lachmann, »Die Schwellensituation«, S. 315. Lachmann, »Die Schwellensituation«, S. 322. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 355. Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 354.

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Überschreitung des autonomen Kunstwerks steht auch bei Byron und Heine in enger Relation mit dem Aspekt der Wirkung. Sie greifen auf ästhetische Kategorien des 18. Jahrhunderts zurück, indem sie statt der zeitgenössischen Genieästhetik mit ihren Texten eine Wirkungsästhetik stark machen. Byron attackiert in The Vision of Judgment wie in den im zeitlichen Umfeld des Textes entstandenen Prosaschriften sogar dezidiert die Genieästhetik der englischen Romantiker. Ein Ziel des skandalösen, grenzüberschreitenden Kunstwerks ist es, eine neue, kritische Öffentlichkeit herzustellen – das zeigt Heines Text ex negativo angesichts verschiedener Aspekte wie dem Salon oder dem Fehlen öffentlicher Charaktere in Deutschland. In diesem Sinne ist der Skandal eine Wirkstrategie von Literatur. So bemerken etwa Hans-Edwin Friedrich oder Volker Ladenthin, daß die Produktion von Skandalen durch Literatur ein Indikator für ihre gesellschaftliche Wirkung sei – der Skandal zeige, »dass die Literatur noch lebt und Biss hat.«19 Im Kontext der Herstellung von Öffentlichkeit ist der Begriff der öffentlichen Meinung erklärungsbedürftig, da er, wie Jürgen Habermas in seiner Untersuchung Strukturwandel der Öffentlichkeit zeigt, unterschiedliche Bedeutungen hat – je nachdem, ob sie als »kritische Instanz« oder als »rezeptive Instanz« im Verhältnis zu einer »normativ gebotenen Publizität des Vollzugs politischer und sozialer Gewalt« oder zu einer »demonstrativ und manipulativ verbreiteten Publizität für Personen und Institutionen« beansprucht wird.20 Peter Uwe Hohendahl betont in seiner Untersuchung zur Öffentlichkeit, daß der Begriff der öffentlichen Meinung (›public Opinion‹) eine zentrale Rolle in der politischen Diskussion des 19. Jahrhunderts einnehme und von verschiedenen Parteien für die eigene Position in Anspruch genommen wurde.21 Entsprechend sei »die Semantik des Begriffs […] umstritten; insbesondere besteht keine Einigkeit darüber, wessen Meinung als die öffentliche gilt«. Hohendahl, der auch die Diskussion in England erörtert, hält auch für diesen Kontext fest, daß sich die Öffentlichkeit in zwei Teile aufspalte: »auf der einen Seite die Idee der Meinungsfreiheit und das Verfahren der öffentlichen Diskussion und auf der anderen die durch die Mehrheit beherrschte öffentliche Meinung als gesellschaftliche Macht.«22 Hohendahl zeigt, daß die Aufspaltung in eine ›wahre‹ und eine ›falsche‹ öffentliche Meinung sich auch im deutschen Diskurs findet, wie das repräsentative Staats-Lexicon von Carl von Rotteck und Carl Welcker (1834-1843) dokumentiert. Besonders aufschlußreich ist Carl

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Vgl. Friedrich, »Literaturskandale«, S. 15; Ladenthin, »Literatur als Skandal«, S. 27. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1993, S. 343. Vgl. Peter Uwe Hohendahl, »Die klassische Öffentlichkeit im Liberalismus 1815-1880.« In: Hohendahl (Hrsg.), Öffentlichkeit. Geschichte eines kritischen Begriffs. Unter Mitarb. von Russell A. Berman/Karen Kenkel/Arthur Strum. Stuttgart, Weimar 2000, S. 39. Hohendahl, »Die klassische Öffentlichkeit«, S. 43.

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Welckers Artikel »Öffentlichkeit« für Heines implizite Konzeption einer kritischen Öffentlichkeit in Die Bäder von Lukka. Für Welcker ist die Öffentlichkeit die Bedingung der gesellschaftlichen Freiheit: »Das ganze politische Leben freier Völker bewegt sich in der Oeffentlichkeit, wie man athmet in der Luft« – für Deutschland bedeutet das konkret, daß es weder Öffentlichkeit noch politische Freiheit besitze.23 Hohendahl weist darauf hin, daß für Welcker ein Zusammenhang zwischen dem Mangel an Öffentlichkeit in Deutschland und der Schwäche bzw. Verkümmerung von Literatur und Wissenschaft besteht – eine Beobachtung, die der Argumentation in Die Nordsee III entspricht.24 Wie in Kapitel II. gezeigt wurde, klagt der Erzähler des Reisebilds darüber, daß in Deutschland keine epische Literatur existiere, weil im Unterschied zu Frankreich kein öffentliches politisches Leben vorhanden sei. Es wird jetzt deutlich, daß sich Byron und Heine gegen jene ›öffentliche Meinung‹ richten, die sie als cant oder Heuchelei zu entlarven suchen, um dagegen eine kritische Öffentlichkeit herzustellen, auf deren Basis Freiheit in der Gesellschaft ebenso wie in den Künsten und Wissenschaften realisierbar wäre. Mit den Aspekten der skandalösen Kunst, der Kritik an der zeitgenössischen Ästhetik und der Öffentlichkeit in The Vision of Judgment und Die Bäder von Lukka werden sich die folgenden Kapitel im einzelnen auseinandersetzen.

2.

Byrons The Vision of Judgment: Cant und Skandal

2.1.

Cant und die ›öffentliche Meinung‹ der Restauration: England und Italien

Während seines italienischen Exils führte Byron einen zunehmend erbitterten, literarischen Kampf gegen den erstarrten Diskurs der Restauration im England der Regency-Zeit, den er als cant zu entlarven versuchte. Der Begriff cant, der ab circa 1818 in Byrons Texten gehäuft auftritt, soll zunächst in seiner Bedeutung rekonstruiert werden, bevor mit der Analyse des Skandaltextes The Vision of Judgment die poetologische Umsetzung des Kampfes gegen den cant der Zeit dargestellt wird. Wie schon gezeigt wurde, bedeutet das Wort cant in der deutschen Übersetzung soviel wie ›scheinheiliges, leeres Gerede‹ beziehungsweise ›Heuchelei‹; bis ins 18. Jahrhundert dominierte die pejorative Verwendung des Begriffs für spezifische Ideolekte einer bestimmten Gruppe oder ›Klasse‹.25 Öffentlich hat sich Byron am deutlichsten zu seinem Verständnis von cant in dem offenen 23 24 25

Carl Welcker, Art. »Oeffentlichkeit.« In: Carl von Rotteck/Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften. Bd. 12. Altona 1841, S. 253; vgl. auch S. 254. Vgl. Hohendahl, »Die klassische Öffentlichkeit«, S. 46. Samuel Johnson verweist in seinem maßgeblichen Wörterbuch des 18. Jahrhunderts etwa auf

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Brief an seinen Verleger John Murray Esqre von 1821 geäußert, der im Kontext der Bowles/Pope Controversy steht und Byrons umfassendste nicht-fiktionale Auseinandersetzung mit dichtungstheoretischen Fragen darstellt.26 In einem Brief, in dem er den Dichter Alexander Pope gegen den Vorwurf der Unmoral und Unzüchtigkeit durch den Pfarrer W. L. Bowles verteidigt, schreibt Byron: The truth is that in these days the grand »primum mobile« of England is Cant— Cant political—Cant poetical—Cant religious—Cant moral—but always Cant— multiplied through all the varieties of life.—It is the fashion—& while it lasts— will be too powerful for those who can only exist by taking the tone of the time.—I say Cant—because it is a thing of words—without the smallest influence upon human actions—the English being no wiser—no better—and much poorer—and more divided amongst themselves—as well as far less moral—than they were before the prevalence of this verbal decorum. (CMP, 128)

An diesem Zitat wird zum einen deutlich, daß es sich in Byrons Auffassung von cant um einen sprachlichen Diskurs des gegenwärtigen England handelt (»thing of words«, »verbal decorum«), der die Epoche charakterisiert (»fashion«) und eine einflußreiche Zeiterscheinung ist (»too powerful«, »tone of the time«). Zum anderen bezieht sich der Vorwurf des cant auf verschiedene Bereiche des öffentlichen Lebens (»multiplied through all the varieties of life«), vor allem auf jene, in denen verbindliche Werte, Normen und Regeln nach Exklusionsmechanismen des öffentlichen Diskurses im Regency England monologisch geltend gemacht werden, wie in Religion, Moral und Politik. Die Kritik richtet sich auf das puritanisch-moralische Sprachverhalten, das in keiner Beziehung zu dem Verhalten der Menschen steht – zwischen den Regeln des Diskurses, die Byron als »verbal decorum« bezeichnet, und den »human actions« herrscht eine tiefe Diskrepanz.27 Regeln und Normen bestimmen auch die Literatur, deren implizite Werte den im Zitat genannten »cant poetical« produzieren, mit dem Byron hauptsächlich die romantische Dichtung seiner Zeitgenossen meint. In Byrons ›Letter to Murray‹ zählen dazu sowohl die »Lakers« (CMP, 156) William Wordsworth, Samuel Taylor Coleridge und Robert Southey als auch die »Bucolical Cockneys« (CMP, 154) um John Keats, Leigh Hunt und William Hazlitt, »which someone has maliciously called the ›Cockney School‹« (CMP, 156).

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Bettler und Vagabunden (vgl. Samuel Johnson’s Dictionary. Selections from the 1755 Work that Defined the English Language. Hrsg. von Jack Lynch. New York 2002, s.v. »cant«, S. 100). Zur Bowles/Pope Controversy siehe die ausführliche Kommentierung von Andrew Nicholson in CMP, S. 399–491; für den größeren Zusammenhang der Bowles/Pope Controversy vgl. James Chandler, »The Pope Controversy: Romantic Poetics and the English Canon«. In: Critical Inquiry 10 (1984), S. 481–509. Zu Byrons Verhältnis zu Pope, besonders seinem erneuten Interesse an dem Dichter siehe auch Stabler, Byron, Poetics and History, bes. Kap. VI, S. 172–197. Siehe auch die umfangreiche Darstellung der verschiedenen Aspekte von cant bei Thomas Bourke, Stilbruch als Stilmittel, S. 189–210.

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Mit dieser Literatur in engem Zusammenhang steht die Rezeption in der Öffentlichkeit, also Literaturmarkt und Publikumsgeschmack, bei dem der »cant of sentiment« dominiere. Gegenüber Lady Blessington, die ihre Gespräche mit Byron in Italien aufzeichnete und publizierte, soll sich Byron dazu wie folgt geäußert haben: »Does the cant of sentiment still continue in England? […] Childe Harold called it forth; but my Juan was well calculated to cast it into shade, and had that merit, if it had no other [...].«28 Sein Unterfangen beschreibt Byron mit der militärischen Metapher »wage war with cant«29 als Kriegsführung gegen die kanalisierte, gereinigte Sprache, die im »cant moral« die menschliche Sexualität und Geschlechtlichkeit tabuisiert und mit Verboten belegt. Sie stellt, wenn man dieser Autoraussage folgt, ein dezidiertes Programm des Skandal-Epos Don Juan dar. Dabei geht es nicht nur um Verdrängung und Repression, sondern um Macht und die Produktion von Wahrheit (und Lüge) in der Rede des cant. Schon in der ersten Stanze von Don Juan findet sich der Hinweis auf cant: I want a hero: an uncommon want, When every year and month sends forth a new one, Till, after cloying the gazettes with cant, The age discovers he is not the true one; (I 1; CPW V, 9)

Der öffentliche Diskurs der ›Gazetten‹ produziert bis zur Übersättigung (»cloying the gazettes with cant«) ›wahre‹ Helden, die als flüchtige Zeiterscheinung jedoch ständig wieder von neuen abgelöst werden (»every year and month sends forth a new one«). Die Wiederholung des polysemen Wortes ›want‹ (›begehren‹, ›wollen‹; ›fehlen‹), das zwischen Wunsch, Begehren und Mangel oszilliert, konterkariert die Fülle der wirklichen Helden mit dem Mangel an einem fiktiven, den der Sprecher in der zweiten Hälfte der Strophe ausgerechnet in der Figur des Don Juan aus der ›Pantomime‹ findet, einem Jahrmarktspiel, das der commedia dell’arte nahe steht.30 So zielt der erste Vers des Epos mit der provokativen Aussage des Sprechers, einen Helden für seinen Text zu benötigen, in der komischen Diskrepanz zwischen dem ›klassischen‹ Kriegshelden und dem amourösen Jahrmarktshelden auf eine kritische Demontage des ›Heroischen‹: 28 29 30

Lady Blessington’s Conversations of Lord Byron. Hrsg., komm. u. mit einer Einleitung vers. von Ernest James Lovell. Princeton, New Jersey 1969, S. 213. Lady Blessington’s Conversations, S. 215. Zu den Verbindungen zwischen Don Juan und den subliterarischen Genres der Pantomime und der Commedia dell’ arte vgl. Peter Graham und Steven E. Jones (Peter Graham, Don Juan and Regency England. Charlottesville/Virginia 1990; dort v.a. Kap. III: »All Things—But a Show?«, S. 62–88; Stephen E. Jones, Satire and Romanticism. Basingstoke und London 2000, Kap. VI: »Turning What Was Once Burlesque into Romantic: Byron’s Pantomimic Satire«, S. 169–196). Zu Don Juan allgemein siehe Bernard Beatty, Byron’s »Don Juan«. Totowa/New Jersey 1985.

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Of such as these I should not care to vaunt, I’ll there take our ancient friend Don Juan, We all have seen him in the pantomime Sent to the devil, somewhat ere his time. (I 1; CPW V, 9)

Die Oppositionen Vielzahl und Mangel, Übersättigung und Begehren, neu und alt, Kriegsheld und Liebesheld, gut und böse, wahr und falsch, wirklich und fiktiv sowie verschiedene Formen der Öffentlichkeit (»gazettes« – »pantomime«) werden hier aufgerufen und stellen sich gegenseitig und vor allem die monologischen Wahrheit des öffentlichen Diskurses in Frage.31 Spielerisch umreißt die erste Strophe den Diskurs des restaurativen England, dessen cant das anstößige Epos Don Juan mit seinem berüchtigten gleichnamigen Helden Don Juan bekämpft. Eine erneute, intensivierte Kampfansage an den »nauseous and atrocious cant« (CPW V, 296) der öffentlichen Rede und politischen Situation im Regency England stellt die Re-Dedication von Don Juan dar. Byron stellte dem sechsten Canto ein neues Vorwort voran, in dem er deutlich Stellung zur aktuellen, stagnierenden Politik Europas bezieht. Byrons verstärktes politisches Engagement spiegelt sich in dem zeitgleichen Wechsel von seinem langjährigen Verleger John Murray, dem die Veröffentlichung von Byrons Texten, speziell von Don Juan, politisch zu brisant wurde, zu dem radikaleren John Hunt, der zusammen mit seinem Bruder Leigh Hunt die Zeitschrift The Liberal (1822–23) herausgab. Auf die Vorwürfe, die gegen die ersten fünf Cantos in der englischen Öffentlichkeit erhoben wurden, antwortet Byron in seinem Vorwort mit dem Verweis auf den französischen Aufklärer Voltaire. Byron greift Voltaires Beobachtung auf, daß Moral vor allem ein diskursives Phänomen geworden sei: die Keuschheit sei aus den Herzen verschwunden und habe sich auf die Lippen geflüchtet; die verlorene Tugend hoffe man in der Sprache zurückzugewinnen. »›La pudeur s’est enfuite des cœurs, et s’est refugiée sur les lèvres. […] [O]n croit regagner en langage ce qu’on a perdu en vertu.‹« (CPW V, 296) Byron geht es wie Voltaire um die Kritik an der Diskursivierung der Moral bei seinen Zeitgenossen, die keine Entsprechung im tatsächlichen Verhalten habe, aber in einem direkten Verhältnis zur Ausübung gesellschaftlich-politischer Macht stehe. Repräsentativ für die Doppelcodierung der Moral sei die pietätlose ›Heilige Allianz‹ der Siegermächte, »the impious Alliance which insults the world with the name of ›Holy‹« (CPW V, 297). 31

Michael Macovski weist in seiner Untersuchung »›The Bard I Quote From‹. Byron, Bakhtin, and the Appropriation of Voices« (in: Macovski (Hrsg.), Dialogue and Critical Discourse. Language, Culture, Critical Theory. Oxford 1997, S. 158–173) auf die Polyphonie von Don Juan hin. Macovski zielt in seiner Interpretation allerdings darauf ab, daß die Subvertierung des monologischen cant der Regency-Gesellschaft vornehmlich dazu diene, eine eigene Stimme zu etablieren.

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Auch das bereits im letzten Kapitel genannte Motto, das den Cantos VI, VII und VIII auf der Titelseite vorangestellt ist, steht in diesem Kontext und bedient sich neben Voltaire eines weiteren autoritativen Wortes, und zwar von William Shakespeare: »›Dost thou think, because thou art virtuous, there shall be no more Cakes and Ale?‹ – ›Yes, by St. Anne; and Ginger shall be hot i’ the mouth too!‹« (CPW V, 293) Verspottet wird in Shakespeares Komödie Twelfth Night der ›puritanische‹ Malvolio, der von den anderen Figuren vor allem als ein Opportunist, »a time-pleaser, an affectioned ass«, gesehen wird.32 Sir Toby Belchs rhetorische Frage, ob es wegen Malvolios Tugendhaftigkeit keinen Kuchen und kein Bier – also keine Festlichkeit – mehr geben solle, wird von Feste, dem Narren, emphatisch bejaht: »Yes, by St. Anne«. Gleichzeitig fordert der Narr – im Malvolio imitierenden Gestus moralischer Empörung – in seinem scheinbar unsinnigen Kommentar: »and Ginger shall be hot i’ the mouth too!«, daß auch der Ingwer – der »Ginger«, mit dem das »Ale« gewürzt wird – im Mund brennen solle. Die widersinnige Antwort des Narren – der Verzicht auf »Ale« macht das Brennen im Mund eigentlich unnötig – entlarvt das hypokritische Verhalten des Hausstewards Malvolio, der repräsentativ für das ›tugendhafte‹ Verhalten steht, das in der Öffentlichkeit Askese fordert, um sich im Geheimen dem verbotenen Genuß hinzugeben. Der Demaskierung des heuchlerischen Puritanismus im Wort des Narren verpflichtet sich Byrons komisch-groteskes Epos durch den Paratext aus Twelfth Night. Byrons Kritik am leeren Gerede seiner Zeitgenossen betrifft aber nicht nur Moral und Politik, sondern richtet sich auch auf die modische Naturschwärmerei. Von Byrons charakteristischer Reaktion auf eine schöne landschaftliche Aussicht berichtet Lady Blessington: »I suppose you expected me to explode into some enthusiastic explanation on the sea, the scenery, etc. such as poets indulge in, or rather are supposed to indulge in; but the truth is, I hate cant of every kind, and the cant of the love of nature as much as any other.«33 Wie schon beim »cant of sentiment« richtet sich hier die Kritik auf die aufgesetzten, begeisterten Gefühle der bildungsbürgerlichen Gesellschaft, die er in einem humoristisch-verächtlichen Gestus immer wieder als »›entusimusy‹ (i.e. enthusiasm)« (BLJ 5, 218) bezeichnet.34 Die sentimentalische Gefühlskultur wird durch das Verfahren des materialisierenden bathos in Don Juan immer wieder zum satirischen Lachobjekt. Italien stellt für Byron das Gegenbild Englands dar, weil es frei von cant ist: »I like Italy«, äußert sich Byron über sein Exil, »its freedom from cant of every kind, which is the primum mobile of England«.35 Die Befreiung von Lüge und 32 33 34 35

William Shakespeare, Twelfth Night. Hrsg. von J. M. Lothian/T. W. Craik. London, New York 1994 (= The Arden Shakespeare), II/iii, Z. 147f., S. 52. His very self and voice, S. 357. Vgl. auch Letter to John Murray Esqre (CMP, S. 156 und S. 455). Lady Blessington’s Conversations, S. 221.

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Heuchelei fordert Byron ebenso in literarisch-ästhetischer, wie in moralischer und politischer Hinsicht. In Italien repräsentieren exemplarisch die Werke von Luigi Pulci diese Freiheit. Byron bewunderte Pulcis komisches Versepos Morgante Maggiore, das seinen eigenen ottava rima-Gedichten als Vorbild diente.36 In seinen Briefen betont Byron immer wieder, welche Äußerungen Pulci, einem »Churchman«, im bigotten Diskurs seiner Zeit möglich waren.37 Die Abwesenheit strenger moralischer Gesetze in der italienischen Gesellschaft, etwa im Hinblick auf Ehebruch, greift Byron in seinem Versgedicht Beppo mit dem kulturell fremden Modell des cavaliere servente auf. Der cavaliere servente ist der offizielle Liebhaber einer Frau; die Anzahl solcher Liebhaber ist, wie Byron gegenüber seiner Halbschwester Augusta Leigh betont, jedoch nicht beschränkt: You are right in saying that I like Venice—it is very much what you would imagine it [...] indeed every body is nau[ghty, A.B.] so much so that a lady with only one lover is not reckoned to have overstepped the modesty of marriage—that being a regular thing;—some have two—three—and so on to twenty beyond which they don’t account—but they generally begin by one.— —The husbands of course belong to any body’s wives—but their own. (BLJ 5, S. 145)38

Byrons Italienbild partizipiert zwar in moralischer Perspektive an dem verbreiteten Stereotyp von der sinnlichen Freiheit des südlichen Landes. Die moralische Lizenz ist allerdings nur ein Teil der umfassenden Freiheit Italiens, das sich durch »freedom from cant« auszeichnet. Denn Byron betont auch die poetisch-literarische Freiheit, wie im Hinblick auf Pulcis Epos deutlich wurde, und vor allem die politische Freiheit, nach der die nationalen Widerstandsgruppen in Italien im Kampf gegen die Herrschaft der Österreicher strebten. Wie Byron in seinem oben zitierten ›Letter to Murray‹ schreibt, ist in England der zentrale Antrieb des Handelns Lüge, Verstellung und Heuchelei (»the grand ›primum mobile‹ of England is Cant«); dagegen bestimmt in Italien das Streben nach 36

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Mit dem italienischen Stil der Ottaverime im Ton des Rabelaisschen Humors wurde Byron durch John Hookham Freres Whistlecraft, einer Imitation von Pulcis Morgante Maggiore, vertraut (vgl. Marchand, Byron, Bd. II, S. 708f.). Siehe auch William Keach, der die politische Dimension von Byrons Adaptation und Transformation der italienischen und englischen ottava rima-Tradition herausstellt (William Keach, »Political Inflection in Byron’s Ottava rima«. In: Studies in Romanticism 27 (1988), S. 551–562). »I think my translation of Pulci will make you stare—it must be put by the original stanza for stanza and verse for verse—and you will see what was permitted in a Catholic country and a bigotted age to a Churchman on the score of religion;—and so tell those buffoons who accuse me of attacking the liturgy.« (BLJ 7, S. 35) Pulcis Morgante Maggiore ist eine der wenigen Übersetzungen Byrons. Wie das Zitat betont, versuchte er eine möglichst treue Wiedergabe von Pulcis Epos im Englischen. Wie wichtig ihm diese Übersetzung war, zeigt auch der Brief an John Murray vom 7. Februar 1820 (zu Byrons Übersetzungen vgl. auch Bassnett, »Byron and Translation«). Zum Kulturvergleich der Nationen England und Italien in Beppo siehe auch Peter W. Graham, »The Venetian Climate of Don Juan«. In: ByronJournal 15 (1987), S. 21–28, hier S. 25.

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Freiheit die Handlungen. Obwohl England sich von der Politik des Kontinents distanzierte, wurde seine Politik von der strengen Reglementierung nach 1815 ebenso erfaßt wie der Rest Europas, das dem System Metternich folgte. Wurde England im frühen 18. Jahrhundert noch für seine fortschrittlichen, liberalen Gesetze von den anderen europäischen Ländern bewundert, schränkte die Herrschaft von George III. (1760–1820) und George IV. (1820–1830) – der England von 1810–1820 als Prince Regent regierte – sukzessive Freiheiten und Rechte, wie etwa von Habeas corpus (1794) oder der Presse- und Versammlungsfreiheit in den Six Acts (1819) wieder ein.39 Besonders prominent ist die Kritik am politischen, moralischen und literarisch-poetischen cant Englands in der Invektive Byrons gegen den Dichter Robert Southey. Der mit William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge befreundete Autor des revolutionären Gedichts Wat Tyler von 1794, das zuerst 1817 als Raubdruck unautorisiert publiziert wurde, war zunächst ein enthusiastischer Anhänger der Ideen der Französischen Revolution. Southey entwikkelte zusammen mit Coleridge das Konzept einer utopischen Gesellschaft, der Pantisocracy, die an den Ufern des Susquehanna in Pennsylvania die menschliche Perfektibilität unter gleichberechtigten Menschen erproben wollte. Die revolutionären Pläne hielten allerdings nicht an und »turncoat Southey« (CPW V, 482) wurde 1813 – als Apologet der Monarchie – zum Poeta Laureatus gekrönt, der vom König fortan eine jährliche Pension erhielt. Seine Dankbarkeit gegenüber dem Thron drückte er 1820 in dem pompösen, epischen Gedicht A Vision of Judgement aus, in dem er die Apotheose des im gleichen Jahr verstorbenen Königs George III. in Hexametern verewigte. In seiner Vorrede erörtert Southey nicht nur ausführlich sein Versmaß und betont die Leistung seiner ›Vision‹, den Hexameter in die englische Literatur einzuführen, sondern er vergleicht auch die in seinen Augen ruhmwürdige Dichtung der letzten 50 Jahre und ihre »moral purity« mit der ›degenerierten‹ Literatur der Gegenwart.40 In diesem Kontext attackiert er implizit Byron mit dem Vorwurf, der tonangebende Kopf einer Satanic School of Poetry zu sein – »[t]he school which they have set up may properly be called the Satanic school« –, die sich durch einen allgemeinen Werteverlust auszeichne und die heilige Institution der Monarchie satanisch-revolutionär umzukehren trachte.41 Für Southey sind Moral und Politik untrennbar verbunden. Insofern kritisiert er scharf »those monstrous combinations of horrors and mockery, lewdness and impiety, with which English poetry has, in our days, first been polluted«.42 Dabei meint er nicht nur das in seinen Augen unsittliche, ›satanische‹ Treffen 39 40 41 42

Vgl. Michael Maurer, Geschichte Englands. Stuttgart 2000, S. 226–265. Robert Southey, A Vision of Judgement. In: The Poetic Works of Robert Southey, Collected by Himself. 10 Bde. London 1838. Bd. X, S. 189–264, hier S. 203. Southey, A Vision of Judgement, S. 206. Southey, A Vision of Judgement, S. 203.

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von Claire Clairmont, Mary und Percy Bysshe Shelley mit Byron am Genfer See im Sommer 1816, in dessen Folge die Texte Frankenstein und The Vampyre entstanden,43 sondern auch die ›Monstrositäten‹ der ersten beiden Cantos von Byrons Don Juan, deren groteske Verfahren die Öffentlichkeit schockierten.44 Die anonyme Rezension von John Gibson Lockhart »Remarks on Don Juan«, die im August 1819 in Blackwood’s Edinburgh Magazine kurz nach der Veröffentlichung des Versepos erschien und auf die Byron wiederum mit seinem Prosapamphlet Some Observations upon an Article in Blackwood’s Edinburgh Magazine antwortete, erkennt zwar das Genie des Autors an, kritisiert aber scharf die moralische Verkommenheit, die das Werk Don Juan bekunde: The moral strain of the whole poem is pitched in the lowest key—and if the genius of the author lifts him now and then out of his pollution, it seems as if he regretted the elevation, and made all haste to descend again. […] Love—honour—patriotism— religion, are mentioned only to be scoffed at and derided […]. It appears, in short, as if this miserable man, having exhausted every species of sensual gratification— having drained the cup of sin even to its bitterest dregs, were resolved to shew us that he is no longer a human being, even in his frailties;—but a cool unconcerned fiend [...]. (CMP, 361)

Der Rezensent Lockhart verwendet zur Beschreibung von Byrons Versepos Don Juan das gleiche Wort wie Southey: »pollution«. Er prangert den moralischen ›Schmutz‹ des Textes an, den er in der Verspottung und Verhöhnung aller bürgerlichen Werte wie Liebe, Ehre, Patriotismus und Religion sowie in der Sünde der sinnlichen Befriedigung sieht. Der Autor Byron sei kein menschliches Wesen mehr, sondern ein kalter, unbeteiligter Satan, der die irdische und göttliche Ordnung verkehre. Wie die ein Jahr zuvor veröffentlichte Rezension Lockharts zu Don Juan zeigt sich auch Southey beunruhigt von Byrons Verkehrung der Ordnung, die er mit seinem Epos A Vision of Judgement wiederherzustellen beabsichtigt. Das drückt sich zum einen in der poetischen Glorifizierung des Königs im strengen Versmaß des Hexameters aus und zum anderen im Schuldspruch über seinen moralischen, literarischen und politischen Gegner Byron: »I have fastened his name upon the gibbet, for reproach and ignominy, as long as it

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Byron erklärt John Cam Hobhouse seine Verärgerung über Southey damit, daß dieser nach seiner Rückkehr aus der Schweiz im Sommer 1816 das Gerücht von dem Inzest der Shelleys, Byron und Claire Clairmont am Genfer See verbreitet hätte: »The Son of a Bitch on his return from Switzerland two years ago—said that Shelley and I ›had formed a League of Incest and practiced our precepts with &c.‹—he lied like a rascal—for they were not Sisters—one being Godwin’s daughter by Mary Wollstonecraft—and the other the daughter of the present Mrs. G[odwin] by a former husband. […] He lied in another sense—for there was no promiscuous intercourse [...].« (BLJ 6, S. 76) Die zeitgenössische Rezeption von Don Juan in England dokumentiert ausführlich Donald H. Reiman (Hrsg.), The Romantics Reviewed: Contemporary Reviews of British Romantic Writers. Part B: Byron and Regency Society Poets. 5 Bde. Garland 1972.

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shall endure.«45 In seinem »Preface« überantwortet Southey den Anführer der ›Satanischen Schule‹ nicht nur dem irdischen, sondern auch dem himmlischen Gericht. Obwohl er Byrons Namen nicht explizit erwähnt, ist die Anspielung nur allzu deutlich, so daß etwa Andrew Rutherford von einer »thinly-veiled attack on Don Juan and its author« spricht: 46 The publication of a lascivious book is one of the worst offences that can be committed against the well-being of society. It is a sin, to the consequences of which no limits can be assigned, and those consequences no after repentance in the writer can counteract. Whatever remorse of conscience he may feel when his hour comes (and come it must!) will be of no avail. The poignancy of a death-bed repentance cannot cancel one copy of the thousands which are sent abroad; and as long as it continues to be read, so long is he the pandar of posterity, and so long is he heaping up guilt upon his soul in perpetual accumulation.47

Für Southey ist die Publikation lüsterner Bücher eines der schlimmsten Vergehen gegen das Wohl der Gesellschaft, da ihrer Distribution keine Grenzen gesetzt werden können: Ist das Buch erst veröffentlicht, kann es sich unkontrolliert weiter verbreiten. Sinnlich-frivole Bücher werden deswegen auch noch die Nachwelt gefährden und verführen. Insofern kann es für den Autor Byron – auch wenn er zur Buße bereit wäre – keine Vergebung, sondern nur ewige Verdammung geben. Southeys moralisches Strafurteil in seinem Epos A Vision of Judgement, das die Ordnung der Gesellschaft wiederherstellen will, verdeutlicht zwei zentrale Aspekte. (1) Der monarchietreue Autor zeigt sich tiefgehend beunruhigt von der Sprengkraft des Sinnlich-Lasziven, das aus der Sicht des Konservativen das Autoritätsgefüge der Restauration angreift und ihre heiligsten Werte gefährdet. Zur Diffamierung progressiver politischer Positionen und zur Verteidigung der bürgerlichen Moral wurde seit dem 18. Jahrhundert in der Kritik verbreitet der abwertende Begriff der ›Frivolität‹ verwendet.48 In dieser Tradition steht Southey, wenn er in der zitierten Passage

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So Robert Southey in The Courier vom 5. Januar 1822 (Robert Southey, »Two Letters Concerning Lord Byron«. In: Essays, Moral and Political, Bd. 2: London 1832, S. 183–205, hier S. 195). Rutherford, Byron, S. 217. Southey, A Vision of Judgement, S. 204. Vgl. dazu auch Susan J. Wolfson, »The Vision of Judgment and the visions of ›author‹«. In: Drummond Bone (Hrsg.), The Cambridge Companion to Byron. Cambridge 2004, S. 171–185, hier S. 172f. Auf diesen Zusammenhang hat Günter Oesterle hingewiesen in Integration und Konflikt, S. 96–98. Oesterle geht im Kapitel »Funktion und Begriff der Frivolität als Exempel der Problematik bürgerlicher Askese. Die Verteidigung bürgerlicher Moral und die Abwehr gesellschaftlicher Veränderung« seiner Untersuchung Integration und Konflikt zudem auf die Geschichte des Wortes im vorrevolutionären Frankreich sowie auf die Tradition und Funktion frivolen Schreibens ein (S. 91–111). Den Vorwurf frivolen Schreibens bringen auch deutsche Rezensionen, besonders von Byrons Don Juan zum Ausdruck (vgl. etwa Blaicher (Hrsg.), Die Rezeption Byrons, S. 375f.). Der Begriff ›licentious‹, der dem deutschen ›frivol‹ nahe steht, findet sich wiederholt in zeitgenössischen, kritischen Besprechungen von Byrons Don Juan.

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den Begriff »lascivious« verwendet, der in seiner Bedeutung ›frivol‹ vergleichbar ist. (2) Southey beobachtet zudem irritiert, daß im Zeitalter der unbeschränkten Reproduzierbarkeit und Distribution von Literatur sowie eines zunehmend entgrenzten Literaturmarktes die Literatur ein revolutionäres Potential besitzt, das nicht mehr kontrolliert werden kann. Trotz der vorindustriellen Macht über den öffentlichen Diskurs war eine breite Leserschaft der frivol-lüsternen Bücher vorhanden, die, dem modernen kapitalistischen Marktprinzip folgend, gemäß der Nachfrage produziert wurden. Das gilt im besonderen für Byrons Don Juan, dessen zahllose Raubdrucke und enorme Verkaufszahlen – zugänglich in der beeindruckenden Studie von William St Clair The Reading Nation in the Romantic Period – die ungeheure Popularität des Versepos bei der lesenden Bevölkerung dokumentieren.49 Einer der illegalen Herausgeber betont in seinem Vorwort von 1823, Don Juan »has been, and still is, one of the most popular poems of the present day«. Mit geschätzten 1,5 Millionen Lesern sei, so St Clair, der Text bereits in den ersten zwanzig Jahren von mehr Lesern als jedes andere Werk der englischen Literatur gelesen worden.50 St Clair zufolge trugen vor allem die günstigen Verkaufspreise der Raubdrucke bei der Arbeiterklasse dazu bei, den Text im neuen, radikalen Kanon der Zeit zu etablieren, neben William Godwins Political Justice und Percy Bysshe Shelleys Queen Mab.51 Angesichts dieser Zahlen wirkt Southeys moralische Ermahnung seiner Zeitgenossen, den verwerflichen Konsum anstößiger Bücher zu unterlassen, beinahe hilflos-beschwörend – »individuals are bound to consider that such pernicious works would neither be published nor written, if they were discouraged as they might, and ought to be, by public feeling«; die weitere Verwendung juristischer Semantik betont, daß das Lesen dieser Bücher eine Mittäterschaft im Verbrechen darstellt: »every person, therefore, who purchases such

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»Of regular editions, over 100,000 copies of the different editions are known to have been produced in the poet’s lifetime, all of which were eventually sold [...]. Don Juan, even in its official form, was by far the biggest seller of any contemporary literary work during the romantic period.« (St Clair, The Reading Nation in the Romantic Period, S. 322–336 u. 682– 689, hier S. 333) Vgl. St Clair, The Reading Nation in the Romantic Period, S. 333. Das bestätigt auch Friedrich Engels in seiner Beschreibung der englischen Arbeiterklasse: »Und wie sehr es dem englischen Proletariat gelungen ist, sich eine selbständige Bildung zu erwerben, zeigt sich besonders darin, daß die epochemachenden Erzeugnisse der neueren philosophischen, politischen und poetischen Literatur fast nur von den Arbeitern gelesen werden. […] Shelley, der geniale prophetische Shelley, und Byron mit seiner sinnlichen Glut und seiner bittern Satire der bestehenden Gesellschaft haben ihre meisten Leser unter den Arbeitern; die Bourgeois besitzen nur kastrierte Ausgaben, ›family editions‹, die nach der heuchlerischen Moral von heute zurechtgestutzt sind.« (Friedrich Engels, »Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen«. In: Karl Marx/ Engels, Historisch-kritische Gesamtausgabe: Werke/Schriften/Briefe. Hrsg. von V. Adoratskij, Bd. 4: Die Lage der arbeitenden Klasse in England und andere Schriften von August 1844 bis Juni 1846. Berlin 1932, S. 227)

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books, or admits them into his house, promotes the mischief, and thereby, as far as in him lies, becomes an aider and abettor of the crime. « Auf Southeys moralische Anschuldigungen reagierte Byron in mehreren seiner Texte. Dazu zählen seine Prosaschriften, die Anmerkungen zur Tragödie The Two Foscari, aber auch die Dedication zu Don Juan. Diese Attacke enthalte, so Byron an John Cam Hobhouse, »some good verses and all political & poetical.« (BLJ 6, 76) Die umfangreichste Abrechnung mit Southey, die die enge Verbindung von Politik und Poetik, die Byron in seinem Brief kommentiert, eindringlich zeigt, ist Byrons direkte Replik auf Southeys Epos in The Vision of Judgment, die nahezu den gleichen Titel trägt. 2.2.

The Vision of Judgment als Replik auf A Vision of Judgement

Byrons Antwort auf Southeys Vision im Stil seiner ottava rima-Dichtungen, die 1822 in der Zeitschrift The Liberal veröffentlicht wird, versteht sich als Umkehrung, als einen Text »by way of reversing Rogue Southey’s« (BLJ 8, 240), wie er im Herbst 1821 seinem Freund John Cam Hobhouse über seine neueste Schöpfung mitteilt. Die Titelseite des Textes verdeutlicht diese Umkehrung mit einer Fülle von Paratexten, die der Rezeptionslenkung des anonym publizierten Textes dienen. Dort findet sich erstens das Pseudonym »Quevedo Redivivus« (CPW VI, 308), mit dem sich der Verfasser des Textes in die Tradition des spanischen Satirikers Francisco Gomez de Quevedo y Villages (1580–1645) stellt. Quevedo verwendete im 17. Jahrhundert das Genre der mittelalterlichen Visionsliteratur, um die sozialen Mißstände unter der Herrschaft von Phillip III. satirisch anzuprangern wie in seinem Text Sueño del Juicio Final (›Traum vom jüngsten Gericht‹). Zweitens wird der Bezug des Textes zu der Person Southeys mit dem Hinweis »Suggested by the Composition so Entitled by the Author of ›Wat Tyler‹« (CPW VI, 308) hergestellt. Die Bemerkung hat die Funktion auf Southeys gleichzeitige Autorschaft von A Vision of Judgement und Wat Tyler zu verweisen, wodurch der Verfasser als Überläufer mit einem moralisch zweifelhaften Charakter markiert wird. Schließlich findet sich als dritter Paratext das Motto: »A Daniel come to judgment! yea, a Daniel!/ I thank thee, Jew, for teaching me that word.« (CPW VI, 308) Das nicht markierte Zitat besteht aus zwei kollationierten Versen des Dramas The Merchant of Venice von William Shakespeare, das den Kontext von Recht, Gerechtigkeit, Rechtsprechung und Gnade aufruft. Die beiden Verse aus der Gerichtsszene des vierten Aktes von Shakespeares dunkler Komödie beziehen sich auf die Fehleinschätzung des selbstgerechten Juden Shylock, der von dem Rechtsanspruch und der Gültigkeit seines unmoralischen Urteils überzeugt ist. Die Figur des gerechten Daniel im ersten Vers nimmt auf dieses Selbstbild Bezug, während der zweite Vers sich auf die Umkehrung der Situation bezieht. Im Zuge einer überraschenden Wende in der Rechtsprechung des christlichen 199

Gerichts verliert Shylock seine Würde als Mensch und seine Rechte als Venezianer. Hinsichtlich Byrons The Vision of Judgment findet auf der intertextuellen Folie von Shakespeares Drama eine Parallelisierung zwischen der Figur des selbstgerechten, unmoralischen Shylock und Southey statt. Das Motto aus The Merchant of Venice deutet Byrons literarische ›Exekution‹ seines Gegners schon vor dem Beginn des eigentlichen Textes an, der im Unterschied zu Shakespeares Komödie ausgeprägte karnevaleske Züge trägt. Die ›Enthüllung‹ von Southeys Charakter wird von den Ausführungen des Preface unterstützt, einem weiteren Paratext, der allerdings erst in der zweiten Auflage 1823 gedruckt wurde. Dort attackiert Byron Southey direkt mit dem Vorwurf der Schmeichelei, Frechheit, Intoleranz und Heuchelei, wenn es über seine ›sublime‹ Vision heißt: »The gross flattery, the dull impudence, and renegado intolerance and impious cant of the poem by the author of Wat Tyler, are something so stupendous as to form the sublime of himself—containing the quintessence of his own attributes.« (CPW VI, 309) Der Angriff richtet sich aber nicht nur auf Southey, sondern auch auf den englischen König, dessen Heiligsprechung Southeys A Vision of Judgement inszeniert. George III. hatte in seiner Regierungszeit Kriege gegen Amerika, Irland und Frankreich zu verantworten und kann Byron zufolge weder als erfolgreicher noch patriotischer König gelten. Neben dieser politischen Kontextualisierung werden im Vorwort zugleich auch zentrale Schlüsselbegriffe der ästhetischen Debatte wie »sublime« und »supernatural« (CPW VI, 310) eingeführt, auf die Byron in seiner Vision reagierte. Byrons Text kann keiner eindeutigen Gattung zugeordnet werden, sondern besitzt zugleich Merkmale mehrerer Genres wie dem Pasquill, der Visionsliteratur und der menippeischen Satire.52 Byrons Dynamisierung von Southeys Vorlage verzichtet auf eine Unterteilung in Kapitel sowie auf einen Anruf der Musen, wie er in epischen Gedichten gebräuchlich ist. Der Text beginnt vielmehr medias in res mit der Beschreibung der überirdischen Szenerie: Vor dem eingerosteten Himmelstor wird Saint Peter, der über seinen Schlüsseln eingenickt ist, von einem lauten Getöse geweckt – der Ankunft von George III., auf den kurz später »Sathan« (CPW VI, 322) folgt, der den König für die Hölle beansprucht. Um die Rechtmäßigkeit von Sathans Anspruch zu überprüfen, fordert der Erzengel Michael den König der Finsternis auf, Zeugen beizubringen. Sathan holt daraufhin zwei Erzfeinde des Königs heran, den oppositionellen Politiker John Wilkes sowie einen realen Schriftsteller mit dem Pseudonym Junius, der in einer Reihe von Briefen die Regierung von George III. attackierte. Susan Wolfson weist darauf hin, daß Southey, der opportunistische Karrierist,

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Die Gattungsfrage des Textes problematisieren Angus Calder, Byron. Milton Keynes 1987, S. 64 und Bernard Beatty, Byron – »Don Juan« and Other Poems. A Critical Study. Harmondsworth 1987, S. 53–55 u. 66–68.

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die Folie für Junius sei, den namenlosen Autor, der aus Prinzip schreibe und mit dem sich Byron identifiziere.53 Aber nicht nur Junius, sondern auch Wilkes kann als Kontrastfigur von Southey interpretiert werden. Beide hatte auch Southey im fünften Kapitel seiner Vision, »The Accusers«, auftreten lassen – »souls on the edge of darkness«, die sich in seinem Text für ihre Angriffe auf George III. schämen: Konfrontiert mit der Präsenz des Königs im Jenseits schweigen sie eingeschüchtert.54 Byrons Vision of Judgment nimmt das Thema von Southeys Kapitel »The Accusers« auf, kehrt aber den Auftritt ›Ankläger‹ des Königs um. Während sie Southey als Verdammte schildert, deren Kritik verstummt ist, zeigt sie Byrons Text als Männer von Ehre. Wilkes will den König nicht verurteilen, sondern vergibt ihm vielmehr großzügig – »for me, I have forgiven,/ And vote his ›habeas corpus‹ into heaven« (CPW VI, 334). Junius dagegen repräsentiert in seinem Auftreten die Standhaftigkeit seines Urteils. Auf die suggestive Frage Michaels, ob er seine Schriften nicht bereue und sich von ihnen distanzieren wolle, antwortet Junius: »What I have written, I have written: let/ The rest be on his head or mine!« (CPW VI, 338) Das Gespräch zwischen dem Erzengel Michael und dem ›anonymen‹ Schriftsteller Junius erscheint wie eine Umkehrung des Wat Tyler-Falles. Southey distanzierte sich deutlich von seinem revolutionären Text, der ohne sein Wissen und seine Erlaubnis von dem Verlag Sherwood, Neely und Jones publiziert wurde, um ihn bloßzustellen: »Southey’s lawyer had spoken of the ›wickedness‹ of the piece and his client’s ›shame‹ at seeing it printed.«55 Das Verhalten der beiden Kontrastfiguren spielt offenbar auf den Poeta Laureatus an, da beide, Wilkes und Junius, Eigenschaften repräsentieren – Gnade, Vergebung sowie Charakterfestigkeit –, an denen es Byron zufolge Southey mangle. Weitere Zeugenaussagen werden von dem »devil Asmodeus« (CPW VI, 338) unterbrochen, der Southey im Lake District bei der Niederschrift seiner Vision of Judgement aufgreift, die, wie es heißt, die Geschichte manipuliere und zugleich die Heilige Schrift entwürdige. Der letzte Teil von Byrons Text widmet sich der Invektive gegen den Dichter, der sich jeder Partei – den Engeln wie den Teufeln – als serviler Diener anbietet. Als Southey beginnt, seine »grand heroics« (CPW VI, 344) zu rezitieren, verliert der impulsive Saint Peter schließlich die Geduld und schlägt den Poeta Laureatus nieder, so daß er zurück in den Lake District stürzt. Währenddessen nützt George III. die Verwirrung des Augenblicks und schleicht sich unrühmlich und unbe-

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Zu Junius’ Kontrasteigenschaften gehört im übrigen auch das Konzept der Autorschaft, worauf Susan Wolfson hingewiesen hat: »Writing by principle alone, he [Junius, A.B.] is the antithesis of the author of name« (Wolfson, »The Vision of Judgment and the visions of ›author‹«, S. 181). Southey, A Vision of Judgement, S. 224. St Clair, The Reading Nation in the Romantic Period, S. 317.

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merkt durch die Himmelspforte. Mit diesem bathos endet Byrons komische Vision der Kanonisierung von George III. Stuart Peterfreund weist in seiner Studie von Byrons Vision of Judgment detailliert Entsprechungen zwischen realen Personen und Byrons fiktiven Protagonisten nach. So entspreche etwa der Figur des Michael der reale Lord Eldon, der als Lord Chancellor auch dem Wat Tyler-Fall Southeys vorsaß. Peterfreund betrachtet Byrons Text allerdings zu eindimensional im Sinne einer Schlüsselliteratur, was nicht nur bei der Identifikation von Sathan mit Byron zur interpretatorischen Reduktion der Vielschichtigkeit des Textes führt.56 Gegenstand der politischen und ethisch-moralischen Kritik Byrons an Southey ist, wie bereits bemerkt wurde, seine Verherrlichung der Monarchie, die den Autor von Wat Tyler zu einem Apostaten macht, einem »rancorous Renegado« (CPW VI, 308). Byrons Text problematisiert die Ermächtigung von Southeys prophetisch-mystischer Vision, eindeutige Urteile über Gut und Böse zu sprechen, die dem Autor eine Ausnahmestellung einräumen. Seine Richtersprüche basieren, so läßt Byron Southey selbst in seiner Vision äußern, auf omnipotenter Eingebung – »I settle all these things by intuition,/ Times present, past, to come, heaven, hell, and all« (CPW VI, 344) –, die Byrons Text als menschliche Hybris entlarvt. In Byrons satirischer Vision bietet Southey sogar dem göttlichen Gericht sein Urteil an, »Now you shall judge, all people; yes you shall/ Judge with my judgment!« (CPW VI, 343), damit es sich die Arbeit des Urteilens ersparen könne – »When I thus see double,/I save the Deity some worlds of trouble« (CPW VI, 344). 2.3.

Das Sublime und das Soziale

Der Vorwurf moralisch-politischer Anmaßung korrespondiert auf der ästhetischen Ebene mit der Kritik an einer Literatur des Sublimen, die den Akzent auf Größe, Enthusiasmus und Überwältigung legt. An der Poetik des Sublimen partizipiert Southeys Vision of Judgement durch den hohen Stil im epischen Versmaß des Hexameters, das Pathos und die Gattung der Visionsliteratur. In der Tradition von Dante Alighieris Divina Commedia ›schaut‹ der Visionär in einem ekstatischen Zustand die Geschehnisse im Jenseits. Literarische Werke dieser Gattung, die vor allem im Mittelalter verbreitet war, beanspruchen für sich Wahrheit, da sie auf der Inspiration einer Vision gründen.57 Für die ästhetische Debatte um das Sublime im 18. Jahrhundert steht in England vor allem Edmund Burkes Text A Philosophical Enquiry into the Ori-

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Vgl. Stuart Peterfreund, »The Politics of Neutral Space in Byron’s Vision of Judgment«. In: MLQ 40 (1979), S. 275–91. Vgl. dazu Paul Gerhard Schmidt, Art. »Vision«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3, S. 784–786.

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gins of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757), der auf der Wiederentdekkung des Traktats Peri hypsos des Pseudo-Longinus in den literaturkritischen Schriften von John Dennis (1657–1734) und der Longin-Übertragung Traité du Sublime von Nicolas Boileau-Despréaux (1636–1711) basiert.58 Die Ästhetik des Sublimen stand der urbanen Poetik von Klassizisten wie Alexander Pope diametral entgegen, der einem rationalen Dichterbegriff und der emulatio – also dem wetteifernden Imitieren der ›Alten‹ – verpflichtet war.59 Die Anhänger des Sublimen sahen dagegen in produktionsästhetischer Hinsicht die wahren Impulse der Dichtung in der, wie Dennis es formuliert, »Enthusiastick Passion, or Enthusiasm«, dem begeisterten Aufschwung, der unter wirkungsästhetischem Aspekt beim Leser den dazu komplementären Effekt der Erschütterung auslösen soll.60 Für die Erfahrung des Sublimen beim Lesen ist nicht das rationale Urteil charakteristisch, sondern die plötzliche Entrükkung – die ékstasis, die der Autor durch seinen Enthusiasmus erzeugt. Dennis spezifiziert in seiner Abhandlung The Grounds of Criticism in Poetry auch die Gattungen, in denen heftige Leidenschaften erregt werden – das sind vor allem das (religiöse) Epos, die Tragödie und große lyrische Formen wie etwa die enthusiastische Ode, die sich im Gegenstand und in der Sprache von der alltäglichen Prosa sichtbar unterscheiden.61 Vor dem Hintergrund dieser zeitgenössischen ästhetischen Debatte, die ins 17. Jahrhundert zurückreicht, müssen Southeys epischer Text A Vision of Judgement und Byrons literarische Reaktion darauf gesehen werden, was in der Forschung bislang zu wenig beachtet wurde. Bevor auf Byrons Vision of Judgment zurückzukommen ist, soll seine Beurteilung des Sublimen anhand der diskursiven Positionierung im Letter to John Murray, der im Kontext der Bowles/ Pope Controversy steht, skizziert werden. Kurz vor seiner Lektüre von Southeys A Vision of Judgement setzte sich Byron mit den Angriffen von William Lisle Bowles und den englischen Romantikern auf Pope in dem bereits erwähnten öffentlichen Brief Letter to John Murray auseinander. Obwohl Byron in diesem Prosatext nicht explizit auf Longinus hinweist und auf Erhabenheit nur kurz zu sprechen kommt (vgl. CMP, 136), werden die zentralen Aspekte der ästhe-

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Zur Debatte um das Erhabene vgl. Carsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar 1995, zu Boileau bes. S. 43–59 sowie zu Dennis S. 113–117. Siehe dazu auch Zelles informative frühere Studie: ›Angenehmes Grauen‹. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg 1987. Zum Verhältnis der Kunstkritiker, die sich auf Longinus berufen, zu Alexander Pope vgl. das Kapitel »Longinus, Hazlitt, Keats, and the Criterion of Intensity« in M. H. Abrams’ Untersuchung The Mirror and the Lamp. Romantic Theory and the Critical Tradition. Oxford 1953, S. 132–138. John Dennis, »The Grounds of Criticism in Poetry«. In: The Critical Works. Hrsg. von Edward Niles Hooker. 2 Bde. Baltimore 1967. Bd. I, S. 338. Vgl. Dennis, »The Grounds of Criticism«, S. 338.

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tischen Debatte über das Sublime verhandelt. Bezieht man Byrons Letter auf die Diskussion über das Erhabene, ist kaum zu übersehen, daß Byron sich mit seinen Ausführungen von den produktions-, werk- und wirkungsästhetischen Prinzipien des Sublimen distanziert, die als Enthusiasmus, seherische Imagination und Erschütterung zusammengefaßt werden können. Byrons beißender Spott gilt den »Aquatic gentlemen of Windermere«, ihrem »›entusymusy‹ for lakes and mountains and daffodils—and buttercups« (CMP, 156), wodurch er die von ihnen vertretenen Konzepte der Imagination und originären Schöpfung abwertet. »It is the fashion of the day to lay great stress upon what they call ›Imagination‹ and ›Invention‹ the two commonest of qualities—an Irish peasant with a little whisky in his head will imagine and invent more than would furnish forth a modern poem.« (CMP, 143f.). Schon in seinem Artikel Some Observations upon an Article in Blackwood’s Edinburgh Magazine hatte Byron Coleridge als »the future Vates,—poet & Seer of the Morning Post« bezeichnet (CMP, 105f.), also als prophetischen Seher, der seine visionären Texte allerdings für eine Zeitung produzierte, den »Morning Post«. Die Verwendung der römischen Bezeichnung vates, die den Dichter als göttlich inspirierten prophetischen Sänger ausweist, rückt die Charakterisierung von Coleridge deutlich in den Kontext der Debatte um das Sublime. Dieser Kontext wurde in den Untersuchungen zu Byrons Vision of Judgment bisher nicht umfangreich dargelegt. Zwar erwähnen einzelne Analysen im Kontext von Southeys Text das Sublime. Susan Wolfson etwa betont, daß Byrons Himmel ebenso weit von Miltons visionärem Erhabenen entfernt sei wie von Southeys Pomp-Sublimem.62 Aber auch sie geht nicht weiter auf die poetologische Dimension des Sublimen und seine Bedeutung für Byrons Text ein. Erstaunlich ist diese Lücke umso mehr, weil auf das Profane, Alltägliche und Banale, das den Kontrast zum Erhabenen darstellt, in Byrons Vision of Judgment in der Forschung immer wieder hingewiesen wurde. Byrons Kritik am zeitgenössischen Diskurs des Sublimen ist aber nicht nur für The Vision of Judgment, sondern auch für seine anderen Texte, die in die ästhetische Debatte seiner Zeit eingreifen, wenig in den Blick genommen worden. Im Hinblick auf die Dedication von Don Juan bemerkt zwar McGann im Kommentar seiner Kritischen Ausgabe von Byrons Werken, daß der grundlegende Text, der hinter der Attacke auf die ›Lake Poets‹ stehe, Peri hypsos von Pseudo-Longinus sei. Verwunderlich ist allerdings, daß er daraus den gegenteiligen Schluß zur hier verfolgten These zieht, daß die Kritik an den Romantikern ihrer Dichtungstheorie des Sublimen gilt; da für McGann der sublime Stil gleichbedeutend »with greatness of soul and a dedication to freedom« (CPW V, S. 669) ist, steht für ihn Byrons affirmativer Bezug auf das Sublime außer Frage. McGanns Einschätzung beruht darauf, daß er sich 62

Vgl. Wolfson, »The Vision of Judgment and the visions of ›author‹«, S. 175.

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auf den antiken Kontext des Sublimen und nicht auf die zeitgenössische Diskussion bezieht. Mit seiner Schrift Peri hypsos zielte Pseudo-Longinus auf eine Kritik der eigenen Gegenwart, die er als Epoche des politischen und moralischen Verfalls empfand. Das Ideal erhabener Größe dagegen verkörperte für ihn das klassische Griechenland mit seiner politischen Selbstbestimmung. Während diese Aspekte auch auf Byron zutreffen, verweist die literaturtheoretische Dimension des Sublimen bei Pseudo-Longinus schon auf die Differenz zu den englischen Romantikern, die Byron in seinem ›Letter to Murray‹ expliziert. Denn die Schrift Peri Hypsos wendet sich vom hellenistischen Literaturideal ab, das sich durch Anmut, Transparenz und Urbanität auszeichnet, und akzentuiert dagegen Größe, Leidenschaft und Überwältigungskraft.63 Byron verteidigt an Pope genau die vom Sublimen schon bei Pseudo-Longinus abgewerteten Eigenschaften des Harmonischen, Verständlichen und des Urbanen, das Offenheit, Toleranz und Wandelbarkeit assoziiert.64 Byron distanziert sich in seinem offenen Brief, mit dem er sich in die Bowles/ Pope Controversy einmischte, auch vom dominierenden Gegenstand der zeitgenössischen sublimen Dichtung: der Natur.65 Bowles hatte 1806 eine zehnbändige Ausgabe der Werke Popes herausgegeben, zu der er ein Nachwort verfaßte. Seine »Concluding Observations« kritisieren sowohl den moralischen Charakter des Schriftstellers Pope als auch die poetische Eigenart seiner Texte, indem Bowles explizit die Natur als Gegenstand der Dichtung über die Kunst stellt: »I presume it will readily be granted, that ›all images drawn from what is beautiful or sublime in the works of NATURE, are more beautiful and sublime than any images drawn from ART‹; and that they are therefore, per se, more poetical.« (CMP, 400) Zur Natur, die der »higher species of Poetry« als Sujet mehr entspräche als alles Künstliche, zählt Bowles die innere und die äußere Natur – die »Passions of the human heart«, die er den »incidental and transient MANNERS« (CMP, 401) gegenüberstellt, wie auch den Wald, der poetischer als ein kultivierter Garten sei. Bowles’ Argument schließt an die ästhetische Debatte um das Erhabene an, deren Befürworter in der Natur den geeigneteren Gegenstand der Kunst sahen, um Begeisterung und große, sublime Erregungen hervorzurufen. Durch die Erhabenheitsdebatte wurde die Natur als Gegenstand der Kunst gewonnen, wie zunächst in der Umdeutung der Alpen zum neuen Landschaftsideal, dessen Wahrnehmung nicht auf dem vertrauten Vergnügen basiert wie der

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Siehe dazu Martin Vöhler, Art. ›Longin‹. In: Oliver Schütze (Hrsg.), Metzler-Lexikon antiker Autoren. Stuttgart, Weimar 1997, S. 411–413, hier S. 412. Zu Byrons Wertschätzung von Pope vgl. auch Kap. I. 3.3. James Chandler, der die Kontroverse um Pope, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckte und in die sich zahlreiche Autoren einmischten, im Kontext des Nationalen und der Kanonbildung analysiert, verweist en passant auf die Bedeutung des Sublimen in der Debatte (Chandler, »The Pope Controversy«, S. 498).

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Garten Italiens, sondern auf der neuen Erfahrung der Erschütterung und dem angenehmen Schrecken.66 Die Überlegungen zum Erhabenen in John Dennis’ Grounds of Criticism gehen dementsprechend zurück auf seine persönlichen Eindrücke und Erfahrungen bei der Überquerung der Alpen 1688.67 Die ästhetische Hierarchisierung zwischen dem Sublimen und dem Schönen wurde in der Folge zusätzlich mit der Rousseauistischen Kulturkritik verschränkt, die in der wilden Natur das Unverfälschte sah und dagegen mit der künstlichen Zivilisation das verdorbene Wesen des feudalen Systems assoziierte.68 Gegen dieses Verständnis von Natur, das für Byron die »two Sects of Naturals« (CMP, 156) in der zeitgenössischen englischen Dichtung vertreten, opponiert seine Schrift Letter to John Murray, die den Charakter des Artifiziellen und Gemachten der Kunst, also den Aspekt der poiesis akzentuiert. Byron bezeichnet die zeitgenössische Naturschwärmerei spöttisch als »›Babble of green fields‹« (CMP, 136) oder »trash of trees« (CMP, 146) und verurteilt sie als Heuchelei, die in der Aufforderung mündet: »Away then with this cant about nature— […] a good poet can imbue a pack of Cards with more poetry than inhabits the forests of America.« (CMP, 146) Byrons Stellungnahme gegen das Sublime ist nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch motiviert. Seine Texte zeigen eine kritische Distanz zur überwältigenden Affektionskraft des Erhabenen, dessen politische und ethische Dimension mit seinem Effekt auf den Rezipienten zusammenhängen. Carsten Zelle hebt an der Schrift des Pseudo-Longinus die Betonung der »affektiv ›erschlagenden‹ Wucht des Erhabenen« hervor, die gegenüber der ethischen Redefunktion, die sich an den Verstand wendet, vom antiken Autor vorgezogen werde.69 Charakteristisch für die erhabene Rede nach Pseudo-Longinus sei, Zelle zufolge, ihre Überwältigung des Lesers – die Macht und Gewalt, mit der sie ihn unwiderstehlich mitreißen würden. Gegen eine solche Beeinflussung und Ohnmacht, die ›Unfreiheit‹ in der Rezeption verursacht, wendet sich Byron und bezieht statt dessen für die ethische Dimension der Literatur Stellung. »In my mind«, so heißt es in seinem Letter to John Murray, »the highest of all poetry is Ethical poetry—as the highest of all earthly objects must be moral truth« (CMP, 143). Diese Art der Literatur – »Ethical poetry—or Didactic poetry—or by whatever name you term it« (CMP, 143) – sieht Byron von Pope repräsentiert, »the moral poet of all Civilization« (CMP, 150). Er sei der einzige Dichter, der niemals schockiere (»He is the only poet that never shocks« (CMP, 151), was im Kontext der Debatte um das Erhabene und seiner Wirkung auf den Leser eine neue Bedeutung im Sinne von ›erschüttern‹ gewinnt.

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Vgl. Zelle, Die doppelte Ästhetik, S. 115. Vgl. dazu Zelle, ›Angenehmes Grauen‹. S. 85–89. Vgl. Zelle, ›Angenehmes Grauen‹, S. 97ff. Zelle, ›Angenehmes Grauen‹, S. 50.

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Dem Sublimen stellt Byron in seinen eigenen literarischen Texten nicht, wie vor dem Hintergrund der zeitgenössischen literaturtheoretischen Diskussion zu erwarten wäre, das Schöne, Perfekte und Harmonische entgegen, das er an Pope bewundert, sondern das Menschliche und Soziale. In diesem Kontext steht auch die Gattungsfrage. Der Tragödie und dem Epos werden die ›niedrigen‹ Gattungen entgegengehalten, in denen Pope seine Texte verfaßte: »Pastoral—Passion—Mock-heroic—Translation—Satire—Ethics« (CMP, 151). Auf die Aufforderung seines Verlegers Murray, an Stelle von Don Juan ein großes Werk zu unternehmen, antwortete Byron ihm bekanntlich: »you have so many ›divine‹ poems, is it nothing to have written a Human one?« (BLJ 6, 105) Die Natur und das Natürlich-Organische sowie das Prinzip der Naturnachahmung wiederum werden an den Aspekt der poiesis, der Gemachtheit, verwiesen. Dem entspricht in Byrons fiktionalen Texten die Technik des ›Künstlichmachens‹, der Verfremdung und Sichtbarmachung der Rahmung des Kunstwerks – wie etwa durch metafiktionale Verfahren. Sie verweisen auf die Relativität des ›Gesehenen‹, auf seine Gemachtheit, und dadurch auch auf seine Veränderbarkeit. Darin gründet der ethische Anspruch von Byrons Texten. Das gilt in besonderem Maße für Byrons ottava rima-Texte Beppo, Don Juan und natürlich The Vision of Judgment, dessen Poetik im Hinblick auf die Aspekte aus der Diskussion um das Erhabene nun genauer betrachtet werden soll. 2.4.

Die ironische Destruktion des Sublimen

Byron zieht gegen Southeys dogmatischen Richterspruch in A Vision of Judgement zu Gericht und setzt dabei die doppeldeutige Aufforderung um, die er dem Poeta Laureatus in seinem Text in den Mund legt: »you shall/ Judge with my judgment!« (CPW VI, 343) Das literarische Resultat ist eine abgründige, vernichtende Satire, die eine Dynamisierung von Southeys Vision darstellt, indem sie politische und poetische Werte, Symbole und Zeichen dekonstruiert. Byrons Text vermeidet im Unterschied zu Southeys die autoritäre Definition von Gut und Böse, die auf einem transzendentalen Signifikat beruht, für das Gott oder das Gesetz eintreten können. Vielmehr charakterisiert den gesamten Text eine Ambivalenz, die im Chronotopos der Schwelle eine bildliche Entsprechung findet. Die Handlung des Textes findet sowohl im zeitlichen Übergang zwischen irdischem und himmlischem Leben als auch topographisch ›vor den Toren‹ des Himmels statt, wodurch zugleich ein Moment der Krise inszeniert wird, das auf Wandel hinweist.70 Mit einer terminologischen Differenzierung von Julia Kristeva läßt sich sagen, daß Southeys Vision von einem epischen Monologismus bestimmt ist, die der aristotelischen ›0/1-Logik‹ 70

Vgl. Michail Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik (aus dem Russischen von Michael Dewey). Frankfurt a.M. 1989, S. 198.

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folgt – also einem Denken in binären Oppositionen wie wahr/falsch, gut/ böse. Byrons Vision of Judgment repräsentiert dagegen eine dialogische ›0/2Logik‹, die auf einer karnevalistischen Sprache subversiv-revolutionärer Kräfte basiert.71 Byrons Text ist darauf bedacht, kein autoritäres Urteil über Southeys Moral, Dichtung und Politik zu sprechen; allerdings verhängt er über seinen Gegner Southey eine ›karnevaleske‹ Strafe, indem er ihn dem ›ewigen‹ Gespött der Nachwelt übergibt. Southey beruft sich zwar rhetorisch auf die Tradition Dantes mit seiner Vision: »For to thy mortal sight shall the Grave unshadow its secrets;/ Such as of yore the Florentine saw«, verspricht ihm die Muse;72 aber Byron erneuert und realisiert in seinem Text Dantes Jenseitsvision, indem er wie der exilierte italienische Dichter seine politischen Gegner literarisch ›bestraft‹ und für die zukünftigen Generationen in der ›Hölle‹ festhält. Die histoire des Textes verzichtet ausdrücklich auf eine Verurteilung. Besonders deutlich zeigt sich die Suspension eines Richterspruchs am Schluß des Textes im Hinblick auf das Schicksal von George III. Statt eines pathetischdramatischen Endes wird das ›letzte‹ Gericht durch Zufall und die ›menschliche‹ Schwäche von Saint Peter entschieden. Da Petrus, »who has hitherto been known/ For an impetuous saint« (CPW VI, 344), die Geduld an Southeys Rezitation seiner Verse verliert, kann sich George III. durch die Unachtsamkeit des Torwächters in den Himmel schleichen. Der triumphale Einzug des Königs in den Himmel in Southeys Vision wird in Byrons Vision satirisch konterkariert. Byrons Text endet dennoch mit Southeys ›Strafe‹. Der Dichter stürzt in einen See des heimischen Lake Districts, wo er aber nicht ertrinkt, da sich die Parzen für ihn ein anderes Schicksal aufgehoben haben – »A different web being by the Destinies/ Woven for the Laureate’s final wreath« (CPW VI, 344f.). Southeys Sturz in den See zeichnet die Strophe als grotesk: He first sunk to the bottom—like his works, But soon rose to the surface—like himself; For all corrupted things are buoy’d, like corks, By their own rottenness, light as an elf, Or wisp that flits o’er a morass: he lurks, It may be, still, like dull books on a shelf, In his own den, to scrawl some ›Life‹ or ›Vision‹, As Wellborn says—›the devil turn’d precisian‹. (105; CPW VI, 345)

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Vgl. Julia Kristeva, »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman«. In: Jens Ihwe (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, Frankfurt 1972, S. 345–375. Southey, A Vision of Judgement, S. 215. Southeys Text bezieht sich mit »the Florentine« auf Dante, den Florentiner.

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Southey übersteht den Sturz in den See, da er zwar nach unten sinke, aber wie alles Verdorbene oder Korrumpierte wieder an die Oberfläche treibe, einem Korken vergleichbar, der durch seine Verrottung leicht wie eine Elfe über dem morastigen Sumpf umherschwirrt. Gegenwärtig, mutmaßt der Sprecher, ›lauere‹ Southey wieder in seiner Höhle, um eine Biographie oder Vision zu kritzeln; er gleicht insofern langweiligen Büchern, die auf einem Regalbrett verstauben. Der Teufel, so der abschließende intertextuelle Kommentar, der mit Wellborn eine Komödienfigur von Philip Massinger aufruft, habe sich in einen pedantischen Puritaner verwandelt. Neben dieser satirischen Charakterisierung, die als eigentliche Strafe Southeys das Leben in der trostlos-monotonen ›Hölle‹ des Lake Districts ausweist, zielt vor allem die Dialogizität der Passage mit ihren mythologischen und literarischen Intertexten auf die vernichtende ›Exekution‹ des Poeta Laureatus. Southeys Sturz in den See wird durch den Vergleich mit der mythologischen Figur des Phaeton parodiert, der in seiner Vermessenheit dachte, den Sonnenwagen seines Vaters Helios lenken zu können. Wie der Text suggeriert, scheitert Southey zwar vergleichbar mit Phaeton kläglich bei seiner anmaßenden Aktion, darüber hinaus besitzt er jedoch nicht die tragisch-existentielle Dimension des Mythos – bekanntlich vernichtet Phaetons Hybris fast die gesamte Erde, woraufhin Zeus ihn mit einem Blitz tötet, und er in den Fluß Eridanos stürzt. Den Abstand zum tragisch-erhabenen Mythos verdeutlicht Southeys bequemer Fall in den See – »the Poet […] fell like Phaeton, but more at ease,/ Into his lake, for there he did not drown« (CPW VI, 344). Einen weiteren Intertext stellt John Miltons Paradise Lost dar. Betrachtet man den Fall des Dichters vor der Folie von Miltons Epos, wird Southey zu einer komischen Kopie Satans. Milton schildert in seinem berühmten Epos Satans Sturz in die ewige Hölle in erhabener Sprache, Bildlichkeit und Diktion: Him the almighty power Hurled headlong flaming from the ethereal sky With hideous ruin and combustion down To bottomless perdition, there to dwell In adamantine chains and penal fire [...].73

Die göttliche Allmacht, die bei Milton Satan in die ewige Verdammnis schleudert, wo er sein Dasein in steinernen Ketten und im Höllenfeuer fristet, kontrastiert anschaulich mit Southey-Satans Sturz in Byrons Text; sowohl mit dem menschlich-ungestümen Saint Peter, der den banalen Fall des Poeta Laureatus auslöst als auch mit seiner jämmerlichen Ursache, der Rezitation von Southeys Versen: »Saint Peter, who has hitherto been known/ For an impetuous saint,

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John Milton, Paradise Lost. Hrsg. von Alastair Fowler. London 1971, S. 45 (1. Buch, V. 44–48).

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upraised his keys,/ And at the fifth line knock’d the Poet down […].« (CPW VI, 344) Wie Satans Schuld bei Milton ist Southeys Vergehen in Byrons Text seine Hybris, also die kolossale Eitelkeit den Engeln und Teufeln seine Dichtung vorzutragen, die ihn in die ›ewige Verdammnis‹ des Lake Districts stürzt. In bewußter komischer Distanz zum religiösen Epos besteht Southeys Strafe in Byrons Vision of Judgment darin, im Lake District als pedantisch-puritanischer Satan in den ›ewigen Ketten‹ intoleranter Beschränktheit zu leben.74 Die Erwähnung des »morass« in Strophe 105 schließlich verweist auf einen weiteren Intertext, und zwar auf Dantes Divina Commedia, in der sich im kotigen Morast des achten Höllenkreises die Dirnen und Schmeichler aufhalten. Dante sieht dort einen seiner Zeitgenossen, den Guelfen Alessio Interminei von Lucca, der ihm bekennt: »Das Schmeicheln hat mich hier hereingetrieben,/ An dem sich meine Zunge nie gesättigt.«75 Eine Lesart des fünften Verses der vorletzten Strophe von Byrons Vision of Judgment zeigt, daß anstatt »o’er a morass: he lurks« zunächst »oer a Morass—the Guelph« (CPW VI, 344) stehen sollte, was die Anspielung auf Dantes Komödie durch die Erwähnung des Guelfen eindeutig belegt. Die intertextuellen Referenzen der letzten Strophen von Byrons Vision of Judgment zeigen die Vielschichtigkeit der poetischen Subversion und Verkehrung von Southeys Vision des letzten Gerichts, die sich einer autoritären Definition von Gut und Böse im Sinne einer ›0/1 Logik‹ verweigert. Dennoch vollzieht Byrons Text eine literarische Exekution seines politischen und ästhetischen Gegners Southey. Wie gezeigt wurde, kann vor dem Hintergrund von Miltons Paradise Lost Southey mit Satan parallelisiert werden, wobei der englische Lake Poet allerdings in einen lächerlich-profanen Kontext gestellt wird. Byron greift so den Vorwurf aus Southeys »Preface« auf, daß er einer satanischen Schule angehöre, und kehrt ihn parodistisch um, so daß der Poeta Laureatus selbst als komischer Satan figuriert, der bei Tee und Kerzenlicht in der ›Hölle‹ des Lake Districts sitzt.76 Southeys Androhung ewiger Höllenqualen, die jeder neue Leser unmoralischer Texte für den schreibenden Sünder bedeute, trifft nun ihn selbst: Solange Byrons The Vision of Judgment gelesen wird, befindet sich der Autor Southey in der Ewigkeit seiner banalen ›Hölle‹. Im Hinblick auf die Technik der Umkehrung von Southeys Jenseitsvision in Byrons The Vision of Judgment ist ein Brief Byrons an John Murray beach74

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»There is a narrowness in such a notion/ Which makes me wish you’d change your lakes for ocean« (CPW V, S. 4) heißt es in der Dedication von Don Juan, in Anspielung auf die geographische Beschränktheit der Dichter des Lake District, die sich Byron zufolge in ihrer poetischen Eitelkeit und in ihrem fehlenden kosmopolitischen Geist spiegle. Vgl. auch Sathans Kommentar über Southey in The Vision of Judgment: »A sillier fellow you will scarce behold,/ Or more conceited in his petty sphere [...].« (CPW VI, S. 339) Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie (aus dem Italienischen von Hermann Gmelin). Mit Anm. u. einem Nachwort von Rudolf Baehr. Stuttgart 1993, S. 72 (Gesang 18, V. 125f.). Vgl. dazu die Strophen 86 und 87 (CPW VI, S. 339).

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tenswert, in dem er seinem Verleger erläutert, daß der Text im Stil Caravaggios verfaßt sei – »in my finest ferocious Caravaggio style« (BLJ 8, 240). In der Forschung wurde in diesem Kontext bereits verschiedentlich auf die Technik des Chiaroscuro hingewiesen, für die der italienische Barockmaler Caravaggio (1573–1610) bekannt ist. Byron, so bemerkt etwa Emrys Jones, habe in seinem Text den Tenebrismus sowohl in grellen visuellen Kontrasten und in schnellen Tonwechseln umgesetzt als auch in einem weiter gefaßten psychologischen Sinn in der Gleichzeitigkeit von Oberfläche und Tiefe, Witz und Abgründigkeit.77 Jones geht allerdings nicht darauf ein, daß der Verweis auf Caravaggio auch insofern für Byrons Text interessant ist, als der italienische Barockmaler sich in seinen Darstellungen nicht an einer idealen, übersinnlichen, sondern an der diesseitigen Welt orientiert.78 Für den ›Naturalisten‹ Caravaggio ist die Humilisierung großer Themen charakteristisch, was sich beispielhaft in seinem Bild des griechischen Bacchus zeigt: die mythologische Gestalt tritt nicht als überhöhte Figur, als antiker Gott auf, sondern erscheint in Gestalt und Kleidung der Zeitgenossen.79 Caravaggios realistische Bildsprache zeichnet sich durch Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit aus und vermeidet übertriebenes Pathos. Die Technik der Hell-Dunkelmalerei läßt das Dargestellte zum einen besonders sinnlich und realistisch erscheinen, zum anderen aber auch bewegt. Wenn Byron also von seinem wilden Caravaggio-Stil spricht, so bedeutet das hinsichtlich seiner Invektive gegen Southey zum einen die Humilisierung des Stoffes und zum anderen die Dynamisierung in der Darstellung – Aspekte, die als direkte Replik sowohl auf das erhabene Pathos als auch auf die kritisierte Schwerfälligkeit von Southeys Text verstanden werden können. Byrons Vision of Judgment setzt zur Humilisierung und Dynamisierung seines Textes Verfahren der karnevalisierten Literatur ein, die sich mit Michail Bachtin als Familiarisierung, Exzentrik, Profanierung und karnevaleske Mesalliancen beschreiben lassen.80

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Vgl. Emrys Jones, »Byron’s Visions of Judgment«. In: MLR 76 (1981), S. 1–19, hier S. 19. Als charakteristisch für Caravaggios Stil im Hinblick auf Byrons Vision of Judgment sieht auch Frederick Beaty die unaufgelöste Spannung zwischen hell und dunkel, heilig und profan, ernst und lächerlich (vgl. Frederick L. Beaty, Byron the Satirist. Illinois 1985, S. 195). Dieter Berger verweist auch auf Byrons Aussage zum Caravaggio-Stil seines Textes und sieht ihn als Beleg, daß seine Vision sich wie die Gemälde des italienischen Malers auf die reale Welt richte, woraus er allerdings keine weiteren poetologischen Parallelen zieht. Bemerkenswert ist Bergers Frage, wie zu dieser Orientierung am Wirklichen Byrons Verehrung für Pope passe (vgl. Berger, »›Worlds past, present, or to come‹: Romantic Visions of Possible Worlds and Byron’s The Vision of Judgment«. In: Bode/Neumann (Hrsg.), Re-Mapping Romanticism, S. 65–77, hier S. 77) – eine Frage, die sich mit der hier vorgelegten Lesart beantworten läßt. Vgl. Lexikon der Kunst. Malerei, Architektur, Bildhauerkunst. Bd. 3: s.v. »Caravaggio«. 12 Bde. Erlangen 1997, S. 99–103. Zum Begriff der karnevalisierten Literatur sowie zu den Kategorien des karnevalesken Schreibens vgl. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 137ff.

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Das Erhabene wird in The Vision of Judgment auf das Alltägliche, Gewöhnliche, das Heilige auf Weltliches, das Ernste auf das Komische, das Abstrakte auf das Partikuläre und Besondere zurückgeführt, wobei groteske Effekte entstehen. Der Text bricht dezidiert mit Konventionen des erhabenen Stils: Statt mit dem Anruf der Musen, der im Epos den Sprecher einführt und autorisiert, beginnt Byrons Text mit einem camera-eye-zoom auf Saint Peter und das rostige Schloß der himmlischen Pforte; der Aufschwung zu sublimer Größe wird durch die Betonung materieller Aspekte ironisiert. Das kann die Beschreibung des Auftritts von Sathan verdeutlichen. In Strophe 24 erfolgt die Beschreibung des Widersachers in Kategorien wie Dunkelheit, Macht, Unbestimmtheit und Unendlichkeit, die nach Edmund Burke die Stimmung des Erhabenen erzeugen: 81 But bringing up the rear of this bright host A Spirit of a different aspect waved His wings, like thunder-clouds above some coast Whose barren beach with frequent wrecks is paved; His brow was like the deep when tempest-tost; Fierce and unfathomable thoughts engraved Eternal wrath on his immortal face, And where he gazed a gloom pervaded space. (24; CPW VI, 319f.)

Dagegen löst sich in Strophe 25 bei der Konfrontation mit der Körperlichkeit des allzu menschlichen Saint Peter das Sublime sukzessive auf: As he drew near, he gazed upon the gate Ne’er to be enter’d more by him or sin, With such a glance of supernatural hate, As made Saint Peter wish himself within; He potter’d with his keys at a great rate, And sweated through his apostolic skin: Of course his perspiration was but ichor, Or some such other spiritual liquor. (25; CPW VI, 320)

Der übernatürliche Haß von Sathans Blick, als er am Himmelstor eintrifft, versetzt Saint Peter in Unruhe – er zeigt menschliche Regungen, wenn er hastig mit seinen Schlüsseln hantiert und in seiner ›apostolischen Haut‹ zu schwitzen beginnt. Diese körperlich-menschliche Reaktion wird im ersten Vers des abschließenden Reimpaars der Stanze zwar wieder eingeschränkt – denn der Schweiß des himmlischen Protagonisten sei Götterblut (»ichor«). Die Anspie81

Vgl. Edmund Burke, A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, and other Pre-Revolutionary Writings. Hrsg. von David Womersley. London, New York 1998, S. 101–117.

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lung auf Homers Begriff des Ichor aus der Ilias wird jedoch erneut profaniert durch den Reim des nächsten Verses, der auf »ichor« »liquor« reimt, was sowohl ›Flüssigkeit‹ als auch ›Spirituose‹ bedeuten kann. Aber nicht nur semantisch wird das Erhabene auf eine banale, menschliche Ebene gebracht, sondern auch sprachlich-stilistisch. Das hohe Vokabular wird zunehmend von Kolloquialismen und Füllwörtern abgelöst wie »such«, »some such other«, »potter’d«, »at a great rate«. Zugleich wechselt der Tonfall von ernster Diktion zum Plauderton (»made Saint Peter wish himself within«, »Of course«). Die abstrakten Verben und Adjektive, die Sathans sublimes Auftreten charakterisieren, kontrastieren darüber hinaus mit den konkreten, die das ›menschliche‹ Verhalten von Saint Peter beschreiben. Unterstützt wird die Bewegung vom Sublimen zum Humanen auch klanglich. Während der letzte Vers von Strophe 24 mit den Wörtern »gazed« – »space« einen nahezu reinen Zäsurreim an den prominenten Stellen (Mitte und Ende) aufweist, finden sich in Strophe 25 zwei Schlagreime (»him« – »sin«; »great« – »rate«), die den haßerfüllten Blick Sathans komisch konterkarieren. Auch die plaudernden Digressionen des Sprechers haben den Effekt einer ›Humanisierung‹, indem sie die histoire des Textes immer wieder unterbrechen und dadurch jeden Aufschwung ins Pathos des Sublimen verhindern. Die karnevalistischen Verfahren des Textes in The Vision of Judgment sind nicht nur Mittel der Parodierung und der Satire. Sie konfrontieren die Ästhetik des Sublimen mit dem Menschlich-Urbanen, das für die »Ethical poetry« (CMP, 143) charakteristisch ist. Die metafiktionalen Verfahren des Textes wiederum dienen dazu, den Anspruch auf absolute Gültigkeit, auf moralische und religiöse Autorität, zu beschränken und statt dessen auf die Perspektivität und Bedingtheit, die Fiktionalität des Textes zu verweisen. Das zeigt etwa ein poetologischer Kommentar des Sprechers, der auf die zahlreichen irdischen Vergleiche seiner Dichtung hinweist: My poor comparisons must needs be teeming With earthly likenesses, for here the night Of clay obscures our best conceptions, saving Johanna Southcote, or Bob Southey raving. (28; CPW VI, 321)

Der Grund für die vielen »earthly likenesses« in seinen Versen sei die Verdunkelung der besten Ideen – »best conceptions« – durch die tönerne Nacht. Metaphorisch wird hier die körperliche Beschaffenheit des Menschen (»night/ Of clay«) verantwortlich gemacht für den Mangel an göttlichen Eingebungen. Auch hier werden wieder Konzepte aus der ästhetischen Debatte um das Erhabene wie die metaphysische Inspiration aufgegriffen und parodiert. Denn ›conception‹ spielt nicht nur wörtlich auf die Behauptung der mystisch-religiösen Schwärmerin Johanna Southcote an, mit einem göttlichen Wesen schwanger zu 213

gehen, sondern verweist in der Bedeutung von ›Empfängnis‹ metaphorisch auf das modische Geniegebaren von Byrons Zeitgenossen. In diesem Zusammenhang steht ebenso die Charakterisierung von Southeys Dichtung als »raving« (›wahnsinnig‹, ›phantasierend‹), die den produktionsästhetischen Aspekt des Sublimen, den Enthusiasmus bzw. die Entrücktheit, abwertet, indem sie ihn als Zeichen von Verrücktheit und Wahnsinn deutet. Der exzessive Gebrauch von Vergleichen, den »poor comparisons«, wie es im Zitat oben heißt, ist generell ein auffälliges Stilmittel von Byrons ottava rima-Texten, das auf die ästhetischen Prinzipien des Erhabenen antwortet. In The Vision of Judgment findet sich ein besonders prägnantes Beispiel für die Technik der Anhäufung von Vergleichen bei der Beschreibung von Michaels Reaktion auf die Ankunft von Sathans Zeugen, die gegen George III. aussagen sollen: When Michael saw this host, he first grew pale, As angels can; next, like Italian twilight, He turned all colours—as a peacock’s tail, Or sunset streaming through a Gothic skylight In some old abbey, or a trout not stale, Or distant lightning on the horizon by night, Or a fresh rainbow, or a grand review Of thirty regiments in red, green, and blue. (61; CPW VI, 331)

Die Verfärbung von Michaels Gesicht beim Anblick von Sathans »›hell broke loose‹« (CPW VI, 330) wird nacheinander verglichen mit einem italienischen Dämmerlicht, einem Pfauenschwanz sowie mit Abendlicht, das durch ein gotisches Fenster strömt; des weiteren mit einer frischen Forelle, einem Wetterleuchten, einem Regenbogen und schließlich mit einer Parade von dreißig verschiedenfarbigen Regimentern. Dieter Berger, der hier von einem »heap of metaphors« spricht, bemerkt zu Recht, daß die Trope durch ihren übermäßigen Gebrauch nicht die Illusion verstärkt, sondern lächerlich wird.82 Obwohl Metapher und Vergleich als »gleichursprüngliche Sprachbilder« gelten und auch Berger nicht zwischen den beiden Tropen unterscheidet, ist eine genauere Differenzierung hier poetologisch aufschlußreich.83 Die Struktur des Vergleichs zeichnet sich durch die Verwendung des Vergleichspartikels ›wie‹ aus – in der zitierten Strophe stehen dafür »like« und »as«. Das Vergleichen stellt einen Bezug zwischen Verschiedenem her, verweist dabei aber gleichzeitig auf die wesentliche Differenz des Verglichenen. Insofern wird der Vergleich vor allem von Autoren vermieden, die in der Dichtung eine verwandelnde Schöp82 83

Berger, »›Worlds past, present, or to come‹«, S. 76. Fritz Peter Knapp, Art. »Vergleich«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, S. 755–757, hier S. 756.

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fung sehen, deren Sprache eine mystische Einheit von Ding und Bedeutung herstellt. In diesem Zusammenhang sind die Ausführungen Gottfried Benns über den Vergleich in der Lyrik interessant: »Dies Wie ist immer ein Bruch in der Vision, es holt heran, es vergleicht, es ist keine primäre Setzung.«84 Benn führt in seiner Rede über »Probleme der Lyrik« weiter aus, daß »ein WIE immer ein Einbruch des Erzählerischen, Feuilletonistischen in die Lyrik ist, ein Nachlassen der sprachlichen Spannung, eine Schwäche der schöpferischen Transformation.«85 Trotz des zeitlichen Anachronismus ist Benns Charakterisierung des Vergleichs hilfreich, da mit ihr die grundsätzliche Eigenheit der Trope in Byrons ottava rima-Texten exakt beschrieben werden kann, allerdings ohne die pejorative Deutung, die er dem Vergleich zuspricht. Der beabsichtigte Effekt in The Vision of Judgment ist gerade die Zerstörung der Vision, also der »Bruch in der Vision«, den Benn kritisiert; der paradiesischen Sprache der Einheit mit ihren primären Setzungen stellt Byrons Text die irdische Sprache der Differenz und Vielfalt entgegen. In dem genannten Beispiel wird die Wirkung durch die übermäßige Häufung von Vergleichsobjekten zusätzlich verstärkt. Das Sublime wird in Byrons Vision of Judgment, so läßt sich festhalten, sowohl auf der Gegenstandsebene als auch auf der formalen Ebene konterkariert. Das Autormodell, das mit der Ästhetik des Sublimen korrespondiert, ist das des vates, das für Byron Southey und die englischen Romantiker vertreten. Dem ›Seher‹, dessen Vision auf Inspiration beruht, stellt Byron in The Vision of Judgment einen Autor gegenüber, der sowohl politisch als auch ästhetisch demokratischen Prinzipien verpflichtet ist. Repräsentiert wird er in Byrons Text von der Figur des anonymen Publizisten Junius, der auf seinen Namen als Symbol für Identität, Autorität, Macht und Ruhm verzichtet. Dazu paßt, daß sich Junius dem Identitären entzieht – die Charakterisierung seiner Person kulminiert in der Beobachtung, daß er sich einsinnigen Zuschreibungen sofort entziehe – »[t]he moment that you had pronounced him one,/ Presto! his face changed, and he was another« (CPW VI, 336). Junius ist insofern keine Substanz, sondern ein Schatten, ein »mighty Shadow of a Shade« (CPW VI, 337). Seine nicht fi xierbare Identität problematisiert die Gleichsetzung der Figur des ›Autors‹ mit Kategorien wie Ursprung, Gesetz und Autorität, die Werte wie Gut und Böse eindeutig definiert. Der Sprecher von Byrons Text legitimiert seine Vision nicht durch Inspiration – sein ›Sehen‹ basiert vielmehr auf dem technischen Hilfsmittel des Teleskops, auf das er in der letzten Strophe den Leser hinweist – »to come to the conclusion/ Of this true dream, the telescope is gone/ Which kept my optics free from all delusion« (CPW VI, 345). Der Text endet aus dem banalen

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Gottfried Benn, »Probleme der Lyrik«. In: Gesammelte Werke in vier Bänden. Hrsg. von Dieter Wellershoff, Bd. 1: Essays, Reden, Vorträge. 9. Aufl. Stuttgart 1997, S. 504. Benn, »Probleme der Lyrik«, S. 504.

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Grund, daß das Teleskop weg ist, das dem Sprecher eine täuschungsfreie Sicht ermöglichte. Der Begriff ›delusion‹ im Sinne von ›Wahnvorstellung‹ spielt auf das enthusiastische ›Sehen‹ des vates an, das durch das optische Gerät profaniert und auf einen menschlichen Maßstab reduziert wird. Zugleich unterstreicht das Teleskop den Perspektivismus in der Darstellung, den point of view, der die Autorität der Vision, wie Susan Wolfson schreibt, unterminiert.86 Wenn Byrons Text dennoch auf die Wahrheit des ›Gesehenen‹ hinweist, wie in den Formulierungen »true dream« (CPW VI, 345) oder »true narrative« (CPW VI, 323),87 dann weist die Bezeichnung als Traum oder Erzählung sie gleichzeitig als fiktionale Konstruktion aus. Die Erzeugung des erhabenen Pathos, für das sich besonders die dunkle Figur des Satan eignet, wie anhand von Miltons Epos zu sehen war, wird in Byrons Vision of Judgment durch profanierende und materialisierende Verfahren verhindert. So erklärt sich die Bezeichnung des dämonischen Gegenspielers Gottes als »Sathan«.88 Die von der korrekten Rechtschreibung abweichende, deformierende Schreibweise des himmlischen Rebells mit ›th‹ erzeugt unwillkürlich Komik und ist Byrons Verballhornung des Wortes ›enthusiasm‹ als »entusimusy« (BLJ 5, 218) vergleichbar. Das orthographische Differenzmerkmal macht zugleich auf einen wichtigen Aspekt der Repräsentation aufmerksam. Die Irritation in der Schreibweise extrapoliert die Materialität der Sprache, die nicht als durchsichtiges Fenster Wirklichkeit abbildet – dem Leser tritt nicht Satan entgegen, sondern sein textuell geschaffenes Ab-Bild. Legitimiert durch die übernatürliche Inspiration, stellt Southeys Dichtung das Undarstellbare dar. Byron kritisiert diese Praxis im Vorwort seines Textes und betont, daß seine Vision sich nicht anmaße, Gott darzustellen – »the person of the Deity is carefully withheld from sight, which is more than can be said for the Laureate, who hath thought proper to make him talk, not ›like a school divine‹, but like the unscholarlike Mr. Southey« (CPW VI, 311). Tatsächlich rechtfertigt in Southeys Vision of Judgement Gott die Errungenschaften der Regentschaft von George III. mit den lockeren Worten »Well done,/ Good and faithful servant!«89 Byrons Hinweis auf die Beschränkung seines Textes, der in der Forschung als Ausdruck des religiösen decorum gelesen wurde,90 muß in dem umfassenderen Zusammenhang von Fragen der poetischen Repräsentation und der ästhetischen Kritik an der Literatur des Erhabenen gesehen werden.

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Vgl. Wolfson, »The Vision of Judgment and the visions of ›author‹«, S. 175. Meine Hervorhebungen, A.B. Die historisch-kritische Ausgabe des Textes von Jerome J. McGann und Barry Weller stellte Byrons Schreibweise »Sathan« wieder her, die in früheren Editionen zu ›Satan‹ angepaßt wurde. Southey, A Vision of Judgement, S. 229. Vgl. etwa Rutherford, Byron. A Critical Study, S. 277.

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Byrons Kritik an den dichtungsästhetischen Prämissen des Sublimen und ihrer Umsetzung in Southeys Dichtung richtet sich des weiteren auf den Mangel an Handlung, Bewegung und Lebendigkeit der Darstellung. In diesem Kontext steht die Schilderung von Southeys Versuch, vor dem himmlischen Publikum aus seiner Vision zu rezitieren – »stuck fast with his first hexameter,/ Not one of all whose gouty feet would stir.« (CPW VI, 340) Er bleibt in den ›gichtigen‹ Füßen seines ersten Hexameters stecken, den er als innovatives episches Versmaß in die englische Dichtung einführen wollte.91 Das Publikum flieht, »ere the spavin’d dactyls could be spurr’d/ Into recitative« (CPW VI, 340). Southeys ›Pegasus‹, so spottet Byrons Vision of Judgment, leidet an der Gicht und an der Spat-Krankheit (»spavin’d«), deren Kennzeichen die Lahmheit ist – sein ›geflügeltes‹ Pferd kann sich deswegen nicht bewegen. Dem schwerfälligen Versmaß des Hexameters, das im Englischen, wie Southey selbst in seinem Preface apologetisch kommentiert, schwierig umzusetzen ist, steht der flexible, schnelle Rhythmus der ottava rima-Stanze gegenüber, der durch das abschließende Reimpaar eine zusätzliche Beschleunigung und Pointierung erhält. Der Charakter des Statischen von Southeys epischem Gedicht wird durch die mangelnde Handlung und die Tendenz zu Abstraktion und Nominalstil noch verstärkt. Im Unterschied dazu ist Byrons Text im wilden Stil Caravaggios reine Handlung und Bewegung, selbst in den Digressionen. Das betont auch Alastair W. Thomson, wenn er schreibt: »Byron’s Vision is all action.«92 Thomson verweist auf eine entsprechende Bemerkung Goethes, daß »keine Flickwörter im Gedichte« seien, die er 1829 gegenüber Henry Crabb Robinson über Byrons Vision of Judgment geäußert haben soll. Das Unbestimmte, Abstrakte in Southeys Vision wird zum Bestimmten und Konkreten in Byrons »optics« (CPW VI, 345), was von der minimalen, aber bedeutungstragenden Verschiebung vom unbestimmten zum bestimmten Artikel im Titel des Textes unterstrichen wird: A Vision of Judgement wird zu The Vision of Judgment. Abstraktion und Bewegungslosigkeit, so Byrons Kritik an Southeys Dichtung, würden sich mit Stagnation, Intoleranz und Unfruchtbarkeit verbinden, was auch schon die Dedication zu Don Juan betonte. Über Southey heißt es dort, er würde alle anderen ›trällernden Vögel‹ als Poeta Laureatus überragen wollen und dabei wie ein fliegender Fisch abstürzen: »And tumble downward like the flying fish/ Gasping on deck, because you soar too high, Bob,/ And fall, for lack of moisture, quite adry, Bob!« (CPW V, 3f.) Die Aspirationen des Dichters werden hier nicht nur durch die Gegenüberstellung der beiden Tiermetaphern – den Höhenflug des Vogels und den Sturz des ›fliegenden‹ Fisches – verspottet, sondern auch durch die sexuelle Anspielung des letz-

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Vgl. Southey, A Vision of Judgement, S. 202. Alastair W. Thomson, »›In my turn‹: Byron’s The Vision of Judgment«. In: English Studies 75 (1994), S. 523–535, hier S. 525.

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ten Verses. Denn als ›a dry Bob‹ wurde im Slang Regency Englands ein Koitus ohne Samenerguß bezeichnet. Die derb-obszöne Anzüglichkeit demonstriert einen von Byrons zentralen Angriffspunkten an Southey – die unfruchtbare Leblosigkeit, die zugleich repräsentativ für den ästhetischen und politischen Stillstand des zeitgenössischen England steht. The Vision of Judgment rückt durch die Verfahren der Exzentrik (ungewohnte Perspektive), Familiarisierung (vertrauter Umgang mit und zwischen dem göttlichen Personal), Profanierung (Aufhebung von Hierarchien) und karnevalistischen Mesalliancen (Verbindung des Entgegengesetzten), mit denen im Text Komik und Dynamik erzeugt wird, in die Nähe der menippeischen Satire.93 Auch Emrys Jones argumentiert, daß Byrons Text in der Lukianischen Tradition stehe, und zeigt Parallelen zu Senecas Ludus de Morte Claudii Caesaris sowie zu Erasmus’ Julius Exclusus auf. »Sehr charakteristisch für die Menippee«, schreibt Michail Bachtin in seinen Ausführungen zu dem Genre, »sind Skandalszenen, exzentrisches Verhalten, unpassende Reden und Auftritte, d.h. jegliche Art, den allgemeingültigen, üblichen Gang der Ereignisse, aufgestellte Normen des Verhaltens und der Ethik, die des Redens eingeschlossen, zu zerstören.«94 Neben diesen Aspekten ist auch die journa listische Aktualität der Themen, die Bachtin als Kennzeichen der menippeischen Satire nennt, für Byrons Vision charakteristisch.95 Julia Kristeva wiederum bemerkt zur menippeischen Schreibweise, daß sich in ihr »die politischen und ideologischen Konflikte des Augenblicks« veräußerlichen.96 Der Bezug auf das Tagesgeschehen verbindet Byrons ottava rima-Text von 1822 mit seiner frühen Literatursatire English Bards and Scotch Reviewers (1808) im Stil der horazischen Diatribe, die zentrale Aspekte der ästhetischen Kritik aus The Vision of Judgment bereits aufweist, wie den Verriß der sublimen Dichtung, die sich an John Dennis’ Betrachtungen zum Erhabenen orientiert (vgl. CPW I, 241). English Bards and Scotch Reviewers ist im Unterschied zu The Vision of Judgment jedoch keine destabilisierende, menippeische Satire, sondern steht vielmehr in der Tradition von satirischen Autoren wie Jonathan Swift und Alexander Pope, die in ihren Texten Mißstände kritisch geißeln, dabei aber zugleich auf die Wiederherstellung von Ordnung und Normen abzielen. Darum geht es auch in dem Versgedicht English Bards and Scotch Reviewers, das die zeitgenössische 93

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Vgl. Jones, »Byron’s Visions of Judgment«, S. 2f. Eine detaillierte Erläuterung von Bachtins Kategorien der karnevalisierten Literatur findet sich bei Jürgen Lehmann, »Ambivalenz und Dialogizität. Zur Theorie der Rede bei Michail Bachtin«. In: Friedrich Kittler/Horst Turk (Hrsg.), Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Frankfurt a.M. 1977, S. 355–380. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 131. »Die letzte Besonderheit der Menippee ist ihre Aktualität, ihr publizistischer Charakter. Sie ist gewissermaßen die ›journalistische‹ Gattung der Antike, die auf das ideologische Tagesgespräch scharf reagiert.« (Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 132) Kristeva, »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman«, S. 368.

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Mode des sentimentalisierenden Geschmacks in der Literatur angreift und mit dem eigenen Text korrigieren will: »A caustic is here offered, as it is to be feared nothing short of actual cautery can recover the numerous patients afflicted with the present prevalent and distressing rabies for rhyming.« (CPW I, 229) Der Brennspiegel (»caustic«) soll die Krankheit der gegenwärtigen Literatur – die Dichtertollwut (»rabies for rhyming«) – kauterisieren, also ausbrennen. Der Vergleich zwischen der frühen Satire English Bards and Scotch Reviewers und The Vision of Judgment verdeutlicht prägnant die Überblendung von ästhetischen und politischen Aspekten sowie die Betonung von Leben und Bewegung in dem ottava rima-Gedicht. Denn der frühe Text weist weder die politische Dimension noch die allumfassende Verkehrung und Infragestellung der Ordnung wie in The Vision of Judgment auf, die mit Renate Lachmann als skandalöses Gegenfest bezeichnet werden kann. Zwar werden in der Figur Southeys die zeitgenössische Politik und Ästhetik angeprangert, aber der Text enthält sich dezidiert eines finalen Urteils über den englischen Dichter, das eine neue Norm etablieren würde. Wie Lachmann in ihrer eingangs schon dargestellten Studie zur Verbindung von Skandal und Fest beschreibt, ist für das Gegenfest nicht das Spiel zwischen Verbot und Überschreitung charakteristisch, bei dem das Gesetz indirekt bekräftigt wird. Wie schon erwähnt wurde, gehe es vielmehr um das Austreten aus der symbolischen Ordnung, um die Durchkreuzung von Bedeutungshierarchien und somit um die Aufgabe der Autorität (des symbolischen Vaters).97 In Byrons Vision of Judgment weist das Jenseits ebenso hierarchische Strukturen auf wie das ›Erdenleben‹, himmlische Gerechtigkeit beruht, so zeigt der Eintritt von George III. in den Himmel, auf Zufall und Willkür.98 »›Let’s hear [...] what he has to say;/ You know we’re bound to that in every way‹« (CPW VI, 340), äußert sich Erzengel Michael über Southeys Auftritt. In Byrons Vision repräsentiert Gott das absolute Gesetz, das ›transzendentale Signifikat‹, das Gut und Böse definiert und zwischen Himmel und Hölle, Engeln und Teufeln unterscheidet. Insofern ist der Himmel in The Vision of Judgment, wie Peter Cochran bemerkt, eine ›Kopie‹ der autoritären und arbiträren Struktur der irdischen gesellschaftlichen Ordnung.99 Seiner These, daß das eigentliche Angriffsziel von Byrons Text Gott ist und nicht George III. oder Southey, kann allerdings nicht zugestimmt werden.100 Denn gerade alle drei Figuren zusammen repräsentieren auf unterschiedlichen Ebenen – Moral, Staat, Gott – die symbolische Herrschaft des Vaters, dessen abso-

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Vgl. Lachmann, »Die Schwellensituation«, S. 312. Auch Frederick Beaty zufolge legt die anthropomorphe Sicht auf die übernatürlichen Wesen die Vermutung nahe, daß im Himmel ebenso launisch regiert werde wie auf der Erde (vgl. Byron the Satirist, S. 192). Vgl. Peter Cochran, »The Vision of Blasphemous Judgment«. In: The Keats-Shelley Review 9 (1995), S. 37–50, hier S. 43 Vgl. Cochran, »The Vision of Blasphemous Judgment«, S. 40.

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lutes Gesetz als autoritas Bedeutung schafft und reguliert sowie auf dieser Basis (ver-)urteilt.101 In diesem göttlichen System sind die einzigen ›Freien‹ Sathans Geister, die zwar wie John Wilkes oder Junius verdammt sind, aber aufgrund ihres schwellenartigen Status sich unabhängig und nach ihrem eigenen Willen bewegen können – »where their inclination/ Or business carries them in search of game,/ They may range freely« (CPW VI, 328). Sie hintertreiben in diesem System, wie Wilkes’ und Junius’ Eigenschaften des Nicht-Identitären, die dichotomen Strukturen einer binär-autoritären Logik. Die tiefere, ›wilde‹ Schicht, auf die durch die Usurpation des offiziellen Festes im skandalösen Gegenfest verwiesen wird, ist, wie Lachmann in ihrer Studie zum Skandal erörtert, die der zukünftigen Revolution.102 Was Lachmann an Texten von Dostoevskij aufzeigt, kann auch für Byrons Vision geltend gemacht werden. Tatsächlich betonte Byron in dem etwa zeitgleich mit The Vision of Judgment entstandenen Appendix zu The Two Foscari, daß eine Revolution in England unausweichlich kommen werde.103 Die enge Verbindung zwischen Ästhetik und Politik bestätigt Byrons Brief an John Cam Hobhouse, in dem er, wie oben bereits bemerkt wurde, die ›Umkehrung‹ von Southeys Vision of Judgment in seinem »ferocious Caravaggio style« ankündigt. Im unmittelbar darauffolgenden Absatz, der in der Forschung bislang nicht im Zusammenhang mit The Vision of Judgment betrachtet wurde, verweist Byron ausdrücklich auf das Herannahen einer Revolution in England: Your infamous Government will drive all honest men into the necessity of reversing it— —I see nothing left for it—but a republic now—an opinion which I have held aloof as long as it would let me.—Come it must—they do not see this—but all this driving will do it—it may not be in ten or twenty years but it is inevitable [...].— —I am so persuaded that an English one is inevitable—that I am moving Heaven and earth—(that is to say Douglas Kinnaird—and Medea’s trustee) to get me out of the funds.— —I would give all I have to see the Country fairly free—but till I know that giving—or rather losing it—would free it— you will excuse my natural anxiety for my temporal affairs. — — (BLJ 8, 240)

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T. J. Matheson zeigt in seiner Untersuchung »›A Strange Mélange of Good and Evil‹: Tolerance and the Moral Nature of Man in Byron’s The Vision of Judgment« (in: Byron Journal 1991, S. 59–70), daß Byrons »aversion to the act of judgement« (S. 59) sich im Text in der Enthaltung eines finalen Urteils zeige, wodurch er sich dem Vorwurf der Heuchelei entziehen könne: »As the poem’s conclusion suggests, any attempt on our part to label a human being as good or evil and pronounce sentence accordingly will be as doomed to frustration as the efforts of these celestials have been. [...] Only by refraining from judgement itself can the poem avoid the charge of hypocrisy; only in not judging the very object it is attacking does the text keep from descending to the level of its adversary and avoid being tarred with its own brush.« (S. 68f.) Vgl. Lachmann, »Die Schwellensituation«, S. 322. Vgl. CPW VI, S. 223f.

