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Christoph Asmuth Wissen im Aufbruch
KULTUR – SYSTEM – GESCHICHTE Klassische deutsche Philosophie in systematischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive Herausgegeben von Christoph Asmuth und Simon Gabriel Neuffer Band 14
Christoph Asmuth
Wissen im Aufbruch Die Philosophie der deutschen Klassik am Beginn der Moderne
Königshausen & Neumann
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Printed in Germany
ISBN 978-3-8260-6505-7
www.koenigshausen-neumann.de www.libri.de www.buchhandel.de www.buchkatalog.de
Für Eleonore, Malte, Pauline und Otto
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1: Statt einer Apologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Kapitel 2: Ein neuer Spielraum für die Philosophie . . . . . . . . . . . . 2.1 Der Aufbruch der Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . Das Problem des Weltanfangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kants Lehre von der Antinomie . . . . . . . . . . . . . . . . . Anfang der Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Potential einer neuen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die transzendentalphilosophische Wende . . . . . . . . . . . . Die geschichtliche Kontinuität in der ›Kopernikanischen Wende‹ Kants Idee der Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . Eine neue Form der Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . .
7 7 11 14 21 22 24 25 27 30
Kapitel 3: Fichtes Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . 3.1 »Aus Verdruß warf ich mich in die Kantische Philosophie« Ich, Ich und nochmals Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . Was Fichte von Kant gelernt hat . . . . . . . . . . . . . . Über Kant hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Erweiterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transzendentalphilosophie als Urteilstheorie . . . . . . . . Transzendentalphilosophie als Bewusstseinstheorie . . . . . Entgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Das Hohe Lied der Einbildungskraft . . . . . . . . . . . . Platners »Philosophische Aphorismen« . . . . . . . . . . . Die Einbildungskraft in der ersten Wissenschaftslehre . . . Fichtes Theorie der Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . Die Einbildungskraft in der Frühromantik . . . . . . . . . Einbildungskraft und Perspektivismus . . . . . . . . . . .
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33 33 33 36 43 45 46 50 55 55 57 59 64 65 69
Kapitel 4: Der Weg der Wissenschaftslehre . . . . . . . . . . . . 4.1 Transzendentalphilosophie oder absolute Metaphysik? . . Fragen an die Spätphilosophie Fichtes . . . . . . . . . . Fichtes Weiterentwicklung der Transzendentalphilosophie Reflexion und Problematizität . . . . . . . . . . . . . . Endliche Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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73 73 77 81 82 86
. . . . . .
viii
Inhaltsverzeichnis
4.2
Fichte und das Absolute . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwandtschaftsverhältnisse: Ding-an-sich und Absolutes Das Absolute – ein langweiliger Begriff . . . . . . . . . Fichtes Pathos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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87 88 89 94
Kapitel 5: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte . . . . . . . . . . 5.1 Naturphilosophie im Streit. Natur als Objekt – Natur als Subjekt 5.2 Schellings »Timaeus-Kommentar« . . . . . . . . . . . . . . . . Fichtes Konstitution der Vorstellung . . . . . . . . . . . . . . . Schellings Philosophie der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . Fichtes Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charakteristischen Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Schellings Freiheitsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gehen wir der Sache auf den Grund: Grund und Tiefe . . . . . »Nihil sine ratione«. Grund und Ungrund . . . . . . . . . . . . 5.4 Fichte liest Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Der Dialog bei Karl Wilhelm Ferdinand Solger . . . . . . . . . Die Dialogform in der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Solgers Dialogtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philosophie und Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97 98 101 102 104 108 109 111 115 120 123 129 129 132 137
Kapitel 6: Erkenntnis und Methode: Kritik und System bei Hegel 6.1 Hegels frühe Auseinandesetzung mit Fichte . . . . . . . Formalität und Leere des Ich . . . . . . . . . . . . . . . Die Insistenz des Endlichen . . . . . . . . . . . . . . . Der reduzierte Naturbegriff . . . . . . . . . . . . . . . Der Dualismus des Sollens . . . . . . . . . . . . . . . . Hegels System – Fichtes Transzendentalphilosophie . . . 6.2 Hegel über die Kritische Philosophie . . . . . . . . . . . Der Empirismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die kritische Philosophie Kants . . . . . . . . . . . . . Hegels Kritik der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Lebendiges Denken – denkendes Leben . . . . . . . . . Leben und Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Negativität und der ›Schmerz des Negativen‹ . . . . . . Das Denken leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Fichtes Wiederkehr in Hegels Wesenslogik . . . . . . . . Die Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Moderne auf den Begriff bringen . . . . . . . . . .
141 141 143 145 145 146 146 149 150 153 154 165 165 167 169 172 173 178
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Kapitel 7: Philosophie im Aufbruch – Philosophie des Aufbruchs . . . . . 181 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Inhaltsverzeichnis
ix
Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
Kapitel 1
Statt einer Apologie Wissen braucht Zusammenhang. Wissen findet man nicht als Atome vor, die für sich nebeneinander und isoliert existieren. Wissen ist vielmehr immer eingebettet in bereits Gewusstes. Der Zusammenhang des Wissens ist unverzichtbar; aber worin soll er bestehen? Das Wissen von seinem Zusammenhang her zu denken, stellt die Frage nach der Art und Weise des Zusammenhangs, der notwendig ist, damit das Wissen als Wissen bestehen kann. Der Zusammenhang des Wissens existiert nicht wie gegebene Gegenstände in Raum und Zeit. Er existiert auch nicht nur in der Faktizität von Kontexten. Der Zusammenhang ist eine Aufgabe an das Wissen: Es soll Zusammenhang hergestellt werden. Der Zusammenhang soll Kohärenz herstellen, Unterschiedliches soll zusammenpassen, Heterogenes genetisch verbunden werden. Die Philosophie stellt dieses Bedürfnis und diese Aufgabe als methodisches Programm vor. Die Wissenschaften, die Forschung und die Universitäten, verschaffen diesem Programm einen institutionellen Rahmen. Aber weder aus dem Bedürfnis noch aus der Aufgabe noch aus dem Programm oder aus der Institutionalisierung folgt, dass die Kohärenz des Wissens möglich, geschweige denn wirklich ist. Am Anfang war die Kohärenz des Wissens bloß eine Forderung. Das Wissen sollte inneren Zusammenhang besitzen, um überhaupt Wissen im strengen Sinne genannt werden zu können. Später dann wird diese Idee zu einer gesetzten Wirklichkeit, allerdings nur für den unendlichen Intellekt Gottes, einer Wirklichkeit, welche für die endlichen Geschöpfe mehr ahnend zu erschließen, mehr in Analogien zu umschreiben, als klarer und deutlicher Besitz war. Schließlich brandete der ganze Ozean positiven Wissens, gespeist aus den Institutionen der Wissenserzeugung, an die Steilküste jener Forderung nach Kohärenz und bricht sich seitdem in endlosen Wellen. Wie merkwürdig und wie anachronistisch wirkt daher das Ansinnen jener philosophischen Strömung der deutschen Klassik, die sich zwischen Kant und Schopenhauer entwickelte und die mit Nachdruck auf die Wirklichkeit eines Systems des Wissens setzte; die damit die Kohärenz allen Wissens nicht nur forderte oder im göttlichen Intellekt verankert sehen wollte, sondern diese als wirklich und für uns begreifbar hielt und sich anschickte, das System des Wissens noch in unserer modernen Gegenwart vor unsere Augen zu legen? Vorwürfe, hier habe sich das bürgerliche Subjekt ein Denkmal gesetzt, indem es sich selbst absolut gedacht habe und Subjektphilosophie geworden sei, sind nicht pauschal von der Hand zu weisen.
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1. Kapitel: Statt einer Apologie
Hier bedarf es freilich einer genaueren Untersuchung. Die Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie kann als Selbstüberhebung gewertet werden. Dann setzte die Philosophie aus eigener Machtbefugnis dasjenige bereits als realisiert, was eigentlich die Aufgabe ist – realisiert durch die Philosophie. Dann verkehrte die Philosophie ein Bedürfnis nach Zusammenhang in dessen Wirklichkeit. Sie täte so, als sei sie mit dem Absoluten auf Du und Du. Das Absolute ist Subjekt, wie Hegel einmal formulierte. Das ist kein Ausdruck demütiger Bescheidenheit. Vielmehr macht die Philosophie Anspruch auf ’s Ganze. Mit den lästigen Kleinigkeiten, die sich durch die Kontingenz und die Empirie einschleichen, räumt diese Philosophie auf. Die störende Vielfalt wird als unwesentlich eingestuft und einfach aus der Theorie verbannt. Aber genau an dieser Stelle gilt es nachzufragen. Die heutige Philosophie macht es sich umgekehrt nämlich sehr leicht damit, die vielleicht unverständliche, jedenfalls schwierige, mindestens aber störende klassische deutsche Philosophie als Gesprächspartner zu disqualifizieren. Es ist leichter etwas Lästiges zu verbannen, als genauer hinzusehen. Man kann aber einige äußerliche Argumente benennen, die zumindest vorläufige Gründe dafür liefern, eine Beschäftigung mit der deutschen Philosophie um 1800 ins Auge zu fassen: Diese Zeit ist geprägt durch eine umfassende Neuformierung der politischen und kulturellen Landschaft in Zentraleuropa. Das ist nur mittelbar und in zweiter Linie eine Wirkung der Philosophie; die Umwälzung ist vielmehr eine direkte Folge der Französischen Revolution und der anschließenden Neuordnung Europas durch Napoleon. Was sich dort formiert, ist im Guten wie im Schlechten die Grundlage für die folgenden zwei Jahrhunderte – und damit für unsere Gegenwart. Das Herz der klassischen deutschen Philosophie wird durch die hier frei werdenden Kräfte angetrieben. Die einzelnen Denker verfügen über große gedankliche Spielräume. Es erscheint ihnen möglich, durch