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Byron betont Hobhouse gegenüber, daß sein Anliegen der Freiheit Englands gilt, die sich seiner Überzeugung nach in einer Revolution ihren Weg bahnen wird. Der enge Bezug zwischen seinem literarischen Text und der politischen Lage wird durch die Wortwahl bekräftigt. Parallel zur Beschreibung seines ottava rima-Gedichts – »›a Vision of Judgement‹ by way of reversing Rogue Southey’s« (BLJ 8, 240) –, heißt es über die englische Regierung: »Your infamous Government will drive all honest men into the necessity of reversing it«. Dabei wird nicht nur das Verb »reversing« in der Bedeutung von ›umkehren‹, ›aufheben‹ wiederholt, sondern semantisch korrespondiert auch das Substantiv »Rogue«, das Southey als verbrecherischen Gauner charakterisiert, mit dem Adjektiv »infamous«, das die englische Regierung als ehrlos und infam ausweist. Byrons Vision of Judgment verletzt mit seiner skandalösen Umkehrung das decorum, die Grenzen des offiziellen Festes, dessen eindeutige, »strenge Abschließung« überschritten wird: »die Vermischung mit der Realität korrumpiert das Spiel/das Fest«.104 Spiel und offizielles Fest, die sich aufgrund ihrer eindeutigen Trennung vom Alltag und der Wirklichkeit durch eine eigene Form der Freiheit und Selbständigkeit auszeichnen, lassen sich mit der autonomen Kunst vergleichen. Jede Verletzung der engen fiktionalen Grenzen der Kunst läßt sich insofern als Korruption ihrer Autonomie begreifen. Indem Byrons Umkehrung von Southeys Text in die Wirklichkeit eingreift, werden bewußt die Grenzen der autonomen Kunst verletzt, wodurch ihre Selbständigkeit und Freiheitsauffassung in Frage gestellt wird. Wenn, wie Lachmann beobachtet, »die Festordnung aufhört, Abbild, Modellierung, Mimikry und Nachspielen der gesellschaftlichen Ordnung zu sein, vielmehr über die Rampe tritt, den Spielcharakter preisgibt und Ansprüche an die geltende Ordnung erhebt, wird diese […] als verletzbare entblößt, in die eingetreten und eingegriffen werden kann«.105 Die Umkehrung der etablierten Ordnung im skandalösen Gegenfest konnotiert Anarchie, was in Byrons Text zusätzlich durch die poetische Form der ottava rima forciert wird. Schon Frederick Beaty hebt die anarchische Tendenz der ottava rima-Form hervor. Beaty betrachtet sie jedoch als eine Gefahr, die Byron in seinen Satiren durch die Präsenz eines kontrollierenden und vereinheitlichenden Sprechers vermeide.106 Organische Kriterien wie Einheit und Geschlossenheit, die Beaty an Byrons Texte anlegt, versuchen die zentrifugalen Kräfte, die den skandalösen Grenzüberschreitungen inhärent sind, zu kontrollieren, und verstellen den Blick auf ihre politischrevolutionären Implikationen. Das Moment des Eingreifens unterstreicht der nächste Satz des Briefs an Hobhouse, in dem Byron sein aktuelles Verhältnis

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Lachmann, »Die Schwellensituation«, S. 311f. Lachmann, »Die Schwellensituation«, S. 315. Vgl. Beaty, Byron the Satirist, S. 16.

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zur Politik so beschreibt: »If I came home (which I never shall) I should take a decided part in politics—with pen and person—& (if I could revive my English) in the house—but am not yet quite sure what part—except that it would not be in favour of these abominable tyrants.« (BLJ 8, 240) Das Eingreifen in die Politik der Zeit würde sowohl weiterhin durch den Stift (»pen«) als auch konkret mit der eigenen Person im House of Lords erfolgen, um das Land von den ›widerwärtigen Tyrannen‹ zu befreien. Zugleich macht Byron deutlich, daß er sich keiner der existierenden Parteien zugehörig fühlt, indem er betont: »but am not yet quite sure what part«. 2.5.

Literatur als Provokation

In der zeitgenössischen Rezeption von Byrons Vision of Judgment spiegelt sich der skandalisierende Charakter des Textes. Nach seiner Publikation im The Liberal wurde der Herausgeber John Hunt wegen Verleumdung angeklagt, Er wurde zu einer Geldstrafe verurteilt und zur Unterlassung von aufrührerischen Handlungen verpflichtet. Die Anklage lautete auf Diffamierung von George III. und George IV. sowie der Verunglimpfung der Monarchie. Die feindliche Haltung gegen Byrons Vision of Judgment kam aber nicht nur aus reaktionär-konservativen Kreisen, sondern erstreckte sich auch auf die liberalen Zirkel, in denen der Text ebenso wie Byrons Zusammenarbeit mit den Brüdern Hunt für die Zeitschrift The Liberal auf Ablehnung stieß.107 Ein Rezensent der Literary Gazette, möglicherweise der konservative George Croly, der sich in seiner Besprechung der ersten Ausgabe des Liberal über die liberale Verschwörung empört, die die Ordnung des Staates, der Familien und der Individuen gefährde, äußert seinen ›Abscheu‹ und seine ›Verachtung‹ für Byrons Text, aus dem er umfangreiche Beispiele gibt: We affect no cant, we speak the sentiments of no party, but we are as confident as that ›day is day, and night, night‹, that we deliver the judgment of Britain when we assert, that these passages are so revolting to every good feeling, there is not a gentleman in the country who will not hold their author in contempt as unworthy of the character of a gentleman – nor a man of common sense in the country who will not think him a posthumous libeller and assassin – nor a person of common humanity in the country who will not deem him a callous violator of every natural and ennobling sympathy – nor a Christian in the country who will not pity and pray for him.108

Die Rezension ist eine indirekte Replik auf die Vorwürfe Byrons, wenn der Kritiker der Literary Gazette betont, daß die moralischen Werte, die er von

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Vgl. dazu William Harvey Marshall, Byron, Shelley, Hunt and The Liberal. Philadelphia 1960, bes. Kap. IV, S. 90–134. Reiman, The Romantics Reviewed, Part B: Vol. 4, S. 1440.

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dem Text angegriffen sieht, weder Heuchelei (»cant«) seien, noch auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei basierten. Die zitierte Passage zeigt das Bemühen um Objektivität – es sei ein natürliches Urteil der organischen Wertegemeinschaft Englands, den Autor der Vision of Judgment nicht als »gentleman«, sondern als posthumen Verleumder und sogar Mörder zu sehen (»libeller and assassin«). Dagegen fällt Goethes Urteil von 1829 über Byrons ottava rima-Gedicht anerkennend aus, obwohl es auch den exzentrischen, grenzverletzenden Charakter des Textes betont. »Byron’s verses on George the Fourth«, so äußerte sich Goethe in einer Konversation mit Henry Crabb Robinson, »were the sublime of hatred«.109 Und weiter berichtet Robinson von Goethes Lob, das den gewagten Charakter des ottava rima-Gedichts betont: »Lord Byron he declared to be inimitable. Such a one never existed before nor ever will again. Ariosto was not so keck as Lord Byron in the Vision of Judgment.«110 Indem Frederick Beaty in Byrons Vision of Judgment eines der besten Beispiele der englischen romantischen Ironie sieht, die ein »state of indeterminacy or inconclusiveness« charakterisiere, nimmt er dem skandalösen literarischen Text seine politische Sprengkraft, die sich gerade auch durch die Art der verwendeten Ironie als offenkundig erweist.111 Der Forschung zufolge konstituieren sich Skandale im wesentlichen aus zwei unterschiedlichen Momenten: der Enthüllung und der Provokation.112 Der erste Skandalisierungsgestus, die Enthüllung, eignet vorwiegend dem politischen Skandal, weniger dem Kunstskandal. Byron verwendet diese Strategie – vor allem im Preface seines Textes –, um Southey öffentlich als Apostaten zu enthüllen und zu skandalisieren. Die Entlarvung der Heuchelei, des cant, ist, wie gezeigt wurde, für Byron das primäre Angriffsziel, das hinter den transgressiven Normverletzungen seiner ottava rima-Texte steht. Der Bruch mit dem decorum und mit den literarischen, moralischen und politischen Konventionen, so eine der Thesen von Martin Eybl zu einer Theorie des Skandals, wird von der Öffentlichkeit mit dem Verlust der Ehre und des guten Rufs geahndet.113 109

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Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann. Erg. u. hrsg. von Wolfgang Herwig. 4 Bde. Zürich, Stuttgart 1972, Bd. 3: Zweiter Teil 1825–1832, S. 455. Goethes Gespräche, S. 456. Beaty, Byron the Satirist, S. 195. Die Feststellung eines ironischen Universums als Fazit von Byrons Vision of Judgment scheint Beaty aber dann doch ungenügend, wenn er in seiner Analyse abschließend feststellt: »Yet even amidst the contradictions and uncertainties of an ironic universe [...] Byron evidently felt obliged to oppose injustice wherever he found it.« (S. 195) Zum Skandal in der Literatur vgl. allgemein Neuhaus/Holzner (Hrsg.), Literatur als Skandal sowie zu Verfahrensweisen des Skandals Burkhardt, Medienskandale. Vgl. Eybl, »Neun Thesen zu einer Theorie des Skandals«, S. 14. Eybl führt seine Thesen zum Skandal überzeugend am Beispiel von musikalischen Aufführungen aus, besonders anhand der Uraufführung von Arnold Schönbergs Zweitem Streichquartett (fis Moll), op. 10 im Dezember 1908, die im Publikum auf völlige Verständnislosigkeit stieß.

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Auch der Rezensent der Literary Gazette versäumt es nicht, Byron aufgrund seiner ›ekelerregenden‹ (»revolting«) Verstöße gegen die Erwartungshaltung des Publikums in The Vision of Judgment den achtbaren Charakter eines Gentlemans abzusprechen, indem er sich, wie das Zitat oben zeigt, auf die englische Wertegemeinschaft der Ehrenmänner bezieht, ihren »common sense«, ihre »common humanity« und ihre christliche Religion: »[T]here is not a gentleman in the country who will not hold their author in contempt as unworthy of the character of a gentleman«. Das Adjektiv »revolting«, mit dem der Rezensent die Wirkung von Byrons Vision of Judgment auf den Leser beschreibt, unterstreicht in seiner weiteren Semantik das Skandalon, auf das sich seine Kritik bezieht: Denn ›to revolt‹ hat neben ›abstoßen‹ auch die Bedeutung von ›revoltieren‹ im Sinne von ›Akt des Widerstands‹, ›Rebellion gegen die Autorität‹. Die Rebellion gegen die ›Autorität‹ steht hinter dem zweiten Skandalisierungsgestus: der Provokation, bei der soziale, normative und ethische Grenzen überschritten werden. Besonders charakteristisch ist die Provokation für den Kunstskandal, bei dem die etablierte Auffassung von Kunst angegriffen wird. Die Provokation, die von Byrons Text ausgeht, liegt in seiner Verletzung des moralischen, literarischen und politisch-sozialen Normgefüges, wobei die Grenzen der Kunst in Richtung Wirklichkeit und Politik ›skandalös‹ überschritten werden. Durch die bewußte Überschreitung der Diskursgrenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion beziehungsweise zwischen Ästhetik und Politik, die sich im Zuge der Autonomisierung der Kunst herausgebildet haben, will Byrons Text dezidiert ins Leben eingreifen. Die grenzverletzende Skandalisierung, die von der empörten Wertegemeinschaft geahndet wird und auch schwerwiegende Repressionen mit sich führen kann, hat zugleich den intendierten Effekt, Öffentlichkeit zu erzeugen – also tatsächlich ins PolitischSoziale hineinzuwirken. Im Unterschied zu legitimierenden Skandalhandlungen, die auf die Etablierung neuer Normen abzielen, kann Byrons Diatribe gegen Southey innerhalb einer Typologie des Skandals als eine dekonstruktive Skandalisierung bestimmt werden, da sie zwar die Widersprüchlichkeit der gegenwärtigen Normen und Handlungen – die Heuchelei der Gesellschaft: »Cant political—Cant poetical—Cant religious—Cant moral« (CMP, 128) – in aufklärerischer Manier offenzulegen sucht, aber keine neue Ordnung anstrebt: »Deconstructive scandals aim at delegitimating current norms by showing their intrinsic controversial nature. [...] Legitimating scandals openly emphasize the emergence of a new set of norms and values.«114 Byrons Technik der Skandalisierung oszilliert zwischen beiden hier genannten Polen: Ihm gelingt die Destabilisierung etablier-

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Carmelo Mazza, »›In the End, She Does No Harm‹: The Rise and Fall of Cicciolina in the Legitimate Field of Politics«. In: Manfred J. Holler (Hrsg.), Scandal and Its Theory. München 1999, S. 25–44, hier S. 28.

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ter Ordnungsmuster bei gleichzeitiger Offenheit für alternative Strukturen. So zielt die Hyperbolik von The Vision of Judgment auf die generelle Freisetzung revolutionärer Energien bei der Rezeption des Textes. Byrons The Vision of Judgment und Heines Die Bäder von Lukka entstanden im gleichen Jahrzehnt der Restauration – den 1820er Jahren. Sie geben Aufschluß über die Entwicklung einer postromantischen Poetologie zwischen den soziokulturell und literarisch bedeutenden historischen Ereignissen des Wiener Kongresses und der französischen Juli-Revolution. Kaum einer von Heines Texten ist hinsichtlich der Überschreitung von ethischen wie auch ästhetischen Grenzen so skandalös wie das Reisebild Die Bäder von Lukka, das im folgenden Kapitel untersucht werden soll.

3.

Heines Die Bäder von Lukka als Skandalschrift

Das Italienreisebild Die Bäder von Lukka mit seiner Polemik gegen den Dichter August von Platen gilt als einer der Texte, die neben Heines Börne-Buch seinen Ruf als Autor am nachhaltigsten beschädigt haben – die Dimension des hervorgerufenen Skandals übertrifft wahrscheinlich sogar Byrons Angriff auf Southey.115 Schon in den ersten Rezensionen des dritten Teils der Reisebilder, die Die Bäder von Lukka und die Reise von München nach Genua enthielten, beklagten sich die Kritiker über die Schamlosigkeit des öffentlich geführten Heine-Platen-Streits. »Mit solcher schmuzigen Frechheit, mit solcher niederträchtigen Gemeinheit ist wol noch nie ein Streit zwischen Schriftstellern geführt worden, weder bei uns, noch bei andern Nationen«, schrieben die Blätter für literarische Unterhaltung bereits im Januar 1830, wenige Wochen nach der Veröffentlichung von Reisebilder. Dritter Theil.116 Heines Invektive gegen Platen löste nicht nur bei seinen Zeitgenossen einen literarischen Skandal aus, sondern wurde auch immer wieder von der Heine-Forschung des 20. Jahrhunderts moralisch bewertet. Ebenso wie im 19. Jahrhundert stehen die ethische Fragwürdigkeit des Öffentlich-Machens der Intimsphäre und die Legitimität der sozialen Vernichtung des Gegners zur Diskussion.117

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Heine selbst bemerkt über seinen Text zu Varnhagen von Ense: »Keiner fühlt es tiefer als ich selbst, daß ich mir durch das Platensche Kapitel unsäglich geschadet, daß ich die Sache anders angreifen sollte, daß ich das Publikum und zwar das bessere verletzt […].« (HSA 20, S. 384) Zur Vorgeschichte des Platen-Heine-Streits vgl. DHA 7/2, S. 1066–1090 sowie Kap. II. 2.6.3. dieser Arbeit. Umfangreich widmet sich dem Platen-Komplex bei Heine zuletzt die Untersuchung von Andreas Stuhlmann, »Die Literatur – das sind wir und unsere Feinde«. Literarische Polemik bei Heinrich Heine und Karl Kraus. Würzburg 2010, S. 59–156. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 385. Vgl. dazu Jost Hermand, »Heine contra Platen. Zur Anatomie eines Skandals«. In: Rolf Hosfeld, Signaturen – Heinrich Heine und das 19. Jahrhundert. Berlin 1986, S. 108–120, hier S. 108–111.

225

Es zeigt sich, daß die Strategien der Skandalisierung in Heines Text sich als so effektiv erwiesen haben, daß sich bis heute Leser und Kritiker über Heines Angriff und die Diffamierung von Platens sexueller Veranlagung moralisch empören.118 Entgegen Lektüren, die ausschließlich den persönlichen Charakter der Auseinandersetzung zwischen den literarischen Kontrahenten betonen, haben zuerst Günter Oesterle und Jost Hermand auf die größeren politischen Zusammenhänge von Heines Angriff auf Platen hingewiesen.119 Die Reduktion von Heines Polemik auf einen Privatskandal, so Oesterle, übersehe die politischen Implikationen des Angriffs, der in der Tradition der aufklärerischen Ideologiekritik stehe und die Heuchelei der Aristokratie bekämpfe. Die Darstellung des Privatlebens des Grafen sei insofern kein »Diffamierungs-, sondern ein Decouvrierungsmittel, das sich verfemter vorliterarischer Formen bedient, die den offiziell tabuisierten Intimbereich in die Öffentlichkeit einbringen«.120 Hermand wiederum akzentuiert den Zusammenhang zwischen der politischen, ästhetischen und moralischen Intention von Heines Platen-Polemik, um die einseitige persönliche Ebene des vernichtenden Angriffs in einen umfassenderen Rahmen zu stellen. Hermand zufolge repräsentiert Platen für Heine in allen drei Bereichen das Alte im Sinne des Abgelebten, Epigonalen und Verlogenen. In der Person Platens desavouiere Heine die zeitgenössische restaurative Politik, die klassizistisch-nachahmende Ästhetik und die heuchlerische Moral, zu der eben auch die ›Knabenliebe‹ als unzeitgemäßes Vergnügen und als Symptom der Libertinage des Adels zähle.121 Im folgenden soll vor dem Hintergrund von Oesterles und Hermands grundlegenden Analysen die Skandalisierung von Platen in Die Bäder von Lukka betrachtet werden im Hinblick auf die in der Forschung bislang nicht ausreichend berücksichtigten dichtungstheoretischen Implikationen des Textes. Es soll gezeigt werden, daß die Strategie der Skandalisierung, die als Poetik eingreifender Kunst anhand von Byrons The Vision of Judgment ausgewiesen

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So etwa Paul Derks in seinem umfassenden Kapitel zu Die Bäder von Lukka: »›Parodie eines antiken Übermuts‹ – Platen und Heine oder Die Exekution des Problems und deren zeitgenössische Bestätigung«, der die These vertritt, daß Heines Text »das große Fest der Gegenaufklärung« feiere, »indem Homosexualität endgültig und für sehr lange Zeit unwiderrufen als monströse Abscheulichkeit definiert wird« (Die Schande der heiligen Päderastie. Homosexualität und Öffentlichkeit in der deutschen Literatur 1750–1850. Berlin 1990, S. 479–613, hier S. 549). Vgl. Oesterle, Integration und Konflikt, S. 83–90 und Hermand, »Heine contra Platen«, S. 112–118. Auch Stefan Bodo Würffel hebt den sozialphilosophischen Hintergrund des Skandals hervor, wenn er schreibt: »Daß […] der Angriff gegen Platen in den ›Bädern von Lucca‹ ungerecht-einseitig bleibt, läßt sich weniger aus der eigenen gekränkten Dichtereitelkeit erklären als aus der Überzeugung, daß alles nichteingestandene, verschleierte Leiden des Subjekts in der Gesellschaft zur Perpetuierung des zugrundeliegenden Zustands beiträgt.« (Würffel, Der produktive Widerspruch. Heinrich Heines negative Dialektik. Bern 1986, S. 170) Oesterle, Integration und Konflikt, S. 84. Vgl. Hermand, »Heine contra Platen«, S. 117f.

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wurde, ein wesentlicher Teil von Heines neuem Dichtungskonzept ist, das in dem textgenetisch vorhergehenden Italienreisebild Reise von München nach Genua bereits in Ansätzen entfaltet wurde.122 Dazu soll zunächst in einem etwas umfangreicheren Exkurs der poetologische Charakter des Textes skizziert werden, um die Kritikpunkte am zeitgenössischen Kunstverständnis an drei Aspekten herauszuarbeiten: der (1) Öffentlichkeit (Salon und Oper), (2) dem Unzeitgemäßen sowie (3) dem Naturbegriff, bevor abschließend (4) die Skandalisierung als Ausdruck einer postromantischen Poetologie thematisiert werden soll. 3.1.

Kunst und Öffentlichkeit (I): Salonkultur

Heine selbst hat in seinen Briefen auf die neue Qualität seiner Invektive gegen Platen hingewiesen. In einer viel zitierten Stelle betont er: Der Schiller-Göthesche Xenienkampf war doch nur ein Kartoffelkrieg, es war die Kunstperiode, es galt den Schein des Lebens, die Kunst, nicht das Leben selbst – jetzt gilt es die höchsten Interessen des Lebens selbst, die Revoluzion tritt ein in die Literatur, und der Krieg wird ernster. (HSA 20, 385)

Die Differenz seiner Platen-Polemik zur Literaturfehde der Kunstperiode, so unterstreicht Heine hier in seinem Brief an Varnhagen von Ense, ist die Überschreitung der Kunst ins Leben, die paradigmatisch ist für das neue – revolutionäre – Kunstverständnis.123 Sowohl in Byrons Southey-Attacke als auch in Heines Platen-Polemik ist ein wichtiger Aspekt der Skandalisierung die Besetzung des literarischen Feldes im Sinne Pierre Bourdieus. Der Kampf um die Position im literarischen Feld steht hinter Byrons und Heines Attacke auf die vermeintliche Prahlerei und Anmaßung ihrer Gegner. Byron verhöhnt in The Vision of Judgment Southeys Stellung als Poeta Laureatus und Heines Sprecher wiederholt im letzten Kapitel aus Die Bäder von Lukka, das zum direkten, tabubrechenden Angriff auf Platen übergeht und den Charakter eines publizistischen Supplements zum eigentlichen narrativen Text trägt, refrainartig die Bemerkung: »der Graf Platen ist kein Dichter« (DHA 7/1, 142). Zugleich kritisieren Byron und Heine ihre Gegner Southey und Platen aus politischen Gründen. Beide befanden sich in pekuniärer Abhängigkeit von der Monarchie – sowohl Southey als Poeta Laureatus wie auch Platen, der vom bayrischen König sein Jahreseinkommen erhielt. In der ›Exekution‹ der Gegner wird subkutan die Frage verhandelt, was Dichtung ist und was sie sein soll, besonders nachdem die Romantik als lite-

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Zum Dichtungskonzept, das in der Reise von München nach Genua expliziert wird, vgl. Kap. IV. 5. Vgl. dazu auch Kap. II. 2.6.3.

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rarisches Modell für die beiden politischen Autoren in der Epoche der Restauration ausgedient hat. Byron und Heine kritisieren mit ihren ›skandalösen‹ Texten, die in den 1820er Jahren entstanden sind und einer literarischen Übergangszeit angehören, das romantisch-klassizistische Dichtungsverständnis. Wie im letzten Kapitel dargestellt wurde, ironisiert und konterkariert Byrons The Vision of Judgment die Ästhetik des Sublimen, wie er sie in der Dichtung der englischen Romantiker realisiert sieht. Heine wiederum versucht, das Alte, Epigonale, Unfruchtbare und Unzeitgemäße zu zerstören und das Neue zu initiieren. Wie zu zeigen ist, wird das Neue in Heines Italienreisebild Die Bäder von Lukka vorwiegend ex negativo zum Ausdruck gebracht. Heines Text, in dem die Dichtung, ihr Zweck und ihre Funktion in zahlreichen Varianten thematisch werden, hat augenfällig einen poetologischen Charakter, wenngleich dies in der Forschung bisher keine ausreichende Beachtung erfuhr. Zwei Figuren des Textes sind Dichter – der homodiegetische Erzähler Doktor Heine und der italienische Dichter Signor Bartolo aus dem grotesken Salon der Signora Laetizia. Weitere Schriftsteller und ihre Werke werden intertextuell aufgerufen in markierten und nicht markierten Anspielungen, Zitaten und Hinweisen. Sie werden entweder explizit genannt wie Byron und Shelley oder es werden ihre Texte von den Figuren in der Erzählung gelesen – wie Shakespeares Romeo und Julia und August von Platens Gedichte. Cervantes’ Don Quijote de la Mancha stellt die Folie dar für die Figurenkonstellation des Markese Christophoro di Gumpelino und seines Dieners Hirsch Hyazinth, wobei es – darauf weist zuerst Manfred Windfuhr hin – zu einer Umkehrung des Verhältnisses von Herr und Knecht in der physiognomischen Erscheinung kommt: Gumpelino zeichnet sich durch seine groteske Leibesfülle aus, den »gottgefällige[n]« Bauch und die große Nase, während sein Diener eine magere Erscheinung mit einem »bläßlich besorgliche[n] Gesichtchen« ist.124 Auch die Tätigkeit des Dichtens wird im Text immer wieder thematisiert, wie in der berühmten Stelle, in der der Erzähler die Zerrissenheit zum Signum des modernen Dichters erklärt.125 Auf den Warencharakter, den Literatur und 124

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Vgl. Manfred Windfuhr, »Heines Fragment eines Schelmenromans. Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski«. In: Heine-Jahrbuch 6 (1967), S. 21–39, hier S. 25. Zur Figurenkonstellation vgl. auch die Untersuchung von Tanja Rudtke, die in Anlehnung an die Kulturtheorie von Michail Bachtin das von Cervantes beeinflußte Figurenpaar Gumpelino und Hirsch Hyazinth als Ausdruck einer grotesken Körperkonzeption deutet. Das damit einhergehende Postulat einer grundsätzlichen Bejahung des grotesken Leibs vermag allerdings Heines vielschichtigen Text, der mit physiognomischen Karikaturen arbeitet und sich dazu skandalisierender Techniken bedient, nur in Teilen zu erfassen (Rudtke, ›Die lachende Träne im Wappen‹. Karnevalistische Ambivalenz und dialogische Strukturen bei Heinrich Heine. Würzburg 2003, S. 78–93). »Ach, theurer Leser, wenn du über jene Zerrissenheit klagen willst, so beklage lieber, daß die Welt selbst mitten entzwey gerissen ist. Denn da das Herz des Dichters der Mittelpunkt der Welt ist, so mußte es wohl in jetziger Zeit jämmerlich zerrissen werden. […] Durch das meinige ging […] der große Weltriß, und eben deßwegen weiß ich, daß die großen Göt-

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Kultur in der beginnenden Moderne zunehmend erhalten, verweisen die Figuren des Marchese Gumpelino und seines Dieners Hirsch Hyazinth, die Kunst und Bildung bürgerlich-kapitalistisch funktionalisieren.126 Den reinen Zweckcharakter von Bildung und Literatur artikuliert Hyazinth, der eingerahmt von einem »Lorbeerbaume« und dem Hund Apollo dem Erzähler anvertraut: »so ein bischen Bildung ziert den ganzen Menschen« (DHA 7/1, 111). Gumpelino komplementiert den ökonomischen Warencharakter von Bildung, wenn er sie zwar scheinbar über den Wert des Geldes stellt – »Geld ist rund und rollt weg, aber Bildung bleibt. Ja, Herr Doktor, wenn ich, was Gott verhüte, mein Geld verliere, so bin ich doch noch immer ein großer Kunstkenner, ein Kenner von Malerey, Musik und Poesie« (DHA 7/1, 94) –, dabei aber ein entleertes Kunstverständnis offenbart, für das nur die Akkumulation von Wissen zählt, das nach außen repräsentiert werden kann: Sie sollen mir die Augen zubinden und mich in der Gallerie zu Florenz herumführen, und bey jedem Gemälde, vor welches Sie mich hinstellen, will ich Ihnen den Maler nennen, der es gemalt hat, oder wenigstens die Schule, wozu dieser Maler gehört. Musik? Verstopfen Sie mir die Ohren und ich höre doch jede falsche Note. Poesie? Ich kenne alle Schauspielerinnen Deutschlands und die Dichter weiß ich auswendig. (DHA 7/1, 95)

Dem Zweckverständnis von Kunst, das in den Figuren Gumpelinos und Hirsch Hyazinths satirisch entlarvt wird, steht in dem Italienreisebild Die Bäder von Lukka die Zwecklosigkeit der klassizistisch-romantischen Kunstautonomie gegenüber, die anhand der Dichtung Platens umfassend kritisiert wird. Die scheinbare Gegensätzlichkeit der beiden Dichtungsauffassungen demaskiert der Text als lediglich zwei Seiten desselben Faktums. Denn gerade die Autonomie der Kunst, die einen Rückzug aus gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen bewirkt, bedingt ihren freien, ›ornamentalen‹ und damit letztlich aber auch ›überflüssigen‹ Charakter. Dieser trägt bei den bürgerlichen Figuren des Textes, sowohl beim Diener Hirsch Hyazinth als auch beim nach oben strebenden Finanz-Kapitalisten Markese Gumpelino, zu der Auffassung einer lediglich ›ornamentalen‹ Funktion von Kunst und Bildung bei.127 Narrativ werden diese beiden scheinbar gegensätzlichen Perspektiven

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ter mich vor vielen Anderen hochbegnadigt und des Dichtermärtyrthums würdig geachtet haben.« (DHA 7/1, S. 95). Diese Leseransprache erfolgt im vierten Kapitel nach dem Gespräch zwischen dem Erzähler und Gumpelino, auf das unten im Kontext der Zerrissenheit noch genauer eingegangen wird. Das kommt im Text in dem umfassenden Komplex des Geldes zum Ausdruck, auf den hier nicht weiter eingegangen werden kann. Zur bürgerlichen Kultur und zum Finanzkapitalismus in Heines Reisebild Die Bäder von Lukka vgl. Oesterle, Integration und Konflikt, S. 74–80. Hier sei nur auf die Arabeske und ihren ornamentalen Charakter verwiesen, in dem Kant in der Kritik der Urteilskraft das freie Spiel der Einbildungskraft sah, das er höher bewertete als die »bloß anhängende Schönheit«, wie sie etwa die »Schönheit eines Menschen« dar-

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auf die Funktion der Kunst in der Figur des Gumpelino aufeinander bezogen. Auf dem Höhepunkt der Handlung in Kapitel X. entdeckt er nach der nächtlichen Glaubersalzepisode, die die tatsächliche, sinnliche Erfüllung seiner Schwärmerei für Lady Julie Maxfield verhindert, auf dem stillen Örtchen seine Begeisterung für die homoerotischen Gedichte Platens. Der »edle schwitzende Leib« (DHA 7/1, 126) des Markese Gumpelino wird ironisch wie ein klassizistisches Gemälde inszeniert. Am folgenden Tag liegt er »nachläßig vornehm« auf einem Sofa und liest Platens Gedichte – »in den Händen hält er ein Buch, das in rothes Saffianpapier mit Goldschnitt gebunden ist, und deklamirt daraus laut und schmachtend« (DHA 7/1, 126). Vor diesem Hintergrund einer Kritik der ›ornamentalen‹ Ersatzfunktion von Kunst soll nun der Aspekt der bürgerlichen, im Sinne einer literarischen und auch politischen, Öffentlichkeit betrachtet werden, für den um 1800 die Salonkultur eine wichtige Rolle spielt. Zu den wenigen Schauplätzen der Bäder von Lukka zählt die gesellige Versammlung im Haus der ehemaligen Opernsängerin Signora Laetizia. Daß das Haus, das Signora Laetizia – »eine funfzigjährige junge Rose« – führt, an einen Salon erinnert, bemerkt schon Philip F. Veit, der den fiktionalen Protagonisten des Textes wirkliche Personen der Berliner Salons, in denen Heine verkehrte, zuordnet.128 Es wurden aus dieser Beobachtung jedoch bisher keine weiterreichenden theoretischen Schlußfolgerungen für die Interpretation des Reisebilds Die Bäder von Lukka gezogen.129 So führt Veit seinen wichtigen Hinweis auf den Salon Rahel Varnhagens, den er als Modell für die Darstellung von Signora Laetizias Haus in Die Bäder von Lukka begreift, nicht weiter aus und erwähnt nur, daß das oberflächliche Salonleben der Restauration kritisiert werde, da seine Untersuchung vorwiegend die Enthüllung der »real-life-identity« der Protagonisten von Heines

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stellt. Denn diese, so Kant, setze »einen Begriff vom Zwecke voraus, welcher bestimmt, was das Ding sein soll« (Immanuel Kant, »Kritik der ästhetischen Urteilskraft. In: Werke. Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 8: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie. Darmstadt 1975, S. 310f.). Aus der zahlreichen Literatur zur Arabeske sei hier nur auf neuere Untersuchungen verwiesen, die den repräsentativen Charakter der Arabeske für die Ästhetik der Kunstperiode auch im Hinblick auf Kants Bedeutung für die Diskussion um 1800 beleuchten: Winfried Menninghaus, »Hummingbirds, Shells, Picture Frames: Kant’s ›Free Beauties‹ and the Romantic Arabesque«. In: Martha B. Helfer (Hrsg.), Rereading Romanticism. Amsterdam 2000, S. 27–46; Günter Oesterle, »Das Faszinosum der Arabeske um 1800«. In: Walter Hinderer (Hrsg.), Goethe und das Zeitalter der Romantik. Würzburg 2002, S. 51–70; Oesterle, »Arabeske«. In: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, S. 272–286. Vgl. Philip F. Veit, »Heine’s Polemics in Die Bäder von Lucca«. In: The Germanic Review 55 (1980), S. 109–117. Auch Andreas Stuhlmann, der in seiner Untersuchung auf den Salon der Signora Laetizia hinweist, kommt nur zu dem Schluß, daß es sich hierbei um eine Parodie auf die zeitgenössische Salonkultur handle. Der Salon als Ort außerhalb der Welt erlaube zudem laut Stuhlmann den Einzug des Karnevalesken, da die sozialen Schranken suspendiert seien (Stuhlmann, »Die Literatur – das sind wir und unsere Feinde«, S. 119f.).

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beißender Satire verfolgt.130 Heines kritisch-ironische Sicht auf die sentimentalischen Salons der postnapoleonischen Ära in Berlin, die er selbst frequentierte, ist bekannt aus dem Gedicht »Sie saßen und tranken am Teetisch« aus dem Zyklus Lyrisches Intermezzo (1822/23).131 Wichtig für das Verständnis des Salon-Zitats in Heines Text ist jedoch nicht nur das zeitgenössische Berliner Salonleben, sondern auch die romantische Konzeption, die den aufklärerischen Salon als Kommunikationsort am Ende des 18. Jahrhunderts umakzentuierte. Formierte sich in der Aufklärung über den freien Raum des Salons eine bürgerliche Gegenöffentlichkeit, die sich politisch-emanzipatorischen Zielen verpflichtet fühlte und von der ständisch bestimmten Öffentlichkeit abgrenzen wollte, wurde der literarische Salon in der Romantik zunehmend zum Ort der nicht-repräsentativen Öffentlichkeit, der sich durch gesellige und unkonventionelle, freie Kommunikation und künstlerische Kreativität auszeichnete.132 Theoretisch formulierte Friedrich Schleiermacher diese Sicht in seiner Schrift Versuch einer Theorie des geselligen Betragens von 1799, in der er das Ideal der Ganzheitlichkeit des Menschen als »[f]reie, durch keinen äußeren Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit« formuliert.133 Der frühromantische Entwurf von Geselligkeit, wie ihn Schleiermacher verfaßte, grenzt bewußt äußere Zweckmäßigkeit aus der Kommunikation aus. Insofern korrespondiert das Interaktionsmodell des Salons mit ästhetischen Positionen der Romantik, die für das Kunstwerk einen autonomen, zweckfreien Status beanspruchten.134 Diese Aspekte des Salons zwischen politischen und ästhetischen Zielsetzungen in Aufklärung, Romantik und Restauration stellen einen zentralen

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Veit, »Heine’s Polemics«, S. 115. Im Kontext der in der Heine-Forschung immer wieder gestellten biographischen Frage nach der ›realen‹ Identität von Gumpelino bietet Veits Analyse, die von der Identifi kation mit dem Hamburger Bankier Lazarus Gumpel abrückt, interessante Hinweise (vgl. S. 110ff.). Heine recodiert das Salonkonzept in den dreißiger Jahren im französischen Exil nach dem Muster der öffentlichen Pariser Kunstausstellungen, die Louis Sébastien Mercier schon 1783 wie folgt beschreibt: »On y voit des tableaux de dix-huit pieds de long qui montent dans la voûte spacieuse, et des miniatures larges comme le pouce, à hauteur d’appui. Le sacré, le profane, le pathétique, le grotesque, tous le sujets historiques et fabuleux y sont traités et pêlemêle arrangés; c’est la confusion même. Les spectateurs ne sont pas plus bigarrés que les objets qu’ils contemplent.« (Louis Sébastien Mercier, Salon de Peinture. In: Tableau de Paris. Hrsg. von Jean-Claude Bonnet. Paris 1994, S. 1232). Wie die Kunst-Salons, die Mercier beschreibt, bietet Heines ab 1833 verwirklichtes Salonprojekt ein buntes Durcheinander von publizistischen und literarisch-erzählerischen Texten, die politisch-zeitgeschichtliche Sujets mit literarischen verbinden (vgl. dazu auch Höhn, Heine-Handbuch, S. 329–332). Siehe dazu Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit und Peter Seibert, Der Literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz. Stuttgart, Weimar 1993. Friedrich Schleiermacher, »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens«. In: Werke, Bd. II: Leipzig 1913, S. 3. Vgl. Seibert, Der Literarische Salon, S. 310–323 und Seibert, »Der Literarische Salon – ein Forschungsüberblick«. In: IASL Sonderheft 3 (1993), S. 159–220 sowie Norbert Altenhofer, »Geselligkeit als Utopie – Rahel und Schleiermacher«. In: Barbara Volkmann (Hrsg.), Berlin zwischen 1789 und 1848. Berlin 1981, S. 37–42.

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Hintergrund für die Lektüre der Gesellschaft in Signora Laetizias Haus in Heines Reisebild Die Bäder von Lukka dar. Auch dort bildet sich ein privater, geselliger Kreis um eine weibliche Person, eine Künstlerin, die im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. In Signora Laetizias Wohnung im V. und VI. Kapitel der Bäder von Lukka werden Gedichte deklamiert, es wird kommuniziert und auch musiziert. Besonders die musikalischen Darbietungen sind, so stellt Peter Seibert im Hinblick auf Rahel Varnhagens Berliner Gesellschaften in den 1820er Jahren fest, charakteristisch für die Salonkultur des Biedermeier.135 Als sich der Erzähler zusammen mit Gumpelino Signora Laetizias Haus nähert, klingt es den beiden an »der Thüre schon […] bunt entgegen, wirbelnde Triller, Guitarrentöne und Gelächter.« (DHA 7/1, 96) Die Szenerie, die beim Eintreten der beiden zunächst wie ein geläufiges geselliges Treffen eines Salons erscheint – die Hausherrin »lag im Bette und trillerte und schwatzte mit ihren beiden Galans, wovon der eine auf einem niedrigen Schemel vor ihr saß und der andre, in einem großen Sessel lehnend, die Guitarre spielte« (DHA 7/1, 96) –, wird zunehmend als Groteske entlarvt. Die Signora liegt im Bett, und »zwar bäuchlings, indem ein Geschwür an der Legitimität […] sie jetzt hindere, wie es einer ordentlichen Frau zieme, auf dem Rücken zu liegen« (DHA 7/1, 97f.). Ihr Gesang »im feinsten Diskant«, der »von süßem Liebesdrange« handelt, wechselt »mit der fettigsten Prosastimme«, die einen »Spucknapf« fordert (DHA 7/1, 97). Auch ihre beiden Galane werden als groteskes Paar entlarvt. Die Kunstfreunde und Verehrer der Signora – der Jura-Professor und der Dichter Bartolo, die durch ihre Berufe Spiegel- und Kontrastfiguren des autobiographischen Erzählers »Johann Heinrich Heine, Doktor Juris« (DHA 7/1, 96) sind – zeigen sich ihrer eigentlichen Profession entkleidet. Der Jurist mit seinem »wohlgewölbte[n], runde[n] Bauch« (DHA 7/1, 96) und der Dichter »mit seinen dürren hölzernen Beinen« (DHA 7/1, 97) dienen einer »ruinirten Schönheit« (DHA 7/1, 99), zu deren Füßen sie sitzen, um ihr »auf Verlangen den Napf des Spuckes« (DHA 7/1, 97) zu reichen.136 Zu diesem gegenwärtigen Zustand wird im Text ein Gegenbild gezeichnet. Wiederholt wird in dem Kapitel auf eine Zeit, am »Anfang dieses Jahrhunderts« (DHA 7/1, 99) hingewiesen, in der die Figuren noch nicht grotesk deformiert waren. Signora Laetizia stand damals, »vor fünf und zwanzig Jahren« ((DHA 7/1, 98), auf der Bühne in der Rolle der Ariadne und ihr Dichter Bartolo »mag zu jener Zeit«, so mutmaßt der Erzähler, »wohlbelaubt und glühend gewesen seyn, vielleicht ähnlich dem heiligen Dionysos selbst« 135

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Der musikalische Vortrag, so Seibert, wurde in den 1820er Jahren zu einem festen Programmpunkt von Rahel Varnhagens Salon, der damit auf einen »dominanten geselligen Trend der Restaurationszeit« reagiert habe (Seibert, Der Literarische Salon, S. 343). Der Begriff ›ruiniert‹, der sich von ›Ruine‹ ableitet, läßt an den hoch bedeutsamen Kontext der Ruinen in der Reise von München nach Genua denken. Dort wird auch die Formulierung »Menschenruine« (DHA 7/1, S. 43) verwendet (siehe Kap. IV. 5.3.5.).

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– seine »Laetizia-Ariadne stürzte ihm gewiß bacchantisch in die blühenden Arme – Evoe Bacche!« (DHA 7/1, 98) Vom Standpunkt des autobiographischen Erzählers ist die Erzählzeit um 1829, so daß der Zeitpunkt vor 25 Jahren in politischer Hinsicht auf die Ära der Napoleonischen Neuordnung Europas verweist. Dieser Vorgang war für Italien insofern bedeutend, als die Hegemonie Österreichs nach der entscheidenden Schlacht von Marengo im Juni 1800 nochmals bei der Dreikaiserschlacht von Austerlitz im Dezember 1805 entscheidend zurückgedrängt wurde. Napoleon verpflichtete Österreich in der Folge seines Sieges, das Königreich Italien anzuerkennen und Gebiete wie Venedig abzutreten. Der nationale Einigungs- und Befreiungsprozeß des Landes unter Napoleons Verfassung endete jedoch mit dem Wiener Kongreß 1815, der das nördliche Italien erneut der österreichischen Herrschaft unterstellte.137 Heine beobachtete bei seiner Reise durch Italien 1828 den Zustand der politischen Unfreiheit unter Metternich und dokumentierte ihn eindringlich in der Reise von München nach Genua.138 Auf die politische Befreiung Italiens von der österreichischen Herrschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts dagegen spielt in Die Bäder von Lukka die sinnliche Freiheit und der ehemals dionysische Geist in der Opern-Kunst der Signora Laetizia. Der Ausruf »Evoe Bacche«, den die rasenden Mänaden bei den Bacchanalien riefen, assoziiert den wilden, anarchischen Charakter dieser Feste. In der Gegenwart jedoch sind der hölzerne Dichter Bartolo und seine Geliebte Laetizia »schon längst zu Makulatur geworden« (DHA 7/1, 98). Diese historisch-politische Lesart nichtdeformierten Menschseins wird dadurch gestützt, daß die Unfreiheit Italiens nach dem Wiener Kongreß im VI. Kapitel explizit zum Thema wird. Auf das Bekenntnis des Erzählers, ein Deutscher zu sein, entgegnet Signora Laetizia: »Ach, ehrlich genug sind die Deutschen! […] aber was hilft es, daß die Leute ehrlich sind, die uns berauben! sie richten Italien zu Grunde. Meine besten Freunde sitzen eingekerkert in Milano; nur Sklaverey –« (DHA 7/1, 98) Die Italienerin Laetizia setzt den deutschen Erzähler mit den Österreichern gleich und spielt mit ihrer Bemerkung auf die Fremdherrschaft der Österreicher in Italien an, die ihre politischen Opponenten in Mailand, der Hauptstadt des lombardisch-venezianischen Königreichs, inhaftierten. Die Italiener, die den fremden Herren dienen müssen, so zeigt Laetizias Bemerkung, sehen sich als Sklaven in ihrem eigenen Land. Der hier angeführte historisch-politische Hintergrund ermöglicht eine Neueinschätzung der Funktion Italiens für das Reisebild Die Bäder von Lukka. Am Anfang des IX. Kapitels bemerkt der Erzähler, es gebe »nichts Langweili137

138

Zur Auswirkung der restaurativen Maßnahmen auf Oberitalien nach den Beschlüssen des Wiener Kongresses und der Abschaffung des Code Napoléon vgl. Spamers Illustrierte Weltgeschichte. Hrsg. von Otto Kaemmel, Bd. IX: Geschichte der neuesten Zeit II. Leipzig 1914, S. 232–238. Vgl. dazu Kap. IV. 5.

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geres auf dieser Erde, als die Lektüre einer italienischen Reisebeschreibung – außer etwa das Schreiben derselben« (DHA 7/1, 113). Der Verfasser könne seinen Text, so der Erzähler weiter, nur dadurch »einigermaßen erträglich machen«, indem er »von Italien selbst so wenig als möglich darin redet« – ein »Kunstkniff«, den er »vollauf anwende« (DHA 7/1, 113). Dieser Erzählerkommentar, der ironisch auf die zeitgenössische Flut von Italienreisebeschreibungen anspielt, beeinflußte die Forschung insofern maßgeblich, als dem Ort des Geschehens zumeist keine weitere Bedeutung zugemessen wird. So betont etwa Albrecht Betz den Staffagecharakter der Lokalität in Die Bäder von Lukka – sie sei »Kulisse und austauschbar«.139 Das Reisebild ist jedoch keineswegs eine Italienreisebeschreibung ohne Italien. Das unfreie und ungeeinte Italien, das keine politische Öffentlichkeit besitzt, stellt das politische Spiegelbild für Deutschland dar im Unterschied zur englischen und französischen Nation. Die politischen Anspielungen des Textes zeigen, daß in einer ›esoterischen‹ Lesart der Bäder von Lukka Italien eine bedeutende Funktion zukommt. 3.2.

Kunst und Öffentlichkeit (II): Die Oper und der Tanz

Die Kunst in Signora Laetizias Salon wird nur als ›schöner Schein‹ inszeniert – zwischen Kunst und Wirklichkeit herrscht ein grundlegendes Mißverhältnis, veranschaulicht im grotesken Kontrast von Laetizias feinem Singdiskant und ihrer ›fettigen Prosastimme‹. Zugleich zeigt sich in der Diskrepanz zwischen Sein und Schein das Unzeitgemäße der Besucher von Signora Laetizias Salon – die »Liebesgluth« (DHA 7/1, 97) der alten Gedichte stellt einen schneidenden Kontrast dar zur äußeren Erscheinung des Dichters, seinen »blassen Augen im welken Gesichte« und den »dünnen weißen Härchen auf dem schwankenden Kopfe« (DHA 7/1, 97). Einen weiteren spannungsreichen Widerspruch stellen die Gesangszitate von Bartolo und Laetizia dar, die aus der Oper Tarare – Axur re d’Ormus von Antonio Salieri stammen und im V. Kapitel wiederholt in den Text eingestreut werden. Dierk Möller ordnet Salieris Oper von 1787, zu der Lorenzo da Ponte das Libretto schrieb, im Kontext des Abgelebten der Figuren Laetizia und Bartolo dem vergangenen Geschmack des ancien régime zu und beschreibt sie als veraltet. Über den Bezug zwischen Kunst, Politik und Öffentlichkeit läßt sich die Funktion der Opernzitate allerdings präziser bestimmen.140 Zielscheibe der Kritik ist nicht Salieris politisch brisante Oper Axur, die 1788 am Vorabend der Französischen Revolution uraufgeführt wurde; vielmehr wirkt das dekontextualisierte Zitieren und entpolitisierte,

139 140

Betz, Ästhetik und Politik, S. 130. Vgl. Dierk Möller, Heinrich Heine: Episodik und Werkeinheit. Wiesbaden, Frankfurt a.M. 1973, S. 438.

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zwecklose Reproduzieren der ehemals hochaktuellen Oper im privaten Raum des ästhetischen Scheins grotesk. Die groteske Darstellung der Figuren und der Handlung in Signora Laetizias Salon zielt so einerseits kritisch auf das Anachronistische und Unzeitgemäße – Punkte, die Heine, wie noch zu zeigen sein wird, auch an Platen kritisiert –, andererseits aber auch damit einhergehend auf ein Kunstverständnis, das die Kunst vom Leben und der politischen Wirklichkeit ablöst und dadurch gesellschaftlicher Bedeutung enthebt. In der gesellig-grotesken Zusammenkunft der deutschen und italienischen Protagonisten im Haus der Signora Laetizia spiegelt sich die Entfunktionalisierung des Salons in der Restaurationszeit. Anders als im Salon der Aufklärung werden von der Gruppe in dem italienischen Badeort weder politisch-emanzipatorische Ziele verfolgt, noch wird eine bürgerliche Gegen-Öffentlichkeit hergestellt. Wie gezeigt wurde, erfolgt die Erwähnung des politischen Zeitkontexts lediglich in einer Nebenbemerkung, die Laetizia an den deutschen Erzähler richtet. Der Zusammenhang von Kunst, Politik und fehlender Öffentlichkeit beschränkt sich in Heines Text nicht auf den Salon Laetizias, sondern wird auch noch an anderer Stelle reflektiert. Wenn der Erzähler am Anfang des XI. Kapitels bemerkt, daß es im Unterschied zu England und Frankreich in Deutschland keine öffentlichen Charaktere gebe, so ist die Ursache dafür, wie Günter Oesterle zu Recht bemerkt, der Mangel an öffentlichem Leben in Deutschland.141 »Anders war es bey den Alten, anders ist es noch jetzt bey den neueren Völkern, z.B. den Engländern und Franzosen«, die dem Erzähler zufolge ein »Volksleben« besäßen, das »public characters« her vorbringe (DHA 7/1, 134). Deutschland habe zwar ein »ganzes närrisches Volk, aber wenige ausgezeichnete Narren, die bekannt genug wären, um sie als allgemein verständliche Charaktere in Prosa oder Versen gebrauchen zu können« (DHA 7/1, 134).142 Mit seiner Polemik, die den fiktionalen Charakter des Textes überschreitet, will der Erzähler den »Grafen August von Platen Hallermünde […] literarisch gleichsam herausfüttern« (DHA 7/1, 135), um so eine politischliterarische Öffentlichkeit zu erzeugen, wovon im folgenden noch zu sprechen sein wird. Die grotesken Figuren in Die Bäder von Lukka sind aber nicht nur eine visuelle Schaustellung der fehlenden politischen Öffentlichkeit und des Unzeitgemäßen in der Restaurationszeit. Sie demonstrieren darüber hinaus auch die Bewegungslosigkeit und Stagnation der Epoche. Charakteristisch hierfür ist die spöttisch-ironische Zeichnung der Figur Gumpelinos, dessen versehentliche Einnahme des Glaubersalzes im IX. Kapitel die körperliche Erfüllung sei-

141 142

Vgl. Oesterle, Integration und Konflikt, S. 88. Zur Bedeutung der Charakteristik bzw. des Charakterporträts in Romantik und Vormärz siehe Günter Oesterle, »›Kunstwerk der Kritik‹«.

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ner Liebe zu Lady Julia Maxfield verhindert. Die Worte, mit denen der »Narr des Glücks« (DHA 7/1, 123) seine nächtliche Toilettenepisode kommentiert – »ich war so sehr bewegt, ich mußte eilf mahl aus dem Bette steigen« (DHA 7/1, 128) –, weisen spöttisch die Darmaktivität als seine ›Bewegtheit‹ aus. Vor der Folie der grotesk-beschädigten Besucher von Laetizias Salon zeichnet sich umso deutlicher eine bislang nicht erwähnte Frauenfigur ab. Es handelt sich um die junge Tänzerin Franscheska, die schon durch ihre Profession mit Bewegung assoziiert wird. Ihre Funktion im Text soll über das Kontrastverhältnis zu anderen Figuren der Bäder von Lukka genauer bestimmt werden. Franscheska ist neben Lady Mathilde und Signora Laetizia eine der drei zentralen Frauenfiguren des Textes. Der unterschiedliche Grad an ›Bewegung‹ wird in bezug auf Lady Mathilde und Signora Laetizia durch die ihnen zugeordneten Hunde veranschaulicht. Während die Engländerin Mathilde ein grünes Reitkleid trägt und von einem weißen Jagdhund begleitet wird, besitzt die alternde Italienerin Laetizia, die aufgrund ihres Geschwürs »wie eine Sphinx« (DHA 7/1, 98) unbeweglich im Bett liegt, ein Bologneser »Schooßhündchen« (DHA 7/1, 99). Mit Mathilde verbindet Franscheska ihre Charakterisierung durch Verben der Bewegung. Mathilde »stürzte« (DHA 7/1, 85) dem Erzähler entgegen und »stürmte, wie ein Wirbelwind, von dannen« (DHA 7/1, 89); auch Franscheska charakterisiert die schnelle, unerwartete Bewegung. Als in Laetizias Gesellschaft »plötzlich die Thüre des Nebenzimmers aufgerissen« wird (DHA 7/1, 102), springt Franscheska herein und dreht sich »unzählige Mahl auf einem Fuße« herum (DHA 7/1, 102). Sie gehört wie Lady Mathilde und der Erzähler zum Reich der Narren – darauf verweisen ihre verschiedenfarbigen Schuhe, sowie ihre bizarre Klage, daß sie »so müde vom Schlafen« sei (DHA 7/1, 102). Ihren schläfrigen Zustand beendet erst der Erzähler, der, Gumpelino folgend, ihren Fuß küßt: »in dem Momente […] erwachte sie wie aus einem dämmernden Traume« und »sprang freudig empor bis in die Mitte des Zimmers, und drehte sich wieder unzählige Mahl auf einem Fuße herum« (DHA 7/1, 103). Die Beschreibung von Franscheskas Erwachen durch die Berührung ihres Fußes erinnert an magnetische Reaktionen, wie sie in romantischen Texten beschrieben werden.143 Die Liebe fungiert hier – wie es später explizit in Kapitel VII. mit Verweis auf die Naturphilosophen heißt – als »eine Art Elektrizität« (DHA 7/1, 108), die, wenn sie auch »brennende[s] Elend« verursacht, so dennoch aus »kalte[r] Erstarrung« (DHA 7/1, 109) löse. Für den Erzähler ist Franscheska eine »Graziengestalt« – ihr Gesicht ist »göttermäßig, wie man es bey griechischen Statuen findet«, beseelt von einem »träumerischen Lächeln« und beleuchtet von dem »Zauberlicht« ihrer »schwarzen plötzlichen

143

Vgl. Kap. IV. 5.2.2., das auf die intertextuellen Bezüge zu romantisch-naturphilosophischen Positionen, wie sie etwa Novalis in seinem Roman Heinrich von Ofterdingen verwendet, ausführlicher eingehen wird.

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Augen« (DHA 7/1, 104). Mit ihr erlebt der Erzähler die sinnliche Erfüllung der Liebe unter dem »hellblaue[n] Himmel« der »toskanische[n] Nächte«, die ausdrücklich der »gothische[n] Lüge […], die nur blinde, tappende Genüsse im Verborgenen erlaubt und jedem freyen Gefühl ihr heuchlerisches Feigenblättchen vorklebt«, entgegengestellt wird (DHA 7/1, 108). Die Differenz zwischen den defizitären Charakteren des Textes und, wie sich nun festhalten läßt, der italienischen Idealfigur Franscheska spiegelt sich auch in der Gegenüberstellung der beiden Landschaften, der deutschen und der italienischen, die Stereotypen zeitgenössischer Klimatheorien aufgreift.144 Eine ausführliche Landschaftsbeschreibung des italienischen Badeorts eröffnet bereits das III. Kapitel, in dem das Tal von Lucca als ein »wildes Paradies« (DHA 7/1, 90) beschrieben wird: Der Hauptzauber dieses Thals liegt aber gewiß in dem Umstand, daß es nicht zu groß ist und nicht zu klein, daß die Seele des Beschauers nicht gewaltsam erweitert wird, vielmehr sich ebenmäßig mit dem herrlichen Anblick füllt, daß die Häupter der Berge selbst, wie die Apenninen überall, nicht abentheuerlich gothisch erhaben mißgestaltet sind, gleich den Bergkarikaturen, die wir eben sowohl wie die Menschenkarikaturen, in germanischen Ländern finden: sondern, daß ihre edelgeründeten, heiter grünen Formen fast eine Kunstcivilisazion aussprechen und gar melodisch mit dem blaßblauen Himmel zusammenklingen. (DHA 7/1, 90)

Das »reitzende Thal« (DHA 7/1, 90) von Lucca besitzt nicht die Attribute des Erhabenen, sondern des Schönen und Pittoresken. Deutschland und Italien werden über das Sublime und das Schöne miteinander verglichen, wobei das Erhabene als das Extreme, Überzeichnete ins Karikatureske übergeht, während die Schönheit der heiteren, ausgewogenen Natur Italiens in Kunst überzugehen scheint. Unter einem »Feigenbaum mit vollen ausgebreiteten Zweigen« (DHA 7/1, 108) erfährt der Erzähler mit Franscheska dann auch die sinnliche Liebe, die zum Kennzeichen des neuen, emanzipierten und freien Menschen wird.145 Der Vergleich der jeweiligen Liebesnächte des Textes – des Erzählers mit Fran144

145

In dem gestrichenen Bruchstück B 8. heißt es dementsprechend über die Liebe zwischen Franscheska und dem Erzähler weiter: »[…] ich hatte den Himmel in meinen Armen und vergaß der Erde und des Vaterlandes, und der lieben Landsleute, die da oben am Eispol saßen, bis am Nabel im Schnee, und folglich sehr tugendhaft waren und Moralkompendien, Erbauungsbücher und Dogmatiken schrieben.« (DHA 7/1, S. 426) Stefan Bodo Würffel, der ebenfalls hervorhebt, daß Franscheska das »den Hauptgestalten der ›Bäder von Lucca‹ antithetisch zugeordnete Ideal« darstellt, verortet die Tänzerin allerdings aufgrund ihrer Vollkommenheit in der Reihe von Heines Marmorgestalten, denen das Leben fehle (Würffel, Der produktive Widerspruch, S. 174; vgl. S. 175). Gerade die mit Franscheska assoziierte Bewegung, die in engem Zusammenhang mit dem Lebensbegriff steht, widerspricht jedoch dieser Deutung. Im Sinne der Erneuerung in einer zukünftigen, ›jungen‹ Zeit ist nochmals die gestrichene Textstelle des Bruchstücks B 8. aufschlußreich, in dem es heißt: »Allen Respekt für die Tugend mit ihren Feigenblättern, aber wir bedurften solcher nicht, da ein ganzer Feigenbaum, mit seinen stolzen Zweigen über unsere glücklichen Häupter rauschte. Wir spielten

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scheska einerseits und Gumpelinos mit Lady Maxfield andererseits – ist insofern besonders aussagekräftig. Er zeigt die Diskrepanz zwischen der offenen Sinnenlust der Idealfigur Franscheska und der moralischen Lüge und Heuchelei der karikaturesken Gestalt des Marchese, der – als ihr Negativbild – eine grotesk entstellte, weil unterdrückte Körperlichkeit repräsentiert. Das Ideal einer Versöhnung zwischen Natur und Kunst sowie zwischen Subjekt und Objekt, das für einen Augenblick in der ›schönen‹ Natur Italiens aufscheint, prägt auch das Erlebnis des Erzählers nach der Liebesnacht mit Franscheska. Das Motiv der antwortenden Natur, das schon im »allseitig plaudernden Echo« (DHA 7/1, 90) des Tals von Lucca in Kapitel III. anklingt, wird wieder aufgenommen – die Natur spricht nun mit dem Erzähler. Adamitisch schafft er eine neue Welt und verleiht allen Dingen einen Namen nach seiner »innern Natur« und seinem »eignen Gefühl, das mit den Außendingen so wunderbar verschmolz« (DHA 7/1, 109). Der »lachende Himmel«, so scheint es dem Erzähler in der Dämmerung, »küßt die geliebte Erde« (DHA 7/1, 110). Punktuell entwirft der Text so in der italienischen Natur und in der Liebe der göttergleichen Gestalt Franscheskas ein sinnlich-idealisches Gegenbild zur kalten Wirklichkeit Deutschlands. Der Erzähler erfährt dieses Ideal als Aufhebung von Ding und Bezeichnung, Ich und Welt. Seine Einheitsvision wird erst beendet – ähnlich wie in dem Gedicht »Seegespenst« aus dem Nordsee-Zyklus – durch den Anblick der »glänzende[n] Scharlachgestalt« Gumpelinos, die ihn der »kühlsten Wirklichkeit zurückgab« (DHA 7/1, 110). Anhand der Figur Franscheskas werden zentrale poetologische Fragen des Textes diskutiert. Zwei unterschiedliche Aspekte sind hier relevant. Es wird (1) in bezug auf die Tänzerin eine Mediendiskussion geführt, in der der Erzähler die Potenz der verschiedenen Künste, eine adäquate Darstellung Franscheskas zu geben, erörtert. Franscheska ist zudem (2) als Tänzerin selbst Künstlerin, die für den Erzähler ihre Lebensgeschichte in ein »rührend närrisches Schauspiel« (DHA 7/1, 105) transformiert. Innerhalb der medientheoretischen Debatte, die besonders im Kontext von Gotthold Ephraim Lessings Schrift Laokoon seit dem 18. Jahrhundert intensiv geführt wurde, behauptete die Dichtung den Vorrang vor der Malerei unter dem Primat, daß »Reiz […] Schönheit in Bewegung« sei.146 Diese könne, so argumentiert Lessing, in der Malerei nur angedeutet werden.147 An diesen kunsttheoretischen Diskurs schließt Heines Text an, wenn es heißt, daß »die Malerey […] doch nur eine platte Lüge« sei (DHA 7/1, 104). Auch ein Kupferstich von Franscheska, der dem Text wie eine Karte in Reiseberichten zur Illustration hinzugefügt würde, könne dem

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alte Zeit, oder vielmehr junge Zeit, da die unsre alt und grau ist, und selbst unser Amor greise Haare und müde Augen hat […]«. (DHA 7/1, S. 426, meine Hervorhebung, A.B.) Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Werke. Hrsg. von Kurt Wölfel, Bd. 3: Schriften II. Frankfurt a.M. 1967, S. 124. Vgl. Lessing, Laokoon, S. 124.

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Leser ihre Grazie nicht vor Augen stellen, denn, so konstatiert der Erzähler, »was hilft die todte Copie der äußern Umrisse bey Formen, deren göttlichster Reitz in der lebendigen Bewegung besteht. Selbst der beste Maler kann uns diesen nicht zur Anschauung bringen« (DHA 7/1, 104). Im Unterschied zu Kupferstich und Malerei eigne sich die Bildhauerei eher, eine Ahnung des Lebendigen zu geben: »durch wechselnde Beleuchtung können wir bey Statuen uns einigermaßen eine Bewegung der Formen denken, und die Fackel, die ihnen nur äußeres Licht zuwirft, scheint sie auch von innen zu beleben.« (DHA 7/1, 104)148 Die Statue, die dem Leser am ehesten »einen marmornen Begriff von Franscheskas Herrlichkeit zu geben vermöchte«, ist die »Venus des großen Canova« im »Pallazzo Pitti zu Florenz« (DHA 7/1, 104). Wiederum abweichend von Lessing wird die Unzulänglichkeit der sprachlichen Zeichen, die dem Text als Darstellungsmittel zur Verfügung stehen, beklagt. Denn die bloße Wiedergabe von Franscheskas Worten ohne den Ton ihrer Stimme sei vergleichbar mit einem »trockne[n] Herbarium von Blumen, die nur durch ihren Duft den größten Werth besaßen« (DHA 7/1, 105). Die verschiedenen Künste werden, so läßt sich aus dem Medienvergleich folgern, also danach beurteilt, inwieweit sie eine möglichst sinnliche Repräsentation von Lebendigkeit und Bewegung ermöglichen.149 Vor dem Hintergrund dieser Diskussion stellt sich die zentrale Frage, welche impliziten poetologischen Forderungen an die Dichtung in Heines Text ausgesprochen werden. Das läßt sich mit Blick auf den zweiten genannten Aspekt – und zwar auf die künstlerische Artikulation von Franscheska – präzisieren. Die ›närrische‹, junge Italienerin, die an dem deutschen Juristen Johann Heinrich Heine Gefallen findet, weil er sie an ihren einstigen Geliebten, den Abbate Cecco, erinnert, erzählt ihm die Geschichte ihrer unglücklichen Liebe in einer pantomimischen Darstellung, die an die grotesken Aufführungen der commedia dell’arte erinnert. Sie macht die »zärtlichsten Pantomimen«, indem sie ihre Gefühle mit Gesten ausdrückt und ihre Füße, die sie in die Luft streckt, »wie hölzerne Puppen agiren« läßt (DHA 7/1, 105). Der Tanz ist dabei ihr Medium, ihre »eigentliche Sprache«: Auch sprang sie oft in die Höhe, und tanzte während sie sprach, und vielleicht war eben der Tanz ihre eigentliche Sprache. Mein Herz aber tanzte immer mit und exe-

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149

Zur Praxis des 18. Jahrhunderts, Statuen bei Fackellicht zu betrachten, um eine Illusion der Belebtheit der Kunstgegenstände zu erzeugen, vgl. Oskar Bätschmann, »Pygmalion als Betrachter. Die Rezeption von Plastik und Malerei in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts«. In: Wolfgang Kemp (Hrsg.), Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. Berlin, Hamburg 1992, S. 237–278. Vgl. dazu auch Möller, Episodik und Werkeinheit, S. 420. Dierk Möller, der auch auf den Aspekt der Bewegung hinweist, hebt allerdings auf das romantische Ideal einer Synthese aller Künste in seiner Analyse ab.

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kutirte die schwierigsten Pas, und zeigte dabey so viel Tanztalent, wie ich ihm nie zugetraut hätte. (DHA 7/1, 105)

Der Tanz verbindet Sprache und Bewegung, wodurch Franscheskas Geschichte in plastischer Weise erzählt wird. Insofern realisiert ihre Kunst, was der Erzähler an den Plastiken lobt, die mit Fackeln scheinbar in Bewegung versetzt werden. Die künstlerische Darbietung ihrer Lebensgeschichte besitzt auch in rezeptions-, produktions- und werkästhetischer Hinsicht Vorbildcharakter. Wie der zweite Teil des Zitats zeigt, ist die Rezeption davon geprägt, daß sie den Zuschauer affiziert – der Erzähler betont, daß sein Herz bei ihrer Vorführung mittanze. Ihre Darstellung, führt der Erzähler weiter aus, »hatte etwas Puppenspielwehmüthiges«, das ihn »wundersam bewegte« (DHA 7/1, 105). Diese Beobachtung greift auf den zweiten Aspekt über, nämlich die groteske Werkästhetik von Franscheskas »schöne[r] Comödie«, in der die entgegengesetzten Emotionen der Wehmut und des Lachens zugleich aufscheinen – »dabey weinte das tolle Mädchen ergötzlich kichernde Thränen, die aber dann und wann etwas unbewußt tiefer aus der Seele kamen, als die Rolle verlangte« (DHA 7/1, 105). Indem Franscheska »ihre eigene Geschichte parodirte« (DHA 7/1, 105), von der sie sich selbst zutiefst bewegt zeigt, schafft sie ein groteskes Kunstwerk. Dieses und ihr närrisch groteskes Auftreten unterscheiden sich jedoch dezidiert von dem karikaturesken Charakter der anderen Figuren. In produktionsästhetischer Hinsicht zeigt die zitierte Stelle drittens, daß Franscheska zwischen Kunst und Leben nicht kategorisch trennt. Wenn, wie es heißt, die Tränen des Spiels unmittelbar aus ihrer Seele kommen, überschreitet sie die Anforderungen ihrer Rolle – zumal es die Geschichte ihres eigenen Lebens ist, die sie performativ erzählt. Mit der Figur Franscheskas wird, so läßt sich nun festhalten, nicht nur das Ideal eines neuen Menschseins formuliert, sondern sie fungiert im Text auch als künstlerisches Leitbild. Das macht den Umstand besonders bemerkenswert, daß es sich bei ihr um eine intertextuelle Referenz sowohl auf biographische Details aus Byrons Leben als auch auf seine ottava rima-Texte handelt, die im italienischen Exil entstanden. Auf zwei augenfällige Bezüge soll hier kurz eingegangen werden. Wie aus einer Lesart zu Die Bäder von Lukka hervorgeht, sollte die Tänzerin Franscheska ursprünglich Guiccioli heißen, also den gleichen Familiennamen tragen wie Byrons junge italienische Geliebte Teresa Guiccioli (vgl. DHA 7/2, 1211). Thomas Medwins Schilderung der Gräfin Guiccioli in seinem schon erwähnten, bei den Zeitgenossen berühmten Buch Conversations of Lord Byron, auf das Heine selbst in einem Brief hinweist, erinnert nicht nur aufgrund ihres jungen Lebensalters – »achtzehn Jahr« (DHA 7/1, 106) – an Heines Franscheska. Vor allem Medwins Hinweis auf die »Griechische Regelmäßigkeit« ihrer Gesichtszüge, deren gelegentlicher melancholischer Ausdruck dem politischen Exil ihrer Familie geschuldet sei, sowie die Beschreibung der Grazie ihrer Erscheinung und des Tons ihrer unbeschreib240

lichen Stimme finden ein Echo in Heines Charakterisierung der italienischen Tänzerin Franscheska.150 Die Schönheit der italienischen Frauen thematisierte Byron vor allem in Beppo, dem ottava rima-Text, der im venezianischen Karneval spielt und die Freizügigkeit der italienischen Moral mit der englischen ›Kälte‹ und der gesellschaftlichen Lüge und Heuchelei kontrastiert. Laura, die Heldin der Geschichte, fungiert in Beppo als Exempel der freien italienischen Sinnlichkeit, die der verlogenen englischen Moral gegenübergestellt wird.151 Aus dem Kontext dieses Gegensatzes stammt die folgende Würdigung der Italienerinnen: Eve of the land which still is Paradise! Italian beauty! didst thou not inspire Raphael, who died in thy embrace, and vies With all we know of Heaven, or can desire, In what he hath bequeath’d us?—in what guise, Though flashing from the fervour of the lyre, Would words describe thy past and present glow, While yet Canova can create below? (CPW IV, 143)

Italien, so beschreibt es der erste Vers, ist immer noch ein Paradies, dessen erste Frau Eva noch keine Sünde kennt. Schönheit und große Kunst, so macht der Verweis auf Raffael im dritten Vers deutlich, stehen in Italien in einem symbiotischen Wechselverhältnis. Die italienische Schönheit, die Raffaels Kunst inspirierte, findet ihren vollkommenen Ausdruck in seinem Vermächtnis (»what he hath bequeath’d us«). Seine Schöpfungen übertreffen alle Wünsche und Vorstellungen, die sich der Mensch vom Himmel macht (»vies/ With all we know of heaven, or can desire«). Der Hinweis auf die Renaissancemalerei Raffaels führt zu einer medientheoretischen Reflexion über die adäquate Umsetzung der Schönheit der Italienerinnen. Welche Worte, fragt der Erzähler rhetorisch, könnten ihre leuchtende Glut angemessen darstellen, verglichen mit den Schöpfungen des Bildhauers Antonio Canova (1757–1822), den bereits Heines Text im gleichen Zusammenhang nannte. Denn solange Canova noch auf Erden schaffe, überträfen seine Plastiken selbst die leidenschaftliche Sprache der Dichtung (»Though flashing from the fervour of the lyre«). Die Stanze aus Beppo zielt ebenso wie die Beschreibung von Franscheska in Die Bäder von Lukka auf die Überlegenheit der sinnlichen Form gegenüber der Repräsentation durch Worte mit dem Hinweis auf die Bildhauerei von Canova ab. Auch 150 151

Byron’s Unterhaltung mit Medwin (aus dem Englischen von Wilhelm von Lüdemann). In: Lord Byron’s Poesien, Bd. 17: Zwickau 1825, S. 102. Wie Alfred Opitz bemerkt, sollte Franscheska in einer früheren Version zunächst Laura heißen. Während Opitz den Gegensatz zur gleichnamigen, aber abweisenden Protagonistin aus Ideen. Das Buch Le Grand herstellt, liegt zugleich die Parallele zur Funktion von Byrons Figur Laura aus Beppo auf der Hand (vgl. DHA 7/2, S. 1089 u. S. 1289).

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Byron hatte Canovas Venus im Palazzo Pitti gesehen und war von ihr überwältigt, wie ein Brief an John Murray von 1817, das Jahr in dem auch Beppo entstand, dokumentiert: At Florence I remained but a day […].—However—I went to the two galleries— from which one returns drunk with beauty [...].—What struck me most were the Mistress of Raphael a portrait [...]—the Venus—Canova’s Venus also in the other gallery [...] (that is, in the Pitti Palace gallery—) […]. (BLJ 5, 218)

Neben dem strukturell vergleichbaren Hinweis auf die Venus von Canova wird die These eines intertextuellen Bezugs zu Byrons Text zudem dadurch gestützt, daß Heine, wie eine Lesart zeigt, zunächst in der medientheoretischen Passage der Bäder von Lukka auch auf Raffael eingehen wollte. Geradezu als dialogische Replik auf die zitierte Stanze aus Beppo erscheint der gestrichene Halbsatz: »Kein Raphael kann dir einen« (DHA 7/2, 1222), der die Potenz, die Byron noch den Medien der Bildhauerei und der Malerei zuspricht, dem Renaissancemaler explizit aberkennt.152 Wenn Byrons Erzähler in Beppo fragt, »in what guise […]/ Would words describe« ist diese Frage nicht nur eine rhetorische, sondern zielt zugleich auf eine metapoetische Auseinandersetzung ab, wie die eigene Dichtung aussehen müsse, um mit den anderen Medien zu konkurrieren. Welche vergleichbaren poetologischen Konsequenzen diese Diskussion für Byrons und Heines Texte in ästhetischer Hinsicht besitzt, wird abschließend zu sehen sein. Dazu soll zunächst Heines komplexer Naturbegriff erörtert werden, der in Die Bäder von Lukka in ästhetischer und thematischer Hinsicht eine exponierte Position besitzt. Er soll über die Kritikpunkte des Unzeitgemäßen und Leblosen in bezug auf Platen und seine Dichtung erschlossen werden. 3.3.

Der Naturbegriff und die Kritik am Unzeitgemäßen und Leblosen

Heines Platenkarikatur in Die Bäder von Lukka weist zentrale poetologische Parallelen zu Byrons karikaturistischer Abrechnung mit seinem Dichterkollegen Robert Southey in The Vision of Judgment auf. Daß Heine schon früh Kenntnis von der englischen Debatte hatte, geht aus dem Reisebild Briefe aus Berlin hervor, in dem sich der Sprecher auf den Streit zwischen Southey und

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Vor dem Hintergrund dieser Bezüge auf Byrons Leben und Werk müssen Kommentare zu Byrons Rolle in Die Bäder von Lukka wie von Andreas Stuhlmann eindeutig als ›exoterische‹ Lektüre betrachtet werden. Im Kontext der Passage über Byronische Zerrissenheit, auf die das nächste Kapitel noch genauer eingehen wird, schreibt Stuhlmann: »Gerade vor dem Hintergrund der Reisen in Italien, wo Heine häufig mit Spuren von Byrons eigenem skandalumwirrten Aufenthalt konfrontiert worden war und zugleich die lyrischen Spuren des Italien-Erlebnisses in Byrons Werk nachverfolgt hatte, scheint ihm eine Distanzierung und Emanzipation vom ehemaligen Vorbild geboten, die er mit lyrischer Lust und kritischer Strenge am realen Kritiker Neumann, wie am fi ktionalen Widerpart Gumpel vollzieht.« (Stuhlmann, »Die Literatur – das sind wir und unsere Feinde«, S. 120)

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Byron bezieht: »Man klagt noch sehr über die Gottlosigkeit seiner Gedichte, und der gekrönte Dichter Southey in London nennt Byron und seine Geistesverwandte die ›satanische Schule‹. Aber Childe-Harold schwingt gewaltig die vergiftete Geißel, womit er den armen Laureaten züchtigt.« (DHA 6, 50) Eine zentrale Entsprechung ist die Kritik an der fehlenden inneren Bewegung und Kraft in der Dichtung ihrer Gegner. Wie in Byrons Satire Southeys leblose und ›gichtige‹ Hexameter verspottet werden, so mokiert sich das XI. Kapitel der Bäder von Lukka, mit dem das fiktionale Reisebild endet und die offene Polemik beginnt, über Platens Ghaselen. Beide Autoren, Byron und Heine, kritisieren an ihren Gegnern, daß die Form, die nur imitiere und kopiere, äußerlich bleibe und insofern leblos sei: »[W]enn der Graf Platen noch so hübsch in den Gaselen seine schaukelnden Balanzirkünste treibt, wenn er in seinen Oden noch so vortrefflich den Eyertanz exekutirt, ja, wenn er, in seinen Lustspielen, sich auf den Kopf stellt – so ist er doch kein Dichter.« (DHA 7/1, 139) Platen, so der Sprecher, »weiß nur die äußeren Formen zu erfassen« (DHA 7/1, 138), seine »Virtuosität« (DHA 7/1, 139) liege »im Technischen« (DHA 7/1, 138): »Ungleich dem wahren Dichter, ist die Sprache nie Meister geworden in ihm, er ist dagegen Meister geworden in der Sprache oder vielmehr auf der Sprache, wie ein Virtuose auf einem Instrumente.« (DHA 7/1, 138) Weil die Form nur reproduziert wird, fehlt ihr das Leben(dige) wie aufgrund ihres imitatorischen Charakters die Originalität. Gleichwohl Platens Dichtung sich dem Sprecher Heine als reiner Formalismus darstellt, wird sie – wie auch Southeys Poetik bei Byron – dem romantischen Dichtungskonzept zugerechnet: »Graf Platen hingegen, trotz seinem Pochen auf Classizität, behandelt seinen Gegenstand vielmehr romantisch, verschleyernd, sehnsüchtig, pfäffisch, – ich muß hinzusetzen: heuchlerisch.« (DHA 7/1, 141) Die Assoziation von Platens Dichtung mit der Romantik mag verwundern, ist aber wohl darauf zurückzuführen, daß Heine den spiritualistischen, sinnenfeindlichen Zug, den er an seinem Gegner beobachtet, auf das Bündnis der Romantiker mit dem katholischen Klerus bezieht, eine Allianz, die er – allerdings irrtümlich – auch bei Platen vermutet.153 Als anachronistisch und heuchlerisch gehemmt wird denn auch Platens ›Knabenliebe‹ präsentiert, in der der Kritiker »nur etwas Unzeitgemäßes, nur die zaghaft verschämte Parodie eines antiken Uebermuths« (DHA 7/1, 140) sieht. In der Gegenwart sei Homosexualität hingegen nur ein Kennzeichen des widernatürlichen Verhaltens des in politischer und kultureller Perspektive zeitwidrigen, überlebten Adels.154 Die Sexualität wird auf die Ästhetik projiziert, 153

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Heines biographisch gegenstandslose Attacken auf Platen wurden in der Forschung richtig gestellt. So war etwa der Vorwurf der »Anfälle von Katholizismus« (DHA 7/1, S. 145), die Heine aus Platens Zusammenarbeit mit dem Münchner Eos-Kreis um Ignaz Döllinger und Joseph Görres folgerte, unbegründet. Vgl. dazu Derks, Die Schande der heiligen Päderastie, S. 531. Vgl. dazu Hermand, »Heine contra Platen«, S. 117.

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wenn es heißt, daß »geistiges Gebären demjenigen versagt ist, der selbst nur, als ein unfruchtbares Geschöpf, sich gaselig hingiebt in windiger Weichheit« (DHA 7/1, 143). Wie oben dargestellt wurde, verwendete auch Byron den Vorwurf der sexuellen Impotenz für Southey, um auf die ›Unfruchtbarkeit‹ der geistigen Erzeugnisse des englischen Laureaten hinzuweisen. Sowohl Byron als auch Heine betonen immer wieder den engen Zusammenhang zwischen Körper und Geist, was in diesem Kontext bedeutet, daß die Unterdrückung der sinnlichen Natur des Menschen in poetische Kraftlosigkeit mündet. Platen gleiche, so heißt es in Die Bäder von Lukka, dem »Vogel Strauß […], der das schönste Gefieder hat und doch nicht fliegen kann« (DHA 7/1, 141f.). Ihm fehle die Schöpfungskraft, weil sein Schöpfungsakt auf »Fleiß« (DHA 7/1, 137), »Mühe« und »Zwang« (DHA 7/1, 138), also auf der Unterdrückung des Körpers basiere. Dagegen zeichnet der Sprecher Heine seine eigene Dichtkunst sensua listisch – er habe sich »nicht so sehr geplagt, und sie immer in Verbindung mit gutem Essen ausgeübt« (DHA 7/1, 138). Heines Invektive entzündete sich bekanntlich an Platens aristophanischer Komödie Der romantische Oedipus von 1829, in der er Karl Immermann und Heine verbal angreift, wobei er Heine mit antisemitischen Beleidigungen verunglimpft.155 Gerade Platens Absicht, den aristophanischen Ton zu kopieren, und seine Ambition, als neuer Aristophanes zu gelten, provozierten Heine, der den antiken Dichter auch als sein Vorbild begriff und die Rolle des deutschen Aristophanes für sich selbst beanspruchte.156 Platen, so heißt es entsprechend in Die Bäder von Lukka, kopiere von dem »gewaltigsten, phantasiereichsten und witzigsten Dichter der jugendlichen Griechenwelt« (DHA 7/1, 148) nur »Aeußerlichkeiten« der Form – »die feinen Verse und die groben Worte« (DHA 7/1, 149) – und habe in seiner Satire, »keine Spur von einer tiefen Weltvernichtungsidee, die jedem aristophanischen Lustspiele zum Grunde liegt« (DHA 7/1, 148). Während der antikisierende Platen seinen Gegenstand heuchlerisch, kraftlos und unlebendig behandle, besäßen antike Dichter wie Petron eine »schroffe, antike, plastisch heidnische Offenheit« (DHA 7/1, 141). Die Werke des »frechen, unehrerbietigen Aristophanes« kennzeichnet, wie Jost Hermand betont, »›ungebändigte[s]‹ Leben« und eben daran fehle es, so der Vorwurf, Platens Dichtung.157 Am Verhältnis von Platens angeblich lebloser Kopie der alten, antiken Formen zu Aristophanes wird also die Bedeutung von zeitgemäßer, moderner Dichtung erläutert: sie soll keine äußerliche Imitation, sondern die poetische Transformation der Idee in die geschichtlich veränderte 155 156

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Zu Platens Komödie vgl. Stuhlmann, »Die Literatur – das sind wir und unsere Feinde«, S. 109–115. Vgl. etwa Heines Brief an Friederike Robert vom 12. Oktober 1825, in dem er sich bereits über den Vorbildcharakter des aristophanischen Lustspiels und seiner Weltanschauung äußert (vgl. HSA 20, S. 218f.). Hermand, »Heine contra Platen«, S. 115.

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Gegenwart sein. Das XI. Kapitel der Bäder von Lukka formuliert den radikalen Vorwurf, daß Platen weder in politischer, noch in ästhetischer und sexueller Hinsicht den Anforderungen der gegenwärtigen Zeit entspreche. Insofern repräsentiert er nur das Alte und nicht das Neue. Die Kritik an unzeitgemäßem Anachronismus und erstarrter Leblosigkeit in der restaurativen Gegenwart war auch schon Gegenstand des ersten, fiktionalen Teils der Erzählung. Sie wird im letzten Kapitel der Bäder von Lukka nochmals anhand von Platen vorgeführt und kulminiert im Vorwurf der ›Unnatürlichkeit‹. Auf die Bedeutung der Naturthematik für Die Bäder von Lukka wurde in der Forschung schon verschiedentlich hingewiesen. Vor allem wird dabei auf Heines Forderung von »Naturlauten« (DHA 7/1, 142) verwiesen, die im Gegensatz zu Platens formalistisch-artifizieller Dichtung stehe. In welchem Verhältnis steht aber die Kritik am Unzeitgemäßen und Leblosen zur Forderung von Naturlauten? Dierk Möller zufolge artikuliere das italienische Reisebild die Überzeugung, daß echtes Künstlertum nicht nur handwerkliches Können, sondern auch die Integration der Bereiche Natur, Liebe und Religion erfordere, wodurch Heine in die Nähe von Theorien romantischer Dichter wie Friedrich Schlegel rücke.158 Möllers Interpretation orientiert sich an der zentralen Kritik des XI. Kapitels, das refrainartig wiederholt, Platen sei kein Dichter, weil in seinen Gedichten ein »Mangel an Naturlauten« (DHA 7/1, 142) herrsche. Die Opposition von Formalismus und natürlichem Ausdruck, die daran abzulesen ist, begründet, so die These, allerdings kein »Natürlichkeitsideal«, wie es in der Forschung formuliert wurde.159 Vielmehr zeigen gerade Die Bäder von Lukka die Vielschichtigkeit von Heines Naturbegriff, der eine sorgfältige Differenzierung erfordert. Dies umso mehr, als in einer der bekanntesten Stellen des Textes die zeitgenössische Naturbegeisterung und die Forderung von Natürlichkeit als »grüne Lügen« (DHA 7/1, 95) beißend kritisiert werden. Ein Gespräch des Erzählers mit Gumpelino über die Natur am Ende des dritten Kapitels gibt dazu den Auslöser. Die Begeisterung für die Natur, die sich in Gumpelinos Deklamation einiger Verse von Friedrich Matthisons Elegie über »der Abenddämmrung Schleyer« angesichts des »lachende[n], morgenhelle[n] Thal[s]« (DHA 7/1, 94) entlädt, veranlassen den Erzähler zu einer Reflexion über »unwahre Naturempfindung« (DHA 7/1, 95). Auf den Vorwurf Gumpelinos, der spöttische Erzähler besitze »keinen Sinn für reine Natürlichkeit«, er sei »ein zerrissener Mensch, ein zerrissenes Gemüth, so zu sagen, ein Byron« (DHA 7/1, 95), wendet er sich mit einer Replik direkt an sein Publikum:

158 159

Vgl. Möller, Episodik und Werkeinheit, S. 444. So etwa Sabine Bierwirth, die unter Rückgriff auf die Kritik an Platens fehlenden Naturlauten in Die Bäder von Lukka von einem Natürlichkeitsideal spricht, das eine Konstante in Heines Werk darstelle (Sabine Bierwirth, »Heines Naturästhetik«. In: Michael Vogt/Detlev Kopp (Hrsg.), Literaturkonzepte im Vormärz. Bielefeld 2001, S. 125–136, hier S. 126).

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Lieber Leser, gehörst du vielleicht zu jenen frommen Vögeln, die da einstimmen in das Lied von byronischer Zerrissenheit, das mir schon seit zehn Jahren, in allen Weisen, vorgepfiffen und vorgezwitschert worden, und sogar im Schädel des Markese, wie du oben gehört hast, sein Echo gefunden? Ach, theurer Leser, wenn du über jene Zerrissenheit klagen willst, so beklage lieber, daß die Welt selbst mitten entzwey gerissen ist. Denn da das Herz des Dichters der Mittelpunkt der Welt ist, so mußte es wohl in jetziger Zeit jämmerlich zerrissen werden. Wer von seinem Herzen rühmt, es sey ganz geblieben, der gesteht nur, daß er ein prosaisches weitabgelegenes Winkelherz hat. (DHA 7/1, 95)

Wie schon mehrfach beobachtet wurde, wird hier die Zerrissenheit, die Heine von seinen Rezensenten immer wieder vorgeworfen wurde, von einer vagen subjektiven Stimmung zu einer generellen, objektiven Zeitdiagnose der Gegenwart erhoben.160 Denn da die »Welteinheit«, die in der Antike und im Mittelalter noch vorhanden war und von »ganze[n] Dichter[n]« dargestellt werden konnte, in der Moderne nicht mehr existiert, ist »jede Nachahmung ihrer Ganzheit […] eine Lüge«, die »dem Hohne dann nicht entgeht« (DHA 7/1, 95). Einer, der diesem Spott nicht entgeht, ist der zeitgenössische Schriftsteller Wilhelm Neumann (1781–1834). Über Neumann, der Heines Lyrik in einer Rezension von 1829 wegen ihres ›zerrissenen‹ Charakters kritisierte und selbst für eine sittlich-harmonische Naturdichtung eintritt, heißt es entsprechend ironisch: Jüngst, mit vieler Mühe, verschaffte ich mir in Berlin die Gedichte eines jener Ganzheitdichter, der über meine byronische Zerrissenheit so sehr geklagt, und bey den erlogenen Grünlichkeiten, den zarten Naturgefühlen, die mir da, wie frisches Heu, entgegendufteten, wäre mein armes Herz, das schon hinlänglich zerrissen ist, fast auch vor Lachen geborsten, und unwillkürlich rief ich: Mein lieber Herr Intendanturrath Wilhelm Neumann, was gehn Ihnen die jrine Beeme an? (DHA 7/1, 95)

Die Naturdichtung steht der Diagnose der Zerrissenheit diametral gegenüber, weil sie einen von Zeit, Geschichte und Zivilisation unberührten Fluchtraum entwirft, der sich als harmonisch und nicht entfremdet gibt. Eine Literatur, die die Wirklichkeit in der Gegenwart objektiv abbildet, muß selbst zwangsläufig zerrissen und dissonant sein – eine ›schöne‹ Naturdichtung wird insofern als unzeitgemäße Lüge entlarvt.161 Die wiederholte Erwähnung Byrons als zeit-

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161

Jost Hermand definiert sogar die ideologische Intention des gesamten Textes Die Bäder von Lukka als »Herausarbeitung der ›Zerrissenheit‹« (Hermand, Der frühe Heine, S. 156). Zum Aspekt der Zerrissenheit bei Heine siehe auch Boerner, »Die ganze Janitscharenmusik der Weltqual«, S. 74–92. Grundlegendes zu Heines Verständnis von Natur und Landschaft formuliert Bernd Kortländer, »Natur als Kulisse? Landschaftsdarstellungen bei Heinrich Heine«. In: Heinrich Heine 1797–1856. Internationaler Veranstaltungszyklus zum 125. Todesjahr 1981 bei Eröffnung des Studienzentrums Karl-Marx-Haus. Trier 1981, S. 46–62.

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genössischer Repräsentant des Zerrissenen liegt nahe.162 Der Bezug geht aber über die mit seinem Namen verbundene, topisch gewordene weltschmerzliche Zerrissenheit hinaus. Denn Heines in Die Bäder von Lukka formulierte Kritik an den »erlogenen Grünlichkeiten« entspricht Byrons Angriff auf den »cant about Nature« (CMP, 146) in seinem »Letter to John Murray« im Kontext der Bowles/Pope Controversy. Die Geschichte des Erzählers von der Tochter, die ihre von den Bäumen schwärmende Mutter bei einem Spaziergang unter den Linden in Berlin verwundert fragt: »Mutter, was gehn Ihnen die jrine Beeme an? (DHA 7/1, 95) – erinnert an Byrons Angriff auf die eigentümliche Naturbegeisterung der Londoner Großstadtdichter, den ›Cockney Poets‹, deren Naturschwärmerei er als »trash of trees« (CMP, 146), den Müll über Bäume, bezeichnet. Es stellt sich nun die Frage, inwiefern das an beiden Autoren beobachtete problematische Verhältnis zur zeitgenössischen Naturschwärmerei, die der Erfahrung einer entfremdeten Zivilisation mit dem tröstenden Rückzug in die als zeit- und geschichtslos konstruierte Natur begegnet, sich zu Heines Forderung von Naturlauten verhält. »Nie sind tiefe Naturlaute, wie wir sie im Volksliede, bey Kindern und anderen Dichtern finden, aus der Seele eines Platen hervorgebrochen oder offenbarungsmäßig hervorgeblüht« (DHA 7/1, 138), spezifiziert der Sprecher sein Verdikt im XI. Kapitel der Bäder von Lukka. Gerade aber der Hinweis auf das Kindliche und Volksliedhafte scheint der gleichzeitigen Kritik an der unzeitgemäßen Ganzheitslüge der Naturdichter zu widersprechen. Dementsprechend kommt die Untersuchung von Sabine Bierwirth zu Heines Naturästhetik, die diesen Problemzusammenhang ebenfalls diskutiert, zu dem Ergebnis, daß Heines Natur- und Natürlichkeitsbegriff nicht eindeutig definiert werden könne, da er Spannungen aufweise, wie etwa zwischen der Forderung von Naturlauten einerseits und dem Bekenntnis zum Supernaturalismus andererseits.163 Obwohl diese Beobachtung sicherlich zutrifft und Heines theoretisch-poetologische Äußerungen oftmals – was im übrigen auch für Byron charakteristisch ist – in einem Spannungsverhältnis zu seinen literarisch-fiktionalen Texten stehen, läßt sich gerade der Naturbegriff, der nicht nur Heines Kritik an Platen in Die Bäder von Lukka zugrundeliegt, sondern auch noch seine spätere Ästhetik prägt, präziser bestimmen. Dazu ist es hilfreich, auf die Unterscheidung zwischen natura naturans und natura

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Der Riß im Herzen des Erzählers verbindet ihn mit der närrischen Protagonistin Mathilde, deren Herz wie eine »Glocke« ebenfalls einen »verborgene[n] Riß« aufweist, der »ihre heitersten Töne […] gleichsam mit heimlicher Trauer« umgibt (DHA 7/1, S. 86). Das weibliche Alter Ego des Erzählers Mathilde assoziiert darüber hinaus durch ihre Darstellung als Göttin der Jagd, Artemis, metonymisch ihren Landsmann Byron, über den es später heißt, daß er »die Natur in ihrer keuschen Nacktheit belauscht« habe und »deßhalb, wie Aktäon, von ihren Hunden zerrissen« wurde (DHA 7/1, S. 96). Vgl. Bierwirth, »Heines Naturästhetik«, S. 131.

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naturata zurückzugreifen, wie sie Ende des 18. Jahrhunderts in der Philosophie des Idealismus geläufig wurde. Die Unterscheidung zwischen schöpferischer (natura naturans) und geschaffener Natur (natura naturata) geht auf scholastische Traditionen zurück, die wiederum auf einem Text der Physik von Aristoteles basieren, der zwischen Natur- und Kunstprodukten unterscheidet.164 Vorstellungen wie von Giordano Bruno, der die Gottheit mit der natura naturans identifizierte und die Welt als entfaltete Gottheit, waren in der Folge besonders einflußreich.165 Zentral ist die Erkenntnis, daß das schöpferische Prinzip der Natur als Ursprung alles Lebendigen wirkt, aber nicht nur in der äußeren Natur, sondern auch im Menschen selbst. Besaß diese Einsicht schon eine außerordentliche Bedeutung für das Menschenbild der Renaissance, so prägte die Vorstellung einer kraftund lebenserfüllten, dynamischen Natur die Naturauffassung des Sturm und Drang grundlegend. Die Idee einer schöpferischen Kraft des Lebendigen fand bekanntlich ihren Ausdruck in der Geniekonzeption der Epoche, die gegen überholte Autoritäten rebellierte. Der englische Renaissancedichter William Shakespeare galt den jungen Autoren des Sturm und Drang als Prototyp des aus sich selbst schöpfenden Genies, das gegen etablierte Regeln aufbegehrt und starre Formen überwindet. Für Heine ist die Unterscheidung zwischen natura naturans und natura naturata insofern relevant, als sie den vermeintlichen Widerspruch zwischen der Forderung von Naturlauten und der Kritik an der Ganzheitslüge der Naturdichtung klären kann. Für Heine ist vor allem das schöpferische Prinzip, die natura naturans, positiv besetzt als das Lebendige, als Bewegung und ständiges Werden. Die für die Romantiker so bedeutende spinozistische Auffassung der natura naturata als Emanation der Gottheit (deus sive natura)166 verliert bei Heine, so die These, ihre herausragende Bedeutung, weil die Naturbegeisterung dem Gesellschaftlich-Sozialen und Politischen weicht. Das läßt sich gerade anhand des italienischen Reisebilds Die Bäder von Lukka exemplarisch zeigen. Die Kritik an Platen, daß seine Dichtung unnatürlich sei und es ihm an Naturlauten mangle, zielt deutlich, so läßt sich jetzt sagen, auf das fehlende schöpferische Prinzip – die natura naturans. Statt Naturlauten würden seine Texte eine undynamische, erstarrte Form zeigen, die kein Leben besitze und auf den Mangel an originaler, schöpferischer Kraft zurückzuführen sei. Platen ist also dem Sprecher zufolge in produktionsästhetischer Hinsicht kein Dichter, weil ihm die echte Schöpferkraft fehle – er sei kein frei schaffendes Genie, vielmehr zeichne sich sein kreativer Akt durch »bittere Mühe« und 164 165 166

Vgl. dazu Klaus Hedwig, Art. »Natura naturans/naturata«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Sp. 504–509. Siehe Rudolf Eisler, Handwörterbuch der Philosophie. Berlin 1913, S. 427f. Siehe dazu auch Wolfgang Riedel, »Natur/Landschaft«. In: Ulfert Ricklefs (Hrsg.), Fischer Lexikon Literatur, Frankfurt a.M. 1996, S. 1417–1433, hier S. 1429.

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»unsägliche Beharrlichkeit« aus sowie einen »beängstigenden Zwang, den er sich anthun muß, um etwas zu sagen« (DHA 7/1, 138). Platens Antipode stellt Shakespeare als Inbegriff des genialen Dichters dar, über den Heine an anderer Stelle schreibt, daß er »die Wahrheit der Natur in jedem Worte athmet« (DHA 10, 180). Heines Deformation seiner Gegner erfolgt immer wieder über den Naturbegriff der natura naturans, der zudem Argumente aus der Debatte um das Häßliche in der Aufklärung aufgreift.167 So steht etwa auch noch die literarische Karikatur des französischen Romantikers Victor Hugo, die Heine in der Lutezia publizierte, im Kontext dieses Naturbegriffs, der produktionsund werkästhetische Kriterien verbindet. Wie über Platen in Die Bäder von Lukka, lautet dort der Vorwurf an Hugo, sein »Werk zeugt weder von poetischer Fülle noch Harmonie, weder von Begeisterung noch Geistesfreyheit, es enthält keinen Funken Genialität, sondern nichts als gespreitzte Unnatur« (DHA 14/1, 44f.). Schreibt Heine schon in Shakspeares Mädchen und Frauen über den Franzosen Hugo: »es fehlt ihm das Leben« (DHA 10, 181), begreift er in Lutezia Hugos Schöpfungen sogar als »eine grasse, krampfhafte Nachäffung des Lebens« (DHA 14/1, 45). Orientiert sich die Kritik an Platens mangelnden Naturlauten in Die Bäder von Lukka am Leitbild der natura naturans, so wird im Gegenzug die Naturbegeisterung, die sich auf die natura naturata richtet, im Text parodiert. Die Lüge und Unangemessenheit eines schwärmerischen Naturkults, wie ihn der Marchese praktiziert – »Und gar Natur! (DHA 7/1, 94) –, werden am Ende des III. Kapitels entlarvt durch die oben bereits genannte groteske Diskrepanz zwischen den »erhabenen Worte[n]« (DHA 7/1, 94) des zitierten elegischmelancholischen Gedichts von Matthison und der tatsächlichen Situation – dem »lachende[n], morgenhelle[n] Thal« (DHA 7/1, 94), in das der Erzähler und Gumpelino hinabschauen. Die Kunst wird in Gumpelinos Schwärmerei reduziert auf schmückendes Beiwerk: »Welche Schöpfung! Sehen Sie mahl die Bäume, die Berge, den Himmel, da unten das Wasser – ist nicht alles wie gemalt? Haben Sie es je im Theater schöner gesehen? Man wird so zu sagen ein Dichter!« (DHA 7/1, 94) Für den Erzähler dagegen fungiert die italienische Natur weder als Kulisse, noch als Kompensation und Fluchtraum. Wie schon gezeigt wurde, verdeutlicht die Naturszenerie, die das III. Kapitel eröffnet, daß Italiens ›versöhnte‹ Natur als sinnlich-emanzipatorisches Ideal verstanden wird und insofern im Rahmen der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit der Zeit betrachtet werden muß. Heines Naturbegriff verweist so zugleich auf die Dimension der schöpferischen Autonomie des Künstlers und auf die eman-

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Vgl. dazu meinen Aufsatz »›Abbildungen des wirklichen Lebens‹ oder ›Hirngeburten‹? Kontinuität und Wandel der Karikatur in Aufklärung und Vormärz«. In: Wolfgang Bunzel/Norbert Otto Eke/Florian Vaßen (Hrsg.), Der nahe Spiegel – Vormärz und Aufklärung. Bielefeld 2008, S. 241–264.

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zipatorische Idee einer sinnlichen Versöhnung der Widersprüche und Spannungen in der modernen Gesellschaft. Abschließend soll nochmals der wirkungsästhetische Aspekt des Skandals im Zusammenhang mit der Frage nach der Herstellung von Öffentlichkeit betrachtet und mit der ästhetischen Form und Schreibweise des Textes verbunden werden. 3.4.

Skandal als Herstellung von Öffentlichkeit: Platen ›aufs Tapet‹ gebracht

Die skandalöse ›Exekution‹ des Grafen erfolgt im XI. Kapitel der Bäder von Lukka vor allem über den sexuellen Angriff, der die Intimsphäre des Gegners bloßstellt. Gegen diese Form der Literaturfehde, die Jost Hermand zufolge alle Tabus in bis dahin ungekannter Realistik verletzte, wurden in der Rezeptionsgeschichte des Textes von Heines Zeitgenossen bis in die Gegenwart immer wieder moralische Einwände formuliert.168 Am prominentesten wurden sie von Karl Kraus artikuliert, der die Ansicht vertritt, daß die »Platen-Polemik […] Heines Ruhm hätte auslöschen müssen, wenn es in Deutschland ein Gefühl für wahre polemische Kraft gäbe und nicht bloß für das Gehechel der Bosheit«.169 Auch wenn die moralische Zulässigkeit von Heines Attacke hier nicht zur Diskussion steht, so lassen sich doch anhand der öffentlichen Reaktionen Aussagen zur Funktionsweise des Textes und zu seiner impliziten Poetologie treffen. Heines Italienreisebild Die Bäder von Lukka stellte für die Philologie nicht nur in ethischer Hinsicht eine Herausforderung dar. Die Spannung zwischen der humoresken Badeerzählung und der Polemik des letzten Kapitels hat dazu geführt, daß auch die künstlerische Einheit des Textes angezweifelt wurde und das XI. Kapitel in vielen Editionen bis ins 20. Jahrhundert einfach weggelassen wurde.170 Wenn aber eine Werkeinheit besteht, und das bestätigt Alfred Opitz in seiner detaillierten Darstellung der Textgenese, dann ist eines der zentralen Merk male des Textes die Überschreitung der Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit.171 Die literarisch-fiktionale Erzählung, die einen geschlossenen (Kunst-)Raum darstellt und als Bühne fungiert, auf der die dargestellten Figuren spielen, löst sich im letzten Kapitel des Italientextes zunehmend auf. Die Kunst wird ins Leben gezerrt, das Private in die Öffentlichkeit. Die handelnden Figuren, auf deren commedia dell’ arte-Charakter in der Badeerzäh168 169 170 171

Vgl. Hermand, Der frühe Heine, S. 151. Eine Übersicht über die Positionen findet sich bei Hermand, »Heine contra Platen«, S. 109–111. Karl Kraus, »Heine und die Folgen«. In: Werke, Bd. 8: Untergang der Welt durch schwarze Magie. München 1960, S. 188–213, hier S. 206. Vgl. dazu Möller, Episodik und Werkeinheit, S. 459f. Vgl. DHA 7/2, S. 1076–1090.

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lung schon Slobodan Grubačić hingewiesen hat, treten buchstäblich von der Bühne in den Zuschauerraum über.172 Diese Eigenschaft wurde als Übergang vom Narrativen ins Publizistische beschrieben, wobei ein »Paradigmenwechsel« oder ein Sprecherwechsel zum »reale[n] Autor« Heine postuliert wurde.173 Jeffrey Sammons spricht präziser von einer Verschiebung der Erzählerrolle von einem fiktionalen Charakter zur öffentlichen Persona des Dichters Heine im XI. Kapitel. Sammons’ Verwendung des Begriffs ›Persona‹ erfaßt pointiert gerade die für den Text konstitutive Spannung zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Kunst und Leben.174 Die provokative Überschreitung der Grenze zwischen Kunst und Leben, die Günter Oesterle zutreffend als Mißachtung bürgerlicher Normen bezeichnet, kann als Ursache gesehen werden für die moralischen Stellungnahmen, die der Text immer wieder auslöste.175 Der Skandal um Die Bäder von Lukka läßt sich sowohl auf die Überschreitung der Grenzen der fiktionalen Kunst zurückführen als auch auf die Enthüllungen, die den tabuisierten Intimbereich betreffen. Der Skandal stellt eine ästhetische Kategorie des Textes dar, die darauf abzielt, die Grenzen der Kunst provokativ und tabubrechend zu überschreiten, um Öffentlichkeit zu erzeugen. Der Vergleich mit Karl Immermanns Reaktion auf Platens Angriffe in dem Lustspiel Der romantische Oedipus von 1829 zeigt prägnant die Differenz zu Heines transgressiver, eingreifender Poetik. Immermanns Replik auf Platen bleibt bekanntlich im Unterschied zu Heines Bäder von Lukka im gemäßigten Bereich der literarisch-satirischen Auseinandersetzung. Die Rezeption von Immermanns satirischer Komödie Der im Irrgarten der Metrik herumtaumelnde Cavalier zeigt, daß sie keine beachtenswerte öffentliche Diskussion hervorbrachte. Die gezielte Herstellung öffentlicher Empörung und damit von öffentlichen Debatten, die durch die zunehmend grenzverletzenden, skandalisierenden Verfahren im letzten Teil von Heines Text provoziert werden, ist bislang als Programmatik der Bäder von Lukka auch in Untersuchungen, die auf den Skandal als künstlerische Kategorie des Textes hinweisen, kaum beachtet worden.176 So geht auch Frank Schwamborn in seiner Bachtinschen Lektüre des 172 173 174 175

176

Vgl. Grubačić, Heines Erzählprosa, S. 67. DHA 7/2, S. 1088; Rudtke, ›Die lachende Träne im Wappen‹, S. 93. Vgl. Jeffrey L. Sammons, Heinrich Heine, The Elusive Poet. New Haven, London 1969, S. 171. Vgl. Oesterle, Integration und Konflikt, S. 88. Zugleich ist der Übertritt in die Lebenswelt auch ein Grund für die Versuche, den Text als Schlüsselroman zu lesen und das Bestreben, die ›wirkliche‹ Identität der Figuren zu dechiffrieren, wie etwa in der Untersuchung von Philip Veit, »Heine’s Polemics«. Eine ähnliche Tendenz zur ›Entschlüsselung‹ zeigt sich auch in der Forschung zu Byrons The Vision of Judgment, die vor allem versucht, den Autor Byron mit Satan zu identifi zieren (vgl. etwa Rutherford, Byron, S. 230 oder Peterfreund, »The politics of ›Neutral Space‹«, S. 277). Vgl. Schwamborn, Maskenfreiheit, S. 157f. Der funktionale Zusammenhang zwischen dem Skandal und der Herstellung von Öffentlichkeit wird jedoch nicht angesprochen.