Gedanken die Welt zu verändern. Sie spüren die großen Veränderungen und wollen daran teilhaben. Sie interessieren sich für die Grundlagen der neu entstehenden bürgerlich-liberalen Gesellschaften. Sie erforschen die Bedingungen, unter denen der Bürger an der Gesellschaft teilhaben kann. Sie bemerken die Fliehkräfte einer sich allmählich institutionalisierenden Wissenschaftslandschaft. Sie erfassen die ungeheuren Herausforderungen durch ein kommendes naturwissenschaftlich geprägtes Weltbild, das das Selbstbild des Menschen völlig umkrempeln wird. Alles dies liegt vor den Denkern der klassischen deutschen Philosophie – eine Moderne in der Nussschale. Die Philosophie ist kein intellektualistisches Glasperlenspiel, zumindest sollte sie es nicht sein. Die Philosophie fühlt sich im Zentrum der Entwicklung – als Motor und Kontrollzentrum, als Beobachter und Akteur. Hier laufen alle Fäden, mögen sie auch noch so versponnen wirken, zusammen. Allerdings benötigt die Philosophie dazu eine enorme Kraft – Konzentration, Reflexion und Abstraktion. Der Fächer ihrer Interessen ist breit: Die Geschichte beginnt eine immer größere Erklärungskraft zu besitzen und wird durch philologische Disziplinen unterstützt; die Gesellschafts- und Staatsphilosophie wird durch die Soziologie bereichert; die Leitdisziplin der Physik wird durch eine sich entwickelnde Biologie und Chemie ergänzt; die Religion wird theologisiert, historisiert und säkularisiert; Entwicklungsgeschichte, Erdgeschichte und Evolutionismus werden großgeschrieben; Anthropologie und Medizin gewinnen immer stärkeren Einfluss
1. Kapitel: Statt einer Apologie
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auf das Selbstbild der Menschen; Manufakturen, Verstädterung, Frühindustrialisierung und Verelendung sprengen traditionelle Lebensweisen und prägen das moderne Zusammenleben; neue Wirtschaftsformen und neue monetäre Verhältnisse greifen tief in die herkömmlichen, durch Adlige geprägten Sozialformen ein und schaffen Platz für ein selbstbewusstes Bürgertum. Die Universitäten sind ein wichtiger Faktor in dieser Entwicklung. Bürgerliche Karrieren beginnen immer häufiger mit einem Studium. In den einzelnen Disziplinen beginnen allerdings zugleich autonome Prozesse abzulaufen, welche die Einheit der Wissenschaft zu einer Vielheit von Wissenschaften verändert. Die klassische deutsche Philosophie ist noch in der Lage, diesen Prozess der Differenzierung zu überschauen und ihn als solchen wahrzunehmen. Sie erfindet neue gedankliche Instrumente, um die dynamischen Entwicklungen zu analysieren. Sie versucht, die Grundlinien dieser neuen Dynamik zu begreifen. Sie macht Vorschläge, um diese Entwicklung zu domestizieren. Der Blick zurück kann also nicht nur irritiert auf eine selbstüberhebliche Philosophie gerichtet sein, die vom Absoluten und vom Subjekt nur schwatzt, ohne sich Rechenschaft zu geben von der Zulässigkeit und Zuverlässigkeit ihrer Begriffe, sondern muss auch voller Interesse auf jene Weichenstellungen der Moderne fokussieren, die sie reflektiert. Wo könnte sich nachdrücklicher zeigen, was unsere Gegenwart ausmacht, als gerade an jenem Punkt, an dem sie entspringt? Und es könnte sein, dass die Irritation einem distanzierten Interesse weicht. Einem Interesse, das Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbindet. Mit meinem Buch verbinde ich keine apologetische Absicht. Man kann die Vergangenheit nicht verteidigen. Das ist der Gegenwart für die Gegenwart vorbehalten. In der Gegenwart darf gestritten, angegriffen und verteidigt werden – aber nicht aus dem vergangenen, sondern aus dem gegenwärtigen Interesse der Philosophie heraus. So kann man wohl im Rückblick auf die klassische deutsche Philosophie sagen, dass eine zu große Bescheidenheit der Philosophie möglicherweise gar nicht angemessen ist. Aber damit streitet man für ein anderes Auftreten, einen anderen Gestus der Philosophie heute. Man verweist auf die Alten, meinethalben verwundert: »Seht her, die Philosophen der klassischen deutschen Philosophie sind mit einem fundamentalen Erklärungsanspruch angetreten. Sie haben die Grundfragen radikal gefasst in einer Weise, die uns heute völlig fremdartig erscheint. Aber radikales Fragen ist die Sache der Philosophie. Lasst uns schauen, wie ihre Vertreter Fragen gestellt haben. Vielleicht lernen wir daraus etwas über die Art und Weise, in der wir heute unsere Fragen stellen.« Mein Buch versucht nicht, eine Geschichte der Philosophie von Kant bis Hegel zu erzählen.¹ Es geht mir nicht um eine historische Betrachtung, nicht um die Entwicklungsgeschichte des spekulativen Denkens in Deutschland. Es geht mir nicht um die Sachhaltigkeit und Richtigkeit der Aufeinanderfolge von Positionen, nicht darum, zu zeigen, dass eine Philosophie besser ist als die anderen. Es geht mir nicht darum, die klassische deutsche Philosophie unter der Rubrik der Vollendung zu
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Vgl. Richard Kroner: Von Kant bis Hegel. Tübingen 1921/24.