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Scharfrichtermotivs in Heines Texten auf den Skandal als künstlerische Kategorie der Bäder von Lukka ein. Er hebt vor allem den exzentrischen Charakter des Skandals hervor, der bewußt Normen und Regeln, selbst der Narrenfreiheit verletze. Der funktionale Zusammenhang zwischen dem Skandal und der Herstellung von Öffentlichkeit wird jedoch in seiner Studie nicht angesprochen. Das gilt auch für die Untersuchung von Andreas Stuhlmann, die sich dem Reisebild unter dem Aspekt der Polemik nähert. Zwar widmet sich Stuhlmann im theoretischen Teil der Arbeit dem Aspekt einer kritischen Öffentlichkeit und betont zurecht, daß Heine und andere Autoren die Etablierung einer Gegenöffentlichkeit verfolgten. Allerdings setzt er diese Erkenntnis nicht in seiner Interpretation der Bäder von Lukka um – vermutlich, weil seine These ist, daß »Heine einen solchen gesellschaftlichen Konsens, die universale Geltung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit lediglich mit der rhetorischen Absicht beschwor, um seinen Gegner gegenüber der Norm zu stigmatisieren«.177 Dafür, daß Heine mit seinem skandalösen Text Öffentlichkeit als Gegenmaßnahme zur biedermeierlich-zurückgezogenen Häuslichkeit herstellen wollte, spricht ihre leitmotivische negative Thematisierung im Text. Denn die restaurative Gegenwart zeichnet sich, wie im Hinblick auf Laetizias Salon in der Badeerzählung schon gezeigt wurde, vor allem durch eine fehlende Öffentlichkeit aus. Das trifft nicht nur auf die italienische Lage, sondern zugleich auch auf die deutsche zu – wie schon erwähnt, beginnt das XI. Kapitel damit, daß der Mangel an öffentlichen Charakteren, an »public characters« (DHA 7/1, 135), in Deutschland beklagt wird. Ein wichtiges Motiv in diesem Kontext ist die ›Tapete‹, die sowohl am Anfang des vorletzten als auch des letzten Kapitel steht, in dem es in der Redewendung ›etwas aufs Tapet bringen‹ verwendet wird. Das Wortspiel stiftet eine enge Klammer zwischen den beiden Kapiteln, in denen Platen literarisch von der ›Axt des Scharfrichters‹ ›exekutiert‹ wird. Das rhetorische Mittel der Paronomasie, bei dem ähnliche Wörter desselben Stammes verwendet werden, nähert die unterschiedlichen Textstellen zunächst einander an, um dann die signifikante konzeptuelle Verschiebung der Bedeutung, die im folgenden gezeigt werden soll, umso evidenter werden zu lassen.178 Der Anfang des vorletzten Kapitels der Bäder von Lukka beginnt mit einer scheinbaren Digression, in der der Erzähler eine Geschichte aus Voltaires Candide ou L’Optimisme wiedergibt, um sich anschließend in einer metafiktionalen

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Stuhlmann, »Die Literatur – das sind wir und unsere Feinde«, S. 46. Wulf Wülfing zeigt, daß die Paronomasie eines der zentralen rhetorischen Mittel von Heines Texten ist, das aufgrund lautlicher Ähnlichkeit »zwischen oft weit auseinanderliegenden Bedeutungsbereichen eine plötzliche Verbindung« herstellt. Zur Illustration führt Wülfing interessanterweise fast ausschließlich Beispiele aus den Lukka-Reisebildern an (Wulf Wülfing, »Skandalöser ›Witz‹. Untersuchungen zu Heines Rhetorik. In: Wolfgang Kuttenkeuler (Hrsg.), Artistik und Engagement. Stuttgart 1977, S. 43–65, hier S. 51).

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Ansprache an den Leser zu wenden. Die Geschichte von Candides Besuch in Eldorado erhält durch den Vergleich mit deutschen Verhältnissen einen parabolischen Charakter, der im Zusammenhang mit der metafiktionalen Leseransprache darauf schließen läßt, daß hier zentrale poetologische Fragen des Textes verhandelt werden. Im sagenhaften Eldorado, so berichtet der Erzähler, würden die Kinder auf der Straße mit Goldklumpen spielen, da sie – in Überfülle vorhanden – »ebenso werthlos sind, wie bey uns die Kieselsteine« (DHA 7/1, 125). In Deutschland verhalte es sich genauso mit den Gedanken – sie seien so häufig wie Goldklumpen in Eldorado, so daß die deutschen Schriftsteller, die der Blick eines Fremden für »Geistesprinzen« halten könnte, sich nur als »gewöhnliche Schulknaben« (DHA 7/1, S.126) erwiesen. Welche Konsequenz der deutsche »Gedankenreichthum« (DHA 7/1, 126) für sein eigenes Schaffen bedeutet, erläutert der Erzähler auch: Diese Geschichte kommt mir immer in den Sinn, wenn ich im Begriff stehe, die schönsten Reflexionen über Kunst und Leben niederzuschreiben, und dann lache ich, und behalte lieber meine Gedanken in der Feder, oder kritzele statt dieser irgend ein Bild oder Figürchen auf das Papier, und überrede mich, solche Tapeten seyen in Deutschland, dem geistigen Eldorado, weit brauchbarer als die goldigsten Gedanken. (DHA 7/1, 126)

Weil die »goldigsten Gedanken« – die »Reflexionen über Kunst und Leben« – in Deutschland so unnütz und bedeutungslos seien wie die Goldklumpen in Eldorado, ›kritzelt‹ der Erzähler »Figürchen« auf ein Blatt, das er als Tapete bezeichnet. Die folgende Handlung will er dem Leser entsprechend als Tapete vor Augen stellen (»[a]uf der Tapete, die ich dir jetzt zeige«; »wie du auf der Tapete sehen wirst«, DHA 7/1, 126), da diese in Deutschland »weit brauchbarer« sei. Weshalb aber rekurriert der Erzähler hier auf die Metapher der Tapete zur Charakterisierung seines Schreibakts? Die Tapete, so läßt sich zunächst festhalten, stellt um 1800 ein erlesenes Kunstprodukt dar, bei dem der Modus der Visualisierung dominiert. Besonders häufig findet sich die Tapete in Texten von Romantikern wie Ludwig Tieck, E.T.A. Hoffmann, Novalis oder Joseph von Eichendorff. Aufgrund der arabesken Ornamente, die viele Tapeten aufweisen, wurden sie in der Romantik zum Ausgangspunkt für verschiedene Phantasietheorien, zum Modell der Einbildungskraft und zur Metapher für Fiktion im allgemeinen.179 In Heines Text deutet auf diesen Zusammenhang der Verweis auf die »Figürchen« und das ›Kritzeln‹, was eine minder-

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Zur Bedeutung der Tapete als Textmetapher seit der Romantik vgl. Gabriele Rippl, »Interieurs: ›Heruntergekommene Romanesken‹ im Delirium Tremens – Charlotte Perkins Gilmans The Yellow Wallpaper«. In: Susi Kotzinger/Gabriele Rippl (Hrsg.), Zeichen zwischen Klartext und Arabeske. Amsterdam, Atlanta 1994, S. 271–287. Auf die Herkunft der Arabeske u.a. aus der orientalischen Tapetenwirkerei wies 1798 schon der Weimarer Archäologe Carl August Böttiger hin (vgl. Oesterle, »Arabeske«, S. 280).

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wertige Tätigkeit andeutet und wiederum die Arabeske assoziiert, die noch in den kunsttheoretischen Diskussionen um 1800 umstritten war und Autoren wie Goethe als inferior galt.180 In der oben zitierten Passage stehen also die nutzlosen Kritzeleien von Figürchen den Reflexionen über Kunst und Leben gegenüber und der Erzähler muß sich überreden, daß gerade sie nützlicher sind in Deutschland, »dem Lande der Philosophie und der Poesie« (DHA 7/1, 413), wie es in der Skizze Der Thee von 1831 heißt. In dem kurzen Text Der Thee, der ebenfalls in den Bagni di Lucca spielt, werden die Deutschen als Menschen beschrieben, die nicht durch unliebsame Politik aus ihrem »süßen Schlafe« (DHA 7/1, 413) geweckt werden möchten. In dem imaginierten Dialog mit dem »deutsche[n] Leser« spottet der Erzähler über die literarische Präferenz und Wertschätzung des heimischen Publikums: »Laß du die Politik, verschwende nicht daran deine schöne Zeit, vernachlässige nicht dein schönes Talent für Liebeslieder, Tragödien, Novellen, und gebe uns darin deine Kunstansichten oder irgend eine gute philosophische Moral« (DHA 7/1, 413), betont aber, daß sein Text sich den Wünschen der Leser fügen werde: »Wohlan, ich will mich ruhig, wie die Anderen, aufs träumerische Polster hinstrecken, und meine Geschichte erzählen.« (DHA 7/1, 413) Scheinbar geht der Erzähler nicht nur in der Skizze Der Thee, sondern auch in Die Bäder von Lukka auf diese Forderung des literarischen Publikums ein. Die Tapetenmetapher deutet an, daß sich der Erzähler auf die ornamentale Kunst des ›Kritzelns‹ einläßt. Dabei spielt er mit dem romantischen Thema der zum Leben erwachenden Wanddekorationen.181 Die Figuren des Hirsch Hyazinth und des Marchese Gumpelino treten aus der zweidimensionalen, flächigen Tapete heraus und werden zu Gestalten des dreidimensionalen Raums. Heines Text greift ein zentrales Motiv romantischer Poetik auf, das aber entscheidend umakzentuiert wird. Denn das Kapitel bewegt sich in seiner ska180

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Zum Zusammenhang zwischen der Arabeske und der Tätigkeit des Kritzelns vgl. Günter Oesterle/Thomas Bremer, »Arabeske und Schrift. Victor Hugos ›Kritzeleien‹ als Vorschule des Surrealismus«. In: Kotzinger/Rippl (Hrsg.), Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, S. 187–218. Zur Debatte um die künstlerische Berechtigung des arabesken Ornaments um 1800 vgl. Helmut Pfotenhauer, »Klassizismus und Ornament. Die italienischen Verzierungen in der deutschen Kunstdiskussion des 18. Jahrhunderts«. In: Frank Rutger Hausmann (Hrsg.), »Italien in Germanien«. Deutsche Italien-Rezeption von 1750–1850. Tübingen 1996, S. 37–63; Günter Oesterle, »›Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente‹: Kontroverse Formprobleme zwischen Aufklärung, Klassizismus und Romantik am Beispiel der Arabeske«. In: Herbert Beck/Peter C. Bol/Eva Maek-Gérard (Hrsg.), Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert. Berlin 1984, S. 119–139. Zu Goethes sich wandelnder Einschätzung des arabesken Ornaments vgl. die Untersuchung von Michele Cometa, »Von Arabesken – Neues zu einer Theorie des Ornaments bei Goethe«. In: Goethe-Jahrbuch 121 (2004), S. 122–132. Heine nimmt dieses Thema erneut in dem Gedicht »Geoffroy Rudèl und Melisande von Tripoli« aus dem Romanzero auf, in dem es heißt: »In dem Schlosse Blay allnächtlich/ Giebt’s ein Rauschen, Knistern, Beben,/ Die Figuren der Tapete/ Fangen plötzlich an zu leben.« (DHA 3/1, S. 47)

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tologischen Drastik und karnevalesken Darstellung von Gumpelino, der Platens Gedichte auf dem Abort liest, in einer zentrifugalen Dynamik über die Grenzen des decorums hinaus, um im folgenden Kapitel auch die Grenzen der Fiktion und der Kunst zu übertreten. Die närrisch-exzentrischen Figuren verschwinden nicht wieder in der »Tapete«, sondern treten im XI. Kapitel, wo ein neuer Narr »aufs Tapet« (DHA 7/1, 135) gebracht wird, förmlich ins Leben. Etymologisch geht die für das letzte Kapitel symptomatische Formulierung ›aufs Tapet bringen‹ auf einen Beratungs- und Diskussionstisch zurück, der auf dem französischen ›tapis‹ basierend, kurz ›Tapet‹ genannt wurde. Wie das Grimmsche Wörterbuch zeigt, läßt sich die Bedeutung der Redewendung wiedergeben mit ›etwas auftischen‹, ›zur Sprache bringen‹, also etwas öffentlich machen.182 Die Tapete, die den Innenraum schmückt und auch verhüllenden Zwecken dient, wird nach außen gekehrt und zum Politikum gemacht, wofür die Formulierung ›aufs Tapet bringen‹ steht. Der Verschiebung der poetologischen Metapher von »Tapete« zu »Tapet« entspricht der Gestus des Öffentlich-Machens im XI. Kapitel der Bäder von Lukka. Öffentlichkeit, die an die Stelle von Heimlichkeit (auch im Sinn von heimeliger Häuslichkeit) tritt, ist in Heines Text sowohl ein künstlerisches und politisches, wie auch ein sexuelles Desiderat: »Das ist es ja eben, jene Liebhaberei war im Alterthum nicht in Widerspruch mit den Sitten, und gab sich kund mit heroischer Oeffentlichkeit.« (DHA 7/1, 140) In die Bäder von Lukka repräsentiert Platen den Typus der statisch-ruhenden, auf sich selbst beschränkten antikisierenden Kunst. Seine Texte werden nicht vom »großen Publikum« rezipiert, sondern finden »bey Literatoren und bey den eigentlichen Schulleuten« eine »bereitwillige Aufnahme« (DHA 7/1, 137). Statt wie der Erzähler freie Liebe ohne »heuchlerisches Feigenblättchen« (DHA 7/1, 108) zu praktizieren, schleicht er »die Pfade der Freundschaft dürftig und nüchtern und ängstlich« dahin, um »nachher bey kümmerlichem Oehllämpchen sein Gaselchen« (DHA 7/1, 141) aufzuschreiben. Literatur gewinnt dadurch, so Heines Kritik, einen rein kompensatorischen Charakter. Um das Alte – als Abgelebtes, Epigonales, Kompensatorisches und Lebloses – zu zerstören und das Neue zu initiieren, schlüpft der Erzähler, wie das Gespräch mit der ›Närrin‹ Mathilde im ersten Kapitel zeigt, nicht nur selbst in die exzentrische Rolle des Narren, sondern auch in die Position des ›unehrlichen‹ Scharfrichters wie im letzten Kapitel der Bäder von Lukka. Außerhalb der Ordnung stehend exekutiert er mit der »gute[n] protestantische[n] Streitaxt« (DHA 7/1, 147) Graf Platen. Der Hinweis auf Luther, Lessing und Voß im

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Zur Etymologie und Bedeutung dieser Redewendung vgl. Deutsches Wörterbuch. Hrsg. von Jakob u. Wilhelm Grimm, Bd. 21, S. 133. Heine verwendet sie auffällig häufig in seinen Briefen im Kontext der Platen-Angelegenheit (vgl. etwa den Brief an Varnhagen von Ense vom 4. Februar 1830, HSA 20, S. 384–386).

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XI. Kapitel verortet den Angriff auf Platen in der aufklärerischen Tradition, deren Ideologiekritik über den »Kartoffelkrieg« (HSA 20, 385) der Kunstperiode, der nach Heine nur die Interessen der Literatur und nicht des Lebens verhandelte, hinausgeht. Heine beschreibt in einem Brief an Varnhagen von Ense als ein Ziel der Platenpolemik in Die Bäder von Lukka, »das Wort Graf seines Zaubers zu entkleiden« (HSA 20, 384). Das Wort ›Zauber‹ ist doppeldeutig, indem es sowohl ›Anziehung‹ und ›Bewunderung‹ als auch ›Trug‹ und ›Täuschung‹ konnotieren kann. In der zweiten Bedeutung richtet es sich gegen die Lügen und die Heuchelei des Adels, also gegen den Herren- und Priestertrug, den auch die Auf klärer anprangerten.183 »Der Nazionalservilismus und das Schlafmützenthum der Deutschen« (HSA 20, 384) lassen Heine allerdings gegenüber Varnhagen daran zweifeln, daß ihm diese Aufgabe gelungen sei. Varnhagen greift die Figur des Scharfrichters als zentrale Metapher in seiner Rezension der Bäder von Lukka auf, die als eine der wenigen den Text und vor allem die skandalöse ›Hinrichtung‹ des Grafen verteidigt. Seine Strategie der Rechtfertigung beruht darauf, den Skandal des Textes durch die Hervorhebung des künstlerischen Aspekts des Textes abzuschwächen. Auch wenn Varnhagens Argumentation sicherlich zu einem Teil dem Versuch geschuldet ist, die öffentliche Empörung zu beschwichtigen, verkennt sie doch den grundsätzlichen Charakter von Heines Polemik. Varnhagens Besprechung des dritten Bandes der Reisebilder, die sich fast ausschließlich auf die Bäder von Lukka konzentriert, entwickelt von der Figur des Scharfrichters aus die Gerichtsmetaphorik spielerisch-humorvoll weiter, wenn es über den ›Prozeß‹ gegen den »arme[n] Sünder« Platen heißt, daß er aufgrund »großer Frevel gegen die neuesten deutschen Dichter und Kritiker« von einem »hochnothpeinliche[n] Halsgericht verurtheilt« sei, »den Kopf zu verlieren«.184 Ohne eine moralische Position beziehen zu wollen, betont der Rezensent nur das, »was wir als Thatsache bezeugen können«, und zwar, daß Heines Text diese Aufgabe erledigt habe – »die Hinrichtung ist vollzogen, der Scharfrichter hat sein Amt als Meister ausgeübt, der Kopf ist herunter!«185 Dabei ist Varnhagen in seiner Besprechung auf relativierende Mäßigung bedacht, wenn er Heines Angriff auf Platen zum einen in die Tradition »arge[r] Geschichten« stellt – »Lessing, Voß, Wolf, die ›Xenien‹, die Schlegel, Tieck haben in solcher Weise nachdenkliche Dinge ausgeübt« – und zum anderen vor allem die Komik, den Scherz und Humor des Ganzen betont: »[I]n so heitern und lachenerregenden Zerstreuungen haben wir noch keinen literarischen Sünder zu so grausamem Ende

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Zur religions- und herrschaftskritischen Herren- und Priestertrugstheorie des 18. Jahrhunderts in bezug auf das chronologisch folgende Reisebild Die Stadt Lukka vgl. Höhn, HeineHandbuch, S. 253f. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 397. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 397.

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wandern sehen!«186 Varnhagens Rezension will offensichtlich dem Vorwurf der infamen Personalsatire entgegenwirken, wenn zudem in besonderem Maße der künstlerische und originelle Charakter des Textes hervorgehoben wird – »[g]ewiß, wie man auch über den Grund der Sache urtheilen mag, die Erfindung und Ausführung all dieser Umstände ist meisterhaft«.187 Die »Frechheit« des Textes, die »unvergleichlichsten komischen Scenen« und das permanente »Witzgeträufel«, die »zu der tragischen Entwickelung« notwendig beitragen, führt Heines Freund und Mentor zudem auf die Gattungskonventionen der aristophanischen Komödie zurück.188 Heines Prosa sei Aristophanischer als Alles, was Graf Platen bisher in gekünstelten schweren und doch leeren Versen nach solchem Muster zu arbeiten versucht hat. Und nicht sowol durch die materielle Belastung, durch die Ersäufung in Satyre und Hohn, sondern vielmehr dadurch hat Hr. Heine den Gegner völlig abgetödtet, daß er ihn in dem Fache, auf das derselbe sich am meisten zu Gute thun wollte, in seiner Blöße gezeigt, und ihn nicht nur an Grimm und Spott, sondern auch an Kunst, und gerade an Aristophanischer Kunst, unendlich überboten hat! Wollt Ihr aristophanisiren, so müßt Ihr es so machen; habt Ihr dazu nicht Muth und Geschick, nun so bleibt in Gottesnamen dabei, daß ihr Kotzebuisirt, oder Müllnerisirt! –189

Der Begriff der ›Überbietung‹ macht deutlich, daß Varnhagen in seiner Lektüre der Bäder von Lukka versucht, dem Text seine Brisanz zu nehmen, indem er ihn auf einen Dichterwettstreit abmildert. Die Strategie der Skandalisierung wird zurückgeführt auf die Gesetze einer literarischen Fehde, die wenn auch scharf, so dennoch »wahrhaft edle[n] Muth«, »ernste Gesinnung« und »die graziöseste Behandlung« besitzt.190 Varnhagen, der große Verehrer Goethes und der Romantiker, argumentiert in seiner Rezension der Bäder von Lukka im ästhetischen Begriffsfeld der Kunstperiode.191 Auch ein Jahr später, anläßlich einer Rezension von Die Stadt Lukka, betont Varnhagen, daß der Vorwurf des Revolutionären und Irreligiösen auf Heine nicht zutreffe, »indem man ihn, seiner Art und seiner Wirkung nach, allenfalls einen Salonrevolutionnair nennen könnte, der das Spiel – aber nur das Spiel, witzig und beißig – der revolutionnair genannten Ansichten und Ausdrücke zur Unterhaltung der vornehmen Welt darstellt«.192 Heines Texte, so Varnhagen, wären zwar zweifellos ein »Aer-

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Galley/Estermann, Bd. 1, S. 397. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 397. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 397f. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 397f. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 398. Inwiefern Varnhagen diese Argumentation wählt, um Heine vor weiteren öffentlichen Repressalien zu schützen, oder ob er seine eigenen ästhetischen Überzeugungen ausdrückt, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Heine allerdings dankt Varnhagen in einem Brief vom 28. Februar 1830 für seine Rezension und begrüßt die »diplomatische Farbendämpfung« und »zierliche Gewandtheit«, die ihm selbst fehle (HSA 20, S. 389). Galley/Estermann, Bd. 1, S. 463.

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gerniß in der deutschen Literatur«; er verteidigt sie jedoch wieder im Rekurs auf Beispiele aus der Kunstperiode. Die Anstößigkeit der Xenien, der Lucinde und des Athenäum, sei längst zugunsten des »Tüchtige[n] in jenen Schriften« verhallt.193 Die immanente Poetik eingreifender Kunst von Heines Skandaltext zielt jedoch gerade darauf ab, die Grenzen des Textes, der als Spiel einen autonomen Freiraum besitzt, auf den Varnhagen wiederholt rekurriert, zu überschreiten. Wie Renate Lachmann in ihrer bereits genannten Untersuchung zu Skandal und Fest bei Dostoevskij zeigt, korrumpiert die zentrifugale Dynamik des skandalösen Gegenfests mit seinen »›unanständigen‹ Übertretungen der Tabugrenzen zwischen privat und öffentlich, intim und sozial, verborgen und manifest, innen und außen, oben und unten«, die Logik der Kunst als geregeltes Fest.194 In dem Moment, wo die Festordnung ausgesetzt wird und das Spiel über die Bühne hinaustritt, setzt, wie bereits eingangs dargestellt wurde, mit dem Skandal eine »Pragmatisierung der gesellschaftlichen Ordnung« ein, die sie als eine zeigt, »in die eingetreten und eingegriffen werden kann«.195 Darin liegen, wie schon in bezug auf Byrons The Vision of Judgment gezeigt wurde, revolutionäre Implikationen; oder, wie Heine selbst es in dem genannten Brief an Varnhagen formuliert – »jetzt gilt es die höchsten Interessen des Lebens selbst, die Revoluzion tritt ein in die Literatur« (HSA 20, 385). 3.5.

Transgression in die Wirklichkeit: Der ›tanzende‹ Text

Wenn Platen in Die Bäder von Lukka vorgeworfen wird, »nur die zaghaft verschämte Parodie eines antiken Übermuts« darzustellen, dann bezieht sich das nicht nur auf seine sexuelle »Liebhaberei«, sondern auch auf den scheinbar aristophanischen Charakter seines Textes. Mit Exzess, Debauche und hypertrophem Sprechen, die ein zerstörerisches, aber kein versöhnliches Lachen zeitigen, dynamisieren sowohl Heine als auch Byron die textuellen Vorlagen ihrer politischen und literarischen Gegner, die sie noch dazu in ihrem eigenen Metier zu überbieten streben. Heine übersteigert Platen im Genre der aristophanischen Komödie, Byron Southey in der Visionsliteratur, wobei seine überbietende ›Mimikry‹ sogar den Titel des Laureaten kopiert. Beide rekurrieren auf den Ursprung der jeweiligen Gattungen in der Menippea, deren karnevaleske Energien sie für ihr skandalöses Zerstörungswerk einsetzen. Dieses ist, wie die Persona Heine im letzten Kapitel der Bäder von Lukka deutlich macht, nicht weniger destruktiv, auch wenn er vorher »mit lachenden Blumen« die »Axt umkränzte« (DHA 7/1, 147). Heines Rückgriff auf die Namen Luthers,

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Galley/Estermann, Bd. 1, S. 463. Lachmann, »Die Schwellensituation«, S. 320. Lachmann, »Die Schwellensituation«, S. 315.

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Voß’ und Lessings kann nur schwer verbergen, daß die bewußte Maßlosigkeit der Skandalisierung in Die Bäder von Lukka über eine pädagogische Intention hinausgeht – denn diese strebt nicht nur danach, Mißstände zu beseitigen und die Öffentlichkeit aufzuklären, sondern auch danach, neue Normen und Regeln zu etablieren. Der Prozeß einer neuen, bürgerlichen Norm- und Wertebildung findet auch im übrigen Text von Heines Italienreisebild Die Bäder von Lukka nicht statt. Gegen Heines skandalösen Umgang mit Platen wurde wiederholt eingewendet, daß der Autor in seinem tabuverletzenden Vorwurf der Päderastie bürgerlichen Moralvorstellungen erlegen sei und sich »mit der Normalität gegen den Außenseiter verbündet« habe.196 Auch wenn dieser Vorwurf von Heine-Forschern wie Günter Oesterle, Jost Hermand oder Robert C. Holub mit Verweis auf die historische und politische Dimension der Platenpolemik zurückgewiesen wurde, so läßt sich doch auch textimmanent die Abwesenheit bürgerlicher Normen begründen.197 Besonders dazu geeignet ist die Figur des Hirsch Hyazinth, der im Kontrast zu dem Platen präfigurierenden Gumpelino verschiedentlich als ein humorvoll gezeichneter, mit sympathischen Zügen ausgestatteter Charakter gelesen wird.198 Insbesondere Hirsch Hyazinths »merkwürdige Geschichte von der Ehrlichkeit«, die er »mahl begangen« hat (DHA 7/1, 133), zeige, so Dierk Möller, letzten Endes die positive Funktion der Figur.199 Anhand der Figurenkonstellation von Gumpelino und Hirsch Hyazinth im X. Kapitel kann aber verdeutlicht werden, daß beide Protagonisten defizitäre Charaktere darstellen. Die Figur des Hirsch Hyazinth besitzt gerade nicht, wie Möller konstatiert, eine mit Franscheska vergleichbare positive Funktion, obwohl Gumpelinos Diener als Gegenfigur des Marchese dessen homosexuelle Neigungen ablehnt und für Ehrlichkeit statt Täuschung, Betrug und Lüge plädiert, wofür exemplarisch die Lotteriegeschichte steht.200 Daß er dabei aber nur bürgerliche Moralvorstellungen reproduziert und nicht das emanzipative Ideal im Blick hat, das Franscheska im Text verkörpert, deutet seine eigene Alternative zur homoerotischen Liebe des Marchese an: »Der Eine ißt gern Zwiebeln, der Andere hat mehr Gefühl für warme Freundschaft, und ich, als 196

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Jürgen Brummack, »Erzählprosa ohne Fabel. Die Reisebilder«. In: Brummack (Hrsg.), Heinrich Heine: Epoche – Werk – Wirkung. München 1980, S. 113–139, hier S. 138. Hans Mayer dagegen sieht in dem Streit zwischen Heine und Platen den Zusammenstoß zwischen einem »Outsider der Abkunft« und einem »Outsider der Geschlechtlichkeit« (Hans Mayer, Außenseiter. Frankfurt a.M. 2007 [zuerst 1975], S. 218). Vgl. Oesterle, Integration und Konflikt, S. 84; Hermand, »Heine contra Platen«, S. 111; Robert C. Holub, »Heine’s Sexual Assaults: Towards a Theory of the Total Polemic« [zuerst 1981]. In: Christian Liedtke (Hrsg.), Heinrich Heine – Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2000, S. 35–48, hier S. 47) . So etwa Möller, Episodik und Werkeinheit, S. 442f.; vgl. auch Oesterle, Integration und Konflikt, S. 86f. Vgl. Möller, Episodik und Werkeinheit, S. 443. Vgl. Möller, Episodik und Werkeinheit, S. 443.

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ehrlicher Mann, muß aufrichtig gestehen, ich esse gern Zwiebeln, und eine schiefe Köchinn ist mir lieber als der schönste Schönheitsfreund«. (DHA 7/1, 129) Hyazinths Liebe zur »dicke[n] Gudel vom Dreckwall«, die sein einziges »leidenschaftliches Attachement« (DHA 7/1, 120) darstellte, steht im schroffen Gegensatz zum erfüllten Liebeserlebnis des Erzählers mit der göttlichen Gestalt der Tänzerin Franscheska. Außer ein paar Stück Kuchen, Likör und einigen Pulvern gegen »Gemüthsbeschwerden« (DHA 7/1, 120) hatte, so Hyazinth, ihre Liebe keine weiteren Folgen. Statt einer Positivfigur ist Hirsch Hyazinth vielmehr der Prototyp des deutschen Michel, den Heine in seinen späteren Texten explizit karikiert.201 In Die Bäder von Lukka affirmiert die Figur des Hirsch durch sein Verhalten das Verhältnis von Herr und Knecht (im Staat) und stabilisiert so das System der Unterdrückung sowohl in moralischer als auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Er ist die Verkörperung des »Nazionalservilismus« und »Schlafmützenthum[s]« (HSA 20, 384), also jener Qualitäten, die Heine an den Deutschen in seinem Brief an Varnhagen von Ense beklagte. Dazu tragen gerade die pragmatischen ›Tugenden‹ der Ehrlichkeit, Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit bei, die Hirsch Hyazinth repräsentiert. Die Vorstellungen einer zweckfreien, erfüllten Liebe im Diesseits und einer »Gesellschaft von Pairs an einem gutbesetzten Tische« (DHA 7/1, 70) liegen ihm, der Verkörperung des auf großbürgerliche Anerkennung bedachten Knechts, fern. Statt sinnlicher Erfüllung und einer umfassenden Emanzipation auf Erden tröstet er sich damit, am Jüngsten Tag aufgrund seiner Ehrlichkeit als »Engel erster Klasse« (DHA 7/1, 134) aufzusteigen. Gewissermaßen als Kommentar zur christlich-religiösen Vertröstungsideologie, die Hirsch Hyazinth repräsentiert, läßt sich eine Stelle aus dem 1837 publizierten essayistischen Text Elementargeister verstehen. Geschildert wird dort die »fürchterliche Prügel«, die der »Pedell Doris« erhielt, der sich aber »als guter Christ […] mit der Ueberzeugung« tröstete, »daß wir dort oben im Himmel einst entschädigt werden für die Schmerzen, die wir unverdienterweise hinieden erduldet haben« (DHA 9, 45). Der Sprecher fragt sich entsprechend, »ob Entbehrung und Entsagung wirklich allen Genüssen dieser Erde vorzuziehen sey, und ob diejenigen, die hienieden sich mit Disteln begnügt haben, dort oben desto reichlicher mit Ananassen gespeist werden« (DHA 9, 46). Die Antwort darauf ist eindeutig: »Nein, wer Disteln gegessen, war ein Esel; und wer die Prügel bekommen hat, der behält sie. Armer Doris!«202 (DHA 9, 46) Es zeigt sich also, daß gerade das moralisch-religiöse Wertesystem Unterdrückung 201 202

So etwa in dem Gedicht Michel nach dem Merz aus dem Umfeld des Romanzero. Vgl. auch die folgenden Verse über den Gesang eines deutschen Harfenmädchens in Caput I des Versepos Deutschland. Ein Wintermährchen: »Sie sang vom irdischen Jammerthal,/ Von Freuden, die bald zerronnen,/ Vom Jenseits, wo die Seele schwelgt/ Verklärt in ew’gen Wonnen.// Sie sang das alte Entsagungslied,/ Das Eyapopeya vom Himmel,/ Womit man einlullet, wenn es greint,/ Das Volk, den großen Lümmel.« (DHA 4, S. 91)

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stabilisiert und festschreibt. Insofern ist das bürgerliche (Tugend-)Ideal, das Hirsch Hyazinth verinnerlicht hat und dem er die mögliche Erfüllung eigenen Glücks opfert, nicht das positive Gegenteil der verschämten Lüge und Heuchelei, die Platens sexueller Praxis zugeschrieben wird, sondern ihre kleinbürgerliche Verdoppelung. Alle drei im Text gezeichneten Figuren, Hirsch Hyazinth, Gumpelino und Platen, repräsentieren somit unerfülltes Glück – der Marchese Gumpelino ruft in seiner verpaßten Liebesnacht wiederholt, »Weh mir, ich Narr des Glücks« (DHA 7/1, 122) –, das die umfassende Emanzipation des Individuums verhindert, die dem Text als ›ethischer Imperativ‹ implizit zugrunde liegt. Statt einer Festschreibung und Stabilisierung von Normen und Werten verfolgt Heines Reisebild die Überschreitung von Grenzen und besitzt darin revolutionäre Implikationen. Dafür steht im Text die Figur des Tanzes, der bereits oben schon in bezug auf die Tänzerin Franscheska thematisiert wurde. Der Tanz eröffnet Die Bäder von Lukka aber auch schon im Motto. Der zweite Paratext, der neben dem Zitat aus Platens Ghaselendichtung dem Reisebild vorangestellt ist, stammt aus Mozarts Oper Le nozze di Figaro und lautet: »Will der Herr Graf ein Tänzchen wagen,/ So mag ers sagen,/ Ich spiel ihm auf.« (DHA 7/1, 82) Das harmlos wirkende, aber politisch brisante Zitat aus Mozarts vorrevolutionärer Oper von 1785, in der Figaro, der Dienstbote, gegen die Macht seines adligen Herren aufbegehrt, nimmt die Figur des Grafen aus dem ersten Motto – »Ich bin wie Weib dem Manne – –/ Graf August v. Platen Hallermünde« (DHA 7/1, 82) – auf, wodurch die beiden Motti überblendet werden. Das abnorme sexuelle Verhalten, das den Grafen Almaviva auszeichnet (er nötigt Figaros Braut sexuell) und das auf die Homosexualität des Graf Platen projiziert wird, verweist indirekt auf eine widernatürliche Gesellschaftsform, gegen die der dynamisierende ›revolutionäre‹ Tanz, der auf eine Verkehrung der Ordnung zielt, aufbegehrt. Die Motti stellen den ganzen Text also nicht nur, wie Paul Derks betont, unter das Thema der aristokratischen Homosexualität, sondern vor allem auch unter das Vorzeichen des Tanzes.203 Der Tanz erscheint in so unterschiedlichen Texten Heines wie Briefe aus Berlin, Florentinische Nächte, Die Göttin Diana und Lutezia immer wieder in seiner bacchanalisch-ekstatischen Variante. Als charakteristische Eigenschaften des Tanzes können entsprechend einerseits Bewegung und Dynamik sowie andererseits der beim Tanzen erzeugte Schwindel genannt werden.204 Der Tanz ist eine zentrale Metapher der Bäder von Lukka, was zum einen das genannte Motto 203 204

Vgl. Derks, Die Schande der heiligen Päderastie, S. 532f. Die Liste der Texte, in denen auf den Tanz rekurriert wird, ist damit nicht erschöpft. Weitere nennt die Untersuchung von Lia Secci, die auf das Motiv des bacchantischen Tanzes unter einer feministischen Perspektive eingeht (Lia Secci, »Die dionysische Sprache des Tanzes im Werk Heines«. In: Luciano Zagari/Paolo Chiarini (Hrsg.), Zu Heinrich Heine. Stuttgart 1981, S. 89–101).

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und zum anderen die pointierte Stellung der Figur Franscheskas als Tänzerin nahelegt. Die Bedeutung des Tanzes in die Bäder von Lukka erstreckt sich auf zwei Bereiche, da er werk- und wirkungsästhetische Kategorien verbindet. Der Tanz, auf den Heine sich in seinen Texten bezieht, ist der orgiastische, ekstatische Tanz, der im Zusammenhang mit den antiken Bacchanalien des Gottes Dionysos steht, nicht der offizielle Gesellschaftstanz, der klar definierten Regeln und Gesetzen folgt. Insofern verkörpert der Tanz in Heines Texten vor allem das, was Gabriele Brandstetter in ihrer Untersuchung Tanz-Lektüren als »Bewegungsrausch« bezeichnet.205 In werkästhetischer Hinsicht richtet sich die poetologische Metapher des Tanzes von Heines Reisebild Die Bäder von Lukka gegen den starren, bewegungslosen Formalismus, den Platens Dichtung aufgrund ihres klassizistischen Antikenideals verkörpert. Der abgeschlossene, in sich ruhende Werkcharakter des klassizistischen Kunstwerks kontrastiert mit dem Ideal eines grenzüberschreitenden, offenen und bewegten Kunstwerks. Zugleich läßt sich mit der Figur des Tanzes eine Antwort auf die oben skizzierte medientheoretische Debatte des Textes formulieren. Zwar wird im VI. Kapitel die Bildhauerei gegenüber der Malerei und der Dichtung hervorgehoben aufgrund der Plastizität ihrer Darstellungen, die zudem im Fackellicht »eine Bewegung der Formen« (DHA 7/1, 104) ahnen lassen. Die Dichtung jedoch, die sich dem Vorbild des Tanzes annähert, stellt ein mindestens ebenso potentes Medium dar.206 Auch die bereits zitierte, entsprechende Stanze aus Byrons Beppo, die auf der semantischen Ebene die Künste der Malerei und Bildhauerei vor den Möglichkeiten der Dichtung bewundert, versucht zugleich diese Medien in der eigenen formalen Struktur nachzuahmen und zu übertreffen: Bewegung wird dort durch dynamische Ausrufe und im vorwärts drängenden Sprechen performativ umgesetzt. Heines Text erzeugt einen Bewegungsrausch im tabubrechenden Skandal, der dem »Dreh-Tanz« Franscheskas gleicht, indem er in schwindelerregender Weise die offizielle Ordnung fortwährend umkehrt.207 Auf die zentrale Position der Sprache und ihrer Inszenierung für den Skandal hat Renate Lachmann hingewiesen. Sie nennt als Merkmale 205 206

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Vgl. Gabriele Brandstetter, Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1995, v.a. Kapitel 3: »Bewegungsrausch und Trance-Tanz«, S. 246–274). Der Frage, wie der Tanz bei Heine im Medium des Narrativen umgesetzt wird, widmet sich auch Simon Wortmann in seiner Untersuchung zu Heines und Nietzsches KörperInszenierungen. Er hebt hinsichtlich von Heines Erzählung Florentinische Nächte auf den Sprachrhythmus ab, der durch die Musikalität der Sprache Präsenzeffekte erzeuge (vgl. Simon Wortmann, »das Wort will Fleisch werden«. Körper-Inszenierungen bei Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche. Stuttgart, Weimar 2011, S. 239). Zur Bezeichnung »Dreh-Tanz« vgl. Brandstetter, Tanz-Lektüren, S. 247. Zum Aspekt des ›bewegten‹ Textes siehe auch den Sammelband Textbewegungen 1800/1900, dort bes. die Untersuchung von Erika Greber, »Textbewegung/Textwebung – Texturierungsmodelle im Fadenkreuz von Prosa und Poesie, Buchstabe und Zahl«, der neben theoretischen Überlegungen als praktisches Beispiel u.a. auf Byrons Don Juan eingeht (in: Matthias Buschmeier/ Till Dembeck (Hrsg.), Textbewegungen 1800/1900. Würzburg 2007, S. 24–48).

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des Skandals exzentrische Sprechakte wie Beleidigung, Herausforderung, oder anstößige Witze und verweist auch auf die stilistische Ebene des Textes, die den Eindruck des Hypertrophen und Exzessiven durch spezifische rhetorische Mittel wie Wortwiederholungen und Reihungen herstellt.208 Michail Bachtin hat diese Art von Äußerungen als Sprache des Marktplatzes charakterisiert, da sie nicht-offizielle Elemente der Rede enthält und gegen sprachliche Normen verstößt – sie ist »eine von der Normenherrschaft, der Hierarchie und den Tabus der Normalsprache befreite Rede«.209 Eine solchermaßen entgrenzte Sprache, die die Normen des Anstands und der Korrektheit überschreitet, ist charakteristisch für Die Bäder von Lukka. Beschimpfungen und Obszönitäten, skandalöser Witz, profanierende Wortverfremdungen und Verballhornungen, wie sie vor allem die Figurenrede des Hirsch Hyazinth kennzeichnen – »famillionär« (DHA 7/1, 112), »Johann v. Viehesel« (DHA 7/1, 115), »Glaubensalz« (DHA 7/1, 121) – widersetzen sich der offiziellen Sprachnorm. Sie besitzt in Heines Text eine doppelte Funktion. Die karnevaleske Sprache, die Heterogenes miteinander kontaminiert, und ihre skatologische, obszöne Bildlichkeit (wie Gumpelinos Nase, die im »rothen Meere« von Laetizias Busen »herumruderte«) dienen zum einen der grotesken Entlarvung der defizitären Figuren, wie sie vor allem der Marchese Gumpelino und Hirsch Hyazinth im Text repräsentieren. Zum anderen erhält der gesamte Text durch die tabubrechende Verkehrung offizieller Normen und Hierarchien einen dynamischen und bewegten Charakter. Die umfassende Umkehrung tradierter Werte, Ordnungen und Hierarchien – eine Rezension der Bäder von Lukka spricht sogar von Heines »Satanismus« –,210 die in der Figur des Tanzes verbildlicht ist, überträgt sich auf den ›Zuschauer‹ oder vielmehr den Leser als Gefühl des ›Schwindels‹. Dieser Aspekt betrifft nun nach dem werkästhetischen den wirkungsästhetischen Gesichtspunkt des Reisebilds. Das Modell einer affektiven Rezeption findet sich im Text selbst, wenn der Erzähler Franscheskas ›Dreh-Tanz‹, bei dem sie »sich unzählige Mahl auf einem Fuße herumdreht« (DHA 7/1, 102), und seine Wirkung auf ihn beschreibt. »Ich fühlte wunderbar, wie mein Herz sich beständig mitdrehte, bis es fast schwindelig wurde.« (DHA 7/1, 103) Der groteske Tanz Franscheskas, der vielleicht »ihre eigentliche Sprache« ist und das bizarre Schauspiel, das sie mit ihren Füßen aufführt, haben etwas, das den Erzähler »wundersam bewegte« (DHA 7/1, 105). Der ›Dreh-Tanz‹ als verdrehende Exzentrik des Textes, der in der Auflösung konventioneller Ordnungen Schwindel, Taumel und Rausch hervorruft, eskaliert in einem aus 208 209

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Vgl. Lachmann, »Die Schwellensituation«, S. 315 u. 320. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (aus dem Russischen von Gabriele Leupold). Hrsg. u. mit einem Vorwort vers. von Renate Lachmann. Frankfurt a.M. 1995, S. 229. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 384.

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der Kontrolle geratenen Skandal und Ärgernis, das auf den Leser eine ebenso affizierende Wirkung wie Franscheskas Kunst auf den Erzähler ausüben soll: Die Grenzen der Kunst sollen überschritten werden und das Leben erfassen. Insofern rückt der schwindelerregende Tanz als Metapher des Textes in die Nähe der Revolutionsthematik. Das ist im Opernzitat, das als Motto dem Italienreisebild Die Bäder von Lukka vorangeht, bereits als Thema angelegt. Es zeigt sich also ein Zusammenhang zwischen der Figur des dionysischen Tanzes, den permanenten Überschreitungen und Tabubrüchen des Textes und der Revolutionsthematik. Die revolutionären Energien zielen – passend zu einem Text der Übergangszeit – nicht auf die Begründung neuer Normen und Werte, sondern erzeugen einen dionysischen Rausch, in dem die Fundamente einer überholten Weltanschauung zertrümmert werden sollen.211 Eine Notiz Heines von 1848 bestätigt nochmals genau diesen Zusammenhang von Tanz, Rausch, Revolution und der Verabschiedung der alten Welt – der Tanz wird zur Metapher der Revolution: Nicht alle waren Hexenmeister die dies Jahr den Tanz anstimmten – Allgemeiner Rausch – die neubürgerliche Gesellschaft will hastig den letzten Becher leeren, wie die altadliche vor 89 – auch sie hört schon im Korridor die marmornen Tritte der neuen Götter, welche ohne anzuklopfen in den Festsaal eintreten werden und die Tische umstürzen. (DHA 14/1, 294)212

4.

Resümee

Drei Punkte lassen sich im Hinblick auf die untersuchten Texte, The Vision of Judgment und Die Bäder von Lukka, festhalten. Der erste Punkt, der in diesem Kapitel nicht im Zentrum der Analyse stand, wird etwas breiter skizziert. (1) Mit ihren skandalisierenden Texten verfolgen Byron und Heine marktstrategische Überlegungen, wie sie im literarischen Feld als Autoren eine zentrale Position behaupten können. Diesem Ziel liegt eine doppelte Ausrichtung zugrunde. Die eigene Positionierung im literarischen Feld richtet sich gegen 211

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Eine ähnliche Funktion schreibt im übrigen Bachtin der karnevalesken Sprache in den Texten Rabelais’ zu, die er bei seinem »Unternehmen, de[m] Sturm auf die ›gotische Finsternis‹«, benötigt habe (vgl. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 237). Vgl. dazu auch den Artikel XLII vom 7. Februar 1842 aus der Lutezia, der sich mit dem Tanzen und der Tanzkunst beschäftigt und auch das Bild des Hexenmeisters aufgreift, das auf Goethes Ballade »Der Zauberlehrling« anspielt. Der Eintrag beginnt mit der Feststellung: »›Wir tanzen hier auf einem Vulkan‹ – aber wir tanzen« und endet mit dem Hinweis auf den Tanz des Volkes, den »tolle[n] Mummenschanz«, der als »satanische[s] Spektakel« in den Karnevalstagen »ein gefährlicher Moment für viele unserer Landsleute« sei, »die leider keine Hexenmeister sind und nicht das Sprüchlein kennen, das man herbeten muß, um nicht von dem wüthenden Heer fortgerissen zu werden« (DHA 13/1, S. 154 u. 158). Bereits sechs Jahre vor der Revolution von 1848 wird hier im Bild des Tanzes und des Karnevals ein drohender revolutionärer Umbruch beschworen.

264

die Vertreter der Romantik, die als überholt und unzeitgemäß angeprangert und desavouiert werden. Für Byron, der bereits durch sein Versepos Childe Harold und vor allem die beliebten exotistischen Oriental Tales eine bedeutende Stellung auf dem literarischen Markt in der englischen Öffentlichkeit besaß, ging es nach mehreren Jahren im italienischen Exil um die Behauptung dieser Position und um politische und literarische Einflußnahme in seinem Heimatland, die bei den gehobenen Leserschichten nachgelassen hatte.213 Auch Heines biographische Umstände – der Verlust des Vaters und die vergeblichen Bemühungen, in Deutschland eine feste Anstellung zu gewinnen – ließen es für den Autor immer notwendiger werden, ökonomische Gewinne mit dem Schriftstellerberuf zu erzielen.214 Byrons und Heines Empörung über den tatsächlichen oder imaginierten Anspruch ihrer Kontrahenten, die zeitgenössische Dichtung zu repräsentieren – Southey als Poeta Laureatus und Platen als Günstling des bayrischen Königs –, und die aggressive Wucht, mit der die Autoren darauf reagierten, lassen sich als Machtkämpfe innerhalb des literarischen Feldes erklären.215 Um sich einen ›Namen zu machen‹ und die eigene Bekanntheit zu steigern, so zeigen es die Gesetze des literarischen Feldes wie sie vor allem Pierre Bourdieu analysiert hat, ist der öffentliche Skandal bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts ein probates Mittel.216 Allerdings zeigt sich bei beiden Autoren auch der Effekt, daß sich die Meinung der Öffentlichkeit gegen den Provokateur des Skandals wenden kann. Exemplarisch zeigt das die erwähnte Rezension von The Vision of Judgment, die sich gegen das Skandalon auf den Ehrbegriff bezieht, der dem Autor des Textes abgesprochen wird. Auch über Heines Bäder von Lukka heißt es in der anfangs genannten Besprechung

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St Clair konstatiert in seiner Untersuchung einen Einbruch der Verkaufszahlen von Byrons Werken nach 1816. Byrons wohlhabende Leser, die ihn mit Texten wie The Corsair oder Childe Harold berühmt werden ließen, empfanden, so St Clair, Don Juan als Angriff auf ihre Werte und die gesellschaftliche Ordnung (vgl. St Clair, The Reading Nation in the Romantic Period, S. 322f.; siehe auch den Anhang mit den Auflagenzahlen, S. 585–590). Heine konnte weder die erhoffte Professur in München erhalten noch waren seine Pläne erfolgreich, in Hamburg eine Anstellung als Ratssyndikus zu erreichen (vgl. dazu Heines Briefe an Eduard v. Schenk aus Italien im Herbst 1828 sowie den Brief an Karl August Varnhagen von Ense vom 4. Januar 1831). Daß es sich bei Heines Reisebild Die Bäder von Lukka um einen ästhetischen Positionsstreit handelt, betont auch Claude Conter. Er untersucht das Umfeld des Skandals mit dem Fokus auf die Rolle von Karl Immermann, der den Streit im Rahmen einer Literatursatire halten wollte (vgl. Claude D. Conter, »›denn eine Controverse muß gleich in gehöriger Zahl nach allen Richtungen gehen‹. Die Inszenierung des Literaturskandals um August von Platen und Karl Immermanns Deeskalationsstrategie«. In: Neuhaus/Holzner (Hrsg.), Literatur als Skandal, S. 202–214). Bereits Albrecht Betz hat darauf hingewiesen, daß Heines Polemiken auch die Funktion haben, »die ›Konkurrenz‹ auf dem literarischen Markt auszuschalten« (Betz, Ästhetik und Politik, S. 136). Vgl. dazu auch Neuhaus, »Skandal im Sperrbezirk?«. Die Beiträge des Sammelbandes von Stefan Neuhaus und Johann Holzner, die verschiedene Epochen berücksichtigen, zeigen zudem eindringlich die Allgegenwart des Skandals in der Literatur der Moderne.

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der Blätter für literarische Unterhaltung, daß, »welchen Beifall auch sein Witz, seine Satyre finden mag, kein Mann von Ehre […] ihn ferner achten« könne.217 Heinrich Brockhaus, der vermutliche Verfasser des Artikels, der, wie er betont, Heines Texte schätzte, zieht ein unmißverständliches Fazit aus dem Heine-Platen-Streit: »was dieser Angriff auf Platen auch für diesen für Folgen haben mag, Heine’n bedeckt er mit Schande und mit der Verachtung des bessern Theils des deutschen Publicums, mit der Verachtung aller der Schriftsteller, die selbst noch auf Achtung Anspruch machen können.«218 Heine war auf diese Reaktion bei dem konservativen Teil der literarischen Öffentlichkeit eingestellt – der Text reflektiert bereits selbst auf das unehrliche Amt des Scharfrichters –, er erwartete aber dennoch die Zustimmung des progressiv gesinnten Publikums.219 Denn wie Martin Eybl in seinen Thesen zum Skandal konstatiert, erhofft sich der Künstler, der sich der Avantgarde zurechnet und den Geschmack des breiten Publikums attackiert, von seinem tabubrechenden Skandal zugleich auch einen Zuwachs an Geltung und Prestige.220 (2) Die Skandaltexte The Vision of Judgment und Die Bäder von Lukka sind polemische Angriffsmittel, mit deren Unterstützung in der zurückgezogenen, privaten Atmosphäre des Biedermeiers zum einen eine politisch-literarische Öffentlichkeit hergestellt werden soll. Zum anderen fordern sie in der politisch und literarisch stagnierenden, epigonal erstarrten Zeit der Restauration Dynamik und Bewegung, die in der Umkehrung tradierter Ordnungen zugleich revolutionäre Implikationen besitzt. Das trifft, wie gezeigt wurde, auf Byrons The Vision of Judgment und auf Heines Bäder von Lukka gleichermaßen zu. Auch Byrons kursorisch erwähnter ottava rima-Text Beppo, dem – im venezianischen Karneval spielend – der Schwindel als Verkehrung der Ordnung wie auch der Aspekt des Performativen thematisch eingeschrieben sind, läßt sich in diesen Kontext einordnen, wenngleich ihm eine wesentlich spielerischere Dimension eignet als der späteren Southey-Polemik.

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Galley/Estermann, Bd. 1, S. 386. Einen Überblick über die Geschichte der negativen Rezeption der Bäder von Lukka bis in die NS-Zeit gibt Ruth Esterhammer: »Heines Platen-Attacke als ein Skandal mit Langzeitwirkung«. In: Neuhaus/Holzner (Hrsg.), Literatur als Skandal, S. 190–201. Galley/Estermann, Bd. 1, S. 386. Diese grundsätzliche Zustimmung erwartete Heine etwa von Karl Immermann. In einem Brief vom 17. November 1829 an Immermann forciert er diese Allianz bezüglich des PlatenStreits, wenn er schreibt: »Gestern Morgen habe ich den Grafen Platen ausgepeitscht und gestern Abend Carl Immermann applaudirt. Zu ersterem Geschäfte, das erst zur Hälfte gediehen, habe ich doch endlich gehen müssen, habs lang genug aufgeschoben, und ich selbst war eben so wie die Anderen sehr neugierig was ich thun würde. Sie, Immermann haben den Richter gespielt, ich will den Scharfrichter spielen, oder vielmehr recht ernsthaft darstellen.« (HSA 20, S. 366) Heine referiert auf seinen Besuch einer Aufführung von Immermanns Trauerspiel in Tirol (1828), das Platen in seiner Satire Der romantische Ödipus karikiert hatte. Vgl. Eybl, »Neun Thesen zu einer Theorie des Skandals«, S. 14.

266

(3) Der Skandal, der durch tabubrechende Mechanismen der Enthüllung und der Provokation funktioniert, soll in Byrons und Heines Texten bewußt die autonome Sphäre der Kunst überschreiten und ins Leben eingreifen. Er ist insofern programmatischer Ausdruck einer Poetik eingreifender Kunst in Byrons The Vision of Judgment und Heines Die Bäder von Lukka. Obwohl Heine in Briefen an Varnhagen von Ense und an Karl Immermann unmittelbar nach der Publikation der Bäder von Lukka ankündigte, das XI. Kapitel in späteren Ausgaben streichen zu wollen, ist es nur konsequent, daß er selbst diesen Plan nie realisiert hat.221 Bei einem vergleichenden Blick auf die beiden untersuchten Texte, die den Anfang und das Ende des Jahrzehnts der 1820er Jahre umspannen, läßt sich festhalten, daß sich viele Aspekte des Kampfs gegen die Ästhetik der Kunstperiode und gegen die Politik der Restauration gleichen, während jedoch die fiktionale Umsetzung bei Heine an Schärfe gewinnt. Die Aggressivität, mit der der Gegner im Kampf gegen Unterdrückung angegriffen wird, geht in Heines Italienreisebild Die Bäder von Lukka über Byrons Polemik in The Vision of Judgment dezidiert hinaus. Das folgende Kapitel IV. wird sich erneut dem historisch-typologischen Vergleich von zwei Texten widmen: Byrons Italienreisebeschreibung Childe Harold IV und Heines Italienreisebild Reise von München nach Genua, die den soeben untersuchten Texten chronologisch vorangehen und als Schwellennarrative gelesen werden. In der Bewegung der Reise der autobiographischen Sprecher durch Italien vollzieht sich, so die These, bei beiden eine Entwicklung zur Poetik eingreifender Kunst, die sich im Wandel vom melancholischen Entwurf des Dichters hin zur Möglichkeit eingreifender Autorschaft spiegelt.

221

Vgl. Heines Brief an Karl Immermann (26. Dezember 1829), HSA 20, S. 372; siehe auch Möller, Episodik und Werkeinheit, S. 458f.

267

Abb. 1: Albrecht Dürer, Melencolia I, 1514, Kupferstich

Abb. 2: Ludwig Emil Grimm, Heinrich Heine, 1827, Radierung

Abb. 3: Richard Westall, George Gordon Byron (Baron Byron VI), 1813, Öl auf Leinwand

Abb. 4: Charles Turner, George Gordon Byron (Baron Byron VI); nach Richard Westall, 1813, Mezzotinto

Abb. 5: Nicolas Eustache Maurin, George Gordon Byron (Baron Byron VI); nach Richard Westall, 1813, Lithographie

Abb. 6: Moritz von Schwind, Einsamkeit, 1823, Tuschfeder in Schwarz über Bleistift auf Papier

Abb. 7: Friedrich Overbeck, Vittoria Caldoni, 1821, Öl auf Leinwand

Abb. 8: Henry Meyer, William Wordsworth; nach Richard Carruthers, 1819, Punktierstich

Abb. 9: Anton Graff, Friedrich von Schiller, 1786/91, Öl auf Leinwand

IV.

Melancholie und eingreifende Kunst in den Schwellennarrativen Childe Harold IV und Reise von München nach Genua

»It is no great matter, supposing that Italy could be liberated, who or what is sacrificed. It is a grand object—the very poetry of politics. Only think—a free Italy!!!« (BLJ 8, 47)

Heines Interesse an Byron galt nach der Veröffentlichung von Die Nordsee III nicht nur dem politischen Kämpfer – eine Position, die etwa J. F. Slattery vertritt –, sondern weiterhin auch der Poetik seiner Texte. Besonders eindringlich zeigt sich dies in Heines produktiver literarischer Rezeption von Byrons Childe Harold, insbesondere des vierten Cantos in seinem ersten Italienreisebild Reise von München nach Genua, die bislang in der Forschung unbeachtet geblieben ist. Byrons bei den Zeitgenossen außerordentlich populäres Versepos Childe Harold (veröffentlicht 1812–1818), aus dem Heine Anfang der 20er Jahre einige Weltschmerzpassagen wie Harolds »Good Night« in stilisierender, identifikatorischer Absicht übersetzte, steht paradigmatisch für Melancholie und Zerrissenheit, Stimmungen, die auch Heines frühe Texte wie etwa das Buch der Lieder kennzeichnen. Bedeutend für die Rezeption von Byrons Versepos in Heines Reise von München nach Genua von 1829 ist aber vor allem das vierte Canto, das Byron während seines Exils in Italien schrieb. Das vierte Canto, mit dem Childe Harold endet, dokumentiert Byrons Suche nach einer neuen Ausdrucksform, die, so die These, mit einer neuen Funktionsbestimmung von Kunst einhergeht. Heines produktive Rezeption dieses Cantos zeichnet sich in seinem Reisebild als poetologische Reflexion ästhetischer und politischer Fragestellungen ab. Das geographische Ziel Italien, wohin sich Heine im August 1828 nach einem aufreibenden Aufenthalt in München flüchtete, verweist nicht nur auf die Tradition der Italienreisen, sondern auch auf Byrons poetische ›Erneuerung‹ im italienischen Exil. Bereits der im Titel des Reisebilds genannte Ort Genua, den Heine während seiner Reise in Italien zügig ansteuerte – ein für deutsche Italienreisende des 19. Jahrhunderts weniger geläufiges Reiseziel –, assoziiert Byrons Aufenthalt in Italien. Denn in Genua hielt sich der englische Dichter zuletzt vor seiner Abreise nach Griechenland auf, wo er öffentlich für politische Emanzipation und Freiheit eintrat – Ideen, für die sein Name nach 1824 in den politisch progressiven Kreisen Europas zunehmend zum Symbol wurde. Im folgenden soll gezeigt werden, daß beide Texte, Byrons Childe Harold IV und Heines Reise von München nach Genua, Schwellennarrative darstellen, 269

die sich über den Topos der Melancholie mit der Romantik auseinandersetzen: Dabei wird die Melancholie als subjektiver, psychischer Ausdruck ins PolitischGesellschaftliche gewendet. Im Kontext der Reflexion individueller Zeitlichkeits- und Verlusterfahrungen sowie der Diskussion verschiedener romantischer und klassizistischer Bewältigungsmodelle von Zeitlichkeit kündigt sich bei beiden Autoren eine neue Poetik an, die das autonome Kunstwerk überschreitet und in den politischen Diskurs ausgreift.1 Die beiden Schwellennarrative Childe Harold IV und Reise von München nach Genua und ihre implizite Poetologie, die sich in der Umakzentuierung romantischer Theoreme, Motive und Topoi artikuliert, sollen im folgenden unter dem Fokus der Melancholie analysiert werden. Indem Heines Texte immer wieder auf ihre ›Zerrissenheit‹ hin untersucht wurden,2 ist der Begriff der Melancholie in den Hintergrund getreten, den Ludwig Marcuses HeineBuch von 1932 noch im Untertitel neben »Epikureer« und »Streiter in Marx« führte.3 Besonders überraschend ist diese Vernachlässigung im Hinblick auf einen Text wie Reise von München nach Genua, der zahlreiche Motive aus der zeitgenössischen Melancholiediskussion aufgreift. Die Konzentration auf den Aspekt der Melancholie hat zudem gegenüber der eher gegenständlichen Metapher der Zerrissenheit den Vorzug, daß die Problematik der Zeitlichkeit in den Blick gerät, die den Melancholiediskurs prägt. Im Rekurs auf Byrons Childe Harold IV ergibt sich so überdies eine neue Perspektivierung für die in der Heine-Forschung bereits umfangreich diskutierten Geschichtsmodelle der Reise von München nach Genua.4 Der Komplex der Melancholie und die Bedeutung Byrons für Heines Selbstinszenierung als Autor auch Ende der 1820er Jahre soll zunächst intermedial umrissen werden mit Bezug auf ein Porträt Heines von 1827, das zwar allgemein die Tradition melancholischer Künstlerbildnisse aufruft, im besonderen aber, so die hier verfolgte These, Byrons berühmtes Porträt von Robert

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Zwar betont etwa Markus Winkler bei seiner vergleichenden Untersuchung von Byrons und Heines Ästhetik der Zerrissenheit, daß Byron in Childe Harold am Ideal der Totalität festhalte, wohingegen Heine in den Reisebildern eine neue Kunst postuliere (vgl. Winkler, »Weltschmerz, europäisch«, S. 180f. und S. 190). Bei seiner Analyse berücksichtigt Winkler, dem grundsätzlich zugestimmt werden kann, jedoch nicht ausreichend das letzte, im italienischen Exil geschriebene Canto. So etwa Maria-Christina Boerners umfassende Verortung von Heines ›Zerrissenheit‹ im philosophischen und ästhetischen Diskurs um 1800 (Boerner, »Die ganze Janitscharenmusik«, S. 19–93). Ludwig Marcuses biographische Studie bezieht Heines Melancholie explizit auf Byron, wenn er über die Jugendjahre des deutschen Dichters schreibt: »In Byron begegnete Heine dem überlebensgroßen Abbild dessen, was in ihm Melancholie, Todeswille war. Heine war mit Byron nah verwandt – und war ewig von ihm getrennt: durch eine Lebenslust, die noch größer war als Byrons Leid.« (Ludwig Marcuse, Heinrich Heine – Melancholiker, Streiter in Marx, Epikureer. Zürich 1980, S. 52). Vgl. dazu Kap. IV. 5.2.4.

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Westall zitiert. Das darauf folgende Kapitel skizziert die Neucodierung der Melancholie, die nicht mehr nur subjektiver Ausdruck von Verlust und Mangel ist, sondern auch das objektive Ungenügen an der politischen Situation Europas ausdrückt. Dafür steht exemplarisch die ›Ruinologie‹ des vierten Cantos von Childe Harold, auf die Heine in einem Brief an Eduard Schenk aus Italien intertextuell anspielt. Es kann gezeigt werden, daß Heines zunehmende Politisierung der subjektiv sentimentalischen Zerrissenheit sich – entgegen der Forschungsmeinung – nicht in der Distanzierung von Byron vollzogen hat, sondern im Zusammenhang mit der produktiven Rezeption von Byrons Texten steht. An diesen Aufriß schließt sich eine detaillierte Lektüre der Problemkonstellation des letzten Cantos von Byrons Versepos Childe Harold an, deren Ergebnisse dann im Hauptteil dieses Kapitels auf die Analyse von Heines Reise von München nach Genua angewendet werden. Dabei zeigt sich als eine zentrale Funktion von Heines dialogischer Rezeption des ›italienischen‹ Cantos von Byrons Versepos Childe Harold die kritische Distanzierung vom klassischromantischen Diskurs, den u.a. Goethe, Novalis und die Brüder Schlegel für Heine repräsentieren. Zugleich erfolgt im Italienreisebild Reise von München nach Genua wie in Childe Harold IV eine postromantische Orientierung am ›Wirklichen‹, die eine grenzüberschreitende, performative Kunst einfordert.

1.

Melancholische Autorinszenierung: Heines intermediales Bildzitat von Byrons ›Westall-Porträt‹

Wie Werner Busch in seiner Studie zur Porträtkunst Das sentimentalische Bild zeigt, wird seit Mitte des 18. Jahrhunderts im Medium des Künstlerporträts nicht mehr nur eine möglichst wirklichkeitsgetreue Darstellung der Person angestrebt, sondern zunehmend das ästhetische und auch das politische Selbstverständnis des dargestellten Künstlers durch die Wahl des Hintergrundes, der Pose und der beigefügten Attribute ausgedrückt.5 Im Hinblick auf diese Beobachtung Buschs soll im folgenden eines der bekanntesten Künstlerporträts von Heine analysiert werden, das Ludwig Emil Grimm – der jüngere Bruder von Jacob und Wilhelm Grimm – von dem deutschen Dichter anfertigte. Im Medium des Bildes zeigt sich besonders prägnant Heines eigene Autorinszenierung und der Entwurf seines künstlerischen Selbstverständnisses im Zeichen der Melancholie. Das Porträt, das nach Heines Englandreise und vor seinem 5

Bei diesem Wandel spielt die Porträtkunst des Malers Sir Joshua Reynolds eine wichtige Rolle. Vgl. Werner Busch, Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne. Stuttgart 1993 sowie David Piper, The Image of the Poet. British Poets and their Portraits. Oxford 1982, bes. das Kapitel »Byron and the Romantic Image«, S. 91–145.

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Aufbruch nach Italien entstanden ist, verweist in seiner Ikonographie nicht nur auf das allgemeine Thema der Melancholie, sondern zitiert im Bildaufbau darüber hinaus speziell Byron als melancholischen Künstler der Moderne. Als künstlerischer Selbstentwurf ist die Zeichnung, die der Maler und Radierer Ludwig Emil Grimm von Heine im November 1827 anfertigte, in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Sie zeigt zum einen den Künstler-Autor als Melancholiker und bestätigt zum anderen in der spielerischen Selbstprojektion auf Byron die anhaltende Bedeutung des englischen Dichters auch in den Jahren nach der Publikation des Reisebilds Die Nordsee III, in dem sich Heine für die deutsche Öffentlichkeit explizit von dem zerrissenen Modeautor distanzierte – wobei der Hinweis auf das »spleenisch schwarz[e]« Blut Byrons (DHA 6, 162) deutlich auf seine Melancholie anspielt. Kurz nach seiner Rückkehr aus England ließ Heine auf dem Weg nach München, wo er für Cottas Zeitung als Redakteur beginnen sollte, während eines kurzen Aufenthalts in Kassel sein Porträt von Grimm zeichnen (Abb. 2).6 Zwischen Grimms Porträt von Heine, das später radiert wurde, und einem Ölbildnis von Byron, das Robert Westall 1813 anfertigte, besteht eine erstaunliche Ähnlichkeit (Abb. 3). Es kann davon ausgegangen werden, daß Heine diesem bekannten Porträt von Byron während seines Englandaufenthaltes in London begegnete oder er eine der zahlreichen Reproduktionen von Westalls Bildnis kannte. Dies ist denkbar, weil Westall aufgrund von Geldmangel schon 1814 Radierungen zustimmte, die zur Verbreitung und Popularisierung des Bildes beitrugen.7 So entstanden bereits noch im gleichen Jahr zwei originalgetreue Kopien von Westalls Porträt, das auf diese Weise zu einem der wirkmächtigsten Bilder von Byron überhaupt wurde.8 Vermutlich war die erste Nachahmung von Thomas Blood – sie wurde im Februar 1814 im Journal European Magazine abgedruckt und erreichte so das europäische und sogar das amerikanische Publikum.9 Dennoch erwies sich 6

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Zu Grimms Porträts vgl. Anton Merk, »Die Bildniskunst«. In: 200 Jahre Brüder Grimm, Bd. 2: Ingrid Koszinowski/Vera Leuschner (Hrsg.), Ludwig Emil Grimm 1790–1863. Maler, Zeichner, Radierer. Kassel 1985, S. 101–112, speziell zu Grimms Künstlerporträt von Heine siehe S. 103. Vgl. John Clubbe, Byron, Sully, and the Power of Portraiture. Aldershot 2005, S. 185. Zu den Bildern, die von Byron während seines Lebens angefertigt wurden und dem self-fashioning des Autors vgl. auch die Untersuchungen von Christine Kenyon Jones, »Fantasy and Transfiguration: Byron and his Portraits«. In: Frances Wilson (Hrsg.), Byromania: Portraits of the Artist in Nineteenth- and Twentieth-Century Culture. Basingstoke, London 1999, S. 109–136 sowie von Annette Peach, »›Famous in my time‹: Publicization of Portraits of Byron during His Lifetime«. In: Christine Kenyon Jones (Hrsg.), Byron: The Image of the Poet. Newark 2008, S. 57–67. Vgl. Piper, The Image of the Poet, S. 133. Annette Peach geht davon aus, daß Westalls Porträt das erste war, das absichtlich einen »Byronic Byron« (»Publicization of Portraits of Byron«, S. 63) beschworen habe. Zur Verbreitung von Reproduktionen des Bildes in Journalen und Magazinen vgl. S. 62 sowie Annette Peach, Portraits of Byron. The Volume of the Walpole Society 62 (2000), S. 44f. Vgl. Clubbe, The Power of Portraiture, S. 185 sowie Peach, Portraits of Byron, S. 44f.

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die Radierung von Charles Turner, die einige Monate später auf den Markt kam, als einflußreicher – wahrscheinlich aufgrund ihrer romantisierenden Tendenz (Abb. 4).10 Mindestens fünf weitere Kopien folgten sowie einige Nachahmungen in der neuen Technik der Lithographie, die auch noch nach Byrons Tod entstanden.11 Besonders bemerkenswert ist die Gedenklithographie »Lord Byron – la Grèce Reconnaissante« (1825) von Nicolas-Eustache Maurin, dessen Porträt bereits aus dem Jahr 1813 stammt (Abb. 5).12 Maurin wählt gegenüber Westalls Porträt einen stark modifi zierten Hintergrund, der an die Kulisse von Byrons Versepos Childe Harold erinnert: antike Ruinen sowie eine Seeschlacht in der Ferne. Nach Byrons Heldentod in Griechenland gewinnt das Bild als Gedenklithographie eine weitere Bedeutung: Der Dichter ist nicht mehr nur der melancholische Romantiker, sondern die neue Ikone der Freiheit.13 Bei der vergleichenden Betrachtung von Byrons und Heines Porträt fällt auf, daß die Darstellungen von Grimm und Westall die Schriftsteller jeweils in der Pose des sinnenden Denkers zeigen, eine ikonographische Tradition, die bis zu Albrecht Dürers Kupferstich Melencolia I von 1514 zurückreicht (Abb. 1).14 Dieses Genre der Melancholieabbildungen wird in den Porträts von Byron und Heine zusätzlich um die bildkünstlerische Tradition der Dichterdarstellung ergänzt, die weitere Details der zwei Bilder erklären kann. Zwischen den Porträts von Byron und Heine gibt es auffällige Parallelen, die über die Zugehörigkeit zu diesen Traditionen hinausgehen und auf eine direkte Selbstinszenierung Heines nach dem Vorbild der melancholischen Dichterpose Byrons in Westalls Porträt schließen lassen. Die Ähnlichkeit der beiden Darstellungen hat in der Forschung bisher unterschiedliche Einschätzungen erfahren. Michael Perraudin etwa bemerkt in seiner Untersuchung zu Heines früher Rezeption von Byron lapidar, daß Grimms Bild von Heine das berühmte Byron-Porträt von Westall fast klischeehaft imitiere.15 Dagegen weist die neuere kunsthistorische Studie von Ekaterini

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Vgl. Clubbe, The Power of Portraiture, S. 185 und Peach S. 44. Vgl. Clubbe, The Power of Portraiture, S. 185. Vgl. Clubbe, The Power of Portraiture, S. 187. Robert Beevers spricht sogar von einer »explosion of demand for images of Byron following his death in 1824« (Robert Beevers, The Byronic Image. The Poet Portrayed. Abingdon 2005, S. 6; für eine ausführliche Darstellung der Bildproduktionen von Byron nach seinem Tod vgl. auch S. 124ff.). Für eine detaillierte Erläuterung von Dürers Bild siehe Raymond Klibansky/Erwin Panofsky/ Fritz Saxl, Saturn and Melancholy. Studies in the History of Natural Philosophy, Religion and Art. London 1964, S. 277–402. Die Autoren heben hervor, daß Dürers einflußreiche Melancholiepose selbst auf eine über tausend Jahre alte ikonographische Tradition zurückgehe und nennen als Beispiel die Darstellung von Trauernden auf ägyptischen Sarkophagen (vgl. S. 286f.). »Heine continued for some time after to find the Byronic image of himself gratifying (indicated, for instance, by the portrait he allowed Ludwig Grimm to produce of him in late

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Kepetzis zu Heines Porträts dezidiert Spekulationen zurück, die eine direkte Anspielung von Grimms Zeichnung auf Darstellungen von Byron sehen wollen.16 Die diametral entgegengesetzten Positionen von Perraudin und Kepetzis zeigen, daß eine detaillierte Betrachtung der beiden Bilder nötig ist, um die hier verfolgte These eines Bildzitats, bei dem sich der deutsche Dichter als Melancholiker auf der Folie von Byrons berühmtem Westall-Porträt entwirft, begründen zu können.17 Obwohl Grimm als Künstler und Zeichner des Bildes auftritt, kann man davon ausgehen, daß Heine an der Komposition des Bildes maßgeblich beteiligt war, vor allem wenn man berücksichtigt, wie sehr Heine auf eine ansprechende Darstellung seiner Person durch die Künstler bedacht war.18 Als marktstrategischer Autor, der seine Rolle in der Öffentlichkeit vielfach in seinen Texten inszenierte, war sich Heine auch des Effekts bildlicher Repräsentationen des Autors bewußt. Das in Kapitel II. besprochene Bruchstück aus Die Harzreise legt zudem nahe, daß Heine mit Bildnissen von Byron vertraut war und ihm der Gedanke der Ähnlichkeit, trotz der physischen Unterschiede in ihrem Erscheinungsbild, schmeichelte. Wie bereits zitiert, lauten die Worte des autobiographischen Erzählers in dem Bruchstück: »Weil ich nichts anders hatte schenkte ich dem lieben Kinde, das Bild von Lord Byron, das ich zufällig im Turnister trug. Sie meinte durchaus es sey mein eignes Bild, und es sey gut getroffen; und ich hatte Mühe bis sie mir glaubte es sey ein Griechischer Heiliger.« (DHA 6, 228) Bei einem direkten Vergleich der Darstellungen ist die nahezu identische Bildkomposition der beiden Porträts unübersehbar. Sowohl Westall als auch Grimm wählen ein Brustbild des sitzenden Schriftstellers im Vollprofil. Die Porträtierten entziehen sich so dem teilnehmenden Blick des Betrachters und erscheinen distanziert. Der auf den Arm gestützte Kopf markiert in beiden Bildern zusammen mit Ellbogen und linker Schulter ein Dreieck in der Bildmitte. Die Kleidung ist – dem Genre des Künstlerporträts gemäß – individualistisch und wenig streng: Beide tragen ein Obergewand mit Knöpfen und einem hel-

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1827, imitative to the point of cliché of the famous Westall portrait of Byron).« (Perraudin, Heine, the German Byron, S. 256). Vgl. auch David Piper, der in einem Halbsatz darauf hinweist, daß Grimms Porträt von Heine Westalls Byron-Porträt folge (Piper, The Image of the Poet, S. 140). Vgl. Ekaterini Kepetzis, »›Was habt ihr gegen mein Gesicht?‹ Heinrich Heines zeitgenössische Portraits«. In: Christian Liedtke (Hrsg.), Heinrich Heine im Porträt. Wie die Künstler seiner Zeit ihn sahen. Hamburg 2006, S. 113–134, hier S. 116. Auch J. F. Slattery sieht Grimms Porträt von Heine im Kontext einer Abbildung von Byron: »There can surely be no more striking case of a portrait which tries to make one man look like another«. Unverständlich ist jedoch Slatterys Bildwahl – denn die Ähnlichkeit zwischen den beiden sieht er in einem Porträt, daß 1818 George Henry Harlow von Byron anfertigte, mit dem Heines Porträt, außer der Darstellung im Profi l, keinerlei Übereinstimmungen aufweist (Slattery, The German Byron, S. 96). Vgl. Christian Liedtke, »Vorwort«. In: Liedtke (Hrsg.), Heinrich Heine im Porträt, S. 7–16, hier S. 1f.

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len Kragen, über die Schulter ist locker ein Mantel drapiert. Werner Busch weist darauf hin, daß im Genre des Gelehrten- und Literatenporträts »immer schon eine gewisse Unkonventionalität erlaubt [war], um das Außergewöhnliche des Wissenschaftlers oder Künstlers zu betonen«.19 Dazu passen die verwegenen Locken, auf denen sich Lichtreflexe spiegeln.20 Der Bildhintergrund bleibt jeweils ohne konkrete Objekte und lenkt so den Blick des Betrachters auf das Gesicht des Dichters. Typisch für das zeitgenössische romantische Porträt ist die starke Konzentration auf den Kopf, der in Westalls und Grimms Darstellung – aufgrund der ähnlichen Hell-Dunkel-Verteilung im Bild – den leuchtenden Fluchtpunkt der Abbildung darstellt. Die weit geöffneten Augen von Byron und Heine sind sehnsuchtsvoll auf einen Ort fi xiert, der für den Betrachter außerhalb des Sichtbaren liegt. Heines Kopf ist allerdings etwas höher gerichtet, so daß sein in die Ferne schweifender Blick schwärmerischer wirkt als der Byrons, der zwar melancholisch ist, aber dennoch die ihn umgebende Objektwelt zu fokussieren scheint. Byrons Blick – vergleichbar mit romantischen Fensterbildern – ist von dem dunklen, rahmenden ›Innenraum‹ nach draußen gerichtet, angedeutet durch eine vage blaue Farbgebung in der linken Bildhälfte. Grimm hingegen zeichnet Heine an einem Tisch sitzend, auf dem im rechten Vordergrund des Porträts mehrere, darunter auch aufgeschlagene Bücher liegen. Sein Blick geht ins Leere oder Imaginäre. Auf der Folie der Parallelen in der Pose der Porträtierten tritt der Unterschied im rahmenden Hintergrund der beiden Porträts umso deutlicher hervor. Der Ort, an dem Byron sitzt, ist trotz aller Abstraktheit als eine Felswand mit einem Felsvorsprung zu erkennen, auf den der Dichter seinen rechten Ellbogen in der Denkerpose aufstützt. Byron wird zwar in einer melancholisch-kontemplativen Pose an einem naturhaften Ort gezeigt, der aber – das betont Annette Peach – die dynamische Körperhaltung und das gespannte Profil der Kinnpartie entgegenwirkt, in der sich die rastlose Energie des Porträtierten zeige.21 Byrons Offenheit für die Welt wird zudem durch die malerische Betonung der Sinnesorgane wie das offene Ohr und den sinnlichen Mund suggeriert. Der Dichter kommuniziert trotz seiner zurückgezogenen Position mit der äußeren Welt. In Grimms Porträt dagegen wird die Kultur als Quelle der Inspiration hervorgehoben. Die teils aufgeschlagenen Bücher, die, wie das Gesicht Heines, mit starken Lichtakzenten versehen sind, befinden sich direkt im Vordergrund

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Busch, Das sentimentalische Bild, S. 423. Kepetzis führt die Darstellung von Heines Locken auf die Tradition der Maler- und Künstlerdarstellungen zurück, in der ungebändigtes Haar seit der Renaissance als Zeichen von Genie galt (vgl. »Heines zeitgenössische Portraits«, S. 116). Trotz der Zugehörigkeit zu diesem zweifellos die Bildkomposition prägenden Genre weichen sowohl Heines als auch Byrons Porträt von dieser Tradition signifi kant ab, insofern die typischen Attribute des Dichters – Manuskript, Tintenfaß oder Feder – bei beiden fehlen. Vgl. Peach, Portraits of Byron, S. 44.

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des Bildes. Der Ort des deutschen Schriftstellers, so die Bildsprache des Hintergrunds, ist der kulturelle und gelehrte Innenraum, in den er sich zurückzieht. Der Autor Heine wird als Vertreter der deutschen Kulturnation gezeigt, was ihn zwar in die Tradition berühmter Dichter wie Friedrich Klopstock oder Friedrich Schiller stellt, die dieses Konzept verteidigten, gleichzeitig aber auch in einem politischen Kontext verortet, der auf die mangelnde politische Partizipation und Handlungsfähigkeit des bürgerlichen Individuums in der ›zerrissenen‹ Nation hinweist.22 In diesem Zusammenhang sind die beiden kommentierenden Verszeilen, die Heine 1827 unter das Porträt von Grimm geschrieben hat, aufschlußreich: »Verdrossnen Sinn im kalten Herzen hegend,/ Schau ich verdrießlich in die kalte Welt; u.s.w.« Die Formulierungen vom »kalten Herzen« und der »kalte[n] Welt« greifen das Melancholiemotiv auf und parallelisieren den Zustand von Innen und Außen. Bedeutsam ist, daß in diesen Versen – wie in dem Porträt – das Subjekt nur in die Welt ›schaut‹, also nicht aktiv an ihr teilnimmt. Eine Beziehung zwischen Innen und Außen besteht nur über den äquivalenten Zustand der ›Kälte‹. Heines Kommentar zu seinem von Grimm gezeichneten Bild gegenüber seinem Mentor Varnhagen von Ense akzentuiert genau diesen Aspekt des passiven, idealistischen Deutschen: »Ludwig Grimm hat mich gezeichnet; ein langes deutsches Gesicht, die Augen sehnsuchtvoll gen Himmel gerichtet.« (HSA 20, 307) Grimms Zeichnung von Heine inszeniert für den Betrachter ein Rollenspiel, das auf der Folie von Westalls Byronporträt das Abbild eines melancholischen, zerrissenen Dichters reproduziert. Obwohl, wie Ekaterini Kepetzis bemerkt, die Tradition von Dürers Melencolia I aufgerufen wird, weichen beide Porträts in gleicher Weise in einem entscheidenden Punkt von ihr ab. Von Dürers weiblicher Darstellung der Melancholie, die zusammengesunken mit einem in sich gekehrten, weltabgewandten Blick dasitzt, unterscheiden sich beide Dichterporträts durch ihre aufrechte, selbstbewußte Körperhaltung. Der Verdruß, den Heines bildbegleitende Verse gleich zweimal hervorheben (»[v]erdrossnen«, »verdrießlich«), ist nicht identisch mit dem Gefühl der Verzweiflung, sondern artikuliert vielmehr Ärger und Enttäuschung; sie sind bei Heine Ausdruck eines unerfüllten Anspruchs des Subjekts an die Welt bzw. die Gesellschaft, der als mangelnde Partizipation gedeutet werden kann. Von den zahlreichen Dichterbildnissen des 18. und 19. Jahrhunderts unterscheiden sich zudem beide Porträts durch ihre eigenwillige Kombination der Melancholiegeste mit der Darstellung im Vollprofil, die in der Tradition fast ausschließlich für Münzbilder und nicht für Porträts verwendet wurde.23 In 22

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Vgl. dazu das Kapitel »Kulturnation statt Staatsnation? Das 18. Jahrhundert« in Jürgen Schröder, Deutschland als Gedicht. Über berühmte und berüchtigte Gedichte aus fünf Jahrhunderten in fünfzehn Lektionen. Freiburg i.Br. 2000, S. 101–133. Eine repräsentative Auswahl an englischen und deutschen Dichterporträts findet sich bei Piper, The Image of the Poet und bei Roland Kanz, Dichter und Denker im Porträt: Spuren-

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zeitgenössischen Darstellungen ist Dürers Bildsprache der Melencolia I etwa in Moritz von Schwinds Zeichnung Einsamkeit von 1823 (Abb. 6) charakteristischer umgesetzt, wo die melancholische Abkehr von der Welt durch die mutlos-resignierte, in sich gekehrte Körperhaltung der Figur ausgedrückt wird. Auch das weibliche Brustbild des Malers Friedrich Overbeck (Abb. 7) realisiert die Melancholiepose in direkter Anlehnung an Dürers Darstellung, indem das Gesicht der abgebildeten Frau dem Betrachter frontal gezeigt wird. Für die Tradition des Dichterporträts wiederum, das mit Elementen der Melancholie kombiniert ist, ist das Halbprofil, bei dem beide Augen des Schriftstellers zu sehen sind, sowie die offene Hand, auf der die Schläfe ruht, weitaus typischer.24 Das zeigen etwa die Darstellungen repräsentativer romantischer und klassischer Dichter in England und Deutschland wie Henry Meyers Porträt von William Wordsworth (Abb. 8) oder Anton Graffs Gemälde von Friedrich Schiller (Abb. 9).25 So folgt Graffs Darstellung von Schiller zwar auch dem pensieroso-Typus, der in Künstlerbildnissen Roland Kanz zufolge, die »Inspiration durch einen poetischen Genius« anzeige, aber auch hier ist der Dargestellte dem Betrachter in Dreiviertelansicht zugewendet.26 Kepetzis’ These, daß aufgrund der Zugehörigkeit von Grimms Heinebildnis zur Tradition der Melancholie- und Künstlerdarstellungen kein Zusammenhang mit den Porträts von Byron vorliege, kann insofern nicht zugestimmt werden.27 Die Analyse der beiden Porträts und ihrer Kontexte zeigt, daß Heines Melancholiepose als Bildfigur – die für viele seiner Zeitgenossen erkennbar war – Byrons Porträt von Westall zitiert. Der Vergleich mit zeitgenössischen Porträts, die entweder die Tradition des Dichterporträts oder der Melancholiepose aufgreifen, belegt, daß das berühmte Bild von Byron mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die entscheidende Bildvorlage für Heines Porträt von Grimm darstellt.28 Die Abweichungen zu Byrons Porträt im Hintergrund und in den beigefügten Attributen markieren, wie gezeigt, die spezifisch deutsche Situation. Denn der deutsche Dichter ist, wie schon Heines Reisebild Die Nordsee III betont, auf sein idealisches Dasein beschränkt, das sich – der politisch zer-

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gänge zur deutschen Porträtkultur des 18. Jahrhunderts. München 1993. Einen Überblick über die Geschichte des Porträts gibt John Walker, Portraits. 5000 Years. New York 1983. Siehe dazu vor allem auch die Darstellungen von Alexander Pope und John Keats, die bei Piper abgebildet sind (vgl. The Image of the Poet, Abb. 62, S. 61, Abb. 67, S. 67, Abb. 68, S. 68, Abb. 130, S. 119). Henry Meyers Kupferstich des Ölporträts von Richard Carruthers war eine der verbreitetsten Reproduktionen während William Wordsworths lebte (vgl. dazu die Studie von Frances Blanshard, Portraits of Wordsworth. London 1959). Blanshard zufolge gehörte Wordsworth mit ca. 70 Bildern vor der Einführung der Photographie zu den am häufigsten porträtierten Dichtern seiner Zeit (vgl. S. 25–37). Kanz, Dichter und Denker, S. 110. Da Kepetzis kein bestimmtes Porträt von Byron nennt, bleibt ihre These insgesamt zu vage. Zur Notwendigkeit des Erkennens der Bildfigur im Künstler- und Gelehrtenporträt durch den Betrachter vgl. Busch, Das sentimentalische Bild, S. 395.

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rissenen Kulturnation entsprechend – durch mangelnde Tatkraft und Partizipation an politischen Prozessen auszeichnet. Aus der Distanz des fremden Landes kommentiert Heine im September 1828 diese fehlende Handlungsfähigkeit der Deutschen in einem Brief an Moses Moser: »Meine Liebe für Menschengleichheit, mein Haß gegen Clerus war nie stärker wie jetzt, ich werde fast dadurch einseitig. – Aber eben um zu handeln muß der Mensch einseitig seyn. Das deutsche Volk und Moser werden eben wegen ihrer Vielseitigkeit nie zum Handeln kommen.« (HSA 20, 341) Daß sich eine Veränderung von der passiven zur aktiven melancholischen Pose abzeichnet, verdeutlichen auch die kommentierenden Verszeilen auf der Zeichnung von Grimm, die erneut im Gedicht XLII der Sammlung Neue Gedichte auftauchen und zwar in dem Zyklus mit dem programmatischen Titel »Neuer Frühling«. Der zweite Vers lautet dort: »Reis’ ich verdrießlich durch die kalte Welt […].« (DHA 2, 29) Das zum ersten Mal 1831 abgedruckte Gedicht modifiziert das ›Schauen in‹ zum ›Reisen durch‹, wodurch sich – nach der französischen Juli-Revolution – die Position des Sprechers signifikant vom distanzierten, passiven zum aktiven, teilnehmenden Beobachter verschiebt. Die Politisierung der Melancholie ist besonders charakteristisch für Heines Italienerlebnis, was im folgenden im Hinblick auf das Motiv der ›Ruine‹ und anschließend in der Analyse der Reise von München nach Genua gezeigt werden soll.

2.

»Bin ich doch selbst eine Ruine, die unter Ruinen wandelt«: Melancholie in Italien

Nicht nur das Bildzitat steht unter dem Aspekt der Melancholie, sondern auch Heines Italienreise, in deren Kontext erneut melancholische Topoi, nunmehr aber in textuellen nicht-fiktionalen Dokumenten, aufgerufen werden. Heines Situation vor seiner überstürzten Abreise von München nach Italien im August 1828 war in physischer und mentaler Hinsicht angespannt. Der Haß gegen die Kirche und ihre Vertreter, den Heine gegenüber Moser erwähnt, entwickelte sich maßgeblich in München. Heines öffentliches Leben in München war von Literaturintrigen und Angriffen der reaktionären Kreise beherrscht, zu denen vor allem Adel und Klerus zählten. Die verbalen Attacken gegen Heine von der als katholisch und antiliberal geltenden Münchner Zeitschrift Eos standen im Zentrum dieses Streits. Vor allem in den Beiträgen Ignaz von Döllingers finden sich zudem erste antisemitische Ausfälle, die sich bald nach der Rezension von Willibald Alexis, die oben im II. Kapitel besprochen wurde, gegen den zwar getauften, aber dennoch als jüdisch diffamierten Schriftsteller einstellten. Kurz vor seiner Abreise nach Italien hatte Heine wahrscheinlich außerdem erfahren, daß August von Platen einen Angriff auf ihn in seinem Romantischen Ödipus plante. Heines ›Platen-Exekution‹ in Die Bäder von Lukka knüpft an diese Aus278

einandersetzungen ebenso an wie an den in Die Nordsee begonnenen Kampf gegen die deutsche Literaturmisere. In einem Brief an Eduard von Schenk aus den Bagni di Lucca, der fast zeitgleich mit dem oben zitierten Brief an Moses Moser über die mangelnde Handlungsfähigkeit des deutschen Volkes entstand, zitiert Heine Byron erneut, und zwar mit einer Formulierung aus Childe Harold IV, die auf den Melancholie-Diskurs verweist. Der Brief, den Heine Anfang September an Eduard von Schenk schreibt, zeugt zugleich von Heines Hoffnung, durch seinen Freund Schenk eine Berufung zum Professor in München zu erreichen. Diese hätte nicht nur seine berufliche und finanzielle Zukunft sichern, sondern auch seine prekäre gesellschaftliche Stellung verbessern können.29 Vor dem Hintergrund dieser persönlichen Krise schreibt Heine aus den Bagni di Lucca an Schenk: Der Mangel an Kenntnis der italiänischen Sprache quält mich sehr. Ich versteh’ die Leute nicht und kann nicht mit ihnen sprechen. Ich sehe Italien, aber ich höre es nicht. Dennoch bin ich oft nicht ganz ohne Unterhaltung. Hier sprechen die Steine, und ich verstehe ihre stumme Sprache. Auch sie scheinen tief zu fühlen, was ich denke. So eine abgebrochene Säule aus der Römerzeit, so ein zerbröckelter Longobardenthurm, so ein verwittertes gothisches Pfeilerstück versteht mich recht gut. Bin ich doch selbst eine Ruine, die unter Ruinen wandelt. Gleich und Gleich versteht sich schon. (HSA 20, 339)30

Heine betont gegenüber Schenk, daß er keinen Zugang zu Italien finde, da er die Sprache nicht verstehe. Heine stilisiert in den ersten zwei Sätzen der zitierten Stelle sein Italienerlebnis als Verstehensproblem, das mit Goethes erfüllender Erfahrung kontrastiert, die er in seinem für das Genre traditionsbildenden Text Italienische Reise beschreibt.31 Für Goethe ist die Ankunft in Italien, dem Land der Sehnsucht, eine glückliche Heimkehr, und in seinem Reisebericht schreibt er entsprechend begeistert, »daß nunmehr die geliebte Sprache lebendig, die Sprache des Gebrauchs wird«.32 Für Heine dagegen

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Heine hätte eine Anstellung als Professor der Aussicht auf eine Weiterbeschäftigung als Redakteur bei Cottas Neue allgemeine politische Annalen vorgezogen. Vgl. seinen Brief an Eduard von Schenk aus Florenz vom 1. Oktober 1828 (HSA 20, S. 345). Vgl. auch Achim Geisenhanslüke und Frank Erik Pointner, die auf diese Stelle unter Bezug auf Felix Melchiors Studie von 1903 hinweisen und dabei den – aus heutiger Sicht der HSA – nicht mehr zutreffenden Absendeort und die unkorrekte Datierung (Livorno, 27. August) übernehmen (vgl. »The Reception of Byron in the German-Speaking Lands«, S. 253). Zu Heines Auseinandersetzung mit der Tradition der Italienschilderung siehe Michael Werner, »Heines Reise von München nach Genua im Lichte ihrer Quellen«, in: Heine-Jahrbuch 14 (1975), S. 24–46; besonders mit Goethe siehe: Norbert Altenhofer, »Heines italienische Reisebilder«. In: Altenhofer, Die verlorene Augensprache. Frankfurt a.M. 1993, S. 233–255 [zuerst 1986]. Goethe, Italienische Reise, MA 15, S. 28. Im Tagebucheintrag zur italienischen Reise, ebenfalls vom 11. September 1786, notiert Goethe über seine Ankunft in Italien: »Es ist mir als wenn ich hier geboren und erzogen wäre und nun von einer Grönlandsfahrt von einem Wallfischfang zurückkäme. Alles ist mir willkommen auch der Vaterländische Staub der manch-

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bleibt Italien stumm, er kann es nicht hören, nur sehen – und er sieht ein Land der Zerstörung und des Verfalls, der in den Ruinen allgegenwärtig ist. Aber gerade dieser Verfallsprozeß der italienischen Architektur eröffnet durch die Projektion des eigenen krisenhaften Zustandes auf die Zeichen der beschädigten Landschaft eine Ebene der Verständigung: »So eine abgebrochene Säule aus der Römerzeit, so ein zerbröckelter Longobardenthurm, so ein verwittertes gothisches Pfeilerstück versteht mich recht gut.« Für diese metaphorische Parallelisierung von innerer und äußerer Zerrissenheit, des subjektiven und des objektiven Zustands, verwendet Heine im zweiten Teil der Passage ein unmarkiertes Zitat aus dem vierten Canto von Byrons Childe Harold. Mit der leicht ironischen, selbstkritischen Beobachtung: »Bin ich doch selbst eine Ruine, die unter Ruinen wandelt«, ruft Heine die Worte des autobiographischen Erzählers auf, der, versunken in Gedanken über sein eigenes unglückliches Schicksal, die einstige Größe Italiens beklagt: But my soul wanders; I demand it back To meditate amongst decay, and stand A ruin amidst ruins; 33 there to track Fall’n states and buried greatness, o’er a land Which was the mightiest in its old command [...]. (IV 25; CPW II, 132).

An die Stelle von Goethes euphorischem Modell seines Italienerlebnisses in Italienische Reise tritt in Heines Briefstelle als ›moderner‹ Referenztext Childe Harold, in dem sich persönliche und politische Krise – Canto IV entstand bereits in Byrons italienischem Exil (1816–1824) – gegenseitig durchdringen. In dem abschließenden Canto von Byrons Versepos spiegelt sich in der desolaten politischen Situation Italiens nach den Beschlüssen der ›Heiligen Allianz‹ von 1815, die einen scharfen Kontrast zur einstigen Größe Italiens darstellt, die persönliche Krise des autobiographischen Erzählers, die ebenfalls von dem Gefühl des quälenden Verlusts gezeichnet ist. Die Überblendung der schwermütigen Gemütslage des Sprechers mit dem politischen Zustand Italiens, die für das letzte Canto von Childe Harold charakteristisch ist, sowie die melancholischen Geschichtsbetrachtungen und Reflexionen über das Phänomen der Zeit finden sich auch in Heines fiktionalem Bericht seiner »sentimentale[n] Reise« (HSA 20, 344) nach Italien. Etwa zeitgleich mit dem Brief an Eduard von Schenk begann Heine die Reise von München nach Genua in den Bagni di Lucca zu schreiben.34 Heines Brief an

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mal stark auf den Straßen wird und von dem ich nun solang nichts gesehen habe.« (Goethe, Tagebuch der Italienischen Reise, MA 3/1, S. 40) Meine Hervorhebung, A.B. Die erste Ausarbeitungsphase der Reise von München nach Genua läßt sich genau auf diese in den Bagni di Lucca verbrachte Zeit vom 5. bis 24. September 1828 datieren. Vgl. Heine,

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Schenk, der die Ruinenmetapher aus Childe Harold IV zitiert, enthält zudem thematische Überschneidungen mit Heines fiktionaler Reisebeschreibung, wie das Motiv der zum Betrachter sprechenden Bauwerke und Ruinen aus dem XXIV. Kapitel der Reise von München nach Genua. Aufgrund der Nähe zwischen Brief und Reisebild rückt Byrons Childe Harold und besonders das vierte Canto als wichtiger Intertext von Heines italienischem Reisebild in den Blick. Obwohl das Verhältnis von Heines Reise von München nach Genua zur Tradition italienischer Reisebeschreibungen bereits mehrfach untersucht wurde, fand Childe Harold bisher keine Beachtung.35 Ein Grund dafür mag sein, daß in der Liste der Italienschilderungen, auf die der Erzähler im XXVI. Kapitel ironisch als Teil seiner Lektüre hinweist, wie »Moritz, Archenholtz, Bartels, der brave Seume, Arndt, Meyer, Benkowitz und Rehfus« (DHA 7/1, 62), Goethes Italienische Reise, Madame de Staëls Corinne ou l’Italie und Lady Morgans Italy, Byrons Versepos nicht erwähnt wird.36 Gerade weil das vierte, italienische Canto von Byrons Versepos einen nicht markierten Intertext für Heines Reisebild darstellt, der zudem nicht ironisch ist, lohnt sich eine genauere Betrachtung der signifikanten Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen den beiden Texten. In der Forschung wird vor allem die Differenz zu Goethes distanzierter, ästhetischer Haltung betont und auf die aufklärerische Tradition hingewiesen, der Heines politisch-engagiertes Italienbild verpflichtet ist.37 Dazu zählen Madame de Staëls Corinne ou l’Italie und Sidney Morgans Italy, die beide in ihren Reiseberichten die restaurative Politik in Europa kritisierten, und deren »männliche Gesinnungen« der Erzähler explizit lobt, wenngleich er sie als Kompensation ihres mangelnden Talents versteht (DHA 7/1, 62). Künstlerisch-fiktionalen Anspruch und politisches Interesse an der – für

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DHA 7/2, S. 592. In einem weiteren Brief an Schenk vom 1. Oktober 1828 bemerkt Heine, er habe »schon zur Hälfte ein Buch geschrieben, eine Art sentimentaler Reise« (Heine, HSA 20, S. 344), mit der er die Reise von München nach Genua meint. Michael Werner listet alle Italienbeschreibungen auf, die als Quellen für Heines italienisches Reisebild in Frage kommen. Dazu berücksichtigt er neben den im XXVI. Kapitel in der Reise von München nach Genua genannten Titeln und den aus der Göttinger Bibliothek entliehenen Werken auch Hinweise aus Heines Briefen, erwähnt aber Byrons Childe Harold IV nicht (vgl. Werner, »Heines Reise von München nach Genua«, S. 24f.). Für weitere Untersuchungen, die sich mit der der zeitgenössischen Italienschilderung und ihrer Tradition in Heines Reisebild auseinandersetzen, aber Byrons Childe Harold nicht erwähnen, vgl. exemplarisch Guillaume van Gemert, »Heinrich Heine und der Wandel des Italienbildes. Die Reise von München nach Genua im Spiegel kontemporärer Auslandsreisen deutscher Dichter«. In: Italo Michele Battafarano (Hrsg.), Italienische Reise – Reisen nach Italien. Gardolo di Trento 1988, S. 279–301. Heine beschäftigte sich bereits 1823 intensiv mit Italien. An Moses Moser schrieb Heine im August 1823, daß er viel über Italien lese, da er den Plan für eine Tragödie habe, die während des Venezianischen Karnevals spielen solle (vgl. HSA 20, S. 109). Vgl. Günter Oesterle, »Heinrich Heines Reise von München nach Genua – ›ein träumendes Spiegelbild‹ vergangener und gegenwärtiger Zeiten«. In: Battafarano (Hrsg.), Italienische Reise, S. 257–277.

281

Europa nach 1815 exemplarischen – Situation des Landes, die der Erzähler bei Goethe vermißt (vgl. DHA 7/1, 62), findet Heine dagegen in Byrons Versepos vereint. Beide Italienreisen rekurrieren auf das Bild der Ruine, die wie das nächste Kapitel zeigt, nicht nur für Zerstörung, sondern auch für die Hoffnung auf Erneuerung steht.

3.

›Ruinologie‹ in Childe Harold IV und in Reise von München nach Genua38

Beide Texte, Childe Harold IV und Reise von München nach Genua, verbindet bei näherer Betrachtung nicht nur das Motiv der Reise – genauer: der Reise nach Italien –, sondern eine Reihe weiterer auffälliger Merkmale. Sowohl Byron als auch Heine schreiben fiktionalisierte Reisebeschreibungen, in denen der Erzähler, der zwischen autobiographischer und fiktionaler Figur changiert, melancholisch gestimmt ist. Sie begeben sich aus einem Gefühl persönlicher Niedergeschlagenheit heraus auf ihre Reise, in deren Verlauf sie ein Zeitpanorama entwickeln, eine ›Signatur‹ der Moderne, die in der politischen Situation die private Stimmung gespiegelt findet. Die oben genannte prägnante Formulierung Byrons, »and stand/ A ruin amidst ruins«, bezeichnet anschaulich diese Struktur, die auf Childe Harold ebenso wie auf Reise von München nach Genua zutrifft. Insofern markieren beide Texte eine signifikante Differenz zu Italienschilderungen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die das Bild eines sinnlich befreiten Südens als Gegenfolie zu ihrer Heimat, dem lust- und gefühlsfeindlichen, kalten Norden, zeichneten. Goethes Römische Elegien und seine Italienische Reise stehen paradigmatisch für diese Tradition eines antikisierenden, sinnenfreudigen Italienbilds, das sich unter dem Einfluß der Schriften von Johann Joachim Winckelmann seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte.39 Von der Tradition des befreienden, dionysischen Italienerlebnisses unterscheiden sich Byrons und Heines Italientexte durch die Dokumentation der Zerrissenheit und die Melancholie ihrer Protagonisten.40 38 39

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Vgl. dazu Jerome Christensen, der Childe Harold IV mit dem Begriff ›ruinology‹ treffend charakterisiert (Lord Byron’s Strength, S. 191). Zu Johann Joachim Winckelmanns Bedeutung für die Entwicklung des Italienbilds im 18. Jahrhundert vgl. Gunter E. Grimm/Ursula Breymayer/Walter Erhart, »Ein Gefühl von freierem Leben«. Deutsche Dichter in Italien. Stuttgart 1990, S. 31–34. Vgl. Norbert Altenhofer, der Heines Italienbilder insgesamt unter den Aspekt der Zerrissenheit stellt. Altenhofer zufolge repräsentiere Italien dagegen für Goethe als klassisches Land das Gesunde (»Heines italienische Reisebilder«, S. 242). Vgl. auch Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, dort v.a. das Kapitel »›Göttlich, liederlich, sterbefaul, dann wieder ätherisch erhaben‹ – Zur sensualistischen Ästhetik der ›Reise von München nach Genua‹«, S. 141–173. Hildebrand verweist als Fazit seiner Analyse der Reise von München nach Genua auf das ungelöste »Problem des inneren Zerrissenseins zwischen romantischer und plastischer, mystischer und sinnlicher, gegenwarts- und vergangenheitsbezogener Orientierung« (S. 172), also auf

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Vor allem aber ist sowohl für Childe Harold als auch für die Reise von München nach Genua die selbstreflexive Auseinandersetzung mit der Geschichte charakteristisch – beide Texte experimentieren mit zyklischen und linearen (Geschichts-)Modellen. Der Anblick des gegenwärtigen Italiens und die Besichtigung seiner Ruinen und Schlachtfelder bilden den Hintergrund für die Versuche der jeweiligen Erzähler, Geschichte im Hinblick auf den ersehnten Zugewinn von Emanzipation und Freiheit für die Menschheit zu deuten. Die Diskrepanz zwischen dem erhofften und dem tatsächlichen Zustand eröffnet den Raum für melancholische Betrachtungen. Dies geschieht unter Bezug auf Italiens Ruinen, in deren Zusammenhang die beiden fiktionalisierten Reisebeschreibungen das Phänomen ›Zeit‹ reflektieren. Ein zentrales Thema der Texte stellt, wie zu zeigen ist, die Klage über die Vergänglichkeit des irdischen Lebens dar, die in der Tradition des Barock steht. Das Vanitas-Erlebnis angesichts der italienischen Ruinen wird jedoch in Byrons Childe Harold IV ebenso wie in Heines Reise von München nach Genua nicht übermächtig, sondern durch die Hoffnung auf Erneuerung ausgeglichen. Das barocke Weltgefühl wird vom Typus der Pilgerreise konterkariert, auf den, so die These, beide Texte zurückgreifen – Childe Harold’s Pilgrimage verweist darauf schon im Titel. Statt einer für die Epoche um 1800 typischen Gelehrten- oder Bildungsreise unternehmen die Protagonisten der Texte, die sich von einer persönlichen Krise befreien wollen, eine säkularisierte Pilgerfahrt.41 Dabei besichtigen sie die ›heiligen‹ Stätten Italiens (peregrinatio ad loca sancta), wie die großen Schlachtfelder – Marengo etwa ist in Heines Reisebild eine zentrale Station. Die kultische Pilgerschaft soll, so die Definition, dem Pilger eine sinnstiftende, transzendente Erfahrung ermöglichen durch die Präsenz der Gottheit oder eines Heros an den besichtigten heiligen Orten.42 Im Kontext ordnungs- und sinnstiftender geschichtsphilosophischer Betrachtungen auf dem Schlachtfeld von Marengo vermeint denn auch Heines Erzähler »im Morgennebel den Mann mit dem dreyeckigen Hütchen und dem grauen Schlachtmantel« zu sehen (DHA 7/1, 71). Vor der Folie einer säkularen Pilgerschaft wird Napoleon so zum Heilsbringer stilisiert, der Sinn in der Geschichte stiftet. Heines wie Byrons Erzähler streben nach dieser ›spirituell-symbolischen‹ Erfahrung, um die geschichtli-

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den Gegensatz zwischen den »Rollen des romantischen ›Ritters‹ und politischen ›Soldaten‹« (S. 171). Die Autoren Gunter E. Grimm, Ursula Breymayer und Walter Erhart unterscheiden in ihrer Untersuchung zu deutschen Dichtern in Italien im Rückgriff auf Wilhelm Waetzoldts historische Typologie der Italienreisen von 1932 folgende epochentypische Reisemodelle: 1. Pilgerreise, 2. Kavaliersreise, 3. empfindsame Reise, 4. moderne Bildungsreise, 5. romantische Reise, 6. moderne Erholungs- und Sightseeingreise (vgl. Grimm/Breymayer/Erhart, »Ein Gefühl von freierem Leben«, S. 14). Vgl. Friederike Hassauer, Art. »Wallfahrt/Pilgerreise«. In: Metzler Lexikon Religion. Hrsg. von Christoph Auffarth/Jutta Bernard/Hubert Mohr. Bd. 3: Stuttgart, Weimar 2005, S. 636– 640.