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1. Kapitel: Statt einer Apologie
betrachten.² Mein Ziel ist es, Unterschiede und Differenzen herauszustellen. Die klassische deutsche Philosophie ist eine Philosophie im Aufbruch. Gedankliche Linien kreuzen sich. Einige Entwicklungen sind dynamisch, andere brechen ab, einige enden abrupt. Oft genug ist der Dissens zwischen den Denkern offenkundig und von ihnen selbst namhaft gemacht. Konsens ist die Ausnahme und stellt sich nur zeitweilig ein. Es werden weitreichende Experimente angestellt, deren Erfolg oder Scheitern bedeutsam und lehrreich ist. Es werden Fragen gestellt, die unbeantwortet bleiben. Es kommt zu gewaltigen Synthesen und überbordenden Systemen. Es werden neue Darstellungsformen der Philosophie ersonnen, Formen, die unter dem Druck von Radikalität und Innovation entstehen und das Gesicht der Philosophie verändern und dauerhaft prägen. Der Ausgangspunkt der klassischen deutschen Philosophie ist das kritische Werk Kants. In drei grundlegenden Büchern hatte Kant die reine Vernunft, die praktische Vernunft und die Urteilskraft mit einer neuen Methode untersucht. Kritik hat dabei einen durchaus positiven Klang, der an die griechische Bedeutung anschließt. Kritik stammt von dem griechischen Verb »kríno« und heißt »scheiden, unterscheiden, abscheiden, entscheiden«. Die Kritik Kants ist darauf gerichtet, den Gebrauch der Vermögen zu unterscheiden, und zwar unter dem Aspekt ihrer Funktionen. Wenn es so etwas wie einen einheitlichen Grundzug der klassischen deutschen Philosophie gibt, dann liegt er in der Anknüpfung an Kant. Kant erfindet eine neue Methode des Philosophierens, die in der Folge mit dem sperrigen Namen »Transzendentalphilosophie« belegt wird. Wer sich in der Zeit nach Kant in Deutschland mit Philosophie beschäftigen wollte, musste sich damit auseinandersetzen.³ Nicht ganz zu Unrecht hat man die Zeit um 1800 auch als Konkurrenz um die Nachfolge Kants als dem führenden deutschen Philosophen beschrieben. Zwar lebte Kant noch bis 1804; er hatte sich aber aus dem philosophischen Tagesgeschäft zurückgezogen. Tatsächlich gibt es bereits um 1800 ein lautstarkes Gerangel um die richtige Philosophie, in die zahlreiche große Namen verwickelt sind – neben Fichte, Schelling und Hegel auch Carl Leonhard Reinhold und Friedrich Heinrich Jacobi, um nur die prominentesten zu nennen.⁴ Es würde allerdings in die Irre führen, wenn man diese Ausgangslage als eine einheitliche geschichtliche Grundlage verstehen würde. Es gibt nicht den »Kantianismus«, keine Schule der Kantischen Philosophie. Stattdessen gibt es ein Schlachtfeld, auf dem mehrere Parteien aus mehreren Generationen um die 2
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Vgl. Walter Schulz: Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings 2. Aufl., Pfullingen 1975; Wolfgang Janke: Die Dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus. Schelling, Hegel und Fichtes ungeschriebene Lehre. Amsterdam/Atlanta 2008. Vgl. Frederick C. Beiser: German Idealism: The Struggle against Subjectivism 1781–1801. Harvard University Press 2009 Vgl.: Terry Pinkard: German Philosophy 1760–1860. The Legacy of Idealism. Cambridge University Press 2002; Walter Jaeschke, Andreas Arndt: Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785-1845. München 2012; Reinhard Hiltscher: Einführung in die Philosophie des deutschen Idealismus. Darmstadt 2016
1. Kapitel: Statt einer Apologie
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Vorherrschaft und die richtige Philosophie kämpfen. Bereits Kants Schriften selbst waren, was ihre Interpretation betrifft, völlig umstritten – und sind es übrigens bis heute geblieben. Allerdings entzündete sich der Streit der ersten Generation nach Kant noch vornehmlich an dessen vermeintlichem Idealismus. Dazu hatte Kant selbst den Anstoß gegeben. Seine kritische Transzendentalphilosophie operierte mit einer Unterscheidung, die vielfach Anlass zu Diskussion gab, nämlich der Unterscheidung von ›Ding an sich‹ einerseits und ›Erscheinung‹ andererseits. ›Idealismus‹ meinte dabei einen Vorwurf: Kant verfehle mit der Zurückführung der Dinge an sich auf Erscheinungen eine realistische Weltauffassung und behaupte, die Welt existiere ›nur‹ in Gedanken. Der zweiten und vollends der dritten Welle der Kantinterpretation, beispielsweise Schelling und Hegel, ging der ›Idealismus‹ Kants gar nicht weit genug. Sie warfen ihm vor, einen verkappten Empirismus zu vertreten. Sie kritisierten die kritische Philosophie als eine Theorie des endlichen Subjekts. Dabei ging es nicht um die Selbstermächtigung eines absoluten Subjekts gegenüber der Endlichkeit als vielmehr darum, bestimmte Bereiche der Kultur in die Philosophie zu integrieren, die vormals von ihr getrennt und von Kant in dieser Abtrennung begründet worden waren. Dazu zählten vornehmlich die Religion, die Geschichte und in gewisser Hinsicht auch die Kunst. So wechselvoll das Schicksal der Kantinterpretation in den ersten Jahrzehnten nach Erscheinen der ersten kritischen Schrift, der Kritik der reinen Vernunft, auch gewesen sein mag, so bildet die Auseinandersetzung mit Kant dennoch einen gemeinsamen Boden, einen Boden allerdings, der nicht frei ist von Verwerfungen. Was sich auf diesem Boden entwickelt, bildet ein eindrucksvolles und dynamisches Geflecht von Thesen, Themen und Theorien. Sie sind ausgezeichnet durch tiefe Reflexion auf die Grundlagen