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chen Ereignisse lesbar zu machen und so historische Kontingenz in Sinn überführen zu können; angesichts der geschichtlichen Denkmäler der Verwüstung und Zerstörung in Italien läßt sich diese Lesart der Geschichte aber nicht stabilisieren: Beide Erzähler werden immer wieder von Vergänglichkeitsgefühlen heimgesucht. Die sichtbaren Zeichen der Destruktion, die das Vanitas-Erlebnis begünstigen, stehen in Spannung zu der Hoffnung auf eine Erneuerung der persönlichen und der politischen Situation, die in dem traditionellen poetischen Motiv der Pilgerreise: der ›Wiedergeburt‹, ausgedrückt wird. Die Erwartung einer renovatio ist in der Ambivalenz zyklischer Zeitmodelle begründet, die nicht nur Verfall, sondern zugleich auch Regeneration ausdrücken. In Byrons und Heines Italienschilderung werden die dichotomen Erscheinungsweisen der Zeitlichkeit im ikonographischen Bild der sich begrünenden Ruine ausgedrückt, das in der Renaissancemalerei zu einem Emblem wurde für »den Untergang des alten und den Beginn [ein]es neuen Zeitalters«.43 Die Beschreibung von Ruinen und die Beobachtung von Verfalls- und Dissoziationsprozessen sind sowohl in Childe Harold als auch in der Reise von München nach Genua omnipräsent. Die italienischen Ruinen rufen aber – im Gegensatz etwa zu Goethes traditionsbildender Italienschilderung – kein wissenschaftliches oder klassizistisch-ästhetisches Interesse hervor, sondern werden vielmehr als Sinnbild verwendet für die politische Situation Italiens und Europas nach dem Wiener Kongreß. Zudem sind sie, wie schon bemerkt wurde, eine identifikatorische Projektionsfläche des ›ruinierten‹ Subjekts. Obwohl in Childe Harold und in der Reise von München nach Genua typische Attribute der ›Ruinenromantik‹ wie Stille, Mondschein und Melancholie aufgerufen werden, stehen sie nicht nur in einem persönlichen, sondern auch in einem politischen Zusammenhang, der den Verlauf der Geschichte reflektiert. Die geschichtsphilosophische Akzentuierung des Motivs bei Byron und Heine läßt das pittoreske Interesse an den Ruinen in den Hintergrund treten, das für das 18. Jahrhundert charakteristisch war – man denke etwa an die Malerei von Hubert Robert (1733–1808), bekannt als ›Ruinen-Robert‹ aufgrund seiner Fokussierung auf das Motiv der Ruine, oder an die künstlichen Ruinen der ehedem neuartigen Landschaftsgärten. Statt dessen deuten Byron und Heine das Ruinenmotiv politisch um und machen es zur Signatur der sozio-historischen Gegenwart.44 Die jeweilige Verwendung des Ruinenmotivs in Byrons und Heines Italienbildern soll im folgenden zunächst in Childe Harold und danach in der Reise von München nach Genua im Hinblick auf die gegensätzlichen Aspekte von 43

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Moshe Barasch, »Die Ruine – ein historisches Emblem«. In: Klaus E. Müller/Jörn Rüsen (Hrsg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Hamburg 1997, S. 519–535, hier S. 532. Zur Ruinenmelancholie in der Malerei vgl. Jean Starobinski, Die Erfindung der Freiheit 1700–1789 (aus dem Französischen von Hans Staub). Genf 1964, S. 179–187.

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Verfall und zyklischer Erneuerung gezeigt werden. Dabei kommen verschiedene Bewältigungsmodi von Zeitlichkeit zur Sprache, wie sie auch in klassizistischen und romantischen Konzeptionen vorliegen, mit denen sich beide Reiseschilderungen kritisch auseinandersetzen. Die textimmanenten Spannungen lassen darauf schließen, so die These, daß es sich bei beiden literarischen Narrativen um poetologische Schwellendokumente handelt, die von der Suche nach einer neuen Schreibweise zeugen.

4.

Byrons Childe Harold IV (1818): Melancholische Klage und politischer Aufbruch am Beginn der Restauration

Byrons Versepos Childe Harold zählt zu den wenigen fiktionalen Texten, die die Hoffnungen, aber auch die Zerstörungen des napoleonischen und postnapoleonischen Europas literarisch dokumentieren: Der melancholische Protagonist Harold reist in Canto I und II von England über Portugal und Spanien nach Griechenland: dem Ursprungsort der westlichen Freiheitsideen. Der archaisierende Duktus, der durch die strenge Form der Spenserstanze und das altertümlich-distanzierende Vokabular erzielt wird, dient dazu, dem aktuellen Inhalt des Textes, der die Zerrissenheit der Zeit beklagt, entgegenzuwirken. Während die 1812 publizierten Cantos I und II Europa noch vor Napoleons Niederlage beschreiben, entstanden Canto III und IV nach dem Wiener Kongreß – zunächst in Byrons schweizerischem und dann italienischem Exil. Steht das dritte Canto unter dem Eindruck von Byrons Begegnung mit Shelley und der Naturerfahrung am Genfer See im Sommer 1816, dokumentiert das vierte Canto die Erfahrungen und Eindrücke des Autors in seiner neuen italienischen Heimat während seiner Reise von Venedig nach Rom im Frühjahr 1817. Wie M. K. Joseph betont, ist der Kontrast zwischen dem dritten und dem vierten Canto u.a. dem Unterschied zwischen den Positionen von Shelley und John Cam Hobhouse geschuldet.45 Mit Hobhouse unternahm Byron die Reise von Venedig nach Rom. Beide Städte besitzen eine zentrale Rolle in Canto IV, das in Venedig beginnt und in Rom endet.46 Byrons Freund Hobhouse, dem das IV. Canto gewidmet ist, sympathisierte mit radikal-liberalen politischen Ansichten, die er in seinem langen Prosakommentar zu Childe Harold IV äußerte. Nach den politischen Beschlüssen der ›Heiligen Allianz‹ von 1815 waren die zeitgenössischen Reaktionen der Liberalen auf das politische Primat der Österreicher im restaurierten Italien unter Metternich besonders erbittert. Besonders Venedigs ruhmreiche Geschichte, die ein republikanisches Gesellschaftssystem 45 46

Vgl. M. K. Joseph, Byron, The Poet. London 1964, S. 83. Vgl. dazu Peter Graham, Lord Byron, New York 1998, S. 140.

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mit ökonomischem Erfolg und einer künstlerischen Vorrangstellung verband, empfanden viele der Zeitgenossen als beispielhaft; umso heftiger lehnten sie die Fremdherrschaft der Österreicher ab. Byron selbst bezeichnet in seinen Briefen die Österreicher als »Barbarians« (BLJ 7, 210) und »Hun brutes« (BLJ 7, 237) und unterstreicht seine Verachtung für sie mit drastischen Formulierungen, wie etwa an John Murray vom 16. April 1820: »[N]o Italian can hate an Austrian more than I do—unless it be the English—the Austrians seem to me the most obnoxious race under the Sky.« (BLJ 7, 77) Gleichzeitig drücken seine Briefe, wie an seine geschiedene Frau Lady Byron vom 25. Oktober 1820, die Hoffnung aus, daß Italien in der nahen Zukunft seine Freiheit wiedererlangen könne. Byron hofft, »that Italy will be free and regenerated« (BLJ 7, 211), wenn seine Tochter Ada das Alter von zwanzig Jahren erreicht habe. Dafür müsse auch eine blutige Revolution in Kauf genommen werden: »Alas! at what a price of blood and butchery—must it be so—but anything is better than those Barbarians at the gate—if you had seen their infamous tyranny—their ignorant atrocity in Lombardy— & wherever they set their hoofs; —it would make even your temperate blood boil.« (BLJ 7, 211)47 Im vierten Canto des fiktionalen Textes Childe Harold werden, wie erwähnt, die persönlichen Verluste des autobiographischen Sprechers mit der politischen Situation Italiens parallelisiert. Nach Napoleons Sturz und der Neuordnung Europas unter der Führung Metternichs fiel auch Venedig an Österreich, und genau dort beginnt das vierte Canto: »I stood in Venice, on the Bridge of Sighs;/ A palace and a prison on each hand« (CPW II, 124), lauten die ersten beiden Verse dieses Cantos. Die Wahl der Seufzerbrücke stimmt das Thema der Klage an, die das Canto dominiert, aber als Metapher hat das Bild nicht nur eine persönliche, sondern auch eine politische Dimension. Denn die Zeiten, als Venedig noch als florierende, kosmopolitische Seehandelsmacht eine ›Königin‹ war: »When Venice was a queen with an unequalled dower« (CPW II, 128), gehören unter der österreichischen Fremdherrschaft Metternichs der Vergangenheit an. Dem einstmals stolzen Dogenpalast, der die republikanischen Grundsätze des Inselstaates repräsentiert, steht das Gefängnis nicht nur topographisch in dem Vers »[a] palace and a prison on each hand« gegenüber. Symbolisch wird hier die Selbstbestimmung der venezianischen Republik, die ihren Dogen selbst wählte, dem Freiheitsentzug durch die österreichische Fremdbestimmung entgegengesetzt.48 Nach dreizehnhundert Jahren der Frei-

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Zu Byrons erbitterter Sicht auf die Österreicher vgl. auch Erwin A. Stürzl, »Byron and the Poets of the Austrian Vormärz«. In: Stürzl/James Hogg (Hrsg.), Byron: Poetry and Politics. Salzburg 1980, S. 88–112, hier S. 88f. Peter Graham, der auch auf den symbolischen Gehalt der Topographie hinweist, deutet dagegen beide Orte, Palast und Gefängnis, als Embleme politisch repressiver Praktiken, die der freiheitsliebende Autor Byron ablehnte (vgl. Graham, Lord Byron, S. 141). Der Doge, der seit 700 gewählt wurde und seit 1310 von dem Rat der Zehn (Dieci inquisitori di stato) kontrol-

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heit (»Her thirteen hundred years of freedom done«, CPW II, 128) ist die ehemals ruhmvolle Stadt Venedig (»In youth she was all glory«, CPW II, 129) zu einem »prison« geworden, zur Schande vor allem der englischen Nation – »thy lot/ Is shameful to the nations,—most of all,/ Albion! to thee« (CPW II, 130). Das Ideal der freiheitlichen Selbstbestimmung, der Emanzipation der Staaten und ihrer Bevölkerung wurde von Großbritannien durch sein Bündnis mit Preußen und Österreich verraten, das Napoleon stürzte und die restaurative Ordnung in Europa wiederherstellte. Der melancholische Blick des Sprechers, der traditionell über die frühere Pracht einer untergegangenen Weltmacht sinniert, wird zur Melancholie angesichts politischer Macht und Fremdherrschaft. 4.1.

Vanitas und Geschichtsphilosophie

Während seiner Reise durch Italien, die nach Rom führt, besichtigt Byrons Erzähler zahlreiche historische Plätze, bei deren Anblick er über die Vergänglichkeit der kulturell-materiellen Zeugnisse räsoniert. Die Ruinen als Überreste einstiger Macht und Größe werden in der Tradition barocker Vanitas-Bildlichkeit zum Sinnbild für die Unbeständigkeit des Lebens. Besonders die Reflexionen auf dem Kaiserberg in Rom, zwischen dessen zerstörten, efeuumrankten Gemäuern der Sprecher in der Mitte des Cantos umherwandert, tragen die Züge eines Vanitas-Erlebnisses: This mountain, whose obliterated plan The pyramid of empires pinnacled, Of Glory’s gewgaws shining in the van Till the sun’s rays with added flame were fill’d! Where are its golden roofs? where those who dared to build? (IV 109; CPW II, 160)

Der Sprecher greift im letzten Vers auf das schon in der Antike bekannte und im Barock verbreitete ›ubi-sunt‹-Motiv zurück. Die rhetorische Frage: ›Wo sind sie geblieben?‹, die sich über mehrere Strophen erstreckt, betont eindringlich den Sieg der Zeitlichkeit über alles Irdische. Roms einstige Größe und seine zerstörten Überreste veranschaulichen bildlich das Wirken der alles vernichtenden Zeit. Die Einsicht in die ›Eitelkeit‹ aller menschlichen Anstrengungen und die Vergänglichkeit des Lebens angesichts von Rom und seinen Ruinen führt zur Reflexion des geschichtlichen Prozesses. Beim Versuch, das ›Buch der Geschichte‹ zu verstehen, angesichts der Zerstörung alles Irdischen, selbst des

liert wurde, steht als Instanz jedoch für das venezianische Regierungssystem, das seinen republikanischen Grundsätzen bis zum Ende des Staates verpflichtet blieb (vgl. Peter Feldbauer/ Jim Morrissey, Weltmacht mit Ruder und Segel. Geschichte der Republik Venedig 800–1600. Essen 2004, S. 119ff.).

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Mächtigen und Großen, rekurriert der Sprecher auf ein zyklisches Geschichtsparadigma: There is the moral of all human tales; ’Tis but the same rehearsal of the past, First Freedom, and then Glory—when that fails, Wealth, vice, corruption,—barbarism at last. And History, with all her volumes vast, Hath but one page,—’tis better written here, Where gorgeous Tyranny had thus amass’d All treasures, all delights, that eye or ear, Heart, soul could seek, tongue ask [...]! (IV 108; CPW II, 160)

Die Lehre aller menschlichen Geschichten, so betont der Sprecher hier, zeige eine ewig gleiche Wiederholung der Vergangenheit (»same rehearsal of the past«): Auf eine Phase der Freiheit und des Ruhms folge Reichtum, gepaart mit Laster und Korruption, bis zuletzt die Kultur in Barbarei versinke. Das Buch der Geschichte kann gemäß diesem Verständnis trotz seiner vielen Bände (»History, with all her volumes vast«) auf eine einzige Seite reduziert werden (»Hath but one page«), die auf dem römischen Paladin am deutlichsten lesbar ist: Auch die Tyrannen, die auf Kosten des Volkes alle erdenklichen Luxusgüter (»All treasures, all delights«) angehäuft haben, kommen im ›Rad‹ der Geschichte zu Fall: »Behold the Imperial Mount! ’tis thus the mighty falls.« (CPW II, 160) Die auf Giambattista Vico zurückgehende Vorstellung, daß sich in der Gesamtgeschichte in regelmäßigen Umläufen drei Zeitalter im gleichförmigen Wechsel von Barbarei, kulturellem Aufstieg und Niedergang wiederholen, läßt ein zyklisches Geschichtsmodell erkennen, das vom Sprecher pessimistisch gedeutet wird.49 Die Auffassung von einem immer gleichen Verlauf der Geschichte, einem ewigen Kreislauf von Freiheit, Tyrannei und Barbarei, konterkariert die optimistische Vorstellung eines linearen Fortschritts in der Geschichte der Menschheit, die sich im Umfeld der Aufklärung und der Französischen Revolution durchgesetzt hatte und über Hegels Geschichtsbild bis zu den Geschichtsbetrachtungen des Historismus im 19. Jahrhundert weiterwirkte. Die Versuche am Ende des 18. Jahrhunderts, unmittelbar im Anschluß an die Französische Revolution, den Geschichtsverlauf im Kontrast zu Childe Harold IV positiv als steten Zugewinn von Freiheit zu deuten, demonstriert ein einflußreicher Text, der kurze Zeit nach der Revolution geschrieben wurde und der hier von Interesse ist, da er das Motiv der Ruinen bereits im Titel

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Zu Giambattista Vico sowie der Geschichtsauffassung um 1800 siehe Gunter Scholtz, Art. »Geschichte, Historie«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Sp. 344–408, hier Sp. 358–398.

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aufgreift und die Ruinentopik in einem politisch-geschichtlichen Kontext verwendet: Constantin François Comte de Volneys (d.i. Chassebœuf; 1757–1820) wirkmächtige geschichtsphilosophische Betrachtung Les Ruines, ou Méditations sur les Révolutions des Empires von 1791. Im ersten Teil, der »Anrufung«, von Volneys geschichtsphilosophischer Betrachtung deutet der Sprecher, der sich als »Verehrer der Freiheit« zu erkennen gibt, die Ruinen zunächst als »Zeugniß für die heilige Lehre der Gleichheit«, da sie als memento mori alle Menschen – auch die Tyrannen – daran erinnern, daß sie der Vergänglichkeit unterworfen sind.50 Bei der Besichtigung der Ruinen von Palmyra stellen sich dann aber auch in Volneys Text Gedanken der Vanitas ein. Wie in Childe Harold der Kaiserberg Roms, führt hier der Anblick des untergegangenen, einst mächtigen Asiens und seiner zerstörten Reichtümer zur rhetorischen ›ubi-sunt‹Frage.51 Der historische und kulturelle Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen den verschiedenen Nationen und ihrem »Wechsel der Geschicke, […] von denen des alten Asiens bis herab zu den jüngsten Europa’s«, wirft auch in Volneys Text Fragen über den Verlauf der Geschichte auf.52 Die Beobachtung der ewigen Umwälzungen (Révolutions), die zum Verschwinden von Weltreichen (Empires) führen, erzeugt bei dem Sprecher des Textes, der dieses unumgängliche Schicksal auf seine Heimat Europa überträgt, Zweifel, ob nicht »ein blindes Fatum« mit den Menschen spiele und »eine schreckliche Nothwendigkeit […] nach Laune die Geschicke der Sterblichen« regiere.53 In dem Abschnitt »Die Erscheinung« wird der Sprecher von diesen »düstern Betrachtungen« von dem Genius des Ortes geheilt, der ihm die Sprache der Vernunft und der Wahrheit lehrt.54 Die Ausführungen in Volneys Text zielen darauf ab zu zeigen, daß der Mensch nicht einem blinden Fatum unterliegt, durch das sich die Geschichte auf immer gleiche Weise wiederholt. Vielmehr kann der Mensch zum »Werk meister seines Looses« werden, wenn er die »unwandelbare[n] Gesetze« erkennt.55 In der Sicht des Aufklärers Volney kann die Menschheit selbstverantwortlich und selbstbestimmt voranschreiten, wenn sie sich vom Glauben an ein Fatum befreit. Volney pointierte diese optimistische Sicht auf die Geschichte zwei Jahre später nochmals in dem Katechismus

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Constantin François Comte de Volney, Die Ruinen oder Betrachtungen über die Umwälzungen der Reiche und das natürliche Gesetz (aus dem Französischen von A. Kühn). Leipzig 1842, S. 17f. »Wo sind die Flotten von Tyrus, die Werfte von Arad, die Werkstätten von Sidon […], wo jene Welt lebendiger Wesen, die damals das Antlitz der Erde schmückten? Ich habe ihn durchwandert, diesen verheerten Boden, habe sie besucht, die Stätten, die einst der Schauplatz so vielen Glanzes gewesen, und nichts als Verödung und Einsamkeit gefunden.« (Volney, Die Ruinen, S. 27) Volney, Die Ruinen, S. 29. Volney, Die Ruinen, S. 31. Volney, Die Ruinen, S. 30. Volney, Die Ruinen, S. 50 u. S. 48.

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Das natürliche Gesetz, in dem der Menschheit Glück und Vollkommenheit in Aussicht gestellt werden.56 Vor der Folie von Volneys Ruinentext kann in bezug auf Byrons Childe Harold IV ein Aspekt besonders deutlich akzentuiert werden. Der Anblick der Zerstörung von mächtigen Imperien führt beim autobiographischen Sprecher des Epos zur Verzweiflung über den zerstörerischen Aspekt der Zeit und zur Formulierung eines zyklischen, fatalistischen Geschichtsbilds des ewigen Wechsels zwischen verschiedenen Zeitaltern. In Childe Harold vollzieht sich jedoch nicht wie bei Volney die entscheidende Wende hin zur aufklärerischen Bestätigung der Vernunft. Der Geschichtsoptimismus, der einen Aufklärer wie Volney trotz aller Zweifel am Ende des 18. Jahrhunderts beherrschte, gerät spätestens in der postnapoleonischen Zeit ins Wanken, als der Traum von der Emanzipation der europäischen Völker unvermittelt beendet wurde. Entsprechend reflektiert das vierte Canto von Byrons Versepos immer wieder die Hinfälligkeit alles Irdischen aus einer elegischen Perspektive. Als Mittel der Bewältigung von Zeitlichkeit und iterierender Geschichtlichkeit erforscht der Text von Beginn an verschiedene Bereiche, die sich der Wechselhaftigkeit und Hinfälligkeit des Lebens widersetzen. Es sind besonders die beiden romantischen Paradigmen der Imagination und der Natur, die im vierten Canto diesbezüglich mehrfach apostrophiert werden. Entscheidend ist jedoch, daß sie sich bei der Konfrontation mit der Wirklichkeit immer wieder als unzulänglich erweisen. Das zeigt bereits der Anfang des vierten Cantos in Venedig, dessen expositorischer Charakter im folgenden genauer analysiert werden soll. Der autarken Schöpfungskraft des menschlichen Geistes, die an dem artifiziellen Ort, der zahlreiche literarische Imaginationen hervorgerufen hat, besonders virulent ist, wird im Text die heteronome Wirklichkeit Venedigs gegenübergestellt. Die für den weiteren Verlauf des Textes charakteristische Wende ist, wie sich zeigen wird, daß der autonomen Imagination dennoch keine Priorität vor der heteronomen Wirklichkeit eingeräumt wird.

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Auf die Frage, was das natürliche Gesetz sei, gibt der Katechismus die geschichtsoptimistische Antwort: »Es ist das ewige, unveränderliche, notwendige Gesetz, durch welches Gott die Welt regiert, und welches er selbst den Sinnen und der Vernunft der Menschen darbietet, um ihnen als gleiche und gemeinschaftliche Richtschnur zu dienen und sie, ohne Unterschied des Landes und Glaubens, der Vollkommenheit und dem Glücke zuzuführen.« (Constantin François Comte de Volney, »Das natürliche Gesetz oder Katechismus des französischen Bürgers (1793)«. In: Karl Markus Michel (Hrsg.), Politische Katechismen. Volney, Kleist, Heß. Frankfurt a.M. 1966, S. 21–58, hier S. 21)

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4.2.

Imagination, Kunst und Wirklichkeit

Die Reflexion über Kunst und ihre Möglichkeiten kulminiert in Childe Harold im vierten, abschließenden Canto, das Italien – seit Winckelmanns Schriften das traditionelle Land der Kunstverehrung – zum Gegenstand hat. Das Canto beginnt in Venedig, wo die Spuren der Zeit und die Verbundenheit mit den Elementen der Natur besonders sichtbar sind, da die Stadt ihre Existenz dem Meer abgerungen hat (»I saw from out the wave her structures rise«, CPW II, 124). Bei der Klage über den Verlust von Venedigs einstiger Pracht, die das Canto eröffnet, wird zunächst die Natur als ewiges Element beschworen, das den Untergang von Staaten und den Verfall zivilisatorischer Artefakte überdauert: In Venice Tasso’s echoes are no more, And silent rows the songless gondolier; Her palaces are crumbling to the shore, And music meets not always now the ear: Those days are gone—but Beauty still is here. States fall, arts fade—but Nature doth not die, Nor yet forget how Venice once was dear, The pleasant place of all festivity, The revel of the earth, the masque of Italy! (IV 3; CPW II, 125)

Die Eigenschaft des zeitlosen Fortbestehens der Natur wird in der nächsten Strophe auf die Imaginationen des Geistes übertragen, die sich auch der Vergänglichkeit entziehen. Die Formulierung, die diese Verschiebung kaum merklich einleitet: »but Nature doth not die/ Nor yet forget«, impliziert ein erinnerndes Vermögen der Natur, und ruft zeitgenössische anthropologische Vorstellungen auf.57 Venedigs einstige Größe ist für den Sprecher nicht in den Geschichtschroniken bewahrt: »But unto us she hath a spell beyond/ Her name in story, and her long array/ Of mighty shadows« (CPW II, 125), sondern in ihren fiktiven Narrationen, die unsterbliche Figuren der Imagination geschaffen haben wie Shakespeares Shylock aus The Merchant of Venice und Othello, den ›Mooren‹, oder Thomas Otways Pierre aus Venice Preserved: Ours is a trophy which will not decay With the Rialto; Shylock and the Moor, And Pierre, can not be swept or worn away— The keystones of the arch! though all were o’er, For us repeopled were the solitary shore. (IV 4; CPW II, 125)

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Drummond Bone argumentiert dagegen in bezug auf den argumentativen Bruch zwischen den beiden Strophen, daß Byron vermutlich in die (Natur-)Rhetorik von Childe Harold III zurückgefallen sei (vgl. Bone, »Childe Harold’s Pilgrimage IV, Don Juan, and Beppo«. In: Bone, The Cambridge Companion to Byron. Cambridge 2004, S. 151–170, hier S. 152).

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Auch wenn die Zeit in ihrer zerstörerischen Eigenschaft Venedig und seine Denkmäler verschwinden ließe, würden die Figuren der Imagination, die die Literatur geschaffen hat, erhalten bleiben; sie würden den einsamen Strand immer wieder neu mit Leben füllen.58 Während die Kunstartefakte materiell sind und insofern der Zeitlichkeit unterliegen, sind die Schöpfungen des Geistes, die in der Imagination weiterleben, so die Aussage der Strophe, permanent. Nur das von der Imagination Geschaffene entzieht sich dem Materiellen und damit auch der Vergänglichkeit, was die fünfte Strophe ausführt: The beings of the mind are not of clay; Essentially immortal, they create And multiply in us a brighter ray And more beloved existence […]. (IV 5; CPW II, 126)

Die Welten, die der Geist hervorbringt, sind wesenhaft unsterblich und unabhängig von körperlich-materieller Bedingtheit: von der ›Knechtschaft der Sterblichkeit‹ – »our state/ Of mortal bondage« (CPW II, 126) – und damit auch vom Schicksal. Bis zu diesem Punkt präsentiert der Auftakt des letzten Cantos ein weitgehend ungebrochenes Modell idealistisch-ästhetischer Bewältigung von Zeitlichkeit. Die unsterblichen Schöpfungen des Geistes erheben sich über die Bedingtheit des Materiellen. Indessen stellt die sechste Strophe genau diese Affirmation wieder in Frage. Auch Bernard Blackstone setzt in seiner Studie zu Byron nach den ersten vier Versen der fünften Strophe eine Zäsur. Während Blackstone zufolge die einleitenden Verse noch an die korrespondierende Passage in Canto III (»A being more intense«) erinnerten, sieht er insgesamt das Canto IV jedoch als ihre ›Vulgarisierung‹: »This seems to me a decline from, and to some degree a vulgarisation of, the ›airy images‹ of the corresponding Canto III passage. […] Poetic creation is no longer an opening, through the physical world, into the unknown, but a compensation for lost powers.«59 Während Blackstone zuzustimmen ist, daß sich nach der Hälfte der Strophe eine Zäsur andeutet, die zudem einen prägnanten Unterschied zu Canto III darstellt, wird hier allerdings eine Lesart vorgeschlagen, die weniger den kompensatorischen Charakter des Cantos als vielmehr den Aufbruch in

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Daß Byrons Repräsentation von Venedig – der immer schon geschriebenen, gesehenen, gelesenen Stadt – auch an diesen Imaginationen partizipiere, betont neuerdings Bernard Beatty. Beatty verweist allerdings zurecht auf den Unterschied etwa zu Wordsworth, der, »viewing Mont Blanc ›grieved/ To have a soulless image on the eye/ That had usurped upon a living thought‹«. Byron dagegen, so Beatty, »delights in the present actuality which he first encountered through past representation« (Beatty, »A ›more beloved existence‹. From Shakespeare’s ›Venice‹ to Byron’s Venice«. In: Michael O’Neill/Mark Sandy/Sarah Wootton (Hrsg.), Venice and the Cultural Imagination. London 2012, S. 11–26, hier S. 20). Bernard Blackstone, Byron: A Survey. London 1975, S. 209f.

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eine neue Poetik akzentuiert. Zentral ist hierfür der Umschlag nach den ersten vier Versen der sechsten Strophe, auf den Blackstone nicht eingeht: Such is the refuge of our youth and age, The first from Hope, the last from Vacancy; And this worn feeling peoples many a page, And, may be, that which grows beneath mine eye: Yet there are things whose strong reality Outshines our fairy-land; in shape and hues More beautiful than our fantastic sky, And the strange constellations which the Muse O’er her wild universe is skilful to diffuse: (IV 6; CPW II, 126)

Die Strophe beschreibt zunächst die selbstreferentielle Welt des Geistes als Zufluchtsort (»refuge of our youth and age«), in den sich das Subjekt entweder in der Jugend aus Hoffnung (»Hope«) oder im Alter aus Leere (»Vacancy«) rettet. Die schöpferische Kraft der Literatur wird auf diese beiden Empfindungen, »Hope« und »Vacancy« zurückgeführt: »this worn feeling peoples many a page«. Zugleich führt aber die metafiktionale Reflexion auf den eigenen Schreibprozeß und seine Ursache (»may be, that which grows beneath mine eye«) bereits eine Distanzierung von dieser resignativen Auslegung ein. Der Doppelpunkt am Ende des vierten Verses markiert eine deutliche Zäsur; er unterteilt die Strophe in These und Antithese, die durch das betonte ›Doch‹ (»Yet«) am Anfang des fünften Verses eingeleitet wird. In der zweiten Hälfte der Strophe werden dem romantisch-idealistischen Feenland mit seinen fantastischen Imaginationen Dinge gegenübergestellt, denen eine solide Wirklichkeit eignet. Sie überstrahlen die Welt des Geistes mit noch schöneren Formen und Farben – »in shape and hues/ More beautiful«. Zentral für die Interpretation dieser Passage ist die Bedeutung der auffälligen Formulierung »strong reality«. Bei den englischen Romantikern, wie etwa bei dem platonisch geprägten Percy Bysshe Shelley, in dessen Gesellschaft Byron den Sommer 1816 am Genfer See in der Villa Diodati verbrachte, steht der Begriff ›Realität‹ meist im Zusammenhang mit der ewigen Welt der Ideen und des Geistes. In Shelleys Gedicht »Hymn to Intellectual Beauty«, das Anfang 1817 veröffentlicht wurde und wahrscheinlich 1816 während seines Aufenthalts mit Mary Shelley und Byron in der Schweiz entstanden ist, zeigt sich der Einfluß der platonischen Ideenlehre besonders deutlich. Shelleys Hymne bezieht die Farben und Formen der Realität auf den immateriellen Geist: »Spirit of Beauty, that dost consecrate/ With thine own hues all thou dost shine upon/ Of human thought or form […].«60 Ohne seine Präsenz verwandelt sich die vergängliche, irdische Welt in ein verlassenes Tal der Trä60

Percy Bysshe Shelley, »Hymn to Intellectual Beauty«. In: The Complete Works of Percy Bys-

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nen – sie wird zu einer dunklen, materiellen Realität des Grabes.61 »Depart not, lest the grave should be,/ Like life and fear, a dark reality«, beschwört der Sprecher von Shelleys Gedicht die ewige Macht des Geistes, die als Schönheit in der Welt momentan sichtbar wird.62 Diese Konstruktion von Realität und ihr Verhältnis von Geist und Materie weicht noch nicht signifikant von dem idealistischen Modell der ersten Strophen von Childe Harold IV ab. Danach setzt Byrons Versepos aber die starke Realität dem immateriellen Feenland direkt entgegen.63 Wichtig ist, daß daraus in Byrons Darstellung keineswegs eine »dark reality« wie in Shelleys Gedicht resultiert, vielmehr werden die Farben und Formen der »strong reality« hervorgehoben, die viel schöner als die unsubstantiellen Schöpfungen des Geistes seien – »in shape and hues/ More beautiful than our fantastic sky«. Hier ist jedoch noch nicht der Endpunkt der Reflexion des Sprechers erreicht. Die siebte Strophe greift erneut die Oppositionen von Traum und Wirklichkeit, Phantasie und Wahrheit auf, wobei sich die Bedeutungen abermals verschieben: I saw or dreamed of such, – but let them go – They came like truth, and disappeared like dreams; And whatsoe’er they were – are now but so: I could replace them if I would, still teems My mind with many a form which aptly seems Such as I sought for, and at moments found; Let these too go – for waking Reason deems Such over-weening phantasies unsound, And other voices speak, and other sights surround. (IV 7; CPW II, 126)

Die Dinge der Wirklichkeit erhalten nun selbst den Status eines Traums – sie erschienen dem Sprecher als Wahrheit und verschwanden wie ein Traum. Der

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she Shelley. Hrsg. von Roger Ingpen/Walter E. Peck, Bd. 2: Poems. London/New York 1965, S. 59–62, hier S. 60. Das komplexe Verhältnis zwischen Materie und Geist, Materialismus und Idealismus bei Shelley analysiert Christoph Bode anhand des Sublimen in dem Gedicht »Mont Blanc«, das zeitgleich mit »Hymn to Intellectual Beauty« 1816 in der Schweiz entstanden ist. In diesem Gedicht, »one of the key poems of his overall oeuvre«, zeige sich Bode zufolge »an indifferent or even hostile universe and the simultaneous assertion of the sublimity of ›the human mind’s imaginings‹« (Bode, »A Kantian Sublime in Shelley: ›Respect for our Own Vocation‹ in an Indifferent Universe«. In: 1650–1850: Ideas, Aesthetics, and Inquiries in the Early Modern Era 3 (1997), S. 329–358, hier S. 330 u. 357). Shelley, »Hymn to Intellectual Beauty«, S. 61. Bemerkenswert ist, daß Heine ebenfalls die Formulierung von einer »starken Realität« verwendet, und zwar in einem sehr ähnlichen Kontext, der seine eigene Dichtung charakterisiert. Diejenige Schule, für die sein Name stehe, so Heine in der Einleitung zu Miguel Cervantes’ Don Quixote, »bewirkte eine heilsame Reakzion gegen den einseitigen Idealismus im deutschen Liede, sie führte den Geist zurück zur starken Realität und entwurzelte jenen sentimentalen Petrarchismus, der uns immer als eine lyrische Donquixoterie erschienen ist« (DHA 10, S. 260; meine Hervorhebung, A.B.).

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Traum von der Schönheit des Wirklichen wird nicht weiter verfolgt, da er dem wachen(den) Verstand als ungesunde, anmaßende Phantasie erscheint. Nun konstituieren andere Stimmen und andere Anblicke die Realität des Sprechers. Auf was zielen aber die Setzungen und Zurücknahmen dieser schwierigen Passage, mit der das letzte Canto des Versepos beginnt? Die Eröffnungsstrophen des vierten Cantos von Childe Harold wurden in der Forschung vielfach im Hinblick auf die dichterische Imagination kommentiert, die dort eine zentrale Rolle besitzt. Alan Rawes versteht in seiner Untersuchung zu Byrons poetischen Experimenten das letzte Canto von Childe Harold vor allem als Ausdruck der Feier von Kreativität und einer Transzendenz des Geistes, der sich über die Widersprüche des Daseins erhebe.64 Die sechste Strophe des vierten Cantos, die das Feenland der Imagination mit einer starken Realität der Dinge konfrontiert, müsse, so Rawes, ironisch verstanden werden – in seiner Lesart kritisiert dementsprechend die Stimme der Vernunft das Feenland der Imagination.65 Dagegen wird hier die These verfolgt, daß sich in Strophe sechs und sieben zwar die Signifikanten wiederholen, aber, wie nun gezeigt werden soll, die Signifikate verschieben.66 Der Wechsel innerhalb der Passage, bei dem die solide Welt, die dem Feenland der Imagination in der sechsten Strophe entgegengehalten wird, in der siebten Strophe in einen Traum zerfällt, wurde in der neueren Forschung vor allem von Drummond Bone hervorgehoben. Bone deutet die scheinbar logischen Brüche in der Eröffnung des Cantos allerdings als Ausdruck eines nostalgischen Zweifels, ob sich hinter den zivilisatorischen Erscheinungen nicht doch eine reellere Welt verberge – »What if there is indeed something ›more‹ real behind them.«67 Die Spannung zwischen den Strophen soll hier nicht als Ausdruck einer residualen Nostalgie für eine platonische Ideenwelt verstanden werden, sondern vielmehr als Leseanleitung für das folgende Canto: insofern in der Eröffnung von Childe Harold IV romantisch-idealistische Welterschaffungsmodelle mit einer Vision des Realen experimentell konfrontiert werden. Festhalten läßt sich, daß die Anfangsstrophen von Childe Harold IV stark aufgeladene Begriffe der zeitgenössischen ästhetischen Debatte verwenden. Dabei wird ein Verwirrspiel zwischen Traum und Realität, zwischen Natur und Kunst durch das Spiel mit den Signifikanten inszeniert, deren Bedeutung in und zwischen den Strophen oszilliert. Zwar 64

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»By the end, though it [Canto IV, A.B.] has not sustained its celebration throughout, it has recovered its celebratory attitude and in this sense has remained, overall, a celebratory poem. Indeed, the whole canto seems to have been conceived as a celebration, and fights to sustain its faith in what it celebrates.« (Alan Rawes, Byron’s Poetic Experimentation. Childe Harold, the Tales, and the Quest for Comedy. Aldershot u.a. 2000, S. 132). Zur These der Transzendenz des Geistes in Childe Harold IV vgl. S. 135. Vgl. Rawes, Byron’s Poetic Experimentation, S. 124. Vgl. dazu auch die Lektüre von William H. Galperin, The Return of the Visible in British Romanticism. Baltimore, London 1993, S. 250. Bone, »Childe Harold’s Pilgrimage IV«, S. 153.

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klingen die Imaginationen der Muse und ihr »fantastic sky«, die eine von der Empirie unabhängige Wirklichkeit konstituieren, in der Wortwiederholung der »over-weening phantasies« in der siebten Strophe wieder an. Im Unterschied zu der im Englischen gewöhnlichen Schreibweise ›fantasy‹ knüpft das griechische Phonem ›ph‹ in »phantasies« aber an den Ursprung des Wortes an, das sich von dem griechischen Verb phantázein ableitet, was soviel wie ›sichtbar machen‹ bedeutet.68 Dagegen konnotieren die Begriffe aus dem Wortfeld von ›fantasy‹ vor allem den illusionären Charakter von Erscheinungen.69 Die Verschiebung des Phonems ›f‹ zu ›ph‹ verdeutlicht, daß der »fantastic sky« nicht mit den »phantasies« identisch ist – was in der Forschung oft nicht ausreichend berücksichtigt wird.70 Zugunsten der schöpferischen Qualität der Imagination hat die Bedeutung der Vision des Realen in Canto IV, auf die bereits Robert Gleckner in seiner Studie aus den 1960er Jahren hingedeutet hat, in der Forschung keine ausreichende Beachtung gefunden.71 Die Vorstellung einer ›soliden Realität‹, die außerhalb imaginativer Welten existiert und diese sogar ›überstrahlt‹ – man kann hier u.a. an die Realisierung von Idealen der Freiheit und Emanzipation denken –, problematisiert jene romantischen Ideen, die Byron seit 1816 mit dem idealistisch geprägten Shelley während ihrer Begegnungen in der Schweiz und in Italien kontrovers diskutierte. Byron, der sich seit seiner Ankunft auf dem europäischen Festland intensiver mit dem Streit zwischen Klassizismus und Romantik beschäftigte – dokumentiert u.a. in seinem an John Cam Hobhouse adressierten Vorwort zu Childe Harold IV (CPW II, 123) –, artikuliert in den untersuchten Strophen des Versepos eine Distanzierung von idealistischen Konzeptionen. In einem Brief an Murray, der kurz nach der ersten Niederschrift des vierten

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Vgl. A Greek-English Lexicon. Hrsg. von Henry George Liddell/Robert Scott, überarb. und erg. v. Sir Henry Stuart Jones. Oxford 1996, s.v. »phantázo«, S. 1915. Vgl. z.B. die Einträge »fancy« und »fantasy« im OED, das auf folgende Bedeutung hinweist: »Delusive imagination; hallucination« (The Oxford English Dictionary, Bd. 5, S. 714). Die Definition von ›romantisch‹ wird zudem in zeitgenössischen Wörterbüchern mit dem Wortfeld von ›fancy‹ in Verbindung gebracht. So definiert Samuel Johnson in seinem Dictionary des 18. Jahrhunderts ›romantisch‹ als »Improbable; false« bzw. als »Fanciful; full of wild scenery« (Samuel Johnson’s Dictionary, S. 440) Darauf reagiert auch Coleridge in seiner Biographia Literaria, in der er die beiden Fakultäten der ›fancy‹ und der ›imagination‹ voneinander unterscheidet (vgl. bes. Kap. IV). So schreibt schon M. K. Joseph im Zusammenhang mit dieser Passage: »And although Byron subjects these dream-figures to the test of ›waking Reason‹, he still places a kind of hope in literary immortality, and sees Venice in terms of great literature […].« (Joseph, Byron, The Poet, S. 86) Auch Rolf Lessenich interpretiert die Passage im Kontext der Frage nach literarischer Unsterblichkeit, die sich der Vergänglichkeit entzieht. In seiner Lesart sind die Schöpfungen der Imagination – des »fantastic sky« – mit den »phantasies«, die von der Vernunft kritisiert werden, identisch (Lessenich, Lord Byron and the Nature of Man. Köln, Wien 1978, S. 93f.) Robert F. Gleckner bezeichnet Byrons Stimme in Childe Harold IV als »sheathed lightning of the real« (Gleckner, Byron and the Ruins of Paradise. Baltimore 1967, S. 294).

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Cantos, im September 1817 verfaßt wurde, rückte Byron dann deutlich von diesem, wie er schreibt, »wrong revolutionary poetical system« (BLJ 5, 265) ab. Davon wird in dieser Untersuchung später noch eingehender die Rede sein. Die Bedeutungsverschiebungen und das Ausloten der Konzepte in den untersuchten Strophen des vierten Cantos im Hinblick auf Kunst und Natur sowie Imagination, Traum und Wirklichkeit sind für den weiteren Verlauf des Cantos charakteristisch und deuten auf eine poetologische Neubestimmung hin, die unterschiedliche Narrationen der Bewältigung von Zeitlichkeit miteinander konfrontiert. Einen ganz ähnlichen Ansatz vertritt Gleckner, der argumentiert, daß Byron die verschiedenen romantischen ›Antworten‹ auf das Problem der Zeitlichkeit – wie Wordsworths Austausch zwischen Mensch und Natur, Blakes Prophetien, Shelleys mythische Visionen oder Keats’ Versuch, Traum und Realität zu vereinen – zurückweise und statt dessen eine Stimme des Realen ausbilde. Sie ist für Gleckner allerdings in Childe Harold IV nicht mehr als die Verzweiflung an der conditio humana, mit der das Individuum kämpfe.72 Hierin besteht allerdings die entscheidende Differenz zur vorliegenden Interpretation, die das Canto als Inszenierung und performative Überwindung der Melancholie versteht. Byrons Umakzentuierung der idealistischen Ästhetik zielt auf die Frage, inwieweit aus dem Geist Ideen hervorgehen, die das »fairy-land« überschreiten und bei der Realisierung von Freiheit an einer »strong reality« tatsächlich mitwirken. Bei diesem Übersprung des Geistes in die Wirklichkeit kommt der Kunst eine zentrale Aufgabe zu, wie das nächste Kapitel zeigen wird. 4.3.

Freiheit im Gesang – Eingreifende Kunst

Die Neubestimmung der Literatur steht im Zeichen einer Politisierung der Kunst, die für Byrons späte Poetik der ottava rima-Gedichte, zu der Childe Harold IV den Übergang darstellt, charakteristisch ist. Die Poesie soll – bei gleichzeitiger Wahrung ihrer Autonomie – mit ihren Worten, Tropen und Bildern die Freiheit befördern. Dafür ist im vierten Canto von Childe Harold der Rückgriff auf das gesungene Lied der attischen Muse ein erster Hinweis. Die Gefangenen des athenischen Heers, die den Syrakusern unterlagen, werden durch das Singen der tragischen Hymne erlöst: Redemption rose up in the Attic Muse, Her voice their only ransom from afar: See! as they chant the tragic hymn, the car Of the o’ermaster’d victor stops, the reins

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Vgl. Gleckner, Byron and the Ruins of Paradise, S. 294. In Gleckners existentialistischer Sicht ist das letzte Canto von Byrons Versepos entsprechend »an extraordinary imaginative journey into nothingness and despair« (S. 297).

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Fall from his hands—his idle scimitar Starts from its belt—he rends his captive’s chains, And bids him thank the bard for freedom and his strains. (IV 16; CPW II, 129)

Der Sieger des Krieges wird durch den Gesang der Gefangenen – die einzige ›Waffe‹, die ihnen zur Verfügung steht – selbst zum Besiegten (»the o’ermaster’d victor stops«), der die Fesseln des Sklaven löst (»he rends his captive’s chains«). Der letzte Vers verknüpft Gesang und Freiheit: Dem Barden verdanken die Gefangenen ihre Befreiung aus der Knechtschaft. Bei den alten Griechen konnte das Lied die Fesseln der politischen Sklaverei tatsächlich sprengen – ganz im Gegensatz zum Venedig der Gegenwart, in der das Lied Tassos verstummt ist: »In Venice Tasso’s echoes are no more/ And silent rows the songless gondolier« (CPW II, 125). Tassos Lieder werden explizit auf den Gesang der Griechen bezogen, wenn es in der auf die Attische Muse folgenden Strophe heißt: »Thy choral memory of the Bard divine,/ Thy love of Tasso, should have cut the knot/ Which ties thee to thy tyrants« (CPW II, 130) – die Erinnerung des Gesangs an den göttlichen Dichter hätte die Fesseln zerschlagen können, die Venedig an Metternich und seine österreichischen Tyrannen ketten. Diese immanente Konzeption einer direkten Verbindung zwischen Freiheit und Gesang, der im kulturellen Gedächtnis der Nationen verankert ist, unterscheidet Byrons politische Vision der Poesie von Shelleys sozialkritischer Utopie. Zwar spricht auch Shelley der Dichtung und dem Dichter eine zentrale Rolle zu, setzt aber für die Umsetzung seiner Vision von Freiheit die Realisierung der transzendenten Idee voraus – wie etwa in dem bereits erwähnten Gedicht »Hymn to Intellectual Beauty«, das die Hoffnung auf eine erlösende Macht artikuliert, die jenseits des Individuums und der Kraft seiner Worte, also auch jenseits der eigenen Dichtung liegt. Der Sprecher in Shelleys Gedicht ersehnt sich von dem angerufenen »Spirit«, daß dieser die Menschheit aus ›dunkler Sklaverei‹ befreie: They know that never joy illumed my brow, Unlinked with hope that thou wouldst free This world from its dark slavery, That thou, O awful Loveliness, Wouldst give whate’er these words cannot express.73

In Shelleys romantisch-idealistischer Version verleiht der »Spirit« dem unruhigen Traum des Lebens, dem Zweifel, Zufall und der Wechselhaftigkeit, denen das Subjekt ausgeliefert ist, Wahrheit und Würde.74 Childe Harold IV beschäftigt sich mit ähnlichen Fragen wie Shelleys Hymne, kommt aber zu anderen 73 74

Shelley, »Hymn to Intellectual Beauty«, S. 61. Vgl. Shelley, »Hymn to Intellectual Beauty«, V. 31–36.

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Ergebnissen, die konkreter und nicht idealistisch überformt sind. Auf den tatsächlichen Lebenskontext des Sprechers, der sich im Exil des postnapoleonischen Italiens – »other voices speak, and other sights surround« – entscheidend verändert hat, referiert im vierten Canto der letzte Vers von Strophe sieben. Der Wandel der persönlichen und politischen Situation des autobiographischen Sprechers, so läßt sich folgern, bedingt, daß die Schönheit der »strong reality«, die die sechste Strophe postuliert, sich in der siebten Strophe als Illusion herausstellt. Der Traum von Freiheit und Anerkennung – von persönlicher und auch politischer Emanzipation – erweist sich im Exil als Täuschung. Die unmittelbar folgenden Strophen, die sich erst dem gescheiterten persönlichen Traum von einer gelungenen Integration des Subjekts in seine soziokulturelle Umwelt (Strophen 8 bis 10)75 und danach den vergeblichen politischen Hoffnungen auf die Emanzipation der europäischen Nationen (Strophen 11 bis 17)76 zuwenden, explizieren das Thema, das in der sechsten und siebten Strophe nur angedeutet wurde. Vincent Newey argumentiert in seiner Analyse von Childe Harold, daß Byrons Vision in Canto IV unter dem Zeichen der Verzweiflung steht, die er mit Shelleys optimistischer politischer Überzeugung zwischen 1816 und 1820 vergleicht: »This final emphasis on the chain of despair, of course, sharply distinguishes Byron’s vision from the ameliorist philosophy of Shelley, who, at least in the period 1816–20, clung to the belief that the myth-making mind could create symbols of love and relatedness prophesying the limitless capacity for ideas to persist amidst the wreckage of human hopes, and to provide moral and political salvation.«77 Newey stützt sich bei seiner Aussage auf die Passage am Ende des Cantos, die von dem Tod der beliebten Thronfolgerin Charlotte Augusta 1817, der die ganze englische Nation schockierte, berichtet (IV, 167–172). Für Byron seien alle menschlichen Schöpfungen einem tragischen Schicksal unterworfen, das ultimativ auf Chaos, Tod und Vergessen zustrebe.78 Neweys ausschließliche Betonung der Artikulation tragischer Verzweiflung in Childe Harold IV übersieht, daß das Canto ein Schwellentext ist, der nach einer neuen Kunstform und einem neuen Autorschaftsmodell sucht –

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»I twine/ My hopes of being remembered in my line/ With my land’s language: if too fond and far/ These aspirations in their scope incline […]—let it be—« (CPW II, S. 127). Die Struktur des Satzes iteriert die siebte Strophe und unterstreicht insofern formal die enge inhaltliche Klammer zwischen den Strophen. »The Suabian sued, and now the Austrian reigns—/ An Emperor tramples where an Emperor knelt;/ [...] nations melt/ From power’s high pinnacle, when they have felt/ The sunshine for a while, and downward go/ Like lauwine loosen’d from the mountain’s belt [...].« (CPW II, S. 128) Vincent Newey, »Authoring the Self: Childe Harold III and IV«. In: Newey, Centring the Self. Subjectivity and Reading from Thomas Gray to Thomas Hardy. Aldershot 1995, S. 178–210, hier S. 206 [zuerst 1988]). Vgl. Newey, »Authoring the Self«, S. 207.

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der Text erzählt die Verzweiflung des Subjekts und ist in dieser Erzählung zugleich schon ihre Überwindung. Während Shelley auf die verbessernde Kraft der Ideen setzt, geht Byron über dieses idealistische Programm hinaus. Die Gegenwart der Moderne, wie sie Byron in Venedig erlebt, zeigt, daß die Darstellung der Idee aus sich allein heraus keine wirklichkeitsverändernde Wirkung generieren kann. Diese Neuorientierung soll nicht nur auf der einen Seite die Melancholie angesichts gescheiterter politischer und privater Hoffnungen überwinden, sondern auf der anderen Seite auch dezidiert in die Realität hineinwirken. Das Leiden an der Zeitlichkeit und der Vergänglichkeit wird überführt in die Konzeption gesellschaftlicher und politischer Erneuerung sowie der Erneuerung des Sprecher-Ichs. 4.4.

Das Leiden an der Zeitlichkeit: organische Konzepte der Erneuerung

Childe Harold IV weist im Experimentieren mit verschiedenen klassizistischen und romantischen Konzepten wie der unsterblichen Schönheit der Kunst und der transzendenten Welt der Imagination, die Zeit, Verfall und Verlust überwinden sollen, eine fast rhythmische Bewegung auf. Die Aufhebung des Leidens wird mehrmals im vierten Canto beschworen – »All suffering doth destroy, or is destroy’d,/ Even by the sufferer; and in each event/ Ends« (CPW II, 131). Bei der Beschwörung des sicheren Endes aller Leiden (»and in each event/ Ends«) nimmt die Zeit selbst eine entscheidende Rolle ein. Die zu Beginn des Cantos ausschließlich negativ konnotierte, alles Irdische zerstörende Zeit, die vor allem in Rom sichtbare Spuren hinterlassen hat, wird im weiteren Verlauf des Textes, nach dem sogenannten ›Forgiveness Curse‹ (IV, 130–137), in einer Umkehrung zunehmend als Trösterin mit heilenden Kräften apostrophiert: Oh Time! the beautifier of the dead, Adorner of the ruin, comforter And only healer when the heart hath bled— Time! the corrector where our judgments err, The test of truth, love,—sole philosopher [...]— Time, the avenger! (IV 130; CPW II, 167)

Die Zeit zerstört nicht nur, sondern sie ›schmückt‹ sogar die Ruine, das Emblem des Verfalls, mit Zeichen des neuen Lebens (»Adorner of the ruin«), ebenso wie sie das Herz des Leidenden heilt und tröstet. Sie ist der Maßstab für Liebe und Wahrheit und sie rächt erlittenes Unrecht. Trotz des persönlichen Gehalts der Aussage, der auf Lady Byron abzielt, gilt auch hier wieder, daß die politische Bedeutungsebene wie ein Palimpsest mitzulesen ist. Schon im Vorwort zum vierten Canto schreibt der Autor mit Blick auf Englands Politik in Italien nach dem Wiener Kongreß: »For what they have done abroad, and especially in the South, ›Verily they will have their reward‹, and at no very 300

distant period.« (CPW II, 124) Das markierte Zitat aus dem Matthäus-Evangelium wird hier umgedeutet, indem sich die Bedeutung des Wortes »reward« im Prätext von ›Belohnung‹ zu ›Vergeltung‹ bei Byron verschiebt, und erhält insofern – unterstützt durch das autoritäre Wort der Bibel und die Akzentuierung der futurischen Verbkonstruktion »will have« durch die Kursivierung, die das definitive Eintreten des Prophezeiten betont – einen drohenden Charakter. Die Formulierung von der Zeit als Rächerin (»Time, the avenger!«) von Strophe 130 hat im Vorwort eine Entsprechung im politischen Kontext der restaurativen Politik der Siegermächte. Allerdings wandelt sich im fiktionalen Text des Cantos die Rachevorstellung, die in der Anrufung der Nemesis besonders deutlich wird (IV, 132), in einen Fluch der Vergebung (IV, 135): »That curse shall be Forgiveness.« (CPW II, 169) Dieser Wandel kann sich vollziehen, weil der Sprecher sich in seinem Verlangen nach Gerechtigkeit der Zeit anvertraut.79 Obwohl die Bedeutung des ›Forgiveness Curse‹ viel beachtet wurde und etwa Vincent Newey die gesamte Passage als »turning point« des Cantos bezeichnet, von der an ein vorwärts drängender Impuls mit einem positiveren Ton herrsche, blieb die Rolle der Zeit, die in der oben zitierten Strophe den ›Forgiveness Curse‹ einleitet, bislang weitgehend unkommentiert.80 Der Akt der Vergebung (»forgiveness«) sprengt, wie Jerome McGann schreibt, das sinnlose Rad der Geschichte, in dem Gewalt immer mit erneuter Gewalt beantwortet wird – ein Prozeß, der schon an einer früheren Stelle des Cantos in Frage gestellt wurde, wenn es heißt: »Can tyrants but by tyrants conquered be […]?« (CPW II, 156) Die sinnlose Brutalität in der Geschichte, für die hier vor allem der Aufstieg und Fall des römischen Imperiums ein Exempel ist, mißachtet den Wert und die Würde des individuellen Lebens, die hervorgehoben werden in der Vision vom gotischen Gladiatoren, der zum Zeitvertreib der Römer im Kolosseum getötet wird (IV, 140–142). Der Gladiator – »the plaything of a crowd« (CPW II, 172) – ist eine Projektionsfigur für den Sprecher, der sich auch als ›Spielzeug‹ seiner Widersacher sieht und in dem ihm zugefügten Unrecht die inhumane Seite des Menschen selbst erfahren hat: »From mighty wrongs to petty perfidy/ Have I not seen what human things could do?« (CPW II, 170) Der Sprecher des Cantos erkennt, daß die Zeit in jedem Fall einen Wandel bedingt, was für den römischen Gladiator bedeutet, daß er – was nur der Sprecher aus seiner historischen Perspektive weiß – in der Zukunft nicht ungerächt bleiben wird, indem das Rad der Geschichte sich immer weiter dreht und das römische Imperium schließlich von den Goten 79

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Jerome McGann erwähnt in seiner überzeugenden Analyse des ›Forgiveness Curse‹ nur eine Auffassung der Zeit, und zwar als sinnloses (zyklisches) Rad der Geschichte, das der Sprecher durchbrechen will (vgl. McGann, Fiery Dust. Byron’s Poetic Development. Chicago 1969, S. 41–48). Als unaufhaltsam fortschreitende Zeit, die Möglichkeit für Veränderung und Erneuerung gibt, erhält sie hier jedoch eine wichtige neue Bedeutung. Newey, »Authoring the Self«, S. 195.

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zu Fall gebracht wurde. Der zentrale Aspekt hier ist aber nicht ein »tit-for-tat moralizing« – das dem Text vorgeworfen wurde und wogegen McGann in seiner Interpretation der Stelle argumentiert –, sondern die Einsicht des autobiographischen Sprechers in die grundsätzliche Historizität jeglichen Geschehens, die den Anspruch auf absolute Werte und Wahrheiten problematisiert, in deren Namen Menschen geopfert und grausame Kriege geführt werden.81 Das Bewußtsein von Geschichtlichkeit birgt auch die Einsicht in Wandel und zukünftige Veränderung, und gerade darin besteht die neue Perspektive auf das Phänomen der Zeit, die ab dem ›Forgiveness Curse‹ verstärkt in den Blick rückt. Sie ist im Motiv der von grünen Blättern überwachsenen Ruine angelegt, auf das in den Ortsbeschreibungen von Childe Harold IV mehrmals rekurriert wird. Die wuchernde Vegetation, die langsam, aber unaufhaltsam die vom Menschen geschaffenen Artefakte und Kulturobjekte zurückerobert, ist nicht nur ein tradiertes Sinnbild der Vanitas, für die Flüchtigkeit allen Seins und die Sinnlosigkeit der Geschichte, sondern zugleich auch für das alles überwindende, sich stets erneuernde Leben.82 So sind die zentralen Themen des vierten Cantos nicht nur Zerstörung und Vergänglichkeit, sondern auch, passend zur Pilgerreise, Erneuerung und Wiedergeburt – Motive, die im Text u.a. durch die wiederholte Verwendung von Verben akzentuiert werden, die wie ›rise‹ und ›soar‹ eine vertikale Aufwärtsbewegung ausdrücken.83 So zeichnet sich Italien, das aus seinen Ruinen aufersteht (»Spirits which soar from ruin«, CPW II, 142), vor anderen Ländern durch die Möglichkeit der Selbsterneuerung aus – »thy decay/ Is still impregnate with divinity,/ Which gilds it with revivifying ray« (CPW II, 142). Von Italiens Verfall geht zugleich ein wiederbelebender Strahl aus. Die Stellung des Menschen in diesem organischen Zyklus von Tod und Wiedergeburt wird besonders anhand der Schauplätze der großen Schlachten diskutiert. Die Überlegungen des Sprechers zu dem antiken Kampfplatz Trasimene, der die Besichtigung der Schlachtfelder der napoleonischen Kriege – besonders Talavera, Albuera (I, 38–44) und Waterloo (III, 18–35) – in Canto I und Canto III aufruft, stellen die friedliche Szenerie der Gegenwart der blutig-

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Vgl. McGann, Fiery Dust, S. 42. Vgl. dazu Barasch, »Die Ruine«, S. 521. Vgl. zum Verhältnis von Kultur und Natur in der Ruine auch Georg Simmel, der in seiner Analyse über die Besonderheit dieser Denkmäler festhält: »Was den Bau nach oben geführt hat, ist der menschliche Wille, was ihm sein jetziges Aussehen gibt, ist die mechanische, nach unten ziehende, zernagende und zertrümmernde Naturgewalt. Aber sie läßt das Werk dennoch nicht […] in die Formlosigkeit bloßer Materie sinken, es entsteht eine neue Form […]. Die Natur hat das Kunstwerk zum Material ihrer Formung gemacht, wie vorher die Kunst sich der Natur als ihres Stoffes bedient hatte.« (Georg Simmel, »Die Ruine«. In: Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie. Ausgewählt u. mit einem Nachwort von Ingo Meyer. Frankfurt a.M. 2008, S. 34–41, hier S. 36f.) Vgl. Newey, »Authoring the Self«, S. 207.

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bewegten Vergangenheit gegenüber, an die nur noch der Name des Flusses Sanguinetto erinnert. Den Unterschied zwischen dem menschlichen Leben und der organischen Natur veranschaulicht das verwendete Bild, das eine horizontale mit einer vertikalen Bewegung konfrontiert: »Far other scene is Thrasimene now;/ […] Her aged trees rise thick as once the slain/ Lay where their roots are« (CPW II, 146). Die topographische Beschreibung verschränkt die organische Natur der Bäume mit dem menschlichen Leben: Die Bäume mit ihren Wurzeln wachsen und erheben sich – auch hier wird das Verb »rise« verwendet – förmlich auf den Leichen der Ermordeten. Dabei betont der Vergleich mit seinen entgegengesetzten Verben – die Bäume stehen so dicht wie einst die Opfer lagen – die Differenz. Der Mensch ist in den natürlichen Kreislauf von Verfall und Wachstum nur indirekt eingebunden – in den Strophen zu Talavera werden die Opfer der Schlacht kritisch als Krähenfutter und Dünger des Feldes, das sie erobern wollten, bezeichnet (vgl. CPW II, 25).84 Da das individuelle Leben mit der Schlacht endet, stellt sich mit Blick auf Trasimene und die anderen Schlachtfelder die grundsätzliche Frage nach dem Wert des Lebens des Einzelnen, das für abstrakte Ideen wie Ehre und Ruhm, aber auch im Namen der Freiheit geopfert wird. Peter Graham betont, daß die komplexen Aussagen des Erzählers von Childe Harold zu den Kriegen in der Vergangenheit und in der Gegenwart mit Byrons genereller Wertschätzung des menschlichen Lebens zu verbinden seien. Graham zufolge dürfe das menschliche Leben nur für eine würdige Sache geopfert werden – als solche könnten aber nur Defensivkriege, keine Eroberungskriege gelten.85 Seine These, daß der Text patriotische Kriege für eine autoritäre Regierung verurteilt, ist zweifellos richtig. Aber darüber hinaus lassen die Reflexionen des Sprechers über die napoleonischen Kriege im dritten Canto auch den Freiheitskampf problematisch erscheinen. Denn aus der Perspektive einer vergangenen Zukunft, um mit Reinhart Koselleck zu sprechen, stellt sich die Frage nach der tatsächlich erreichten Emanzipation, für die die Menschen mit ihrem Leben bezahlten. So kommentiert der Sprecher Napoleons Kampf für Freiheit und Emanzipation in Canto III mit dem Hinweis auf die Vergeblichkeit seiner Bemühungen angesichts seiner Niederlage bei Waterloo: »Ambition’s life and labours all were vain;/ He [Napoleon, A.B.] wears the shattered links of the world’s broken chain.« (CPW II, 83) Aber auch der ›Freiheitskampf‹ der europäischen Völker, die sich von Napoleons Herrschaft zu befreien suchten, hat der Welt keine Emanzipation gebracht: »Fit

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Besonders deutlich wird der Unterschied zwischen Mensch und Natur im Zusammenhang mit der Schilderung der Schlacht von Waterloo in Canto III von Childe Harold formuliert: »But when I stood beneath the fresh green tree,/ Which living waves where thou didst cease to live,/ And saw around me the wide field revive/ With fruits and fertile promise, and the Spring/ Come forth her work of gladness to contrive,/ With all her reckless birds upon the wing,/ I turn’d from all she brought to those she could not bring.« (CPW II, S. 87) Vgl. Graham, Lord Byron, S. 132f.

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retribution! Gaul may champ the bit/ And foam in fetters;—but is Earth more free?« (CPW II, 83) Vielmehr wurde das Gegenteil bewirkt – trotz aufgeklärter Zeiten wurde nach 1815 die Knechtschaft als notdürftig zusammengeflicktes Ideal neu belebt: »What! shall reviving Thraldom again be/ The patched-up idol of enlightened days?« (CPW II, 83) Wie schon erwähnt wurde, sehen einige Untersuchungen zu Childe Harold IV die positive Stimme des Cantos vor allem in der Behauptung des Geistes und der Imagination gegenüber der Zeitlichkeit des Irdischen. McGann etwa formuliert die These, daß der Sprecher des vierten Cantos sich gegen Ende des Epos der Fähigkeit des Geistes, über Niederlage und Tod zu triumphieren, völlig bewußt werde.86 Alan Rawes wiederum betont, daß in Canto IV nicht nur die Stimme des leidenden und beharrenden Byronischen Helden vernehmbar ist, die noch für das Drama Manfred charakteristisch war; vielmehr versteht er den Text als Feier der Kreativität der Imagination, die sich über die Zeitlichkeit und Vergänglichkeit des Irdischen erhebt.87 Dieser Aspekt, so Rawes, würde zwischen den im Ton stark divergierenden Texten Manfred und Beppo vermitteln, die unmittelbar vor (Manfred) bzw. nach (Beppo) Childe Harold IV entstanden sind.88 Obwohl Rawes zurecht darauf hinweist, daß Childe Harold IV ein Übergangstext ist, der Zeichen einer neuen Poetik aufweist, muß seine These einer Zeitenthobenheit durch die idealistische Überhöhung des Geistes kritisch betrachtet werden. Vor allem das Ende des Cantos, das zugleich das Ende des gesamten Versepos ist, legt es nahe, die Funktion des Geistes und der Imagination nochmals im Hinblick auf die viel zitierte Anrufung des Ozeans differenziert zu betrachten, um dem komplexen Verhältnis zwischen Zeit, Erinnerung, Identität und Freiheit, die dort kulminieren, gerecht zu werden. 4.5.

»And I have loved thee, Ocean!« – Rousseauistische Natureinheit als Lösung?

Wie eingangs die Analyse der sechsten und siebten Strophe des vierten Cantos zeigen konnte, diskutiert der Text idealistische – sowohl klassizistische als auch romantische – Kunstmodelle, die sich durch die Fokussierung auf den immateriellen Bereich des Geistes Zeitlichkeit widersetzen. Auf diese Modelle rekurriert auch das Ende des Cantos. Die Errungenschaften der Kunst im Bereich des Sublimen und des Schönen werden zunächst anhand des Petersdoms und dann mit Blick auf die Plastiken des Laokoon und Apoll im Vatikan gewürdigt. In beiden Fällen fungieren zum einen das romantisch-christlich Erhabene und zum anderen das klassisch-antike Schöne als Beispiele für die Fähigkeit

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Vgl. McGann, Fiery Dust, S. 132. Vgl. Rawes, Byron’s Poetic Experimentation, S. 119. Vgl. Rawes, Byron’s Poetic Experimentation, S. 118.

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des Geistes, Körperlich-Materielles zu transzendieren. Die unirdische Natur dieser Artefakte, die das Schöne und Sublime in ihrer höchsten Form verkörpern, zeugen von der Größe der Vorstellungskraft des menschlichen Geistes. So bemerkt der Sprecher über den Petersdom: »The fountain of sublimity displays/ Its depth, and thence may draw the mind of man/ Its golden sands, and learn what great conceptions can.« (CPW II, 178) Über die Statue Apolls, den Gott der Künste, heißt es kurz darauf, daß in seiner herrlichen Form alles ausgedrückt sei, [...] that ideal beauty ever bless’d The mind with in its most unearthly mood, When each conception was a heavenly guest – A ray of immortality – and stood, Starlike, around, until they gathered to a god! (IV 162; CPW II, 179)

Die zweimalige Verwendung des Wortes »conception« – im Zusammenhang mit dem Petersdom wie mit der Statue des Apoll – unterstreicht in seiner doppelten Bedeutung von ›Vorstellungskraft‹ und ›Empfängnis‹ die direkte Partizipation des schaffenden Geistes am Göttlichen, dessen Strahl der Unsterblichkeit das Kunstwerk der irdischen Zeitlichkeit enthebt. Nach dieser emphatischen Bestätigung des menschlichen Geistes und der künstlerischen Imagination, die sich der Vergänglichkeit durch ihre Teilhabe an der Unsterblichkeit des Göttlichen widersetzen, erscheint es umso überraschender, daß das geographische Ziel (Rom), das in einigen Lesarten auch den symbolischen Höhepunkt des Epos in der Apotheose des menschlichen Geistes darstellt, erneut überschritten wird. Der Sprecher wendet sich in seiner quest zuletzt der Natur zu, die eine weitere Antwort auf das Problem der Zeitlichkeit darstellt. In Strophe 178 artikuliert der Sprecher eine romantische Verschmelzungsphantasie mit dem Universum: I love not Man the less, but Nature more, From these our interviews, in which I steal From all I may be, or have been before, To mingle with the Universe, and feel What I can ne’er express, yet can not all conceal. (IV 178; CPW II, 184)

Die radikale Zuwendung des Subjekts zur Natur und der Wunsch im Universum aufzugehen, erinnert an romantische Konzeptionen. Die semantischen Konnotationen des verwendeten Vokabulars zeigen aber Brüche. Das Wort ›interview‹ betont im Sinne von Unterhaltung, Konversation das gesprochene Wort, das auf die reflektierende Sprache hinweist, die der ersehnten präreflexiven Einheit zwischen Mensch und Natur entgegensteht. Im Vergleich dazu verwendet etwa William Wordsworth in seinen literarischen Texten immer wieder den religiös 305

konnotierten Begriff ›communion‹, um den Austausch zwischen Subjekt und Natur auszudrücken. Neben der Bedeutung von ›Einheit‹ wird durch die religiöse Aufladung des Wortes ›communion‹ zugleich die Eigenschaft des Mystischen und Immateriellen der Einswerdung hervorgehoben.89 Der Sprecher in Childe Harold IV verwendet dagegen für seinen Wunsch im Universum aufzugehen das Verb ›steal‹, er stiehlt sich aus der Zeit – aus Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen –, um den Zustand eines erinnerungslosen nunc stans zu erreichen, eine Formulierung, die den verbotenen Charakter dieses Vorgangs suggeriert. Die Zeitlichkeit ist in einer pantheistischen unio mystica zwar aufgehoben, aber um den Preis der Ausblendung der futurischen Potentialität des Subjekts sowie seiner vergangenen Identität – »I steal/ From all I may be or have been before«.90 Über die Schlußpassage des Versepos, die mit den zitierten Versen aus Strophe 178 eingeleitet wird, herrschen in der Forschung kontroverse Meinungen.91 Die erneute Beschwörung Rousseauistischer Natur-Metaphorik, die das Verlangen des Sprechers ausdrückt, in der Alleinheit des Universums aufzugehen und Teil seiner Unendlichkeit zu werden, wird entweder negativ als Rückfall in die Sprache des dritten Cantos oder positiv als formale und thematische Kontinuität gesehen, indem durch die Anrufung des Meeres nicht nur der Bogen zum Beginn des dritten Cantos (III, 1–2), sondern auch zum Anfang des ersten und des vierten Cantos geschlagen wird. Drummond Bone etwa stellt bezüglich des Rückgriffs auf das Paradigma der Natur die Frage: »Is this a failure of nerve at the end of the poem? Or has an aesthetic sense, demanding a reprise to signal an ending, taken over from Byron’s thematic sense?«92 Er kommt allerdings zu dem Ergebnis, daß die Klimax des Cantos in Strophe 184 eine versöhnliche Geste sei, die er als »act of companionship initiated by Man« deutet.93 Bevor auf die Verbindung des Subjekts mit dem Meer zurückzukommen ist, soll zunächst die Charakterisierung des Meers betrachtet werden. Das Meer, 89

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In Wordsworths autobiographischem Versepos The Prelude heißt es über die Kindheit des Dichters im zweiten Buch in der Version von 1805: »All that I beheld/ Was dear to me, and from this cause it came/ That now to Nature’s finer influxes/ My mind lay open—to that more exact/ And intimate communion which our hearts/ Maintain with the minuter properties/ Of objects which already are beloved [...].« (William Wordsworth, The Prelude, 1799, 1805, 1850. Hrsg. von Jonathan Wordsworth/M. H. Abrams/Stephen Gill. New York, London 1979, S. 80; meine Hervorhebung, A.B.) M. K. Joseph spricht in bezug auf die Naturmetaphorik von Canto III davon, daß Byrons Versuch einer »Wordsworthian communion with Nature« gescheitert sei (Joseph, Byron, The Poet, S. 81). Vgl. auch Vincent Newey, der in diesen Versen die Privilegierung des bewußtlosen Seins in der Natur anstelle der Kunst sieht, die allerdings weniger lebendiges ›Interview‹, als therapeutische Erinnerung und regressive Phantasie sei. Auf die sprachliche Dimension des ›interview‹ geht Newey nicht ein (vgl. »Authoring the Self«, S. 205f.). Exemplarisch seien hier genannt: McGann, Fiery Dust, S. 135–138; Gleckner, The Ruins of Paradise, S. 295–97; Bone, »Childe Harold’s Pilgrimage IV«, S. 155f.; Newey, »Authoring the Self«, S. 204–210. Bone, »Childe Harold’s Pilgrimage IV«, S. 155. Vgl. auch McGann, Fiery Dust, S. 137. Bone, »Childe Harold’s Pilgrimage IV«, S. 156.

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das der Sprecher apostrophiert: »Roll on, thou deep and dark blue ocean – roll!« (CPW II, 184), wird zum Bild des Sublimen und Unveränderlichen, das mit der historischen Zeit kontrastiert, in deren Verlauf Weltreiche aufstiegen und fielen. Erneut wird im Kontext der Vergänglichkeit von »empires« das ›ubi-sunt‹-Motiv aufgegriffen: »Assyria, Greece, Rome, Carthage, what are they?« (CPW II, 185) Der Ozean – »boundless, endless, and sublime—/ The image of Eternity« – wird entgegen den sichtbaren Zeichen der Zeitlichkeit im Verfall als unwandelbar und beständig bezeichnet: »Unchangeable save to thy wild waves’ play—/ Time writes no wrinkle on thine azure brow—/ Such as creation’s dawn beheld, thou rollest now.« (CPW II, 185) Gleichzeitig akzentuiert die Betonung des Wortes ›roll‹, das sich in der nächsten Strophe sogar in ein Vorwärtsschreiten verwandelt: »thou goest forth, dread, fathomless, alone« (CPW II, 186), ein wichtiges Attribut des Meeres, und zwar seine unablässige Bewegung. Das Meer zeichnet sich im Gegensatz zum Petersdom und zur erhabenen Schönheit der Statuen des Laokoon und des Apoll von Belvedere zusätzlich durch seine Dynamik und Bewegung aus.94 Die Eigenschaft des unerbittlichen Fortschreitens, die das Meer mit den ewigen ›Umwälzungen‹ der Zeit teilt, steht zunächst in offensichtlichem Widerspruch zum Aspekt seiner Unveränderlichkeit, was bisher in der Forschung kaum beachtet wurde.95 Es ist lohnenswert, der Bedeutung dieser paradoxalen Konstruktion von Konstanz und Veränderung genauer nachzugehen, da sich die autobiographische Persona in der folgenden Strophe emphatisch mit dem Meer identifiziert: And I have loved thee, Ocean! and my joy Of youthful sports was on thy breast to be Borne, like thy bubbles, onward: from a boy I wantoned with thy breakers—they to me Were a delight; and if the freshening sea Made them a terror—’twas a pleasing fear, For I was as it were a child of thee, And trusted to thy billows far and near, And laid my hand upon thy mane—as I do here. (IV 184; CPW II, 186)

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Vincent Newey vertritt die These, daß mit der Glorifi zierung der Kunst in den statischen Repräsentationen der Plastiken von Laokoon und Apoll eine Stillstellung der Energien erfolgt, die den Text vorangetrieben haben (vgl. Newey, »Authoring the Self«, S. 201). McGann etwa weist in seiner Analyse des Ozeans zwar auf die gegensätzlichen Eigenschaften im Text hin, aber bestimmt sie nicht als solche, wenn er festhält: »The political manifestations of human bondage and freedom continually rise and fall, but the Ocean herself remains outside this temporal flux and perfectly superior to it«, um zu dem Ergebnis zu kommen: »[T]he threatening Ocean is transformed into an image of paradisal and youthful fulfi llment, and an ideal of beautiful and vigorous permanence is born out of the poet’s most important symbol of reality’s transcience and incompleteness.« (McGann, Fiery Dust, S. 136f.; meine Hervorhebungen, A.B.)

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Der Sprecher erinnert sich in diesen Versen zurück an seine Kindheit, die von einem innigen Verhältnis zum Meer, dessen Wellen er sich anvertraute, geprägt war (»trusted to thy billows«). Wie die Wellen selbst, so ließ auch er sich vom Ozean immer weiter tragen. Die Hervorhebung des Wortes »onward« durch den darauf folgenden Doppelpunkt akzentuiert wie schon die zuvor verwendete Formulierung »thou goest forth« erneut die Vorwärtsbewegung. Da der Sprecher sich gleichsam als ein Kind des Meeres empfindet, verspürt er im Umgang mit dem erhabenen Element, trotz des sich belebenden Meers, nur eine angenehme Furcht, keinen »terror«. Die kindliche Geste des Einvernehmens und Anvertrauens – es legt seine Hand an die ›Mähne‹ des Ozeans (»laid my hand upon thy mane«) – wird mit der gegenwärtigen Tätigkeit des Ich verglichen: »as I do here«. Die synekdochische ›Mähne‹ nimmt das Bild des Subjekts als Reiter auf dem Meer auf, mit dem das dritte Canto beginnt. Harold empfindet sich dort zuerst als dominierenden Reiter der Wellen: »Once more upon the waters! yet once more!/ And the waves bound beneath me as a steed/ That knows his rider« (CPW II, 77), um kurz danach die biblische Metapher des Grashalms auf sich zu projizieren, der auf dem Ozean hin- und hergeworfen wird: »I am as a weed,/ Flung from the rock, on Ocean’s foam, to sail/ Where’er the surge may sweep, or tempest’s breath prevail.« (CPW II, 77) Diese beiden extremen Selbstbilder zwischen Allmacht- und Ohnmachtsgefühlen verwandeln sich am Ende des Textes in eine Geste der affirmativen Akzeptanz.96 Durch den Tempuswechsel im abschließenden langen Vers der Spenserstrophe vom Perfekt (»laid«) ins Präsens (»as I do here«) werden Vergangenheit und Gegenwart aufeinander bezogen. Dabei wird die Formulierung »as I do here« besonders herausgestellt. Statt als Rückverweis auf den Blick, den der Sprecher in Strophe 175 noch einmal auf das Meer wirft (»once more let us look upon the sea«, CPW II, 183) und mit dem die abschließende Apostrophe des Ozeans eingeleitet wird, soll der Bezug auf die gegenwärtige Tätigkeit des Sprechers im Präsens hier als reflexive Wendung auf den Text und die Tätigkeit des Schreibens verstanden werden.97 Die metafiktionale Thematisierung des schreibenden Ichs erfolgt durch eine metonymische Verschiebung, bei der die Hand des Kindes, die sich dem erhabenen, fruchtbaren Element, der Mutterfigur (»on thy breast to be/ Borne«) anvertraut, zur Hand des augenblicklich schreibenden Ichs nicht nur in einer Ähnlichkeitsbeziehung, sondern auch in einer Kontiguitätsrelation steht. Auf der klanglichen Ebene wird dies durch

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Für Michael G. Cooke dagegen ist das gesamte Epos Ausdruck eines diskontinuierlichen Programms der Selbstbehauptung und Selbstvernichtung (vgl. Cooke, The Blind Man Traces the Circle, S. 55). Vgl. dagegen auch die Interpretation dieser Passage von Nicole Frey Büchel in Perpetual Performance, S. 101f. und 104f. Auch bei William Galperin wird eine solche Lesart angedeutet, wenn er schreibt: »The very hand that the subject remembers having ›laid upon [the Ocean’s] mane‹ is the same hand, in effect, that ›here‹ writes.« (Galperin, The Return of the Visible, S. 270)

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den durchgängigen, streng regelmäßigen jambischen Versfuß suggeriert, der den harmonischen Zusammenhang der verschiedenen Zeitebenen ebenso wie das Auf und Ab der Wellen metrisch umsetzt. Diese Stelle wurde verschiedentlich als Zeichen der Omnipotenz des Sprechers oder als Zeichen seines illusionären Wunsches nach Allmacht gesehen, wie etwa Vincent Newey vorschlägt, der die Homophonie von ›mane‹ und ›main‹, das u.a. ›Macht‹ bedeuten kann, hervorhebt.98 Der letzte Vers, der eine Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart postuliert, habe Newey zufolge mehr einen beschwörenden als authentischen Charakter – die Ganzheit des Subjekts sei hier nicht mehr als ein Wortzauber.99 Neweys Perspektive ist maßgeblich von der folgenden Strophe beeinflußt, die ihm zufolge einen negierenden und aufhebenden Schatten auf die gesamte Pilgerschaft werfe. Das Verständnis der Geste des Handanlegens als Zeichen des Anvertrauens und der Akzeptanz ermöglicht allerdings einen anderen Blick auf die Teleologie des Versepos. Diese Strophe, die sich explizit auf den vorliegenden, geschriebenen Text bezieht, bekräftigt die Deutung der zweiten Hälfte des letzten Verses von Strophe 184 als selbstreflexive Wende: My task is done—my song hath ceased—my theme Has died into an echo; it is fit The spell should break of this protracted dream. The torch shall be extinguish’d which hath lit My midnight lamp—and what is writ, is writ,— Would it were worthier! but I am not now That which I have been—and my visions flit Less palpably before me—and the glow Which in my spirit dwelt, is fluttering, faint, and low. (IV 185; CPW II, 186)

Die Aufgabe ist erfüllt, das Lied, charakterisiert als langgezogener Traum (»protracted dream«), ist zu Ende. Der Sprecher referiert auf die Schreibsituation, in der er den vorliegenden Text verfaßte. Die mitternächtliche Szenerie (»The torch shall be extinguish’d which hath lit/ My midnight lamp«) ruft den melancholischen Dichter vor Augen, der in dunkler Abgeschiedenheit seiner Verlusterfahrung Ausdruck verleiht, die der vorliegende Text dokumentiert. Das sprechende Ich distanziert sich aus seiner jetzigen Position von dem geschriebenen Text, indem es betont, mit seinem Wert nicht zufrieden zu sein (»Would it were worthier«). Wichtiger als dieser Bescheidenheitstopos bei der Empfehlung des Textes an den Leser ist allerdings der Hinweis, daß der Zauber 98

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Vgl. Newey, »Authoring the Self«, S. 180; Mark Kipperman zufolge wird hier die kreative Überlegenheit des Individuums, die in seiner reflexiven Freiheit besteht, zum Ausdruck gebracht (vgl. Kipperman, Beyond Enchantment: German Idealism and English Romantic Poetry. Philadelphia 1986, S. 196f.). Vgl. Newey, »Authoring the Self«, S. 206.

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des Traums sich nun löse (»it is fit/ The spell should break«), was vom Sprecher begrüßt und als richtig empfunden wird. Das Schreiben fungiert als Therapeutikum und verfolgt insofern einen Selbstzweck: »and what is writ, is writ«. Die Glut (»the glow«) seines Geistes, so beschreibt der Sprecher seinen gegenwärtigen mentalen Zustand, sei am Erlöschen (»is fluttering, faint, and low«), die Visionen seien am Verschwinden (»my visions flit/ Less palpably before me«). In der letzten Strophe des Versepos, die im folgenden unter der Perspektive der Identitätskonstruktion diskutiert werden soll, überantwortet der Schreibende mit dem Ausruf »Farewell!« (CPW II, 186) seinen Text explizit an den Leser. 4.6.

Heilung der Melancholie: Narrative Identitätskonstitution und Akzeptanz der Zeitlichkeit

Die im letzten Kapitel zitierte Strophe wurde in der Forschung zu Childe Harold vor allem als Ausdruck der Negation und Verzweiflung am Ende des Textes verstanden. Berücksichtigt man allerdings die literarisch-anthropologische Tradition um 1800, ergibt sich eine andere Lesart des Schlusses. Den Sprecher kennzeichnet eine schwärmerisch-melancholische Disposition, die sich in der bekannten Zerrissenheit zwischen Ich und Welt, Innen und Außen, Vergangenheit und Gegenwart ausdrückt – man denke besonders an die viel beachtete Metapher des zerbrochenen Spiegels aus Canto III – sowie im Leiden an der Zeitlichkeit, das besonders charakteristisch für Canto IV ist.100 Am Ende des Versepos vollzieht sich, so die These, die Heilung der Melancholie dem Genre der Pilgerreise entsprechend in der Regeneration des Subjekts. Dabei hat das Meer, wie zu zeigen ist, eine entscheidende Funktion. Das Glühen des Geistes (»the glow/ Which in my spirit dwelt«), das konkret auf die zu löschende Flamme der nächtlichen Kerze zurückverweist, wurde in der Forschung als Ausdruck völliger Negation am Ende des Textes gelesen – als Zeichen des enthusiastisch-schaffenden Genies, das über seiner versiegenden Kreativität verzweifelt. Im Hinblick auf den anthropologischen Kontext der Melancholie ist das Glühen allerdings ein Merkmal des Schwärmers, dessen verzehrendes inneres Feuer eine Gefährdung für das Subjekt darstellt und auf einen problematischen Weltbezug hindeutet, der auf der Verabsolutierung der subjektiven Einbildungskraft basiert.101 In diesem Kontext ist die ambivalente 100

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McGann, der das Ende der Pilgerschaft im Gegensatz zu Positionen wie etwa Gleckners – für den sie in Verzweiflung, im Nichts mündet (Byron and the Ruins of Paradise, S. 297) – als positive Entwicklung innerhalb des Textes versteht, spricht von der Heilung der selbstzerfleischenden Leidenschaften des Sprechers, führt diese These aber vor allem auf seine Identifi kation mit dem unvergänglichen Element des Ozeans zurück (vgl. McGann, Fiery Dust, S. 137). Siehe dazu die grundlegende Arbeit von Hans-Jürgen Schings, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977. Die beiden Traditionslinien des Melancholikers zwischen Genie und Wahn-

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Formulierung »[t]he spell should break« bedeutsam, da sie sowohl Bedauern (über den Zauber, der sich auflöst) als auch Erleichterung (über das Brechen eines Banns) ausdrücken kann. In der Bedeutung des Endes eines Zauberbanns, dessen Resultat der vorliegende Text darstellt, verweist der Vers zurück auf die Gegenüberstellung von Traumwelt und ›starker‹ Realität (»strong reality«) in den Strophen 6 und 7, die eingangs diskutiert wurden. Der Pilger verläßt am Ende seines Textes das Feenland der Imagination, das die Gefahr des idealistischen Solipsismus birgt, der das nach innen gekehrte melancholische Subjekt kennzeichnet. Für den Prozeß der Genesung des melancholischen Ichs ist die Bestätigung der transzendentalen Einheit des erinnernden und erinnerten Ichs im Schreibakt in der letzten Strophe zentral, da sie die Klage über die Zerrissenheit und den Verlust des modernen Subjekts letztlich auflöst.102 In der ›transzendentalen‹ Erinnerung des Sprechers wird – ähnlich wie in Novalis’ »Hymnen an die Nacht« oder in Wordsworths »Immortality Ode« – das melancholische Verlustbewußtsein überwunden.103 Die Projektion des Sprechers auf das Meer setzt ein komplexes Spiel von Erinnern und Vergessen frei, das die Einheit des Subjekts affirmiert. Als Kind überließ sich der Sprecher der Bewegung des Meeres und partizipierte an der Stärke des Ozeans sowie an seiner Freiheit im Spiel mit den Wellen. Dieser Kontinuität zwischen Kind und Erwachsenem scheint allerdings der nachdrückliche Hinweis des Sprechers auf seine Veränderung in der zweiten Hälfte der Strophe zu widersprechen – »but I am not now/ That which I have been« (CPW II, 186). Der Widerspruch zwischen der Feststellung der Diskrepanz von Vergangenheit und Gegenwart und die gleichzeitige Affirmation der Kontinuität des Subjekts läßt sich durch zwei Begriffe klären, die Paul Ricœur in seiner Identitätstheorie verwendet: die Selbstheit (ipse) und die Selbigkeit (idem).104 Die transzendentale Erinnerung des Schreibaktes bestätigt ein ipse und nicht ein idem. Die Selbstheit (ipse) konstituiert in der Erneuerung seines

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sinn sind pointiert zusammengefaßt bei Christine Lubkoll: »›Mon esprit s’exile‹. Erinnern und Vergessen in melancholischen Gedichten der Romantik«. In: Günter Oesterle (Hrsg.), Erinnern und Vergessen in der europäischen Romantik. Würzburg 2001, S. 159–176, hier S. 162. Die folgenden Überlegungen zum Verhältnis von Melancholie und Erinnerung basieren auf den Ergebnissen von Christine Lubkolls Untersuchung zur melancholischen Verlusterfahrung in romantischen Gedichten (Lubkoll, »Erinnern und Vergessen«). Zu Novalis’ Projekt einer ›transzendentalen‹ Erinnerung vgl. Lubkoll, »Erinnern und Vergessen«, S. 166–168. Unter einer transzendentalen Erinnerung begreift Christine Lubkoll die »Konstellation eines Erinnerns, das ein Vergessen ist (bzw. eines Vergessens, das eine ›andere‹, eine utopische Erinnerung entbindet)« (S. 168). Erinnert wird die Alleinheit, die dem differenzierenden Bewußtsein vorausgängig sei. Vgl. Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer (aus dem Französischen von Jean Greisch). München 1996. Dort besonders die »Fünfte Abhandlung: Personale und narrative Identität«, S. 141–171.

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Versprechens – ausgedrückt in der performativen Sprachäußerung »as I do here« – die personale Identität, die unabhängig von der Selbigkeit (idem) ist, die dem Wandel in der Zeit unterliegt. Der Sprecher kann letztendlich Zeitlichkeit und Veränderung bejahen, sich in die Zeitlichkeit stellen, da er seine personale Identität und damit Einheit in einem ›selbst-ständigen‹, narrativen Akt bekräftigt.105 Der Sprecher identifiziert sich am Ende des Versepos, so läßt sich nun sagen, mit dem Meer, da er mit ihm die paradoxale Konstruktion von Kontinuität und Veränderung, von Bewegung und Konstanz, in seiner Bestimmung des Selbst teilt. Er tritt am Ende des Textes als schreibendes Subjekt auf, das sich der Zeitlichkeit gerade nicht entzieht, wie es in der Forschungsdiskussion wiederholt formuliert wurde. Die letzte Strophe des Versepos zeugt durch die dreimalige steigernde Verwendung des Wortes ›farewell‹ im Sinne des Abschiednehmens, von der Akzeptanz der Zeitlichkeit: Farewell! a word that must be, and hath been— A sound which makes us linger;—yet—farewell! Ye! who have traced the Pilgrim to the scene Which is his last, if in your memories dwell A thought which once was his – if on ye swell A single recollection, not in vain He wore his sandal-shoon, and scallop-shell; Farewell! with him alone may rest the pain, If such there were – with you, the moral of his strain! (IV 186; CPW II, 186)

Erneut wird hier der Abschied, mit dem das Versepos Childe Harold bereits im ersten Canto begonnen hat, als Ausdruck von Zeitlichkeit und Verlust aufgerufen. Es ist eine Geste, die für das Subjekt unumgänglich melancholisch ist – »a word that must be, and hath been—/ A sound which makes us linger«. Dem Impuls des Verweilens steht in der zweiten Hälfte des zweiten Verses nach dem Semikolon das zögerliche, aber dennoch affirmierende »—yet—farewell!« gegenüber. Die dritte Wiederholung im vorletzten Vers zeigt keine solche Einschränkung mehr, sondern formuliert das Lebewohl als emphatischen Ausruf: »Farewell!« Die Melancholie hat sich bei der Betrachtung der italienischen Ruinen und der ruinösen Gegenwart Italiens von einer subjektiven Stimmung 105

Zum Begriff der ›Selbst-Ständigkeit‹, der auf Martin Heidegger zurückgeht, und seine Beziehung zum Versprechen vgl. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, S. 153f. Galperins interessante Beobachtung über die Formulierung »as it were« (›gleichsam‹) aus Strophe 184 bekräftigt die These einer narrativen Dimension der Identitätskonstruktion: »The employment of ›as it were‹ to qualify ›child of thee‹ is more than a self-conscious effort to make clear the symbolic nature of this memory; it is a fairly compelled demonstration of the way language, or writing, has interfered with the ability to remember what it is truly like to be a child.« (Galperin, The Return of the Visible, S. 270) Allerdings hebt Galperin auf die negative Dimension der Sprache ab.

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zur politischen Gestimmtheit transformiert. Der Text erhält die Aufgabe – wie das Lied der Römer auf den Feldern, Tassos Lied und das Lied der attischen Muse –, den Freiheitsgedanken wachzuhalten und an den Rezipienten weiterzureichen, worauf der mittlere Teil der letzten Strophe reflektiert. Falls diese Rezeption des Textes gelingt, hat der Wanderer seine Sandalen und die Jakobsmuschel – Embleme des religiösen Pilgers auf dem Weg ins Heilige Land – nicht vergeblich getragen: »if in your memories dwell/ A thought which once was his, if on ye swell/ A single recollection, not in vain/ He wore his sandalshoon, and scallop-shell«. Es wird im Text zwar immer noch ein Verlust erinnert, aber nicht mehr die verlorene Einheit des Subjekts, sondern die verlorene Freiheit, deren Wiedergewinnung zur Bestimmung des Dichters wird. Das Selbstverständnis des Pilgers verändert sich insofern vom ersten Canto, wo Harold sich noch als verstoßener Exilant sieht, hin zum Verteidiger der Idee der Freiheit, in dem Sprecher und Protagonist zu einer autobiographischen Persona verschmelzen.106 Dieser Wandel innerhalb des Cantos soll abschließend durch den Blick auf die Tropen des Textes, die auf zyklische bzw. lineare Konzeptionen verweisen, argumentativ gestützt werden. Dazu zählen neben dem Meer das Echo und die elektrische Kette. 4.7.

Zirkularität und Linearität: Echo, Kette, Meer

Verschiedene sinnstiftende Figuren wie das Echo, die Kette und das Meer, die zirkuläre, zyklische und lineare Vorstellungen repräsentieren, konkurrieren im vierten Canto miteinander, was die These bekräftigt, daß es sich um einen Schwellentext handelt, der mit verschiedenen Positionen experimentiert. Auffällig ist zunächst vor allem die häufige Verwendung der Figur des Echos, das als Klang und verdoppelnder Nachklang eine zirkuläre, auf sich selbst verweisende Wechselrede beschreibt. Die Figur des Echos geht auf die antiken mythologischen Gestalten von Echo und Narziß aus Ovids Metamorphosen zurück.107 In Childe Harold verweist das Echo immer wieder auf einen verlorenen Zustand. Byrons intertextuelle Verwendung des antiken Mythos adaptiert ein charakteristisches Moment der Kommunikation zwischen Narziß und

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Die Bedeutung der Dichterfiguren in Childe Harold, die zu Verteidigern der Freiheit wurden, betonen etwa McGann sowie Malcolm Kelsall in seiner Untersuchung Byron’s Politics. Brighton 1987 (vgl. S. 79–81). McGann, der auf Byrons Bemühen in Childe Harold IV verweist, den Künstler an die Spitze einer Bewegung des risorgimento zu stellen, argumentiert jedoch, daß die revolutionäre Dimension des Textes am Ende in den Hintergrund trete (vgl. McGann, Fiery Dust, S. 130). Vgl. Publius Ovidius Naso, Metamorphosen (Lateinisch/Deutsch). Hrsg. u. übersetzt von Michael von Albrecht. Stuttgart 1994, S. 147–159. Über Echo heißt es dort im dritten Buch: »Echo war noch ein Wesen, kein leerer Schall; doch hatte die Schwätzerin schon damals keine andere Möglichkeit zu sprechen als jetzt. Sie konnte nämlich von vielen Worten nur die letzten wiederholen.« (S. 149 = III, 359–361)

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Echo, das auf der Differenz zwischen Original und Reproduktion basiert: Die Nymphe Echo kann mit ihrer Stimme lediglich die letzten Silben des Gesagten wiederholen, wodurch ihrer Rede eine Spur der Differenz eingeschrieben ist.108 Das Thema des lautlichen Verlusts zwischen Klang und Widerhall wird in Byrons Versepos auf eine zeitliche Achse gespiegelt, um den Abstand anzuzeigen zwischen defizitärer Gegenwart und idealer Vergangenheit, der allerdings als utopische Projektion verstanden werden muß. Dabei erhält die mythologische Erzählung eine politische Dimension. Wie gezeigt wurde, beobachtet der Sprecher schon gleich zu Beginn des Cantos, daß Tassos Echos aus Venedig verschwunden seien: »In Venice Tasso’s echoes are no more« (CPW II, 125), wodurch indirekt auf den Zustand der politischen Unfreiheit Venedigs hingewiesen wird. Die Stimme des Echos kann in der Gegenwart zumindest die Erinnerung an die Idee der Freiheit wachhalten. Die männliche Perspektive des Narziß – präsent in der Metapher des zerbrochenen Spiegels aus Canto III, Strophe 33 (»as a broken mirror, which […] makes/ A thousand images of one that was,/ The same«, CPW II, 88) –, die, um es nochmals in den Worten Paul Ricœurs zu formulieren, auf Selbigkeit abzielt und den Verlust der Einheit des Subjekts beklagt, wird im Bild des Echos mit der Differenz des weiblichen Widerhalls konfrontiert – im Echo bleibt das Verlorene als Spur des Abwesenden anwesend.109 So endet der Text mit der bereits zitierten Feststellung des Pilgers, daß sein Thema nun in ein Echo verebbt sei – »my theme/ Has died into an echo« (CPW II, 186). Damit wird nochmals an exponierter Stelle der Blick auf das Echo als Rezeptionsmodell gelenkt. Die Pilgerschaft des autobiographischen Sprechers, die sich im geschriebenen Text manifestiert, war erfolgreich, wenn der Adressat sich durch den zum Echo gewordenen Text an das Verlorene erinnert: »if on ye swell/ A single recollection, not in vain/ He wore his sandal-shoon […]« (CPW II, 186).110 Am Ende des Textes findet ein Wechsel von der Identifikation mit dem männlichen Narziß zur weiblichen Echo statt.

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Zur Bedeutung des Echoprinzips um 1800 vgl. die Untersuchung von Christine Lubkoll, »Männlicher Gesang und Weiblicher Text? Das Verwirrspiel der Autorschaft in Clemens Brentanos Der Sänger«. In: Ina Schabert/Barbara Schaff (Hrsg.), Autorschaft. Genus und Genie in der Zeit um 1800. Berlin 1994, S. 191–211, bes. S. 199–205. Wie an die Stelle von Einheit und Einzigartigkeit Vielheit und Mannigfaltigkeit tritt (vgl. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, S. 144), zeigen die späteren Texte Beppo und Don Juan, in denen die Funktion des Echos von der Groteske übernommen wird. Nicole Frey Büchel kommt in ihrer Untersuchung zu Identität und Performanz bei Byron in bezug auf Childe Harold zu einem ähnlichen Ergebnis. Die Suche nach dem wahren, authentischen Byronischen Selbst werde, so Frey Büchel, von einem performativen Selbstentwurf des Pilgers abgelöst: »He finally accepts continual performance as an integral element of identity and of selfrepresentation.« (Frey Büchel, Perpetual Performance, S. 106) Auch hier werden Echo und Erinnerung (»recollection«) wieder zusammen genannt, wobei die Verwendung der Begleitverben sich signifi kant verändert. Das Verb »rake« aus IV, 75, das eine mechanische Vorstellung des Gedächtnisses suggeriert, wird in IV, 186 durch »swell«

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Dem Echo steht in wirkungsästhetischer Hinsicht das Bild der elektrischen Kette gegenüber, das moderne naturwissenschaftliche Erkenntnisse über den Stromfluß aufgreift, wie seine verbindenden und leitenden Eigenschaften sowie seine unmittelbare und unsichtbare Wirkung.111 Im Gegensatz zum zirkulären Erinnerungsmodell des Echos betont die Vorstellung der elektrischen Kette einen linearen Wirkungstyp. Die bereits erwähnte »electric chain« (CPW II, 182) wird im Zusammenhang mit dem jähen Tod der Prinzessin Charlotte Augusta bei der Geburt ihres Kindes genannt, der die gesamte englische Nation erschütterte, da sie die Hoffnung auf politische Reform und Freiheit verkörperte. Ihr Tod stellt zyklische Konzeptionen der Erneuerung des Lebens in Frage – ausgedrückt in oxymoronischen Bildern wie »[t]hy bridal’s fruit is ashes« –, und die damit verbundene Annahme einer wiederkehrenden Erneuerung in der Zukunft: »How we did entrust/ Futurity to her!« (CPW II, 181)112 Die Wirkung dieser Nachricht auf die Nation wird im Bild der elektrischen Kette festgehalten, die alle ›Glieder‹ des Staates unsichtbar miteinander verbindet: »From thy Sire’s to his humblest subject’s breast/ Is linked the electric chain of that despair […].« (CPW II, 182) Das Bild der elektrischen Kette demonstriert nicht nur die Verbindung aller Menschen zu einer Nation, sondern auch ihre potentielle Gleichheit: »Whose shock was as an earthquake’s, and opprest/ The land which loved thee so that none could love thee best.« (CPW II, 182)113 Lineare und zyklische Konzeptionen werden auch in der Wassermetaphorik des Cantos miteinander konfrontiert. Die emphatische Apostrophe des Meers, die den Text beendet, stellt einen progressiven Gegenentwurf zur Schilderung des Sees Nemi in den Strophen 167–172 dar, die direkt an die Passage über Prinzessin Charlotte und die elektrische Kette anschließen.

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ersetzt, das auf ein dynamisches Erinnerungskonzept hinweist. Vgl. auch Byrons Anmerkung zu Strophe 75 (CPW II, S. 248f.). Daß Byron mit den aktuellen naturwissenschaftlichen Theorien des elektrischen Flusses vertraut war, legt u.a. Mary Shelleys Roman Frankenstein nahe, der aus der berühmten Begegnung der Shelleys mit Byron am Genfer See im Sommer 1816 hervorging. Vgl. dazu das Vorwort des Romans, in dem die Autorin sich über die Gespräche zwischen Byron und Shelley zum Galvanismus – der nach den Experimenten von Luigi Galvani Ende des 18. Jahrhunderts benannt ist – äußert (Mary Shelley, Frankenstein (»Introduction« [1831]), S. 8). Diese Episode wird komplementiert von der Geschichte der Caritas Romana, die auf Pompeius Sextus Festus’ De Verborum Significatione zurückgeht. Das oxymoronische Bild einer Tochter, die ihrem Vater die Brust gibt, um ihn am Leben zu erhalten, verkehrt ebenfalls den Lebenszyklus, hier aber auf positive Weise (CPW II, S. 174f.). Zur Bedeutung der Elektrizität und ihrer unsichtbaren Wirkung, die im Kontext von revolutionären Bestrebungen nicht nur metaphorisch verstanden wurde, vgl. Tim Fulford, »›Man Electrified Man‹: Romantic Revolution and the Legacy of Benjamin Franklin«. In: Fulford/ Debbie Lee/Peter J. Kitson, Literature, Science and Exploration in the Romantic Era. Bodies of Knowledge. Cambridge 2004, S. 179–197.

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Lo, Nemi! navelled in the woody hills So far, that the uprooting wind which tears The oak from his foundation, and which spills The ocean o’er its boundary, and bears Its foam against the skies, reluctant spares The oval mirror of thy glassy lake; And, calm as cherish’d hate, its surface wears A deep cold settled aspect nought can shake, All coiled into itself and round, as sleeps the snake. (IV, 173; CPW II, 182)

Der Sprecher rekurriert in seiner Verzweiflung über den Tod der Prinzessin Charlotte, der die Hoffnung auf Reformen scheitern läßt, auf ein zirkuläres Bild. Der See erweckt in seiner Abgeschlossenheit und engen Begrenzung den Anschein eines ovalen Spiegels (»oval mirror«), der sich allen äußeren Einflüssen entzieht. Der Wind, der selbst die Eiche entwurzelt und den Ozean über seine Grenzen treibt, kann dem zurückgezogenen, in sich ruhenden See nichts anhaben. Insofern ist er ein Symbol des Ewigen, was durch den Vergleich mit dem Bild der in einen Kreis zusammengerollten Schlange – einem traditionellen Zeichen des Unendlichen – bekräftigt wird. Dieser Flucht aus der Zeitlichkeit wird in der Strophe jedoch auch entgegengearbeitet, indem dem See gleichzeitig negative Konnotationen zugeschrieben werden. Seine ruhige, unbewegte Wasserfläche assoziiert der Sprecher mit verhaltenem Haß (»calm as cherish’d hate«). Der Verweis auf die spiegelartige, kalte Erscheinung des Sees, die nichts erschüttern kann, betont den narzißtisch-solipsistischen Aspekt, der zurückverweist auf die Selbstcharakterisierung des Sprechers über den zerbrochenen Spiegel und das kalte Herz in Canto III. Der Vergleich des Gewässers mit der kreisförmigen, in sich gekehrten Schlange signalisiert nicht nur Ewigkeit, sondern ebenso reine Selbstbezüglichkeit und Stagnation als fruchtloses Kreisen in sich selbst.114 Das akzentuiert auch der Vergleich zwischen dem See und dem Ozean, wenn es heißt, daß das Meer seine Grenzen übertritt, aber nicht der See. Der Wind – schon in Shelleys »Ode to the West Wind« eine Metapher für den revolutionären Zeitgeist – verbindet sich mit dem Ozean in einer aufwühlenden (»uprooting«) Bewegung, die den in sich ruhenden See ausspart. In der »Dedication« zu dem ottava rima-Gedicht Don Juan, das Byron drei Monate nach der Veröffentlichung des vierten Cantos von Childe Harold zu schreiben begann, werden See und Meer erneut pointiert gegeneinander in Stellung gebracht – dort mit der Absicht, die ästhetischen und politischen Vor-

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Obwohl McGann diese und die folgende Strophe, in der sich der Sprecher von einem erhöhten Aussichtspunkt dem Meer zuwendet, zusammen bespricht, bezieht er die offensichtlichen Gegensätze, die See und Meer repräsentieren, nicht aufeinander (vgl. McGann, Fiery Dust, S. 124–126). Das Bild der sich ringelnden Schlange bringt McGann dagegen mit dem »forgiveness curse« in Verbindung.