der Philosophie und Theoriebildung sowie durch den unbändigen Willen zur Verdichtung. Beides hängt zusammen. Will man mehr als nur die assoziative Zusammenstellung von Problemen und Themen, dann muss man sie argumentativ miteinander verbinden. Dass zwei Gegenstandsbereiche nebeneinander stehen, besagt nichts. Erst wenn man begründen kann, warum es eine sachliche Notwendigkeit gibt, sie nebeneinander zu stellen, ergibt sich ein substantieller Zusammenhang. Das erfordert aber Reflexion. Reflexion und Verdichtung gehen Hand in Hand. Diese Wechselbeziehung von Reflexion und Verdichtung bestimmt die Vorstellung vom System. ›Das System‹ bildet über einige Jahre hinweg die Leitvorstellung der nachkantischen Philosophie. Kant selbst wird durch die Dynamik seines eigenen Arbeitens vor diese Frage gestellt. Am Anfang konzipierte er die kritische Philosophie als eine Art Voruntersuchung für ein erst zu erbauendes System der Philosophie. Die erste Kritik, die Kritik der reinen Vernunft, sollte keineswegs der erste Baustein eines neuen Systems der Philosophie werden, sondern nur den Boden dafür sichern. Aber mit zunehmender Arbeit an seinen Kritiken, veränderte sich sein Blick auf den Systemcharakter seiner Ausführungen. So schreibt Kant in der Ersten Einleitung in die Kritik der Urtheilskraft: »Wenn Philosophie das System der Vernunfterkenntniß durch Begriffe ist, so wird sie schon dadurch von einer Kritik der reinen Vernunft hinreichend unterschieden, als welche zwar eine philosophische Untersuchung der Möglichkeit einer dergleichen Erkenntniß enthält, aber nicht als Theil zu einem solchen System gehört, sondern so gar die Idee desselben aller-
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1. Kapitel: Statt einer Apologie
erst entwirft und prüfet.«⁵ Andererseits verwahrt er sich heftig gegen Fichte, dem er vorwirft, seiner, Kants, kritischen Philosophie auf grobe Weise unrecht zu tun: »Hierbey muß ich noch bemerken, daß die Anmaßung, mir die Absicht unterzuschieben: ich habe bloß eine Proprädevtik zur Transscendental-Philosophie, nicht das System dieser Philosophie selbst, liefern wollen, mir unbegreiflich ist. Es hat mir eine solche Absicht nie in Gedanken kommen können, da ich selbst das vollendete Ganze der reinen Philosophie in der Crit. der r. V. für das beste Merkmal der Wahrheit derselben gepriesen habe.«⁶ Die Frage nach dem System, nach dem richtigen System, ist, wie man sieht, schon bei Kant umstritten. Es sind vor allem die Jahre von etwa 1790 bis 1810, die eine rasche Folge von Systemdarstellungen hervorbrachten. Es ging zunächst um die Vollendung der Transzendentalphilosophie Kants in einem System, dann aber auch um eine neue große Synthese der Philosophie, in der das ganze Wissen zusammenfließen sollte. Mit dem System wird der Zusammenhang des Wissens thematisch. Und dass die Systemfrage offen und umstritten bleibt, ist ein deutliches Zeichen für Bedeutung, Radikalität und Dynamik eines auf das Wissen und seine Möglichkeitsbedingungen gerichteten Nachdenkens. Um diese streitbare und höchst wechselvolle, ganz veränderliche und sich entwickelnde philosophische Debatte darzustellen, verzichte ich auf Einzeldarstellungen zu Kant, Fichte, Schelling, Hegel. Mir kommt es mehr auf die Lebendigkeit der Auseinandersetzungen an. Ich will Abgrenzungen, Unterschiede aufsuchen, Debatten und Diskussionen nachzeichnen. Ich will mich auf die inneren Berührungspunkte und philosophisch-systematischen Kontroversen stützen und zeigen, dass die klassische deutsche Philosophie kein homogener Block im Prinzip gleichgesinnter Denker war, sondern ein Haufen höchst unterschiedlicher, sich in verschiedene Richtungen radikalisierender Intellektueller. Mir kommt es darauf an, konzeptionelle Querlinien durch die Klassische deutsche Philosophie zu ziehen. Dadurch will ich eine bloß historische Aufschlüsselung der Texte vermeiden – keine historische Erzählung der Personen und Gedanken, keinen Ahnengalerie des vergangenen Denkens. Es kommt mir darauf an, das philosophische Potential zu befreien. Es soll um Argumente gehen, nicht, wie heute gerne, nur um Informationen. Das Potential des Deutschen Idealismus bemisst sich an seiner argumentativen Kraft, an der Fähigkeit, vielschichtige kulturelle und wissenschaftliche Themen in ihrer Komplexität darzustellen und philosophisch zu beleuchten.
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Immanuel Kant: Erste Einleitung in die Kritik der Urtheilskraft, AA XX, S. 195. Immanuel Kant: »Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre« (7. August 1799), in: AA XXII, S. 370 f.
Kapitel 2
Ein neuer Spielraum für die Philosophie 2.1
Der Aufbruch der Transzendentalphilosophie
Die Frage nach dem Weltanfang ist keine Frage, die sich zwangsläufig stellt: In einer zyklischen Auffassung des Weltlaufs hat sie keinen Sinn; in einer mythologischen Vorstellung einer Schöpfung ist sie längst beantwortet; in einer Alltagskultur ist sie schlechthin irrelevant. Wird diese Frage dennoch aufgeworfen – so scheint es –, hat sie etwas mit dem Selbstverständnis des Menschen zu tun, nämlich mit seinem Selbstverständnis als rationales Wesen. Die Frage belässt die Welt nicht in ihrem gewöhnlichen Gegebensein; sie hakt nach, und zwar mit dem Ziel, die chaotische Zufälligkeit und Kontingenz der Welt zu überwinden: Die Welt selbst soll so fest gegründet und verlässlich sein wie die Rationalität, vielleicht sogar wie ihr verlässlichstes Instrument, wie die Mathematik. Diese Frage setzt ein mehr oder minder aufgeklärtes Weltbild voraus. Das Fragen nach dem ›Warum‹ muss schon in einer Weise etabliert sein, die das Fehlen des begründeten ›Darum‹ als ernstzunehmendes Problem wertet. Heute denken wir beim Weltanfang vor allem an den Urknall. Physiker bezeichnen damit ein Modell, das erklärt, wie die physikalischen Prozesse in unserem Universum entstanden sind. Sie verstehen darunter einen angenommenen Punkt, an dem Materie, Raum und Zeit aus einer ursprünglichen Singularität entstehen. Die Singularität bezeichnet einen modellhaften Horizont, in dem die uns bekannten physikalischen Gesetze keine Gültigkeit haben. Der Urknall ist der Anfang der Entstehung von Materie und Raumzeit. Als solcher ist er kein empirisches Faktum, sondern eine gut belegte Hypothese. Er bezeichnet einen Anfangspunkt, der aus der Expansion des Weltalls und aus den physikalischen Gesetzen folgt. Die Physiker rechnen die Expansion bis zu einer Zeit zurück, an dem alle Energie und Materie auf einem Punkt zusammengedrängt ist. Die Energiedichte geht dann gegen unendlich. Daher nimmt man für eine unvorstellbar kurze Zeit unmittelbar nach dem Urknall eine unvorstellbare Temperatur an: in der sogenannten Planck-Ära, 10-⁴³ Sekunden nach dem Urknall, rechnet man mit einer Temperatur von etwa 10³² Kelvin – im Vergleich: Die Kerntemperatur unserer Sonne liegt bei rund 16 Millionen Kelvin, und das ist schon unvorstellbar heiß. Der Urknall jedenfalls ist das gängige Anfangsmodell der Physik, das die meisten Wissenschaftler für plausibel halten. Ist damit aber auch das philosophische Problem des Anfangs gelöst? Im Gegenteil: Es zeigt sich vielmehr, dass das Anfangsproblem in der modernen Physik zugleich ein Sinnproblem nach sich zieht. Der aus dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik folgende ›Wärmetod‹ des Universums beunruhigt viele Autoren
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2. Kapitel: Ein neuer Spielraum für die Philosophie
des beginnenden 20. Jahrhunderts. Sie sind der Auffassung, dass die völlige Vernichtung des Universums gleichzeitig allen innerweltlichen Sinn vernichtet. Das Dasein des Lebens und der Intelligenz wäre zwecklos, wenn im endgültigen Kollaps der Welt Raum und Zeit vernichtet werden und jede Entwicklung im Nichts endete. So schreibt Betrand Russell, der wohl jeder Metaphysik unverdächtig ist, am Beginn des 20. Jahrhunderts, dass die Welt der modernen Naturwissenschaften in ungeahntem Maße zweck- und sinnlos geworden sei. »Dass der Mensch ein Ergebnis von Ursachen ist, die den Zweck, den sie erzielen würden, nicht vorhersehen konnten; dass sein Ursprung, sein Werden, seine Hoffnungen und Ängste, sein Lieben und Glauben nichts anderes sind als das Ergebnis einer zufälligen Anordnung von Atomen; dass keine Leidenschaft und kein Heldentum, keine Intensität des Denkens und Fühlens das individuelle Leben vor dem Grab bewahren kann; dass all die Bemühungen von Äonen, all die Hingabe, all die Inspiration, alle Mittagshelle des menschlichen Genius dem Untergang im Tod des Sonnensystems geweiht sind; und dass der ganze Tempel menschlicher Errungenschaften unvermeidlich in den Ruinen und Trümmern des Universums begraben werden soll – all diese Dinge sind zwar nicht gänzlich unumstritten, doch so annähernd gewiss, dass keine Philosophie, die sie verwirft, auf Bestand hoffen darf. Nur innerhalb des Gerüsts solcher Wahrheiten, nur auf dem festen Fundament unnachgiebiger Verzweiflung kann die Wohnstätte der Seele künftig sicher errichtet werden.«¹ Diese Überlegung ist ein klassisches Symptom der Moderne. Bereits am Ende des 18. Jahrhunderts wird den Philosophen immer klarer, dass das Weltbild der Physik keinen Gott mehr braucht. Gleichzeitig geraten die Grundpfeiler der Metaphysik ins Wanken. Das Resultat war schon damals ernüchternd und ist von vielen Zeitgenossen als Skandal aufgefasst worden: Gott kann nicht mehr den Sinn der Welt garantieren, und ihre Folgerung war ähnlich wie bei Russell über einhundert Jahre später, dass nun der Mensch selbst aus sich heraus sinnstiftend sein müsse. Die Vernunft solle autonom werden. Nicht Gott schreibe der Welt und den Menschen die Gesetze vor, sondern der Mensch müsse das nun in all seiner Endlichkeit selbst tun. In gewisser Hinsicht verbietet die moderne Kosmologie mit ihrem UrknallModell weiterzufragen. Das Fragen reicht nicht hinter den Urknall zurück und nicht über den Wärmetod hinaus. Wenn mit dem Urknall die Zeit entsteht, dann kann man nicht fragen, was vorher war. Der christliche Kirchenlehrer Augustinus fragt in seinem Buch Bekenntnisse: »›Was machte Gott, bevor er Himmel und Erde machte?‹ Ich gebe nicht das zur Antwort, was jemand gesagt haben soll, der mit einem Witzwort der schwierigen Frage ausweichen wollte und sagte ›Er baute eine Hölle für die Leute, die zu hohe Dinge erforschen wollen.‹ […] Bevor Gott Himmel und Erde machte, machte er nichts.«² Für Augustin ist unbestreitbar, dass zumindest Gott war, und zwar auf die Weise der Ewigkeit.
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Bertrand Russel: »Was der freie Mensch verehrt«, in: Der Sinn des Lebens. (Hg.) Christoph Fehige, Georg Meggle, Ulla Wessels. München 2000, S. 341-347. Augustinus Conf. 11, XII. 14. – Zitiert nach: Augustinus Bekenntnisse, hrsg. v. Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch, Stuttgart 1989, S. 312.