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stellungen der romantischen Lake Poets zu ironisieren und als engstirnig und begrenzt zu entlarven: »There is a narrowness in such a notion/ Which makes me wish you’d change your lakes for ocean.« (CPW V, 4) Das Meer verweist in Childe Harold IV in der Schlußpassage des Textes auf ein lineares Vorwärtsschreiten, das die Formulierung »thou goest forth« hervorhebt. Seine horizontale Bewegung unterscheidet den Ozean auch vom Wasserfall, der in den Strophen 69–72 beschrieben wurde und in seiner Vertikalität des stürzenden Wassers zyklisches Fallen und Steigen veranschaulicht (vgl. CPW II, 147) – im übrigen eine intertextuelle Anspielung auf Gedichte Shelleys wie »The Cloud« und »Mont Blanc«, die im Zusammenhang mit Wasser zyklische Konzeptionen beschreiben. Zyklische und lineare Strukturen werden nebeneinander gestellt, wobei das zyklische ›Laufrad‹ der Zeit auch und vor allem in bezug auf die überindividuelle Geschichte problematisiert und in Frage gestellt wird. Das Meer ist, wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, für den Sprecher nicht nur individualpsychologisch bedeutsam, sondern es wird zugleich durch seine Eigenschaft der ewigen ›Umwälzung‹ und Bewegung zu einer politischen Metapher, die Byron 1821 im Vorwort zu The Two Foscari explizit ausführt. Dort artikuliert er seine Ansicht, daß eine Revolution unausweichlich sei – »that a revolution is inevitable, I repeat. The government may exult over the repression of petty tumults; these are but the advancing waves repulsed and broken for a moment on the shore, while the great tide is still rolling on and gaining ground with every breaker.« (CPW VI, 224) Die emphatische Adressierung des Meers in Childe Harold IV – »[r]oll on, thou deep and dark blue ocean—roll!« – findet darin ein Echo. Den geschichtsphilosophischen Fortschritt, auf den die Bewegung des Meeres bei Byron verweist, der über den Interessen des Individuums steht, dokumentiert auch ein Eintrag in Byrons Ravenna Journal vom Januar 1821, in dem es im Kontext des italienischen Befreiungskampfs gegen »the Austrian barbarians […], the hounds of hell«, heißt: But, onward!—it is now the time to act, and what signifies self, if a single spark of that which would be worthy of the past can be bequeathed unquenchedly to the future? It is not one man, nor a million, but the spirit of liberty which must be spread. The waves which dash upon the shore are, one by one, broken, but yet the ocean conquers, nevertheless. It overwhelms the Armada, it wears the rock, and, if the Neptunians are to be believed, it has not only destroyed, but made a world. In like manner, whatever the sacrifice of individuals, the great cause will gather strength, sweep down what is rugged, and fertilize (for sea-weed is manure) what is cultivable. (BLJ 8, 20)

In diesem Tagebucheintrag führt Byron aus, wie er das Voranschreiten des Meeres versteht: Die einzelnen Wellen zerbrechen zwar am Ufer, aber am Ende besiegt der Ozean den Felsen und überwältigt die Armada. Obwohl einige Jahre nach dem vierten Canto von Childe Harold geschrieben, weist das Zitat 317

eine nahezu identische Thematik auf und sogar die Wortwahl wiederholt sich. Die narzißtischen Interessen des Selbst werden zugunsten der großen Aufgabe – den Geist der Freiheit zu verbreiten – zurückgestellt. Das einstige Ideal der Vergangenheit, das in der Gegenwart verloren ist, soll für die Zukunft gerettet werden. Das betonte ›onward‹ wird auch hier mit der Notwendigkeit des aktiven Eingreifens verbunden. Byron stiftet in Childe Harold IV den Mythos Meer, der nicht nur eine ästhetische, sondern vor allem eine politische Dimension besitzt.115 Wie in Kapitel II. gezeigt wurde, rezipiert Heine im Umfeld seiner Reisebilder Byrons politisch konnotierte Akzentuierung der Dynamik des Meers. Die Wende, die der Schwellentext Childe Harold IV einleitet und die direkt zu Texten wie Beppo und Don Juan führt, zeigt sich in der neuen Betonung einer ›starken Realität‹ und ihrer Historizität. Die persönliche Krise des autobiographischen Erzählers im Exil wird in dem Versepos mit der politisch-historischen Situation überblendet, wobei zyklische und lineare Zeitkonzeptionen die Hoffnung ausdrücken, daß sowohl der Sprecher als auch das von ihm bereiste Land Italien sich regenerieren und zu einer neuen Identität finden werden. Die zunächst dominierende Klage über Vergänglichkeit verwandelt sich durch einen narrativen Akt der Identitätssetzung am Ende des Cantos in eine Akzeptanz der Zeitlichkeit. Denn die Zeit birgt als Veränderung und Wandel nicht nur zerstörendes, sondern auch erneuerndes Potential in sich – eine Qualität, die Byron wie in dem zitierten Tagebucheintrag auch dem Meer zuschreibt. Auch in biographischer Hinsicht wird die Klage über die Zerstückelung Italiens nach der Niederlage Napoleons und die Fremdherrschaft Österreichs nach dem Wiener Kongreß abgelöst vom aktiven Eingreifen in den politischen Prozeß und von der Erwartung einer politischen Erneuerung, die das Fortschreiten der Geschichte mit sich bringt. Für eine gesellschaftliche und politische Erneuerung kämpften in Italien Geheimgesellschaften wie die Carbonari, an deren revolutionären Aktivitäten Byron durch die Familie Gamba, den Vater und Bruder seiner Geliebten Teresa Guiccoli, beteiligt war.116 Die nationale 115

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Zur Wassermetaphorik wiederum in der deutschen Literatur um 1800 vgl. Bernhard Blume, »Die Kahnfahrt. Ein Beitrag zur Motivgeschichte des 18. Jahrhunderts«. In: Euphorion 51 (1957), S. 355–384. Blume beobachtet im 18. Jahrhundert eine Dominanz von Seen und Flüssen, die die »allegorische Gleichsetzung von Schiffahrt und Lebensreise, von Meer und Dasein« ablöse (S. 356). Erst bei Herder, Schiller und Goethe – etwa in den bekannten Gedichten »Meeresstille« und »Glückliche Fahrt« – trete in der deutschen Literatur das Meer wieder in Erscheinung (vgl. S. 382–384). Das Meer besitzt dort aber keine nennenswerte politische Dimension. Über Byrons drei Dramen zur italienischen Geschichte Marino Faliero, The Prophecy of Dante und The Two Foscari hält Wilfred S. Dowden in seinem Beitrag »The Consistency of Byron’s Social Doctrine« fest: »These three works on Italian history, all of which dealt with the problem of Italian freedom, were published at a time when unification was the primary question and the Carbonari were secretly active. They could not have escaped official notice. Byron’s letters to his friends in England at this time are full of allusions to the situation in Italy and

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Einigungsbewegung Risorgimento, wie sie sich einige Jahre später um ihren wichtigsten Anführer Giuseppe Mazzini nannte, der ein glühender Verehrer Byrons war, steht mit ihrem Namen genau für jenen Glauben an Erneuerung und Fortschritt, der am Ende von Childe Harold IV in der Apostrophe des Meers und seiner unablässigen Bewegung artikuliert wird. Die neue Emphase der Bewegung und die Hinwendung zu einer ›starken Realität‹, die in der mittelalterlich-verträumten, streng geschlossenen Spenserstrophe formal nur schwer umzusetzen ist, bedürfen einer neuen, adäquateren Ausdrucksform, wie sie Byron kurze Zeit später in der italienischen ottava rima-Strophe fand, in der seine wichtigsten späten Texte geschrieben sind.117 Die Differenzerfahrung des verzweifelten, melancholischen Subjekts, die im Laufe des vierten Cantos von Childe Harold immer wieder thematisch wird, besitzt vom Anfang bis zum Ende des Textes eine politische Dimension und ist als ›melancholische‹ Verlusterfahrung politischer Freiheit und Selbstbestimmung der Nationen präsent. Im Unterschied zu epochentypischeren Reisemodellen wie dem Typus der Gelehrten- oder Bildungsreise nach Italien entwirft Byron seinen Text an der frühen literarischen Form der Pilgerreise. Im letzten Canto wird das volle Potential dieses Genres aktiviert, wenn der Pilger sich geistige und politische sowie ästhetische Erneuerung erhofft am Modell der Renaissancedichter – Italiens »[s]pirits which soar from ruin« (CPW II, 142).

5.

Heines Reise von München nach Genua (1828): Elegische Klage und politischer Aufbruch vor der Juli-Revolution

Auf einige Vergleichspunkte zwischen Heines Reise von München nach Genua und Byrons Childe Harold IV, die eine produktive Rezeption von Byrons Versepos in Heines Reisebild nahelegen, wurde einleitend zu diesem Kapitel bereits hingewiesen. Als Text, in dem konträre geschichtsphilosophische Modelle miteinander konfrontiert werden, ist Heines Italienreisebild von vergleichbaren Spannungen durchzogen wie Childe Harold IV. Die Reise von München nach Genua, die aus vierunddreißig Kapiteln besteht, folgt chronologisch den Stationen der Reise und beginnt – wie schon der Titel

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of his own active participation in these affairs.« (Zitiert nach: von Bremen, Byron als Erfolgsautor, S. 96). Die Forschung ist sich einig, daß am Ende von Childe Harold IV eine neue Kunst notwendig wurde, begründet dies aber auf ganz unterschiedliche Weise. Vgl. etwa Bone, »Childe Harold’s Pilgrimage IV«, S. 156, Graham, Lord Byron, S. 144, Rawes, Byron’s Poetic Experimentation, S. 137f. sowie Andrew Rutherford, der den Text als Wendepunkt zwischen Byrons niedergedrückter Stimmung 1816, dem Jahr seiner Flucht aus England, und der »coming revolution in his [Byrons, A.B.] whole poetic manner and technique« sieht, die ihren Ausdruck in der lebendigeren, vitaleren und authentischeren Schreibweise von Beppo finde (Byron. A Critical Study, S. 93 u. 102).

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vermuten läßt – in München und endet in Genua. Der in der ersten Person erzählte Text imitiert durch seine autodiegetische Erzählhaltung das verbreitete Genre des dokumentarischen Reiseerlebnisberichts, der mit der Stimme des reisenden Autors selbst spricht. Mit dieser authentifizierenden Beglaubigung spielt der Text, wenn er die autobiographischen, faktischen Details von Heines Reise nach Italien mit fiktionalen Elementen durchsetzt, so daß das Genre des dokumentierenden Reiseberichts mit dem literarisch-fiktionalen Aspekt des Reisebilds überformt wird. Heterogene Themenbereiche werden in dem Text, den Heine noch während seines Aufenthalts in Lucca zu schreiben begann, ähnlich wie in seinen anderen Reisebildern scheinbar ›bunt zusammengewürfelt‹. So stehen die Geschichtsreflexionen und die prominente Auseinandersetzung mit dem Genre der Italienreisebeschreibungen neben dem zentralen, aber weniger evidenten (Leit-)Motiv der geheimnisvollen Maria; poetologische und ästhetische Fragestellungen kontrastieren mit politischen und zeitgeschichtlichen. Die offene, assoziative Struktur der Narration von Erinnerungen, Beobachtungen und Erlebnissen, die schon für die vorhergehenden Reiseberichte wie Die Nordsee III oder Ideen. Das Buch Le Grand charakteristisch war, prägt auch Heines erstes Reisebild über Italien. Dabei stellt sich aber dennoch die Frage, ob die äußerst heterogenen Themenkomplexe zueinander in einem Bezug stehen –, denn jeder einzelne – die Geschichtsreflexionen und die Kunstbetrachtungen ebenso wie die Reise nach Italien oder die Erinnerung an Maria – könnten beanspruchen, das zentrale Thema des Textes zu sein. Während sich die Forschung zur Reise von München nach Genua bislang vorwiegend auf einen dieser Punkte konzentrierte, sollen in der folgenden Analyse die unterschiedlichen Aspekte des Textes vor dem Hintergrund der oben erfolgten Lektüre von Childe Harold IV in einen thematisch-funktionalen Zusammenhang gestellt werden. Dabei wird deutlich, daß Byrons Versepos nicht nur als ein zentraler Intertext fungiert, mit dem sich Heine von der deutschen Tradition der Italienreisebeschreibungen in der Folge Goethes distanziert, sondern daß die beiden Texte unter dem Aspekt der Bewältigung von Zeitlichkeit in der italienischen ›Ruinenlandschaft‹ eine vergleichbare Bewegung vollziehen. 5.1.

Krise und Pilgerschaft

Innerhalb einer historischen Typologie der Italienreisen ist Heines fiktionale Reisebeschreibung weitaus weniger offensichtlich als Pilgerreise zu erkennen als Byrons Versepos Childe Harold, das den Begriff der Pilgerschaft schon im Titel hat.118 Trotzdem gibt es strukturelle Merkmale des Textes, die eine Betrachtung unter dem Aspekt der Pilgerreise nahelegen. Passend zum Genre 118

Zum Typus der Pilgerreise siehe Grimm/Breymayer/Erhart, »Ein Gefühl von freierem Leben«, S. 14.

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steht am Anfang des Textes eine persönliche Krise des Erzählers, die zum Aufbruch von München nach Italien führt und Heines autobiographische Situation als Redakteur in München widerspiegelt, während das Ende der Reise eine überraschende Form der ›Wiedergeburt‹ thematisiert, die im weiteren noch genauer zu deuten sein wird. Die ersten fünf Kapitel schildern die Unzufriedenheit des Erzählers mit der gesellschaftlichen und künstlerischen Stagnation, die sich unter anderem in seinem ›unpolitischen‹ Gespräch mit dem Philister über die »schöne Witterung« (DHA 7/1, 15) und über München als »neues Athen« (DHA 7/1, 19) zeigt. Zugleich befindet sich der Erzähler in einem Zustand körperlicher Schwäche und geistig-spiritueller Niedergeschlagenheit, den er als »Winter in [s]einer Seele« (DHA 7/1, 24) beschreibt: »Gedanken und Gefühle waren wie eingeschneit, es war mir so verdorrt und todt zu Muthe, dazu kam die leidige Politik, die Trauer um ein liebes gestorbenes Kind, und ein alter Nachärger und der Schnupfen« (DHA 7/1, 24). Sein Blick zu Beginn des Frühlings vom »Montgelasgarten« (DHA 7/1, 23) in den Süden, in die Tiroler Alpen, verheißt ihm Erlösung aus dieser winterlichen Erstarrung: Endlich kam der Tag, wo alles ganz anders wurde. Die Sonne brach hervor aus dem Himmel [...], es krachten und brachen die Eisdecken der Seen [...], die ganze Natur lächelte, und dieses Lächeln hieß Frühling. Da begann auch in mir ein neuer Frühling, neue Blumen sproßten aus dem Herzen, Freyheitsgefühle, wie Rosen, schossen hervor, auch heimliches Sehnen, wie junge Veilchen, dazwischen freylich manch unnütze Nessel. Ueber die Gräber meiner Wünsche zog die Hoffnung wieder ihr heiteres Grün, auch die Melodieen der Poesie kamen wieder, wie Zugvögel, die den Winter im warmen Süden verbracht […]. (DHA 7/1, 24)

Die organische Metaphorik, die hier verwendet wird, beschwört die Partizipation des Individuums an der zyklischen Erneuerung der Natur. Das Pathos des Neuen – ein »neuer Frühling«, »neue Blumen«, die »neue Verzauberung« (DHA 7/1, 25) seines Herzens sowie der Frühling, der in seinem »Herzen aufs Neue geweckt« (DHA 7/1, 24) wurde – bezieht sich auf die Wiederbelebung der »Freyheitsgefühle« ebenso wie auf die Rückkehr von Dichtung und Poesie. Die Hoffnung auf Veränderung und Regeneration wird direkt mit Italien assoziiert, das den Erzähler mit »Zitronen- und Orangendüften« (DHA 7/1, 25) anweht. In der »goldenen Abenddämmerung« sieht der Erzähler einen mit »Blumen und Lorbeeren« geschmückten »Frühlingsgott« über den Bergen – vermutlich ist der schöne Jüngling Adonis gemeint, der zu Beginn des Frühlings zur Erde zurückkehrt –, der ihn »mit lachendem Auge« zu sich in sein »Residenzland Italien« lockt (DHA 7/1, 25). Italien als Pilgerstätte verspricht dem Erzähler nicht nur Erneuerung und Regeneration, sondern auch eine beseelte Natur, wie die Erscheinung des Frühlingsgottes als genius loci prophezeit. Zugleich weist Adonis, der Gott der Schönheit, der Liebe und des Wachstums auf ein zentrales Bedürfnis des Erzählers hin, indem er als liebendes Gegenüber projektiert wird, das Sinn stiftet und die eigene Identität affir321

miert – »Ich liebe dich, komm zu mir nach Italien!«, ruft Adonis dem sehnsüchtigen Erzähler scheinbar von »der Spitze einer Alpe« (DHA 7/1, 25) zu. Daß diese klischeehaften und stereotypen Erwartungen an das Italien der Reiseberichte, für die Goethes Italienische Reise prägend war, Heines Text parodiert, zeigt der weitere Verlauf der Reise, wie etwa die Ankunft in Italien, worauf Guillaume van Gemert in seiner Untersuchung zum Wandel des Italienbildes in Heines Reise von München nach Genua hingewiesen hat.119 Die gezielt gesetzten Kontraste und Distanzsignale erzeugen Komik wie z. B. in der profanierenden Formulierung »ein alter Nachärger und der Schnupfen«, die oben zitiert wurde. Obwohl sich auf diese Weise bereits im Montgelasgarten eine parodierende Kontrafaktur des sentimentalischen Pathos vieler Italienberichte andeutet, bleiben die Hoffnung des unzufriedenen Erzählers auf Erneuerung und das Versprechen der Ganzheit Ausgangspunkt für seine Pilgerreise nach Italien – in das Land, das sogar »den trockensten Philister […] in Extase bringen kann« (DHA 7/1, 26). Auch Goethes Reise nach Italien – darauf weisen Gunter E. Grimm, Ursula Breymayer und Walter Erhart hin – steht ganz im Zeichen der persönlichen Wiedergeburt, die Goethe auf sein Künstlertum bezieht, wie im Brief an den Herzog Karl August vom 25. August 1788.120 Den Autoren zufolge stelle Goethes Reisebeschreibung eine »autobiographische Krisenstrategie« dar, mit der es ihm gelinge, sich aus seiner persönlichen, beruflichen und künstlerischen Krise zu befreien.121 Goethes Reise folgt dem Typus der Bildungsreise nach Italien, die sich unter dem Einfluß Johann Joachim Winckelmanns entwickelt hat. Für sie sind Antikenverehrung und Naturbegeisterung bestimmend – Topoi, die in Heines Italienreise keine Rolle spielen. Heines fiktionalisierte Italienreisebeschreibungen, zu denen neben Reise von München nach Genua noch Die Bäder von Lukka und Die Stadt Lukka gehören, zeichnen sich allgemein durch eine bewußt inszenierte Naturblindheit aus, die auch für die frühen Pilgerreisen charakteristisch war.122 Trotz aller Differenzen zwischen Heines Italienreisebild und Goethes Italienische Reise, die von der Forschung vor allem im Hinblick auf den Prozeß der Politisierung des Italienbildes bei Heine betont werden, ist auch für die Reise von München nach Genua der Aspekt der ›Wiedergeburt‹ bis zum Ende des Textes zentral. Ob und in welcher Weise dem

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Vgl. van Gemert, »Heinrich Heine und der Wandel des Italienbildes«, S. 281. Vgl. Grimm/Breymayer/Erhart, »›Äther ohne Wolken…‹ Mythos und Wirklichkeit in Goethes italienischen Metamorphosen«. In: Grimm/Breymayer/Erhart, »Ein Gefühl von freierem Leben«, S. 57–93, hier S. 71f. Grimm/Breymayer/Erhart, »Mythos und Wirklichkeit«, S. 92. Vgl. Gunter E. Grimm, »Zwischen Erdenjammer und Kunstgenuß: Pilger, Gelehrte, Kavaliere auf Reisen«. In: Grimm/Breymayer/Erhart, »Ein Gefühl von freierem Leben«, S. 17–34, hier S. 17.

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autobiographischen Erzähler die biographische und künstlerische Regeneration gelingt, wird im folgenden noch zu zeigen sein.123 Was aber kennzeichnet Heines Italien als Reiseziel, wenn Antikenkult und Naturbegeisterung in seinem Text in den Hintergrund treten? Als Charakteristika wurden wiederholt Politisierung und Gegenwartsbezug ebenso wie der Aspekt der Zerrissenheit hervorgehoben. Leitmotive wie Kunst und Natur werden, Norbert Altenhofer zufolge, in Heines Reisebildern durch Emanzipation und Forschritt ersetzt.124 Gegenläufig zu dieser Thematik stehe Italien zudem paradigmatisch für die moderne Zerrissenheit, die sich in den geschichtlichen Spuren des Landes aus der Antike und dem christlichen Mittelalter in der Gegenwart äußerlich sichtbar manifestiere.125 Insofern repräsentiere Italiens Zivilisation – wie seine Menschen – das Zerrissene und Kranke und nicht mehr, wie noch für Goethe, das Klassische und Gesunde. Diese Inversion des klassischen Italienbildes führt Altenhofer zu der Annahme, daß Goethe von einer ›Wiedergeburt‹ in Italien sprechen könne, Heines Erzähler aber mit den Italienern die Erfahrung der Krankheit und Zerrissenheit teile.126 Eine Betrachtung des Textes als Pilgerfahrt auf der Folie von Byrons Childe Harold ermöglicht jedoch noch andere Perspektiven auf Heines Reisebild. So tritt mit dieser Akzentuierung das für Pilgerreisen im Barock typische Motiv des Vanitas-Erlebnisses hervor, das die Vergänglichkeit des Irdischen mit der Ewigkeit – der constantia, die in Gott liegt – gegenüberstellt. Die irdische Zeit wird problematisiert angesichts der nur scheinbar ewigen Bauwerke Italiens, die dem Untergang geweiht sind, wie Roms Kolosseum, das als Sinnbild vergänglicher, menschlicher Macht dient. Die religiösen Pilger hofften mit ihrer Pilgerfahrt zu einer spirituellen Erneuerung, zu einem neuen Leben zu gelangen. Symbolisch steht für die Erwartung eines neuen Lebens in Byrons und in Heines Text die sich wieder begrünende Ruine. In Heines Reise von München nach Genua zeigt sich die Hoffnung auf die heilenden Kräfte Italiens bereits im Montgelasgarten, von wo der Erzähler in den Süden blickt. Die Hinweise auf eine Erwärmung des Wetters während der Fahrt nach Italien zu Beginn von Kapitel XIII. und XIV. scheinen die Hoffnungen noch zu bestätigen, denn das Wetter ist eng mit dem Befinden des Erzählers verknüpft, wie sich schon im Montgelasgarten zeigte.127 Aber schon in Trient ist dem Erzähler »so weh-

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So z.B. Jost Hermand und Norbert Altenhofer, die vor allem auf Goethes Italienische Reise als intertextuellen Bezugspunkt von Heines Reise eingehen (Altenhofer, »Heines italienische Reisebilder« und Hermand, Der frühe Heine, S. 132–149). Vgl. Altenhofer, »Heines italienische Reisebilder«, S. 239. Vgl. Altenhofer, »Heines italienische Reisebilder«, S. 242. Vgl. auch Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 146f., der seine Analyse des Reisebilds unter den Aspekt der Zerrissenheit stellt. Vgl. Altenhofer, »Heines italienische Reisebilder«, S. 242. Diese Stellen liest van Gemert als »ein parodistisches Wiederaufgreifen der stereotypischen

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müthig zu Sinn«, daß er sich fragt, ob die »alten deutschen Schmerzen […] jetzt mit nach Italien gekommen« sind (DHA 7/1, 46). 5.2.

Melancholie und Zeitlichkeit

Aber welche »alten deutschen Schmerzen« sind es, die dem Erzähler nach Italien folgen? Als Symptom einer Krankheit lassen sie an den Zustand der Zerrissenheit denken; auf diesen Zusammenhang in der Reise von München nach Genua hat Altenhofer hingewiesen. Für die ›Schmerzen‹ in Heines Italienreisebild ist aber nicht nur der im 19. Jahrhundert bereits zum Schlagwort gewordene Aspekt der Zerrissenheit von Interesse – man denke etwa an Alexander von Ungern-Sternbergs 1832 veröffentlichte Novelle Die Zerrissenen –, sondern auch die damit verwandten Phänomene des Weltschmerzes und vor allem der Melancholie. Zerrissenheit, Weltschmerz und Melancholie sind zwar allesamt charakteristische psychische Folgen der neuzeitlichen Ausdifferenzierung der Gesellschaft und dem damit einhergehenden Prozeß der Individuation als zunehmender Vereinzelung des Subjekts.128 Dennoch können sie nicht vollständig auf dieselbe Ursache und Erscheinungsweise reduziert werden.129 Während der deutschen Wortprägung ›Zerrissenheit‹ die Vorstellung von Entzweiung und Zwiespalt zugrunde liegt und der Begriff auf Gegensätze und Widersprüche in der subjektiven und objektiven Realität verweist,130 kennzeichnet die Melancholie Mangelbewußtsein und Verlustempfinden, die von einer ausgeprägten Phantasietätigkeit begleitet werden.131 Der von Altenhofer an Heines Italienbildern hervorgehobene Aspekt der Zerrissenheit wird dementsprechend auch noch in der jüngeren Forschung in dem zentralen Kon-

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Aussagen über das Wetter, die zum festen Bestand von Goethes Italienischer Reise gehören« (van Gemert, »Heinrich Heine und der Wandel des Italienbildes«, S. 281). Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1997, bes. Bd. 2, Kap. 4, VII: »Ausdifferenzierung von Funktionssystemen« u. VIII: »Funktional differenzierte Gesellschaft«, S. 707–776. Vgl. Heitmann, »Der Weltschmerz in den europäischen Literaturen«, S. 57. Im Grimmschen Wörterbuch wird der Zusammenhang von Weltschmerz und Zerrissenheit bei den Vormärzautoren hervorgehoben: »ohne besonderen anlasz aber z zu sein, seelische ›zerrissenheit‹ also als zustand war die eigenschaft der vom weltschmerz erfüllten vertreter des jungen deutschland; z steht in dieser verwendung für eine blasierte, düstere weltanschauung.« (J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 31, Sp. 743) So nennt das Grimmsche Wörterbuch zunächst als allgemeine Bedeutung von ›zerrissen‹ in bezug auf die seelische Verfassung von Personen folgende Definition: »wenn entgegengesetzte gefühle die vorstellungen und wünsche hin und herreiszen« (Grimm, Deutsches Wörterbuch, Sp. 742). Von den Schwierigkeiten der Differenzierung zwischen den verschiedenen Phänomenen zeugt etwa das Kapitel über Heines Zerrissenheit in Boerners Untersuchung, ›Die ganze Janitscharenmusik der Weltqual‹. Zwar beklagt die Autorin zunächst Friedrich Sengles mangelnde Differenzierung zwischen Weltschmerz und Heines Zerrissenheit (vgl. S. 32), ordnet sie aber sodann in die »weitreichende Tradition« der europäischen Literatur zum Thema Melancholie ein (S. 35).

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flikt, »zwischen Christentum und Antike, Geistigem und Sinnlichem, Romantischem und Klassischem« gesehen, den Heine in seinem Sensualismuskonzept miteinander versöhnen wolle.132 Eine zu frühe Gleichsetzung von Zerrissenheit, Weltschmerz und Melancholie hat dazu beigetragen, daß die vielfältigen Melancholiesignale des Textes, die eine andere Perspektive auf den Text eröffnen, bisher nur wenig beachtet wurden. Auffällig häufig werden in der Reise von München nach Genua melancholische Stimmungen evoziert und Begriffe verwendet, die aus dem semantischen Feld der Melancholie stammen wie das deutsche Synonym ›Wehmut‹, das in dem Text mehr als zehnmal in verschiedenen Ableitungen genannt wird. Zudem werden Topoi aufgerufen, die tradierte Elemente der Melancholie darstellen, wie etwa das Harfenspiel, das der Melancholiedichtung zugeordnet ist. Einer der bekanntesten literarischen Bezugstexte ist das Harfenspiel von Mignons Vater, dem schwärmerisch-melancholischen Harfner aus Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre, der für die Reise von München nach Genua einen wichtigen Intertext darstellt: »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen?« (DHA 7/1, 61) fragt der Erzähler seine Leser am Anfang des XXVI. Kapitels und zitiert dabei das Sehnsuchtslied Mignons, von dem am Anfang des darauffolgenden Kapitels sogar eine gesamte Strophe zitiert wird. In diesem Kontext erweisen sich die Orangen- und Zitronendüfte, die einige Zeit vorher Heines Erzähler in seiner niedergeschlagenen Stimmung im Montgelasgarten aus dem Süden her anwehen, nicht nur als eine intertextuelle Anspielung auf Mignons berühmtes, wehmütiges Lied, sondern sie assoziieren auch die heilende Wirkung der Zitrusdüfte für das melancholische Leiden, die in der Renaissance von Ärzten wie André du Laurens festgestellt wurde.133 Für die neuzeitliche Melancholielehre ist die Epoche der Renaissance von besonderer Bedeutung, da die antiken Lehren über die Schwarzgalligkeit zu dieser Zeit wiederentdeckt wurden, und zwar in Italien von Marsilio Ficino und der platonischen Schule in Florenz.134 Vor allem die Verbindung von Melancholie und Genie, über die vor Ficino schon Aristoteles in der ihm zugeschriebenen Abhandlung Problemata Physica schrieb, erwies sich als äußerst einflußreich für die folgenden Jahrhunderte. Während diese Schrift allerdings noch Philosophen, Politiker und Künstler nennt, auf die dieser Zusammenhang zutreffe, beschränkt ihn Ficino in seinem Werk De Vita ausschließlich auf die Künstler und wertet die Phantasietätigkeit des Melancholikers auf.135 Für Heines

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Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 147. Vgl. Jean Starobinski, Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900. Basel 1960, S. 42. Zu Ficinos Verständnis der Melancholie vgl. Paul Oskar Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino. Frankfurt a.M. 1972, S. 195–213. Vgl. zur Geschichte der Melancholie Klibansky/Panofsky/Saxl, Saturn and Melancholy, dort zu Marsilio Ficino, S. 254–274. Zur Melancholie in der Literatur siehe auch Martina Wag-

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Reise von München nach Genua ergeben sich aus dem Kontext des Melancholiediskurses zwei Aspekte. Das Reiseziel Italien, das sich der Erzähler für seine Genesung ausgesucht hat, erhält zum einen durch die italienische Melancholietradition auf der metanarrativen Ebene noch eine zusätzliche Motivation. Zum anderen verweist der Zusammenhang von Melancholie und Genie auf die poetologische Ebene des Textes, die das Selbstverständnis des Künstlers und seine Dichtungsauffassung zum Gegenstand hat. Die »alten deutschen Schmerzen«, die der Erzähler am Anfang des XVIII. Kapitels in Trient verspürt und die im Text nicht weiter konkretisiert werden, verweisen auf die melancholische Disposition des Erzählers, der im gegenwärtigen Zustand Italiens einen narzißtischen Spiegel für das »pittoreske Weh« in seiner Brust findet (DHA 7/1, 46). Ein Blick auf eine Lesart dieser Stelle zeigt, daß zunächst die Schmerzen noch zusammen mit dem Motiv der Maria genannt werden: »Hat etwa die Erinnerung an die todte Maria ebenfalls die todten Schmerzen geweckt« (DHA 7/2, 736), wodurch sie auf eine konkrete Ursache bezogen waren. Durch den Prozeß der Tilgung wird im endgültigen Text ein wesentlicher Aspekt der Melancholie forciert, denn der »unbekannte Verlust« ist für das Leiden konstitutiv, wie es Sigmund Freud 1916 in seinem Aufsatz über Trauer und Melancholie formuliert hat.136 Zwar könne, so Freud, die Melancholie auch eine Reaktion auf den Verlust eines geliebten Menschen sein, zentral aber sei die Unwissenheit, »was er an ihm verloren habe«.137 Darüber, daß die Figur der Maria, die in den déjà-vu-artigen Erinnerungen des Erzählers leitmotivisch wiederkehrt, in dem Text eine besondere Bedeutung einnimmt, ist sich die Forschung weitgehend einig. Vor allem Michel Espagne widmet sich dem Motiv ausführlich im Zusammenhang mit den Bruchstücken, die von Maria handeln, aber nicht in die endgültige Textfassung aufgenommen wurden.138 Für Espagne stellt die Geschichte der Maria ein »unterirdisches ideologisches Fundament des Textes« dar, das von den Arbeitsmanuskripten bis zum Endtext als Geheimnis konzipiert ist.139 Auch Jürgen Brummack sieht in ihr ein absichtlich rätselhaft gestaltetes Motiv, das

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ner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart 1997. Sigmund Freud, »Trauer und Melancholie«. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von Anna Freud u.a. 18 Bde., Frankfurt a.M. 1999. Bd. 10: Werke aus den Jahren 1913–1917 (Nachdruck der Ausgabe London 1940), S. 431. Freud, »Trauer und Melancholie«, S. 431. Vgl. Michel Espagne, »Die tote Maria: ein Gespenst in Heines Handschriften«. In: DVJs 57 (1983), S. 298–320. Die Streichungen werden in der Forschung auf die Feststellung der inneren Widersprüche des Textes zurückgeführt (vgl. dazu Höhn, Heine-Handbuch, S. 236). Vgl. auch Rita Lennartz, »Marias Epitaph. Eine poetologische Überlegung zu Heines Reise von München nach Genua mit Blick auf Sterne«. In: Ingrid Hennemann-Barale/Harald Steinhagen (Hrsg.), Auf den Spuren Heinrich Heines. Pisa 2006, S. 81–115, die der poetologischen Bedeutung von Lawrence Sternes Maria-Figur in Heines Reisebild nachgeht. Espagne, »Die tote Maria«, S. 303.

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»als Maßstab für den Wert einer Interpretation« gelten könne.140 Während Espagne auf der Basis des Handschriftenmaterials Maria mit einer unveränderlichen, bewegungslosen Natursubstanz in Zusammenhang bringt, deutet sie Gerhard Höhn als Figur der ewigen Wiederkehr, in der die verschiedenen Kreislaufvorstellungen des Textes wie Verfall und Wiedergeburt kulminieren würden.141 Trotz ihrer unterschiedlichen Akzentuierungen verbinden sowohl Espagne als auch Höhn mit diesem Leitmotiv Permanenz und in sich kreisende Dauer.142 Dagegen betont Alfred Opitz im Kommentar der Düsseldorfer Heineausgabe den Aspekt des grundlegenden, individuellen Mangels, auf den die mit romantischen Motiven versehene Geschichte der Maria verweise. Olaf Hildebrands allegorische Lesart der Frauenfiguren in der Reise von München nach Genua geht noch einen Schritt weiter und sieht Maria als Ausdruck der romantischen Seelenverfassung des Erzählers, die aufgrund ihrer Ausrichtung auf das Vergangene überholt sei.143 Schon Brummack warnte allerdings vor einer zu schnellen Reduktion des Motivs der Maria auf die politische Thematik, indem sie als Bild der Romantik gelte, von der sich Heine in seinem Reisebild verabschieden würde.144 Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Ansätze kann festgehalten werden, daß Maria als Geheimnis und damit als zentrales Motiv des Reisebilds angelegt ist. Der Text setzt in bezug auf die Figur der Maria bewußt Leerstellen, wie etwa durch den wiederholten Abbruch der Erzählung oder hinsichtlich ihrer Identität – so bleibt im Text auch offen, ob das ›liebe Kind‹, von dessen Verlust der Erzähler im Montgelasgarten berichtet, Maria ist. Zugleich steht das Motiv, was die Analysen von Höhn und Espagne zeigen, im Spannungsfeld zwischen den Themen der Zeitlichkeit und Ewigkeit, mit denen sich das Reisebild intensiv auseinandersetzt. Maria ist Symptom eines Mangels, der sich nicht nur auf die Trauer um ihren Verlust beschränkt, sondern auch auf die Person des Erzählers selbst in Form einer Identitätskrise bezieht, was Freud zufolge für den Melancholiker charakteristisch ist.145 Insofern kann Maria als Figuration eines modernen Verlustempfindens verstanden werden, das in dem Reisebild allgegenwärtig ist. So unterstreicht auch Walter Erhart, daß im Unterschied zur Selbstvervollkommnung, die Goethe im Süden erfuhr, dem Erzähler der Reise von München nach Genua in Italien alles zum »Ausdruck eines Mangels, einer Verlusterfahrung« werde.146 Das Gefühl des Verlusts

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Jürgen Brummack, »Erzählprosa ohne Fabel (Die Reisebilder)«. In: Brummack (Hrsg.), Heinrich Heine: Epoche – Werk – Wirkung, S. 113–139, hier S. 134. Vgl. Höhn, Heine-Handbuch, S. 235. Vgl. Höhn, Heine-Handbuch, S. 235 und Espagne, »Die tote Maria«, S. 311. Vgl. Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 161. Vgl. Brummack, »Erzählprosa ohne Fabel«, S. 134. Vgl. Freud, »Trauer und Melancholie«, S. 431. Walter Erhart, »Weltschmerz und Emanzipation – Heinrich Heines Attacken gegen die Bil-

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hängt eng mit der problematischen Erfahrung von Zeitlichkeit zusammen, die nicht nur für die Geschichte der toten Maria zentral ist, sondern als roter Faden den Text durchzieht und eine Verbindung zur geschichtsphilosophischen Diskussion linearer und zyklischer Geschichtsmodelle des Reisebilds herstellt.147 Eine Spannung zwischen den kontradiktorischen Aspekten der Zeitlichkeit und der aufgehobenen Zeit bzw. ewigen Wiederkehr in der Reise von München nach Genua beobachtet Slobodan Grubačić in der Verräumlichung der Zeit, die dem mehrfach verwendeten Motiv des Déjà-vu eigne.148 Die Spannung zwischen Zeit(-lichkeit) und Zeitaufhebung kann über dieses Motiv hinaus für den gesamten Text behauptet werden, in dem es vielfältig variiert wird. Zeit wird in ihrer Prozeßhaftigkeit nicht ausschließlich positiv als Fortschritt zu Freiheit und Emanzipation verstanden, vielmehr wird sie unter melancholischem Vorzeichen als Veränderung und Vergänglichkeit erfahren, die Verlust bedingt und beim Erzähler Gedanken der Sinnlosigkeit, der Vanitas, hervorruft. Anhand zentraler Motive und Konstellationen des Textes soll im folgenden die Spannung dargestellt werden zwischen der Erfahrung von Zeitlichkeit einerseits und Projektionen von Zeitenthobenheit andererseits. Die beiden Zeitmodelle kulminieren im letzten Kapitel des Reisebilds in der Gemäldegalerie von Genua und drängen auf eine Lösung, die mit dem Ende von Byrons Childe Harold IV vergleichbar ist. Zunächst soll das Motiv der Tanne, dem ›erhabenen‹ Baum der Alpen, der sowohl im VI. Kapitel in Heines Reise von München nach Genua, als auch in Byrons Childe Harold IV thematisiert wird, im Spannungsfeld von Zeitlichkeit und Zeitenthobenheit untersucht werden. 5.2.1. Der erhabene Baum der Alpen als destruierte Metapher des Ewigen Das VI. Kapitel von Heines Reisebild steht inhaltlich zwischen dem in München gefaßten Entschluß des Erzählers, nach Italien zu reisen und der ersten Station der Reise in Innsbruck. Das relativ kurze Kapitel, das keine exakte Ortsangabe enthält, trägt den Charakter einer Überleitung und wurde in der Forschung bislang kaum beachtet. Wie in der Episode mit der Spinnerin in Kapitel XIII., das später noch zur Sprache kommt, wird hier allerdings schon das zentrale Thema der Zeitlichkeit angeschnitten, und zwar, wie gezeigt werden soll, im intertextuell stark aufgeladenen Bild der Tanne.

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dungsphilister«. In: Grimm/Breymayer/Erhart, »Ein Gefühl von freierem Leben«, S. 156–172, hier S. 169. Dagegen sieht Klaus Pabel in seiner Untersuchung der Reisebilder in dem Motiv der Maria nur »das fragmentarisierte ästhetische Mittel, bei Bedarf Bilder der Erinnerung mit historischem Wissen und Phantasie zu verbinden oder unabhängig davon Spannungseffekte zu setzen« (Klaus Pabel, Heines »Reisebilder«. Ästhetisches Bedürfnis und politisches Interesse am Ende der Kunstperiode. München 1977, S. 180). Vgl. Grubačić, Heines Erzählprosa, S. 39.

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Zeitlichkeit und Verlust werden hinsichtlich der Vergänglichkeit alles Organischen thematisiert. Wie die Landschaftsbeschreibung des VI. Kapitels vermuten läßt, kommentieren die Betrachtungen des Erzählers, obwohl sie keine Ortsangabe aufweisen, seinen Reiseweg durch die Alpen. Nachdem er den Winter in seiner Seele zunächst scheinbar überwunden hat – mit den Worten »Tirily! Tirily! ich lebe« (DHA 7/1, 26) drückt der Erzähler am Anfang des Kapitels sein neues Lebensgefühl aus –, partizipiert er wieder am Leben und fühlt in Wertherscher Provenienz Liebe und Empathie für seine Mitmenschen und vor allem für die lebendige, beseelte Natur, die ihm »allerliebste Geschichten« (DHA 7/1, 26) erzählt. Er sei nicht zu »menschenstolz«, um mit den »niedrigsten Wiesenblümchen« zu sprechen, die wiederum mit den »höchsten Tannen« kontrastiert werden (DHA 7/1, 26). Im Kontext der großen Tannen, die in mächtige Höhen wachsen, wird das Thema der Vergänglichkeit angeschnitten: Ach, ich weiß ja, wie es mit solchen Tannen beschaffen ist! Aus der Tiefe des Thals schießen sie himmelhoch empor, überragen fast die kühnsten Felsenberge – Aber wie lange dauert diese Herrlichkeit? Höchstens ein paar lumpige Jahrhunderte, dann krachen sie altersmüd zusammen und verfaulen auf dem Boden. Des Nachts kommen dann die hämischen Käutzlein aus ihren Felsenspalten hervorgehuscht, und verhöhnen sie noch obendrein: Seht, Ihr starken Tannen, Ihr glaubtet Euch mit den Bergen messen zu können, jetzt liegt Ihr gebrochen da unten, und die Berge stehen noch immer unerschüttert. (DHA 7/1, 26)

Die Tannen, die mit ihrer Größe »fast die kühnsten Felsenberge« zu bezwingen scheinen, vermitteln den Eindruck der Erhabenheit. Für den zeitbewußten Erzähler aber, der nach der Dauer dieser »Herrlichkeit« fragt, stellen die Tannen unter dem Blickwinkel der vergangenen Zukunft den Gegensatz zu den beständigen Bergen dar, die ewig sind und nicht wie die Tannen nur »ein paar lumpige Jahrhunderte« existieren.149 Diese Perspektive, die auf einer Verzeitlichung der Geschichte und dem Zerbrechen des Zeitkontinuums von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft basiert, wird in dem Text noch an mehreren Stellen artikuliert wie etwa in bezug auf den Bau der großen Dome gegen Ende des Reiseberichts.150 Heines Bild der Tannen führt, wie gezeigt werden soll, zudem einen versteckten Dialog mit einer Strophe aus Childe Harold IV über den Aspekt der Zeitlichkeit. Am Anfang des vierten Cantos von Childe Harold, wo, wie erörtert wurde, zunächst die Kraft der Imagination, sich über Differenz- und Ver-

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Die Formulierung »vergangene Zukunft« prägte Reinhart Koselleck. Vgl. dazu seinen Artikel »Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit« in der gleichnamigen Aufsatzsammlung Vergangene Zukunft, S. 17–37. Vgl. dazu Reinhart Koselleck, »›Neuzeit‹« sowie »Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit«.

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lusterfahrungen zu erheben, beschworen wird, erinnert sich der Sprecher an seine Reise durch die Alpen, die schon Gegenstand des dritten, naturmystisch ausgerichteten Cantos war. Um die Größe des menschlichen Geistes zu veranschaulichen, der sich der Zeit entgegenstellen kann, wählt Byron als Bild den Baum der Alpen: die Tanne, die – wie Byron in seinem Prosakommentar zu dem Canto anmerkt – alle anderen Bäume an Höhe überragt.151 Der Text des Cantos hebt die Eigenschaft des Baumes hervor, von den äußeren Umständen wie Stürmen unabhängig und unberührt zu sein: But from their nature will the tannen grow Loftiest on loftiest and least shelter’d rocks, Rooted in barrenness, where nought below Of soil supports them ’gainst the Alpine shocks Of eddying storms; yet springs the trunk, and mocks The howling tempest, till its height and frame Are worthy of the mountains from whose blocks Of bleak, grey, granite, into life it came, And grew a giant tree;—the mind may grow the same. (IV 20; CPW II, 131)

Es ist die Natur der Tanne auf den höchsten, ungeschütztesten Stellen der kargsten Berge am größten zu werden. Obwohl die Tanne dort kaum Nahrung findet, trotzt sie auf den ›Schultern von Riesen‹ allen Gefährdungen und Stürmen, wodurch sie allmählich selbst zu einem Riesen heranwächst, der den soliden grauen Felsen ebenbürtig ist. Die Bedeutung des Bildes wird gleichsam als Pointe erst in der zweiten Hälfte des letzten Verses genannt. Der gigantische Baum wird zur Metapher für den menschlichen Geist, der dieselbe Fähigkeit hat, sich zu autarker Größe zu entwickeln – »the mind may grow the same«. Das zentrale tertium comparationis zwischen der Tanne und dem Geist ist ihre erhabene Unabhängigkeit gegenüber zeitlicher Veränderung und der Wechselhaftigkeit des Lebens. In seinem fortgesetzten Kampf gegen die überwältigende Verlusterfahrung entwirft der Sprecher in Childe Harold IV ein Bild seines Selbst am Beispiel der Tanne, die den äußeren Umständen erhaben trotzt. Auf dieses Postulat geben die »hämischen Käutzlein« in Heines Text eine direkte Replik: Die Tannen glaubten nur, sich mit den Bergen messen zu können – auch sie werden eines Tages »gebrochen da unten« liegen, während die Berge der Zeit trotzen. Die Tanne als Symbol der Erhabenheit, das sich außerhalb der Zeitlichkeit befindet, wird in der zitierten Stelle von Heines Reisebild unter dem Eindruck der zunehmenden Verzeitlichung modifiziert.152 So 151

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Als Anmerkung zu dieser Strophe schreibt Byron: »Tannen is the plural of tanne, a species of fir peculiar to the Alps, which only thrives in very rocky parts, where scarcely soil sufficient for its nourishment can be perceived. On these spots it grows to a greater height than any other tree in those countries.« (CPW II, S. 228) Vgl. dagegen noch folgende Beschreibung der Tannen in der Harzreise (für den intertextu-

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ist die Tanne den Felsen gerade nicht wie in Childe Harold ebenbürtig, ihre Erhabenheit ist vielmehr unter dem Blickwinkel einer vergangenen Zukunft zeitlich begrenzt. Dennoch wird auch in der Reise von München nach Genua im weiteren Verlauf der Passage die Imagination beschworen, die sich über alles Irdische erheben kann. Statt der Tanne wählt Heine den Adler als Bild für den Dichter. Dem Adler ist zwar seine ungewisse Zukunft bewußt, dennoch erhebt sich der stolze Vogel über »all die kleinmüthigen Gedanken«, die »das eigene Schicksal« betreffen (DHA 7/1, 26), und fliegt der Sonne entgegen, an die sein ›Lied‹ gerichtet ist. Durch den Flug zur Sonne entzieht er sich seiner »gefiederten Sippschaft« (DHA 7/1, 27) und ihren Rezensionen seines Gesangs. Das groteske Vogelkonzert von Tauben, Gänsen, Hühnern, das auch der Erzähler kennt, konfrontiert den ›erhabenen‹ Gesang des Adlers, der sich der Zeitlichkeit entzieht, mit der aktuellen Zeit der Gegenwart. Den Erzähler kennzeichnen wie den Adler die entgegengesetzten Selbstgefühle demütiger Bescheidenheit und erhabenen Stolzes, die auf die abwechselnde Ohnmachts- und Allmachtserfahrung, den Wechsel zwischen Melancholie und Enthusiasmus des modernen Subjekts zwischen »Lust und Qual« (DHA 7/1, 26) hinweisen. Das unterscheidet die Passage aus der Reise von München nach Genua auch von einem Gedicht wie Friedrich Schillers »Trauerode. Auf den Tod des Hauptmanns Wiltmaister«, das den Gegensatz zwischen der Vanitas des Zeitlich-Irdischen und der Constantia des Überzeitlich-Ewigen auch schon mit den Metaphern der Tanne und des Adlers ausdrückte.153 Schillers Gelegenheitsgedicht artikuliert in bezug auf den Anlaß, der im Titel

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ellen Bezug zu Byron in dem Reisebild Die Harzreise vgl. Kap. II. 2.7.): »Bald empfing mich eine Waldung himmelhoher Tannen, für die ich, in jeder Hinsicht, Respekt habe. Diesen Bäumen ist nämlich das Wachsen nicht so ganz leicht gemacht worden, und sie haben es sich in der Jugend sauer werden lassen. Der Berg ist hier mit vielen großen Granitblöcken übersäet, und die meisten Bäume mußten mit ihren Wurzeln diese Steine umranken oder sprengen, und mühsam den Boden suchen, woraus sie Nahrung schöpfen können. Hier und da liegen die Steine, gleichsam ein Thor bildend, über einander, und oben darauf stehen die Bäume, die nackten Wurzeln über jene Steinpforte hinziehend, und erst am Fuße derselben den Boden erfassend, so daß sie in der freyen Luft zu wachsen scheinen. Und doch haben sie sich zu jener gewaltigen Höhe empor geschwungen, und, mit den umklammerten Steinen wie zusammengewachsen, stehen sie fester als ihre bequemen Collegen im zahmen Forstboden des flachen Landes. So stehen auch im Leben jene großen Männer, die durch das Ueberwinden früher Hemmungen und Hindernisse sich erst recht gestärkt und befestigt haben.« (DHA 6, S. 114f.) Obwohl die Passage fast wie ein Prosakommentar zur zitierten Strophe 20 aus Childe Harold IV wirkt, spielt hier das Thema der Zeitlichkeit im Unterschied zur Reise von München nach Genua noch keine Rolle. Auch Friedrich Hölderlins 1792 in Schillers Horen veröffentlichtes Gedicht »Die Eichbäume« nennt den Adler im Kontext der riesigen Bäume – dem »Volk von Titanen«, das nur sich und dem Himmel gehört (Friedrich Hölderlin, »Die Eichbäume«. In: Hölderlin, Sämtliche Werke. Hrsg. von Friedrich Beissner [Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe], Bd. 1: Gedichte bis 1800, Stuttgart 1943, S. 201). In der Opposition von Freiheit und Knechtschaft, repräsentieren die Bäume den ersten Pol. Das Thema der Zeitlichkeit spielt in Hölderlins Gedicht allerdings keine Rolle.

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des Gedichts genannt wird, in den ersten fünf Strophen das überwältigende Gefühl der Vergänglichkeit allen Seins. Die sechste Strophe leitet eine Wende ein: Aber frei erhoben über Grüfte Fliegt der Geist in des Olympus Lüfte, Triumphierend, wie ein Adler steigt, Wann sein Wohnsitz, die erhabne Tanne, Niederkracht im tobenden Orkane Und der Nordsturm Wälder niederbeugt.154

Die idealistische Erhabenheit des Geistes über alles Irdische, nach der der Sprecher von Childe Harold im vierten Canto immer wieder erfolglos strebt, weil ihn die Zeitlichkeit jedes Mal erneut einholt, wird in Schillers »Trauerode« bruchlos artikuliert. Die Vanitas-Gedanken der ersten Strophen (»Alles, was wir Leben hießen,/ […] Liegt vereitelt in dem schmalen Sarg«155) werden in diesem frühen Gedicht Schillers durch die erhabene Macht des Geistes kontrolliert und vom Glauben an eine jenseitige Welt, die Ewigkeit verspricht, aufgehoben. »Und dann droben finden wir dich wieder«, versprechen die trostspendenden letzten Verse der Trauerode, die die Aufhebung von Schmerz und Leid verkünden. In einer religiös-transzendenten Welt wird »nichts bleiben als die Lust«.156 Schillers Gedicht zeigt zwar die gleiche Gegenüberstellung von Tanne und Adler als Bild des Geistes, der sich über das Irdische und sogar die erhabene Tanne erhebt, wie Heines Reisebild. Allerdings ist in der Reise von München nach Genua der Adler sich seiner Zeitlichkeit bewußt, die zudem durch den Hinweis auf seine kritische »Sippschaft« grotesk akzentuiert und als temporäre markiert wird. Die melancholischen Erzähler aus Byrons und Heines Texten sind im Unterschied zu Schillers idealistischem Gedicht aus der Transzendenz Verstoßene, die unter dem Verlust der Metaphysik leiden. Childe Harold IV und die Reise von München nach Genua problematisieren die Ewigkeit aber nicht nur angesichts der Erfahrung eines deus absconditus, sondern auch unter dem Eindruck der zunehmenden Verzeitlichung. Die Tannen in der zitierten Passage von Heines Text krachen nicht wie in Schillers Gedicht im »tobenden Orkane« nieder, sondern sie »krachen […] altersmüd zusammen«.

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Schiller, »Trauerode. Auf den Tod des Hauptmanns Wiltmaister«, SW 1, S. 27. Schiller, »Trauerode«, SW 1, S. 27. Schiller, »Trauerode«, SW 1, S. 28. Später, in Ueber naive und sentimentalische Dichtung, beschreibt Schiller mit Blick auf die Dichtungskraft des Ossian in einer weniger religiösen Argumentation, wie sich aus der konkreten Verlusterfahrung in der Dichtung die Idee entwickelt: »Die Erfahrungen eines bestimmten Verlustes haben sich zur Idee der allgemeinen Vergänglichkeit erweitert, und der gerührte Barde, den das Bild des allgegenwärtigen Ruins verfolgt, schwingt sich zum Himmel auf, um dort in dem Sonnenlauf ein Sinnbild des Unvergänglichen zu finden.« (Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, SW 5, S. 730)

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Bei Heine hat der Verlust transzendentaler Signifikate Konsequenzen für die Lesbarkeit der Zeichen – der Text, der gegen den Sinnverlust fortwährend allegorische Strukturen produziert, zeigt seinen Erzähler nicht nur als Melancholiker, sondern auch als Zeichenleser. Jürgen Brummack spricht sogar von der »Entzifferungssucht« des Reisenden. 157 Besonders Walter Benjamin hat in seiner Schrift zum Ursprung des deutschen Trauerspiels den Zusammenhang zwischen den Aspekten der Melancholie, Allegorie und dem Zeichenlesen herausgestellt.158 Als Folge des Transzendenzverlusts steht der Mensch, so Benjamin, den Dingen und Zeichen, die ihren Bedeutungszusammenhang verloren haben, ratlos gegenüber. In der Reise von München nach Genua macht der Verlust der unmittelbaren Bedeutung der Zeichen den Reisenden zu einem Signaturenleser und Allegoriker, der als »Grübler über Zeichen und Zukunft« nach Benjamin die Kehrseite des Melancholikers darstellt.159 Das Problem der Lesbarkeit und der Versuch des Dechiffrierens von Zeichen sind in der Reise von München nach Genua omnipräsent. Es zeigt sich in der Wahrnehmung des kulturell fremden Landes Italien sowie an den Reflexionen über die ›Lesbarkeit‹ des Geschichtsprozesses. Besonders evident ist der Versuch des Dechiffrierens von unlesbaren Zeichen aber am Beispiel der Figur der Maria, die im folgenden im Hinblick auf Zeitlichkeit und Erinnerung genauer betrachtet werden soll. 5.2.2. Zeitlichkeit und Erinnerung – die leitmotivische Figur der Maria Das Motiv, das in Heines Reisebild am deutlichsten auf die Differenzerfahrung des Verlusts sowie auf den Versuch des Erzählers hinweist, die unverständlichen Zeichen zu lesen, ist das der geheimnisvollen Geliebten, die als Figur der Maria immer wieder aufblitzt. Außer der Trauer des Erzählers um ihren Verlust werden über ihre Person und ihre Beziehung zum Erzähler nur spärliche Informationen vermittelt, so daß sie bis zum Ende des Textes eine Leerstelle bleibt. Die Trauer um die tote Geliebte – das hat Christine Lubkoll anhand von melancholischen Gedichten der europäischen Romantik gezeigt – ist, wie bei Friedrich von Hardenberg, Edgar Allan Poe und Gérard de Nerval, eine beliebte narrative Ausgangssituation und kann insofern als melancholische ›Urszene‹ gelten, die sich zu einem universalen Verlust- und Differenzempfinden ausweitet.160 Auch Heines Reisender befindet sich in einer solchen Konstellation. Der dem Bewußtsein entzogene Objektverlust, der seine Melancholie – und damit seine Reise – antreibt, gewinnt in Trient in dem phantas-

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Brummack, »Erzählprosa ohne Fabel«, S. 133. Vgl. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Gesammelte Schriften, Bd. I.1: Abhandlungen. Frankfurt a.M. 1980. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 370. Vgl. Lubkoll, »Erinnern und Vergessen«, S. 167.

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matischen Wiedererkennen seiner einstigen Geliebten erneut Gestalt.161 Die melancholische Fixierung auf die verlorene Freundin, die »gar keinen Fehler hatte, außer daß sie todt war« (DHA 7/1, 41), läßt den Erzähler im Dom von Trient auf Marias Gespenst treffen. Die italienisch konnotierte Stadt Tirols ist sowohl mit Merkmalen des Sinnlich-Chaotischen wie in der Figur der »dicke[n] Obstfrau« (DHA 7/1, 41), die mit Feigen nach dem Erzähler wirft, als auch des Traumhaften versehen. Es herrscht eine Atmosphäre, in der das Verdrängte, Unbewußte – in Gestalt Marias – hervortreten kann. In Trient wird der Traumcharakter der Stadt sowie der traumbefangene Zustand des Reisenden mehrmals hervorgehoben: »Ich war wirklich wie im Traum, wie in einem Traume, wo man sich auf irgend etwas besinnen will, was man ebenfalls einmal geträumt hat.« (DHA 7/1, 40) Neben der Opposition zwischen Traum und Wirklichkeit, die in Trient immer wieder in Frage gestellt wird, verweist der Satz auch auf die Gedächtnisformen des Erinnerns und Vergessens, die im Kontext der Geschichte um die geheimnisvolle Maria zentral sind. Im Inneren des Doms, dessen gedämpftes Licht eine magische, präreflexive Stimmung fördert, erscheint dem Trauernden zum ersten Mal das Gespenst der Maria. In einem Beichtstuhl erblickt der Erzähler den Umriß einer Frau, deren Gesicht er wegen eines Schleiers nicht erkennen kann. Die »so befremdlich wohlbekannt[e]« Hand der Dame, die zugleich »etwas geschichtlich Reitzendes« und »etwas rührend Unschuldiges« besitzt, erinnert den Erzähler schließlich an Maria (DHA 7/1, 42f.): Ich konnte nicht länger warten, meine Seele drückte einen unsichtbaren Abschiedskuß auf die schöne Hand, diese zuckte in demselben Momente, und zwar so eigenthümlich, wie die Hand der todten Maria zu zucken pflegte, wenn ich sie berührte. Um Gotteswillen, dacht ich, was thut die todte Maria in Trient? – und ich eilte aus dem Dome. (DHA 7/1, 43)

Der Reisende, der die lange Beichte der Frau nicht mehr abwarten will, stellt eine imaginäre Verbindung zu ihr her, indem er »einen unsichtbaren Abschiedskuß« auf ihre Hand drückt. Die körperliche Geste des Zuckens, die im selben Moment erfolgt, suggeriert zum einen eine unsichtbare Verbindung, die sich in der Reaktion der Frau auf die imaginative Handlung zeigt, zum anderen löst sie beim Erzähler selbst in der Form eines déjà-vu-artigen Wiedererkennens die Erinnerung an Maria aus, die er nun in der Frau im Beichtstuhl erkennt. Die Passage operiert mit Versatzstücken, die ihren Ursprung in der romantischen Theorie und Naturphilosophie haben. Neben Déjà-vu und dem Motiv des Wieder- oder Doppelgängers ist ein zentrales Moment der Galvanismus, für den in Deutschland der Name Johann Wilhelm Ritters steht. Ritter kam

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Zur These des Objektverlusts, der bei der Melancholie dem Bewußtsein im Unterschied zur Trauer entzogen ist, vgl. Freud, »Trauer und Melancholie«, S. 431.

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1796 nach Jena und pflegte mit Novalis und den anderen Romantikern des Jenaer Kreises einen intensiven Austausch.162 Seine Theorien zu elektrischen Phänomenen, die auf Erkenntnissen aus Luigi Galvanis und Alessandro Voltas Experimenten basieren, beeinflußten die fiktionale Verarbeitung des Galvanismus, wie etwa das Erlösungsmärchen aus Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen. Die galvanischen Erweckungen in Novalis’ romantischem Kunstmärchen zeigen, daß Elektrizität als Lebens- und Vitalisierungskraft – wie auch später noch in Mary Shelleys Frankenstein – verstanden wird.163 In der Elektrizität offenbart sich ein Prinzip, das Geist und Materie, Innen und Außen, Organisches und Anorganisches zu einer Einheit verbindet. Insofern kann sie als Wissensmodell für ein mythopoetisches Weltbild dienen, das ein Wirken gleicher dynamischer Grundkräfte im menschlichen und im natürlichen Bereich postuliert.164 Vor dem Hintergrund der naturphilosophischen Spekulationen zum Galvanismus kann das Zucken der Hand in der zitierten Textstelle aus der Reise von München nach Genua als Zeichen gelesen werden, daß sich zwischen der Frau und dem Erzähler die galvanische Kette geschlossen hat.165 Die dynamischen Kräfte zeigen sich als Attraktion und Repulsion: als momenthafte Anziehung zwischen den beiden Körpern des Erzählers und Marias sowie als jähe Flucht des Erzählers aus dem Dom. Wie die naturphilosophischen Vermutungen zum Galvanismus mit ihrem Postulat, daß eine genügend große Elek162 163

164

165

Zum Galvanismus vgl. Armin Hermann, Art. »Galvanismus«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Sp. 1–3. Als intertextuelle Bezugsstelle für Heines Text ist besonders die Erweckung Freyas durch Eros bei Novalis interessant. Dort heißt es: »Die Flügeltüren des Saals flogen auf, und Eros nahte sich entzückt der schlummernden Freya. Plötzlich geschah ein gewaltiger Schlag. Ein heller Funken fuhr von der Prinzessin nach dem Schwerte; das Schwert und die Kette leuchteten, der Held hielt die kleine Fabel, die beinah umgesunken wäre. Eros’ Helmbusch wallte empor, ›Wirf das Schwert weg‹, rief Fabel, ›und erwecke deine Geliebte‹. Eros ließ das Schwert fallen, flog auf die Prinzessin zu, und küßte feurig ihre süßen Lippen. Sie schlug ihre großen dunkeln Augen auf, und erkannte den Geliebten. Ein langer Kuß versiegelte den ewigen Bund.« (Novalis, Heinrich von Ofterdingen, NS I, S. 313) Ritter schreibt in seiner Untersuchung Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensproceß in dem Thierreich begleite darüber: »Wo ist eine Sonne, wo ist ein Atom, die nicht Theil wäre, der nicht gehörte zu diesem Organischen ALL, lebend in keiner Zeit, jede Zeit fassend in sich? – Wo bleibt denn der Unterschied zwischen den Theilen des Thieres, der Pflanze, dem Metall und dem Steine? – Sind sie nicht sämmtlich Theile des grossen All-Thiers, der Natur? – – Ein allgemeines bisher noch nicht gekanntes Naturgesetz scheint uns entgegen zu leuchten!« (Johann Wilhelm Ritter, Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensproceß in dem Thierreich begleite. Nebst neuen Versuchen und Bemerkungen über den Galvanismus. Weimar 1798, S. 171) Bei Heine findet sich zu naturphilosophischen Hypothesen folgende Notiz, die vermutlich im Kontext seiner Untersuchung Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland entstanden ist: »Neue Periode in der Kunst: m entdeckt in der Natur dieselben Gesetze die auch in unserem Mschengeiste, man vermenschlicht sie (Novalis), man entdeckt in dem Mschengeiste die Gesetze der Natur, Magnetismus, Elektrizität, anziehende und abstoßende Pole (Kleist) […] –« (DHA 8/1, S. 449)

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trizität aus einem toten wieder einen lebendigen Körper machen kann, für die Geschichte der Maria eine zentrale Rolle spielen, wird die weitere Analyse des Motivs zeigen. Festgehalten werden kann jedoch zunächst, daß die Geschichte um Maria zeitgenössische naturphilosophische Theorien aufgreift. Fraglich ist aber, ob das Motiv der Maria, wie Olaf Hildebrand betont, für die »romantische Seelenverfassung des Erzählers« steht, die auf Vergangenes gerichtet sei und auf der Metaebene des Textes Heines eigenes »romantisch-katholische[s] Regressionsbedürfnis« reflektiere.166 Wenn Maria nicht nur als Chiffre oder Allegorie betrachtet wird, läßt sich für die konstative Ebene des Textes feststellen, daß mit der eigentlichen Rede die Trauer um die verlorene Geliebte artikuliert wird. In einem weiteren Schritt ist diese Trauer verbunden mit dem Leiden an Zeitlichkeit und den Versuchen, sie aufzuheben, wie etwa durch die ersehnte Wiederbelebung der Geliebten. Auf der figurativen Ebene des Textes wiederum ist das Motiv der Maria weniger ein Hinweis auf die romantischnostalgische Rückwendung des Autors in die Vergangenheit, als ein Ausdruck der kritischen Auseinandersetzung mit der romantischen Literatur. Im Gegensatz zu den märchenhaften galvanischen Er weckungsszenen im Heinrich von Ofterdingen hält die zitierte Stelle aus Heines Text die Schwebe zwischen einem rational-realistischen Erklärungsmuster und einer übernatürlichen Motivation. Die Bedeutung von Novalis’ Werk als Referenzpunkt für die Auseinandersetzung mit romantischen Diskursen in der Reise von München nach Genua wird im folgenden vor allem an den »Hymnen an die Nacht« gezeigt. Für die Diskussion romantischer Theoreme in Heines Reisebild ist Novalis’ Gedicht zentral. Wie Heine die Werke des romantischen Dichters in Die romantische Schule maliziös zusammenfaßt, erzählen sie die Geschichte »eine[r] junge[n] Dame, die an der Schwindsucht litt und an diesem Uebel starb« (DHA 8/1, 194).167 Tatsächlich nimmt das 1800 im Athenäum veröffentlichte Gedicht »Hymnen an die Nacht« in der melancholischen ›Urszene‹, dem Verlust der Geliebten, seinen Ausgang. Wie zu zeigen ist, stellen die déjà-vu-haften Erinnerungen des Erzählers an Maria in der Reise von München nach Genua eine kontrafaktische Aufnahme von Novalis’ Mythos der Nacht dar, der in seinen Hymnen artikuliert wird. Der Text von Novalis ist bekanntlich autobiographisch motiviert und kann als literarische Verarbeitung des Verlusts der Verlobten des Dichters Sophie von Kühn im Jahr 1797 betrachtet werden. Das Gedicht wird bestimmt von binären Oppositionen wie Licht und Dunkelheit, Tag und Nacht, Präsenz und Absenz, Einheit und Differenz, die schon in der 166 167

Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 161 u. 173. Manfred Windfuhr sieht Heines Kenntnis von Novalis’ Texten auf das Romanfragment Heinrich von Ofterdingen beschränkt (vgl. DHA 8/2, S. 1361). Auf die Bedeutung der »Hymnen an die Nacht« hat dagegen Ralph Martin hingewiesen, der das Gedicht seiner Interpretation von Heines italienischem Reisebild Die Stadt Lukka als Intertext zugrunde legt (vgl. Martin, Die Wiederkehr der Götter Griechenlands, S. 46–71).

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ersten Hymne eingeführt und miteinander kontrastiert werden. Während dort der Tag und das Licht »die Wunderherrlichkeit der Reiche der Welt« offenbaren, ist die Schöpfung in der Nacht durch das fehlende Licht »wüst und einsam«.168 Farben und Gestaltenreichtum sowie die mehrfache Nennung der Sinne, die in der ersten Hymne den Tag charakterisieren, indizieren zugleich Form und Präsenz. Dagegen ist der Bewußtseinsmodus der Nacht die Erinnerung, die auf den Zustand der Abwesenheit hinweist: »Fernen der Erinnerung […] kommen in grauen Kleidern, wie Abendnebel nach der Sonne Untergang«.169 Metaphern, die das Farblose akzentuieren, wie die grauen Kleider, die Abendnebel und die »Asche«, verweisen auf den Aspekt des Formlosen und Undifferenzierten.170 Die zunächst negative Wahrnehmung der Nacht als Abwesenheit verwandelt sich in das positive Gefühl der Aufhebung des melancholischen Differenzbewußtseins. Die nächtlichen Erinnerungen verändern sich von der Wahrnehmung der verlorenen Kindheit als Absenz in die Empfindung einer differenzlosen Präsenz, die im Vergessen der »heiligen, unaussprechlichen, geheimnißvollen Nacht« gründet: Was quillt auf einmal so ahndungsvoll unterm Herzen, und verschluckt der Wehmut weiche Luft? Hast auch du ein Gefallen an uns, dunkle Nacht? Was hältst du unter deinem Mantel, das mir unsichtbar kräftig an die Seele geht? Köstlicher Balsam träuft aus deiner Hand, aus dem Bündel Mohn. Die schweren Flügel des Gemüts hebst du empor.171

Das Vergessen, das die Nacht befördert, führt zu einer Überwindung der Melancholie – es hebt die »schweren Flügel des Gemüths« –, indem das rationale, differenzierende Bewußtsein des Tages, das für das Entzweiungsgefühl und Verlustempfinden verantwortlich ist, mit dem »Bündel Mohn« ausgeschaltet wird. Christine Lubkoll hat darauf hingewiesen, daß dieses Vergessen zugleich eine utopische Erinnerung der Alleinheit freisetzt, die sich dem nach innen gekehrten Subjekt als Ahndung mitteilt.172 Die Aufhebung der Entzweiung erfolgt in der mystischen Liebesvereinigung mit der wieder zum Leben erweckten Geliebten in der Nacht, die ihm die »zarte Geliebte« sendet: »daß ich luftig mit dir inniger mich mische und dann ewig die Brautnacht währt«.173

168 169 170 171 172 173

Novalis, »Hymnen an die Nacht«, NS I, S. 131. Novalis, »Hymnen an die Nacht«, NS I, S. 131. Novalis, »Hymnen an die Nacht«, NS I, S. 131. Novalis, »Hymnen an die Nacht«, NS I, S. 131. Vgl. Lubkoll, »Erinnern und Vergessen«, S. 166–168. Novalis, »Hymnen an die Nacht«, NS I, S. 133. In der handschriftlichen Fassung zu dieser Stelle wird die Liebesvereinigung explizit gemacht: »Die Nacht ist da –/ Entzückt ist meine Seele –/ Vorüber ist der irrdische Tag/ Und du bist wieder Mein./ Ich schaue dir ins tiefe dunkle Auge,/ Sehe nicht als Lieb und Seligkeit./ Wir sinken auf der Nacht Altar/ Aufs wei-

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Der von Novalis geschaffene Mythos der Nacht, die dem melancholischen Sprecher die Geliebte restituiert, ist für Heines Reisebild bedeutsam, da er die Geschichte der Maria im Text als romantisches Zitat fundiert. Nach der bereits erwähnten gespenstischen Begegnung im Dom kommt es zu drei weiteren Erinnerungen des Erzählers an Maria, die immer wieder auf die gleiche Szene rekurrieren. Die erste dieser Erinnerungen beschreibt der Erzähler wie folgt: Es war dunkel geworden, und die Sterne sahen so klar und fromm herab in mein Herz. Im Herzen selbst aber zitterte die Erinnerung an die todte Maria. Ich dachte wieder an jene Nacht, als ich vor dem Bette stand, worauf der schöne, blasse Leib lag, mit sanften stillen Lippen – Ich dachte wieder an den sonderbaren Blick, den mir die alte Frau zuwarf, die bey der Leiche wachen sollte und mir ihr Amt auf einige Stunden überließ – Ich dachte wieder an die Nachtviole, die im Glase auf dem Tische stand und so seltsam duftete – Auch durchschauerte mich wieder der Zweifel: ob es wirklich ein Windzug war, wovon die Lampe erlosch? Ob wirklich kein Dritter im Zimmer war? (DHA 7/1, 50)

Die Erinnerung an die Geliebte ist in Heines Prosatext, wie in den »Hymnen an die Nacht«, in die Sphäre der Dunkelheit und der Nacht eingebettet – auch die Erscheinung Marias im Dom von Trient fand bereits im Dämmerlicht statt. Die schauerromantische Szene beschreibt die letzte Wache bei der toten Geliebten. Anders als das lyrische Ich in Novalis’ Gedicht, das in der dritten Hymne am Grab der Geliebten eine Vision des neuen Lebens und der Wiedervereinigung der Liebenden hat, birgt das Todeserlebnis für Heines Erzähler keine utopische Ahndung und Erweiterung des Ichs ins Unendliche. Vielmehr ist der Erzähler in dem Raum mit bedeutsamen, zugleich aber schwierig zu dechiffrierenden Zeichen konfrontiert, die er nicht verstehen kann, weil ihm der Schlüssel zu ihrer Lesbarkeit fehlt. So empfindet er den Blick der alten Frau als »sonderbar«, den Duft der Blume als »seltsam«, wie ihm auch »Zweifel« hinsichtlich seiner alleinigen Anwesenheit am Bett von Maria überkommen. Die übersinnlichen Andeutungen des Erzählers – »ob es wirklich ein Windzug war, wovon die Lampe erlosch?« –, die das Wirken fremder Mächte suggerieren, deuten auf seine Erwartung hin, die Geliebte zum Leben erwecken zu können. Daß er »in der einsamen Mitternacht [s]eine Lippen […] auf die Lippen Marias« preßte, »die damals gar keinen Fehler hatte, außer daß sie todt war« (DHA 7/1, 41), vertraut der Erzähler seinen Lesern schon vor der Begegnung mit ihrer Doppelgängerin im Dom an und bezieht sich damit offensichtlich auf die Nachtwache an ihrem Bett, von der erst später erzählt wird. Die nächtliche Szene erhält einen unsicheren, ambivalenten Status zwischen Erinnerung und Einbildungskraft, die als unterschiedliche Begründungsformen auch den Ort

che Lager –/ Die Hülle fällt/ Und angezündet von dem warmen Druck/ Entglüht des süßen Opfers/ Reine Glut.« (NS I, S. 132, V. 120–131)

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des Déjà-vus beschreiben.174 Die Figur des Déjà-vus, die mit der Erinnerung an Maria in einem engen Zusammenhang steht, wird in den »närrische[n] Träume[n]« (DHA 7/1, 51) des Erzählers in der folgenden Nacht aufgerufen. In der Traumarbeit des XXI. Kapitels findet zunächst in inhaltlicher Perspektive eine metaphorische Verschiebung statt, bei der sich die Menschen in Blumen und Gemüse verwandeln. Zugleich findet durch die Gegenstandswahl auf der Darstellungsebene eine ironische Kommentierung des im Traum Dargestellten statt. So sieht der Erzähler einen »schwarze[n] Rettig« in einem Beichtstuhl sitzen mit einer Blume, die »so wohlbekannt schauerlich« (DHA 7/1, 51) duftet, daß sie die Erinnerung hervorruft an die »Nachtviole […], die im Zimmer stand, wo die todte Maria lag« (DHA 7/1, 51). Das Erlebnis des Déjà-vus im Dom von Trient, das in Verona, wo sich der Erzähler erneut an Maria erinnert, zu einem Déjà-entendu variiert wird, weitet sich in diesem Traum, der an die Begegnung mit der kleinen Harfnerin bei der Gaststätte »Lokanda dell’ Grande Europa« (DHA 7/1, 46) anschließt, auf ein weiteres Sinnesorgan aus, und zwar den Geruchssinn, so daß man von einem ›Déjàsenti‹ – einer olfaktorischen Erinnerungstäuschung – sprechen kann.175 In dem Märchen von Hyazinth und Rosenblütchen, das in Novalis’ symphilosophischem Text Die Lehrlinge zu Saïs erzählt wird, leitet ein Déjà-vu das Wiedersehen mit der verlorenen Geliebten ein. Nur der Traum darf Hyazinth in das Allerheiligste führen: »Es dünkte ihm alles so bekannt und doch in niegesehener Herrlichkeit, da schwand auch der letzte irdische Anflug, wie in Luft verzehrt, und er stand vor der himmlischen Jungfrau, da hob er den leichten, glänzenden Schleier, und Rosenblütchen sank in seine Arme.«176 Der Traum in Heines Reisebild ist nicht wie bei Novalis Ausdruck des »liebenden Wiedersehns«;177 vielmehr endet er mit dem Abschied von der »weiße[n] Rosenleiche«, der von der »Leichenpredigt« einer »alte[n] Klatschrose« begleitet wird, »worin sie viel schwatzte von den Tugenden der Hingeschiedenen, von einem irdischen Katzenjammerthal, von einem besseren Seyn, von Liebe, Hoffnung und Glaube« (DHA 7/1, 51f.). Der ironischen Anspielung auf die drei Kardinaltugenden Glaube, Liebe, Hoffnung, die für Novalis, wie etwa in 174

175

176 177

Vgl. dazu Harald Neumeyer, »›Zwischen Erinnerung und Ahnung‹. Zur Erfindung der Figur des Déjà-vu in aufgeklärter Wissenschaft und romantischer Literatur«. In: Günter Oesterle (Hrsg.), Déjà-vu in Literatur und bildender Kunst. München 2003, S. 129–150. Obwohl der Begriff des Déjà-vu ursprünglich nicht nur auf die Visualität beschränkt war, plädiert Peter Matussek dafür, den Begriff des Déjà-vu »für visuelle Eindrücke zu reservieren, um ihm Déjà-vu-Erlebnisse anderer Sinnesmodalität vergleichend gegenüberzustellen«. Denn die Erinnerungstäuschung habe z.B. unter »auditiven Vorzeichen […] ganz andere Begleiterscheinungen: Dem Déjà-entendu fehlt in der Regel das Befremdliche oder gar Beängstigende des Déjà-vu« (Matussek, »Déjà-entendu. Zur historischen Anthropologie des erinnernden Hörens«. In: Günter Oesterle (Hrsg.), Déjà-vu in Literatur und bildender Kunst. München 2003, S. 289–309, hier S. 289 – dort findet sich auch der Begriff des Déjà-senti). Novalis, Die Lehrlinge zu Saïs, NS I, S. 95. Novalis, Die Lehrlinge zu Saïs, NS I, S. 95.

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seinem Text »Die Christenheit oder Europa« von 1799, zentral sind, entspricht auf der Handlungsebene das Erwachen von Heines Erzähler, das eine Profanierung der romantisch-mystischen Vereinigung der Liebenden bei Novalis darstellt.178 Denn der Träumende in der Reise von München nach Genua wird nicht von einer innigen Vereinigung mit seiner Geliebten aufgeweckt, sondern durch die »breitgewässerte Rede« der Klatschrose: Sie war »so lang und langweilig, daß ich davon erwachte« (DHA 7/1, S.52).179 Die nächste Erinnerung an Maria findet in Verona statt, wo der Reisende nach Mitternacht durch die menschenleeren Straßen spaziert und sich von seinem Herzen die Geschichten der Plätze und Denkmäler erzählen läßt, die von der Historie in das Gedächtnis der Stadt eingeschrieben wurden. Auf der Scala Mazzanti, wo sich einst der Brudermord des Antonio della Scala ereignete, vernimmt er den Gesang einer Frau, der sich »wie aus der Brust einer sterbenden Nachtigall« (DHA 7/1, 60) anhörte. Erneut sind ihm »Lied und Stimme so wohlbekannt«, die »seidnen, schaurigen, verblutenden Töne«, die ihn wie »flehende Erinnerungen« umstricken, hat der Erzähler »schon früher gehört« (DHA 7/1, 60f.). Den Gesang in den Gassen Veronas kann der Reisende plötzlich als »das Lied vom kranken Mohrenkönig« identifizieren, das Maria immer gesungen hat, und schließlich scheint er auch ihre Stimme wiederzuerkennen: »Und die Stimme selbst – kennst du denn nicht mehr die Stimme der todten Maria?« (DHA 7/1, 61) Das Déjà-entendu ruft die Erinnerung an Maria hervor, die im anschließenden Unbewußten des Traums in der Wiedererweckung der Geliebten ihren Höhepunkt findet: Die langen Töne verfolgten mich durch alle Straßen, bis zum Gasthof Due Torre, bis ins Schlafgemach, bis in den Traum – Und da sah ich wieder mein süßes gestorbenes Leben schön und regungslos liegen, die alte Wachfrau entfernte sich wieder mit räthselhaftem Seitenblick, die Nachtviole duftete, ich küßte wieder die lieblichen Lippen, und die holde Leiche erhob sich langsam um mir den Gegenkuß zu bieten. Wüßte ich nur wer das Licht ausgelöscht hat. (DHA 7/1, 61)

Der Umstand, daß hier ein Traum referiert wird, problematisiert den Wirklichkeitsstatus des Erzählten zwischen dunklem Traumbild und Erinnerung an tatsächlich Gewesenes, was durch die Wiederholung der Handlungselemente aus der vorherigen Erinnerung an Maria ebenfalls möglich erscheint. Im parataktischen Stil, der die assoziative Bilderreihung des Traums sprach178

179

Die Episode mit der Harfnerin, die im Traum als »frühzerrissene Rose« (DHA 7/2, S. 51) wiederkehrt, wird in der Forschung überwiegend als Kontrafaktur zur Figur der Mignon aus Goethes Wilhelm Meister gelesen. Vgl. etwa den Kommentar von Alfred Opitz in DHA 7/2, S. 873 und zum Traum S. 879. Eine Lesart des Kapitelschlusses formuliert mit noch deutlicher materialisierender Ironie: »Vielleicht aber (c) ward ich (b¹) /aus dem Schlafe/ geweckt durch das Schnarchen der kleinen Harfenistin« (DHA 7/2, S. 774f.).

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lich nachahmt, wird hier die gleiche Konstellation wie bei der Erinnerung an Maria in Trient beschrieben – Marias regungsloser Körper, die Wachfrau, die das Zimmer mit einer rätselhaften Aufforderung verläßt, der Duft der Nachtviole. Doch jetzt küßt der Träumende sein »süßes gestorbenes Leben« und sieht, wie sie sich zum »Gegenkuß« erhebt. In Novalis’ Heinrich von Ofterdingen funktionieren die galvanischen Anordnungen – Freya, die durch den Kuß von Eros erweckt wird, »schlug ihre großen dunkeln Augen auf, und erkannte den Geliebten. Ein langer Kuß versiegelte den ewigen Bund«.180 Für Heines Erzähler gibt es dagegen keine Wiedervereinigung mit der Geliebten im Kuß. Die Überwindung der Entzweiung durch die Vereinigung mit der Geliebten ereignet sich nicht, die ewige Brautnacht, die Novalis, wie gezeigt wurde, auch in den »Hymnen an die Nacht« beschwört, bleibt aus. Vielmehr findet eine Inversion der Nachtvorstellung statt. Während für den romantischen Dichter Nacht und Traum Voraussetzungen für die Überwindung des differenzierenden Bewußtseins darstellen, suggeriert die Frage des Erzählers aus der Reise von München nach Genua, wer das Licht ausgelöscht habe, daß die plötzliche Dunkelheit eine Ursache der gescheiterten Wiedervereinigung mit der Geliebten war. Die Bedeutung des Visuellen, die auch die letzte Erinnerung an Maria in der Gemäldegalerie – dort wieder als Déjà-vu – prägt, zeigt die Distanz zu Novalis’ romantischer Nachtvorstellung, die als mythische Aufhebung der sinnlichen Präsenz von Farben und Formen zu verstehen ist. Das melancholische Differenzbewußtsein von Heines Erzähler findet keine (Er-)Lösung in dem Alleinheitsversprechen der frühromantischen Mythologie. Wenn Novalis zu Beginn der »Hymnen an die Nacht« die Trauer um die Geliebte und die Sehnsucht nach der Wiedervereinigung mit ihr thematisiert, so verweist dieser persönliche Verlust paradigmatisch auf die Entzweiung und Differenz, die das Signum des reflexiven, modernen Subjekts ist. Der größere Zusammenhang, in dem dieser Verlust plaziert ist, wird in der geschichtsphilosophischen fünften Hymne aufgerufen, die eine triadische Erlösungsperspektive der Menschheitsgeschichte entwickelt, die von der alten Welt fröhlicher Götter, über die Zeitenwende mit ihrem »entsetzliche[n] Traumbild« bis zum Beginn einer neuen Zeit reicht, die mit Christi Geburt verkündet wurde.181 In der sechsten Hymne wird die Ahndung der Überwindung von Zeitlichkeit und Differenz des irdischen Lebens in der ewigen Nacht, die als Rückkehr in »des Vaters Schooß« dargestellt wird, durch die in sich geschlossene, regredierende Struktur des abschließenden Gedichts innerhalb der Hymnen poetisch beschworen. So wird im letzten Vers der »Schooß« des ersten Verses wiederholt.182

180 181 182

Novalis, Heinrich von Ofterdingen, NS I, S. 313. Novalis, »Hymnen an die Nacht«, NS I, S. 143. Novalis, »Hymnen an die Nacht«, NS I, S. 153 u. 157.

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Auch in der Reise von München nach Genua steht das Motiv der Trauer um die verlorene Geliebte in dem umfassenderen Kontext der Reflexion auf die Erfahrung von Zeitlichkeit, was im Hinblick auf die begrenzte ›Ewigkeit‹ der Tannen schon thematisiert wurde. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang in den gestrichenen Bruchstücken, die sich um Maria drehen und eine starke Konzentration auf die Kategorie Zeit aufweisen, wie das Fragment , und . Diese Passagen gehören textgenetisch zu Kapitel XX., das in der Endfassung mit dem Gespräch zwischen dem Erzähler und der Harfnerin beginnt und mit der Erinnerung an Maria endet. In dem Bruchstück , aus dem hier ein größerer Abschnitt zitiert wird, um die ursprünglich explizite Verbindung zwischen Maria und dem Thema der Zeit zu verdeutlichen, heißt es: Was ich dir aber, lieber Leser, hier erzählt, das ist kein Ereigniß von gestern und vorgestern, und Jahrtausende, viele Tausend Jahrtausende werden dahin rollen ehe sie ihren Schluß erhalten, einen gewiß guten Schluß. Denn wisse, die Zeit ist unendlich; aber die Dinge in dieser Zeit, die faßlichen Körper sind endlich, sie können zwar in die kleinsten Theilchen zerstieben, doch diese Theilchen, die Atome, haben ihre bestimmte Zahl, und bestimmt ist auch die Zahl der Gestaltungen die sich gottselbst aus ihnen hervorbilden; und wenn auch noch so lange Zeit darüber hingeht, so müssen doch, nach den ewigen Combinazionsgesetzen dieses ewigen Wiederholungsspiels, alle Gestaltungen die auf dieser Erde schon gewesen sind, wieder zum Vorschein kommen, sich wieder begegnen, anziehen, abstoßen, küssen, verderben, vor wie nach – Und so wird es einst geschehen, daß wieder ein Mann geboren wird ganz wie ich und ein Weib geboren wird ganz wie Maria […]. (DHA 7/1, 330)

In dieser Textstelle, die mit dem Gedanken des »ewigen Wiederholungsspiels« auf die finale Szene in der Gemäldegalerie in der Endfassung des Reisebilds verweist, kontrastiert die Endlichkeit der materiellen Körper mit der Vorstellung der Unendlichkeit der Zeit. Mehr noch, auch von der vergänglichen Materie geht nichts wirklich verloren, sie bleibt in den Atomen erhalten, die in einem ewigen Prozeß ständig zerfallen und sich wieder neu formieren, so daß auch Individuuen wie Maria und der Erzähler wiederkehren werden. Michel Espagne, der sich ausführlich mit diesen handschriftlichen Dokumenten auseinandergesetzt hat, verortet sie im Kontext von Heines Rezeption naturphilosophischer Theorien.183 Espagne zufolge artikuliert sich in den unveröffentlichten Passagen der Reisebeschreibung die Vorstellung einer bewegungslosen Natursubstanz, die sich auch in der Kunst offenbaren könne. Wenn Espagne festhält, daß die »Kunst, wie die Natursubstanz, […] die Garantie für Dauerhaftigkeit, der transhistorischen Identität des Subjekts« sei und »bedingte

183

Vgl. Espagne, »Die tote Maria«, S. 305f.

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Unsterblichkeit« garantiere, verweist er auf den entscheidenden Aspekt der Bruchstücke, und zwar auf die Weise wie dort Zeitlichkeit und Trauer durch die Zukünftigkeit des Subjekts überwunden werden.184 Während sich der Erzähler des früheren Reisebilds Ideen. Das Buch Le Grand, »in die Vergangenheit zurückträumte« (DHA 6, 198) und »rückwärts leb[t], im Leben der Vorfahren« (DHA 6, 176)«, projiziert der Reisende in dem Bruchstück eine, wenn auch weit entfernte, Dauer verbürgende Existenz von Maria und sich in die Zukunft. Zwar unterscheiden sich die jeweiligen Zeitrichtungen – einmal wird »die Ewigkeit erober[t] im Reiche der Vergangenheit« (DHA 6, 176) und einmal in der Zukunft – die Absicht bleibt aber die gleiche: der Entwurf von Dauer im Vergänglichen. Die genannten Bruchstücke verweisen darauf, daß zwischen Heines Reisebildern Ideen. Das Buch Le Grand und der Reise von München nach Genua besonders im Hinblick auf die Wiederaufnahme von Motiven aus dem thematischen Komplex der Zeitlichkeit in der italienischen Reisebeschreibung enge Verbindungen bestehen. So stammt das Fragment ursprünglich aus der Arbeitsphase an Ideen. Das Buch Le Grand und wurde von Heine für die Reise von München nach Genua umgearbeitet.185 Zwischen den beiden Texten findet allerdings, so die These, eine Verschiebung in der Behandlung von Zeitlichkeit statt. Der Überwältigung durch das Gefühl der Vanitas entgeht der Erzähler in Ideen. Das Buch Le Grand durch verschiedene Konzepte, wie der genannten Erfahrung der Dauer in der Vergangenheit oder der Emphase des Augenblicks – »[j]eder Augenblick ist mir ja eine Unendlichkeit« (DHA 6, 176). Im Kontext der Bedrohung des Seins durch das NichtSein führt der Erzähler aus Ideen. Das Buch Le Grand eine Stelle aus Heinrich von Kleists Prinz Friedrich von Homburg an. Sie steht im Zusammenhang mit einer der Geschichten, die der Erzähler der Madame des Textes von sich erzählt. Wahrscheinlich aus unerwiderter Liebe beabsichtigt er sich zu erschießen. Während der Erzähler, »ein Verurtheilter, der dem Tode geweiht war« (DHA 6, 175), an einer italienischen Straßenecke steht, ist es nicht zufällig der ›Augen-Blick‹ einer vorübergehenden Frau, der ihn von seinem Todeswunsch erlöst – »[m]it einem einzigen Blick hat sie mich vom Tode gerettet« (DHA 6, 175). Die humoristisch-ironische Behandlung des Themas kann nicht verbergen, daß hier wie in Kleists Drama existentielle Fragen der Zeitlichkeit verhandelt werden: Gleichviel! ich lebe. Bin ich auch nur das Schattenbild in einem Traum, so ist auch dieses besser als das kalte, schwarze, leere Nichtseyn des Todes. Das Leben ist der Güter höchstes, und das schlimmste Uebel ist der Tod. Mögen berlinische Gardelieutnants immerhin spötteln und es Feigheit nennen, daß der Prinz von Homburg

184 185

Espagne, »Die tote Maria«, S. 311. Vgl. DHA 7/2, S. 973.

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zurückschaudert, wenn er sein offnes Grab erblickt – Heinrich Kleist hatte dennoch eben so viel Courage wie seine […] Collegen, und er hat es leider bewiesen. Aber alle kräftige Menschen lieben das Leben. (DHA 6, 175f.)

Die Erkenntnis, daß das Leben zwar das höchste Gut des Menschen, aber aufgrund seiner Flüchtigkeit permanent von dem Übergang in Nicht-Existenz bedroht ist, versucht der Erzähler nicht nur durch die Emphase des unendlichen Augenblicks zu kompensieren, sondern auch durch die Zuwendung zur Alleinheit versprechenden Natur:186 »Und ich lebe! Der große Pulsschlag der Natur bebt auch in meiner Brust, und wenn ich jauchze, antwortet mir ein tausendfältiges Echo.« (DHA 6, 176) Wenn die Natur ihm wie hier als antwortendes Echo entgegentritt, wird eine umfassende Einheit des ganzen Lebens, zwischen Subjekt und Objekt, Ich und Welt suggeriert, in der die Vergänglichkeit des einzelnen Subjekts aufgehoben ist.187 Ein Rekurs auf Karl Heinz Bohrers Untersuchung Der Abschied. Theorie der Trauer kann die Differenz zwischen den Formen der Zeitlichkeit in den beiden Reisebildern Ideen. Das Buch Le Grand und Reise von München nach Genua verdeutlichen. Bohrer unterscheidet zwischen traditionellen Abschiedstopoi und einer modernen Reflexionsfigur des Abschieds, die er vor allem im Werk Baudelaires realisiert sieht. Während der traditionelle Abschied, wie Bohrer ihn exemplarisch bei Novalis und Hölderlin sieht, vom »Enthusiasmus einer höheren Kontinuität« annihiliert wird, ist die Bedingung für den Abschied als Reflexionsfigur des je schon Gewesenen der Aspekt der Zukunftslosigkeit, der sich in Texten zeigt, die nicht auf das »Diskursargument transzendenter Zukünftigkeit« zurückgreifen.188 Ebenfalls am Beispiel des Blicks ins offene Grab von Kleists Drama Prinz Friedrich von Homburg demonstriert Bohrer den Übergang zwischen den verschiedenen Formen des Abschieds. Die Existenz des Prinzen in Kleists Drama werde, so Bohrer, im dritten Akt des Dramas fundamental erschüttert, seine Zukünftigkeit schwinde durch den Blick in sein bereits ausgehobenes Grab, das von keiner »Zukunftsvision des Transzendenz-Wissens« gemildert werde.189 Diese momentane Einsicht, folgert Bohrer, werde allerdings im fünften Akt von den Worten zurückgenommen, »Nun, o Unsterblichkeit, bist Du ganz mein!«190 Die platonisch-spiritualistischen 186 187

188 189 190

Diese Möglichkeit erinnert an die Beschwörung einer Rousseauistischen Natureinheit in Byrons Childe Harold III. Vgl. dazu Kap. IV. 4.5. Diese Passage ist eine Umkehrung des vorausgehenden Monologs des Erzählers, in dem die »blühende Natur entzaubert« ist, und »leblos und kalt und fahl,/ Wie eine aufgeputzte Königsleiche« vor ihm liegt (DHA 6, S. 174). Karl Heinz Bohrer, Der Abschied. Theorie der Trauer: Baudelaire, Goethe, Nietzsche, Benjamin. Frankfurt a.M. 1996, S. 16 u. 20. Bohrer, Der Abschied, S. 19. Heinrich von Kleist, Prinz Friedrich von Homburg. In: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2: Dramen 1808–1811. Hrsg. von Ilse-Marie Barth/Hinrich C. Seeba. Frankfurt a.M. 1987, S. 642 (V. 1830).

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Metaphern der »Flügel« und »Ätherräume«, die im letzten Monolog des Prinzen auftauchen, rekurrieren, so Bohrers Fazit, letztlich wieder auf das »versöhnliche Prinzip der Dauer«.191 Zwischen Heines beiden Reisebildern Ideen. Das Buch Le Grand und der Reise von München nach Genua, so läßt sich im Hinblick auf Bohrers Differenzierung nun als Ergebnis formulieren, vollzieht sich der Übergang vom traditionellen Abschied zum Abschied als moderner Reflexionsfigur. Die Bruchstücke stellen dazu den Übergang dar. Die metempsychotischen Ideen der Seelenwanderung und Wiedergeburt, deren materialistische Variante in dem zitierten Fragment aufgerufen wird, bedienen sich zwar keiner transzendenten Versicherung mehr wie sie Bohrer am Beispiel Kleists schildert, sie zielen aber gleichwohl auf die Fortdauer und damit Unvergänglichkeit des Subjekts ab. In der Reise von München nach Genua ist die Figur des Abschieds dem Leitmotiv des Textes, der Maria, eingeschrieben. Die Narration des Erzählers, der von seiner Geliebten Maria ›Abschied‹ nehmen muß, reicht im Text, wie gezeigt wurde, von der Trauer über den Verlust eines lieben Kindes im Münchner Montgelasgarten bis zu den Déjà-vus und den Versuchen des Wiederfindens und der Wiedererweckung. Die genannten romantischen Modelle der Bewältigung von Vergänglichkeit erweisen sich, wie im Hinblick auf die galvanische Erweckungsszene gezeigt wurde, in dem melancholischen Reisebild als nicht erfolgreich. Inwiefern sich am Ende des Textes in der Gemäldegalerie ein anderes, neues Narrativ eröffnet, wird am Ende des Kapitels zu Heines Reisebild noch zu zeigen sein. Die Kategorie der Zeit und die Erfahrung von Zeitlichkeit sind zentrale Themen in Heines Reisebild Reise von München nach Genua, deren Problematisierung dem Text in vielfacher Weise eingeschrieben ist. Dazu zählt der Aspekt der Zeitlichkeit als Vergänglichkeit, der am Motiv der Maria zu sehen war, ebenso wie die Beschleunigung der Zeit und ihre Aufhebung in Figuren der Zeitlosigkeit, was im folgenden am Beispiel der Spinnerin thematisiert werden soll, die der Erzähler aus seiner fahrenden Kutsche heraus an den Marken Italiens beobachtet. Auch die Diskussion geschichtsphilosophischer Überformungen der historischen Zeit, die im letzten Drittel der Reisebeschreibung erfolgen, gehört in diesen Kontext, mit dem sich dann das darauffolgende Kapitel auseinandersetzen wird.

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Bohrer, Der Abschied, S. 21.

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5.2.3. Idylle und Labyrinth: Aufhebung der Zeit im Augen-Blick der Spinnerin Einer der wichtigsten ›Augen-Blicke‹, in denen die Temporalisierung in der Reise von München nach Genua kurzzeitig aufgehoben ist und von statischer Zeitlosigkeit ersetzt wird, ereignet sich an einer topographischen Grenze. In einer tableauhaften Szene an »den Marken Italiens« (DHA 7/1, 38) fährt die Kutsche des Erzählers an einer Frau vorüber, die er in einer superlativischen Anrede als »du Schönste von allen, du schöne Spinnerinn« (DHA 7/1, 38) apostrophiert, wodurch der Text ihre exponierte Bedeutung unter den verschiedenen Frauenfiguren des Reisebilds deutlich macht. In der Episode mit der Spinnerin halten die bedrohlichen Zeiger der Uhr für einen kurzen epiphanischen Moment an und lassen so ein Gefühl der Ewigkeit entstehen. Ihre potentiell rettende Funktion, auf die der Erzähler hindeutet, indem er sie auf die mythologischen Figuren der Ariadne und die schicksalsmächtigen Parzen bezieht, wird im folgenden unter den Aspekten der Zeit und Melancholie noch zu betrachten sein. Die Spinnerin, die auf der Galerie eines Bauernhauses sitzt, wird auf der einen Seite von einem Kruzifi x, das einem »jungen Weinstock« (DHA 7/1, 38) als Stütze dient, und auf der anderen Seite von einem Taubenverschlag umrahmt. Auf dem »Spitzdächlein« über ihr, »das, wie die fromme Steinkrone einer Heiligennische, über dem Haupte der schönen Spinnerinn hervorragte«, sitzt eine weiße Taube (DHA 7/1, 38). An diesem sakral überformten Ort sieht der Erzähler sie »nach jener uralten Weise« spinnen, in der die »Königstöchter in Griechenland« spannen, so wie »noch jetzt die Parzen und alle Italienerinnen« (DHA 7/1, 38). Die Ikonographie dieser Szene und ihr allegorischer Gehalt sind bereits mehrfach untersucht worden, vor allem unter der Perspektive des Gegensatzes von antik-heidnischen und christlichen Elementen.192 Wenig beachtet blieb bisher jedoch der auffällige Chronotopos, also die Verbindung von Zeit und Raum in dieser Szene. Das besondere Verhältnis der Zeit zum Raum ist weniger offensichtlich als die expliziten mythologischen Anspielungen und die religiöse Symbolik und verdient daher eine genauere Betrachtung.

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Vgl. Wolfgang Preisendanz, »Der Funktionsübergang«, S. 63f. sowie Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 148 ff. Preisendanz sieht in der Beschreibung der Spinnerin »eine Bildformel des Gegensatzes von Hellenentum und Nazarenertum« (»Der Funktionsübergang«, S. 63). Hildebrand dagegen verweist auf die Komplexität der geschilderten Allegorie und betont die in der »Überblendung christlicher und heidnischer Bildelemente« liegende »Versöhnung der kulturellen Gegensätze« (Sinnliche Emanzipation, S. 150 u. S. 152). Günter Oesterle wiederum betont den Zusammenhang des ikonographischen Bildes mit der »deutsch-tirolische[n] Naivität« und sieht in der Spinnerin »ein nazarenisch-allegorisches Bild des naiven deutschen Spiritualismus« (Oesterle, »Heines Reise von München nach Genua«, S. 272).

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Der Ort der Spinnerin wird als ein abgegrenzter, in sich befriedeter und geordneter Bereich beschrieben, an dem die Zeit aufgehoben zu sein scheint. Michail Bachtin hat in seinen Studien zu Formen der Zeit im Roman diese Relation von Zeit und Raum als Chronotopos der Idylle ausgewiesen, der besonders im 18. Jahrhundert eine große Rolle gewann, »als das Problem der Zeit in der Literatur mit besonderer Schärfe und Deutlichkeit aufgeworfen wurde«.193 Mit dem Erwachen eines neuen Zeitgefühls habe, so Bachtin, das literarische Genre der Idylle, deren charakteristischer Zeitmodus der zyklische ist, größte Bedeutung erlangt.194 Vor allem in Texten um 1800 werde die »wahrhaft organische Zeit des idyllischen Lebens« »der hastigen und zerstükkelten Zeit des Stadtlebens« sowie der beschleunigten historischen Zeit gegenübergestellt.195 Wichtiges Bestimmungsmerkmal des idyllischen Chronotopos ist für Bachtin die Einheit des Ortes, der – streng begrenzt, selbstgenügsam und abgeschnitten von der übrigen Welt – bereits Heimat für eine Reihe von Generationen war.196 Die zugrundeliegende organisch-repetitive Struktur führt dabei zu einer Abschwächung der individuellen Zeitgrenzen. In Heines Reisebild wurde schon in den Kapiteln, die unmittelbar der Episode mit der Spinnerin vorausgehen, die kulturanthropologisch ›naive‹ Welt der Tiroler, nicht ohne Ironie, durch seine idyllische Begrenztheit charakterisiert.197 Die Landschaftsschilderung und die Beschreibung der Tiroler in Kapitel XII. präfigurieren in auffälliger Weise die Darstellung der Spinnerin im folgenden Kapitel. Die Menschen in Tirol haben »niedliche, nette Häuschen« mit einer »balkonartigen Gallerie«, die mit »Wäsche, Heiligenbildchen, Blumentöpfen und Mädchengesichtern ausgeschmückt« ist (DHA 7/1, 36). Der Reisende glaubt, daß es sich im Inneren der Häuser »recht lieb und innig« leben muß, während »die alte Großmutter […] gewiß die heimlichsten Geschichten« erzählt (DHA 7/1, 36). Zur Außenwelt und zum politischen Zeitgeschehen hätten die Bergbewohner wenig Kontakt, da sie »vielleicht kaum einmal im Leben herabkommen, und wenig erfahren von dem, was hier unten geschieht«, weswegen sie aber »um nichts minder fromm und glücklich« seien (DHA 7/1, 36). Der Blick auf diese idyllisch befriedete Welt aus der vorüberziehenden Kutsche zeigt die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, die aufgrund des irre-

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Bachtin, Formen der Zeit im Roman, S. 174. Vgl. bes. das Kapitel »Der idyllische Chronotopos im Roman«, S. 170–191. Zur Vielfalt der ästhetischen Reflexionen und geschichtsphilosophischen Positionen in der zeitgenössischen Theoriediskussion über die Idylle vgl. Helmut J. Schneider, Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988. Bachtin, Formen der Zeit im Roman, S. 175. Vgl. Bachtin, Formen der Zeit im Roman, S. 171. »Die Tyroler sind schön, heiter, ehrlich, brav, und von unergründlicher Geistesbeschränktheit. Sie sind eine gesunde Menschenrace, vielleicht weil sie zu dumm sind, um krank seyn zu können.« (DHA 7/1, S. 34) Heine beschreibt hier die Tiroler mit ähnlichen Charakteristika wie die Bewohner Norderneys in Die Nordsee III.