2.1. Der Aufbruch der Transzendentalphilosophie
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Die Philosophie fragt auf andere Weise nach dem Anfang. Man könnte sagen, dass sie radikaler fragt und nicht bei der Entstehung unseres Universums stehenbleibt. Die moderne Kosmologie schließt keinen Gott aus, der die Welt geschaffen hat. Aber sie braucht ihn auch nicht. Sie kommt völlig ohne Gott aus.³ Ich will versuchen, kurz zu rekonstruieren, wie sich das Anfangsproblem in der Philosophie und insbesondere bei Immanuel Kant stellt. Bereits Thales – so berichtet Aristoteles im ersten Buch der Metaphysik – habe nach einem Anfang gesucht. Ihm sei es um einen stofflichen Urgrund gegangen, um eine stoffliche archē der Dinge, aus der alles ursprünglich entsteht und in die alles sich letztendlich auflöst. Dieser Urgrund als stoffliche Substanz sei selbst unvergänglich, wenn auch alles, was sich aus ihm zusammensetzt und besteht, vergänglich sei. Thales – so Aristoteles weiter – habe diesen Urgrund im Wasser erkannt.⁴ Bei allen Schwierigkeiten, die mit dem Begriff Anfang verknüpft sind – insbesondere in der terminologischen Vermischung von Beginn, Element und Grund –, kann man hier leicht einsehen, dass die Philosophie bereits an ihrem Anfang nach einem Anfang suchte. Der fragenden Rationalität ist es eingeschrieben, auf einen Anfang zu reflektieren. Der Philosophie wohnt ein Impuls inne, nach Gründen zu suchen. Hier, in diesem Anfang, in diesem Prinzip, legt sie sich fest, begründet sich und die Rationalität und Perspektivität ihrer Weltauffassung. In der Geschichte des europäischen Denkens ist der Reflex auf den Anfang, auf ein Prinzip, auf einen festen Grund niemals gänzlich verschwunden. Begründete Rationalität ist auf einen Grund angewiesen. Stabilität, Allgemeinheit und Wert philosophischen Denkens richten sich an der Begründetheit ihrer Argumente aus, sind deshalb abhängig von Anfang und Prinzip. Selbst in der unverkennbar modernen Auffassung von der Unbegründbarkeit allen Wissens und Handelns scheint der philosophische Habitus hindurch: den Anfang zu suchen, nun aber im Ungrund. Rationalität, in welcher Spielart auch immer, ist daher mit dem Begriff des Anfangs anfänglich verknüpft. Die Beantwortung der Frage nach dem Anfang dürfte auf Form und Inhalt des philosophischen Denkens große Auswirkung haben. Deshalb lässt sich formulieren: Nach der Philosophie des Anfangs zu fragen heißt, nach dem zu fragen, was einer Philosophie zugrunde liegt und sie – letztlich – in Form und Inhalt bestimmt. Die jüdisch-christliche Überlieferung und ihr Eintrag in die Gedankenwelt der westlichen Philosophie hatten entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der 3
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Allerdings gibt es Versuche, die Existenz Gottes oder sein Entstehen durch die kosmologische Konstruktionen aufzuzeigen (zu beweisen, wäre etwas übertrieben). Dabei ist allerdings von einem innerweltlichen Gott die Rede, den bestimmte Kosmologien brauchen, um den Sinn der Welt wiederum in der Welt zu verankern. Die beginnende Transzendentalphilosophie suchte freilich einen anderen Weg. Aristoteles, Met. I, 3, 983b6 ff. – Zur Einbettung der Fragestellung in die Philosophiegeschichte vgl.: Heinz Heimsoeth: »Zeitliche Weltunendlichkeit und das Problem des Anfangs. Eine Studie zur Vorgeschichte von Kants Erster Antinomie«, in: ders., Studien zur Philosophiegeschichte. (Kantstudien Ergänzungshefte; 82), Köln 1961, S. 269–292. Zu diesem immer noch lesenswerten Aufsatz bleibt anzumerken, dass Kant selbst allerdings diese ›Vorgeschichte‹ nur in Auszügen bekannt gewesen sein dürfte, was die Aussagekraft für die Entwicklung der Philosophie Kants ›relativiert‹.