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versiblen zeitlich-historischen Prozesses, der eine Rückkehr nach ›Arkadien‹ unmöglich macht, vom Erzähler auch leise betrauert wird: »Während der Wagen unerbittlich vorbeyfuhr, schaut’ ich noch oft zurück, um die bläulichen Rauchsäulen aus den kleinen Schornsteinen steigen zu sehen, und es regnete dann immer stärker, außer mir und in mir, daß mir fast die Tropfen aus den Augen herauskamen.« (DHA 7/1, 36)198 Bei dieser ›Zeit-Reise‹ kommt der Erzähler auch am Haus der Spinnerin vorbei. Auch dieser Ort an der Grenze zwischen den Kulturräumen wird gleich eingangs durch den übermäßigen Gebrauch von Diminutiva als »räumliche Mikrowelt« der Idylle exponiert.199 Das Bauernhaus wird als ein »Häuschen« mit einer »traulichen Gallerie« und »naiven Malereyen« gezeichnet, die den Erzähler »lieblich ansehen« (DHA 7/1, 38). Der idyllische Eindruck wird durch die natürliche Begrenzung des Ortes verstärkt: auf der einen Seite von der dahinschießenden Eisach und auf der anderen von hohen Bergen. In der zum Bild erstarrten Szene herrscht eine klar geordnete räumliche Staffelung: Über dem Kopf der Spinnerin sitzt »unbeweglich« eine »weiße Taube« auf dem »Spitzdächlein« des Hauses, über welchem wiederum die Berge »wie eine ernste Schutzwache von Riesen« emporragen (DHA 7/1, 38f.). Auf der Darstellungsebene findet die räumlich-vertikale Staffelung ›Kopf‹, ›Hausdach‹, ›Berge‹ ihre Entsprechung in syntaktischen Parallelismen und Wiederholungen, durch die ein Eindruck des Kreisens, passend zu der beschriebenen Tätigkeit des Spinnens, evoziert wird:200 »So spannen die Königstöchter in Griechenland, so spinnen noch jetzt die Parzen und alle Italienerinnen.« (DHA 7/1, 38) Die repetitive, kreisende Struktur des Spinnens, die semantisch betont wird, spiegelt sich in der Schwächung der Zeitgrenzen, die für den Chronotopos der Idylle charakteristisch ist: Die griechische Antike (»Königstöchter«) fließt mit der italienischen Gegenwart (»alle Italienerinnen«) zusammen, ebenso weichen die Grenzen zwischen Mythologie und Wirklichkeit auf. Der Wagen des Reisenden, der metaphorisch für die beschleunigte Zeit steht, ist an der Spinnerin nicht »unerbittlich« vorbeigefahren wie an den Tirolern im XII. Kapitel, sondern er hat seine Geschwindigkeit für einen Moment reduziert, so als ob die Zeitenthobenheit der beobachteten Idylle auf ihn übergegriffen hätte.201 198 199 200

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Meine Hervorhebungen, A.B. Bachtin, Formen der Zeit im Roman, S. 171; vgl. auch Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 155. Zwar betont der Erzähler, daß die Spinnerin nach der alten Weise und »nicht nach der deutschen Spinnradmethode« (DHA 7/1, S. 38) spinnen würde, aber auch bei dieser ältesten Methode der Handspinnerei kreist der Faden, der vom hölzernen Stock abgelassen wird, unablässig um die sich drehende Spindel (Vgl. Meyers Großes Konversations-Lexikon [1904– 08], Bd. 18, s.v. »Spinnen«, S. 744f.). Zu dieser metaphorischen Verwendung der Kutsche in der zeitgenössischen Literatur vgl. z.B. Ludwig Börnes Essay Das Gespenst der Zeit von 1821, wo es heißt: »Wir sind die Kutscher der

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Ein iteratives Moment besitzt auch die zweimal anaphorisch gebrauchte Wendung »[s]ie spann und lächelte«, die sich bei der dritten Nennung zu »sie aber spann und lächelte« steigert (DHA 7/1, 38f.). Die dritte Wiederholung ist bereits Teil des Traums der darauffolgenden Nacht, von dem der Erzähler berichtet. In der Intensivierung der Traumlogik findet eine extreme Beschleunigung der Zeit durch die verwendeten Bewegungsbegriffe und die dazugehörigen Adjektive statt: »die Tauben flatterten hin und her [...], hinter ihr hoben sich immer gewaltiger die behelmten Wächter, vor ihr hin jagte der Bach, immer stürmischer und wilder, die Weinreben umrankten mit ängstlicher Hast das gekreuzigte Holzbild, [...] sie aber spann und lächelte« (DHA 7/1, 39).202 In der Traumwahrnehmung zeigt sich die mythische Zeitentrücktheit der Spinnerin in ausdrücklichem Kontrast zur dynamisierten Zeit des Erzählers, was seine Worte, »sie aber spann und lächelte, und an dem Faden ihres Wockens, gleich einer tanzenden Spindel, hing mein eigenes Herz« (DHA 7/1, 39), zusätzlich akzentuieren. Der Traum des Erzählers stellt insofern keinen Rückzug ins Imaginär-Phantastische dar, sondern präzisiert durch eine Intensivierung der Bilder die Zeit- und Geschichts-Problematik. Die Verschiebung von der märchenhaften Beschreibung der Berge als »ernste Schutzwache von Riesen mit blanken Helmen auf den Häuptern« hin zu bedrohlichen, »behelmten Wächter[n]«, die an den aktuellen politischen Kontext denken lassen, ist dafür signifikant. Sie gibt zugleich auch Aufschluß über den prekären Status der Idyllenkonstruktion. Die Idylle der schönen Spinnerin stellt die Utopie eines mythischen Glückszustandes dar, in dem die beschleunigte geschichtliche Zeit sowie die melancholische Zeitreflexion zugunsten einer harmonischen Gegenwärtigkeit aufgehoben erscheinen.203 Zugleich wird sie als ein Schwellenort beschrieben, der das Potential hat, Entgegengesetztes (z.B. christliche und antike Elemente) zu verbinden und zu versöhnen. Die existentielle Bedeutung, die die Spinnerin für den Reisenden besitzt, wird schon einleitend zu der Episode in der emphatischen Apostrophe ihrer Person hervorgehoben sowie durch einen mythologischen Kontext, mit dem die Figur überblendet wird: »O hättest du mir, wie Ariadne dem Theseus, den

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Zeit; die großen Herren können es bequem haben, sich in den Wagen setzen und sich fahren lassen. Zwar behaupten sie, Kutsche, Pferde und Kutscher, das gehöre alle ihnen eigen, und wir müßten fahren, wohin sie wollten. Ob sie das Recht haben, dieses zu fordern oder nicht, das zu untersuchen ist jetzt zu spät; genug, wir haben die Zügel in den Händen, wir achten den Zuruf nicht, wir halten nicht ein, und das Herausspringen aus dem Wagen ist mit chirurgischer Gefahr verbunden.« (Ludwig Börne, »Das Gespenst der Zeit«. In: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Inge u. Peter Rippmann, Bd. 1: Dreieich 1977, S. 1105–1111, hier S. 1105) Meine Hervorhebungen, A.B. Vgl. dazu auch Karl Heinz Bohrer über das Zeitbewußtsein der Idylle im 18. Jahrhundert: »Aber statt melancholischer Zeitversenkung kennt die Schäferidylle des 18. Jahrhunderts nur die glücklich empfundene Gegenwart. Die Abwesenheit der Perspektivierung des Jetzt in Vergangenheit zurück und in Zukunft voraus bedeutet Zeitlosigkeit: die Zeit geht auf im arkadischen Raum.« (Bohrer, Der Abschied, S. 334f.)

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Faden deines Gespinnstes gegeben, um mich zu leiten durch das Labyrinth dieses Lebens, jetzt wäre der Minotaurus schon besiegt, und ich würde dich lieben und küssen und niemals verlassen!« (DHA 7/1, 38) Die mythologisch aufgeladene Bildlichkeit verweist auf den prekären, desorientierten Zustand des Reisenden. Von der rettenden Kraft der schönen Ariadne, die mit ihrem Faden Theseus hilft, den Minotaurus und das Labyrinth zu bezwingen, erhofft sich der Reisende einen ›Schlüssel‹ zu seinem Dasein, der ihn von seinem Leiden und Umherirren im »Labyrinth dieses Lebens« erlösen würde. Jean Starobinski hat in seiner Untersuchung »L’encre de la mélancolie« auf den Zusammenhang zwischen Melancholie und Labyrinth hingewiesen. Die Bewußtseinsstruktur des Melancholikers, dem der Schlüssel zur Lesbarkeit der Welt und ihrer Ordnung fehlt, werde im Modell des Labyrinths reflektiert, in dem sich zugleich die charakteristischen Melancholiesignaturen des Eingeschlossenseins und der ewigen Wanderschaft in Form von Stillstand und Bewegung miteinander verbinden.204 Im Unterschied zu Theseus wäre durch die erlösende Begegnung mit der Spinnerin die ewige Wanderschaft des Reisenden beendet gewesen, was er selbst mit den Worten, »ich würde dich […] niemals verlassen«, bekräftigt. Die Sehnsucht nach einem aus der labyrinthischen Struktur des Lebens und dem Fluß der Zeit gelösten, erlösenden Verweilen, dem nunc stans, das in der erfüllenden Liebesbegegnung aber weder Stillstand noch Eingeschlossensein ist, wird auch in der Beschreibung des Augen-Blicks der Spinnerin evident, der den Erzähler noch den ganzen Tag beschäftigt. Während der Augen-Blick der Schön-Elsy bei der Vorüberfahrt vom Erzähler noch als Bedrohung empfunden wird – »aus einem kleinen Fenster guckte eine kleine Sandwirthinn und zielte und schoß aus ihren großen Augen« (DHA 7/1, 38) –,205 verkörpern die Augen und das Lächeln der Spinnerin die Einlösung eines Traums: Die lieben Züge kamen mir den ganzen Tag nicht aus dem Gedächtniß, überall sah ich jenes holde Antlitz, das ein griechischer Bildhauer aus dem Dufte einer weißen Rose geformt zu haben schien, ganz so hingehaucht zart, so überselig edel, wie er es vielleicht einst als Jüngling geträumt in einer blühenden Frühlingsnacht. Die Augen freylich hätte kein Grieche erträumen und noch weniger begreifen können. Ich aber sah sie und begriff sie, diese romantischen Sterne, die so zauberhaft

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»N’allons pas croire que les situations de l’emprisonnement et du vagabondage soient inconciliables. [...] Une prison où l’on erre, une réclusion vagabonde: c’est le labyrinthe.« (Jean Starobinski, »L’encre de la mélancolie«. In: La Nouvelle Revue Française 11 (1963), S. 410–423, hier S. 416) Vgl. auch die beiden Gemälde von Dosso Dossi und Girolamo Bedoli-Mazzola in Hermann Kern, Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds, München 1982, S. 292f., die einen Zusammenhang zwischen Labyrinth und Melancholie nahelegen. Und weiter heißt es: »– wäre der Wagen nicht schnell vorübergerollt, und hätte sie Zeit gehabt noch einmal zu laden, so wäre ich gewiß geschossen. Ich rief: Kutscher, fahr zu, mit einer solchen Schön-Elsy ist nicht zu spaßen; die steckt einem das Haus über dem Kopf in Brand.« (DHA 7/1, S. 38)

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die antike Herrlichkeit beleuchteten. Den ganzen Tag sah ich diese Augen, und ich träumte davon in der folgenden Nacht. (DHA 7/1, 39)

Bei der Beschreibung der Augen ist überraschend, daß sie mit »romantischen Sterne[n]« verglichen werden, die der Erzähler offensichtlich auf eine besondere Weise begreift, die aber nicht näher erläutert wird. Da sie im Gegensatz zum antiken Körper explizit als romantisch bezeichnet werden, ist erneut der Vergleich mit der Bedeutung der Augen der Geliebten in Novalis’ »Hymnen an die Nacht« hilfreich. In der dritten Hymne sieht dort das lyrische Ich in einer Vision »die verklärten Züge der Geliebten« durch eine Wolke hindurch. Zeit und Raum lösen sich in diesem Augen-Blick für den Sprecher auf und ein neues Leben wird ihm verkündigt. »In Ihren Augen ruhte die Ewigkeit […]. Jahrtausende zogen abwärts in die Ferne, wie Ungewitter. An Ihrem Halse weint ich dem neuen Leben entzückende Tränen.«206 Unter dem Aspekt der Zeit kann der Blick in die Augen der Spinnerin, der dem Erzähler in der Reise von München nach Genua als epiphanische Vision im Gedächtnis bleibt und damit als ein außergewöhnliches Erlebnis vermittelt wird, als Aufhebung der Zeit in der Ewigkeit verstanden werden. Neben diesem romantischen Bezug ist für das Verständnis der Passage ein zentraler klassizistischer Kontext als Referenzpunkt hilfreich. Denn der AugenBlick läßt sich mit einem Begriff aus Goethes klassischer Terminologie als ›prägnanter Moment‹ bezeichnen. Diesen Moment hat Goethe in seiner Schrift Über Laokoon anhand der antiken Marmorskulptur als Augenblick höchster Intensität beschrieben, der aus dem Zeitkontinuum herausgelöst sei wie ein »fi xierter Blitz«.207 Im Medium der Schrift schafft Goethe in seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre einen narrativen prägnanten Moment in der Begegnung des Helden Wilhelm mit seiner Retterin Natalie, die in dieser Szene zur Heiligen stilisiert wird – Heines Text verfährt in vergleichbarer Weise, wenn die ›rettende‹ Spinnerin ikonographisch als Madonnenfigur dargestellt wird.208 Textexterne Dokumente, wie Heines Briefe und Gespräche mit Zeitgenossen, zeigen ebenso wie die Kapitel XVIII.–XX. der Reise von München nach Genua, die in der Figur der Harfnerin eine Kontrafaktur von Goethes Mignon darstellen, daß Heine sich während der Niederschrift seines Reisebilds intensiv mit Goethes Roman beschäftigt hat.209 Wie Heines Reisenden bleibt auch dem Protagonisten aus Goethes Roman die Begegnung mit der schönen Natalie im 206 207 208

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Novalis, »Hymnen an die Nacht«, NS I, S. 135. Vgl. Goethe, Über Laokoon, MA 4/2, S. 81. Über Wilhelms Wahrnehmung von Natalie heißt es: »In diesem Augenblicke [...] wirkte der lebhafte Eindruck ihrer Gegenwart so sonderbar auf seine schon angegriffenen Sinne, daß es ihm auf einmal vorkam, als sei ihr Haupt mit Strahlen umgeben, und über ihr ganzes Bild verbreite sich nach und nach ein glänzendes Licht. [...] Die Heilige verschwand vor den Augen des Hinsinkenden […].« (Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, MA 5, S. 226) Die zweite Phase der Arbeit an den italienischen Reisebildern fand von Mai bis Juli 1829 in

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Gedächtnis: »Unaufhörlich rief er sich jene Begebenheit zurück, welche einen unauslöschlichen Eindruck auf sein Gemüt gemacht hatte.«210 In ihr erkennt Wilhelm Meister schließlich die Erfüllung seiner Jugendträume in der Wirklichkeit. In Goethes Bildungsroman fügt sich so die Lebensgeschichte des Helden zwischen Erinnerung und Ahndung zu einer Einheit: »Sollten nicht [...] uns in der Jugend wie im Schlafe, die Bilder zukünftiger Schicksale umschweben, und unserm unbefangenen Auge ahndungsvoll sichtbar werden?«211 Wird auf diese Weise von der Romanstruktur in bezug auf den Helden Wilhelm Meister ein Identitätskontinuum hergestellt, das auf eine prästabilierte Harmonie zwischen Subjekt und Welt verweisen soll, verschiebt Heines Text den Zusammenhang zwischen Traum und Erfüllung explizit auf die Ebene der Kunst. Das »holde Antlitz« wirkt, als ob es einem griechischen Bildhauer – die Assoziation mit Pygmalion liegt nahe – entsprungen ist, der sich seinen Traum »einer blühenden Frühlingsnacht« selbst erschaffen hat. Statt einer Welt, die auf das Innere des Subjekts antwortet, zeigt sich hier im Vergleich mit Goethes Konzeption in Wilhelm Meisters Lehrjahre die Autoreferentialität der Kunst. Zugleich deutet sich durch die Assoziation mit dem Pygmalionmythos das Statuenhafte in der Figur der Spinnerin an.212 Während mit der sinnlichen Erscheinung der Idee in Goethes Roman für den Schwärmer Wilhelm die Heilung beginnt – die materielle Präsenz des Gewandes der Retterin in seinen Händen versichert ihm weiterhin die »Gewißheit der Erscheinung« – ist in Heines Version des ›unauslöschlichen Eindrucks‹ die Spinnerin zwar auch die Einlösung der Idee;213 die Betonung des Traumhaften kehrt aber zugleich den illusionären Charakter und die Künstlichkeit der imaginierten Idylle hervor. Die konsequente Dynamisierung der Szenerie im Traum offenbart zudem das (politisch) Unzeitgemäße der zeitenthobenen, idyllischen Konstruktion. Die auffällige Gegenüberstellung des Griechisch-Antiken und des Romantischen der untersuchten Passage wurde in der Forschung als Synthetisierung der ästhetischen Gegensätze antiker Plastizität und romantischer Innerlichkeit in der Figur der Spinnerin gedeutet, eine Versöhnungsidee, die von Heine auch in seinen Essays verschiedentlich geäußert wurde.214 Zwar, so läßt sich nun

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Potsdam statt (siehe dazu DHA 7/2, S. 603 ff). Auf die gleichzeitige Auseinandersetzung mit Goethes Meister weist ein Brief an Moses Moser vom 18. Mai 1829 hin (HSA 20, S. 357). Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, MA 5, S. 233. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, MA 5, S. 233. Der Mythos vom Künstler Pygmalion spielt in Heines Texten eine bedeutende Rolle. Pygmalion, »abgestoßen von den Fehlern, mit denen die Natur das Frauenherz so freigebig beschenkt hat«, schafft sich eine perfekte Frau aus Elfenbein, mit einer »Gestalt, wie keine Frau auf Erden sie haben kann, und verliebte sich in sein eigenes Geschöpf« (Ovid, Metamorphosen, S. 527 = X, 244–249). Für das Motiv der Statuenliebe bei Heine siehe Dolf Sternberger, Heinrich Heine und die Abschaffung der Sünde, Frankfurt a.M. 1976 (revid. Neuaufl. der Ausg. von 1972), S. 181–205. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, MA 5, S. 233. Vgl. Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 154f. In der Person Shakespeares, so schreibt

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sagen, werden am Ort der Spinnerin romantische und klassizistische Modelle der Sinnkonstitution, die Zeitlichkeit und Kontingenz aufheben, erprobt; die Gattungsreferenz auf die Idylle und ihren zyklischen Chronotopos verdeutlichen dies, aber schon der Traum und die darauffolgende Ankunft in Trient weisen das Glücksversprechen der Idylle als ein prekäres aus. Denn Zeitlichkeit kehrt dort in Gestalt der deutschen Schmerzen und der ›anderen‹ Marienfigur zurück, die scharf von der statischen, aus der Zeit enthobenen Spinnerin in ihrer »Heiligennische« (DHA 7/1, 38) absticht. Der klar geordnete und begrenzte Raum der Spinnerin, der die Verwirrung des im Labyrinth des Lebens herumirrenden Erzählers hätte aufheben können, wird in der Chronologie der Erzählung unmittelbar mit der Stadterfahrung in Trient konfrontiert. Als »[b]efangen in solchen Träumen, selbst ein Traum« charakterisiert der Erzähler seinen Zustand bei der Ankunft in Italien (DHA 7/1, 39), wo eine Vielfalt von verwirrenden Eindrücken auf ihn einstürzt: »[S]o erschrak ich fast, als mich all die großen italienischen Augen plötzlich ansahen, und das buntverwirrte italienische Leben mir leibhaftig, heiß und summend, entgegenströmte.« (DHA 7/1, 39)215 Am Marktplatz der Stadt schließlich, der den karnevalistischen Chronotopos im Unterschied zum idyllischen der Spinnerin repräsentiert, wird der Erzähler von den ›materiellen‹ Feigen, die ihm die Marktfrau an den Kopf wirft, davon überzeugt, daß er sich in der »wirklichsten Wirklichkeit« (DHA 7/1, 41) befindet.216 Im Gegensatz zu den eindeutig getrennten Bereichen am idyllischen Ort der Spinnerin, dem programmatisch die Verse: »Sie konnten beysammen nicht kommen,/ Das Wasser war viel zu tief« (DHA 7/1, 37), des mythisch-poetischen Lieds von den beiden Königskindern vorangestellt sind, zeichnet sich der karnevalistische Chronotopos durch eine Verkehrung der Sphären sowie die Überschreitung zwischen Bühnen- und Zuschauerraum aus. Wie der idyllische suspendiert auch der karnevalistische Chronotopos pragmatische Zeit-Raum-Relationen, allerdings ohne einen Rückzug aus dem öffentlichen Leben. Mit diesem Chronotopos kann das Erlebnis des Reisenden in Trient, wo ihm Zeit und Raum, Wirklichkeit und Traum, Fiktion und Realität verschwimmen, prägnant beschrieben werden. Vermischung, Grenzüberschreitung und paradoxale Umkehrungen prägen die Wahrnehmung des Erzählers von den Menschen und den Häusern – die Frauen scheinen aus »alt-

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Heine in seinem Essay Ludwig Börne. Eine Denkschrift, würden sich »der Spiritualismus und die Kunst […] zu einem höheren Ganzen entfalte[n]« (DHA 11, S. 45). Das unterscheidet die Idylle der Spinnerin auch von der »Bergidylle« in der Harzreise, die eine emanzipatorische Versöhnungsidee formuliert, die nicht sofort wieder relativiert wird. Olaf Hildebrands These, daß in der Reise von München nach Genua alle Figuren und Ereignisse sich am Ideal der Spinnerin messen lassen müssen, trifft eher auf Die Harzreise zu, wo unter der Perspektive der Philisterkritik die Signifi kanten ›gesund‹ und ›krank‹ noch stabiler sind als in dem späteren italienischen Reisebild (vgl. Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 156). Zum karnevalistischen Chronotopos vgl. Michail Bachtin, Formen der Zeit im Roman, S. 101–170.

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italienischen Gemälden« zu stammen, die Mädchen haben »etwas jahrtausendlich Verstorbenes und doch wieder blühend Aufgelebtes«, und er selbst glaubt Teil einer von ihm selbst gedichteten Novelle zu sein, in die er hineingezaubert wurde (DHA 7/1, 37). Die Suche des Erzählers nach Figuren der Zeitlosigkeit, die sich ihrem unablässigen Fortschreiten widersetzen, zeigt sich auch in der Wahrnehmung der Stadt Verona, die den Erzähler wie ein »mächtiger Fiebertraum« (DHA 7/1, 54) erfaßt. In der Architektur der Stadt sieht der Reisende den spannungsreichen Kontrast zwischen stillstehender Zeit und Zeitlichkeit. Der halb zerstörte Uhrzeiger und das Ziffernblatt eines »altviereckigen Kirchthurm[s]« lassen den Eindruck entstehen, »als wolle die Zeit sich selber vernichten« (DHA 7/1, 56f.). Der Zerfall der Kirchturmuhr, die als technisches Objekt die offizielle Zeit angibt, bringt die Zeit scheinbar zum Stehen und erzeugt dabei die Atmosphäre einer phantastischen Zeitlosigkeit. Dieser scheinbare Stillstand der Zeit, ihre Aufhebung in die Zeitlosigkeit, erinnert den Erzähler nicht zufällig an romantisch-phantastische Entwürfe: »[Ü]ber dem ganzen Platz liegt derselbe romantische Zauber, der uns so lieblich anweht aus den phantastischen Dichtungen des Ludovico Ariosto oder des Ludovico Tieck.« (DHA 7/1, 57) Die phantastische Auflösung der realen historischen Zeit in Bildern des Zeitlosen ist für romantische Texte besonders charakteristisch wie etwa vom hier genannten Ludwig Tieck.217 Für Günter Oesterle, der diese »romantischen Bilder der Zeitenverschiebung hin in die Zeitlosigkeit« in der Reise von München nach Genua hervorhebt, verweisen sie auf den Aspekt der ästhetischen Faszination am romantischen Narzißmus, der in der Problematik des ›ewigen Wiederholungsspiels‹ am Ende des Textes kulminiere.218 Wie die Episode mit der Spinnerin exemplarisch zeigt, werden in Heines italienischem Reisebild zwar romantische Modelle des Zeitlosen mehrfach anzitiert, aber vom ›Fluß‹ der Zeit stets auch wieder eingeholt. Zusammenfassend läßt sich über die Begegnung mit der Spinnerin sagen, daß der Reisende in ihrer Idylle zunächst einen harmonisch geordneten Zufluchtsraum erkennt. Dort scheint es, als ob er in der Liebe der Spinnerin Ruhe und Erlösung finden könnte von den modernen Differenzerfahrungen, zu denen neben dem Verlustempfinden die Beschleunigung der Zeit und eine ›offene Zukunft‹ zählen. Gleichzeitig wird aber auf der Darstellungsebene der kompensatorische Charakter der Idylle, die Beschränktheit und Vergeblichkeit dieses Glücksversprechens für die reale Lebenswelt aufgedeckt, einerseits durch die Anspielungen auf die Unfreiheit der politischen Lage sowie ande217

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Zum Phänomen der Zeitlichkeit besonders bei Ludwig Tieck vgl. die einschlägige Untersuchung von Manfred Frank, Das Problem ›Zeit‹ in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung. München 1972. Oesterle, »Heines Reise von München nach Genua«, S. 274.

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rerseits durch die kontrastierende Einrahmung der Episode von der unzeitgemäß naiv-beschränkten Welt der Tiroler auf der einen Seite und der Stadterfahrung in Trient auf der anderen. Der idyllische Bereich in Heines Text ist in wörtlichem Sinne ein U-topos, ein narrativ konstruierter Nicht-Ort, dem als Strukturprinzip die Allegorie zugrundeliegt. Die allegorische Rettung des Reisenden durch die Spinnerin, die von ihrer erhöhten Position auf das »Labyrinth dieses Lebens« herabblickt, erweist sich im doppelten Sinne als die eines »Gespinnstes« (DHA 7/1, 38). Während das klassisch-griechische Labyrinth der Spinnerin-Ariadne nur aus einem Weg besteht, der – wie das Bild der nicht anhaltenden Kutsche zeigt – hinein und auch wieder hinaus führt, gibt es im modernen, rhizomatischen Labyrinth der Stadt kein erlösendes Ziel mehr, der geradlinige Weg löst sich in die Struktur des Umwegs, des mäandernden Wegs auf.219 5.2.4. Lineare und zyklische Theorien des Geschichtsverlaufs in Heines Reise von München nach Genua Der melancholische Erzähler projiziert das Ende seiner ewigen Wanderschaft, seines Umherirrens im Labyrinth des Lebens auf die mythologischreligiös überformte Spinnerin, die ihm an der Grenze zwischen Tirol und Italien begegnet. Der Versuch, Zeitlichkeit durch Sinnentwürfe zu bewältigen, denen Dauer bzw. Ewigkeit eignet, betrifft in der Reise von München nach Genua nicht nur den individuellen Erfahrungshorizont, der an den beiden untersuchten weiblichen Figuren der Maria und der Spinnerin deutlich wurde, sondern auch den geschichtlich-historischen Bereich. Die Differenzerfahrung, die durch den Verlust von (metaphysischer) Dauer sowie die Erfahrung einer beschleunigten Zeit und einer offenen Zukunft entsteht, drückt sich in einem generellen Leiden des modernen Individuums an der Zeit aus, auf das seit Ende des 18. Jahrhunderts die verschiedenen Zeitenwendemodelle und Geschichtsentwürfe antworten. Diese versuchen, wie Johann Gottfried Herder schreibt, im »Labyrinth der Geschichte« Sinn und Orientierung zu stiften, um den Geschichtsverlauf wieder lesbar zu machen.220

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Martina Wagner-Egelhaaf unterscheidet in Anlehnung an Umberto Ecos Nachschrift zum »Namen der Rose« drei verschiedene Typen des Labyrinths: das klassisch-griechische Labyrinth, den barock manieristischen Irrgarten und das Rhizom-Labyrinth (vgl. Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur, S. 210–212). Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Werke, Bd. 6. Hrsg. von Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1989, S. 669. Vgl. auch die Untersuchung von Ingrid Oesterle, die im Hinblick auf die triadischen Geschichtsvorstellungen der Romantiker betont, daß der Verlust von Dauer das Experimentieren mit verschiedenen Zeitund Geschichtsentwürfen herausfordere. Das Bewußtsein von Diskontinuität lasse, so Ingrid Oesterle, das Bedürfnis entstehen, Geschichte neu zu lesen: »Die Aufmerksamkeit auf Spuren, Zeichen, Signaturen, Chiffren, Hieroglyphen« sei »Indiz einer neuartigen Annäherung

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Der melancholische Blick des Italienpilgers nimmt während seiner Reise in den Süden überall Ruinen wahr – dazu gehören die antiken Denkmäler, aber auch ganze Städte und deren Einwohner werden als Ruinen beschrieben. In den archäologischen Zeugnissen einer früheren Zeit reicht die Vergangenheit unmittelbar in die Gegenwart. Angesichts der Ruinen kommt es in Heines Text zu Vergleichen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die, ähnlich wie bei Byron und Constantin François Volney, zu Betrachtungen über den Verlauf der Geschichte führen. Dabei rekurriert auch Heines Reise von München nach Genua auf zwei verschiedene Modelle, um das ›Buch der Geschichte‹ zu verstehen: ein zyklisch-fatalistisches Kreislaufmodell und ein lineares Fortschrittsmodell. 221 Ihr nicht hierarchisiertes Nebeneinander, das in der Forschung viele Diskussionen hervorgerufen hat, kann als Indiz dafür gelten, daß in dem Text eine generelle Skepsis gegenüber geschichtsphilosophischen Deutungen vorherrscht.222 Besonders dominant sind die Betrachtungen über den Verlauf der Geschichte während der Besichtigung des Schlachtfeldes von Marengo gegen Ende der Narration. Der Anblick des Ortes, an dem am 14. Juni 1800 Napoleons italienische Kampagne siegreich entschieden wurde, löst beim Erzähler Reflexionen über den Gang der Geschichte aus. Der Reisende liebt Schlachtfelder, da sie die »geistige Größe des Menschen« bekunden, »der seinem mächtigsten Erbfeinde, dem Tode, zu trotzen vermag« (DHA 7/1, 71). Die vielen Opfer, die dieser Krieg fordert, sorgen allerdings auch für Zweifel an seiner Berechtigung: »Aber ach! jeder Zoll, den die Menschheit weiter rückt, kostet Ströme Blutes; und ist das nicht etwas zu theuer? Ist das Leben des Individuums nicht vielleicht ebenso viel werth wie das des ganzen Geschlechtes?« (DHA 7/1, 71) In visionärer Aufbruchsstimmung verkündigt der Erzähler, daß er dennoch weiter kämpfen wolle im »heiligen Befreyungskriege der Menschheit« – denn dieser sei die Aufgabe der Zeit, durch deren Lösung das Men-

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von Schrift und Bild als Versuch, Gegenwart lesbar und Zukunft einholbar zu machen« (I. Oesterle, »Zur kulturellen Konstruktionsveränderung von Zeit gegen 1800«, S. 107). Auf die verschiedenen Geschichtsmodelle in der Reise von München nach Genua wurde in der Forschung bereits mehrfach hingewiesen, etwa von Günter Oesterle, »Heines Reise von München nach Genua« und Andreas Böhn, »Seelenwanderung und ewiges Wiederholungsspiel. Zum Verhältnis zwischen linearer und zyklischer Zeit in Heines Reisebildern«. In: Athenäum 4 (1994), S. 283–310. Siehe dazu auch meinen Aufsatz: »Geschichte als Fiktion. Heines Reise von München nach Genua und die Krise des historischen Verstehens«. In: Sandra Heinen/Harald Nehr (Hrsg.), Krisen des Verstehens um 1800. Würzburg 2004, S. 297–319. Vgl. auch Jutta Müller-Tamm, »›…als habe die Natur ein Plagiat begangen‹. Seelenwanderung als poetologische Chiffre in Heines Reisebildern.« In: DVjs 81 (2007), S. 47–57. Müller-Tamm formuliert dort eine, der Argumentation meines Aufsatzes »Geschichte als Fiktion« ganz ähnliche These. Im Zusammenhang mit der Figur des Déjà-vu argumentiert sie, daß in Heines Reisebild »nicht mehr die eine Auslegung der Geschichte, sondern der Interpretationscharakter von Geschichte überhaupt« zur Debatte stehe (S. 49).

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schengeschlecht ein Stück weiterrücken werde (DHA 7/1, 70). Die Empathie mit den konkreten menschlichen Opfern veranlaßt den überzeugten Kämpfer für die Freiheit dazu – wenn auch nur für einen kurzen Moment – das Recht auf Leben des einzelnen Individuums einzuklagen und an dem Fortschritt in der Geschichte zu zweifeln. Wie das Fortschrittscredo, das angesichts der Opfer problematisiert wird, zeigt, haben die drei umfangreichen Kapitel zu Marengo das Phänomen der Geschichtlichkeit »im Sinne eines sich als geschichtlich wissenden Existierens«223 zum Gegenstand. Wie Dorothee Kimmich in ihrer Untersuchung Wirklichkeit als Konstruktion betont, besitzt für die Zeit um 1830 ›Geschichtlichkeit‹ im Sinne einer zunehmenden Reflexion auf die historische Bedingtheit und Relativität von ästhetischen und moralischen Urteilen eine enorme Bedeutung.224 In Heines Text wird ein solches Bewußtsein während des Besuchs auf dem Schlachtfeld von Marengo auf verschiedene Weise manifest. Der Reisegefährte des Erzählers – ein Livländer – bringt den steten Wandel und die Schnellebigkeit der eigenen Zeit auf den Punkt: »Wer denkt jetzt noch an Marengo!«, ruft er mit Blick auf die aktuellen Tagesinteressen, die jetzt erfordern, daß man »gut russisch« sei (DHA 7/1, 71). Der Wandel in der Einschätzung Rußlands als Feind Frankreichs und der Revolution hin zum »Gonfaloniere der Freyheit« (DHA 7/1, 71) ist Indiz für die Beschleunigung der Zeit und die damit verbundene Relativität der politischen Urteile, die sich ununterbrochen und mit ungeheurer Schnelligkeit verschieben. Dieser rasante »Wechsel der Losungsworte und Repräsentanten in dem großen Kampfe« (DHA 7/1, 71) bereitet dem Erzähler Unbehagen, da er feststellen muß, daß »wir unsre Repräsentanten vielmehr der Stimmenmehrheit unserer Feinde als der eignen Wahl verdanken« (DHA 7/1, 72). Die politischen Überzeugungen, die Ideale, für die gekämpft wird, sind nur scheinbar frei gewählt, da sich zeigt, daß sie von kontingenten geschichtlichen Ereignissen determiniert werden. Auf die Frage, ob er gut russisch sei, zögert der Erzähler folglich mit Gedanken an Napoleon: Das war eine Frage, die ich überall lieber beantwortet hätte als auf dem Schlachtfelde von Marengo – Ich sah im Morgennebel den Mann mit dem dreyeckigen Hütchen und dem grauen Schlachtmantel [...], in der Ferne erscholl es wie ein schaurig süßes allons enfans de la patrie – Und dennoch antwortete ich: ja, ich bin gut russisch. (DHA 7/1, 71)

Mit Bezug auf Reinhart Kosellecks Studien läßt sich konstatieren, daß sich die Zeitfristen seit der Französischen Revolution, an die das Nebelbild Napoleons und das ferne Echo der Marseillaise erinnern, zunehmend verkürzen. Die Poli-

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Scholtz, Art. »Geschichte. Historie«, Sp. 405. Vgl. Dorothee Kimmich, Wirklichkeit als Konstruktion. Studien zu Geschichte und Geschichtlichkeit bei Heine, Büchner, Immermann, Keller und Flaubert. München 2002, S. 15.

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tiker, die in der Wahrnehmung des Volkes die revolutionäre Idee repräsentieren, lösen einander buchstäblich im fliegenden Wechsel ab: »Seltsamer Wechsel! noch vor zwey Jahren bekleideten wir mit diesem Amte einen englischen Minister […]. Die Fahne aber nahmen wir wieder fort von Downingstreet, und pflanzten sie auf die Petersburg, und wählten zu ihrem Träger den Kaiser Nikolas […].« (DHA 7/1, 71f.) Das Bewußtsein der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz tritt in einer ungewöhnlichen Formulierung des Erzählers besonders deutlich hervor, und zwar wenn er nicht den zeitgenössischen, sondern den Leser zukünftiger Zeiten adressiert: Lächle nicht, später Leser. Jede Zeit glaubt, ihr Kampf sey vor allen der wichtigste [...] – unser heiliger Kampf dünkt uns der wichtigste, wofür jemals auf dieser Erde gekämpft worden, obgleich historische Ahnung uns sagt, daß einst unsre Enkel auf diesen Kampf herabsehen werden, vielleicht mit demselben Gleichgültigkeitsgefühl, womit wir herabsehen auf den Kampf der ersten Menschen, die gegen eben so gierige Ungethüme, Lindwürmer und Raubriesen, zu kämpfen hatten. (DHA 7/1, 70)

Durch den Blick auf die zukünftigen Generationen wird das Pathos des »heiligen Befreyungskriege[s]« (DHA 7/1, 71), der »große[n] Aufgabe unserer Zeit«, (DHA 7/1, 69) subtil hinterfragt. Historische Relativität problematisiert den Glauben an eine allgemeingültige, zeitenüberdauernde Wahrheit, in deren Namen gekämpft wird. Dabei fühlt der Erzähler, daß durch den Progreß der Zeit und die unhintergehbare historische Differenz spätere Generationen nicht nur gleichgültig und verständnislos auf die Probleme der Vergangenheit »herabsehen« werden, sondern durch das Fortschreiten der Zeit werden in einer vergangenen Zukunft die eigenen Kämpfe und Siege entwertet und bedeutungslos erscheinen: O! sie [die zukünftigen Menschen, A.B.] werden eben so wenig ahnen, wie entsetzlich die Nacht war, in deren Dunkel wir leben mußten, und wie grauenhaft wir zu kämpfen hatten, mit häßlichen Gespenstern, dumpfen Eulen und scheinheiligen Sündern! O wir armen Kämpfer! die wir unsre Lebenszeit in solchem Kampfe vergeuden mußten, und müde und bleich sind, wenn der Siegestag hervorstralt! (DHA 7/1, 74)

Der Kampf der ersten Menschen gegen »Ungethüme, Lindwürmer und Raubriesen« ist nun zu einem gegen Gespenster, Eulen und Sünder geworden, wobei die parallele Konstruktion ein vergleichbares Schicksal in der Wahrnehmung der zukünftigen Generationen unterstreicht. Vor solchem Relativismus, der das Gefühl radikaler Sinnlosigkeit hervorruft, schützt nur der Glaube an den Fortschritt der Geschichte, der allerdings, wie bereits erwähnt, auf Kosten des einzelnen Individuums geht. Der einzelne Kämpfer hofft auf den »Siegestag«, wird ihn in seiner Zeit aber nicht mehr erleben können: »Die Glut des 358

Sonnenaufgangs wird unsre Wangen nicht mehr röthen und unsre Herzen nicht mehr wärmen können, wir sterben dahin wie der scheidende Mond – allzu kurz gemessen ist des Menschen Wanderbahn, an deren Ende das unerbittliche Grab.« (DHA 7/1, 74)225 Die Gegenüberstellung von Kontinuität und historischem Wandel bestimmt auch das darauffolgende Kapitel. Die Episode auf dem Schlachtfeld von Marengo wird von einer thematischen Klammer umschlossen. Sowohl das vorausgehende als auch das nachfolgende Kapitel fragen im Kontext von Zeit und Geschichtlichkeit nach der Funktion der Dombauten in der Zukunft. Nach dem Schlachtfeld von Marengo ist der nächste Halt auf der Reise nach Genua ein Franziskanerkloster. Die »Größe der alten Kirchen«, die erst Generationen später vollendet werden konnten, und die »große, steinfeste Gesinnung ihrer Erbauer« (DHA 7/1, 75) stehen für das Kontinuum der Historie, die Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In einer Zeit, die noch nicht von Geschichtlichkeit erfaßt war, befanden sich »alle im festen Glauben an die Ewigkeit der katholischen Religion und im festen Vertrauen auf die gleiche Denkweise der folgenden Geschlechter, die weiter bauen würden wo die Vorfahren aufgehört« (DHA 7/1, 75). Der Erzähler versucht sich die Erschütterung der Dombauer vorzustellen, die vor einem nicht fertig gewordenen Dom durch »das Lachen der neuen Zeit [...] des Nachts plötzlich erwachten, und im schmerzlichen Mondschein ihr unvollendetes Tagewerk sähen, und bald merkten, daß die Zeit des Weiterbauens aufgehört hat und daß ihr ganzes Leben nutzlos war und dumm.« (DHA 7/1, 75) Während vordergründig die Vorstellung der unvollendeten Dome als Sieg der Emanzipation über die, wie es im Zitat heißt, Gespenster, Eulen und Sünder gelesen werden kann, der den Glauben an den Fortschritt und den eigenen heiligen Kampf bekräftigt, öffnet sich indessen ein noch größerer Abgrund als zuvor. Denn impliziert wird, daß es nicht allein bei dem »Gleichgültigkeitsgefühl« (DHA 7/1, 70) der folgenden Generationen bleibt, sondern, daß diese wie »die jetzige neue Zeit« wieder »eine andere Aufgabe [...], einen anderen Glauben« (DHA 7/1, 75) haben werden. Dadurch werden aber der Glaube und die Ideale des eigenen Lebens mit dem Glauben der mittelalterlichen Dombauer vergleichbar und damit gleichermaßen hinterfragt – als möglicherweise »nutzlos« und »dumm«. Das potentiell gemeinsame Schicksal der unterschiedlichen Generationen wird auch hier wieder sprachlich betont, und zwar durch die Wiederaufnahme der Mondmetaphorik. Die Relativierung des eigenen Standpunktes durch das unaufhaltsame Fortschreiten der Zeit wird für den Erzähler zu einem bedrückenden Moment.

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Die auf dem Schlachtfeld von Marengo durchgängig verwendete Sonnensymbolik beschwört deutlich ein Zeitenwendemodell, das das ›Aufgehen‹ einer goldenen Zukunft im Kontrast zur Nacht (Mond und Dunkelheit) der Gegenwart auszeichnet.

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In der Reise von München nach Genua wird Zeit nicht nur in ihrer historischlinearen Dimension thematisiert, die in die verunsichernde Erkenntnis der Geschichtlichkeit aller politischen, moralischen und – so läßt sich ergänzen – ästhetischen Urteile mündet. Daneben gewinnt auch die Vorstellung einer unablässigen zyklischen Bewegung der Zeit für den Erzähler an Schrecken. Die Euphorie, die der Erzähler auf dem Schlachtfeld empfindet, wird am Ende des Textes beim Anblick der »Portraits schöner Genueserinnen« (DHA 7/1, 78) mit einem Vanitas-Erlebnis konfrontiert, das den Erzähler zu schwermütigen Betrachtungen veranlaßt: »Melancholisch überkriecht uns der Gedanke: daß von den Originalen jener Bilder […] nichts übrig geblieben ist, als diese bunten Schatten, die ein Maler, der gleich ihnen längst vermodert ist, auf ein morsch Stückchen Leinwand gepinselt hat, das ebenfalls mit der Zeit in Staub zerfällt und verweht.« (DHA 7/1, 79) Die Vergänglichkeit der weiblichen Schönheit ist der Auslöser für die Reflexionen über die vernichtende Kraft der Zeit, die alles erfaßt – nicht nur die Menschen, sondern auch ihre Kunstwerke und architektonischen Bauten. Aus pessimistischer Perspektive rückt die Zeit nun nicht mehr unaufhaltsam weiter zur Befreiung der Menschheit, sondern – aus Sicht des individuellen Lebens – wird sie zur alles zerstörenden Kraft, sowohl des Schönen als auch des Häßlichen. Aus dem Blickwinkel des Todes werden »selbst jene egyptischen Pyramiden, die seiner Zerstörungswuth zu trotzen scheinen«, zu »Denkmäler[n] der Vergänglichkeit« (DHA 7/1, 79). Die Auffassung der Geschichte als ein Fortschreiten zum Besseren, wie sie der Erzähler, ›gut hegelianisch‹, auf dem Schlachtfeld von Marengo vertritt, wird hier, am Ende des Reisebilds, mit einer Vorstellung vom Verlauf der Geschichte als »trostlos ewige[m] Wiederholungsspiel« (DHA 7/1, 79) konfrontiert. Als Kreislauf eines unaufhörlichen Werdens und Vergehens beherrscht die zyklische Zeitvorstellung das letzte Kapitel der Reise von München nach Genua. In den unveröffentlichten Bruchstücken zu diesem Kapitel, die bereits oben erwähnt wurden, ist die Rede von einer »uralte[n] Geschichte« (DHA 7/1, 329): »Jahrtausende, viele tausend Jahrtausend werden dahinrollen eh sie ihren Schluß erhalten, einen guten Schluß. Wisse, die Zeit ist unendlich«. (DHA 7/1, 329) In der veröffentlichten Textfassung hingegen wird die dahinrollende Zeit zur Zwangsvorstellung. Der Erzähler leidet an einem sich unendlich im Kreis bewegenden ›Rad der Zeit‹, dessen zyklische Bewegung nun mit Sinnleere und Gefangensein assoziiert wird.226 Die Vorstellung einer ewigen Wie-

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Diese Metapher untersucht Achim Hölter in seinem Aufsatz »Das Rad der Zeit – Eine Denkfigur der Romantik«. In: Arcadia 30 (1995), S. 248–285. Wie die Idylle der Spinnerin gezeigt hat, wird in der Reise von München nach Genua die Vorstellung einer zyklischen Zeit sowohl unter positivem als auch negativem Vorzeichen vorgeführt: Positiv, als Erlösung von Zeit erscheint sie, wenn sie in den organischen Kreislauf der Natur eingebunden ist; sie wird dagegen negativ zum Rad der Zeit, wenn sie als mechanisches Abrollen einer niemals endenden, sich ewig wiederholenden Kreisbewegung verstanden wird. Allerdings ist auch der idyllische

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derholung wird in Verbindung gebracht mit der Frage nach Originalität und Epigonalität: Aber noch schlimmer als dieses Gefühl eines ewigen Sterbens, einer öden gähnenden Vernichtung, ergreift uns der Gedanke, daß wir nicht einmal als Originale dahinsterben, sondern als Copien von längstverschollenen Menschen, die geistig und körperlich uns gleich waren, und daß nach uns wieder Menschen geboren werden, die wieder ganz aussehen und fühlen und denken werden wie wir, und die der Tod ebenfalls wieder vernichten wird – ein trostlos ewiges Wiederholungsspiel, wobey die zeugende Erde beständig hervorbringen und mehr hervorbringen muß, als der Tod zu zerstören vermag, so daß sie, in solcher Noth, mehr für die Erhaltung der Gattungen als für die Originalität der Individuen sorgen kann. (DHA 7/1, 79)

Zwar wird hier der tröstliche Gedanke formuliert, daß die zukünftigen Menschen sich weder geistig noch körperlich – wie es noch die Reflexionen am Schlachtfeld prognostiziert haben – von den gegenwärtigen unterscheiden werden, aber diese Geschichtsauffassung, die ein Kontinuum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entstehen läßt, macht gleichzeitig die Entstehung von Neuem unmöglich. Im Gefängnis des ewig Wiederkehrenden kann es nichts Neues geben, sondern immer nur »Copien« des Alten.227 Die Reflexion auf das Verhältnis von Original und Kopie in einer Kunstgalerie legt nahe, daß der Gedanke nicht nur in einem geschichtsphilosophischen Kontext virulent ist, sondern daß hier implizit auch kunstästhetische Fragen verhandelt werden. Bevor das letzte Kapitel der Reise von München nach Genua noch einmal betrachtet wird mit der These, daß in der Genueser Gemäldegalerie kunstästhetische, identitätslogische und geschichtsphilosophische Fragen im Wiedererkennen der Maria kulminieren, soll zunächst die implizite und explizite Reflexion des Textes auf kunstästhetische und nachahmungstheoretische Probleme, die das Verhältnis zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Geschichtsschreibung und Dichtung betreffen, eingehend dargestellt werden.

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Chronotopos durch seine enge Begrenzung und die organische Wiederkehr des ewig Gleichen, die Bewegung und Veränderung per definitionem ausschließt, problematisch. Zyklisches Geschichtsbild und ewige Wiederkehr des Gleichen werden auch in Heines unveröffentlichtem Essay miteinander verbunden. Über die Anhänger des zyklischen Modells heißt es dort: »›Es ist nichts Neues unter der Sonne!‹ ist ihr Wahlspruch; und selbst dieser ist Neues, da schon vor zwey Jahrtausenden der König des Morgenlandes ihn hervorgeseufzt.« (DHA 10, S. 301)

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5.3.

Performanz, Kunst und Politik – die Reise von München nach Genua und die zeitgenössische Gegenwart

5.3.1. Selbstreflexivität und Intermedialität Obwohl die Differenz von Heines Reisebild zu Italienreiseberichten, die wie Goethes Italienische Reise die Kunstbetrachtung in den Mittelpunkt stellen, immer wieder betont wurde, sind bei einem näheren Blick Kunstreflexionen auch in der Reise von München nach Genua omnipräsent.228 Zurecht hat Günter Oesterle auf die außerordentliche »Literarizität und Ästhetizität« des Textes hingewiesen.229 Wenn Jost Hermand schreibt, daß Heine nicht nach Italien reise, um wie Goethe seinen Kunstverstand zu entwickeln, sondern um »sich politisch zu informieren, Vergleiche anzustellen und seinen gesellschaftlichen Horizont zu erweitern«, dann erfaßt das nur die eine Hälfte des komplexen Verhältnisses von Kunst und Wirklichkeit, das in Heines Reisebild diskutiert wird.230 Vom Beginn des chronologischen Reiseberichts in einem Münchner Biergarten bis zu seinem Ende in der Genueser Gemäldegalerie bestimmen literarische Selbstreflexivität und Intermedialität den Text. Diese zentralen Merkmale deuten auf den poetologischen Schwellencharakter von Heines italienischer Reisebeschreibung hin, die eine Neubestimmung der Rolle der Kunst in der Gegenwart anstrebt. Die hohe Dichte kunstästhetischer Bezüge im Text zeigen etwa die Beobachtungen des Erzählers zur deutschen und italienischen Architektur, die Beschreibung der italienischen Oper am Beispiel Rossinis und die Charakterisierung der Malerei von Rubens und Peter Cornelius. Darüber hinaus existieren zahlreiche Anspielungen und Verweise auf literarische Texte und ihre Autoren. Neben der intertextuellen Referenz auf einzelne Werke von Jean Paul, Karl Immermann, Ludwig Tieck und E.T.A. Hoffmann, um nur einige zu nennen, wird im XXVI. Kapitel auch auf die Gattung des italienischen Reiseberichts metafiktional Bezug genommen. Die Bedeutung der metaästhetischen Diskussion von Kunst und Literatur im Text läßt sich pointiert als selbstreflexive Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Kunst und Wirk-

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Bei Walter Erhart etwa heißt es: »In der spezifischen Betrachtung Italiens kehrt Heines Reisebericht die Tendenzen der meisten Italienschilderungen im Gefolge Goethes gewissermaßen um: Statt Natur und Kunst stehen – wie schon bei Seume – Geschichte und Politik im Mittelpunkt der Reflexionen über Italien.« (Erhart, »Weltschmerz und Emanzipation«, S. 166) Oesterle, »Heines Reise von München nach Genua«, S. 270. Hermand, Der frühe Heine, S. 142. Sabine Bierwirth, die das Verhältnis zwischen Kunst und Politik bei Heine für sein gesamtes dichterisches Schaffen zu bestimmen versucht, bemerkt zur Phase um 1828, daß Heines »Hinwendung […] zum Gebiet der Wahrheit […] sich als strikte Teilung zwischen Emanzipationskampf und Kunst« dokumentiere. »Letztere wertet er ab, ersterem spricht er einen höheren moralischen Wert zu.« (Bierwirth, Heines Dichterbilder, S. 92) Im Hinblick auf die Reise von München nach Genua läßt sich, konträr zu Bierwirths These, festhalten, daß auch zum Zeitpunkt der kämpferischen Prosa bei Heine keine generelle Abwertung der Kunst vorliegt.

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lichkeit, Poesie und Leben beschreiben. Dieses Verhältnis, dem im folgenden nachgegangen werden soll, wird zum einen hinsichtlich des Wahrheitsstatus von Kunst und Wirklichkeit thematisiert und zum anderen mit Blick auf die Fragen, inwiefern die Kunst Wirklichkeit abbilden und inwiefern die Kunst darüber hinaus in die Wirklichkeit eingreifen kann. Für den Aspekt des Wahrheitstatus von Kunst und Wirklichkeit sind die metafiktionalen Passagen und Kommentare von Heines Reisebild relevant. In nicht-referentiellen, fiktiven Texten machen sie gewöhnlich den artifiziellen, fiktionalen Charakter von Kunst und Literatur bewußt und stellen die Textualität und Medialität des Geschriebenen in den Vordergrund. In der Reise von München nach Genua haben sie jedoch noch einen weiteren Effekt. Die Verfahren der Metafiktion tragen in dem Reisebild vor allem dazu bei, ›Wirklichkeit‹ zu fiktionalisieren: Die objektive Wahrnehmung des Realen als Gegenteil des Fiktionalen wird angezweifelt. Das Abbildungsverhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit wird sogar umgekehrt und in Frage gestellt, wenn der Erzähler von Menschen, denen er auf seiner Reise begegnet, mutmaßt, daß sie eine Imitation der Kunst seien. In einem Wirtshaus in Tirol sieht der Reisende einen Mann, »der jenem alten hagestolzlichen Landjunker, den uns Shakespear geschildert, so ähnlich war, daß es schien, als habe die Natur ein Plagiat begangen« (DHA 7/1, 32). Aber nicht nur die einzelne Person, sondern das gesamte Tableau, das der Erzähler in dem Wirtshaus beobachtet, erinnert an eine Szene aus William Shakespeares Komödie Twelfth Night, in der eine Frau, das Kammermädchen Maria, von zwei Junkern in ähnlicher Weise »mit Caressen« bedrängt wird, wie in Heines Text die schöne »Aufwärterinn« von den Vertretern des Adels und der Kirche (DHA 7/1, 32). An zwei weiteren Stellen im Text, in den Städten Trient und Verona, reflektiert die Erzählerfigur explizit auf das traumartige Erlebnis, daß die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion aufgehoben scheint. Die Wirklichkeit der beiden Städte wird als ein Artefakt erfahren, als Teil einer Novelle und eines Gemäldes, in dem sich der Reisende selbst wiederfindet und das überdies von ihm geschaffen wurde. In Trient scheinen ihm die »Gesichter der alten Frauen« wie »herausgeschnitten aus jenen altitalienischen Gemälden«, die er »einst als Knabe in der Düsseldorfer Gallerie gesehen« hat (DHA 7/1, 40). Die Stadt wiederum kommt ihm vor wie eine hübsche Novelle, die er »selbst gedichtet« hat und in die er jetzt »hineingezaubert worden« (DHA 7/1, 41) war. Wirklichkeit verwandelt sich in Kunst, Kunst in Wirklichkeit. So umschließt der Himmel in Verona »das seltsame Ganze wie ein kostbarer Rahmen« (DHA 7/1, 55) und erhebt es zu einem Gemälde, in dem sich der Erzähler zu seiner Verwunderung selbst befindet: »Es ist aber eigen, wenn man in dem Gemälde, das man eben betrachtet hat, selbst steckt, und hie und da von den Figuren desselben angelächelt wird, und gar von den weiblichen, wies mir auf der Piazza delle Erbe so lieblich geschah.« (DHA 7/1, 56) Kausale Strukturen werden im 363

Text auf den Kopf gestellt, wenn die Grenze zwischen Betrachter und Betrachtetem, Wirklichkeit und Kunst verschwimmt. Dieses Verfahren hat den Effekt auf die Medialität des eigenen Textes hinzuweisen; vielmehr aber noch, die Vorstellung einer objektiven Erkenntnis der Wirklichkeit in Frage zu stellen. Das gilt besonders im Hinblick auf die Wahrnehmung von Italien, das dem Betrachter im Lichte der zahllosen Reisebeschreibungen erscheint, auf die das XXVI. Kapitel referiert. Aber nicht nur die Literatur über Italien, sondern auch die Kunst des Landes selbst, die, wie in der Architektur der Städte, den Hausmalereien und Skulpturen der Plätze oder in der commedia dell’ arte, eine allgegenwärtige und öffentliche der Straßen ist, konstituiert einen wesentlichen Teil der ›Wirklichkeit‹. Kunst und Fiktion, so wird in der Reise von München nach Genua in den metafiktionalen Äußerungen und intertextuellen Anspielungen gezeigt, stellen nicht den Gegensatz zur ›objektiven‹ Wirklichkeit dar, sondern partizipieren an ihrer Konstitution. Dieser Gedanke wird im Text noch in einem weiteren Zusammenhang explizit, und zwar im Kontext der Geschichtsschreibung. Im Gegensatz zu Historiographen, die wie Leopold von Ranke auf der Differenz von ›Dichtung‹ und ›Wahrheit‹ bestehen, postuliert Heines Text, daß die objektive Wirklichkeit ein Konstrukt ist, das mit narrativen Mustern und Strukturen erzeugt wird.231 Insofern löst sich die Opposition von res fictae und res factae auf und der Erzähler kann die Wahrheit, die der dichtende Geschichtsschreiber erschafft, über die des Historiographen stellen: »Die Geschichte wird nicht von den Dichtern verfälscht. Sie geben den Sinn derselben ganz treu, und sey es auch durch selbsterfundene Gestalten und Umstände. Es giebt Völker, denen nur auf diese Dichterart ihre Geschichte überliefert worden, z.B. die Indier.« (DHA 7/1, 28) Dennoch gebe der »Maha Baratha den Sinn indischer Geschichte viel richtiger als irgend ein Compendienschreiber mit all seinen Jahrzahlen« (DHA 7/1, 28) wieder. Der Gegensatz zwischen Dichtung und Historie wird aufgelöst zugunsten eines Geschichte(n)-Erzählens, wenn für den Erzähler die Romane von Walter Scott »zu den Quellen der englischen Geschichte« (DHA 7/1, 29) zählen und das Volk seine Geschichte aus der Hand der Dichter erhält wie aus Karl Immermanns Trauerspiel in Tyrol. Dichter »modeln«, so heißt es, »die Völkererinnerungen, vielleicht zur Verhöhnung stolztrockner Historiographen und pergamentener Staatsarchivare« (DHA 7/1, 28). Den Zusammenhang zwischen Fiktion und dem kollektiven Gedächtnis des Volkes macht auch der Hinweis des Erzählers auf die Geschichtsdarstellung auf dem Jahrmarkt deutlich, der zudem aufgrund des Medienwechsels interessant ist. Der Erzähler freut sich, daß er »in den Buden des letzten Jahrmarkts die Geschichte des Belisars in grell kolorirten Bildern ausgehängt sah, 231

Vgl. dazu auch die Einleitung von Dorothee Kimmichs Untersuchung Wirklichkeit als Konstruktion zur Einordnung dieser Problematik in den Epochenkontext (S. 7–29).

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und zwar nicht nach dem Procop, sondern ganz treu nach Schenks Tragödie« (DHA 7/1, 28). Zum einen läßt sich in dem vom Erzähler Beschriebenen eine Überschreitung der Grenze vom Faktum hin zur Fiktion beobachten – die Vorlage der ›Geschichte‹ über Belisar des Historiographen Procop wird für die Präsentation auf dem Jahrmarkt durch das romantische Trauerspiel Belisar des Dichters Eduard von Schenk ersetzt. Die Fiktion stabilisiert so erst das kollektive Gedächtnis. Zum anderen ereignet sich durch die Darstellung der Geschichte auf »kolorirten Bildern« zusätzlich ein Medienwechsel, der in der Umgebung des Jahrmarkts die Aspekte des Volkes und der Öffentlichkeit betont, der mit dem hohen, archivarischen, aber verstaubten Genre der Geschichtsschreibung scharf kontrastiert. In seinem Essay Shakspeares Mädchen und Frauen von 1838, der als Auftragsarbeit lange Zeit in der Forschung wenig Beachtung fand, formuliert Heine später erneut diesen Gedanken in einer Passage, der sich wie ein Kommentar zum Verhältnis von Historie und Dichtung des fiktionalen Textes Reise von München nach Genua liest. Weil Shakspeares Mädchen und Frauen zentrale ästhetische Fragestellungen des Reisebilds in einem nicht-fiktionalen Genre diskutiert und die größere werkgeschichtliche Bedeutung des Schwellentextes für dichtungstheoretische Probleme verdeutlichen kann, soll nun ein kurzer Blick auf diesen wichtigen Essay geworfen werden. Heine betont in seinem Shakespeare-Essay, daß das Gebiet des von ihm bewunderten englischen Dramatikers nicht nur die Poesie, sondern auch die Geschichte war: Ja, das ist es, der große Britte ist nicht bloß Dichter, sondern auch Historiker; er handhabt nicht bloß Melpomenes Dolch, sondern auch Clios noch schärferen Griffel. In dieser Beziehung gleicht er den frühesten Geschichtschreibern, die ebenfalls keinen Unterschied wußten zwischen Poesie und Historie, und nicht bloß eine Nomenklatur des Geschehenen, ein stäubiges Herbarium der Ereignisse, lieferten, sondern die Wahrheit verklärten durch Gesang, und im Gesange nur die Stimme der Wahrheit tönen ließen. (DHA 10, 14)

In dem Essay werden nochmals präzise diejenigen Gedanken erörtert, die das italienische Reisebild literarisch formuliert, darstellt und reflektiert. Erneut wird die Einheit von Geschichte und Dichtung beschworen, die außer bei Shakespeare auch in den frühen Dokumenten der Geschichtsschreibung selbstverständlich war. Es zeichnet Shakespeare und die frühen Geschichtsschreiber aus, daß sie die bloße faktische Wahrheit, die wissenschaftliche »Nomenklatur des Geschehenen«, im Gesang verklären, der auf diese Weise erst die eigentliche »Stimme der Wahrheit« erzeugt. Der Anspruch der modernen Historiographen, Wahrheit durch die Objektivität der Fakten zu erzeugen, erweist sich demgegenüber als eine Irreführung: »Die sogenannte Objektivität, wovon heut so viel die Rede, ist nichts als eine trockene Lüge; es ist nicht möglich, die Vergangenheit zu schildern, ohne ihr die Färbung unserer eigenen Gefühle zu 365

verleihen.« (DHA 10, 14) Aus hermeneutischer Perspektive bedeutet das, daß der Gegenstand der Darstellung in der Fiktion wie in der Geschichtsschreibung aus der historischen Distanz (re-)konstruiert werden muß, ein Vorgang, der maßgeblich von der Gegenwart des Interpreten bestimmt wird: »Ja, da der sogenannte objektive Geschichtschreiber doch immer sein Wort an die Gegenwart richtet, so schreibt er unwillkührlich im Geiste seiner eigenen Zeit, und dieser Zeitgeist wird in seinen Schriften sichtbar seyn, wie sich in Briefen nicht bloß der Charakter des Schreibers, sondern auch des Empfängers offenbart.« (DHA 10, 14) Heine betont in seinem Essay wie in dem Reisebild die Perspektivität historischer Erkenntnis und damit einhergehend den dialogischen, relativen Charakter der geschichtlichen Wahrheit, der durch den Wandel der Zeit bedingt ist. Heines Schrift, die sich anhand von Shakespeares Werken und seiner Person mit eigenen dichtungstheoretischen Fragestellungen beschäftigt, diskutiert im Zusammenhang mit dem Postulat von Wahrheit und Objektivität auch die grundsätzlichere Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit, Natur und ihrer Abbildung in der Kunst. Die tradierte Metapher, die Heine für die Vorstellung einer exakten, wahrheitsgetreuen Naturnachahmung in Shakespeares Texten verwendet, ist der Spiegel. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert war der Spiegel in seiner Eigenschaft als Reflektor das am weitesten verbreitete Modell in der ästhetischen Theorie, um das abbildende Verhältnis der Kunst zur Wirklichkeit zu bestimmen. »Man pflegt zu sagen, daß er der Natur den Spiegel vorhalte« (DHA 10, 15), referiert Heine die Meinung der literarischen Öffentlichkeit über Shakespeare, von der er sich aber abgrenzt und die er korrigiert: »Dieser Ausdruck ist tadelhaft, da er über das Verhältniß des Dichters zur Natur irre leitet.« (DHA 10, 15)232 Demgegenüber entwickelt er seine eigene Sicht auf die Repräsentation von Wirklichkeit in der Kunst: In dem Dichtergeiste spiegelt sich nicht die Natur, sondern ein Bild derselben, das dem getreuesten Spiegelbilde ähnlich, ist dem Geiste des Dichters eingeboren; er bringt gleichsam die Welt mit zur Welt […]. Aber ein Bruchstück der Erscheinungswelt muß dem Dichter immer von außen geboten werden, ehe jener wunderbare Prozeß der Weltergänzung in ihm statt fin-

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So schreibt etwa der bedeutende Literaturkritiker Samuel Johnson 1765 in dem für die weitere Rezeption einflußreichen Vorwort seiner Shakespeare-Ausgabe: »This therefore is the praise of Shakespeare, that his drama is the mirrour of life; that he who has mazed his imagination, in following the phantoms which other writers raise up before him, may here be cured of his delirious extasies, by reading human sentiments in human language [...].« (Samuel Johnson, Preface to Shakespeare, 1765. In: Works, Bd. 7: Johnson on Shakespeare. Hrsg. von Arthur Sherbo. New Haven, London 1968, S. 65) Zur Diskussion Shakespeares in der ästhetischen Theorie des 18. Jahrhunderts vgl. Wolfgang Weiß, »›Shakespeare, Nature’s Child‹: Der ästhetische Naturbegriff in der Shakespeare-Kritik des 18. Jahrhunderts«. In: Roger Bauer (Hrsg.), Das Shakespeare-Bild in Europa zwischen Aufklärung und Romantik. Frankfurt a.M. u.a. 1988, S. 21–36, zu Johnsons Preface vgl. bes. S. 29–31.

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den kann; dieses Wahrnehmen eines Stücks der Erscheinungswelt geschieht durch die Sinne, und ist gleichsam das äußere Ereigniß, wovon die innern Offenbarungen bedingt sind, denen wir die Kunstwerke des Dichters verdanken. (DHA 10, 15f.)

Die Beziehung des Dichters zur Wirklichkeit in seinen Kunstwerken kann nicht, so zeigt der erste Satz des Zitats, als Widerspiegelung der Natur verstanden werden. Diese Zurückweisung des mimetischen Charakters der Kunst als bloße Abbildung des Sichtbaren erinnert an romantische Modelle der dichterischen Repräsentation, die den Aspekt der subjektiven Wahrnehmung bekräftigen.233 Als ›eingeborene‹ Idee verweist das Bild der Natur zugleich auf die präreflexive, traumhafte Einheit des Dichters mit der Welt. Sie ermöglicht ihm ein Wissen der »letzten Gründe aller Phänomene, die dem gewöhnlichen Geiste räthselhaft dünken, und auf dem Wege der gewöhnlichen Forschung nur mühsam, oder auch gar nicht, begriffen werden« (DHA 10, 16), und erinnert insofern an romantische Theoreme, wie sie etwa Friedrich Schelling in seiner naturphilosophischen Schrift Ideen zu einer Philosophie der Natur formulierte.234 Auch wenn sich bereits Heines Reisebild Die Stadt Lukka über Schellings Identitätsphilosophie lustig macht – der Erzähler berichtet dort einer alten Eidechse, wie die Münchner als »die neuen Athener um den Springquell des schellingschen Geistestranks sich drängen, als wär es das beste Bier, Breyhahn des Lebens, Gesöffe der Unsterblichkeit« (DHA 7/1, 161) –, finden sich wiederholt naturphilosophische Versatzstücke in seinen Schriften, die wie in dem Shakespeare-Essay trotz aller Distanzierung nicht ironisiert werden. Wenn der Dichter, wie es in dem Text weiter heißt, »aus dem träumenden Kindesalter erwachend, zum Bewußtseyn seiner selbst gelangt, ist ihm jeder Theil der äußern Erscheinungswelt gleich in seinem ganzen Zusammenhang begreifbar« (DHA 10, 16). Heine spricht dem Dichter Schöpfungsfreiheit zu, da er bereits »ein Gleichbild des Ganzen in seinem Geiste« (DHA 10, 16) trägt, und so eine gewisse Unabhängigkeit von der mimetischen Nachahmung der äußeren Welt besitzt. 233

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Karl Josef Höltgen kritisiert an Heines Darstellung von Shakespeare die romantische Prägung, die ein bereits überholtes Bild des englischen Dramatikers zeichne (vgl. Karl Josef Höltgen, »Über Shakespeares Mädchen und Frauen. Heine, Shakespeare und England«. In: Internationaler Heine-Kongreß 1972, S. 464–488). Friedrich Schelling beantwortet die Frage, durch welches Band die Natur und der Geist miteinander verknüpft sind, mit dem Postulat einer Einheit von Subjekt und Objekt, deren gemeinsamer Ursprung im Absoluten liege. In der Einleitung zu Ideen zu einer Philosophie der Natur formuliert Schelling dementsprechend die Aufgabe seiner Untersuchung wie folgt: »Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muß sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich seye, auflösen. Das letzte Ziel unserer weitern Nachforschung ist daher diese Idee der Natur; gelingt es uns, diese zu erreichen, so können wir auch gewiß seyn, jenem Probleme Genüge gethan zu haben.« (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur. In: Werke. Hrsg. von Hans Michael Baumgartner/Wilhelm G. Jacobs/Hermann Krings. Bd. 5: Hrsg. von Manfred Durner. Stuttgart 1994, S. 107)

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Wenn Heine beteuert, daß das »Gleichbild des Ganzen« dem »getreuesten Spiegelbilde« der Natur »ähnlich« ist, hält er aber dennoch an den Eigenschaften der Korrespondenz und Reflexion fest, die die Vorstellung der wirklichkeitsgetreuen Repräsentation kennzeichnen. Die Dichtung, die keine reine Imitation und Spiegelung des Vorhandenen ist, bleibt demnach auf die Wirklichkeit, die objektive »Erscheinungswelt«, die mit den Sinnen wahrgenommen wird, zurückbezogen und auf sie angewiesen, was der zweite, mit der entgegensetzenden Konjunktion ›aber‹ eingeleitete Absatz der oben zitierten Passage ausdrücklich betont.235 Heines theoretischer Entwurf eines Dichtungsmodells versucht, Forderungen an die Autonomie der Kunst mit der Verpflichtung auf die äußere Erscheinungswelt zu verbinden. Sie darf aber zugleich keine direkte Spiegelung der Wirklichkeit sein, die danach strebt, den Akt der Repräsentation zu negieren und aufzuheben. Diese Konzeption, die in Arbeiten der 1840er Jahre, wie in der Verserzählung Atta Troll. Ein Sommernachtstraum oder auch in Neue Gedichte, erneut an Brisanz gewinnt, wird in der Reise von München nach Genua bereits literarisch formuliert. In Heines erstem Text aus Frankreich, Französische Maler, schreibt er, daß es die Aufgabe des Dichters sei, ein »träumende[s] Spiegelbild« (DHA 12/1, 47) seiner Zeit zu schaffen. Wie im Shakespeare-Essay ist hier die Rede von einem Spiegelbild, aber expliziter noch als dort verschränkt die Formulierung ›träumendes Spiegelbild‹ ›Spiegel‹ und ›Traum‹ miteinander, die beide als Metaphern der Repräsentation verwendet werden, aber entgegengesetzten – mimetisch-naturalistischen und imaginativschöpferischen – Abbildungsmodellen angehören. Dichtungstheoretische Reflexionen auf das Verhältnis von Wirklichkeit und Kunst wie sie der Essay Shakspeares Mädchen und Frauen und der Frankreichbericht Französische Maler aus der späteren Werkphase im französischen Exil zeigen, kennzeichnen bereits Heines poetologischen Schwellentext Reise von München nach Genua. Die Metapher des Spiegels wird auch in dem Reisebild im Kontext der Frage nach der adäquaten Repräsentation von Wirklichkeit verwendet, und zwar an einer bedeutenden Stelle innerhalb der Narration, die das Genre der Italienreisebeschreibung kommentiert. Die meta-ästhetische Diskussion dieses Genres wird mit einem Zitat aus Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre eingeleitet: »›Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen?‹« (DHA 7/1, 61) Dem Sehnsuchtslied Mignons wird kontrastierend Goethes Italienische Reise gegenübergestellt, die bereits der Erzähler aus Die

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Gerhard Höhn betont vor allem die antimimetische Tendenz von Heines Ästhetik im Shakespeare-Essay. Heine würde Ende der 1830er Jahre gegen die zunehmende Tendenz der Kunst zur Nachahmung der Wirklichkeit auf »die idealistische These eines rein intuitiven, ohne Verstandestätigkeit auskommenden Geistes« zurückgreifen (Höhn, Heine-Handbuch, S. 398). Allerdings könne es sich für Heine nicht nur um eine Naturanschauung handeln […], die vom Befreiungsprozeß der Menschheit losgelöst ist.« (S. 399)

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Nordsee III kommentierte.236 An Goethes Bericht aus Italien hebt der Erzähler mimetische Aspekte hervor wie die Tätigkeit des Malens, die Verpflichtung auf das Original und die Treue der Darstellung in Form und Farbe. Über diese Eigenschaften äußert sich der Erzähler zunächst keineswegs negativ: »Wir schauen nemlich darin überall thatsächliche Auffassung und die Ruhe der Natur. Goethe hält ihr den Spiegel vor, oder, besser gesagt, er ist selbst der Spiegel der Natur.« (DHA 7/1, 61) Jan-Christoph Hauschild vermutet, daß hier in dem Reisebild die Spiegelmetapher im Gegensatz zum Shakespeare-Essay noch lobend verwendet werde im Hinblick auf Goethes Dichtung (vgl. DHA 10, 395). Die darauffolgenden Sätze, die mit dem Hinweis eingeleitet werden, »[d]ie Natur wollte wissen, wie sie aussieht, und sie erschuf Goethe« (DHA 7/1, 61), lassen allerdings Zweifel an dieser These zu, da sie den Anspruch von Goethes Kunst auf Wahrheit und Objektivität durch Verfahren der Korrespondenz und Reflexion, für die das Bild des Spiegels verwendet wird, ironisieren. Denn die Reflexion des Spiegels, die im klassischen System der Repräsentation ein adäquates Abbild der Wirklichkeit wiedergibt, ist, so betont der Text, nicht mit »Schöpfungskraft« (DHA 7/1, 61) identisch.237 Dieser Fehler, so führt der Erzähler der Reise von München nach Genua aus, sei einem »hitzigen Goetheaner […] in den Hundstagen« (DHA 7/1, 61) widerfahren, der »über die Identität der Spiegelbilder mit den Objekten selbst so sehr erstaunt, daß er dem Spiegel sogar Schöpfungskraft, die Kraft, ähnliche Objekte zu erschaffen, zutraut« (DHA 7/1, 61). Für den Erzähler bedeutet aber Schöpfungskraft, Vorhandenes nicht nur zu reduplizieren, sondern Wahrheit durch Abweichung von der Wirklichkeit zu schaffen. Daß Wahrheit nicht in der mimetischen Wiedergabe, sondern in der verzerrenden Darstellung liegt, verdeutlicht ein weiterer ironisch-satirischer Hieb gegen Goethes Privatsekretär Johann Peter Eckermann. Eckermann, so der Erzähler, behaupte in seinem Buch über Goethe, daß, wenn er von Gott den Auftrag erhalten hätte, die Welt zu vollenden, er ihre »Thiere und Gewächse ganz im Geiste der übrigen Schöpfung, nemlich die Vögel mit Federn, und die Bäume grün erschaffen haben« (DHA 7/1, 62) würde. Das Repräsentationsprogramm des Erzählers, das auf schöpferischer Freiheit basiert, wird deutlich, wenn er der Wirklichkeitstreue des ›Goetheaners‹ Eckermann die groteske Behauptung entgegenstellt, »daß Goethe manchmal seine Sache noch besser gemacht hätte, als der liebe Gott selbst, 236 237

Vgl. dazu Kap. II. 2.6.1. Schon M. H. Abrams verwendet zur Differenzierung der klassischen von der romantischen Kunsttheorie die optischen Medien des Spiegels und der Lampe (vgl. Abrams, The Mirror and the Lamp). Zur Repräsentation als Episteme der Klassik vgl. auch Foucaults Die Ordnung der Dinge. In seiner Analyse von Velasquez’ Las Meninas hebt Foucault die Abbildung des Malers mit seiner Leinwand sowie die zentrale Position des Spiegels im Bild hervor, wodurch die klassische Repräsentation repräsentiert werde (Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (aus dem Französischen von Ulrich Köppen). Frankfurt a.M. 1974, S. 31–45; vgl. dazu auch S. 372f.).

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und daß er z.B. den Herrn Eckermann viel richtiger, ebenfalls mit Federn und grün erschaffen hätte« (DHA 7/1, 62). Die ›willkürliche‹ Schöpfung beansprucht, »richtiger« zu sein, die Wirklichkeit genauer zu erfassen, als die mimetische Repräsentation des Spiegelbilds. Das nächste Kapitel wird wiederum mit dem Mignon-Lied – nun mit der gesamten ersten Strophe – eingeleitet und stellt dadurch einen engen Bezug zum vorhergehenden Kapitel her. Wie zuvor Eckermann, bewundert hier ein »östreichischer Narziß […] mit kindischer Freude« (DHA 7/1, 63) beim Blick in einen »wunderklaren blauen See« (DHA 7/1, 63), »wie sein Spiegelbild ihm alles getreu nachmachte« (DHA 7/1, 63). Der Hinweis auf die begleitende Empfindung der »kindische[n] Freude« des Narziß entlarvt das reflektierende Spiegelbild als ein frühes Stadium, als mythisch-kindliche Abbildungsstufe, die, so läßt sich hinzufügen, der Wirklichkeitsrepräsentation in der Moderne nicht mehr angemessen ist. Neben der subtilen Kritik an einem überkommenen Abbildungspostulat werden die Aspekte der Alltagswirklichkeit und des Politischen unterstrichen, die der Erzähler an Goethes ›Spiegelkunst‹ vermißt.238 Das Sehnsuchtsmotiv aus Mignons Lied, mit dem das XXVII. Kapitel beginnt, wird entsprechend sofort mit den Worten kommentiert: »Aber reise nur nicht im Anfang August, wo man des Tags von der Sonne gebraten, und des Nachts von den Flöhen verzehrt wird.« (DHA 7/1, 63) Das Lied wird durch diese Bemerkung ironisch gebrochen und auf die empirische Wirklichkeit zurückgeführt. Der österreichische Narziß ruft nicht nur den antiken Mythos und Repräsentationsfragen auf; die weitere Beschreibung seiner Handlung verweist zudem auf die aktuelle politische Lage Italiens. Der »Grenadier« (DHA 7/1, 63) beobachtet sein Spiegelbild im See während er sein »Gewehr präsentirte oder schulterte, oder zum Schießen auslegte« (DHA 7/1, 63). Die Imitation militärischer Aktivitäten des Soldaten der heiligen Allianz bricht zum einen satirisch das mythologische Bild des Narziß und versetzt es zum anderen in die politische Gegenwart, die von der Unfreiheit des Landes der deutschen Natur- und Antikesehnsucht bestimmt ist. Wie im Shakespeare-Essay bedingt auch in dem Italienreisebild die dichterische Repräsentation eine Transformation der Wirklichkeit, die von den äuße-

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Goethe selbst gebraucht in seinen Texten wiederholt die Spiegelmetapher. Daß dennoch Heine hier ein vereinfachtes Verständnis von Goethes Abbildungspostulat zeichnet, zeigen Goethes nachklassische Studien zur Entoptik, die ihn von 1813–1824 beschäftigt haben (vgl. MA 11/1.1, S. 516–521). Der direkte mimetische Bezug ist aufgelöst, Wirklichkeit nur vermittels Mehrfachabbildungen darstellbar, wie es der Text >Wiederholte Spiegelungen< (MA 14, S. 568f.) sowie der Brief an C. J. L. Iken vom 27. September 1827 formuliert: »Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direkt mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenüber gestellte und sich gleichsam ineinander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren.« (Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, II. Abteilung, Teil I, Briefe, Tagebücher und Gespräche 1823–1828. Hrsg. von Horst Fleig. Frankfurt a.M. 1993, S. 548)

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ren, objektiven Fakten abweicht. Trotz der Verschiebung der äußeren Fakten in der Fiktion wird aber eine ›wahre‹, adäquate Wiedergabe der Wirklichkeit behauptet. Diesen Prozeß der Verschiebung vergleicht der Erzähler mit der Traumarbeit: Es geht den Dichtern wie den Träumern, die im Schlafe dasjenige innere Gefühl, welches ihre Seele durch wirkliche äußere Ursachen empfindet, gleichsam maskiren, indem sie an die Stelle dieser letzteren ganz andere äußere Ursachen erträumen, die aber in so fern ganz adäquat sind, als sie dasselbe Gefühl hervorbringen. So sind auch in Immermanns »Trauerspiel« manche Außendinge ziemlich willkührlich geschaffen, aber der Held selbst, der Gefühlsmittelpunkt, ist identisch geträumt, und wenn diese Traumgestalt selbst träumerisch erscheint, so ist auch dieses der Wahrheit gemäß. (DHA 7/1, 29)

Das analogische Verfahren des Traums – eine andere Ursache erzeugt ein ähnliches Gefühl – löst den naturalistisch-mimetischen Darstellungscode der Repräsentation ab, der metaphorisch durch den Spiegel figuriert wird. Die typischen Merkmale der korrespondierenden Spiegelung – Wahrheit, Identität und Adäquatheit – werden nun dem ›willkürlichen‹ Schaffen zugesprochen. Dem »hitzigen Goetheaner«, der den Repräsentationsakt übersieht und die unmittelbare Evidenz und sinnliche Existenz der gespiegelten Wirklichkeit annimmt, setzt Heines Text die poiesis, den Aspekt des Schaffens entgegen. Mit Friedrich Kittler kann formuliert werden, daß »[d]ie Reproduktion von Bildern […] in Bilderproduktion um[schlägt].«239 Was Kittler anhand von E.T.A. Hoffmanns Roman Die Elixiere des Teufels beobachtet und mit dem medienpoetischen Wandel um 1800 von der camera obscura zur laterna magica in Verbindung bringt, kann auch für Heines Ästhetik geltend gemacht werden, in der die Einbildungskraft an die Stelle der widerspiegelnden Nachahmung tritt. Allerdings nimmt Heines Reisebeschreibung zugleich eine kritische Haltung ein gegenüber der Erzeugung der illusorischen Bilder der Zauberlaterne, die in der frühen Neuzeit Mittel des Priesterbetrugs waren. Vor allem der Jesuit Athanasius Kircher projizierte im 17. Jahrhundert zur Abschreckung von Sündern und Gottlosen mit diesem medientechnischen Apparat täuschend ›echte‹ Höllenvisionen auf weiße Wände.240 Wie bereits zu Beginn des Kapitels zitiert wurde, berichtet Heine in einem Brief aus den Bädern von Lucca von seiner außerordentlichen Animosität gegen den Klerus, was sich literarisch in der jesuiten- und religionskritischen Tendenz seiner italienischen Reisebilder niedergeschlagen hat.241 Die phantasmagorische Bildererzeugung, die – wie von 239 240

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Friedrich Kittler, Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin 2002, S. 150. Für den politischen Kontext der Bilderproduktion der laterna magica im 17. und 18. Jahrhundert siehe Friedrich Kittler, »Die Laterna magica der Literatur: Schillers und Hoffmanns Medienstrategien«. In: Athenäum 4 (1994), S. 219–237, hier S. 222–226. Zur Religionskritik in Die Stadt Lukka vgl. etwa Martin, Die Wiederkehr der Götter Griechenlands, S. 46–71.

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den Jesuiten – zu machtpolitischen Zwecken mißbraucht werden kann, vermeidet Heines Text, indem er auf fiktionsbrechende Verfahren rekurriert, die auf die poiesis, den Herstellungsprozeß der Bilder aufmerksam machen sollen und die Perspektivität der Wahrnehmung betonen.242 Zu diesen Verfahren kann auch der allgemein- und fremd-metafiktionale Charakter des Reisebilds gerechnet werden, also die generelle Diskussion meta-ästhetischer Fragen sowie der Metabezug auf andere Erzähltexte. Durch sie wird in der textuellen Darstellung eine mimesiskritische Tendenz vermittelt und die Fiktion offengelegt. Besonders deutlich zeigt sich das metafiktionale Verfahren in der bereits genannten Diskussion der Italienreisebeschreibungen, die ironisch auf die Differenz zwischen empirischer Wirklichkeit und literarischer Repräsentation hinweist. Der Erzähler führt im XXVI. Kapitel die enorme Zahl an Texten über Italien auf, die zwar den gleichen Gegenstand haben, aber von so unterschiedlichen Autoren wie Goethe, Mme de Staël, Lady Morgan, Wilhelm Müller oder Friedrich Thiersch verfaßt wurden. Es wird an dieser Stelle deutlich gemacht, daß alle Italienbeschreibungen in ihrer Darstellung perspektivisch sind und von spezifischen Intentionen geleitet werden, vom »Enthusiasmusfäßchen« der de Staël bis zu Thiersch, »dessen humanes Auge aus jeder Zeile hervorblickt« (DHA 7/1, 62). Daß es eine neutrale, unperspektivische Darstellungsweise nicht geben kann, zeigt auch das folgende Kapitel. Wenn der Erzähler dort über Brescia notiert, »die Stadt habe 40,000 Einwohner, ein Rathhaus, 21 Kaffeehäuser, 20 katholische Kirchen, ein Tollhaus, eine Synagoge, eine Menagerie, ein Zuchthaus, ein Krankenhaus, ein eben so gutes Theater und einen Galgen für Diebe, die unter 100,000 Thaler stehlen« (DHA 7/1, 63), mokiert er sich über Baedekerfakten, die zwar scheinbar objektives Wissen wiedergeben, aber die soziokulturelle Realität des Landes nur unzureichend erfassen. Ein Beispiel dafür geben die ›barbarischen‹ englischen Touristen ab, die »mit ihrem Guide in der Hand« (DHA 7/1, 64) in Kunstausstellungen »umherrennen, und nachsehen, ob noch alles vorhanden, was in dem Buche als merkwürdig erwähnt ist« (DHA 7/1, 64). Schon das VIII. Kapitel berichtet parodistisch von einem englischen Paar mit seinem Diener, das sich bei der Besichtigung einer Kirche an den offiziellen Fakten eines »Guide des voyageurs« (DHA 7/1, 30) orientiert und dabei auf komisch-groteske Weise die Wirklichkeit verfehlt.243 Das Nebeneinander der Signifikanten in Aufzählungen wie über die Stadt Bres242

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Ende des 18. Jahrhunderts wurde eine spezielle Form der Zauberlaterne als phantasmagorisch bezeichnet, die durch Rückprojektion verhinderte, daß die Zuschauer das optische Gerät sehen konnten (vgl. dazu Jonathan Crary, Techniques of the Observer. Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridge/Massachusetts 1990, S. 132f.). Die Engländer betrachten die Statuen des habsburgischen Herrscherhauses, verwechseln aber die Reihenfolge, wodurch es zu grotesken Mißverständnissen kommt: »Da aber der arme Engländer die Reihe von oben anfing, statt von unten, wie es der Guide des voyageurs voraussetzte, so gerieth er in die ergötzlichsten Verwechselungen, die noch komischer wurden, wenn er an eine Frauenstatue kam, die er für einen Mann hielt, und umgekehrt, so daß

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cia macht zudem deutlich, daß eine objektive, bedeutungsneutrale Faktizität unmöglich ist, da im Text die Einrahmung der »Synagoge« von »Tollhaus« und »Menagerie« innerhalb einer Liste bereits semantisch eine politische Aussage entstehen läßt. Eine weitere Quelle der Perspektivität ist der Körper des Reisenden, der Grundlage für das Sehen ist und die Wahrnehmung des fremden Landes entscheidend beeinflußt. Die vielen Referenzen auf das Essen und den Hunger des Erzählers in der Reise von München nach Genua gehören in diesen Kontext: »Von Brescia selbst weiß ich ebenfalls wenig zu erzählen, indem ich die Zeit meines dortigen Aufenthalts dazu benutzte, ein gutes Pranzo einzunehmen. Man kann es einem armen Reisenden nicht verdenken, wenn er den Hunger des Leibes früher stillt als den des Geistes.« (DHA 7/1, 63)244 Eine Funktion der genannten ironischen und metafiktionalen Verfahren von Heines Italienreisebeschreibung ist es, den Leser darauf aufmerksam zu machen, daß die textuelle Repräsentation Italiens kein objektives Spiegelbild des Landes ist. Vielmehr wird die Repräsentation von mehreren materiellen Faktoren bestimmt – von den ideologischen Interessen des Reisenden, von der Sprache, und nicht zuletzt vom Körper. Die metaästhetischen Reflexionen des Reisebilds, die auf das Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit referieren, betreffen aber nicht nur Probleme der Repräsentation, die Frage also, inwiefern Kunst Wirklichkeit abbilden kann. In der Reise von München nach Genua werden neben schriftlich-literarischen auch andere künstlerische Medien konsequent aufgerufen und diskutiert. Neben der Architektur und der Malerei ist es vor allem die Musik, auf die im Zusammenhang mit den Ausführungen des Erzählers zur italienischen Oper in den folgenden Kapiteln eingegangen werden soll.245 Verweisen die Metafiktionalität und Intertextualität des Reisebilds auf eine Krise der Repräsentation, deutet die Intermedialität des Textes auf eine Krise der Ausdrucksform hin. Das experimentelle Ausloten der Grenzen des eigenen Mediums und der Blick auf benachbarte Medien zielen in Heines Text auf eine Neubestimmung der Kunst, die das eigene Schreiben betrifft. In den beiden nächsten

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er nicht begriff, warum man Rudolph von Habsburg in Weibskleidern dargestellt, dagegen die Königinn Maria mit eisernen Hosen und einem allzulangen Barte.« (DHA 7/1, S. 30) Dem Aspekt des Essens bei Heine widmen u.a. die Studien von Bernd Wetzel, Das Motiv des Essens und seine Bedeutung für das Werk Heinrich Heines. München 1972 und Gunnar Och, »›Schalet, schöner Götterfunken‹ – Heinrich Heine und die jüdische Küche«. In: Kruse/ Witte/Füllner (Hrsg.), Aufklärung und Skepsis, S. 242–255. Gerhard Neumann betont in seiner Untersuchung zum Essen in der Literatur die grundsätzliche anthropologische Dimension des Themas: »Die Frage nach der Funktion des Essens in der Rede des Menschen ist die Frage nach dem Ursprung dessen, was den Menschen als Menschen ausmacht.« (Gerhard Neumann, »Das Essen und die Literatur«. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 23 (1982), S. 173–190, hier S. 177) Die Intermedialität des Textes hebt auch Günter Oesterle hervor, wenn er schreibt: »Das Beschriebene und Dargestellte ersteht aber fast durchweg im Medium von Literatur, Bildern und Musik.« (Oesterle, »Heines Reise von München nach Genua«, S. 270)

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Kapiteln soll nun besonders auf öffentliche, performative Formen der Kunst eingegangen werden, die der Erzähler in Italien, dem Land der commedia dell’ arte, beobachtet. In der Reise von München nach Genua erhalten sie, so die These, eine politische Dimension. 5.3.2. Öffentlichkeit und Performativität der Kunst in Italien Auch wenn in Heines Ästhetik, wie das letzte Kapitel gezeigt hat, die Bilderproduktion der Kunst, ihr schaffender und nicht nur abbildender Charakter, eine ebenso zentrale Rolle spielt wie in der romantischen Imaginationstheorie, unterscheiden sie sich in der Rezeptionssituation und damit im Wirkungsanspruch. Während die laterna magica der romantischen Literatur, wie Friedrich Kittler betont, beim Leser imaginäre Bilder produziere, deren Ausmalung und Belebung seiner Innerlichkeit überlassen sei,246 stellt Heine in den Mittelpunkt der intermedialen Kunstreflexion in der Reise von München nach Genua den öffentlich-performativen, lebendigen Charakter künstlerischer Medien wie der Oper und der improvisatorischen Komödie mit ihrer Betonung der Darstellungsdimension. Diese in der Kunstkritik um 1800 umstrittenen Medien, die dem genus humile zugerechnet wurden, stehen in enger Verbindung mit dem Leben des italienischen Volkes und seiner Alltagskultur. Das italienische Leben und seine Kultur, wie es sich in populären Volksvergnügungen wie der Oper oder der commedia dell’ arte äußert, war vor Heines Reisebild bereits Gegenstand einer neuartigen Italienreisebeschreibung, die von der romantischen Volksidee geprägt ist: Wilhelm Müllers Text Rom, Römer und Römerinnen, in dem der Autor seine Italienreiseerlebnisse von 1818 dokumentierte und damit großen Erfolg beim Publikum hatte. Müllers Reisebericht, den Heine im XXVI. Kapitel der Reise von München nach Genua explizit erwähnt, stellt statt antiken Ruinen oder Kunstwerken das Leben des italienischen Volkes, ihre Arbeit, Feste, Lieder, Bräuche und Sitten in den Mittelpunkt seiner Beobachtungen. Müllers fiktive Briefe aus Italien, die die italienische Wirklichkeit schildern, stellen insofern einen wichtigen Bezugstext für Heines Reise von München nach Genua dar. Es wurde bereits oben gezeigt, daß in Heines Reisebild die Grenzen zwischen Kunst, Literatur und Wirklichkeit wiederholt verschwimmen. In diesem Zusammenhang ließ sich eine Problematisierung der epistemologischen Entgegensetzung des Realen und Fiktiven beobachten. Dieser Aspekt erfährt im Kontext der intermedialen Debatte des Textes eine Ausweitung auf die bereits in der Romantik virulente Frage, wie sich Kunst und Leben einander annähern können. Am deutlichsten zeigt sich das bei Novalis, wenn er fordert: »Die Welt

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Vgl. Kittler, Optische Medien, S. 147.

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muß romantisirt werden.«247 Novalis betont die Vorrangstellung der Kunst, die durch ihren einheitsstiftenden, synthetisierenden Charakter alle Lebensbereiche erfassen und durch »Potenzirung« poetisieren solle.248 Kunst und Leben nähern sich einander an, indem Welt sich in Poesie verwandelt. Während der Anspruch des Ästhetischen in Heines Reisebild nicht vermindert wird, erprobt der Text zugleich, inwiefern spezifische Gattungen und Medien in die Wirklichkeit eingreifen können und welche Wirkungschancen sie besitzen. In der Differenz zwischen werk- und produktionsästhetischen Fragen, die in Klassizismus und Romantik dominant waren, und wirkungsästhetischen Konzepten im Vormärz verorten Wolfgang Bunzel, Peter Stein und Florian Vaßen einen der zentralen Unterschiede zwischen den Diskursformationen ›Vormärz‹ und ›Romantik‹, die sich in den 1820er und 30er Jahren – so die These der Autoren – zueinander komplementär verhalten.249 Insofern veranschaulicht die gleichzeitige, paradoxe Forderung von ästhetischer Autonomie und operativer Funktionalisierung in Heines Reisebild präzise die postromantische Schwellenposition des Autors, die sich sowohl von Romantik als auch Vormärz unterscheidet. Denn, wie Bunzel, Stein und Vaßen zeigen, zielen wiederum die Vormärzautoren, im Unterschied zur Totalisierung des Kunstbegriffs im romantischen Diskurs, darauf ab, »die Grenzen zwischen Literatur und Alltagskommunikation zu verwischen«.250 Bei seiner Reise durch Italien beobachtet der Erzähler volksnahe, populäre Medien und Genres, die die Aufmerksamkeit eines breiten Publikums auf sich ziehen, und deren wirkungsästhetische Aspekte reflektiert werden. In der Reise von München nach Genua demonstriert das genannte Beispiel der kolorierten Bilder in den Jahrmarktsbuden, die Eduard Schenks Tragödie des Belisars visualisieren, exemplarisch das wirkungsästhetische Interesse. Durch die Transponierung vom Medium der Schrift in ein visuelles Bildmedium wird Schenks Tragödie, die selbst schon eine Popularisierung des antiken Stoffes darstellt, zwar einerseits in ein ›niedriges‹ Bildmedium übersetzt und ›verfälscht‹, andererseits aber einer breiten Gruppe von Menschen zugänglich gemacht. Auf diese Weise erinnerte Geschichte wird aktualisiert und wieder lebendig. Zu den verschiedenen populären Kunstmedien, die der Erzähler in Italien beobachtet und kommentiert, zählen die bereits genannte Stegreif-Komödie commedia dell’ arte, die opera buffa sowie die italienische Oper. Als Volkskunst, die Musik und Schauspiel verbindet, werden sie an öffentlichen Orten wie auf Straßen und Märkten improvisiert und inszeniert oder in öffentlichen Räumen wie den zahlreichen Theaterhäusern aufgeführt. Den theatralischen Charakter

247 248 249 250

Novalis, »Logologische Fragmente [II ]«, NS II, S. 545. Novalis, »Logologische Fragmente [II ]«, NS II, S. 545. Vgl. Bunzel/Stein/Vaßen, »›Romantik‹ und ›Vormärz‹«, S. 30ff. Bunzel/Stein/Vaßen, »›Romantik‹ und ›Vormärz‹«, S. 33.

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und die gesellige Dimension der Aufführungen stellt auch Wilhelm Müller in seinem Reisebericht heraus, wenn er über »das Theater in Italien« schreibt, daß es »weniger ein Tempel der Kunst als ein Saal der Geselligkeit ist und sein will«.251 Es sind vor allem die Merkmale des Unabgeschlossenen, Improvisatorischen und Öffentlichen, wodurch sich die volksnahen, auf Wirkung zielenden Gattungen der italienischen Kunst vom theoretischen Anspruch an die Autonomie des Kunstwerks und die Betonung seines selbständigen Charakters in Klassik und Romantik unterscheiden.252 Die ästhetischen Positionen der Kunstperiode werden in Heines Italienreisebeschreibung unter dem Blickwinkel wirkungsästhetischer Kategorien neu ausgelotet und verhandelt. Entsprechend spielt sich die erste Szene, die der Erzähler in Trient verfolgt, auf einem öffentlichen Platz ab, vor einem Wirtshaus mit dem sprechenden Namen »Lokanda dell’ Grande Europa« (DHA 7/1, 46). Ein »wunderliches Trio, bestehend aus zwey Männern und einem jungen Mädchen, das die Harfe spielte« (DHA 7/1, 47), führt dort ein »ächt italienisches Musikstück, aus irgend einer beliebten Opera Buffa« (DHA 7/1, 48) auf. Die in der Forschung viel beachtete Episode, in der ein Greis, »dessen schneeweiße Haare mit seinem Buffogesang und seinen närrischen Capriolen gar kläglich kontrastirten« (DHA 7/1, 47) zusammen mit seiner Tochter auftritt, wurde vor allem als Parodie auf die Figur des Harfners und seiner Tochter Mignon aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre gedeutet.253 Während über den intertextuellen Bezug der Stelle weitgehend Einigkeit herrscht, divergieren jedoch die Einschätzungen der Bedeutung und Funktion des frivolen Tanzes der kleinen Harfnerin. Deutet Michael Werner ihn als verdeckte, ›esoterische‹ Kritik an der unfreien politischen Situation, die sich hinter Narrensprüngen verbergen muß, verweist seine Erotisierung für René Anglade auf einen potentiell radikalisierbaren Emanzipationsdrang.254 Olaf Hildebrand dagegen unterstreicht den Zwang, der der Harfnerin angetan wird, und hebt neben dem politischen Gehalt vor allem auf die poetologische Dimension der Szene ab. Die Figur der Harfnerin entspreche dem ästhetischen Ideal des Reisenden, in ihrer Person vermische sich »politische Anklage […] und romantischer Lustgewinn«.255 Trotz der politischen Erlösungsbedürftigkeit des zur Prostitution gezwungenen Mädchens, so Hildebrand, verkörpere der oxymoronische Kontrast der Szene poetologisch die Zerrissenheit des modernen Schriftstellers und erfülle insofern 251 252 253 254 255

Wilhelm Müller, Rom, Römer und Römerinnen. Hrsg. von Wulf Kirsten. 2. Aufl. Berlin (Ost) 1983, S. 219. Vgl. z.B. Friedrich Schlegel zum romantischen Roman im Gespräch über die Poesie, KA II, S. 328. Vgl. dazu René Anglade, »Mignons emanzipierte Schwester. Heines kleine Harfenistin und ihre Bedeutung«. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 41 (1991), S. 301–321. Vgl. Werner, »Heines Reise von München nach Genua«, S. 36; Anglade, »Mignons emanzipierte Schwester«, S. 303. Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 166.

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eine zeitgemäße Ästhetik.256 Hildebrands Beobachtungen sind wegweisend, da sie neben der politischen auch auf die ästhetische Ebene der Szene hinweisen. Allerdings, so muß hinzugefügt werden, widersprechen sich poetologische und politische Aussage nicht, sondern referieren vielmehr aufeinander. Daß Kunst und politische Wirklichkeit, Kunst und Leben in der komisch-grotesken Aufführung des Trios einen untrennbaren Komplex bilden, zeigt eine Betrachtung des Produktionskontextes sowie der ›negativen‹ Ästhetik des Kunstwerks und der Wirkung, die ihm vom Erzähler zugesprochen wird. So läßt sich hinsichtlich der Produktion festhalten, daß der Tanz innerhalb einer ›kranken‹ gesellschaftlich-politischen Situation entsteht, die ihm als Gewalt, Obszönität und Widernatürlichkeit eingeschrieben ist. Das betrifft die Person des Vaters ebenso wie die der Tochter. Während der Vater einen seinem Alter unwürdigen »verliebten alten Gecken« darstellt, gleicht das Mädchen einer »offne[n] Rosenknospe, die mehr gewaltsam aufgerissen als in eigener Entfaltung aus der grünen Hülle hervorgeblüht zu seyn schien« (DHA 7/1, 47). Der Vergleich mit Goethes asexueller Romanfigur Mignon, die Reinheit und Unschuld symbolisiert, unterstreicht deutlich die Sexualisierung von Heines Harfnerin. Mignon erweist sich im Verlauf des Romans aufgrund ihrer melancholisch-schwärmerischen Disposition, die genealogisch in ihren ›naturwidrigen‹ Familienverhältnissen gründet, als nicht lebensfähig. Die kleine Harfnerin in der Reise von München nach Genua ist ebenfalls eine in ihrer personellen Entwicklung deformierte, ›widernatürliche‹ Figur, die aber – im Unterschied zu Goethes Mignon – eine politische Dimensionierung erhält. Ihre ›Krankheit‹ ist das Resultat der politischen Unfreiheit, ihr grotesker Tanz Signatur der repressiven Verhältnisse, die Kirche und Adel nach 1815 in Europa geschaffen haben. Der Name der Gaststube »Lokanda dell’ Grande Europa« (DHA 7/1, 46), vor der der Erzähler die öffentliche Aufführung des Trios verfolgt, verweist auf die gesamteuropäische Dimension des Beobachteten. Mit dem Produktionskontext stimmt die dem performativen Kunstwerk immanente negative Ästhetik überein. Die Beschreibung der äußeren Erscheinung der Gruppe sowie ihrer künstlerischen Performanz zielt vor allem auf die schneidenden Kontraste ab – das Wort ›kontrastieren‹ verwendet der Erzähler an zwei Stellen sogar explizit.257 So stechen von der widernatürlichen, obszönen Häßlichkeit im Auftreten und Aufzug des Mädchens ihre »Anmuth« (DHA 7/1, 48) und die »stolzgeschwungene[n] Formen« ihres »schönen Gesichtes« (DHA 7/1, 47) ab. Auch in bezug auf den performativen Kunstakt betont der Erzähler die Divergenz zwischen den grotesk-lüsternen Bewegungen des Mädchenkörpers und ihrem Gesang, der »weich und wunderbar aus ihrer Brust hervorstieg« (DHA 7/1, 48). 256 257

Vgl. Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 164–167. Vgl. DHA 7/1, S. 47.

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Der improvisierte Tanz des Trios ist ein öffentliches Spektakel, bei dem sich der performative Raum, das Körperverständnis sowie das Verhältnis zwischen Zuschauern und Akteuren fundamental vom Konzept des deutschen Literaturtheaters unterscheiden, das sich seit der Theaterreform in der Mitte des 18. Jahrhunderts auf den Schaubühnen etablierte.258 Der phänomenale Leib des Akteurs oder Schauspielers wird im Literaturtheater in eben dem Maße zum Verschwinden gebracht, wie sich eine neue realistisch-psychologische Schauspielkunst verbreitete, die großes Augenmerk auf die Natürlichkeit der Bewegungen und Gesten legte. Gleichzeitig sollte die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf das Geschehen auf der Bühne gelenkt werden, indem durch Maßnahmen wie die Verdunkelung des Theaterraums und die Einrichtung der Guckkastenbühne der gesellige Aspekt zugunsten des Bildungs- und Totalitätsanspruchs der Kunst zurücktrat.259 Die Wirkungsästhetik der komischimprovisatorischen Aufführung in Heines Reisebild ist der klassisch-aufklärerischen Theaterkonzeption diametral entgegengesetzt. Im hellen italienischen Tageslicht und im öffentlichen performativen Raum vor der »Lokanda« löst sich die passive, konzentrierte Rezeptionshaltung der Zuschauer auf, wobei die strengen Grenzen zwischen Kunst und Leben überschritten werden. Nicht nur das begeisterte italienische Publikum, sondern auch der Erzähler der Reise von München nach Genua läßt sich von der Aufführung affizieren, seine Empfindung ist von Empathie für die kleine Harfnerin geleitet – »Je frecher sie sich gebehrdete, desto tieferes Mitleiden flößte sie mir ein« (DHA 7/1, 48). Ihre Darbietung findet ein Echo im Schmerz des Erzählers. Die »alten deutschen Schmerzen« (DHA 7/1, 46), die die Musik des Trios in der Seele des Reisenden hervorruft, stellen denn auch den leitmotivischen Rahmen des Kapitels dar. Die Frivolität des Tanzes, zu dessen klimaktischer Steigerung die Zuhörer immer »toller jubelten« (DHA 7/1, 48), stellt zudem unter wirkungsästhetischem Aspekt eine Provokation der bürgerlichen Moral dar. Die aufreizende Sinnlichkeit und widernatürlich-inzestuöse Inszenierung der Aufführung untergraben Dogmen staatlich-gesellschaftlicher Institutionen wie der Ehe und der Religion. Die ›unheilige‹ Familie mit ihrer beklagenswerten Vaterfigur erschüttert eines der wichtigsten Autoritätsgefüge der Restauration, das auf einer prämodernen Trope basiert. Die organische Ordnung des Staates, an dessen Spitze der Monarch steht, spiegelt sich in der intakten, geordneten Familie, die vom Vater gelenkt wird. Wenn in diesem pars pro toto der Teil (die Familie) das Ganze (die Nation) repräsentiert, dann verweist die ›Unordnung‹ der familiären Situation der Harfnerin und ihres Vaters auf einen aus den Fugen geratenen Staat. In einem der folgenden Kapitel des Reisebilds wird zudem deutlich, daß der Erzähler bewußt auf die Provokation der repressi258 259

Siehe dazu: Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 130ff. Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 353f.

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ven Moral in der Figur der koketten Harfnerin abzielt. Er erzählt von seinem Gespräch mit ihr, bei dem sie ihm in doppeldeutiger Absicht ihre Rose anbietet, ein Antrag, den er – über philiströse Tugendideale sich mit einem Vergleich aus dem Tier- und Pflanzenreich mokierend – schließlich mit »Si Signora« (DHA 7/1, 50) beantwortet.260 Bereits in der französischen Aufklärung – darauf hat Günter Oesterle hingewiesen – hatte Frivolität als Verhaltens- oder als Schreibweise die Funktion eines politischen Kampfmittels gegen die Herrschaft anachronistischer Autoritäten.261 Heine und die Jungdeutschen schließen an diese Tradition an, die das ›Heiligste‹ angreift, um der Diffamierung von Freiheit und revolutionärer Gesinnung entgegenzuwirken. Bei den Zuschauern des pantomimischen Spiels in der Reise von München nach Genua wird aber nicht nur die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung wachgehalten, sondern auch revolutionäres Verhalten befördert. Die visuelle Darstellung ungezügelter Sinnlichkeit und der leidenschaftliche Enthusiasmus der Akteure wirken auf die Zuschauer, deren aufgereizte Stimmung ins Revolutionäre umschlagen kann. Von den Ausführungen des Erzählers zur italienischen Oper wird dieser Zusammenhang bekräftigt. Auch die Charakterisierung des zweiten Mannes des Trios konnotiert mehr als nur ein gängiges Italien-Stereotyp. Sie verdeutlicht das illegitime Potential und die gefährliche Energie der burlesken Truppe: »Der eine […] war ein stämmiger Mann, mit einem dickrothen Banditengesicht, das aus den schwarzen Haupt- und Barthaaren, wie ein drohender Comet, hervorbrannte […].« (DHA 7/1, 47) Das gefährliche Aussehen des Mannes korrespondiert mit seiner Weise der musikalischen Aufführung – »zwischen den Beinen hielt er eine ungeheure Baßgeige, die er so wüthend strich, als habe er in den Abruzzen einen armen Reisenden niedergeworfen und wolle ihm geschwinde die Gurgel abfiedeln« (DHA 7/1, 47). Die scharfen Kontraste, drastischen Vergleiche und vor allem die Semantik des ›Feuers‹, die der Text an dieser Stelle verwendet, konnotieren eine gefährliche Intensität, die neben der ironischen Verwendung des in Räubergeschichten verbreiteten Klischees vom italienischen Banditen einen weiteren Bedeutungsbereich besitzt. Seit der Französischen Revolution verweist das Bildfeld des Brennens in seiner destruktiven Verwendung nicht nur auf zerstörerische subjektive Leidenschaften, sondern auch auf unkontrollierbare revolutionäre Kräfte.262 Auch die Formulierung 260

261 262

»Und wenn sie auch nicht mehr, so dacht ich, ganz frisch riecht, und nicht mehr im Geruche der Tugend ist, wie etwa die Rose von Saron, was kümmert es mich, der ich ja doch den Stockschnupfen habe! Und nur die Menschen nehmens so genau. Der Schmetterling fragt nicht die Blume: hat schon ein Anderer dich geküßt? Und diese fragt nicht: hast du schon eine Andere umflattert? Dazu kam noch, daß die Nacht hereinbrach, und des Nachts, dacht ich, sind alle Blumen grau, die sündigste Rose eben so gut wie die tugendhafteste Petersilie.« (DHA, 7/1, S. 50) Vgl. dazu Oesterle, Integration und Konflikt, S. 91–111. Siehe etwa die kleine Erzählung Schloß Dürande (1837) des Revolutionskritikers Joseph von

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»wie ein drohender Comet« ist in diesem Kontext bedeutsam – die Erscheinung eines Kometen wird in literarischen Texten um 1800 fast ausschließlich als Zeichen für drohendes Unheil gedeutet, das Krieg und Zerstörung oder das Ende eines Zeitalters ankündigt.263 Die politische Dimension der performativen Szene wurde in der Forschung immer wieder herausgestellt, was nicht zuletzt der Leseanweisung des Erzählers geschuldet ist, die auf die Differenz zwischen Oberfläche und Tiefe, Zeichen und Bedeutung in der Aufführung hinweist. Der Erzähler verwendet zur Charakterisierung des Unterschieds das für Heines Poetologie zentrale Begriffspaar ›exoterisch‹ und ›esoterisch‹, auf das an anderer Stelle schon hingewiesen wurde:264 Dem armen geknechteten Italien ist ja das Sprechen verboten, und es darf nur durch Musik die Gefühle seines Herzens kund geben. All sein Groll gegen fremde Herrschaft, seine Begeistrung für die Freyheit, sein Wahnsinn über das Gefühl der Ohnmacht, seine Wehmuth bey der Erinnerung an vergangene Herrlichkeit, dabey sein leises Hoffen, sein Lauschen, sein Lechzen nach Hülfe, alles dieses verkappt sich in jene Melodien, die von grotesker Lebenstrunkenheit zu elegischer Weichheit herabgleiten, und in jene Pantomimen, die von schmeichelnden Caressen zu drohendem Ingrimm überschnappen. Das ist der esoterische Sinn der Opera Buffa. Die exoterische Schildwache, in deren Gegenwart sie gesungen und dargestellt wird, ahnt nimmermehr die Bedeutung dieser heiteren Liebesgeschichten, Liebesnöthen und Liebesneckereyen, worunter der Italiener seine tödtlichsten Befreyungsgedanken verbirgt, wie Harmodius und Aristogiton ihren Dolch verbargen in einem Kranze von Myrten. (DHA 7/1, 49)

Um sich vor der »exoterische[n] Schildwache«, den österreichischen Soldaten im Auftrag Metternichs, zu schützen, bedienen sich die Italiener der Camouflage und drücken den esoterischen Sinn – den »Groll gegen fremde Herrschaft« – in »heiteren Liebesgeschichten« aus. Wie in der Bildlogik des Traums werden die äußeren Ursachen verschoben, wobei jedoch die Wahrheit in der grotesk-

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Eichendorff, in der das Schloß in Flammen aufgeht und in einem klaren Bezug zur Warnung vor revolutionären Bestrebungen steht (vgl. Joseph von Eichendorff, Das Schloß Dürande. Novelle. In: Werke. Hrsg. von Wolfgang Frühwald/Brigitte Schillbach/Hartwig Schultz. 5 Bde. Frankfurt a.M. 1993, Bd. 3, S. 421–465, hier S. 465). Zur zeitgenössischen Verwendung von ›Komet‹ in der Bedeutung von ›furchtbares Zeichen‹, das etwa Kriegshandlungen ankündigt und Zerstörung bedeutet, vgl. z.B. Schillers Die Räuber und Wallenstein sowie Goethes Götz von Berlichingen. In Goethes Schauspiel Des Epimenides Erwachen verweisen Kometen auf die Beendigung der Gewaltherrschaft: »Brüder, auf die Welt zu befreien.// Kometen winken, die Stund’ ist groß.// Alle Gewebe der Tyranneien// Haut entzwei und reißt euch los!// Hinan! – Vorwärts – hinan!// Und das Werk es werde getan!« (Des Epimenides Erwachen, MA 9, S. 225) Ganz im Gegensatz allerdings zur Bedeutung in Heines Text verweist der Komet dort auf das Ende der Herrschaft Napoleons durch das Bündnis der ›Heiligen Allianz‹. Vgl. auch René Anglade, der auf die Metaphorik des Begriffs und seine Verwendung als Zeichen der Unordnung seit dem 17. Jahrhundert hinweist (»Mignons emanzipierte Schwester«, S. 304). Vgl. Kap. II. 2.6.

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verschobenen, humoresken Signatur erkennbar bleibt. Hinter den scheinbar harmlosen Komödien der Italiener verstecken sich revolutionäre Gedanken, die zur politischen Tat führen sollen, wie bei den athenischen Tyrannenmördern Harmodius und Aristogiton, die ihre Waffe im Myrtenkranz versteckten. Gerade die Musik als bevorzugtes Ausdrucksmedium der Romantik, das jenseits sprachlich-materieller Zeichen funktioniert, erfährt in dem Zitat eine radikale Umdeutung, indem sie auf die restriktive politische Situation in Italien bezogen wird. Die politische Pointierung des romantischen Unsagbarkeitstopos – direktes Sprechen ist den Italienern aufgrund der Zensur nicht möglich – und die Funktionalisierung der Musik konterkarieren das Verständnis des Mediums Musik als Ausdruck des Absoluten in der Romantik.265 Musik erhält – ähnlich wie in Byrons Childe Harold IV – in der Reise von München nach Genua die Bedeutung, die Erinnerung an die politische Freiheit wachzuhalten. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob Heines Text Kunst lediglich als ein heteronomes Mittel begreift, um die Zensur zu umgehen, oder ob dem Kunstwerk ein ästhetischer Eigenwert zukommt. Die Fragestellung, wie sich Ästhetik und Politik zueinander verhalten, ist für Heines Texte grundlegend und wurde in der Forschung immer wieder diskutiert.266 Im Hinblick auf die Spannung zwischen ästhetischen und politischen Aspekten in der Reise von München nach Genua betont Jürgen Brummack, daß Heine nicht nur – wie es im Text heißt – »ein braver Soldat im Befreyungskriege der Menschheit« (DHA 7/1, 74) sein wollte, sondern auch Dichter, was aus dem Interesse des Textes an der Geschichte der Menschheit hervorgehe, die der Dichter und nicht der politische Schriftsteller erzähle.267 Auf die Textstelle, in der sich der Erzähler dezidiert für das Schwert des Soldaten und gegen den Lorbeer des Dichters entscheidet und bekennt, daß die »Poesie, wie sehr ich sie auch liebte, […] mir immer nur heiliges Spielzeug, oder geweihtes Mittel für himmlische Zwecke« (DHA 7/1, 74) war, bezieht sich auch Olaf Hildebrand, wenn er das Ende des Reisebilds als »Abgesang auf die Kunst« versteht.268 Heine habe in

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Den Bezug zwischen Musik und dem Absoluten zeigt Carl Dahlhaus in seiner einschlägigen Untersuchung Die Idee der absoluten Musik. Er betont, daß die Instrumentalmusik aufgrund ihrer »Begriffs- und Objektlosigkeit« im 19. Jahrhundert »zum Inbegriff dessen, was Musik überhaupt ist« wurde (Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik. 3. Aufl. Basel u.a. 1994, S. 12). Zur intermedialen Verarbeitung der Musik in literarischen Texten der Romantik vgl. z.B. die Kreislerfigur bei E.T.A. Hoffmann sowie Heinrich von Kleists Novelle Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik und Clemens Brentanos Der Sänger (vgl. dazu Christine Lubkoll, Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800. Freiburg 1995). Siehe u. a. Manfred Windfuhr, »Zum Verhältnis von Dichtung und Politik bei Heinrich Heine«. In: Heine-Jahrbuch 24 (1985), S. 103–122, mit Bezug auf Heines Prosa Albrecht Betz, Ästhetik und Politik sowie mit besonderer Berücksichtigung der Reisebilder Klaus Pabel, Heines »Reisebilder«. Ästhetisches Bedürfnis und politisches Interesse am Ende der Kunstperiode. Vgl. Brummack, »Erzählprosa ohne Fabel«, S. 134. Vgl. Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 168.

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seinem Text, so Hildebrand, indirekt eine Absage an das Rollenverständnis als Dichter formuliert und sich für den politischen Autor entschieden.269 Die poetische Komplexität und künstlerische Artifizialität des Textes werfen allerdings Zweifel an dieser These auf. Wie auch Brummack betont, ist es wichtig, die Gesamtstruktur des Textes zu beachten, die nicht identisch ist mit der Positionierung des Erzählers als »braver Soldat« auf dem Schlachtfeld von Marengo. Günter Oesterle beschreibt die ästhetisch-politische Gemengelage des Reisebilds prägnant, wenn er schreibt, daß der Text »in sich unausgesprochen das Wunschbild einer Einheit des Politischen und Ästhetischen« trägt.270 Während Oesterle aber diese Einheit als Utopie des Textes betrachtet, die nur in der italienischen Vergangenheit existierte und in der Gegenwart nicht mehr möglich sei, wird hier die These vertreten, daß der Text gerade anhand der italienischen Gegenwart ein Kunstverständnis entwickelt, das eine »Einheit des Politischen und Ästhetischen« auch für unfreie Zeiten reklamiert. Die Verbindung von Kunst und Leben kennzeichnet Italien nicht nur in der Blütezeit der italienischen Renaissance, sondern auch während der politischen Repression. Für Heines italienisches Reisebild gilt, wie auch Oesterle und Brummack betonen, daß jede zu einseitige Akzentuierung des politischen oder ästhetischen Aspekts Heines Konzept einer ›eingreifenden‹ Kunst nur unzureichend erfaßt. Kunst in der Form, wie sie in dem poetologischen Schwellennarrativ Reise von München nach Genua selbstreflexiv und intermedial entwickelt wird, birgt selbst revolutionäres, eingreifendes Potential: In diesem Sinne existiert die Einheit des Ästhetischen und Politischen auch in der Gegenwart. Bei der Zuordnung der Aufführung des Trios zu gängigen Begriffen der Heine-Forschung wie ›Ästhetik der Zerrissenheit‹ oder ›Kontrastästhetik‹ werden leicht die Besonderheiten der italienischen Kunst übersehen, anhand derer Heine in seinem Schwellennarrativ Reise von München nach Genua ein neues Kunstprogramm entwickelt. Denn gerade in der intertextuell mit Goethes Mignonfigur stark überformten Szene werden Aspekte eines neuen Kunstverständnisses umrissen, die sich von der klassisch-romantischen Ästhetik der Kunstperiode distanzieren und auf Heines Zeit im Pariser Exil nach der französischen Juli-Revolution vorausweisen. Die Untersuchung der verschiedenen Bereiche der Szene – der Produktion, des Kunstwerks und seiner Wirkung – konnte einen engen Wechselbezug zwischen ästhetischen und politischen Aspekten zeigen. In der oben zitierten Stelle ist der Myrtenkranz, der den Dolch birgt, ein anschauliches Bild für die Verschränkung der beiden Bereiche. Inwiefern der »Kranze von Myrten« bei Heine nicht nur der Tarnung des Dolches dient, sondern der Myrtenkranz selbst den Dolch hervorbringt, verdeutlichen die Kommentare des Erzählers zu einem weiteren Medium der 269 270

Vgl. Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 172. Oesterle, »Heines Reise von München nach Genua«, S. 276.

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italienischen Kunst: der Oper. Die Oper besitzt in der Reise von München nach Genua neben der opera buffa einen zentralen Stellenwert, da an ihr, wie im folgenden gezeigt werden soll, der Text implizit Fragen einer eingreifenden Kunst erörtert. 5.3.3. Eingreifende Kunst und die zeitgenössische Oper Die Beschreibung der theatralischen Aufführung vor der »Lokanda dell’ Grande Europa« besitzt in der Reise von München nach Genua den Stellenwert einer impliziten Poetologie, die die Kunst in der Gegenwart neu definiert, und zwar als permanente, bewußte Grenzüberschreitung zwischen Kunst und Wirklichkeit, zwischen Ästhetik und Politik. Dabei besitzt der Aspekt der Grenzverletzung, der die performativen Medien kennzeichnet, zugleich revolutionäres Potential, durch das bestehende Ordnungen umgekehrt werden können. Zur italienischen Oper äußert sich der Erzähler bei der Betrachtung des komisch-grotesken Trios auf dem öffentlichen Platz, da ihn diese Aufführung an die »funkelnden Schmetterlingsträume« (DHA 7/1, 48) der Opern Rossinis erinnert, die das deutsche Publikum aufgrund ihrer ›oberflächlichen‹ Leichtigkeit nicht verstehe: Divino Maestro, verzeih meinen armen Landsleuten, die deine Tiefe nicht sehen, weil du sie mit Rosen bedeckst, und denen du nicht gedankenschwer und gründlich genug bist, weil du so leicht flatterst, so gottbeflügelt! – Freylich, um die heutige italienische Musik zu lieben und durch die Liebe zu verstehn, muß man das Volk selbst vor Augen haben, seinen Himmel, seinen Charakter, seine Mienen, seine Leiden, seine Freuden, kurz seine ganze Geschichte, von Romulus, der das heilige römische Reich gestiftet, bis auf die neueste Zeit, wo es zu Grunde ging, unter Romulus Augustulus II. (DHA 7/1, 48f.)

Die Voraussetzung für das Verständnis des italienischen Kunstwerks ist die Kenntnis der soziokulturellen und politischen Geschichte des Landes, von seiner mythischen Gründung durch Romulus bis zum Aufstieg zu imperialer Größe unter Cäsar und seinem Ende unter Romulus Augustus, dessen Sturz im Jahre 476 das Ende des römischen Reiches bewirkte. Der Verweis auf das ruhmlose Ende des heiligen römischen Reiches in der »neueste[n] Zeit« unter Kaiser Franz II., der mit dem Spottnamen Romulus Augustulus als ›Kaiserlein‹ karikiert wird, schlägt den Bogen in die italienische Gegenwart und verweist auf das augenblickliche Leiden der Italiener an der Fremdherrschaft. Das Kunstwerk, das sich nicht vom öffentlichen Leben losgelöst hat, so wird aus der zitierten Passage ersichtlich, ist mit dem Volk und seiner Geschichte aufs Engste verschränkt: Eine Trennung des Ästhetischen vom Politisch-Öffentlichen, wie sie Heine für Deutschland kritisiert, erscheint in Italien unmöglich. In diesem Kontext müssen auch die Reflexionen über die »Comödie« verstanden werden, die der Erzähler im Amphitheater von Verona sieht. Das commedia dell’arte Stück, das an der Oberfläche ein humorvolles Spiel vorführt, 383

erhält durch die Topographie der Aufführung eine geschichtliche Tiefendimension. »Brighellas und Tartaglias Spiegelfechtereyen«, so kommentiert der Reisende, finden nun statt »auf derselben Stelle, wo der Römer einst saß und seinen Gladiatoren und Thierhetzen zusah« (DHA 7/1, 58). Über diesen historischen Registerwechsel vom Heroisch-Erhabenen zum Lächerlich-Burlesken äußerten sich einige von Heines Vorgängern wie F. J. L. Meyer oder Friedrich Thiersch in ihren Italienberichten abwertend.271 Während diese Texte die Ablehnung der ruhmlosen Diskrepanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart kennzeichnet, akzentuiert Heines Reisebild das kritische Potential dieser grotesken Spannung. Einerseits erteilt der Abstand zwischen Einst und Jetzt der Macht und Willkür der Römer und ihren blutigen Spielen eine implizite Absage, die der Erzähler so formuliert: »Das ganze Spiel hatte keinen Tropfen Blut gekostet. Es war aber nur ein Spiel. Die Spiele der Römer hingegen waren keine Spiele, diese Männer konnten sich nimmermehr am bloßen Schein ergötzen, es fehlte ihnen dazu die kindliche Seelenheiterkeit […].« (DHA 7/1, 58) Der Mangel an Kindlichkeit macht sie aber nicht zu Heroen: »Sie waren keine große Menschen«, lediglich »durch ihre Stellung waren sie größer als andre Erdenkinder« (DHA 7/1, 58). Andererseits verdeutlicht der Gegensatz zwischen der damaligen und der aktuellen Funktion, wie sich das Volk der Stätten der einstigen Unterwerfung und Herrschaft bemächtigt hat. Das Spiel von »Truffaldino«, »Smeraldina« und »Pantalone« (DHA 7/1, 58) ist keine Machtdemonstration, sondern Spaß vom Volk für das Volk. Vor dem Hintergrund der ehemaligen Verwendung erhält das aktuelle, harmlose Vergnügen eine politische Reichweite, die auch als Kritik an der aktuellen Tyrannei verstanden werden kann. Die »italienische Posse« (DHA 7/1, 58), die nach außen ein harmloses, heiteres Kunstwerk repräsentiert, entfaltet ihre politische Kritik im grotesken Palimpsest, mit dem der ›Urtext‹ überschrieben wird, also gerade mittels jener Umfunktionalisierung, die von antikebegeisterten Italienreisenden als schmachvolle Erniedrigung der erhabenen Vergangenheit empfunden wurde. Die politische Dimension des Kunstwerks und sein revolutionäres Potential werden an einer späteren Stelle in der Reise von München nach Genua erneut anhand italienischer Opernaufführungen thematisiert:272 Einer meiner Britten hielt die Italiener für politisch indifferent, weil sie gleichgültig zuzuhören schienen, wenn wir Fremde über die katholische Emanzipazion und den Türkenkrieg politisirten; und er war ungerecht genug, gegen einen blassen Italiener mit pechschwarzem Barte sich darüber spöttisch zu äußern. Wir hatten den Abend vorher eine neue Oper in der Scala aufführen sehen, und den Mordspektakel gehört, der, wie gebräuchlich, bey solchen Anlässen statt findet. Ihr Italiener, sagte der Britte zu dem Blassen, scheint für alles abgestorben zu seyn, außer für Musik, 271 272

Vgl. DHA 7/2, S. 888f. Vgl. auch Jost Hermand, der darauf hinweist, daß die ungezügelte Sinnlichkeit in der opera buffa fast ans Revolutionäre grenze (Der frühe Heine, S. 140).

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und nur noch diese vermag Euch zu begeistern. Sie thun uns Unrecht, sagte der Blasse und bewegte die Achsel. Ach! seufzte er hinzu, Italien sitzt elegisch träumend auf seinen Ruinen, und wenn es dann manchmal bey der Melodie irgend eines Liedes plötzlich erwacht und stürmisch emporspringt, so gilt diese Begeisterung nicht dem Liede selbst, sondern vielmehr den alten Erinnerungen und Gefühlen, die das Lied ebenfalls geweckt hat, die Italien immer im Herzen trug, und die jetzt gewaltig hervorbrausen, – und das ist die Bedeutung des tollen Lerms, den Sie in der Scala gehört haben. (DHA 7/1, 65)

Es wird hier ersichtlich, daß für den Briten, der die Italiener verspottet und ihnen politische Gleichgültigkeit vorwirft, Kunst und Wirklichkeit, Kunst und Leben zwei voneinander getrennte Bereiche sind. Er übersieht dabei allerdings, daß für das italienische Volk, für das das »Unglück des Vaterlandes« die »schmerzlichste Wunde in der Brust« (DHA 7/1, 65) bedeutet, die Kunst einen höchst politischen Charakter besitzt. Nicht politische Rhetorik, sondern Musik erzeugt bei den Italienern Begeisterung für die Freiheit, da in den Melodien und Liedern, die Erinnerung an die Freiheit weiterlebt und bei den Zuhörern wachgehalten wird. Genau diesen Aspekt der italienischen Musik akzentuiert auch schon Byron in Childe Harold IV im Hinblick auf die Lieder Tassos oder die Volkslieder, die die Römer auf den Feldern singen. In seiner an John Cam Hobhouse gerichteten Einleitung zum vierten Canto des Versepos erwähnt Byron im Zusammenhang mit der Sehnsucht der Italiener nach Unabhängigkeit ihren melancholischen Gesang, »the simple lament of the labourers’ chorus, ›Roma! Roma! Roma! Roma non è più come era prima‹« (CPW II, 124). Daß Heine diesen Kontext bei Byron kannte und während der Komposition der Reise von München nach Genua im Kopf hatte, zeigt eine seiner Reise-Notizen, auf der steht: »Roma, roma, roma/ Non è più come era prima« (DHA 7/1, 526).273 Die Beschreibung der Rezeption in der zitierten Passage ist aufschlußreich für das Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit im Opernsaal. Der performative Raum, in dem die Oper aufgeführt wird, ist von einer leidenschaftlichen Zuschauermenge erfüllt, die das Kunstwerk nicht passiv rezipiert, sondern durch ihre Erregung, die in das Spiel hineinwirkt, eine aktive Rolle erhält.274 273

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Vgl. Kap. IV. 4.3. Auf dieses Zitat von Byron, das in der Düsseldorfer Heine-Ausgabe noch nicht ermittelt ist (vgl. DHA 7/2, S. 1056), weist nun auch Thorsten Fitzon hin. Fitzon betont, daß Heine zwar die Verse nicht direkt verwendet, aber das melancholische Motiv der toten Roma in den Betrachtungen zu Veronas Amphitheater aufgreift (vgl. Fitzon, »›Es gibt nichts Langweiligeres auf dieser Erde‹. Zeitgefühl als Geschichtsskepsis in Heinrich Heines Reise von München nach Genua«. In: Frick (Hrsg.), Heinrich Heine, S. 93–116, hier S. 112). In der italienischen Erzählung Florentinische Nächte von 1835/36, die mit schauerromantischen Topoi spielt, verweist der homodiegetische Erzähler Maximilian auch auf die Bedeutung der Musik für die Italiener und hebt ihren kollektiven Charakter hervor: »Die Musik wird hier in Italien nicht durch Individuen repräsentirt, sondern sie offenbart sich in der ganzen Bevölkerung, die Musik ist Volk geworden.« (DHA 5, S. 209) Der Erzähler, der nur von toten, statuenähnlichen oder vom Leben abgeschiedenen Frauen angezogen ist, akzentu-

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Statt stiller, konzentrierter Wahrnehmung, wie sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Bildungstheater üblich wurde, kennzeichnet die italienische Oper ein, wie es heißt, »Mordspektakel«. Die gefährlichen, unkontrollierbaren Energien, die dabei freigesetzt werden, legt nicht nur das Kompositum aus den Begriffen ›Mord‹ und ›Spektakel‹ nahe, sondern auch die Semantik, die in der Passage im weiteren verwendet wird, wie ›stürmisch emporspringen‹, ›hervorbrausen‹ oder ›toller Lärm‹. Wie der Erzähler »bey einer Aufführung des Crociato in Egitto« von Meyerbeer beobachtet, steigern sich die Reaktionen der Zuschauer in der Oper in »menschliche Raserey« (DHA 7/1, 66) – sie heißt »in Italien: furore« (DHA 7/1, 66). Der furor der Zuschauer ist grenzverletzend – er überspielt die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum sowie zwischen Kunst und Leben.275 Der Begriff furor, der nicht nur Wut und Raserei konnotiert, sondern auch Entschlossenheit zum Kampf, verdeutlicht die politische Bedeutung, die Heines Reisebild der Oper beimißt.276 Daß der Enthusiasmus der Zuschauer in der Oper in revolutionäre Handlung umschlagen kann, wird in der Geschichte bestätigt von Daniel Aubers skandalumwitterter Oper La muette de Portici (1828), die den Aufstand der Italiener gegen die spanische Herrschaft in Neapel zum Thema hat. 1830 kam es im Brüsseler Théâtre de la Monnaie während einer Aufführung des Stückes zu Unruhen, die zur nationalen Erhebung der Belgier führten; durch sie gewann das Land seine Unabhängigkeit von den Niederlanden.277 Ein Jahr zuvor, 1829, während Heine in Berlin an der Reise von München nach Genua schrieb, wurde die äußerst erfolgreiche Oper von Auber dort am Hoftheater aufgeführt. Es ist naheliegend, daß Heine, der schon in Briefe aus Berlin schrieb, daß die Oper »in Berlin

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iert allerdings weniger den politischen als den romantischen Aspekt der Musik. Folgerichtig fühlt sich Maximilian, der gerade aus der Oper in Florenz ans Bett seiner kranken Freundin Maria zurückkehrt von der Begeisterung und dem »allzutolle[n] Geräusch in einem italienischen Theater« (S. 209) gestört. Auf den Geist der italienischen Oper, in der die Kunst nicht vom Leben getrennt ist, weist auch Angus Calder im Kontext von Rossini und seiner Bedeutung für Byron hin: »In Italy, where Byron attended opera as a matter of course, there was no reverential silence as passions were howled and trilled, no separation of ›culture‹ from life. I think it is helpful to see Don Juan in the context of opera buffa, a medium for Mozart and Rossini – of a highly artificial form, which was nevertheless ›open‹ to everyday experience […].« (Calder, Byron, S. 48f.) Den Zusammenhang zwischen furor und Revolution stellt Heine explizit in seinen her, wenn er schreibt, daß der Kuß, den er der Tochter des Scharfrichters, dem roten Sefchen, gab, bei ihm zwei Passionen beförderte: »die Liebe für schöne Frauen und die Liebe für die französische Revoluzion, den modernen furor francese, wovon auch ich ergriffen ward im Kampf mit den Lanzknechten des Mittelalters!« (DHA 15, S. 99) »Das Werk [...] war eine der Erfolgsopern des 19. Jahrhunderts, umwittert von dem revolutionären Ruf, den es sich 1830, als eine Aufführung in Brüssel die belgische Revolution auslöste, und 1848, als es revolutionäre Tumulte und Demonstrationen in den Opernhäusern bewirkte, erworben hatte; so wurde es zum Beispiel in der Berliner Hofoper 1829–98 285mal gespielt.« (Ludwig Fischer, Art. »La Muette de Portici«. In: Carl Dahlhaus/Sieghart Döhring (Hrsg.), Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. 8 Bde. München, Zürich 1986–1997, Bd. 1, S. 100–102, hier S. 100f.; vgl. auch Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 354)

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ein Hauptgegenstand der Unterhaltung« (DHA 6, 24) sei, das Stück mit der revolutionären Thematik, das direkt an seine Italienerfahrungen anschließt, bekannt war. Der Aufstand, der sich in Belgien tatsächlich ereignete, zeigt den engen Zusammenhang zwischen dem performativen Kunstwerk und dem revolutionären Potential, den Heine in seiner Charakterisierung der italienischen Oper fast zeitgleich in seinem Reisebild affirmiert. Heines aufwertende Deutung der italienischen Oper in der Reise von München nach Genua setzt sich von der ästhetischen Kritik seiner Zeitgenossen ab. Wie die anderen volksnahen Gattungen der commedia dell’ arte oder opera buffa, die das Reisebild aufruft, zählt die Oper um 1800 zu den niedrigen Genres und wurde wegen ihrer Zusammenhangslosigkeit und Übertreibung vielfach kritisiert. Die Vorwürfe aus aufklärerischer Perspektive richteten sich, das zeigt der Eintrag zur ›Oper‹ in Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste, vor allem auf Verstöße gegen die Regeln des Natürlichen und Wahrscheinlichen – die Oper sei ein groteskes Werk. Sulzers umfangreicher Artikel kritisiert die gegenwärtige Opernpraxis, auch wenn das Medium nicht prinzipiell abgelehnt wird, »weil darin alle schöne Künste ihre Kräfte vereinigen« können.278 Sulzer beklagt zwar die vielen Ungereimtheiten und Ausschweifungen in den Opern, streicht aber zugleich heraus, »daß kein Werk der Kunst der Oper an Lebhaftigkeit der Würkung gleich kommen könne«.279 Gerade deswegen sei es »von großer Wichtigkeit, daß die äußerlichen Zurüstungen mit ernstlicher Ueberlegung veranstaltet werden«.280 Schon bei Sulzer hat die Oper, obwohl er sie in ihrer zeitgenössischen Ausführung kritisch bewertet, hinsichtlich ihrer Wirkung gegenüber den anderen künstlerischen Medien eine Vorrangstellung. Aber auch noch Wilhelm Müllers Reisebericht Rom, Römer, Römerinnen von 1821, mit dem Heines Text das Interesse für die italienische Volkskultur teilt, beurteilt die italienische Oper negativ. Vor allem an Rossinis Opern kritisiert er die Berechnung des Effekts, den oberflächlichen Schein, der das Einfache und Natürliche verstelle – ein Urteil, das Müller klar als Romantiker ausweist.281 Seine neuartige Begeisterung für das Leben und die Kunst des italienischen Volkes, die die Fokussierung auf die Denkmäler der Antike ablöst, muß vor dem kultursoziologischen Hintergrund einer Moderneskepsis gesehen werden, die nach dem Einfachen sucht und sich nach idyllischen Lebensverhältnissen sehnt, die von der Neuzeit unberührt geblieben sind.282 Heines postromantische Sympathie für die Volkskunst gilt dagegen

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Johann Georg Sulzer, Art. ›Oper, Opera‹. In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. III: Hildesheim u.a. 1994 [2. unveränderter Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1793], S. 572–602, hier S. 573. Sulzer, Art. ›Oper, Opera‹, S. 583. Sulzer, Art. ›Oper, Opera‹, S. 583. Vgl. Müller, Rom, Römer, Römerinnen, S. 217. Vgl. dazu Stefan Oswald, »Wilhelm Müller: Rom, Römer, Römerinnen – die Darstellung eines

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ihrem performativen Charakter, der eine Annäherung von Kunst und Leben ermöglicht, die in einer repressiven Zeit revolutionäre Sprengkraft enthält. Die Beschreibung der volksnahen, performativen Gattungen des Straßentheaters, des Lieds und der Oper in der Reise von München nach Genua, konzentriert sich, so kann zusammenfassend festgehalten werden, auf drei Aspekte. Erstens findet die Volkskunst, die sich nicht vom Leben abgelöst hat, in einem öffentlichen Raum statt. Sie besitzt ein breites Publikum wie die Aufführungen vor der »Lokanda dell’ Grande Europa«, im Amphitheater in Verona und in der Oper veranschaulichen. Zweitens wirkt der Enthusiasmus, der bei den Zuschauern freigesetzt wird, der passiven Rezeptionshaltung entgegen. Die Auflösung der Passivität des Zuschauers, die »menschliche Raserey«, ist die Voraussetzung für ein Eingreifen in die Wirklichkeit und den Übergang in revolutionäre Handlung. Die performative, inszenatorische Volkskunst kennzeichnet der Aspekt des Übergangs und der Überschreitung: Zuschauer und Akteure, Kunst und Leben nähern sich einander an. Schließlich besitzt die Volkskunst als dritten Aspekt Merkmale des Grotesken. Als Ästhetik des ›Sowohl als auch‹ verbindet das Groteske Gegensätzliches spannungsreich miteinander, wie der Gesang der Harfnerin und die Musik der Rossinischen Oper gezeigt haben. Die grotesken Inszenierungen verletzen zudem, wie das Beispiel der Harfnerin zeigt, ästhetische und moralische Grenzen, und widersetzen sich etablierten Gattungen und kanonisierten Formen. Zugleich stellt das groteskperformative Kunstwerk, in dem Humor, Witz und Spiel vorherrschen, das Postulat der Naturnachahmung klassischer Repräsentationen in Frage. Die Wahrnehmung der öffentlichen italienischen Kunstformen in der Reise von München nach Genua ist dialogisch auf das kulturelle Leben Deutschlands bezogen, das in den ersten Kapiteln des Reisebilds beschrieben wird. Zwischen den beiden Ländern bestehen nicht nur Gemeinsamkeiten angesichts der politisch repressiven Situation während der Phase der europäischen Restauration, sondern auch Differenzen im Hinblick auf die gegenoffizielle ›Volkskultur‹ Italiens, die bislang in der Forschung wenig beachtet wurden. Nachdem der Gegenstand dieses Kapitels die italienische Volkskultur war, soll im folgenden die Kritik an der deutschen kulturellen und politischen Praxis vor der Kontrastfolie Italiens herausgearbeitet werden.

lebenden Volkes«. In: Oswald, Italienbilder. Beiträge zur Wandlung der deutschen Italienauffassung 1770–1840. Heidelberg 1985, S. 107–115, hier S. 112f.

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5.3.4. Kritik an den ›deutschen Zuständen‹: Nationalismus und fehlende Öffentlichkeit Die Beobachtung der italienischen Kunst und Kultur und die Auseinandersetzung mit ihr in der Reise von München nach Genua finden vor der Folie der deutschen Zustände statt, auf die der Text implizit bezogen ist. In der Forschungsdiskussion herrscht deswegen weitgehend Einigkeit darüber, daß Italien als fremdes Land keine weitere Bedeutung für das Reisebild besitze.283 Heine gehe es in Italien nicht um die Entdeckung des kulturell Anderen, sondern um eine Erforschung des Eigenen. Innerhalb der Diskussion um die Funktionalisierung Italiens für eigene Ziele und Interessen können insofern maßgeblich zwei Akzentsetzungen beobachtet werden. Zum einen sei der Text, wie etwa von Walter Erhart und Jost Hermand dargelegt wurde, eine ironische Abrechnung mit der gängigen Italienliteratur, vor allem mit Goethes verklärender Italienbegeisterung, die sich auf die Natur und die antike Kultur des Landes richtet.284 Heines Darstellung des ›realen‹, gegenwärtigen Italien und seines zerrissenen Volkes würden die herrschenden Klischees vom Land der Sehnsucht zerstören. Zum anderen sei die Beschreibung Italiens politisch motiviert und stehe für das ganze Europa. Anhand von Italien werde exemplarisch eine umfassende Kritik der politischen Wirklichkeit in Europa erstellt, deren Leitbegriffe Emanzipation, Fortschritt und Befreiung seien.285 Zweifelsohne legt der Text den Vergleich zwischen Deutschland und Italien nahe aufgrund der ähnlichen politischen Lage in Metternichs Restaurationsära. Neben der vergleichbaren politischen Situation gilt es, die Differenzen in der Darstellung Deutschlands und Italiens zu berücksichtigen. Denn die Kritik des Reisebilds, so die hier verfolgte These, zielt nicht nur auf die politischen Zustände zuhause, sondern auch auf das Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit in Deutschland. Gegenüber der deutschen Trennung zwischen Politik und Kunst ist Italien für Heine trotz seines politisch desolaten Zustands und dem Leiden seines ›kranken‹ Volks ein positives Leitbild für Deutschland und die deutsche Kunst, wie sich schon im Hinblick auf die volksnahen, performativen Medien erwiesen hat. Es zeigt sich, daß die kulturelle Differenz des fremden Kulturraums produktiv für ästhetisch-politische Entwürfe des Eigenen

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Vor allem Alberto Destro betont den Mangel an echter Auseinandersetzung mit der fremden Kulturnation (vgl. Destro, »Reiste Heine wirklich nach Italien? In: »Ich Narr des Glücks«. Bilder einer Ausstellung, Heinrich Heine 1797–1856. Hrsg. von Joseph A. Kruse. Stuttgart, Weimar 1997, S. 223–229). Vgl. Hermand, Der frühe Heine, S. 132–149 und Erhart, »Weltschmerz und Emanzipation«, S. 156–172. Vgl. z.B. Altenhofer, »Heines italienische Reisebilder«, S. 233–255 sowie Stefan Oswald, »Heinrich Heine: Reise von München nach Genua – Ironisierung eines Genres«. In: Oswald, Italienbilder, S. 136–141.

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verwendet wird. Insofern kann der These, daß Italien in der Reise von München nach Genua nur ein Vorwand für die Diskussion allgemeiner Themen sei, nur bedingt zugestimmt werden. Italien ist in dem Reisebild mehr als eine exotische Kulisse: Heine nimmt Diskurse der Zeit in seinem Text auf, wie Wilhelm Müllers dokumentarische Reisebriefe bestätigen können, und redefiniert anhand der italienischen Volkskultur die Rolle der Kunst und ihr Verhältnis zur Gesellschaft und Politik der Gegenwart. Im Unterschied zu Heines weiteren italienischen Reisebildern vermittelt die Reise von München nach Genua eine Bezugnahme zwischen Deutschland und Italien nicht nur durch ihren Titel, sondern auch durch ihre Struktur. So begibt sich der Erzähler erst in Kapitel VI. auf die Reise in den Süden, zuvor schildert er aber seine Erlebnisse im Süden Deutschlands – speziell in München, der Stadt, die gleichzeitig den Ausgangspunkt der Reise darstellt. Die vergleichsweise umfangreichen Eröffnungskapitel, die sich dem Tagesgespräch im heimischen Deutschland widmen, werden in den meisten Untersuchungen zu dem Reisebild zugunsten der Auseinandersetzung mit der Beschreibung der Fremde im Text vernachlässigt. Das gegenwärtige deutsche kulturelle und politische Leben hat zunächst scheinbar wenig mit einer genretypischen Schilderung Italiens zu tun und irritiert die Leseerwartungen. Wie sich zeigen wird, stellen die deutschen Verhältnisse aber nicht nur den textuellen Ausgangspunkt des Reisebilds dar, sondern auch seinen Zielpunkt, indem Italien und Deutschland in Heines Text durchgängig dialogisch aufeinander bezogen werden. In den ersten Kapiteln des Reisebilds, die zunächst wie ein launisch-kunterbuntes Allerlei aus unzusammenhängenden Beobachtungen des Tages wirken, lassen sich bei einem genaueren Blick drei thematische Schwerpunkte erkennen. Das sind: (1) die Philisterthematik – sie umspannt den gesamten Anfangskomplex und schildert satirisch den deutschen Kleinbürger; (2) der Nationalismus bzw. Patriotismus der Deutschen, ihre Liebe zum Vaterland; sowie (3) die Architektur Münchens und Berlins. Als öffentliche Form der bildenden Künste wird anhand der Architektur die Frage nach einer zeitgemäßen Kunst der Gegenwart gestellt. Am Anfang des Textes wird eine allgemeine Karikatur des ›langweiligen‹ deutschen Philisters gezeichnet, der mit seinem leblosen Charakter der Feind jeder Begeisterung ist und statt dessen belanglose, banale Konversationen führt. Sowohl der Berliner mit dem »erzprosaische[n] Wittwenkassengesicht« (DHA 7/1, 16), der den Erzähler in ein Gespräch im Montgelasgarten in Bogenhausen verwickelt, als auch die Münchner, die Ironie für eine Biersorte halten, werden in den ersten fünf Kapiteln als Philister entlarvt. Die verwendeten Topoi stehen ganz in der Tradition romantischer Philisterkritik, die auch schon frühere Texte kennzeichnete, wie etwa Die Harzreise, in der sich der Erzähler vor den verstaubten Göttinger Bürgern und Gelehrten, die 390

kein Kunstverständnis besitzen, in den Harz flüchtet.286 Das Muster des Aufbruchs aus der Philisterwelt in die Natur – die Wanderung von Göttingen in den Harz –, um dem deutschen Spießbürgertum zu entkommen und sich zu erneuern, liegt auch der italienischen Reise zugrunde. Die Philisterkritik in der Reise von München nach Genua besitzt dabei aber eine maßgeblich politische Zielrichtung, die das Kunstverständnis des Textes prägt. Diese wird im Reisebild durch die Schilderung der italienischen Volkskultur verdeutlicht, die als impliziter Maßstab für das deutsche öffentliche Leben dient. Wenn also der deutsche Philister »ein allgemein europäisches Gespräch« (DHA 7/1, 15) beginnt, dann gilt dieses nicht der politischen Situation in Europa, sondern dem Wetter. So adressiert er den Erzähler mit den Worten: ›»Es ist heute eine scheene Witterung.‹« (DHA 7/1, 15). Enthusiasmus empfindet der Berliner nur bei dem Gedanken an das Sehnsuchtsland Italien, »das den trockensten Philister so sehr in Extase bringen kann, daß er bey dessen Erwähnung plötzlich wie eine Wachtel schlägt« (DHA 7/1, 26). Dagegen zeigt er weder Begeisterung noch Interesse für die Kunst und die nationale Freiheit und Emanzipation Deutschlands. Ganz anders verhalten sich die Italiener, deren Enthusiasmus für die Opern Rossinis – wie gezeigt wurde – ans Revolutionäre grenzt. Die Abhängigkeit des deutschen Künstlers vom Philister illustriert die fantasierte symbolische Szenerie am Anfang des Textes. Beim gemeinsamen Essen an der »Table d’Hôte« (DHA 7/1, 15) eines Gasthauses in Kassel, so imaginiert sich der Erzähler, ist möglicherweise ein Philister für die Verteilung des Essens zuständig, der dann über das materielle Wohl des Erzählers entscheiden kann, der links von ihm sitzt. Wegen einer »alte[n] Pique« (DHA 7/1, 15) auf den Erzähler reicht er die Teller immer rechts herum, so daß am Ende statt Karpfen nur Lorbeeren übrigbleiben. Die rhetorische Frage, »– ach, was helfen einem alle Lorbeeren, wenn keine Karpfen dabey sind!« (DHA 7/1, 15), die auf das prinzipielle Verhältnis zwischen Kunst und Leben abzielt, ist fundamental für den gesamten Text. Während das alltägliche Leben der Italiener, wie der Text vorführt, von Kunst und Politik durchdrungen ist, lassen sich in Deutschland Kunst, Leben und Politik nicht vereinbaren. Günter Oesterle, der den Kunstcharakter des italienischen Alltagslebens beobachtet, interpretiert ihn vor dem Hintergrund der unfreien politischen Lage als negatives Zeichen der innerlichen Krankheit des italienischen Volkes, die sich in seinem ästhetisierten und vergeistigten Leben ausdrücke.287 Die Eröffnungskapitel des Textes machen eindringlich klar, daß gerade diese

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Vgl. dazu Ulla Hofstaetter, »›Das verschimmelte Philisterland‹. Philisterkritik bei Brentano, Eichendorff und Heine«. In: Burghard Dedner/Ulla Hofstaetter (Hrsg.), Romantik im Vormärz. Marburg 1992, S. 107–127. Vgl. Oesterle, »Heines Reise von München nach Genua«, S. 268.

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Verbindung von Kunst und Leben in Deutschland fehlt und das Reisebild als implizites Wunschbild von Anfang an begleitet. Wenn von der Krankheit der Italiener im Text die Rede ist, dann kontrastiert sie vor allem mit der ›barbarischen‹ Gesundheit der Engländer, die der Erzähler im XXVII. Kapitel kommentiert: »Und gar die blassen italienischen Gesichter, in den Augen das leidende Weiß, die Lippen krankhaft zärtlich, wie heimlich vornehm sind sie gegen die steif brittischen Gesichter, mit ihrer pöbelhaft rothen Gesundheit!« (DHA 7/1, 65) Mit der provokanten Feststellung, daß »nur der kranke Mensch […] ein Mensch« sei, da »seine Glieder […] eine Leidensgeschichte« haben und »durchgeistet« seien (DHA 7/1, 65), wird ein romantisches Stereotyp aufgegriffen, auf das in der Forschung schon verschiedentlich hingewiesen wurde.288 Ihre Funktion in der Reise von München nach Genua wird allerdings erst klar, wenn die Bedeutung des romantisch-anthropologischen Diskurses über Krankheit genauer berücksichtigt wird. Novalis, der in seinen medizinischen Fragmenten einen der wichtigsten theoretischen Beiträge der deutschen Romantik zum Verständnis von Krankheit leistete, sieht in ihr einen Zustand des Mangels, der Disharmonie und Trennung.289 Insofern ist sie in geschichtsphilosophischer Hinsicht für das gegenwärtige Zeitalter, das Novalis als asthenisches deutet, ebenso charakteristisch wie in anthropologischer für das dissoziierte Subjekt der Moderne.290 In seinen späten Aufzeichnungen begreift Novalis Krankheit als einen menschlichen Vorzug, da für ihn die der Seele zugeordnete Sensibilität die Voraussetzung für den Eintritt der Krankheit in die Natur darstellt.291 Krankheit wird als Erinnerung an eine höhere Bestimmung des Menschen gedeutet, wobei die asthenische Reizbarkeit auf das Streben nach einem anderen Zustand hinweist, in dem Mangel und Dissoziation aufgehoben sind. In der zitierten Stelle aus Heines Reisebild wird der romantische Krankheitsdiskurs, wie er sich in den Schriften von Novalis findet, intertextuell aufgenommen, aber ins Politisch-Materielle gewendet: »Der leidende Gesichtsausdruck wird bey den Italienern am sichtbarsten, wenn man mit ihnen vom Unglück ihres Vaterlandes spricht, und dazu giebts in Mayland genug Gelegen288 289

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Siehe etwa Altenhofer, »Heines italienische Reisebilder«, S. 242. Zur Bedeutung der Krankheit bei Novalis vgl. auch Heinrich Schipperges, »Zur ›Poetik des Übels‹ bei Friedrich von Hardenberg«. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann. Tübingen 1981, S. 335–347. Die Begriffe ›asthenisch‹ und ›sthenisch‹ gehen auf die Lehren des schottischen Arztes John Brown (1735–1788) zurück, der die moderne Physiologie begründete, indem er die Humoralpathologie durch die Neuropathologie ablöste. In Novalis’ Fragmenten heißt es dazu: »Brown ist der Arzt unsrer Zeit. Die herrschende Konstitution ist die Zärtliche – die Asthenische.« (Novalis, »Teplitzer Fragmente«, NS II, S. 604) Heine scheint diesen Diskurs über das asthenische Zeitalter bewußt aufzugreifen, wenn er für seine Beschreibung der Italiener die Formulierung »krankhaft zärtlich« (DHA 7/1, S. 65) verwendet. Vgl. dazu Rita Wöbkemeier, Erzählte Krankheit. Medizinische und literarische Phantasien um 1800. Stuttgart 1990, S. 77–89.

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heit.« (DHA 7/1, 65) Ihre (asthenische) Reizbarkeit, die sich in einer »Bewegung der Achsel« (DHA 7/1, 65) ausdrückt, verweist auf den gegenwärtigen Zustand des ›Mangels‹, auf ihre politische Unfreiheit, die die »schmerzlichste Wunde in der Brust der Italiener« (DHA 7/1, 65) ist. Die Krankheit ist in der Reise von München nach Genua, so läßt sich nun festhalten, also gerade nicht, wie Oesterle konstatiert, Ausdruck des vergeistigten Lebens der Italiener. Vielmehr erscheint das Leiden des italienischen Volkes als Körperzeichen – als Körpergedächtnis –, das an den ›unvollkommenen‹ Zustand der politischen Unfreiheit des italienischen Volkes erinnert. In diesem Sinne erweist sich der Zustand der Krankheit, der auf der Erinnerung an einen anderen Zustand basiert, nicht nur als Kontrastmerkmal zur ›barbarischen‹ Gesundheit der Engländer, sondern auch zur ›gesunden‹ Politik- und Geschichtsvergessenheit des deutschen Philisters. Der zweite Aspekt, der am Anfang der Reise von München nach Genua thematisiert wird und einen Differenzpunkt zu den Italienern bildet, ist der deutsche Nationalismus. Dem unpolitischen Philister werden im III. Kapitel die politischen Umtriebe der Demagogen an die Seite gestellt. Anhand der Karikatur des Turnlehrers und Philologen Hans Ferdinand Maßmann werden die deutschen nationalistischen Bestrebungen scharf kritisiert: Auch wenn es »noch keinen eigentlichen Demos«, also kein Volk gebe, so könne München doch mit einem »Prachtexemplare dieser Gattung, mit einem Demagogen von Handwerk aufwarten« (DHA 7/1, 21). Der Begriff des ›Demagogen‹ stellt den historischen Kontext zu den nationalen Bestrebungen der Burschenschaften nach dem Wiener Kongreß her, die seit 1819 von Preußen in den Demagogenverfolgungen bekämpft wurden und seitdem keine politische Signifikanz mehr besaßen. Die Kritik des III. Kapitels am deutschen Nationalismus konzentriert sich auf zwei unterschiedliche Aspekte. Zum einen erweist sich die Begeisterung für das Nationale als Neigung zum Altdeutschen, die sich seit 1819 vornehmlich auf Turnen und germanische Philologie beschränkt, da nach den Demagogenverfolgungen von dem Wunsch nach nationaler Einheit und Freiheit nur altdeutsche Ideologie übriggeblieben ist. Das Verhalten des exemplarischen ›Demagogen‹ Maßmann sei dressiert – »[e]r springt wirklich sehr gut übern Stock« (DHA 7/1, 22) – und bedeute insofern keinerlei Gefahr für den Staat: »Dazu repräsentirt er die Vaterlandsliebe, ohne im mindesten gefährlich zu seyn.« (DHA 7/1, 22) Zum anderen ist die Ideologie, die mit der Begeisterung für das Altdeutsche einhergeht, in ihren Wurzeln antiintellektuell, antifranzösisch und antisemitisch: Maßmann »preist noch immer Arminius den Cherusker und Frau Thusnelda, als sey er ihr blonder Enkel; er bewahrt noch immer seinen germanisch patriotischen Haß gegen welsches Babelthum […] und gegen alle Menschen die eine anständige Nase haben« (DHA 7/1, 22). Der von Heine anvisierte Nationalismus, wie er etwa auch in seinem Essay Die romantische Schule bekräftigt wird, zielt dagegen auf die Freiheit 393

und Selbstbestimmung des Volkes und ist in seiner ideologischen Ausrichtung nicht fremdenfeindlich und vergangenheitsorientiert, sondern kosmopolitisch und zukunftsgerichtet.292 Im Reisebild verdeutlicht das der indirekte Vergleich mit den Italienern, deren Nationalismus sich im leidenschaftlichen Enthusiasmus für Freiheit äußert. Unter der Oberfläche des Humors und des harmlosen Spiels verbergen die Italiener vor den österreichischen Besetzern ihre gefährlichen, revolutionären Gesinnungen, »ihre tödtlichsten Befreyungsgedanken« (DHA 7/1, 49). In Trient vergleicht der Erzähler die nationalen Bestrebungen der Menschen mit den deutschen und kommt zu dem Schluß, daß »die italienischen Demagogen pfiffiger sind als die armen Deutschen, die, Aehnliches beabsichtigend, sich als schwarze Narren mit schwarzen Narrenkappen vermummt hatten« (DHA 7/1, 49). Weil sie dabei »so auffallend trübselig aussahen und bey ihren gründlichen Narrensprüngen, die sie Turnen nannten, sich so gefährlich anstellten und so ernsthafte Gesichter schnitten« (DHA 7/1, 49f.), wurden die deutschen Regierungen letzten Endes auf sie aufmerksam, was zu den strengen Verfolgungen und Gesetzen von 1819 führte. Im Gegensatz zum Nationalismus der Italiener ist die Vaterlandsliebe der deutschen »Narren« eine ernste Angelegenheit, die Humor, Kunst und Begeisterung ausschließt, und deswegen letztlich, so legt der Vergleich nahe, ungefährlich und erfolglos bleibt. Der dritte Aspekt schließlich, der in den Eröffnungskapiteln der Reise von München nach Genua aufgerufen wird, betrifft Fragen nach einer Kunst der Gegenwart und der Interpretation des Geschichtsverlaufs, die anhand des intermedialen Beispiels der Architektur in Berlin und München sowie der kulturellen Identität ihrer Bewohner dargestellt werden.293 Anhand des Stadtbilds von Berlin zeigt der Text die Problematik der Modernisierung in Deutschland. Als Zentrum der Aufklärung sei aus der Stadt jegliche Poesie verschwunden – sie wird vom Erzähler dementsprechend als nüchtern und prosaisch empfunden, mit uniformen Häusern und Straßen, die »nach der Schnur und meistens nach dem Eigenwillen eines Einzelnen gebaut« (DHA 7/1, 17) sind. Die Ein292

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In Die romantische Schule unterscheidet Heine zwischen zwei Formen des Patriotismus, dem französischen und dem deutschen: »Der Patriotismus des Franzosen besteht darin, daß sein Herz erwärmt wird, durch diese Wärme sich ausdehnt, sich erweitert, daß es nicht mehr bloß die nächsten Angehörigen, sondern ganz Frankreich, das ganze Land der Civilisazion, mit seiner Liebe umfaßt; der Patriotismus des Deutschen hingegen besteht darin, daß sein Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht, wie Leder in der Kälte, daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Teutscher seyn will.« (DHA 8/1, S. 141) Vgl. zur Architektur des Reisebilds auch Wolfram Groddeck, »Heinrich Heines Reise von München nach Genua als Paradigma einer ›modernen‹, nachromantischen Poetologie«. In: Gerhart von Graevenitz (Hrsg.), Konzepte der Moderne. Stuttgart, Weimar 1999, S. 350–365, hier S. 353. Groddeck hebt die architektonische Metaphorik in der Reise von München nach Genua hervor und sieht einen poetologischen Zusammenhang zur Komposition des Textes im Proportionsprinzip des Goldenen Schnitts.

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wohner sind aufgeklärt, ironisch und geistreich, besitzen aber keine kulturelle Identität – »Berlin ist gar keine Stadt, sondern Berlin giebt bloß den Ort dazu her, wo sich eine Menge Menschen, und zwar darunter viele Menschen von Geist, versammeln, denen der Ort ganz gleichgültig ist« (DHA 7/1, 17). Das Fehlen der Gemeinschaft zeigt sich nicht nur im fehlenden Lokalpatriotismus, sondern auch daran, daß sich die Menschen wie die »langen Häuserreihen […] von einander fern zu halten streben, erstarrend im gegenseitigen Groll« (DHA 7/1, 17). Dissoziation und Vereinzelung, die der Erzähler in Architektur und Gesellschaft beobachtet, sind die Folgen von Aufklärung und Modernisierung, die organische Zusammenhänge auflösten und an die Stelle des Volks das emanzipierte Individuum setzten. Die Zuwendung zum Neuen in »der gesunden Vernunftstadt« Berlin wird nur an einigen Stellen von »so manch kranke[m] Obskurantengesicht« (DHA 7/1, 18) durchbrochen, wie etwa von Karl Friedrich Schinkels Friedrich-Werderscher Kirche (1825–28), deren neugotischer Stil ein Beispiel für architektonischen Historismus darstellt. Sie sei aber, so der Erzähler, nur aus Ironie gebaut worden, um zu zeigen, wie »albern es erscheinen würde, wenn man alte, längst untergegangene Instituzionen des Mittelalters wieder neu aufrichten wollte, unter den neuen Bildungen einer neuen Zeit« (DHA 7/1, 18). Die Kritik, die hier formuliert wird, richtet sich nicht nur gegen die künstlerisch unzeitgemäße Reinstallation gotischer Dome in der Gegenwart, sondern auch gegen die politisch restaurative Situation. Denn Mittelalter und gotischer Baustil, die während der antinapoleonischen Befreiungskriege als spezifisch deutsche Kunst entdeckt wurden, dienten der Restauration als ideologisches Fundament. Münchens Stadtbild wird als Kontrast zu Berlin entworfen. Die Stadt im Süden Deutschlands, bemerkt der Erzähler begeistert, sei im Gegensatz zu Berlin vom Volk selbst gebaut worden, »von auf einander folgenden Generazionen, deren Geist noch immer in ihren Bauwerken sichtbar« sei (DHA 7/1, 18). In der chronologischen Abfolge der historischen Baustile, »von dem dunkelrohen Geiste des Mittelalters […] bis auf den gebildet lichten Geist unserer eignen Zeit« (DHA 7/1, 18), liege das Versöhnende für den Betrachter, das Fortschreiten der Geschichte wird an den Gebäuden sichtbar: »[D]as Barbarische empört uns nicht mehr und das Abgeschmackte verletzt uns nicht mehr, wenn wir es als Anfänge und nothwendige Uebergänge betrachten.« (DHA 7/1, 18) Die Vergangenheit erscheint als notwendige Stufenleiter zum »lichten Geist« der Gegenwart, der den Zeitgenossen »einen Spiegel entgegenhält, worin jeder sich selbst mit Vergnügen anschaut« (DHA 7/1, 18). Die »Prachtgebäude der Abgeschmacktheit« (DHA 7/1, 18), plumpe deutsche Nachahmungen des französischen Stilgefühls, tragen dazu bei, »uns die Gegenwart und ihren lichten Werth recht lebhaft fühlen zu lassen« (DHA 7/1, 19). Dieser zeige sich besonders in der Architektur »des großen Meisters« Leo von Klenze, in seinen »heiteren Kunsttempeln und edlen Pallästen, die 395

in kühner Fülle hervorblühen« (DHA 7/1, 19). Scheint diese Beschreibung der Münchner Architektur an der Oberfläche ein uneingeschränktes Lob zu vermitteln im Hinblick auf den Bezug der Stadt zur Vergangenheit und auf eine zeitgemäße Kunst der Gegenwart, so zeigen sich jedoch auch Brüche im Text, die als Ironiesignale gelten können. Den Wert der Gegenwart gegenüber den Nachahmungen der »französischen Unnatur« (DHA 7/1, 18) in der Vergangenheit sieht der Erzähler ausgerechnet in den antikisierenden Bauten der Architektur Leo von Klenzes. Der Parallelismus der Darstellung – Berlins Beschreibung endet mit dem gotischen Historismus der Friedrich-Werderschen Kirche von Schinkel, Münchens mit dem antikisierenden Klassizimus Leo von Klenzes – wirft einen ironischen Schatten auf die Würdigung der Architektur Klenzes. Das folgende Kapitel widmet sich unmittelbar daran anschließend dem Phänomen der Ironie, für das die Münchner offenbar keinen Sinn haben – die Bedienung des Biergartens hält sie, wie schon bemerkt wurde, zum Bedauern des Erzählers für eine Biersorte. Auch wenn die Kunstbauten Münchens dem Kirchenbau Berlins vorzuziehen sind, macht der Text deutlich, daß es beiden Städten an einer Kunst der eigenen Zeit mangelt. Auch politisch gesehen ist die aufgeklärte Gegenwart alles andere als eine versöhnende Überwindung der barbarischen Vergangenheit, denn sie ist selbst defizitär – zum einen wegen der negativen Aufklärungsfolgen, zum anderen wegen der restaurativen politischen Zustände in Deutschland – und kann insofern nicht als teleologischer Zielpunkt der Geschichte betrachtet werden. 294 In einer subtilen Ironisierung des linearen Geschichtsbilds hält der Erzähler der Eitelkeit der Zeitgenossen, die sich im »lichten Geist« der Gegenwart mit Vergnügen bespiegeln, in der Person des Münchner Turnlehrers Hans Ferdinand Maßmann einen karikaturesken »Spiegel« vor. Statt kontinuierlichem Fortschritt vermittelt das körperliche Aussehen des exemplarischen Demagogen Züge anthropologischer Regression: So sei der Kopf, bemerkt der Erzähler, kaum menschlich und gleiche vielmehr dem eines Affen, seine Bekleidung erfülle kaum den Anspruch der »neueuropäischen Civilisazion« (DHA 7/1, 21). Sein »altdeutscher Rock« (DHA 7/1, 21) erinnere »an den, welchen Arminius im teutoburger Walde getragen«, und habe sich »eben so geheimnißvoll tradizionell erhalten […], wie einst die gothische Baukunst unter einer mystischen Maurergilde« (DHA 7/1, 22). Der Hinweis auf Gotik und Arminius, der die Römer besiegte, weisen auf die nationalistische Konstruktion eines Ursprungsmythos des GermanischDeutschen als Gegenbild zur antiken Zivilisation. Anhand von Maßmann, dessen »Gestalt […] eine katzenjämmerliche Parodie des Apoll von Belvedere« (DHA 7/1, 22) ist, parodiert der Erzähler – der vorgibt, München gegen Berlin zu verteidigen – die Behauptung, daß »die ganze Stadt ein neues Athen« (DHA 294

Das stimmt auch mit Heines biographischen Erfahrungen in München überein, die von Angriffen aus den reaktionären Kreisen des Adels und Klerus geprägt waren.

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7/1, 19) sei. München, so verdeutlicht der Text, mangelt es nicht nur an einer zeitgemäßen Kunst, sondern es ist auch kein »neues Athen«, weil es keinen »Demos« (DHA 7/1, 21), kein Volk besitzt, das die Einheit von Kunst, Politik und Leben verwirklicht, die das antike Athen repräsentiert. Beide Städte, Berlin und München, sind charakteristisch für die defizitäre Situation der Kunst und Politik in Deutschland und stehen in Kontrast zu den darauffolgenden Beobachtungen des Erzählers über die Physiognomie der italienischen Kulturlandschaft, ihre Menschen und ihre Architektur. Wie sich Italiens Architektur und die kulturelle Identität seiner Menschen von Deutschland unterscheiden, soll nun gezeigt werden im Hinblick auf eine Kunst der Gegenwart und auf ein Geschichtsbild, das die dichotomische Opposition von linearen und zyklischen Modellen aufbricht. 5.3.5. Italiens Kunst der Gegenwart und seine Kultur der geschichtlichen Erinnerung An drei zentralen Punkten kann gezeigt werden, wie sich die italienische Architektur und die kulturelle Identität seiner Menschen als positive Kontrastfolie zu Deutschland darstellt: (1) die allgegenwärtige Präsenz des Sinnlich-Poetischen, (2) die lebendige kulturelle Tradition und (3) die Präsenz der Geschichte. So zeigt sich der erste Aspekt vor allem in den Schilderungen der Menschen und Situationen des südlichen Landes. Dabei greift das Reisebild auf Topoi und Stereotype über den italienischen Nationalcharakter zurück, wie sie auch in zeitgenössischen Italienreisebeschreibungen zu finden sind. Heines Text setzt die überzeichnenden Klischees nicht nur in satirisch-komischer Absicht ein, sondern auch, um zu zeigen, daß in Italien anders als in Deutschland Sinnlichkeit und Poesie überall gegenwärtig sind; sie charakterisieren die Menschen ebenso wie die Architektur. Im Gegensatz zu Berlin, wo »es schwer [ist], Geister zu sehen« (DHA 7/1, 17), sprechen die Steine und Mauern an allen Orten und erzählen wie in Verona dem Reisenden ihre »furchtbar blutige Geschichte« (DHA 7/1, 55). Von den zahlreichen Beispielen für die Sinnlichkeit Italiens sollen hier nur zwei genannt werden. Der ursprünglichen Sinnlichkeit der Italiener begegnet der Erzähler bereits in Trient in Gestalt der korpulenten Obstfrau und ihren exotischen Früchten des Südens. Dem verträumten Erzähler, der an einer Ecke des Marktplatzes über sie stolpert, wirft sie Feigen – seit der Antike ein Symbol der Fruchtbarkeit – an den Kopf und bietet sie ihm kurz danach zum Verzehr an.295 Impulsivität und Leidenschaft, Sinnlichkeit und Poesie der Italiener – also genau jene Eigenschaften, die den trockenen deutschen Philister konterka-

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Vgl. DHA 7/1, S. 41 u. 43. Zur Marktfrau in Trient und der erotischen Symbolik der Feige siehe die ausführliche Analyse bei Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 158f.

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rieren – begegnen dem Erzähler auf seiner Reise durch das Land immer wieder. Sie kennzeichnen auch die italienische Familie des idyllischen Wirtshauses im pittoresken Ort Ala. Die Beschreibung ihrer physiognomischen Erscheinung betont die materielle, groteske Seite der Körperlichkeit: die »höckerige Nase, mit einer haarigen rothen Warze« (DHA 7/1, 52) des Vaters und die »Brüste, die sich überreichlich hervorbäumten« der Mutter, »die jedoch noch immer klein waren im Vergleich mit dem kolossalen Hintergestell« (DHA 7/1, 53). Auch der Charakter und das Verhalten der vom Erzähler beobachteten Personen rufen Aspekte des Natürlich-Leiblichen und des Prärational-Archaischen auf. Die »gemüthliche, fast idyllische Wirthschaft« wird plötzlich von dem »Donnerwetter« eines »vierschrötige[n] Kerl[s] mit einem brüllenden Mordgesicht« unterbrochen, der »Feuer und Flamme, wie ein kleiner Vesuv, der sich ärgert«, spie (DHA 7/1, 53). Die vulkanartige Explosion des Kochs, der Mutter und Tochter angreift, reproduziert nicht nur geläufige Topoi der Italienliteratur, sondern verweist zugleich auf die Lebendigkeit und Intensität des italienischen Volkes unter der scheinbar ruhigen, ›gemütlichen‹ Oberfläche. Dazu paßt auch die Beschreibung des erzürnten Mädchens, das sich gegen den Koch zur Wehr setzt – »das Mädchen stand da blaßgelb und vor Zorn erstarrend, wie ein Marmorbild, […] die schwarzen Locken wie flatternde Schlangen, in den Händen ihr blutiges Messer« (DHA 7/1, 53) – und den Erzähler dabei an den antiken Mythos der Medea erinnert. Im Bild der Tochter, das mit mythischen Figuren wie Medea und Medusa (»flatternde Schlangen«) überblendet wird, deutet sich der zweite Punkt der Differenz zwischen den beiden Ländern bereits an. Es ist die lebendige kulturelle Tradition, die Italien auszeichnet und die sich im Körper und Charakter der Menschen wie auch in der Architektur des Landes als gleichzeitige Präsenz von Vergangenheit und Gegenwart zeigt. Wie oben dargestellt wurde, fehlt in Berlin, wo alles neu und wenig ›altertümlich‹ ist, gerade die kulturelle Tradition und Identität. Im Kontrast dazu ist die sinnliche, offenherzige Obstverkäuferin, mit der der Erzähler in Trient Bekanntschaft schließt, eine »Menschenruine«, an der »die Spuren aller Civilisazionen Italiens« zu sehen sind: von der »etruskischen, römischen, gothischen, lombardischen, bis herab auf die gepudert moderne« (DHA 7/1, 43). Die verschiedenen Zeitschichten sind auch sichtbar in der Körpersignatur der Mädchen, die der Reisende in Trient beobachtet. In ihren Gang, ihre Kleidung und Körper sind »rührende Contraste« eingeschrieben, Spannungen zwischen naiv-antik und elegisch-modern, körperlich sinnlich und »ätherisch erhaben«, aber auch zwischen dem »Reichthum der Vergangenheit« und der »Armuth der Gegenwart« (DHA 7/1, 45). Auch in Verona zeigen die Gesichter »Spuren einer Civilisazion, die […] nie ganz vertilgt worden ist, und sich nur nach dem jedesmaligen Charakter der Landesherrscher modifiziert hat« (DHA 7/1, 56). Die gegenwärtige italienische Kultur basiert auf der Zivilisation der »Römerzeit«, anders als in Deutschland, wo der historisch-kulturelle 398

Bezugspunkt die »Mittelalter-Barbarey« ist: »Die Civilisazion hat bey diesen Menschen keine so auffallend neue Politur wie bey uns, wo die Eichenstämme erst gestern gehobelt worden sind, und alles noch nach Firniß riecht.« (DHA 7/1, 56) Die Zivilisation des Antiken ist wie in einem Palimpsest trotz der neueren Schichten, mit denen der Urtext überschrieben wurde, immer noch präsent und lesbar.296 Auch in der Architektur Veronas, die Teil der Kultur des italienischen Volkes ist, findet man überall Erinnerungsspuren der Vergangenheit. Der Erzähler bezeichnet die Stadt als eine »große Völkerherberge«, wo überall »die abentheuerlichen Spuren jener Tage, so wie auch die Spuren der älteren und der späteren Zeiten« (DHA 7/1, 55) zu finden sind. Alle architektonischen Bauwerke sind Denkmäler, die an die wechselhafte Vergangenheit des Ortes »erinnern« und »mahnen« (DHA 7/1, 55). Sie stellen Erinnerungsorte dar, die das kulturelle Gedächtnis der Italiener prägen. An diese Beobachtung schließt sich der dritte Aspekt der Differenz zwischen Italien und Deutschland an, der den Umgang mit der Geschichte betrifft. Italiens Architektur und seine lebendige Erinnerungskultur heben sich von der teleologischen Geschichtsauffassung ab, die der Erzähler in bezug auf die Architektur Münchens in den ersten Kapiteln des Textes äußert. Aufschlußreich ist hierfür die Besichtigung des Amphitheaters in Verona im XXIV. Kapitel, auf dessen thematische und poetologische Bedeutung schon der Beginn des Kapitels hindeutet: »Ueber das Amphitheater von Verona haben viele gesprochen; man hat dort Platz genug zu Betrachtungen, und es giebt keine Betrachtungen, die sich nicht in den Kreis dieses berühmten Bauwerks einfangen ließen.« (DHA 7/1, 57) Bei seinem Besuch dieses Ortes in der Abenddämmerung beobachtet der Erzähler die Aufführung eines commedia dell’ arte Stücks, das, wie bereits hinsichtlich der intermedialen Diskussion des Textes gezeigt wurde, einen spannungsreichen Kontrast zu den blutigen Spielen der Römer bildet. Die antike Architektur und ihre Geschichte, so wird an dieser Stelle deutlich, sind ein integrativer Bestandteil der gegenwärtigen Identität und Kultur des Landes. Komplementiert wird die Aufführung der Komödie, die kontrastiv auf die römische Vergangenheit bezogen wird, von dem anschließenden Spaziergang des Erzählers auf den oberen Rängen des Amphitheaters, wo er geschichtliche Betrachtungen anstellt. Im Zwischenbereich der Dämmerung inszeniert der Text eine zunehmende Grenzüberschreitung der Sinneswahrnehmung ins Phantastische. So hört der Erzähler, wie die Mauern des Amphitheaters »in ihrem fragmentarischen Lapidarstyl« die Geschichten der Historie erzählen, und sieht im dunkelnden Abendlicht die »stolzen römischen Geister« (DHA 7/1, 59) – die Gracchen, Cäsar, Marcus Brutus, Tiberius Nero, Agrippina –

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Diesen Kontrast beobachtet der Erzähler schon an der Obstfrau in Trient: »[R]echt interessant war mir das civilisirte Wesen dieser Frau im Contrast mit Gewerb und leidenschaftlicher Gewöhnung.« (DHA 7/1, S. 43)

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nebeneinander in der Arena umherwandeln. Durch das Nebeneinander von historischen Gestalten getrennter Zeitschichten wird die lineare Chronologie der Zeit durchbrochen. Der Dialog zwischen den Zeiten wird im Text veranschaulicht in dem vertrauten Gespräch des Erzählers mit dem römischen Imperator Cäsar, der »Arm in Arm« (DHA 7/1, 59) mit seinem Mörder Brutus vorbeiläuft. Auf die Frage: »Seyd Ihr wieder versöhnt?«, antwortet ihm Cäsar lachend: »Wir glaubten beide Recht zu haben […] – ich wußte nicht, daß es noch einen Römer gab, und hielt mich deßhalb für berechtigt, Rom in die Tasche zu stecken, und weil mein Sohn Marcus eben dieser Römer war, so glaubte er sich berechtigt, mich deßhalb umzubringen.« (DHA 7/1, 59) Das Gespräch, das den linearen Verlauf der Geschichte durchbricht, greift den Konflikt zwischen Individualgeschichte und Weltgeschichte auf, der durch die Bezeichnung von Brutus als Sohn Cäsars besonders betont wird. Die Frage, wie sich das Leben des Einzelnen zu den politischen Interessen der Weltgeschichte verhält, wird im Text mehrmals gestellt – sie liegt auch der Figur der Agrippina zugrunde, die aufgrund von Machtintrigen ihres Sohns Nero ermordet wurde. Leitmotivisch kehrt die Fragestellung wieder auf dem Schlachtfeld von Marengo, sowie nochmals in der Genueser Gemäldegalerie am Ende des Textes in Form des überwältigenden Gefühls des vanitas vanitatum. Die Präsenz verschiedener Zeitstufen im Amphitheater setzt auch die Vergangenheit zur Gegenwart in eine spannungsvolle Beziehung. Im Dialog der Zeiten wird die politische Brisanz der Vergangenheit – »ich werde mit dir stimmen für das Agrarische Gesetz!« (DHA 7/1, 59) ruft der Erzähler dem Volkstribun Tiberius Sempronius zu – für die Gegenwart aktualisiert. Die Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die im Text aufgerufen werden, relativieren zudem teleologische Geschichtsauffassungen. Von dem »Geläute einer Betglocke« (DHA 7/1, 59) und dem »Getrommel des Zapfenstreichs« (DHA 7/1, 59) wird der Erzähler schließlich wieder in die Realität der »christlich östreichischen Gegenwart« (DHA 7/1, 60) zurückgeholt, die als Zeit der Barbarenherrschaft identifiziert wird. Die Österreicher unter Metternichs Regime, so zeigt das vorhergehende Kapitel des Reisebilds, hinterlassen in Italien nur Spuren der Zerstörung, »da es ihnen an Bildhauern und Dichtern fehlt, um sich durch mildere Mittel im Andenken der Menschen zu erhalten« (DHA 7/1, 55). Ironisch kommentiert das Verständnis der restaurativen Gegenwart als Barbarei das harmonisierende Fortschrittspathos, das in der Architekturbeschreibung von München am Anfang des Reisebilds formuliert wurde: Unter Anspielung auf die Hegelsche Geschichtsphilosophie wurde dort der »Geist unserer eignen Zeit, der uns einen Spiegel entgegenhält, worin jeder sich selbst mit Vergnügen anschaut« (DHA 7/1, 18), als Höhepunkt der bisherigen geschichtlichen Entwicklung bezeichnet. Das Spiegelmotiv, das, wie oben gezeigt wurde, auch im Hinblick auf die Poetik von Goethes Italienische Reise in einem ironischen Kontext steht, verweist nicht nur auf eine falsche 400

ästhetische, sondern auch auf eine inadäquate historisch-politische Haltung, die die Gegenwart in der Moderne nur unzureichend erfassen kann.297 Wie eng im XXIV. Kapitel ästhetische mit geschichtlich-politischen Fragen verknüpft sind, kann ein Blick auf den bereits zitierten Kapitelbeginn verdeutlichen, der in Form einer poetologischen Leseanweisung auf weitere Texte der Italienliteratur hinweist, die schon über das Amphitheater in Verona berichteten. Einer der wichtigsten, im Kapitel nicht explizit markierten Intertexte ist hier, wie in der Forschung von Jost Hermand gezeigt wurde, Goethes Italienische Reise.298 Für Goethe ist das Amphitheater in Verona »das erste bedeutende Monument der alten Zeit«,299 das er, wie er in seinen Aufzeichnungen bemerkt, auf seiner Reise in den Süden sieht. Goethes Begeisterung für die Natürlichkeit und »Simplizität«300 der italienischen Kultur, die sich in ihrer Landschaft, Architektur, dem Volk und seiner antiken Vergangenheit ausspricht, ist geprägt von Johann Joachim Winckelmanns Ideal »edle[r] Einfalt, und eine[r] stille[n] Grösse«, das sich gegen die Ästhetik des Spätbarocks richtete.301 Der Enthusiasmus Goethes zielt auf die Erneuerung des Kunstsinns, die den eigentlichen Zweck seiner Italienreise darstellte.302 Davon ist auch das Verhältnis zur Geschichte betroffen, das als vorwiegend ästhetische, ›interesselose‹ Betrachtung des Vergangenen beschrieben werden kann: »Der Wind der von den Gräbern der Alten herweht, kommt mit Wohlgerüchen über einen Rosenhügel.«303 Die Metapher des Windes drückt in Goethes Beschreibung Kontinuität und Überzeitlichkeit aus, wobei seine olfaktorischen Eigenschaften (›Rosenduft‹) auf die versöhnte, bruchlose Einheit von Tod und Leben, von Vergangenheit und Gegenwart hinweisen. Heine greift die Italienische Reise intertextuell auf, wenn sein Erzähler wie Goethe – »der schönsten Aussicht genießend über Stadt und Gegend« – bei Sonnenuntergang auf der Kante des Amphitheaters spazierengeht.304 Die für den Klassizismus charakteristische Betrachtung der Antike unter ästhetischen Gesichtspunkten wird im XXIV. Kapitel von Heines Reisebild mit einem dezidiert historischen Interesse konfrontiert. So zeigt der Erzähler bei dem Gedanken an Rom, den das antike architektonische Monument Veronas bei ihm auslöst, starke Affekte und er empfindet Angst und Schrecken, die seine

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»Goethe hält ihr [der Natur, A.B.] den Spiegel vor, oder, besser gesagt, er ist selbst der Spiegel der Natur. Die Natur wollte wissen, wie sie aussieht, und sie erschuf Goethe.« (DHA 7/1, S. 61) Vgl. Hermand, Der frühe Heine, S. 142f. Goethe, Italienische Reise, MA 15, S. 42. Goethe, Italienische Reise, MA 15, S. 42. Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. In: Kunsttheoretische Schriften [Faksimileneudruck der 2. verm. Aufl., Dresden 1756], Baden-Baden 1962, S. 21. Goethe, Italienische Reise, MA 15, S. 177. Goethe, Italienische Reise, MA 15, S. 44. Goethe, Italienische Reise, MA 15, S. 47f.

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Affizierung mit der Geschichte demonstrieren. Die Vergangenheit ist für ihn kein abgeschlossener Gegenstand der ästhetischen Betrachtung, deren »Leiche ganz ohne Gefahr zu betrachten« (DHA 7/1, 58) wäre. »Die alte Roma ist ja jetzt todt, beschwichtigte ich die zagende Seele […]. Aber dann stieg wieder das Falstaffsche Bedenken in mir auf: wenn sie aber doch nicht ganz todt wäre, und sich nur verstellt hätte, und sie stände plötzlich wieder auf – es wäre entsetzlich!« (DHA 7/1, 58) Der Hinweis auf die komische Figur des Ritters und Straßenräubers Falstaff aus Shakespeares Henry IV veranschaulicht die potentielle Lebendigkeit der Geschichte – Falstaff, der sich unter den Leichen eines Schlachtfeldes nur leblos stellt, befürchtet von den anderen die gleiche Täuschung. Die groteske Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart realisiert sich im Text, wenn die »römischen Geister« (DHA 7/1, 59) unter dem Sternenhimmel in der Arena des Amphitheaters erscheinen und mit dem Erzähler zu sprechen beginnen. Es zeigt sich, daß im Gegensatz zu Goethes Wahrnehmung eines bruchlosen, überzeitlichen Ganzen von Vergangenheit und Gegenwart in Italien, Heine durch die historische Aktualisierung ein Spannungsverhältnis von Einst und Jetzt herstellt. Auch die unterschiedliche Verwendung der Tageszeit verweist auf die Differenzen zwischen den beiden Italientexten. Wie ein Eintrag Goethes in Rom verdeutlicht, zeigt das Mondlicht die Schönheit der antiken Gebäude und hilft dem Betrachter, einen ästhetischen Eindruck des Ganzen zu gewinnen. »Von der Schönheit, im vollen Mondschein Rom zu durchgehen, hat man, ohne es gesehen zu haben, keinen Begriff. Alles Einzelne wird von den großen Massen des Lichts und Schattens verschlungen, und nur die größten allgemeinsten Bilder stellen sich dem Auge dar«, hält Goethe im Februar 1787 fest; das gilt besonders für Roms riesiges Amphitheater: »Einen vorzüglich schönen Anblick gewährt das Colisee.«305 Die Stelle ruft die empfindsame Topik des Mondscheinspaziergangs in Roms auf, die nahezu zeitgleich auch in der Dokumentation von Wilhelm Heinses Italienerlebnis zu finden ist.306 In dieser Tradition steht ebenfalls Heines Reise von München nach Genua, wenn der Erzähler festhält, daß »alle Gebäude im Abendlichte ihren inwohnenden Geist am anschaulichsten offenbaren« (DHA 7/1, 59). Kontradiktorisch zu Goethes Text wird der Geist der Anschauung in Heines Reisebild allerdings ›übersetzt‹ in konkrete ›römische Geister‹, die sich wie spiriti locii in der Arena des Veroneser Amphitheaters vor den Augen des Erzählers präsentieren. Jost Hermand hat bereits darauf hingewiesen, daß es keine Dichter oder Schauspieler aus der römischen Geschichte sind, die dort auftreten, sondern

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Goethe, Italienische Reise, MA 15, S. 201. Vgl. Gunter E. Grimm, »›Ein unaufhörliches Vergnügen‹. Wilhelm Heinses dionysischer Italienzug«. In: Grimm/Breymayer/Erhart, »Ein Gefühl von freierem Leben«, S. 42–56, hier S. 45.

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ausschließlich Politiker der Weltgeschichte.307 Im Dialog der Zeiten wird zum einen Vergangenes wieder lebendig und durch den Bezug auf die Gegenwart in seiner Brisanz aktualisiert. Zum anderen wirft der Bezug der Vergangenheit auf die Gegenwart Fragen nach dem Geschichtsverlauf auf. In diesem Kontext steht neben Goethes künstlerisch-ästhetischem Modell der Italienreisebeschreibung als weiterer Intertext des XXIV. Kapitels der Reise von München nach Genua das vierte Canto von Byrons Childe Harold. Bisher in der Forschungsdiskussion zu Heines Reisebild kaum beachtet, problematisiert vor allem Byrons Text, wie gezeigt wurde, Zeit und Geschichte in einer Passage über das Amphitheater von Rom. Die nächtliche Szenerie des Kolosseums fungiert als Auslöser für die melancholischen Betrachtungen des autobiographischen Sprechers – »the moonbeams shine […] to illume/ This long-explored but still exhaustless mine/ Of contemplation« (CPW II, 167). Nicht im grellen Tageslicht, sondern im Mondschein erheben sich die Helden in der Arena des Kolosseums: »But when the rising moon begins to climb/ Its topmost arch [...]/ Then in this magic circle raise the dead:/ Heroes have trod this spot—’tis on their dust ye tread.« (CPW II, 172f.)308 Heines »Betrachtungen« – im übrigen die wörtliche deutsche Übersetzung des englischen Substantivs ›contemplation‹ – in der Dämmerung des Amphitheaters von Verona, die das Kapitel eröffnen, stehen in einem dialogischen Bezug zu der Passage in Childe Harold IV, die die Ruinen von Roms Amphitheater zum Anlaß nimmt für Reflexionen über Zeit und Vergänglichkeit sowie das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart. Obwohl sich der Erzähler von Heines Reisebild in Verona befindet, wird Rom im XXIV. Kapitel wie an keiner anderen Stelle des Textes thematisiert. In geschichtlicher Hinsicht wird Rom als Gegenstand der Betrachtung motiviert durch die Beobachtung, daß Veronas Amphitheater »wie alle öffentlichen Gebäude der Römer einen Geist ausspricht, der nichts anders ist als der Geist von Rom selbst« (DHA 7/1, 57) – ein persönlicher Bezug wiederum entsteht zwischen den beiden Städten durch die Ankündigung des Erzählers, selbst »bald umherzuwandeln auf dem Boden der alten Roma« (DHA 7/1, 58).309 Eine besondere Bedeutung hat in Childe Harold IV die Figur des gotischen

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Vgl. Hermand, Der frühe Heine, S. 143. Der Gegensatz zwischen Tag und Nacht wird auch in dem Brief Heines an Eduard Schenk aus den Bagni di Lucca aufgegriffen, der, wie oben gezeigt wurde, Childe Harold IV schon mit der Bemerkung zitiert: »Bin ich doch selbst eine Ruine, die unter Ruinen wandelt.« (HSA 20, S. 339; vgl. Kap. IV. 2.) Im darauffolgenden Satz heißt es dann: »Manchmal zwar wollen mir die alten Paläste etwas Heimliches zuflüstern, ich kann sie nicht hören vor dem dumpfen Tagesgeräusch; dann komme ich des Nachts wieder, und der Mond ist ein guter Dolmetsch, der den Lapidarstil versteht und in den Dialekt meines Herzens zu übersetzen weiß.« (HSA 20, S. 339) Wahrscheinlich hatte Heine wie die meisten zeitgenössischen Italienreisenden die Absicht nach Rom weiterzufahren. Aus einem Gespräch mit Fanny Lewald ist überliefert, daß er diesen Plan aus Geldgründen aufgab (vgl. DHA 7/2, S. 586).

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Gladiators, mit dem der Aspekt der Geschichtlichkeit aufgeworfen wird. Das individuelle Leben des Fechters, das die Römer auf grausame Weise als Spielzeug verwendeten, wird, so betont Byrons Sprecher, durch die Zeit gerächt werden, da, auf die Geschichte blickend, die Goten das römische Imperium zu Fall gebracht haben.310 Die zwei Verse: »Shall he expire/ And unavenged?— Arise! ye Goths, and glut your ire!« (CPW II, 171), bringen das Leben des Individuums mit der weiteren Geschichte in einen spannungsvollen Dialog. Der melancholische Gestus des Textes wird bei Byron an dieser Stelle für einen Moment überwunden, die Vergänglichkeit des Seins tritt hinter der Kontinuität der Zeiten zurück: »Heroes have trod this spot—’tis on their dust ye tread.« (CPW II, 173)311 Wie das Kapitel zu Childe Harold IV zeigen konnte, experimentiert das Canto mit verschiedenen Zeit- und Geschichtsmodellen, wobei es jedoch erst am Ende des Textes zu einer Heilung der Melancholie des Sprechersubjekts kommt, die, wie das Ergebnis der Textanalyse demonstrierte, auf einer narrativen Konstruktion von Identität basiert. Parallel zu Byrons Sprecher läßt der Erzähler in Heines Reisebild, der in die Vergangenheit blickt und über die Spiele der Römer räsoniert, Vergangenheit und Gegenwart in einen Dialog treten, wenn er die frühere blutige Verwendung des Amphitheaters mit dem unblutigen Spiel der gegenwärtigen commedia dell’ arte vergleicht. In der Beobachtung: »Da saß ich nun und sah Brighellas und Tartaglias Spiegelfechtereyen auf derselben Stelle, wo der Römer einst saß und seinen Gladiatoren und Thierhetzen zusah« (DHA 7/1, 58), werden nicht nur Gegenwart und Geschichte miteinander in Beziehung gesetzt. Vielmehr wird ebenso wie in dem zitierten Vers aus Childe Harold IV zugleich auch die räumlich-körperlich erfahrbare Kontinuität der Zeit hervorgehoben. Wie im vierten Canto von Byrons Versepos werden im ›magischen Kreis‹ des Amphitheaters die Gestalten aus der römischen Geschichte zum Leben erweckt. Dabei verwandelt sich besonders in Heines Reisebild die diachrone Zeit in einen synchronen Raum der Gleichzeitigkeit, in dem historische Personen unterschiedlicher Zeitstufen miteinander und mit dem Erzähler in einen Dialog treten. Das XXIV. Kapitel der Reise von München nach Genua zeigt paradigmatisch die Ablösung vom Modell der Italienreisebeschreibung, wie sie Goethes Italienische Reise darstellt. Der überzeitliche Kunstsinn, den Goethes Text zu

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Die Figur des Gladiators aus Childe Harold IV hat Heine mehrmals in seinen Texten produktiv verwendet. Michael Perraudin hat gezeigt, daß der ›sterbende Fechter‹ aus den HeimkehrGedichten im Buch der Lieder eine konkrete Anspielung auf Byrons Figur des Gladiators ist (vgl. Perraudin, »Heine, The German Byron«, S. 253). Staub als Metapher für die Materialität und Vergänglichkeit allen Lebens, wie sie noch zwanzig Stanzen zuvor verwendet wurde (»And Circumstance […]/ Whose touch turns Hope to dust,—the dust we all have trod«, CPW II, S. 166), wird hier zur Metapher für Kontinuität, die durch Erinnerung entsteht.

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begründen sucht, wird durch die Kategorien der Zeit und Geschichtlichkeit abgelöst. An seine Stelle tritt die intertextuelle Auseinandersetzung mit Byrons Versepos Childe Harold, das im vierten Canto nachdrücklich den Zusammenhang von Melancholie, Zeit und Geschichte diskutiert und dabei auf die Konzeptualisierung einer eingreifenden Kunst abzielt. Zusammenfassend sollen nochmals die Ergebnisse der Untersuchung der drei Aspekte zum deutschen Philister, seinem Nationalismus und zur Kunst der Gegenwart in den Kapiteln, die Heines Reisebild eröffnen, resümiert werden. Wie sich gezeigt hat, fokussieren sie jeweils das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit bzw. von Kunst und Politik. Es konnte gezeigt werden, daß die Figur des deutschen Philisters sowie sein Nationalismus und die Kunst der Gegenwart sich grundlegend von dem Kunstverständnis und Politikverhalten des italienischen Volkes unterscheiden. Obwohl der Erzähler in Italien Verfallsprozesse beobachtet und eine ähnlich unfreie politische Lage wie im restaurativen Deutschland vorfindet, geht die Funktion Italiens für den Text über den »Ausdruck eines Mangels«, wie Walter Erhart es formuliert hat, hinaus.312 Insofern fungiert in der Reise von München nach Genua das südliche Land ebenso als Projektionsfläche des Reisenden wie in der Tradition der antikisierend-klassizistischen oder befreiend-sensualistischen Italienreisebeschreibungen, allerdings nicht in bezug auf die antiken Altertümer des Landes oder der Naturerfahrung, sondern hinsichtlich der Idee des Volkes und einer performativen, politischen Kunst. Denn im Unterschied zu Deutschland besitzt Italien eine zeitgemäße Kunst, die Politik und Spiel verbindet. Der Anspruch der Kunst, in die politische Wirklichkeit der Gesellschaft einzugreifen, ist untrennbar mit ihrem ästhetisch-ludistischen Charakter verknüpft. Die italienische Kunst bedient sich zudem des Stilmittels der Ironie als uneigentlicher Sprechweise, die zwischen exoterischer und esoterischer Signifikation unterscheidet. Dabei werden – wie im Spiel der Harfnerin – groteske Kontraste realisiert, die sich zum einen mimetischer Repräsentation widersetzen und zum anderen an die politische Unfreiheit erinnern. Die Reflexionen des Erzählers zur Malerei in der Genueser Gemäldegalerie am Ende der Reise, die nun zuletzt noch betrachtet werden sollen, greifen nach Literatur, Musik, Oper und Architektur ein weiteres künstlerisches Medium auf. Wie zu zeigen sein wird, laufen die bisher untersuchten Aspekte des Reisebilds am Schluß des Textes zusammen: intermediale Überlegungen zur Kunst der Gegenwart, zur melancholischen Zeitlichkeit und zur Geschichtsreflexion.

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Erhart, »Weltschmerz und Emanzipation«, S. 169.

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5.3.6. In der Gemäldegalerie: Die Malerei, der Künstler und die Repräsentation Will man Heines Reise von München nach Genua als eine Pilgerreise nach Italien lesen, die dem Muster von Winckelmann, Goethe, Moritz oder Heinse folgend Erneuerung und die ›Wiedergeburt‹ des Künstlers verspricht, so ist besonders das Ende von Heines Text von Interesse, da sich dort die Frage nach Erfolg oder Scheitern des Vorhabens stellt. In den beiden Schlußkapiteln XXXIII. und XXXIV. wird die Ankunft in Genua, dem geographischen Ziel des Reisebilds, beschrieben. Nach einer kurzen Charakteristik der Physiognomie der Stadt, die in der Wahrnehmung des Reisenden Merkmale des Entzauberten besitzt, folgen Reflexionen über Kunst, Zeit und Geschichte in der Gemäldegalerie des Palazzo Durazzo, die den Schlußpunkt des Textes darstellen. Das Ende der Reise von München nach Genua wird in der Forschung unterschiedlich bewertet. Olaf Hildebrand, der eine umfassende Interpretation des Schlusses in seiner Untersuchung des Textes vorlegt, sieht in den beiden letzten Kapiteln des Reisebilds einen »Abgesang auf die Kunst«.313 Heine habe in seinem Reisebild noch nicht zu einer Neudefinition der Kunst jenseits der Alternativen Poesie und Politik gefunden – die mystisch-romantische Disposition, für die das Motiv der Maria stehe, sei mit der Forderung nach einer politisch-sinnlichen Emanzipation nicht zu vermitteln.314 Die Figur der Metempsychose des letzten Kapitels reflektiere, so Hildebrands Fazit, Heines eigenes »romantisch-katholische[s] Regressionsbedürfnis«.315 Der Text, argumentiert Hildebrand, ende zwar im Hinblick auf das Bild der Maria im »mystischen Schauer«, der Konflikt zwischen »romantischem Dichtertum und politischer Autorschaft« werde aber zugunsten des letzteren entschieden.316 Auch Klaus Pabel betont in bezug auf das am Ende des Textes nochmals aufgenommene Motiv der Maria den Aspekt der ewigen Wiederkehr der Vergangenheit, die der Forderung nach Emanzipation und Veränderung widerspräche, die Heine bereits in seinem Reisebild Ideen. Das Buch Le Grand formuliert habe. Die Erkenntnis des Erzählers in der Reise von München nach Genua, daß die Ansprüche des Individuums auf eigenes Glück unerfüllt bleiben, worauf unter anderem die unglückliche Liebesgeschichte verweise, lasse, Pabel zufolge, resignative Züge erkennen.317 Alfred Opitz dagegen hebt in seinem Kommentar zum Kapitel XXXIV. der Reise von München nach Genua den Bezug des Endes zu den letzten Kapiteln von Ideen. Das Buch Le Grand hervor und schließt aus dieser Parallele, daß die »Anbindung an eine lokale Erfahrung […] eher zufäl-

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Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 168. Vgl. Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 172. Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 173. Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 167 u. S. 172. Vgl. Pabel, Heines »Reisebilder«, S. 180f.

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lig« wirke.318 In biographischer Hinsicht mag diese Einschätzung zutreffen, besonders, da sich in der Sammlung des Palazzo Durazzo kein Gemälde Giorgiones, von dem das letzte Kapitel handelt, befand. Textlogisch ist das Ende aber – wie an der Figur des Déjà-vus in der Gemäldegalerie gezeigt werden soll – keineswegs akzidentell. Denn im Unterschied zu den vorherigen Déjà-vus findet hier eine Verschiebung statt von der romantischen Figur des ahnenden Wiedererinnerns zu einem konstituierenden Akt des postromantischen Subjekts, der vergleichbar ist mit der Setzung einer narrativen Identität am Ende von Childe Harold IV. Es läßt sich festhalten, daß die hier genannten Perspektiven der Heine-Forschung einen vorwiegend negativen oder beliebigen Zug im Schluß der Reise ausmachen. Ohne die wichtigen Ergebnisse von Hildebrand, Pabel und Opitz außer acht zu lassen, soll im folgenden das Ende der Reise von München nach Genua jedoch weniger als Ausdruck von Regression und Resignation, sondern vielmehr in Analogie zum vierten Canto von Childe Harold als Ergebnis eines therapeutischen Prozesses betrachtet werden, bei dem sich der Erzähler als Autor der Geschichte narrativ konstituiert. Der Schluß des Textes als Kulminationspunkt der Reise führt alle zentralen Aspekte nochmals zusammen: Zeitlichkeit, Geschichte, Neubestimmung der Kunst sowie Fragen der Repräsentation. Zunächst soll auf die Auseinandersetzung des Erzählers mit den beiden Künstlern Rubens und Cornelius im XXXIII. Kapitel im Kontext von Kunst, Repräsentation und dem Schaffensprozeß des Künstlers eingegangen werden. Daran schließt sich die Frage nach der erfolgreichen Heilung der Melancholie an, die im Hinblick auf das Wiedererkennen des Erzählers von Maria im Porträt einer Genuesischen Herzogin in Kapitel XXXIV. gestellt werden soll. Der topisch-melancholische Rekurs zu Beginn des letzten Kapitels auf das vanitas vanitatum, der in der Formulierung des Erzählers vom »trostlos ewige[n] Wiederholungsspiel« (DHA 7/1, 79) aufscheint, betrifft scheinbar auch die ›Kopie‹ der Maria im Porträt der Herzogin aus dem 16. Jahrhundert. Der therapeutische Erfolg des Textes ist aber nur auf den ersten Blick zweifelhaft. Wie sich die Melancholie hinsichtlich der Zeitlichkeit am Ende der Reise in einer narrativen Identitätskonstitution des Erzählers aufhebt, wird im folgenden zu zeigen sein. Im Palazzo Durazzo in Genua werden Fragen der Repräsentation und des künstlerischen Schaffensprozesses am Medium der Malerei expliziert. Neben einem Bild von Paul Veronese mit einem biblischen Sujet – Magdalena trocknet Christus die Füße –, auf das später noch zurückzukommen ist, sind es die beiden Maler Peter Paul Rubens (1577–1640) und Peter Cornelius (1783–1867), die im vorletzten Kapitel des Reisebilds im Zentrum der Kunstbetrachtungen stehen. Die Diskussion der Malerei an einer so exponierten Stelle im Text ist in intermedialer Hinsicht besonders bemerkenswert, da kunsttheoretische Ver318

DHA 7/2, S. 930.

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gleiche der Literatur mit der bildenden Kunst und ihren ›natürlichen‹ Zeichen, die bis in die Antike zurückreichen, oft zur Begründung der Forderung des nachahmenden, malenden Charakters der Literatur dienten.319 Das gilt insbesondere für die ästhetische Theorie der Aufklärung, die gemäß der auf Horaz zurückgehenden Formel ut pictura poesis verlangte, daß das in der literarischen Rede mit abstrakten Zeichen Dargestellte als Bild vor Augen gestellt werden solle, dem Prinzip der Anschaulichkeit folgend.320 Die Malerei ist um 1800 das Repräsentationsmedium, das weitgehend auf naturgetreuer Abbildung beruht und den mimetisch-illusionistischen Aspekt der Literatur anweist. Insofern bezieht sich die Vorstellung von einer ›malenden‹ literarischen Darstellung auf die Funktion der Literatur als Mimesis. Dieser Hintergrund der zeitgenössischen Literatur- und Kunsttheorie muß berücksichtigt werden, wenn die Malerei in Heines Reisebild auf die Dichtkunst bezogen wird. Wie die bisherigen Ausführungen zeigen konnten, sind in Heines Reise von München nach Genua kunst- und literaturtheoretische Reflexionen, die darauf abzielen, einen neuen, post-romantischen Kunstbegriff zu formulieren, omnipräsent. Die Frage, ob, wie Hildebrand vermutet, von einer generellen, wehmütigen Verabschiedung der Kunst am Ende der Reise gesprochen werden kann, soll im Hinblick auf die Charakterisierung der Werk- und Produktionsästhetik der Maler Rubens und Cornelius, sowie ihrer künstlerischen Originalität und Rezeption diskutiert werden.321 Die Ausführungen des Erzählers zu den Malern stellen, so die These, einen intermedialen Kommentar zu einer zeitgemäßen Ästhetik innerhalb des Textes dar, der Aufschluß über Heines Postulat einer Kunst der Gegenwart gibt. Der in der zeitgenössischen Diskussion übliche Vergleich zwischen den Künsten, der den Akt des Malens und des Schreibens parallelisiert, legt nahe, daß sich die Erkenntnisse zu einer Kunst der Gegenwart, die in Heines Reisebild am Beispiel der Malerei gewonnen werden, auf theoretische Forderungen an die Literatur übertragen lassen.

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Vgl. dazu den historischen Überblick zur Beschreibungsliteratur von Lessing bis Lukács bei Hans Christoph Buch, Ut pictura poesis. München 1972 sowie Wolfgang Kemp, Die Räume der Maler. München 1996. Vgl. etwa: »Obwohl die Einbildungen in Wörtern und in der Rede klarer sind als im Sichtbaren, versuchen wir dennoch nicht, daraus einen Vorrang des Gedichtes vor der Malerei zu behaupten, da ja die intensive Klarheit, welche der symbolischen Erkenntnis durch Wörter gegenüber der anschaulichen Erkenntnis einen Vorrang einräumt, nichts zur extensiven Klarheit beiträgt, welche doch allein poetisch ist, §17, 14.« (Alexander Gottlieb Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus [1735]. Lat./dt., Hamburg 1983, S. 35f.) sowie Jean-Baptiste Du Bos’ Abhandlung Réflexions critiques sur la poésie et la peinture. Auch Du Bos vergleicht die beiden Medien Malerei und Dichtung und folgert, daß die ›natürlichen‹ Zeichen der Malerei im Unterschied zu den ›künstlichen‹ der Dichtung eine unmittelbarere Evidenz und dadurch eine größere Wirkkraft besäßen (vgl. Abbé JeanBaptiste Du Bos, Réflexions Critiques sur la poésie et sur la peinture I-III. Genf, Paris 1982, Abschnitt 40). Vgl. Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 168.

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Im Palazzo Durazzo, den der Erzähler wie andere touristische Italienreisende wegen seiner »gute[n] Bilder« (DHA 7/1, 77) aufsucht, werden vor allem die Bilder des niederländischen Barockmalers Peter Paul Rubens und des deutschen Malers Peter Cornelius – ein Zeitgenosse Heines, der zur Gruppe der Nazarener in Rom gehörte – kontrastiv kommentiert:322 Sie werden mit der Beobachtung des Erzählers eingeführt, daß sich zwischen ihnen »fast kein größerer Gegensatz ersinnen« (DHA 7/1, 77) lasse. Die Bilder von Rubens seien von »niederländische[r] Heiterkeit und Farbenlust« geprägt und wirkten, als habe er »sie im freudigen Rheinweinrausch gemalt, während tanzende Kirmesmusik um ihn her jubelte« (DHA 7/1, 77). Die Gemälde von Cornelius dagegen »scheinen eher am Charfreytage gemalt zu seyn, während die schwermüthigen Leidenslieder der Prozession durch die Straßen zogen und im Atelier und Herzen des Malers wiederhallten« (DHA 7/1, 77). Die festgestellte Differenz bezieht sich auf die Ästhetik ihrer Werke und den Kontext ihrer Produktion und folgt dem Schema der Opposition von sinnenfrohem ›Hellenen‹ und spiritualistischem Nazarener. Wie Olaf Hildebrand zeigt, greift an dieser Stelle aber das von Heine in seinen späteren Texten vielfach verwendete antagonistische Modell von Sensualismus und Spiritualismus zu kurz.323 Denn der Erzähler beobachtet zugleich »Aehnlichkeiten« zwischen den beiden Malern, eine »geheime Verwandtschaft«, die er »mehr ahnen als anschauen könne« (DHA 7/1, 77). Eine Gemeinsamkeit zwischen Rubens und Cornelius liegt im jeweiligen künstlerischen Genie: »In der Produktivität, in der Schöpfungskühnheit, in der genialen Ursprünglichkeit, sind sich beide ähnlicher, beide sind geborne Maler, und gehören zu dem Cyklus großer Meister, die größtentheils zur Zeit des Raphael blühten […].« (DHA 7/1, 77) Der Erzähler spricht Rubens und Cornelius in gleicher Weise eine ursprüngliche Schöpfungskraft zu und die Erwähnung Raphaels macht deutlich, daß er beide Maler im Kontext der Epoche der Renaissance betrachtet. Die Originalität und Schaffenskraft des Genies macht nicht nur Rubens, sondern auch den spiritualistischen Cornelius zu einem »Schöpfer« (DHA 7/1, 77). Dieses bemerkenswert positive Urteil wird allerdings wieder relativiert mit dem Hinweis, daß die Zeit der Renaissance, die »auf Rubens noch ihren unmittelbaren Einfluß üben konnte […] von der unsrigen so abgeschieden ist, daß wir ob der Erscheinung des Peter Cornelius fast erschrecken« (DHA 7/1, 77). Der Nazarener erscheint dem Erzähler als ein Wiedergänger: »[W]ie der Geist eines jener großen Maler aus raphaelscher Zeit, der aus dem Grabe hervorsteige, um noch einige Bilder zu malen, ein todter Schöpfer, selbstbeschworen durch das mitbegrabene, inwohnende Lebenswort.« (DHA 7/1, 77f.) Die Bilder von Cornelius, wie die der anderen

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So beschreibt etwa auch Lady Morgan den Palast und die Gemäldesammlung umfangreich in ihrem Reisebericht Italy (vgl. DHA 7/2, S. 927). Vgl. Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 168.

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Nazarener, imitieren die Kunstwerke des Renaissancemalers und sehen den Betrachter an »wie mit Augen des funfzehnten Jahrhunderts« (DHA 7/1, 78). Sie sind »traumrichtig gezeichnet, gewaltsam wahr«, aber »das Blut fehlt ihnen, das pulsirende Leben, die Farbe« (DHA 7/1, 78). In dieser Beschreibung wird der oben bereits im Zusammenhang mit dem Shakespeare-Aufsatz erläuterte Aspekt von Heines Poetologie der traumrichtigen, wahren Wiedergabe der Wirklichkeit im Kunstwerk aufgerufen, der, wie in der Reise von München nach Genua betont wird, den Dichter vor dem Geschichtsschreiber auszeichnet. Allerdings fehlt der Kunst des Cornelius die Komponente des ›Lebens‹, die die Malerei von Rubens besitzt: »Ja, Cornelius ist ein Schöpfer, doch betrachten wir seine Geschöpfe, so will es uns bedünken, als könnten sie alle nicht lange leben […], als trügen sie alle die wehmüthige Ahnung des Sterbens.« (DHA 7/1, 78) Die Bilder von Rubens rufen »ein ähnliches Gefühl in unserer Seele« hervor, denn »diese scheinen ebenfalls den Todeskeim in sich zu tragen, und es ist uns, als müßten sie eben durch ihre Lebensüberfülle, durch ihre rothe Vollblütigkeit, plötzlich vom Schlage gerührt werden« (DHA 7/1, 78). Auf der Präsenz der Vergänglichkeit in den Bildern beruht die »geheime Verwandtschaft« zwischen Rubens und Cornelius, die der Erzähler als verdeckte »landsmannschaftliche Eigenheiten« wahrnimmt, und die ihn als »den dritten Landsmann […] wie leise heimische Laute ansprechen« (DHA 7/1, 77). Das tertium comparationis zwischen den beiden Künstlern und dem autobiographischen Erzähler-Ich stellt nicht nur ihre Herkunft dar – Rubens lebte bis 1588 in Köln, Cornelius stammt wie Heine aus Düsseldorf –, sondern die Melancholie als »wehmüthige Ahnung des Sterbens«, die den Erzähler, wie oben gezeigt wurde, in besonderer Weise prägt. Die enthusiastische Siegesstimmung, die der Reisende auf dem Schlachtfeld von Marengo noch verspürte, schlägt schon bei seiner Ankunft in Genua wieder in Melancholie um und er sieht überall in der Stadt nur verfallende Pracht. Genua – »alt ohne Alterthümlichkeit, eng ohne Traulichkeit, und häßlich über alle Maßen«– erscheint ihm als »das gebleichte Skelett eines ausgeworfenen Riesenthiers«, auf das »der Mond, das blasse Auge der Nacht, […] mit Wehmuth« herabblickt (DHA 7/1, 76). Bei der beschriebenen Analogie zwischen den beiden Malern darf allerdings nicht übersehen werden, daß sich die Präsenz des Todes in den Bildern von Rubens und Cornelius, zu der sich der Erzähler selbst in Verbindung setzt, kategorial voneinander unterscheidet. »Die höchste Lust in einigen Bildern des Rubens und der tiefste Trübsinn in denen des Cornelius« (DHA 7/1, 78) erzeugen beim Betrachter eine ähnliche Wirkung, die aber unterschiedliche Ursachen hat, und zwar die entgegengesetzten Pole der Überfülle und des Mangels. Während die Gemälde von Rubens durch die Figur des Umschlagens von einem Extrem ins andere die unauflösliche Einheit von Leben und Tod vermitteln, können die Figuren auf Cornelius’ Bildern nicht leben, weil ihr Schöpfer ein geisterhafter Wiedergänger ist, der ihnen kein Leben ›einhauchen‹ 410

kann – oder um es mit einem Schlagwort der zeitgenössischen Ästhetik zu formulieren: weil die Kunst des Cornelius nicht zeitgemäß ist. Die Ursache, daß das »pulsirende Leben« in den Bildern des Cornelius fehlt, ist zum einen die religiös inspirierte Ablehnung sinnlicher Formen, zum anderen aber auch sein Anachronismus, seine Unzeitgemäßheit. Während der sinnenfreudige Rubens als Begründer des goldenen Zeitalters der niederländischen Barockmalerei gilt, orientieren sich Cornelius und die Schule der Nazarener an der sakralen Kunst des germanischen Mittelalters und der frühen Renaissance, die sie wiederbeleben möchten, obwohl sich die eigene Zeit fundamental von der Vergangenheit unterscheidet. Die Gruppe der fromm-religiösen Nazarener, zu denen etwa Joseph Anton Koch, Friedrich Overbeck und Julius Schnorr von Carolsfeld zählten, hielt sich seit 1810 bewußt in Rom als dem Zentrum des frühen Christentums auf. Äußerlich erkennbar durch ihre langen Haare und Bärte, wurden sie in Berichten von Italienreisenden, aber auch in literarischen Texten beobachtet und diskutiert.324 Das zeitgenössische Interesse richtete sich denn auch auf das Kunstverständnis der Nazarener im Verhältnis zur eigenen Zeit, was etwa Wilhelm Müllers bereits erwähnter Text Rom, Römer und Römerinnen zeigt. Müllers Briefen aus Rom ist als Einleitung das Bruchstück eines Briefes vorangestellt, der für die Beschreibung des italienischen Lebens in seinem Text programmatischen Charakter besitzt. Sein Interesse an der Volkskunst und seine damit einhergehende Ausschließung von »Kunst und Altertum« aus den Briefen wurden oben schon genannt.325 Müller spricht sich gegen eine antikisierende Kunst der Gegenwart aus, aber auch gegen die Wiederbelebung der Kunst des Mittelalters wie die der »sogenannten altdeutschen Malerschule in Rom«.326 Beide Richtungen verbindet Müller zufolge, daß sie »unsrer Zeit keine eigene Kunst« geben – denn die Künstler würden vergessen, »die Zeit auch mit zurückzuschrauben«.327 Seine Kritik richtet sich nicht auf die Kunstwerke der Vergangenheit, »die ihre Zeit in sich haben«, vielmehr vermißt er 324

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Zur künstlerischen Gruppe der Nazarener vgl. Herbert Schindler, Nazarener. Romantischer Geist und christliche Kunst im 19. Jahrhundert. Regensburg 1982 und Max Hollein/Christa Steinle (Hrsg.), Religion, Macht, Kunst: Die Nazarener (Ausstellung der Schirn Kunsthalle Frankfurt vom 15.4.–24.7. 2005). Köln 2005. Alfred Opitz etwa weist auf Kephalides’ Reise durch Italien und Sicilien von 1818 hin (vgl. DHA 7/2, S. 929). Auch das zentrale dritte Kapitel von E.T.A. Hoffmanns Erzählung Prinzessin Brambilla spielt im Café Greco in Rom, wo sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders gerne die deutschen Nazarener trafen (vgl. Schindler, Nazarener, S. 24f.). Der große Magier des Textes, der Italiener Celionati, führt dort ein Gespräch mit dem deutschen Maler Franz Reinhold über die Eigentümlichkeiten des italienischen Spaßes. Die Deutschen, die »über die Fratzen des Carnevals eine scharfe Kritik ergehen lassen«, lehnen die obszönen Possen und Masken des italienischen Karnevals zugunsten von Reinheit und Gemütlichkeit ab (E.T.A. Hoffmann, Prinzessin Brambilla. In: Sämtliche Werke, Bd. 3: Nachtstücke, Klein Zaches, Prinzessin Brambilla, Werke 1816–1820. Hrsg. von Hartmut Steinecke. Frankfurt a.M. 1985, S. 812). Müller, Rom, Römer und Römerinnen, S. 9. Müller, Rom, Römer und Römerinnen, S. 11. Müller, Rom, Römer und Römerinnen, S. 11.

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in den Bildern der Nazarener »ebendiese notwendige Zeit oder finde[t] eine unschickliche; denn das Mittelalter läßt sich nun einmal nicht durch deutsche Haare und Röcke noch durch Fasten und Kasteien in uns hineinzwingen. Die Kunst kann die Zeit nicht formen, aber die Zeit beherrscht die Kunst«.328 Müller kommt in seiner Einleitung also genau an der Stelle auf die Nazarener zu sprechen, wo es um die Forderung einer zeitgemäßen Kunst geht, die nicht antikisierend oder altertümelnd ist, sondern die Gegenwart zum Gegenstand ihrer Darstellung macht. In diesem kunsttheoretischen Kontext muß auch die Passage zu Cornelius in Heines Reise von München nach Genua gesehen werden, eine These, die gestützt wird von den Überlegungen des Erzählers, woher dieser »Trübsinn bey einem Niederländer« (DHA 7/1, 78) komme. Er vermutet, es sei »vielleicht eben das schaurige Bewußtseyn, daß er einer längst verklungenen Zeit angehört und sein Leben eine mystische Nachsendung ist – denn ach! er ist nicht bloß der einzige große Maler, der jetzt lebt, sondern vielleicht auch der letzte, der auf dieser Erde malen wird« (DHA 7/1, 78). Cornelius und seiner Kunst, um es mit den Worten Müllers zu formulieren, fehlt die Zeit bzw. diejenige Zeit, die gezeigt wird, ist eine »unschickliche«, anachronistische. Für Olaf Hildebrand ist das Bewußtsein, einer vergangenen Zeit anzugehören, der Grund für die Identifikation Heines mit Cornelius – wie Cornelius als letzter Maler verabschiedet werde, so nehme auch Heine Abschied von der Kunst und seiner Rolle als Dichter zugunsten seines politischen Mandats.329 Vor allem wenn man den Aussagegehalt des zweiten Teils des oben zitierten Satzes berücksichtigt, wird aber die These eines prinzipiellen Endes der Kunst fragwürdig. Denn dort heißt es weiter zur Erläuterung über Cornelius: »[V]or ihm, bis zur Zeit der Carraccis, ist ein langes Dunkel, und hinter ihm schlagen wieder die Schatten zusammen, seine Hand ist eine lichte, einsame Geisterhand in der Nacht der Kunst, und die Bilder, die sie malt, tragen die unheimliche Trauer solcher ernsten, schroffen Abgeschiedenheit.« (DHA 7/1, 78) Daß die Beschwörung einer »Nacht der Kunst«, in der allein der Nazarener Cornelius noch malt, als ironischer Kommentar über rückwärtsgewandte Kunst und nicht als Abgesang auf die Kunst im allgemeinen zu lesen ist, kann die Stellung der Künstlerfamilie der Carraccis in der Kunstgeschichte verdeutlichen. Agostino und Annibale Carracci gründeten Ende des 16. Jahrhunderts eine Schule in Rom, die den Spätmanierismus kritisierte und danach strebte, die ideale Kunst Raffaels zu erneuern. Der noch von Goethe bewunderten 328 329

Müller, Rom, Römer und Römerinnen, S. 11. Vgl. Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 169ff. Hildebrand spricht abwechselnd von Heine oder vom Erzähler ohne zwischen beiden zu differenzieren. Die Unterscheidung zwischen Erzählstimme, implizitem Autor, Textintention und dem biographischen Autor Heine ist jedoch gerade für das Genre der Reisebilder, das mit autobiographischen Elementen spielt und gleichzeitig fi ktionalisierende Tendenzen besitzt, von großer Bedeutung.

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klassizistischen Kunstrichtung der Carraccis,330 denen von späteren Kunstkritikern lebensferner Akademismus und Eklektizismus vorgeworfen wurde, steht als entgegengesetzte Strömung innerhalb der italienischen Barockmalerei die naturalistische Kunst Caravaggios gegenüber, der mit dem Prinzip des chiaroscuro die Malerei von Rubens stark prägte.331 Wie die Nazarener charakterisiert die Carraccis dagegen eine Rückbesinnung auf die Renaissance-Kunst Raffaels, die sich dadurch auszeichnet, daß sie Ruhe, Harmonie und Vollkommenheit meisterhaft zur Darstellung bringt, aber nur bedingt Dynamik und Bewegung.332 Beide in Rom ansässige Schulen, die Carraccis um 1600 und die Nazarener um 1800, erweisen sich so als vergangenheitsorientiert und – um es auf die Begrifflichkeit des frühen 19. Jahrhunderts zu bringen – als nicht zeitgemäß. Das Stichwort der Idealität, die mit Lebensnähe kontrastiert, fällt in der Reise von München nach Genua bereits einleitend zu der Szene in der Gemäldegalerie. Der Erzähler stellt seinen Betrachtungen über Cornelius und Rubens eine aufschlußreiche Bemerkung über den Kunstgeschmack der Besucher des Palazzo Durazzo voran. Es sei heute Mode geworden, Rubens, den »niederländischen Titanen, dessen Geistesflügel so stark waren, daß er bis zur Sonne emporflog, obgleich hundert Centner holländischer Käse an seinen Beinen hingen«, aufgrund »seines Mangels an Idealität« künstlerisch nicht mehr zu schätzen, was besonders charakteristisch für die »historische Schule zu München« sei (DHA 7/1, 77). Als Beispiel für die negative Rezeption von Rubens in Italien wird ein »langhaarige[r] Cornelianer« angeführt, der mit »vornehme[r] Geringschätzung […] durch den Rubenssaal wandelt« (DHA 7/1, 77). Es lohnt sich, einen Blick zurückzuwerfen auf die einleitenden Kapitel der Reise von München nach Genua über das kulturelle und politische Leben Münchens, das hier durch den Verweis auf die dort ansässige »historische Schule« aufgerufen wird.333 Ganz ähnlich wie Cornelius am Ende des Textes wird dort Hans Ferdinand Maßmann als »wandelndes Denkmal einer untergegan-

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In Goethes Italienische Reise etwa heißt es in Rom am 17. November 1786 über die Freskomalerei des Annibale Carracci und seines Schülers Domenichino: »Ich aber kann nur mit wenig Worten das Glück dieses Tages bezeichnen. Ich habe die Freskogemälde von Dominichin in Andrea della Valle, ingleichen die Farnesische Galerie von Caraccio gesehen. Freilich zuviel für Monate, geschweige für einen Tag.« (Goethe, Italienische Reise, MA 15, S. 162) Vgl. Erich Hubala u.a., Die Kunst des 17. Jahrhunderts. In: Propyläen Kunstgeschichte. Frankfurt a.M., Berlin 1990, S. 28f. u. 115. Vgl. dazu Herbert Alexander Stützer, Die Italienische Renaissance. 5. Aufl. Köln 1993, S. 172– 203, bes. S. 193. In der Reise von München nach Genua ist mit der »historische[n] Schule zu München« die historistische Kunst der Nazarener gemeint. Peter Cornelius wurde 1819 von König Ludwig I. von Rom nach München gerufen, wodurch die Nazarener auch in Deutschland ihre Wirkung entfalteten. In München, wo Cornelius u.a. mit der Ausmalung der Glyptothek und der Ludwigskirche beauftragt wurde, gruppierte der Maler eine beträchtliche Zahl von Schülern um sich.

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genen Zeit« (DHA 7/1, 22f.) beschrieben, als »letzte[r] Mohikan«, der »allein übrig geblieben« sei (DHA 7/1, 23). Auch in der äußeren Erscheinung und in der dazugehörigen Ideologie ähnelt Maßmann den Nazarenern und ihren Schülern – beide sind langhaarig und berufen sich entsprechend ihrer deutschnationalen Gesinnung auf das germanische Mittelalter. Während die Charakterisierung von Maßmanns Person deutlich karikatureske Züge trägt, wodurch seine unzeitgemäße Politik gegeißelt wird, findet die Ironisierung der unzeitgemäßen Kunst des Cornelius in einem subtil-ironischen Ton statt. In Die Stadt Lukka wird dann mit der Bemerkung, daß die »heuschrecklichen, frommen Fratzen« deutscher Bilder wirkten, als ob sie »dem spießbürgerlichen Pinsel eines nürrenberger Stadtmalers, oder gar der lieben Einfalt eines Gemüthsbeflissenen aus der langhaarig kristlich neudeutschen Schule, ihr trauriges Daseyn verdanken« (DHA 7/1, 165), weniger zurückhaltend über die Kunst der Nazarener geurteilt. Gestützt wird die These eines textinternen Verweises zwischen Maßmann und Cornelius durch die in Heines Werk wiederholte Erwähnung beider Autoren in einem Kontext. In dem Gedicht der »Ex-Nachtwächter« aus dem Romanzero, das eine Abrechnung mit Heines Münchner Zeit darstellt, werden Maßmann und Cornelius in unmittelbarem Zusammenhang genannt (vgl. DHA 3/1, S. 95) und in Deutschland. Ein Wintermährchen wird im Caput XI. über Maßmann und Cornelius gespottet: »Me hercule! Maßmann spräche Latein,/ Der Marcus Tullius Maßmanus!// […] Zu uns’rem Cornelius sagten wir:/ Cacatum non est pictum.« (DHA 4, S. 115)334 Vor diesem Hintergrund kann nun die letzte Beobachtung des Erzählers am Ende des Kapitels analysiert werden. Dort wird zwischen Cornelius und dem Erzähler nochmals eine besondere Verbindung suggeriert. Sie wurde als vergleichbare Position der beiden als ›letzte‹ Künstler interpretiert, soll hier aber als Ablösungsprozeß gelesen werden.335 Die »letzte Malerhand« von Cornelius erregt trotz der »geheimen Schauer« beim Erzähler »das Gefühl der traulichsten Pietät« (DHA 7/1, 78). Er erinnert sich, »daß sie mir einst liebreich auf den kleinen Fingern lag, und mir einige Gesichtskonturen ziehen half, als ich, ein kleines Bübchen, auf der Akademie zu Düsseldorf zeichnen lernte« (DHA 7/1, 78). Die höchst stilisierte biographische Erinnerung des Erzählers legt eine symbolische Bedeutung der Passage nahe, wobei von besonderer Signifikanz in diesem Zusammenhang die zeichnende Hand sowie die Geste des Handauflegens sind.336 Die Kindheitserinnerung des Erzählers wurde in der

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Alberto Destros These, daß Heines geringschätziges Urteil über Cornelius und seine christlich inspirierte Kunst in der Reise von München nach Genua noch nicht zu finden ist, sondern sich erst in der späteren Pariser Zeit ausbildete, erscheint gerade angesichts der ausgeprägten religionskritischen Tendenz der italienischen Reisebilder und den kritischen Anfangskapiteln der Reise von München nach Genua nicht überzeugend (vgl. DHA 3/2, S. 768). Vgl. Hildebrand, Sinnliche Emanzipation, S. 172. Vgl. DHA 7/2, S. 930.

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zeitgenössischen Rezeption autobiographisch verstanden und nicht als fiktionale Stilisierung. Heine selbst hatte als Kind in Düsseldorf nicht bei Peter Cornelius, sondern bei dessen Bruder Lambert Zeichenunterricht. Die zeichnende oder malende Hand ist in vielen Bildern des 18. Jahrhunderts eine pikturale Signatur des Künstlers und damit ein Emblem von Autorschaft. So sind etwa die Selbstporträts von Antoine Coypel (1707), Anton-Raphael Mengs (1774) und Elisabeth Vigée-Lebrun (1790), die Heine während seiner Italienreise in den Uffizien in Florenz sehen konnte, Beispiele für Selbstermächtigungen von Künstlern, die ihre zeichnende Hand auf den eigenen Bildern inszenieren.337 In der Reise von München nach Genua leitet das Aufrufen der zeichnenden Hand eine Wende ein, die auf die Bedeutung des Erzählers als ›Künstler‹ hinweist. Bemerkenswert ist, daß die Reise von München nach Genua der einzige Text der Reisebilder ist, der mit seinem Titel, ›von – nach‹, eine Bewegung suggeriert. Der Erzähler, der im letzten Kapitel ein (fiktives) Selbstporträt von sich in der Gemäldesammlung des Palazzo Durazzo entdeckt, tritt hier durch die zeichnende Hand, die metonymisch für den schaffenden Künstler steht, zum ersten Mal in seiner Identität als schaffender Autor in Erscheinung. Zuvor war der autodiegetische Erzähler als melancholischer Liebender und suchender Reisender vorwiegend wahrnehmender und kommentierender Beobachter des deutschen und italienischen Lebens. In der Erinnerung des Erzählers an die Hand des berühmten Malers wird ein Bezug zwischen einst und jetzt hergestellt, der für den an der Zeitlichkeit leidenden melancholischen Erzähler eine Kontinuität des eigenen Lebens erzeugt. Die Hand ist der Teil des menschlichen Körpers, der am häufigsten in symbolischen Zusammenhängen verwendet wird, wobei die Geste des Handauflegens in religiösen und kulturellen Kontexten für die »Übertragung der eigenen Kraft auf den Geweihten« steht – eine Bedeutung, die in der Reise von München nach Genua durch die Formulierung »Gefühl der traulichsten Pietät« im Sinne einer emotionalen Verbundenheit semantisch unterstützt wird.338 Die Berührung der Hände besitzt insofern den Charakter einer ›Urszene‹ der fiktionalisierten Selbstermächtigung des Künstlers, bei der die Kreativität des Cornelius, der trotz sei-

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Vgl. dazu Mary Sheriff, The Exceptional Woman. Elisabeth Vigée-Lebrun and the Cultural Politics of Art. Chicago, London 1996, S. 206f. u. 229–235; zum dargestellten Akt des Malens und zur Ausstellung der Hand im Künstlerporträt vgl. Claudia Denk, Artiste, citoyen et philosophe. Der Künstler und sein Bildnis im Zeitalter der französischen Aufklärung. München 1998, bes. S. 155f. sowie die zahlreichen Abbildungen. Am 1. Oktober 1828 schreibt Heine an Fjodor Iwanowitsch Tjutschew, daß er sofort nach seiner Ankunft in Florenz die Uffi zien aufgesucht habe (vgl. HSA 20, S. 345). Vgl. Claudia Natterer, Art. ›Hand/Finger‹. In: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hrsg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart, Weimar 2008, S. 145–147. Die Hand ist sowohl Symbol der Kraft und der schöpferischen Aktivität, als auch Symbol des Bündnisses und der Vereinigung wie im Reichen der Hände (vgl. S. 146).

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ner unzeitgemäßen Kunst, wie zuvor betont wurde, ein »geborne[r] Maler« (DHA 7/1, 77) ist, auf den Erzähler übertragen wird. Für die Kritik des gegenwärtigen, erinnernden Erzählers an dem Maler ist wiederum die Bemerkung aufschlußreich, daß Cornelius dem erinnerten Ich beibringt, Gesichtskonturen zu zeichnen. Wie oben schon bemerkt wurde, sind die Menschen auf seinen Bildern zwar »traumrichtig gezeichnet«, aber das »pulsirende Leben, die Farbe« fehlt ihnen: es stimmen die Konturen, aber sie besitzen keine sinnliche Plastizität. Eine andere Bezeichnung für die Kontur ist der Umriß, der das ästhetische Programm der Nazarener beschreibt. Die Nazarener bevorzugten einen an John Flaxmans klassizistischer Umrißlinie orientierten flächig-glatten Stil, der den Anschein des Organisch-Sinnlichen weitgehend unterdrückte.339 Auch im Hinblick auf die Entwicklungsgeschichte der Künste ist die Erinnerung an die Kinderzeichnung signifikant, da in der zeitgenössischen Kunsttheorie der Umriß, die Silhouette, als erste Ausdrucksform der Kunst in der Malerei diskutiert wurde.340 Ein zeitgenössischer Antipode zu Cornelius und der konturbetonten Kunst der Nazarener, die – so läßt sich aus der Erinnerung des Erzählers an seine ersten Zeichenversuche als »kleines Bübchen« (DHA 7/1, 78) folgern – onto- und phylogenetisch ein frühes Stadium der Kunst darstellt, ist Delacroix, den Heine in seinem Text Französische Maler als Inbegriff des modernen Künstlers der Gegenwart würdigt.341 Denn Delacroix’ Kunst bringt im Unterschied zur statisch wirkenden Malerei der Nazarener Dynamik und Bewegung zur Darstellung, wie etwa durch das Spiel mit dem Licht in der Hell-Dunkelmalerei. Als Fazit der Ausführungen zur Malerei des vorletzten Kapitels der Reise von München nach Genua lassen sich in intermedialer Hinsicht zur Kunst der Gegenwart drei Punkte formulieren. Es wird erstens eine unzeitgemäße Kunstauffassung verabschiedet, für die Cornelius und die Nazarener stehen. Wenn der Erzähler Cornelius’ »lichte, einsame Geisterhand in der Nacht der Kunst« beschwört, geht es nicht um das projektierte Ende der Kunst. Vielmehr muß diese Bemerkung als ironischer Kommentar der christlich-religiösen Kunst der Nazarener verstanden werden, die durch Askese und Rückbesinnung auf das Mittelalter und die Frührenaissance eine neue Geistigkeit in der zeitgenössi-

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Vgl. Angela Resemann, »Zeichnungen des Klassizismus und der Romantik«. In: Rolf Toman (Hrsg.), Klassizismus und Romantik. Architektur, Skulptur, Malerei, Zeichnung 1750–1848. Köln 2000, S. 480–500, hier: S. 486f. Bei Hegel etwa heißt es: »Vom Anfange der Kunst überhaupt. Welches [ist] die [erste] Art und Weise der Kunst gewesen? In der Malerei soll es zuerst die Silhouette gewesen sein.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Kunst. Vorlesung von 1826. Hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert/Jeong-Im Kwon/Karsten Berr. Frankfurt a.M. 2005, S. 177) Hegel bezieht sich hier auf die Naturalis historiae libri des Plinius Secundus. Vgl. Resemann, »Zeichnungen des Klassizismus und der Romantik«, S. 487; für Heines Bildbeschreibung von Delacroix’ La liberté guidant les peuples in Französische Maler siehe DHA 12/1, S. 20–22.

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schen ›Nacht der Kunst‹ anstrebte. Ebenso ist eine ironische Anspielung auf Hegels Diktum vom Ende der Kunst denkbar, das er in seinen Berliner Vorlesungen zur Ästhetik postulierte.342 Auch in den Anfangskapiteln des Reisebilds wurde die semantische Kombination von ›licht‹ und ›Geist‹ ironisierend im Kontext von geschichtsphilosophischen Modellen gewählt, die auf Hegel verweisen.343 Zweitens zeigt der Text an den Ausführungen zu Cornelius, daß sich eine Erneuerung der Kunst, worauf die Carraccis ebenso wie die Nazarener zielten, nicht durch eine an der Vergangenheit orientierten Nachahmung der ›großen Meister‹ vollzieht. In intermedialer Hinsicht bedeutet diese Erkenntnis für die Literatur der Gegenwart eine Absage an den ›alten Meister‹ Goethe sowie die epigonalen Goethenachahmer. Diese Abwendung wurde bereits mit den Kapiteln XXVI. und XXVII. eingeleitet, in denen Goethes mimetisches Kunstprinzip zur Diskussion stand. Drittens schließlich wird mit dem Verweis auf die »vielleicht letzte Malerhand«344 des Cornelius das mimetische Repräsentationsprinzip der Malerei visionär verabschiedet, da es nicht mehr im Sinne des ut pictura poesis vorbildhaft für eine grenzüberschreitende Literatur sein kann, die nicht nur abbilden, sondern als performative Kunst schaffend ins Leben eingreifen will. Roland Barthes schreibt in seinem Aufsatz La mort de l’auteur, daß in dem Augenblick, wenn der »moderne Schreiber« in Erscheinung tritt, »Schreiben nicht mehr länger eine Tätigkeit des Registrierens, des Konstatierens, des Repräsentierens, des ›Malens‹ (wie die Klassiker sagten)« ist, sondern zum »Performativ« wird.345 Wenngleich Differenzen zu Barthes’ polemischen Bemerkungen bestehen, die sich nicht vollständig auf Heines Text übertragen lassen, so ist doch das performative Literaturverständnis, das zudem das Verschwinden des Autors als Genius konstatiert, der Textbewegung der letzten Kapitel der Reise von München nach Genua vergleichbar. Auf den performativen und imaginativschaffenden Aspekt der Kunst, der im letzten Kapitel im Vordergrund steht, soll nun anhand des Déjà-vus des Erzählers eingegangen werden.

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Als sich Heine im Frühjahr 1821 in Berlin immatrikulierte und Vorlesungen u.a. bei Hegel belegte, hatte die These vom Ende der Kunst aus der Ästhetikvorlesung des Wintersemesters 1820/21 für Diskussionen in den intellektuellen Zirkeln Berlins gesorgt. Vgl. dazu Annemarie Gethmann-Siefert, Ist die Kunst tot und zu Ende? Überlegungen zu Hegels Ästhetik. Erlangen, Jena (Jenaer Philosophische Vorträge und Studien 7), S. 4–7. Vgl. dazu Kap. IV. 5.3.4. Meine Hervorhebung, A.B. Roland Barthes, »Der Tod des Autors«. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. u. komm. von Fotis Jannidis u.a. Stuttgart 2000, S. 185–193, hier S. 189.

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5.3.7. Ein doppeltes Déjà-vu: Die Porträts des Künstlers und seiner Geliebten Nach den Kunstbetrachtungen zur Malerei greift das letzte Kapitel der Reise von München nach Genua wieder das Leitthema der Melancholie und Zeitlichkeit auf, das mit der Figur der Maria verbunden war. Insofern überrascht die erneute Aufnahme des Motivs der Maria am Ende des Textes nicht, wobei allerdings die pointierte Stellung dem letzten Déjà-vu des Erzählers von Maria ein eminentes Gewicht im Text verleiht, dessen Bedeutung hier nun erörtert werden soll. Der Schluß der Reise von München nach Genua wurde in der Forschung verschiedentlich gedeutet. In bezug auf das Motiv des Wiedererkennens des Erzählers, der sich und seine Geliebte auf den Gemälden der Galerie entdeckt, wird in der Forschung vor allem auf die Entsprechungen zu den letzten Kapiteln des Reisebilds Ideen. Das Buch Le Grand hingewiesen – auch dort erkennt der Erzähler sich und seine Geliebte auf dem Bild einer Gemäldegalerie, das den »Sultan und die Sultaninn von Delhi« (DHA 6, 221) darstellt. So hebt Alfred Opitz die Parallelen des letzten Kapitels der Reise von München nach Genua zu Ideen. Das Buch Le Grand hervor und deutet im Hinblick auf arbeitstechnische Gesichtspunkte – Heine habe die Arbeit an dem Text beenden wollen, um Die Bäder von Lukka beginnen zu können – die »Anbindung an eine lokale Erfahrung«, wie bereits bemerkt wurde, als »eher zufällig«.346 Für Klaus Pabel wiederum sind die Erinnerungen an Maria im Text »subjektive Spannungsornamente«, die am Ende der Reise unaufgelöst bleiben im Unterschied zur »autobiographischen Therapiefunktion« der Veronika in Ideen. Das Buch Le Grand.347 Während diese Positionen den eher unmotivierten Abbruch des Textes betonen, soll hier gezeigt werden, daß am Ende der Reise äußerst konsequent die drei in der Interpretation bisher dargestellten Aspekte der Identitäts-, Wirklichkeits- und Kunstkonzepte der Reise von München nach Genua nochmals aufgegriffen werden und zu einer metareflexiven Wende führen, die die Konstitution des postromantischen Künstlers begründet. Im folgenden soll auf die drei Punkte der (1) identitätstheoretischen Dimension der Melancholie, (2) der Problematisierung von Zeit- und Geschichtskonzepten und (3) der kunstästhetischen Diskussion im Kontext der Gemäldesammlung des Palazzo Durazzo eingegangen werden. Im letzten Déjà-vu-Erlebnis des Erzählers, mit dem der Text endet, wird erstens, so die These, die Heilung des Melancholi346 347

DHA 7/2, S. 930. Klaus Pabel, Heines »Reisebilder«, S. 177. Klaus Pabel kontrastiert die beiden Reisebilder und bemerkt, daß in Ideen. Das Buch Le Grand für Heine »die Rekonstruktion seiner Liebesgeschichte als therapeutische Hilfe im Prozeß der Selbstidentifi kation und des Selbstbewußtseins« fungierte, wohingegen in der Reise von München nach Genua die Déjà-vus der Maria nur als »fragmentarisierte[s] ästhetische[s] Mittel« eingesetzt werden, ohne dabei ein »konstitutives Moment der Ausbildung und Begründung eines am Fortschrittsinteresse orientierten Geschichtsbewußtseins« zu sein (Pabel, Heines »Reisebilder«, S. 180).

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kers, zweitens die Verräumlichung der Zeit und drittens die Form einer eingreifenden Kunst manifest. Das letzte Kapitel der Reise von München nach Genua beginnt mit dem Hinweis auf die »Sammlung von Portraits schöner Genueserinnen« (DHA 7/1, 78), die den Erzähler in eine wehmütige Stimmung versetzen: Melancholisch überkriecht uns der Gedanke: daß von den Originalen jener Bilder […], von jenem ganzen Frauenfrühling nichts übrig geblieben ist, als diese bunten Schatten, die ein Maler, der gleich ihnen längst vermodert ist, auf ein morsch Stückchen Leinwand gepinselt hat, das ebenfalls mit der Zeit in Staub zerfällt und verweht. (DHA 7/1, 79)

Die klassische Vorstellung der Kunst als Ort der Dauer und Zeitenthobenheit, der sich der Vergänglichkeit entzieht, wird hier ins Gegenteil verkehrt – die Porträts der schönen Frauen auf den Gemälden lösen beim Erzähler den Gedanken der Vergänglichkeit aus, die Kunstgalerie bietet keine Zuflucht vor dem überwältigenden Gefühl des vanitas vanitatum. Der alles zerstörenden Zeit können sich weder die repräsentierten Personen (schöne Genueserinnen), noch der Repräsentierende (Künstler) und seine Repräsentation (das Bild auf der Leinwand) widersetzen.348 Der Vergänglichkeit jeglichen Seins können sich nicht einmal die »egyptischen Pyramiden« entziehen, die den Anschein des Ewigen haben – auch »sie sind nur Trophäen seiner Macht« (DHA 7/1, 79). Die Entwertung des Subjekts wird noch gesteigert durch die Vorstellung, »daß wir nicht einmal als Originale dahinsterben, sondern als Copien von längstverschollenen Menschen, die geistig und körperlich uns gleich waren« (DHA 7/1, 79). Der Erhalt der Gattung siegt in diesem »trostlos ewige[n] Wiederholungsspiel« (DHA 7/1, 79) über das Leben des Individuums. Genau an diesem kritischen Punkt, der die völlige Überwältigung des ohnmächtigen Subjekts angesichts seiner Nichtigkeit in der Zeit zu einer melancholischen Klimax führt, erkennt der Erzähler Maria auf einem Porträt in der Gemäldegalerie des Palazzo Durazzo. Inwiefern das Wiedererkennen von Maria und das Selbst-Erkennen des Erzählers auf den Bildern aber keine Illustration der klagenden Beobachtung darstellt, daß die Menschen nur »Copien von längstverschollenen Menschen, die geistig und körperlich uns gleich waren« (DHA 7/1, 79), sondern eine narrative Identitätssetzung ist, soll die Analyse des letzten Déjà-vus zeigen. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit sich dieses Déjà-vu von den vorhergehenden unterscheidet.

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Auch der Sprecher des vierten Cantos von Byrons Childe Harold sucht am Ende des Textes die Kunst – in Gestalt des Apolls – als Zufluchtsort auf, um ihn letztlich als unzulänglich zurückzulassen. Der Petersdom als religiöser Ort des Ewigen bietet gleichfalls nicht die Aufhebung der Zeitlichkeit, die der melancholische Schwärmer sich ersehnt. Vgl. Kap. IV. 4.5.

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Das (Wieder-)Erkennen der Maria am Ende des Textes, das den Charakter einer Anagnorisis trägt, also eines Umschlags von Unwissenheit in (Selbst-) Erkenntnis,349 wird wie folgt beschrieben: Wunderbar erfaßten mich die mystischen Schauer dieses Gedankens, als ich im Pallast Durazzo die Portraits der schönen Genueserinnen sah, und unter diesen ein Bild, das in meiner Seele einen süßen Sturm erregte, wovon mir noch jetzt, wenn ich daran denke, die Augenwimpern zittern – Es war das Bild der todten Maria. (DHA 7/1, 79)

Die vorhergehenden Déjà-vus des Textes, bei denen der Erzähler glaubt, Maria wiederzuerkennen, tragen Spuren des Schauerromantischen und erinnern an das Wiedergängermotiv, wie es etwa aus Gottfried August Bürgers Ballade »Lenore« oder Clemens Brentanos Gedicht »Auf dem Rhein« bekannt ist, wo die unmäßige Trauer des Liebenden den Geist der Verstorbenen zurückbringt. Zwar weist das Wiedererkennen der Maria am Ende des Textes Parallelen zu den vorherigen Erinnerungstäuschungen auf, unterscheidet sich aber von ihnen in zwei zentralen Punkten: zum einen im Hinblick auf den ›Reiz‹, den das Déjà-vu beim Erzähler auslöst, und zum anderen in bezug auf seinen Status zwischen Erinnerung und Einbildung. Wenn man die verschiedenen Déjà-vus des Erzählers betrachtet, fällt, wie oben schon erwähnt wurde, mit Blick auf die Wissenschaften um 1800 auf, daß sie als magnetische Stimulationen beschrieben werden können. Wie die romantische Anthropologie annimmt, können durch sie asthenische, also reizarme Zustände nach der Physiologie von John Brown überwunden werden.350 Die kränkliche, asthenische Stimmung des melancholischen Erzählers im Münchner Montgelas-Garten war, daran sei hier erinnert, der Ausgangspunkt für die Reise nach Italien. Wie der um 1800 populäre animalische Magnetismus bzw. Mesmerismus annimmt, gibt es einen immateriellen Transfer seelischer Kräfte, der körperliche Reaktionen herbeiführt.351 In Heines Reisebild

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Daß das Strukturmoment der Anagnorisis nicht nur in dramatischen, sondern auch in erzählenden Texten zu finden ist, zeigt der Band von Philip F. Kennedy/Marilyn Lawrence (Hrsg.), Recognition: The Poetics of Narrative. Interdisciplinary Studies on Anagnorisis. New York 2009. Zur Anagnorisis im Genre des Bildungsromans, die in Zusammenhang mit der Identitätsbildung des Protagonisten steht, siehe Terence Cave, »Singing with Tigers: Recognition in Wilhelm Meister, Daniel Deronda, and Nights at the Circus«. In: Kennedy/Lawrence (Hrsg.), Recognition, S. 115–134. Inwiefern Novalis John Browns physiologische Theorie etwa auch auf den Staatskörper überträgt, diskutiert Ethel Matala de Mazza, »›Wechselreitzung‹. Organische Gemeinschaft und Poetik der Stimulation bei Novalis und Franz Anton Mesmer«. In: Gabriele Brandstetter/ Gerhard Neumann (Hrsg.), Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg 2004, S. 243–258. Zur Popularität des Magnetismus um 1800 siehe die Untersuchung von Jürgen Barkhoff, Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik. Stuttgart, Weimar 1995. Zum Mesmerismus als romantischer Wissenschaft siehe bes. S. 85–136.

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drückt der Erzähler beim ersten Déjà-vu der unbekannten Frau im Dom mit seiner »Seele […] einen unsichtbaren Abschiedskuß« (DHA 7/1, 43) auf die Hand, die im gleichen Moment zuckt. Ebenso setzen die Déjà-vus seine eigene ›Seele‹ in Erregung – er eilt überstürzt aus dem Dom, ist aufgewühlt und Maria verfolgt ihn bis in seine Träume. Beim letzten Déjà-vu in der Gemäldegalerie erhält die beim Erzähler ausgelöste Erregung eine futurische Bedeutung, da das Stimulans, der Reiz, der durch diese Erinnerungstäuschung ausgelöst wurde, bis in die Gegenwart des schreibenden Ichs anhält, das an dieser Stelle im Text plötzlich in Erscheinung tritt. Der Erzähler referiert nicht nur auf das erlebte Ereignis, sondern auch auf seine schreibende Gegenwart – »noch jetzt, wenn ich daran denke« –,352 in der ihm bei der Erinnerung an das Bild der Maria immer noch »die Augenwimpern zittern«. Im Unterschied zu den verworrenen, dunklen Erinnerungen der ersten beiden Déjà-vus, die sich im dämmerigen Licht des Doms von Trient und im mitternächtlichen Mondlicht von Verona ereignen, findet die letzte Erinnerungstäuschung im Tageslicht der Gemäldegalerie statt. Die »flehende[n] Erinnerungen« (DHA 7/1, 61) des Unterbewußten werden ins Bewußtsein geholt und in ein klares, deutliches Bild transformiert. Wie Harald Neumeyer in seiner Untersuchung zur Erfindung der Figur des Déjà-vu in den aufgeklärten Wissenschaften und in der Literatur um 1800 gezeigt hat, wird das Phänomen der Erinnerungstäuschung in den anthropologischen Wissenschaften seit dem Ende des 18. Jahrhunderts im Spannungsfeld zwischen den seelischen Vermögen der Erinnerung und der Einbildungskraft diskutiert – es wird also etwas erinnert, was tatsächlich eine Einbildung ist.353 Dabei ist entscheidend, daß die Erinnerung zu den reproduktiven Kräften gehört, während die Einbildungskraft wie auch der Traum den produktiven Vermögen zugeschrieben werden. Diese beiden unterstehen der rekombinierenden Phantasie und unterscheiden sich darin, daß der Traum unwillkürlich und die Einbildungskraft willkürlich agiert.354 Das Déjà-vu oszilliert dementsprechend zwischen der reproduktiven, re-präsentierenden Erinnerung an eine Person oder Situation und der schöpferischen Imagination, die der Wiedererkennungstäuschung tatsächlich zugrunde liegt. In Heines Reisebild verkörpern die ersten Déjà-vus reproduktive Erinnerungen, da sie den Charakter des schon Gesehenen oder schon Gehörten betonen – des Bekannten, das nur vorübergehend vergessen wurde.355 Diese

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Meine Hervorhebung, A.B. Vgl. Neumeyer, »›Zwischen Erinnerung und Ahndung‹«. S. 138. Vgl. zu dieser Diskussion die zahlreichen Belege bei Neumeyer, »›Zwischen Erinnerung und Ahndung‹«, S. 131–138. So etwa in Kapitel XXV., wo den Erzähler bei seinem nächtlichen Spaziergang durch Verona eine weibliche Stimme verfolgt: »Aber bald schienen mir Lied und Stimme so wohlbekannt, ich hatte diese seidnen, schaurigen, verblutenden Töne schon früher gehört, sie umstrickten

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verursachen anschließend die »närrischen Träume« des Erzählers, in denen die produktive Einbildungskraft unwillkürlich die Bilder der ›falschen‹ Erinnerung rekombiniert und verschiebt, so daß »Blumen statt Menschen in den Straßen spatzieren« (DHA 7/1, 51) gehen oder sich die »holde Leiche« der Maria zum »Gegenkuß« erheben kann (DHA 7/1, 61). Daran schließt sich das letzte, willkürlich-imaginative Déjà-vu an, das nicht nur im Wiedererkennen der Maria, sondern auch im Selbst-Erkennen des Erzählers im Gemälde des Herzogs von Genua gipfelt. Die Déjà-vus in der Reise von München nach Genua, so läßt sich folgern, inszenieren den Wechsel von der ›Fehlleistung‹ der reproduktiven Erinnerung, über die assoziativen Rekombinationen des Traums hin zur willkürlich schöpferischen Einbildungskraft, die ihre ›Täuschung‹ nicht anerkennt und als ›Wahngebilde‹ der Phantasie bezeichnet, sondern vielmehr auf der Wirklichkeit und Wahrheit ihrer Vorstellung besteht.356 Das Déjà-vu wird im letzten Kapitel des Reisebilds zu einem bewußt setzenden, performativen Akt: »– Es war das Bild der todten Maria« erklärt der Erzähler selbstbewußt seinen Lesern und leitet so eine Neubestimmung der Einbildungskraft und des Fiktionalen ein. Diese Bedeutung wird von dem Gespräch zwischen dem Galerieaufseher und dem Erzähler unterstrichen. Während der ›Cicerone‹ in lakonischem Ton die Fakten wiedergibt – das Bild stelle die Herzogin von Genua dar: »es ist gemalt von Giorgio Barbarelli da Castelfranco nel Trevigiano, genannt Giorgione, er war einer der größten Maler der venezianischen Schule, wurde geboren im Jahr 1477 und starb im Jahr 1511« (DHA 7/1, 79) –, schafft der Erzähler fast träumend seine Wirklichkeit und entwirft eine eigene Signifikation des Bildes: »Lassen Sie das gut seyn, Signor Custode. Das Bild ist gut getroffen, mag es immerhin ein Paar Jahrhunderte im voraus gemalt seyn, das ist kein Fehler. Zeichnung richtig, Farbengebung vorzüglich, Faltenwurf des Brustgewandes ganz vortrefflich.« (DHA 7/1, 79f.) Er bittet den Aufseher, das vermeintliche Bild der Maria von der Wand abzunehmen, da er »den Staub von den Lippen abblasen und auch die Spinne, die in der Ecke des Rahmens sitzt, fortscheuchen« möchte, denn »Maria hatte immer einen Abscheu vor Spinnen« (DHA 7/1, 80). Dieser Abschnitt nimmt die Diskussion um die Opposition zwischen der Wahrheit der (historischen) Fakten und der Schöpfungswahrheit aus zwei früheren Passagen des Textes auf. Zum einen knüpft die Szene an die Gegenüberstellung von den dichtenden Geschichte(n)-Erzählern mit den »stolztrockne[n] Historiographen« (DHA 7/1, 28) in Kapitel VII. an, die nur

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mich wie weiche flehende Erinnerungen, und – O du dummes Herz, sprach ich zu mir selber, kennst du denn nicht mehr das Lied vom kranken Mohrenkönig, das die todte Maria so oft gesungen? Und die Stimme selbst – kennst du denn nicht mehr die Stimme der todten Maria?« (DHA 7/1, S. 60f.) Vgl. auch Ute Schönpflug, Art. »Gedächtnistäuschung«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Sp. 46–52, hier Sp. 49.

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Fakten und Jahreszahlen wiedergeben. Das Motiv der Spinne wird an mehreren Stellen in Heines Texten im Zusammenhang mit verstaubter Gelehrsamkeit und totem Bibliothekswissen und für den Mangel an Leben verwendet.357 In dem Reisebild Die Nordsee III etwa, geschieht dies sogar mit dem Hinweis auf die Seelenwanderung des »schleichende[n] Dr. L.« von der Spinne zum Gelehrten, der jetzt die »Folianten der Weltgeschichte« hütet (DHA 6, 153). Wie die Spinne, so behauptet der Erzähler dort, weiß auch der Gelehrte »nichts von all den Wundern, die in dem Buche stehen« (DHA 6, 153). Das Befreien des Bildes von den Spinnweben, die fehlende Lebendigkeit signifizieren, kann demzufolge als symbolischer Akt verstanden werden, der die Aktualisierung des alten Gemäldes für die Gegenwart repräsentiert, die mittels der transformierenden Imagination des Erzählers geleistet wird. Zum anderen nimmt das Gespräch des Erzählers mit dem Custode die Kunstdiskussion aus dem vorletzten Kapitel der Reise von München nach Genua wieder auf, wenn er betont, daß im Bild der Maria die »Zeichnung richtig, Farbengebung vorzüglich, Faltenwurf des Brustgewandes ganz vortrefflich« sei – auch wenn es »ein Paar Jahrhunderte im voraus gemalt« ist. Wie oben ausgeführt wurde, heißt es über den Maler Peter Cornelius, daß seine Darstellungen »traumrichtig gezeichnet, gewaltsam wahr« (DHA 7/1, 78) seien. Dennoch sehen den Betrachter aus seinen Bildern »Augen des funfzehnten Jahrhunderts« an, da ihnen »das Blut fehlt […], das pulsirende Leben, die Farbe« (DHA 7/1, 78). In Giorgiones Gemälde erkennt der Erzähler nicht Genuas Herzogin des Quattrocentos, sondern die zur Gegenwart des Erzählers gehörende Maria. Ebenso kontrastiert das Déjà-vu-Erlebnis vor dem Bild der Herzogin mit der Beschreibung, die der Erzähler im XXXIII. Kapitel von Veroneses Gemälde, ›Gastmahl bei Simeon‹ gibt, das Maria Magdalena zeigt, wie sie Christus die Füße trocknet: »Ich stand lange vor ihr – ach, sie schaute nicht auf! Christus steht da wie ein Religionshamlet: go to a nunnery.« (DHA 7/1, 77) Im Unterschied zu Giorgiones Bild findet hier aber noch keine Interaktion zwischen Bild und Betrachter statt. Daß sich die beiden Textstellen dialogisch aufeinander beziehen, wird zum einen durch den im Text ausgesparten Vornamen Magdalenas suggeriert, der einen impliziten Bezug zur Figur der Maria herstellt. Zum anderen besteht zwischen dem Erzähler und Hamlet, mit dem Christus überblendet wird, eine Verbindung aufgrund ihres melancholischen Charakters. Die Melancholie Hamlets – der um 1800 eine beliebte Identifikationsfigur für Schwärmer darstellt358 – äußert sich in Shakespeares Tragödie 357

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Über die Engländer heißt es in Englische Fragmente: »Es schaute Alles so unheimlich mürrisch, so wahnsinnig ernst. Die Menschen sahen aus, als kröchen ihnen graue Spinnen über die blöden Gesichter.« (DHA 7/1, S. 230). So etwa in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, wo der Schwärmer Wilhelm im fünften Buch sich mit seiner Rolle als Hamlet auf der Bühne auseinandersetzt und sich nur allmählich von seiner Identifi kation mit dem tragisch-melancholischen Helden löst.

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in der Unfähigkeit des Helden zur Tat und in seiner Lebensverachtung: in diesem Kontext steht die asketische Aufforderung, daß seine einstige Geliebte Ophelia, in ein Kloster gehen solle.359 Von der Melancholie befreit sich Heines Erzähler am Ende des Textes, was sich metaphorisch im Entfernen der Spinnweben von ›Marias‹ Bild andeutet. Insofern handelt das Reisebild, das sich der Beschreibung und Beobachtung eines fremden Landes widmet, zuletzt von der Person des Erzählers selbst. Das Wiedererkennen der Maria ist, wie Slobodan Grubačić es formuliert hat, eigentlich ein »doppeltes Déjà vu«, da sich der Erzähler auch selbst in einem der Bilder Giorgiones wiedererkennt.360 Es ist bemerkenswert, daß diesem Umstand bisher in der Forschung nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Wie in Byrons Childe Harold IV findet sich hier am Ende des Textes eine identitätskonstituierende Figur des Wiedererkennens, die Identität und Differenz verbindet. Während die Klage des Erzählers über das endlose Wiederholungsspiel am Anfang des XXXIV. Kapitels noch auf den Verlust des Ursprungs hinweist (»noch schlimmer als dieses Gefühl eines ewigen Sterbens […] ergreift uns der Gedanke, daß wir nicht einmal als Originale dahinsterben, sondern als Copien von längstverschollenen Menschen«, DHA 7/1, 79), der als metaphysisches Signifikat Identität, Bedeutung und Originalität garantiert, erscheint im Wiedererkennen des Erzählers von Maria und sich in den Renaissanceporträts Identität in der Differenz – das Selbst erkennt sich im Spiegel als einen anderen: »Aber was sehe ich! von wem ist das Portrait des Mannes im schwarzen Mantel, das dort hängt?« (DHA 7/1, 80) Der Galerieaufseher antwortet ihm erneut mit den Fakten – es sei ein Bild Giorgiones –, wovon sich der Erzähler abermals nicht beirren läßt: »Ich bitte Sie, Signor, haben Sie doch die Güte, es ebenfalls von der Wand herabzunehmen und einen Augenblick hier neben dem Spiegel zu halten, damit ich vergleichen kann ob ich dem Bilde ähnlich sehe.« (DHA 7/1, 80) Das Reisebild endet mitten im Satz mit dem Hinweis, daß die »maliziös sentimentalen Lippen« (DHA 7/1, 80) des Mannes auf dem Bild von Giorgione, in dem sich der Erzähler wiedererkennt, aussähen, »als wollten sie eben eine Geschichte erzählen«:361 »Es ist die Geschichte von dem Ritter, der seine Geliebte aus dem Tode aufküssen wollte, und als das Licht erlosch – –« (DHA 7/1, 80) In narratologischer Hinsicht zeigt sich so der Verlust des Ursprungs, von Anfang und Ende, im frag359

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»Get thee to a nunnery. Why, wouldst thou be a breeder of sinners?«, heißt es bei Shakespeare. Indem Ophelia sich im Kloster dem Leben entzieht, soll sie sich ihre Keuschheit und moralische Integrität bewahren. Diese Anweisung folgt fast unmittelbar auf Hamlets zentralen Monolog »To be, or not to be« (William Shakespeare, Hamlet. Hrsg. von Harold Jenkins. Walton-on-Thames Surrey 1997 (= The Arden Shakespeare), III/i, Z. 121, S. 282). Grubačić, Heines Erzählprosa, S. 39. Der Hinweis auf den ironischen Zug des Mundes nimmt im übrigen ein Merkmal auf, das dem autobiographischen Heine zugeschrieben wurde und von den Zeitgenossen vor allem mit seiner Byron-Rezeption assoziiert wurde (vgl. DHA 7/2, S. 931f.).

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mentarischen, unabgeschlossenen Charakter der Erzählung, und zwar sowohl auf der Ebene der histoire – der Erzähler reist nicht mehr weiter nach Rom, dem historisch tradierten Ziel der Italienreisenden –, als auch des discours, indem der Text mitten im Satz abbricht. Knüpft so das abrupte, offene Ende an den medias in res Beginn des Textes an, der dadurch seinen Charakter als Anfang leugnet, realisiert Heines Reisebild dennoch nicht die zuvor aufgerufene Figur der kreisenden Wiederkehr.362 Ist der Erzähler am Anfang des Textes der Wirklichkeitssicht des Berliner Philisters, in dem sich der Genueser Cicerone spiegelt, noch ausgeliefert, setzt er am Ende seine eigene Narration den Fakten des Gemäldeaufsehers entgegen. Während ein großer Teil des Reisebilds die Unlesbarkeit und Kontingenz der Zeichen hervorhebt und so die Heteronomie des Erzählers betont, unterstreicht das Ende die autonome Handlung, die Unlesbarkeit und Kontingenz bewußt in die Fiktionalität des Geschichtenerzählens überführt. Der Satzabbruch markiert diesen Aspekt des Narrativen – die Geschichte von dem Ritter wird nicht erzählt, sondern das Geschichtenerzählen selbst wird offengelegt und zum Thema gemacht. Wie schon das Ende von Childe Harold IV, soll auch das Ende der Reise von München nach Genua abschließend mit Paul Ricœurs Konzept einer narrativen Identität gelesen werden. Dabei zeigen sich erstaunliche Parallelen zwischen den beiden Texten in der Aufhebung der Melancholie, die in Heines Text im Kontext einer Verräumlichung der Zeit steht.

6.

Narrative Identität und postromantische Autorschaft: Überschreitungen zwischen Kunst und Leben in Heines Reise von München nach Genua und in Byrons Childe Harold IV

Wie bereits in der Analyse der letzten Stanzen von Childe Harold IV auf die Unterscheidung von Paul Ricœur zwischen der idem-Identität (Selbigkeit) und der ipse-Identität (Selbstheit) eingegangen wurde, so ist auch in bezug auf die ›Heilung‹ des melancholischen Erzählers der Reise von München nach Genua der Rückgriff auf Ricœurs Konzept der narrativen Identität sinnvoll. In seiner umfangreichen Untersuchung von Zeitlichkeitsstrukturen, Temps et récit, schreibt Ricœur über die narrative Konstitution des Selbst: Vom Selbst läßt sich […] sagen, daß es durch die reflexive Anwendung der narrativen Konfiguration refiguriert wird. Im Unterschied zur abstrakten Identität des Selben kann die für die Ipseität konstitutive narrative Identität auch die Veränderung und Bewegtheit im Zusammenhang eines Lebens einbegreifen. Das Subjekt konsti-

362

Vgl. auch Thorsten Fitzon, der den abrupten Abbruch der Liebesgeschichte am Ende des Textes als Unterlaufen der historischen Wiederkehr deutet (vgl. Fitzon, »›Es gibt nichts Langweiligeres‹«, S. 116).

425

tuiert sich in diesem Falle als Leser und Schreiber zugleich seines eigenen Lebens. Wie die literarische Analyse der Autobiographie bestätigt, wird die Geschichte eines Lebens unaufhörlich refiguriert durch all die wahren und fiktiven Geschichten, die ein Subjekt über sich erzählt. Diese Refiguration macht das Leben zu einem Gewebe erzählter Geschichten.363

Der Erzähler von Heines Reisebild, der zu Anfang des Textes als melancholischer Leser von Zeichen inszeniert wird und sich nach Ariadnes Faden sehnt, der ihn aus dem »Labyrinth dieses Lebens« (DHA 7/1, 38) führen könnte, erkennt sich zuletzt als Geschichtenerzähler, der nicht nur Leser ist, sondern zugleich auch Schreiber seines eigenen Lebens.364 Die Heilung des Melancholikers hängt zugleich eng mit der Problematisierung von Zeit- und Geschichtskonzepten zusammen, die sich im letzten Kapitel des Reisebilds direkt an die identitätstheoretische Dimension der Melancholie anschließt. Denn das lineare Prinzip der Zeit wird durch narrative Zeitmuster konterkariert. Dies zeigt ein Blick auf die Zeitstruktur, die in dem Wiedererkennen der Maria in einer italienischen Herzogin des Quattrocentos realisiert wird. Das Déjà-vu des Erzählers löst in ähnlicher Weise wie der Dialog der Zeiten in Kapitel XXIV. lineare Zeitstrukturen auf. Die zeitliche Tiefe des Gegenwärtigen in der Gemäldegalerie, die sich in der transhistorischen und transkulturellen Identität der deutschen Maria und der italienischen Herzogin ausdrückt, hebt zudem den Konflikt zwischen Individual- und Menschheitsgeschichte, der im Text problematisiert wird, im epiphanischen Moment des Wiedererkennens auf. Die Zeitlichkeitsstrukturen der beiden Szenen im Amphitheater und in der Gemäldegalerie spiegeln sich in den Figuren des urbanen Palimpsests und der Erinnerungstäuschung des Déjà-vus, die sich darin gleichen, daß das zeitliche Nacheinander als ein Nebeneinander verschiedener Zeitstufen wahrgenommen wird. Das moderne, zeitlich bedingte Diskontinuitätsbewußtsein weicht dem Erlebnis der Simultaneität, der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Das melancholische Leiden an der Zeitlichkeit wird so am Ende des Textes in der Verräumlichung der Zeit aufgehoben, die zugleich als Vergegenwärtigung des Vergangenen verstanden werden kann.365

363 364

365

Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. III: Die erzählte Zeit (aus dem Französischen von Andreas Knop). München 1991, S. 396. Auch Heines Erzählung Florentinische Nächte, ein weiterer ›italienischer‹ Text, inszeniert die Problematik der Lesbarkeit von Zeichen, wie Sigrid Weigel in ihrer Untersuchung »Zum Phantasma der Lesbarkeit. Heines Florentinische Nächte als literarische Urszene eines kulturwissenschaftlichen Theorems« darlegt (in: Gerhard Neumann/Sigrid Weigel, Die Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, S. 245–257). Darauf weist Hubert Ohl in seiner Untersuchung »›Verzeitlichung des Raumes‹ und ›Verräumlichung der Zeit‹« zu Wilhelm Raabes Erzählwerk hin (in: Alexander Ritter (Hrsg.), Zeitgestaltung in der Erzählkunst. Darmstadt 1978, S. 229–246, hier S. 241).

426

Auch die kunstästhetische Diskussion wird am Ende des Reisebilds nochmals aufgegriffen. Der Anspruch, die Kunst aus ihren engen Systemgrenzen zu lösen, die sie im Zuge ihrer Autonomisierung erwarb, wurde bereits oben im Zusammenhang mit dem performativen Charakter von Genres wie der italienischen commedia dell’ arte oder der Oper ausgeführt. Wie gezeigt, thematisiert der Text die Grenze zwischen Kunst bzw. Fiktion und Wirklichkeit in mehrfacher Weise. Am Ende des Textes erkennt der Erzähler in einem Bild des italienischen Renaissancekünstlers Giorgione Maria, die Frau, die seiner persönlichen Lebensgeschichte entspringt – die Grenze zwischen Kunst und Leben wird dabei überschritten. In der Forschung wurde bereits die Frage gestellt, warum der Erzähler seine Geliebte ausgerechnet in einem Gemälde von Giorgione wiedererkennt. Klaus Pabel zufolge sind die Bilder des italienischen Malers, der die christlich-religiöse Malerei im Übergang vom Quattrocento zum Cinquecento mit der Darstellung sinnlich-nackter Körper konfrontiert, »die idealen Vorlagen für Heines Idee der Emanzipation der Sinnlichkeit«.366 Pabels These erläutert plausibel die sensualistische Bedeutung Giorgiones; dennoch bleibt unter diesem Gesichtspunkt ungeklärt, warum die Bilder des italienischen Malers die Funktion erhalten, Maria darzustellen und nicht die bereits im vorhergehenden Kapitel gewürdigte Malerei von Rubens, dessen Frauengestalten für Heine ebenso laut Alfred Opitz »das Ideal einer sensualistischen Lebensfreude« verkörperten (DHA 7/2, 928). Diese Frage stellt sich aus historischer Sicht umso mehr, als der Palazzo Durazzo, wie Michel Espagne bemerkt, wohl kein Bild von Giorgione besaß, und Heine zudem im Unterschied zu Giorgione auf Rubens in seinen Texten immer wieder zurückgreift.367 Espagne, der Giorgiones Erwähnung in Genua besondere Bedeutung zuspricht, geht über Pabels Erklärung hinaus, wenn er die »Versöhnung von Sensualismus und Spiritualismus«, die Verbindung von Geist und Materie durch die Verehrung nackter Körper und der Tendenz zur Allegorie bei dem venezianischen Renaissancemaler hervorhebt.368 Wenn auch diese Beobachtungen zweifelsohne auf Heines sensualistisches Programm zutreffen, so bleibt doch einerseits der Bezug zur letzten Szene des Reisebilds offen, da die Porträts, in denen der Erzähler sich und seine Geliebte erkennt, keine Akte zeigen. Andererseits stellt sich hinsichtlich der Kunst Giorgiones das Problem, daß diese kunstgeschichtlichen Einschätzungen schwer zu bestätigen sind, da die Zahl der ihm zugeschriebenen Bilder sehr gering ist und es über das kurze Leben und Schaffen des Malers kaum Informationen gibt.369 Eine Quelle für 366 367 368 369

Pabel, Heines »Reisebilder«, S. 283. Vgl. DHA 7/2, S. 928. Espagne weist allerdings auch auf die Möglichkeit einer fälschlichen Zuschreibung Anfang des 19. Jahrhunderts hin. Espagne, »Die tote Maria«, S. 312f. Zur neueren kunstgeschichtlichen Einschätzung von Giorgiones Werk vgl. Sylvia FerinoPagden/Giovanna Nepi Scirè (Hrsg.), Giorgione. Mythos und Enigma (Ausstellung des Kunst-

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die zeitgenössische Einschätzung des italienischen Malers stellen jedoch Giorgio Vasaris Künstlerbiographien aus dem 16. Jahrhundert dar, die einen bemerkenswerten Hinweis zu Giorgiones Kunst enthalten. Der fast noch unmittelbare Zeitgenosse Vasari berichtet über Giorgione, daß »viele treffliche Meister jener Zeit bekannten: er sei geboren, den Gestalten Geist einzuhauchen und die Frische des lebendigen Fleisches treuer nachzuahmen, nicht nur als die venezianischen Maler, sondern von überall«.370 Das Merkmal der Lebendigkeit der von Giorgione dargestellten Figuren, das Vasari in seinem einflußreichen Text Künstler der Renaissance wiederholt betont, legt neben den von Pabel und Espagne angeführten Aspekten als einen weiteren Kontext das Vermögen der Kunst Leben »einzuhauchen« nahe. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Kunst und Leben, das im Wiedererkennen der Maria in einem Bild Giorgiones thematisiert wird, ist zudem ein weiterer Aspekt denkbar, der nicht auf den historisch-biographischen Kontext zurückgeht, sondern einen intertextuellen Bezug markiert und hier von besonderem Interesse ist. Byrons komisches Versgedicht Beppo, das im gleichen Zeitraum wie das vierte Canto von Childe Harold entstand und sogar noch zwei Monate früher als Childe Harold IV, im Februar 1818, veröffentlicht wurde, beschreibt anhand der Venezianerinnen die Vermischung von italienischer Kunst und Alltagsleben, und verweist dabei auf Giorgione: They’ve pretty faces yet, those same Venetians, Black eyes, arch’d brows, and sweet expressions still, Such as of old were copied from the Grecians, In ancient arts by moderns mimick’d ill; And like so many Venuses of Titian’s (The best’s at Florence—see it, if ye will) They look when leaning over the balcony, Or stepp’d from out a picture by Giorgione, Whose tints are truth and beauty at their best; And when you to Manfrini’s palace go, That picture (howsoever fine the rest) Is loveliest to my mind of all the show; It may perhaps be also to your zest, And that’s the cause I rhyme upon it so, ’Tis but a portrait of his son, and wife, And self; but such a woman! love in life! […]

370

historischen Museums Wien und der Gallerie dell’Accademia Venedig vom 23.3.–11.7. 2004). Wien 2004. Giorgio Vasari, Künstler der Renaissance. Lebensbeschreibungen der ausgezeichneten italienischen Baumeister, Maler und Bildhauer. Mit einem Vorwort von Ernst Jaffé. Köln 2001, S. 365.

428

I said that like a picture by Giorgione Venetian women were, and so they are Particularly seen from a balcony, (For beauty’s sometimes best set off afar) [...]. (11, 12, 15; CPW IV, 132–134)

Neben dem unmittelbaren Bezug zu Heines Szene – Figuren aus einem Bild von Giorgione besitzen in der Gegenwart reale Äquivalente (»stepp’d from out a picture by Giorgione«) – ist der größere Zusammenhang mit Byrons Beppo das hier artikulierte Verhältnis zwischen Kunst und Leben, die keine getrennten Bereiche darstellen, sondern sich gegenseitig affizieren und ineinander übergehen.371 Dabei scheint es, als ob das Leben die Kunst kopieren würde – das Verhältnis von Original und Kopie, das der mimetischen Repräsentation zugrunde liegt, wird verkehrt, auf den Kopf gestellt, die Reihe der Kopien erscheint wie eine selbstreferentielle Signifikantenkette. Griechische Repräsentationen der Weiblichkeit, wahrscheinlich in Gestalt von Göttinnen, werden von den Gemälden der alten Meister kopiert und stellen somit Repräsentationen von Repräsentationen dar, denen in der Gegenwart des Sprechers die lebenden Venezianerinnen gleichen, die wiederum aussehen, als ob sie aus einem Bild von Giorgione herausgetreten seien – ob die Kunst das Leben kopiert oder das Leben in die Kunst übergeht, ist nicht mehr zu entscheiden. Insofern schließt die Problematisierung der Repräsentation auch die Reflexion auf das Verhältnis von Original und Kopie mit ein. Daß Originalität in der zitierten Passage als prinzipiell fragwürdig erscheint, wird auch in der Vervielfältigung der Venus (»like so many Venuses of Titian’s«) unterstrichen, die den Charakter des Einmaligen, Originalen konterkariert. Dennoch eignet den Farben Giorgiones die größte Wahrheit und Schönheit (»Whose tints are truth and beauty at their best«) – im Gegensatz zur Malerei der Modernen, die eine schlechte, ›sklavische‹ Imitation der klassischen Kunst ist (»by moderns mimick’d ill«). Die Grenzüberschreitungen zwischen Leben und Kunst, sowie das Verhältnis zwischen Original und Kopie sind Themen, die wie gezeigt wurde, auch Heines Reisebild bestimmen. In dem ottava rima-Gedicht Beppo, das in bezug auf eine Kunst des Performativen als konsequente Weiterführung des vierten Cantos von Childe Harold verstanden werden kann, wird der Chronotopos der 371

Byron drückt seine Bewunderung für die Bilder Giorgiones, dessen Frauenfiguren er in den gegenwärtigen Italienerinnen erkennt, auch in einem Brief an John Murray vom 14. April 1817 aus. Über seinen Besuch im Palazzo Manfrini in Venedig schreibt er: »What struck me most in the general collection was the extreme resemblance of the style of the female faces in the mass of pictures—so many centuries or generations old—to those you see & meet every day amongst the existing Italians.—The queen of Cyprus & Giorgione’s wife—particularly the latter—are Venetians as it were of yesterday—the same eyes and expression—& to my mind there is none finer.« (BLJ 5, S. 213) Der Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist hier besonders deutlich artikuliert.

429

Reise ersetzt durch den des Karnevals, dem die permanente Grenzüberschreitung als nicht nur geographische Bewegung eingeschrieben ist.372 Beppo spielt im venezianischen Karneval und handelt von moralischen und kulturellen Grenzüberschreitungen und Transgressionen, die formal in dem Versepos etwa durch den kolloquialen Stil, den auch für Don Juan charakteristischen »conversational tone«, umgesetzt werden, der sich im Zitat oben besonders deutlich in dem Verfahren der ›asides‹, also in den eingeklammerten Stellen zeigt, die ›zur Seite‹ gesprochen werden.373 Diese Bemerkungen markieren im Text eine Schwellenposition, indem sie sowohl Teil der Schrift sind, aber zugleich typographisch und stilistisch als nicht zugehörige, mündliche Kommentare angezeigt werden. Der Textkörper wird immer wieder überschritten, indem der Sprecher aus der Erzählung heraustritt und sich an den intendierten Leser richtet. Der Versuch, die Grenzen zwischen Kunst und Leben zu überschreiten, der sich exemplarisch in diesem Verfahren zeigt, charakterisiert auch das Spiel mit dem uneindeutigen Status des Erzählers zwischen autobiographischer und fiktionaler Person, das sich nicht nur in Byrons Texten Beppo und Childe Harold findet, sondern auch für Heines Reise von München nach Genua charakteristisch ist.374 Diese Transgressionen stehen bei Byron und Heine im Kontext der Autonomisierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse von Kunst und Literatur in der Moderne, auf den sie provokativ reagieren.375 Bei diesen Grenzüberschreitungen, die starre Dichotomien in Frage stellen, handelt es sich aber nicht um einen Prozeß der Entdifferenzierung, weder in Richtung

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Zu diesem Verständnis des Karnevals vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (aus dem Russischen von Gabriele Leupold). Hrsg. u. mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann. Frankfurt a.M. 1995. Vgl. dazu Drummond Bone, »Beppo: The Liberation of Fiction«. In: Bernard Beatty/Vincent Newey (Hrsg.), Byron and the Limits of Fiction. Totowa/New Jersey 1988, S. 97–125, hier S. 109–111. Bone hebt an diesem Verfahren den Wechsel der Kategorien hervor in Richtung des Materiellen. Zum »conversational tone« von Don Juan vgl. McGann, »Don Juan« in Context, besonders Kap. 5: Don Juan: Style, S. 68–99, hier S. 73. Vgl. in diesem Kontext auch die neueren Untersuchungen von Christoph Bode zu Byrons Childe Harold und zu Beppo in Bode, Selbst-Begründungen, S. 117–143 sowie Bode, FremdErfahrungen: Diskursive Konstruktion von Identität in der britischen Romantik II: Identität auf Reisen. Trier 2009, S. 265–286. Dort interpretiert Bode im Gegensatz zu dem in dieser Arbeit gesetzten Akzent die unentwegte »Transposition von Realem in Fiktives und zurück aus der Fiktion ins Reale« nicht als Infragestellung des Realitätsstatus der Fiktion, sondern als Verfahren, mit dem »das Fiktionale der Realität aufgedeckt« werde (Bode, Selbst-Begründungen, S. 142). Das Spiel mit der Überschreitung zwischen Fiktion und Realität, auf das er in Childe Harold, Beppo und Don Juan hinweist, führe zu einer Auflösung der Dichotomien von Authentizität und Rolle sowie von Identität und Alterität in einer »Serie von performativen Akten«, die Identität nicht nur als diskursiv verfaßte zeigen, sondern auch als solche ausstellen (Bode, Fremd-Erfahrungen, S. 265). Zur Ausdifferenzierung der Literatur siehe Gerhard Plumpe, »Systemtheorie und Literaturgeschichte. Mit Anmerkungen zum deutschen Realismus im 19. Jahrhundert«. In: Hans-Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer (Hrsg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Frankfurt a.M. 1985, S. 251–264, hier S. 252–258.

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des Lebens und der Wirklichkeit, noch in Richtung von Kunst und Fiktion, vielmehr geht es dabei um ein Sowohl-als-auch. Erika Fischer-Lichte hat diese Doppelung als charakteristisches Merkmal für eine Ästhetik des Performativen bestimmt, die auf die »Kunst der Grenzüberschreitung« abzielt und »den Aspekt der Überschreitung und des Übergangs« stark macht.376 Die Ästhetik des Performativen »arbeitet unablässig daran«, bemerkt Fischer-Lichte, »Grenzen, die historisch gesehen, im ausgehenden 18. Jahrhundert errichtet wurden […] – wie die Grenzen zwischen Kunst und Leben, zwischen Hochkultur und populärer Kultur […] –, zu überschreiten und so den Begriff der Grenze zu redefinieren«.377 Eine Betrachtung des Epochenzusammenhangs zwischen 1750 und 1850, im deutschen Kontext traditionell als Klassik, Romantik und Vormärz bezeichnet, im Hinblick auf die Begriffe der Ausdifferenzierung und der Entdifferenzierung führt zur gewinnbringenden, wenn auch notwendig schematisch-verallgemeinernden Erkenntnis, daß der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewonnene Autonomiestatus der Kunst sowohl in der Romantik als auch im Vormärz neu verhandelt wird.378 Zwar werden, wie Gerhard Plumpe betont, für die autonome Kunst und Literatur fremde Kontroll- und Legitimationsinstanzen unbedeutend, andererseits führt die Ausdifferenzierung zu einer zunehmenden Autoreferentialität des ›Kunstsystems‹ – die Kunst verliert an unmittelbarer Relevanz für ihre ›Umwelt‹.379 Darauf antworten einerseits die »Panästhetisierungsversuche« romantischer Texte sowie andererseits die »Entliterarisierungsbestrebungen« der Vormärzautoren.380 Die umfassende Ästhetisierung aller Lebensbereiche und die Überführung der Kunst in den Alltag sind demzufolge nur zwei Seiten der gleichen Reaktion auf die Ausdifferenzierung der Kunst und die Problematik der Autoreferentialität. Daß Leben sich in die Kunst entgrenzt und umgekehrt die Kunst auf die Wirklichkeit übergreift, ist, wie gezeigt, ein durchgängiges Thema der Reise von München nach Genua. Dieser Prozeß bedingt allerdings bei beiden hier untersuchten Autoren keine Entdifferenzierung: Kunst soll nicht ihren Status als Kunst verlieren und sich politisch refunktionalisiert der Wirklichkeit annähern, sowie umgekehrt das Leben nicht wie in der progressiven Universalpoesie in Kunst überführt werden soll gemäß des romantischen Postulats: »Die Welt muß romantisirt werden.«381 Die eindeutige Grenze, die im Akt der Überschreitung verletzt und in Frage gestellt wird, sich aber nicht vollständig auflöst, wird sowohl von Heine als auch von Byron in ihrer Ambivalenz 376 377 378 379 380 381

Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 357. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 357. Vgl. Bunzel/Stein/Vaßen, »›Romantik‹ und ›Vormärz‹«, S. 29–34. Vgl. Plumpe, »Systemtheorie und Literaturgeschichte«, S. 253. Bunzel/Stein/Vaßen, »›Romantik‹ und ›Vormärz‹«, S. 33. Novalis, »Logologische Fragmente [II]«, NS II, S. 545.

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behauptet. Ihre Texte zielen auf eine Interaktion zwischen Kunst und Leben, die ihre Wirkmächtigkeit als eingreifende Kunst eben gerade durch die Überschreitung der Grenze in transgressiven Akten erhalten soll, die – wie sich an der Analyse der performativen Künste in der Reise von München nach Genua gezeigt hat – revolutionäres Potential besitzen. Wie eine problematische entdifferenzierende Ineinanderblendung von Kunst und Wirklichkeit aussieht, wird in dem auf die Reise von München nach Genua folgenden italienischen Reisebild Die Bäder von Lukka anhand des oben schon diskutierten falschen Kunst- und Naturverständnisses der philiströssentimentalischen Figur Gumpelino vorgeführt, der den Erzähler fragt: »Wie gefällt Ihnen hier diese Naturgegend? Welche Schöpfung! Sehen Sie mahl die Bäume, die Berge, den Himmel, da unten das Wasser – ist nicht alles wie gemalt? Haben Sie es je im Theater schöner gesehen? Man wird so zu sagen ein Dichter!« (DHA 7/1, 94)382 Gumpelino, der ein Gedicht von Friedrich Matthison über die melancholische Abenddämmerung rezitiert, verkennt in seiner entdifferenzierenden Rezeption sowohl die Kunst als auch die Natur, denn – wie schon im Kapitel zu Die Bäder von Lukka ausgeführt wurde – richten sich die pathetischen Worte seiner Deklamation »in das lachende, morgenhelle Thal« (DHA 7/1, 94). In der Erzählung Florentinische Nächte wird dagegen auf die gegenseitige Affizierung von Kunst und Wirklichkeit hingewiesen, die an die zitierte Passage aus Beppo erinnert: Sie irren sich nicht, Maria, ich gehe wirklich in die Oper, um die Gesichter der schönen Italienerinnen zu betrachten. Freylich, sie sind schon außerhalb dem Theater schön genug, und ein Gesichtsforscher könnte an der Idealität ihrer Züge sehr leicht den Einfluß der bildenden Künste auf die Leiblichkeit des italienischen Volkes nachweisen. Die Natur hat hier von den Künstlern das Kapital zurückgenommen, das sie ihnen einst geliehen, und siehe! es hat sich aufs Entzückendste verzinst. Die Natur welche einst den Künstlern ihre Modelle lieferte, sie kopirt heute ihrer Seits die Meisterwerke die dadurch entstanden. (DHA 5, 208)

Beide Autoren, Heine und Byron, zielen auf eine ›Ästhetik des Performativen‹, die die Überwindung starrer Gegensätze verfolgt und die Systemgrenzen zwischen Kunst und Leben zu überschreiten versucht. Ohne dabei die autonome Setzung des Fiktional-Imaginativen aufzugeben, dient sie vielmehr inhaltlich und formal als utopisches Handlungsmodell für das Politisch-Wirkliche. Paradigmatisch mag hierfür stehen, daß Heines Erzähler ihre Geliebten und sich selbst zweimal projektiv in Herrscherpaaren wiedererkennen – in Ideen. Das Buch Le Grand als Sultan und Sultanin und in der Reise von München nach Genua als Herzog und Herzogin.

382

Vgl. Kap. III. 3.3.

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Resümee und Ausblick

»Bologna […] is celebrated for the production of Popes— Cardinals—painters— & sausages«, Byron (BLJ 5, 231). »Die Stadt Göttingen, berühmt durch ihre Würste und Universität«, Heine (DHA 6, 83)

Mit Blick auf Heines Byron-Rezeption konnte in der Arbeit gezeigt werden, daß es in Heines Texten einen intertextuellen Dialog mit dem populären englischen Autor Byron über das Erscheinen von Die Nordsee III hinaus gibt. Zu Heines Byron-Lektüre zählte neben Childe Harold auch Don Juan und er verdankte dieser Lektüre mehr, als er öffentlich erkennen ließ. In der deutschen Öffentlichkeit war Heine darauf bedacht, von Byron ausschließlich das verbreitete Bild des Weltschmerzdichters zu reproduzieren. So läßt es sich auch erklären, daß es – außer in dem späten Interview mit dem englischen Journalisten John Crockford zu Haidee, das für die britische Öffentlichkeit bestimmt war – über die Lektüre von Don Juan, Beppo oder The Vision of Judgment von Heine keinerlei explizite, öffentliche oder private Stellungnahmen gibt. Heines Praxis der Verschattung seiner Rezeption der späten Texte Byrons kam dabei zugute, daß der englische Autor in der deutschen Öffentlichkeit von Beginn an – und diese Kontinuität setzt sich, wie gezeigt wurde, bis in die aktuelle Heine-Forschung fort – vornehmlich als romantischer Autor des Childe Harold galt und mit seinem Protagonisten als Verkörperung weltschmerzlicher Zerrissenheit identifiziert wurde. Im nicht-deutschsprachigen Ausland dagegen wurde die Analogie zwischen den poetischen Verfahren von Heines Texten und Byrons ottava rima-Gedichten durchaus wahrgenommen, was etwa eine Bemerkung des amerikanischen Schriftstellers Henry Wadsworth Longfellow dokumentiert. Longfellow verortete in einer Rezension von 1842 die Schreibweise von Heines Reisebilder zwischen Lawrence Sterne und Byron, wobei er ausdrücklich auf die Ähnlichkeit mit Byrons Don Juan hinweist: »To the recklessness of Byron he adds the sentimentality of Sterne. The Reisebilder is a kind of Don Juan in prose with passages from the Sentimental Journey.«1 Heines Selbstinszenierung und Byrons berühmtes self-fashioning, das ihn für heutige Biographen immer noch zu einer der schillerndsten Persönlich-

1

Zitiert nach DHA 7/2, S. 576.

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keiten der englischen Literaturgeschichte macht, stellen Reaktionen auf die neuen Bedingungen des literarischen Marktes im industriellen Zeitalter dar.2 Der anfängliche Wunsch, der im Frühwerk beider Autoren zu finden ist, die Anerkennung des Publikums durch eine emphatisch-bekenntnishafte Gefühlssprache zu gewinnen, wandelte sich zunehmend in eine Strategie der Polemik und des öffentlichen Angriffs auf politische und literarische Opponenten. Die Originalität, die zur Strategie des literarischen Felds gehört und nötig ist, um eine eigene Stimme zu etablieren, prägte Heines Verhältnis zu Byron ebenso wie sein Verhältnis zur Romantik und zu dem als übermächtig empfundenen Goethe. Heine, der in den 1820er Jahren den ›Kampf‹ gegen die Literatur der deutschen Kunstperiode aufnahm, fand in Byron das Modell eines kosmopolitischen Dichters, der sich zudem in der ersten Dekade des 19. Jahrhunderts zunehmend vom literarischen System der Romantiker in seinen ottava rimaGedichten distanzierte. In diesen späten Texten grenzte sich Byron, wie gezeigt wurde, satirisch von den Positionen der englischen Romantiker wie der Lake Poets William Wordsworth, Samuel Taylor Coleridge und Robert Southey ab. Die neuen poetischen Verfahren, die Byron in diesen Texten entwickelte, zielen auf die Überschreitung von Grenzen, zu denen sowohl offizielle Normen wie Sprache und Moral als auch die Grenze zwischen Kunst und Leben gehören. In der Zeitperiode der 1820er Jahre, die nicht nur aufgrund der politischen Stagnation von den Zeitgenossen mit der Metaphorik der Kälte und Erstarrung beschrieben wird, betont Byrons und Heines eingreifende Kunst programmatisch die Aspekte der Gegenwart, des Lebens und der Bewegung, die zu einer Erneuerung der politischen und kulturellen Situation führen sollten. Wie Heine am Ende seines Lebens verkündet, ging es ihm nicht nur darum, das Lächerliche und Verlebte zu verspotten, sondern gleichzeitig auch immer darum, »das Lebendige zu feiern«.3 Byrons und Heines Texte zeugen innerhalb der ›Sattelzeit‹ von einer zweiten Modernisierungsphase, in der die engen Systemgrenzen der Kunst in Richtung Leben überschritten werden sollen, um dadurch für die Kunst Wirkungspotential zu gewinnen und so in die öffentlichen Diskurse verändernd eingreifen zu können. Dieser Aspekt konnte sowohl an den Texten The Vision of Judgment und Die Bäder von Lukka mit ihren skandalisierenden Schreibweisen gezeigt

2

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Vgl. Benita Eisler, Byron: Child of Passion, Fool of Fame. London 1999 sowie die neueste Biographie von Edna O’Briens Byron in Love: A Short Daring Life. Norton 2009, die Harold Bloom in einem umfangreichen Artikel in The New York Review of Books bespricht: Harold Bloom, »Pilgrim to Eros«. The New York Review of Books, 24. September 2009 (LVI, 14), S. 41–43. Byrons self-fashioning untersuchen etwa Andrew Elfenbein, Byron and the Victorians. Cambridge 1995 oder die Beiträge des Sammelbands von Christine Kenyon Jones (Hrsg.), Byron: The Image of the Poet sowie Bode, Selbst-Begründungen, S. 117–143. Werner, Begegnungen mit Heine, Bd. 2, S. 175.

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werden als auch anhand der Mediendiskussion in Childe Harold IV und in der Reise von München nach Genua. Die Bestimmung der Grenzen zwischen Kunst und Leben bleibt bis in die Gegenwart des späten 20. und des 21. Jahrhunderts höchst aktuell. So schreibt Roland Barthes im Hinblick auf Jean Paul Sartres engagiertes Literaturmodell, das in den fünfziger Jahren von einer neuen Generation von Autoren zurückgedrängt wurde, in seinen Essais Critiques: Wir verlassen die Zeit der engagierten Literatur. Das Ende des Sartreschen Romans, die unerschütterliche Armseligkeit des sozialistischen Romans, das Nichtvorhandensein eines politischen Theaters, all dies läßt, einer Welle gleich, die sich zurückzieht, ein einzigartiges und einzigartig widerständiges Objekt unbedeckt: die Literatur. Schon wird sie im übrigen wieder von einer Gegenwelle bedeckt, der des erklärten Loslösens, eines dégagement: einer Rückkehr zur Liebesgeschichte, eines Feldzugs gegen die ›Ideen‹, eines Kults des guten Schreibens, einer Weigerung, sich um die Bedeutungen der Welt zu kümmern […]. Sollte unsere Literatur denn ewig zu diesem erschöpfenden Hin und Her zwischen politischem Realismus und l’art pour l’art, zwischen einer Moral des Engagements und einem ästhetischen Purismus, zwischen Bloßstellung und Keimfreiheit verurteilt sein?4

Die Situation zwischen engagierter Literatur auf der einen Seite und Ästhetizismus auf der anderen, die Barthes hier für die französische Literatur des 20. Jahrhunderts beschreibt, repräsentiert offensichtlich ein Dilemma der Literatur der Moderne seit 1800. Byron und Heine haben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts versucht, darauf mit ihrer eingreifenden Kunst zu antworten, die beide ›Wellenbewegungen‹ verbinden will: Die Autonomie der Kunst soll im ›Exzeß‹ der Schreibweise gewahrt werden, während gleichzeitig die kontinuierliche Überschreitung der Grenze zwischen Kunst und Leben ein Eingreifen in die Wirklichkeit ermöglichen soll. Als ein weiterführendes Beispiel für die Poetik eingreifender Kunst in der Gegenwart kann das Werk von John Maxwell Coetzee, einem der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller, gelten. Wie Byrons und Heines Texte überschreiten Coetzees Texte permanent die Grenzen der Fiktion. Seine Romane, teilweise als Tagebücher verfaßt, besitzen autobiographische und essayistische Züge, wie z.B. A Diary of a Bad Year (2007). Seine essayistischen Schriften wiederum – wie etwa die Sammlung Elizabeth Costello (2003) – zeigen stark fiktionalisierende Tendenzen, wobei die Kunstfigur Elizabeth Costello, eine berühmte, australische Schriftstellerin, in der Forschung als weibliches alter ego Coetzees kontrovers diskutiert wird.5 Diese Überschreitungen zwischen

4 5

Roland Barthes, Essais Critiques. Paris 1964, S. 1270, zitiert nach Ottmar Ette, Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt a.M. 1998, S. 145. Derek Attridge schreibt über Coetzees Costello-Texte: »However, to locate Coetzee in the tradition of postmodern playfulness, teasing the reader with fictional truths and truthful fictions, is to overlook the much more important engagement in his work with the demands

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Genres, die einen unterschiedlichen Wirklichkeitsstatus besitzen, gehen über selbstreferentielle, postmoderne Strategien, die auf die Materialität der Texte aufmerksam machen, hinaus, und eröffnen durch ihre Poetik eingreifender Kunst komplexe ethisch-politische Fragestellungen, die sich um die Möglichkeit der Anerkennung des ›Anderen‹ (der Frau, der anderen Ethnie, dem ›Tier‹) drehen. Der Südafrikaner Coetzee schreibt in einer Gesellschaft, die – auch Jahre nach Aufhebung des Systems der Apartheid – von extremen politischen Spannungen gekennzeichnet ist. Besonders von der Mehrheit der schwarzen Öffentlichkeit wurde dem Schriftsteller immer wieder ein mangelndes eindeutiges, politisches Engagement in seinen Texten vorgeworfen. Die Debatte erreichte einen Höhepunkt im Kontext seines 1999 veröffentlichten Romans Disgrace, der in der südafrikanischen Öffentlichkeit einen Skandal auslöste und Coetzee dem Vorwurf des Rassismus aussetzte. In Disgrace wird die Frage nach der Bestimmung und Funktion von Kunst innerdiegetisch vor dem Hintergrund von vielfältigen Prozessen der Gewalt zwischen den verschiedenen Ethnien der Protagonisten implizit diskutiert.6 Das komplexe Verhältnis von Ethik, Ästhetik und Politik verhandelt der Roman zentral über die Figur des Universitätsprofessors David Lurie, der nach einem kurzen Verhältnis mit seiner farbigen Studentin Melanie von ihr wegen sexueller Belästigung angezeigt wird. Lurie beendet daraufhin seinen Universitätsdienst und zieht zu seiner Tochter Lucy aufs Land, weil er nicht bereit ist, seine Schuld öffentlich zu bereuen. In der Abgeschiedenheit der kleinen Farm knüpft Lurie, dessen Spezialgebiet die Literatur der englischen Romantik ist, wieder an seinen Versuch an, ein Buch über Byron zu schreiben. Diese Arbeit wird von einem Überfall auf die Farm durch drei Schwarze unterbrochen, bei dem Luries Tochter Opfer einer Vergewaltigung wird. Lucys Weigerung, das Verbrechen zur Anzeige zu bringen, um dadurch ›Gerechtigkeit‹ zu erwirken, erschüttert Luries Weltbild existentiell. Der Subtext, der die Handlung des Textes begleitet, ist Luries Beschäftigung mit Byron, die sich zunehmend in eine hermetische musikalische Auseinandersetzung mit dem englischen Dichter während seiner letzten Lebensjahre im italienischen Exil verwandelt.7 Erzählt wird der Roman in der dritten Person mit der durchgängigen Fokalisierung auf Luries Perspektive, daneben gibt es keine auktoriale Erzähler-

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and responsibilities of writing and reading, an engagement that runs through these pieces [Elizabeth Costello, A.B.] as it does through the novels and memoirs.« (Derek Attridge, J.M. Coetzee and the Ethics of Reading. Chicago, London 2004, S. 199f.) Zu Coetzees Roman Disgrace vgl. Attridge, Coetzee and the Ethics of Reading, S. 162–191 und James Meffan/Kim L. Worthington, »Ethics before Politics. J. M. Coetzee’s Disgrace«. In: Todd F. Davis/Kenneth Womack, Mapping the Ethical Turn. A Reader in Ethics, Culture, and Literary Theory. Charlottesville 2001, S. 131–150. Vgl. dazu Kai Easton, »Coetzee’s Disgrace: Byron in Italy and the Eastern Cape c. 1820«. In: Journal of Commonwealth Literature 42 (2007), S. 113–130.

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stimme, die das Geschehen bewerten oder erklären würde. Sowohl die Diegese als auch die Poetik des Romans könnten aufgrund der narrativen Leerstellen, der ästhetischen Uneindeutigkeit und der Offenheit der Bedeutungskonstitution den Eindruck des Hermetischen und Elitären entstehen lassen – Merkmale einer Kunst des l’art pour l’art.8 Tatsächlich grenzt sich der Protagonist Lurie an einer Stelle sogar dezidiert von politisch engagierter Kunst ab – über die Theater-Aufführung seiner Studentin Melanie heißt es, »he finds the play, with its crude humour and nakedly political intent, as hard to endure as before«.9 In seiner Studie J. M. Coetzee and the Ethics of Reading betont Derek Attridge, daß in Südafrika während der Apartheid die Forderung beherrschend war, »that the production and judgment of art be governed by its immediate effectiveness in the struggle for change«.10 In den Diskussionen der südafrikanischen Literatur führte sie, so Attridge, zu einer »suspicion of anything appearing hermetic, selfreferential, formally inventive«.11 Gerade unter Wahrung der Autonomie des Kunstwerks verweigern Coetzees Texte sich in ihrer Sprache, Form und Poetik einer eindeutigen Lesart, weswegen sie Attridge in der Tradition modernen Schreibens von Kafka und Beckett sieht.12 Coetzees Texte entziehen sich politischen Instrumentalisierungen und widersetzen sich einer eindeutigen Rhetorik, die ein Kennzeichen engagierter Literatur ist.13 Trotz dieser Ästhetik der Ambiguität überschreiten sie – vergleichbar mit Byrons und Heines Texten – die selbstbezüglichen Grenzen der Fiktion. Gerade Coetzees Roman Disgrace führt anhand von Luries ›Oper‹ über Byron poetologisch vor, wie das Kunstwerk als appellativer Anruf zu verstehen ist, der die hermetische Immanenz des textuellen Universums überschreitet und dazu auffordert, Verantwortung für das ›Andere‹ (the Other) zu übernehmen. Disgrace formuliert anhand von Luries Oper über Byron die metareflexive Frage nach der Bestimmung von Kunst zwischen Engagement und Ästhetizismus in der Gegenwart neu und beantwortet sie im Kontext einer Ethik des ›Anderen‹. Disgrace widersetzt sich Formen sprachlicher und ideologischer

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9 10 11 12

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Vor allem sind diese Merkmale, wie in der Forschung etabliert wurde, Charakteristika der Literatur der Moderne. Vgl. dazu Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität. Zu Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne. Tübingen 1988. J. M. Coetzee, Disgrace. London 1999, S. 191. Attridge, Coetzee and the Ethics of Reading, S. 1. Attridge, Coetzee and the Ethics of Reading, S. 1. Vgl. Attridge, Coetzee and the Ethics of Reading, S. 2. Attridges These ist naheliegend, weil sich Coetzee, der englische Literaturwissenschaft studierte, mit dem Stil von Samuel Beckett – einem der Repräsentanten der Literatur der Moderne – in seiner Dissertation aus den 1960er Jahren ausführlich beschäftigte. Der Titel von Coetzees Doktorarbeit lautet: »The English Fiction of Samuel Beckett: An Essay in Stylistic Analysis«. Diss. University of Texas at Austin 1969 (vgl. dazu David Attwell, South Africa and the Politics of Writing. Berkeley, Los Angeles 1993, S. 9f.). Zur Unbestimmtheit von Becketts Texten, die durch Leerstellen entsteht, und zu seiner Sprache vgl. u.a. Bode, Ästhetik der Ambiguität, S. 293–340. Vgl. dazu Wegmann, »Politische Dichtung«, S. 122.

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Vereindeutigung und identifizierender Repräsentation und besitzt gerade auch darin eine zutiefst ethische Dimension, die in der Möglichkeit seiner Figuren zu einer gewaltfreien Anerkennung des Anderen aufscheint.14 Im gebrochenen, minimalistischen Rufen von Luries ›Banjo-Oper‹, deren Gegenstand Byrons italienisches Exil ist, offenbart sich Coetzees Poetik eingreifender Kunst, die das Andere zur Sprache kommen läßt.

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Zur Anerkennung des Anderen vgl. z.B. Paul Ricoeur, Wege der Anerkennnung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein (aus dem Französischen von Ulrike Bokelmann/Barbara Heber-Schärer). Frankfurt a.M. 2006.

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Abbildungsnachweis

Abb. 1:

Albrecht Dürer, Melencolia I, 1514, Kupferstich, 23,7 x 18,7 cm. © bpk / Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin / Jörg P. Anders

Abb. 2:

Ludwig Emil Grimm, Heinrich Heine, 1827, Radierung, 20,9 x 16,8/17,0 cm. © bpk / bpk / bpk

Abb. 3:

Richard Westall, George Gordon Byron (Baron Byron VI), 1813, Öl auf Leinwand, 91,4 x 71,1 cm. © National Portrait Gallery, London

Abb. 4:

Charles Turner, George Gordon Byron (Baron Byron VI); nach Richard Westall, veröffentlicht 15. Juli 1815 (1813), Mezzotinto, 43,8 x 33,5 cm. © National Portrait Gallery, London

Abb. 5:

Nicolas Eustache Maurin, George Gordon Byron (Baron Byron VI); nach Richard Westall, gedruckt von François Le Villain, 1813, Lithographie, 38,1 x 27,6 cm. © National Portrait Gallery, London

Abb. 6:

Moritz von Schwind, Einsamkeit, 1823, Tuschfeder in Schwarz über Bleistift auf Papier, 30 x 23,4 cm. Privatbesitz. Nach: Moritz von Schwind. Meister der Spätromantik. Hrsg. von Staatliche Kunsthalle Karlsruhe und Museum der bildenden Künste Leipzig. Ostfildern-Ruit 1996, S. 105.

Abb. 7:

Friedrich Overbeck, Vittoria Caldoni, 1821, Öl auf Leinwand, 89,5 x 65,8 cm. © bpk / Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Neue Pinakothek München / BStGS

Abb. 8:

Henry Meyer, William Wordsworth; nach Richard Carruthers, veröffentlicht 1. Februar 1819, Punktierstich, 18,1 x 12,1 cm. © National Portrait Gallery, London

Abb. 9:

Anton Graff, Friedrich von Schiller, 1786/91, Öl auf Leinwand, 71 x 57 cm. © Städtische Galerie Dresden – Kunstsammlung, Museen der Stadt Dresden; Fotograf: Franz Zadnicek.

Register

Werke

– –

Heine – – – – – – – –

– – – – – – –

Briefe aus Berlin 125, 130, 141, 143, 152, 168, 242–243, 261, 386, Die Nordsee III 3, 84, 97, 107, 115–148, 149, 150, 151, 156, 160, 164, 181, 189, 269, 272, 277, 320, 347, 369, 423, 433 Die Harzreise 67–69, 71–72, 98, 107, 144–145, 151, 156–160, 274, 330–331, 353, 390 Ideen. Das Buch Le Grand 149, 241, 320, 343–345, 406, 418, 432 Englische Fragmente 161–162, 166, 168, 423 Reise von München nach Genua 7, 12, 16, 84, 94, 96, 144, 149, 169, 225, 227, 232, 233, 267, 269–271, 279–285, 319–432 Die Stadt Lukka 166, 174–176, 256, 257, 322, 336, 367, 371, 414 Die Bäder von Lukka 7, 16, 84, 107, 142, 166–168, 173, 176, 177, 181, 183–185, 187, 189, 225–267, 278, 322, 418, 432, 434 Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski 68–69, 166, 169–174, 228 Florentinische Nächte 261, 262, 385, 426, 432 Atta Troll 163, 368 Deutschland. Ein Wintermährchen 115, 260, 414 Hebräische Melodien 154–156 Französische Maler 44, 148, 368, 416 Die romantische Schule 39, 44, 45–47, 50, 56, 59, 81, 112, 123, 141, 180, 336, 339–394

– – – – – –

Zur Geschichte der Religion und Philosophie 59, 166, 176–177, 335 Ludwig Börne. Eine Denkschrift 143, 151, 225, 353 Shakspeares Mädchen und Frauen 90, 147, 151, 156, 249, 365–368 Lutezia 154, 249, 261, 264 Geständnisse 56 »Childe Harold« 151–154, 156

51, 82–83, 361 Der Thee 254

Byron –

– –

– – – – – –

Childe Harold’s Pilgrimage 7, 16, 92–95, 96, 102, 152–156, 161–162, 191, 265, 267, 269–271, 273, 279–319, 320, 323, 328–332, 344, 381, 385, 403–405, 407, 419, 424, 425, 428–430, 433, 435 Beppo 5, 75, 98, 115, 145, 172, 194, 207, 241–242, 262, 266, 304, 314, 318, 319, 428–430, 432, 433 Don Juan 1, 2, 3, 5, 12, 25, 54, 58, 59, 60, 66–69, 75–80, 98–99, 102, 108, 145, 149, 160–161, 164, 166, 170–177, 191– 194, 196–197, 198, 199, 204, 207, 217, 262, 265, 314, 316, 318, 386, 430, 433 The Vision of Judgment 5, 7, 16, 74, 98, 177, 181, 183–225, 226, 227, 228, 242, 251, 258, 264–267, 433, 434 The Two Foscari 143, 151, 199, 220, 317, 318 Morgante Maggiore 75, 194 Hebrew Melodies 96, 102, 154–156 Letter to John Murray 76, 190, 194, 203– 207, 213, 247 Some Observations 196, 204

465

Personen und Werke Adorno, Theodor W. 10–12 Alexis, Willibald 110, 116, 118, 130, 132– 135, 139, 146–147, 155, 278 Arndt, Ernst Moritz 29, 134, 281 Bachtin, Michail 59, 140, 150, 207, 211, 218, 228, 251, 263, 264, 347–348, 353, 430 – Probleme der Poetik Dostoevskijs 140, 150, 211, 218 – Formen der Zeit im Roman 207, 347–348, 353 – Rabelais und seine Welt 263, 264, 430 Baudelaire, Charles 33, 344 Barthes, Roland 417, 435 Baumgarten, Alexander Gottlieb 35, 408 Benjamin, Walter 11, 51, 333 Benn, Gottfried 54, 215 Bohrer, Karl Heinz 39–40, 56, 60, 344–345 Börne, Ludwig 43, 50, 104, 174–175, 348– 349 – »Das Gespenst der Zeit« 348–349 Bourdieu, Pierre 4, 16, 85, 89, 111–114, 144, 181, 227, 265 Bowles, William Lisle 76, 190, 203, 205 Brecht, Bertolt 11, 14 Bulwer-Lytton, Edward 41 Burke, Edmund 30–32, 74, 202, 212 – Reflections on the Revolution in France 30 – A Philosophical Enquiry 74, 202 Caravaggio, Michelangelo Merisi da 211, 217, 220, 413 Coetzee, John Maxwell 435–438 Coleridge, Samuel Taylor 3, 12, 17, 21, 42, 54, 58, 66–67, 76, 190, 195, 204, 296, 434 Dallas, Robert C. 178 Dante Alighieri 202, 208, 210 Dennis, John 74, 203, 206, 218 de Staël, Mme 45, 73, 281, 372 Du Bos, Abbé Jean-Baptiste 408 Dürer, Albrecht 91, 273, 276–277 Eichendorff, Joseph von 39, 253, 380 Engels, Friedrich 198 Esposito, Elena 33 Foucault, Michel 369 Freud, Sigmund 326, 327, 334 Gamba, Pietro 178, 318 Giorgione 407, 422, 423, 424, 427–429

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Goethe, Johann Wolfgang 1, 4, 5, 16, 35, 36, 41, 43–44, 45–47, 90, 91, 106, 116, 119–124, 126, 127, 128, 136, 137, 139– 141, 145, 146, 165, 174, 178–180, 217, 223, 254, 257, 264, 271, 279–282, 318, 320, 322–323, 325, 327, 340, 351–352, 362, 368–370, 372, 376–377, 380, 382, 389, 400–404, 412–413, 417, 434 – Italienische Reise 121, 279–282, 322–323, 362, 368–370, 400–404, 406 – Wilhelm Meisters Lehrjahre 325, 340, 351– 352, 368, 376–377, 423 Graff, Anton 277 Grimm, Ludwig Emil 271–278 Hazlitt, William 42–44, 116, 130–134, 180, 190 – The Spirit of the Age 42–44, 130–134 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 27, 60, 82, 100, 147, 288, 400, 416, 417 Hoffmann, E.T.A. 36, 82, 167, 168, 253, 362, 371, 381, 411 Hölderlin, Friedrich 331, 344 Hunt, Leigh 75, 131, 178, 179, 190, 192, 222 Immermann, Karl 43, 107, 116, 135, 138– 140, 142, 143, 146, 244, 251, 265, 266, 267, 362, 364, 371 Kant, Immanuel 35, 38, 82, 229–230 Kleist, Heinrich von 343–345, 381 Klopstock, Friedrich Gottlieb 137, 276 Koselleck, Reinhart 6, 15, 26, 28, 29, 303, 329, 357 Kraus, Karl 250 Kristeva, Julia 207, 218 Lessing, Gotthold Ephraim 37, 238, 239, 255, 259 Luhmann, Niklas 8, 13, 36, 324 Man, Paul de 58, 62, 65 Maurin, Nicolas Eustache 273 Marcuse, Ludwig 270 Mercier, Louis Sébastien 231 Meyer, Henry 277 Milton, John 48, 105, 164, 204, 209–210, 216 – Paradise Lost 209–210, 216 Moore, Thomas 17, 73, 75, 102, 178 Müller, Wilhelm 115, 157, 178, 372, 374, 387, 390, 411–412 – Rom, Römer, Römerinnen 374, 376, 387, 390, 411–412

Novalis 32, 39, 82, 127, 253, 271, 311, 335, 336–338, 341, 344, 351, 374–375, 392, 420, 431 – Hymnen an die Nacht 311, 336–338, 341, 351 – Heinrich von Ofterdingen 335, 336, 341 – Die Lehrlinge zu Saïs, 338 Overbeck, Friedrich 277, 411 Ovid 313, 352 Platen, August von 16, 104, 140, 142, 146, 184, 185, 187, 225, 226, 227, 235, 242, 243–245, 247, 248–266, 278 Pope, Alexander 74–76, 79, 190, 203, 205, 206, 207, 211, 218, 277 Pückler-Muskau 174–176 Reinhold, Wilhelm 173, 175 Ricoeur, Paul 311, 312, 314, 425, 426, 438 Ritter, Johann Wilhelm 334–335 Rotteck, Carl von 188 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 65, 367 Schiller, Friedrich 33–35, 38, 41, 47, 106, 116, 119–124, 126–128, 136, 137, 139, 140, 141, 142, 145, 146, 276, 277, 318, 331–332, 380 – Über naive und sentimentalische Dichtung 33–35, 119–124, 126–128, 141 – 137 – »Trauerode« 331–332 Schlegel, August Wilhelm 39, 42, 57, 73–74, 82, 100–101, 112, 134, 176–177, 271 Schlegel, Friedrich 27, 32, 33–37, 38, 39, 40, 42, 47, 48–49, 52, 57–69, 72, 81, 119, 128, 131, 134, 135, 245, 271, 376 – Über das Studium der griechischen Poesie 33–37, 38, 52, 131 – Gespräch über die Poesie 37, 38, 39 – Geschichte der alten und neuen Literatur 48–49

Schleiermacher, Friedrich 100, 231 Schwind, Moritz von 277 Shakespeare, William 37, 48, 61, 90, 109, 131, 133, 161, 164, 167, 175, 176, 199– 200, 228, 248, 249, 291, 363, 365–366, 367, 402 – Twelfth Night 131, 176–177, 193, 363 – The Merchant of Venice 199–200 – Hamlet 423–424 Shelley, Mary 1, 77, 293, 315, 335 Shelley, Percy Bysshe 1, 3, 5, 9–12, 54, 77, 196, 198, 228, 285, 293–294, 296–300, 315–317 – »Hymn to Intellectual Beauty« 293–294, 298 – »A Defence of Poetry« 10–11 Simmel, Georg 302 Southey, Robert 16, 17, 73, 76, 105, 130, 143, 184, 185, 190, 195–204, 207–211, 213–221, 223, 224, 225, 242–244, 258, 265, 434 – A Vision of Judgement 195, 196–204, 207–208, 216–217, 220 Starobinski, Jean 350 Stendhal 49, 92 Sulzer, Johann Georg 35, 387 Turner, Charles 273 Vasari, Giorgio 428 Volney, Constantin François Comte de 289– 290, 356 Wienbarg, Ludolf 41–42, 44–46, 83 Winckelmann, Johann Joachim 35, 282, 291, 322, 401, 406 Welcker, Carl 188–189 Westall, Richard 271–277 Wordsworth, William 3, 12, 17, 21, 42, 54, 66–67, 70–72, 73, 76, 190, 195, 277, 292, 297, 305–306, 311, 434 – The Prelude 70–72

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