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Anfangsproblematik. Man kann sogar zu der Überzeugung gelangen, dass der jüdisch-christliche Schöpfungsmythos durch seine Verschmelzung mit den aufklärerischen und den – zumindest zum Teil vernunftoptimistischen – Konzepten der griechischen Philosophie ein in sich widersprüchliches Theoriegebilde hervorbrachte, das nicht nur zu gelegentlichen Korrekturen, sondern zu erbitterten Kontroversen Anlass geben musste: eine tiefe Kluft in der Entwicklung spätantiker christlicher Theorien, eine Kluft, die zugleich druckvoller Quell spekulativer Sorge um die Einheitlichkeit einer sich als allgemeingültig verstehenden Weltauffassung war. Für die pagane Antike insgesamt⁵ und für Aristoteles insbesondere war eine Schöpfung aus Nichts undenkbar. Aristoteles betonte, etwa im 7. Buch der Metaphysik,⁶ Form und Materie seien ewig, Entstehen und Vergehen könnten nur an dem aus Form und Materie Zusammengesetzten auftreten. Unvereinbar mit dieser philosophischen Theorie war die christliche Auffassung, Gott habe die Welt aus Nichts geschaffen. In den ins Griechische übersetzten alttestamentlichen und frühchristlichen Texten, die zum Kanon der Bibel zusammengestellt wurden, fanden die nachmaligen christlichen Gelehrten an zwei wichtigen Stellen das Wort archē, und zwar in Gen 1,1 (»Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.«) und in Joh 1,1 (»Im Anfang war das Wort …«). Damit war der christlich-philosophischen Tradition ein Problem entstanden, das stets für Unruhe sorgte, so etwa im Jahre 1277 als der Bischof von Paris unter anderem die These verurteilte, die Welt habe keinen zeitlichen Anfang.⁷ Der Verurteilung lag ein Streit zugrunde, ob Aristoteles die Ewigkeit der Welt behauptet habe, und wenn er sie behauptet habe, ob diese Behauptung haltbar und mit der Offenbarung vereinbar sei. Thomas von Aquin hielt sie zumindest einer rationalen Diskussion für fähig, während Bonaventura sie von vornherein für »unphilosophisch und verrückt«⁸ hielt. Siger von Brabant schließlich radikalisierte im Anschluss an Averroes die aristotelisierende Position. Diese Gemengelage ließ die Frage nach einem Anfang der Welt zu einem der zentralen Themenkomplexe der Verurteilung von 1277 werden. Hinzuweisen ist hier auf Giordano Bruno oder aber – und dies ist ein theologisch-philosophisches Streitfeld, das noch in die Zeit Kants hinein wirksam war – auf Christian Wolff.⁹ Noch
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Problematisch ist hier der Platonische Timaios, dessen Kosmogonie – fälschlicherweise – als eine Schöpfung aus Nichts interpretiert werden könnte. Insgesamt ist dieser Gedanke jedoch der griechischen Antike weitgehend fremd. Vgl. Aristoteles: Phys. VIII, 1; De coelo I, 10–12, 279b-238b. Vgl. insbesondere die Thesen 4, 87–91, 93–95, 98–99. Textausgabe: Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs von Paris übersetzt und erklärt von Kurt Flasch. (excerpta classica. 6), Mainz 1989. Vgl. Kurt Flasch: Aufklärung im Mittelalter?, S. 31. Anlass war eine Stelle (§ 1075) in Christian Wolffs Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Halle 1720), an der er argumentiert: Gott sei nicht in der Zeit, die geschaffene Welt, obwohl von Gott von Ewigkeit hervorgebracht, dennoch in der Zeit, deshalb nicht in gleicher Weise ewig wie Gott. Der Pietist J. Lange nutzte diese Stelle um gegen Wolff zu polemisieren. Er machte ihm den Vorwurf, Wolff habe die Ewigkeit der Welt gelehrt und beschuldigte ihn
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Kants Königsberger Lehrer, Martin Knutzen, hatte in seiner Dissertatio metaphysica de aeternitate mundi impossibili (Königsberg 1733) zu dem Problem entschieden Stellung bezogen.¹⁰ Freilich hat sich die Einbettung der Prinzipienfrage nach dem Anfang stark verändert. Seit Descartes werden derartige metaphysische Fragen immer auch unter methodologischer Perspektive verhandelt. Für die Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie ist diese methodologische Wende von größter Bedeutung. Das zeigt sich nicht zuletzt bei Kant. Dessen Behandlung, Verwertung und Verwandlung eines metaphysischen Kernproblems ist ein gutes Beispiel für die transzendentale Methode. Kants Antwort – um das vorweg zu nehmen – entscheidet den kosmologischen Streit nicht kosmologisch. Seine Idee besteht darin, den Konflikt (Antinomie) zwischen den entgegegesetzten Thesen: ›Die Welt hat einen zeitlichen Anfang‹; ›die Welt hat keinen zeitlichen Anfang‹ – als eine Illusion (Schein) unserer Vernunft zu entlarven. Das Modell der Schöpfung aus Nichts kann daher nicht als wissenschaftliche Erklärung dienen. Damit ist aber auch die Sinnfrage, die hinter der Kosmologie verborgen ist, nicht geklärt. Wenn die Welt einen Sinn haben soll, muss er aus einer anderen Quelle kommen als aus dem Willen Gottes zur Schöpfung. Im Folgenden wende ich mich Kants Auffassung von der Frage nach dem Anfang der Welt zu. Hier zeigt sich, dass das Lösungspotential und die Funktionsweise der transzendentalen Methode auf eine moderne Lokalisierung und Entschärfung metaphysischer Fragen zielen. Gleichzeitig kann die Betrachtung des Problems bei Kant augenscheinlich machen, dass sich die Moderne unumkehrbar Bahn bricht. Anfang und Anfangslosigkeit der Welt entlarvt Kant als Spiegelfechtereien der Vernunft. Die Vernunft ist daher auf sich selbst zurückgeworfen. Sie ist selbst ihr eigener Grund, und die Frage nach dem Anfang verweist auf ihre eigene radikale Endlichkeit. Nun sticht die methodologische Seite des Problems hervor. Wie kommt es zu der scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeit, die mit dem Denken des Anfangs, vor allem mit dem Denken des Weltanfangs so unlösbar verbunden zu sein scheint? Liegt der Grund vielleicht in der Art und Weise, in der wir den Anfang denken? Dann steht die Rationalität selbst auf dem Prüfstand. Der Brennpunkt der Frage verschiebt sich von der Welt und ihrem Anfang hin zur forschenden Vernunft. Das Problem des Weltanfangs Noch die Vorrede zur Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newton’schen Grundsätzen abgehandelt (1755) zeigt Kants Befürchtung, des Atheismus. – Vgl.: Gottfried Martin: »Zu den Voraussetzungen und Konsequenzen der Kantischen Antinomienlehre«, in: Blätter für deutsche Philosophie 14 (1940/1), S. 260–264; ebenfalls abgedruckt in: ders., Gesammelte Abhandlungen I. (Kantstudien Ergänzungshefte; 81), Köln 1961, S. 51–54. 10 Vgl. Benno Erdmann: Martin Knutzen und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Wolfischen Schule und insbesondere zur Entwicklungsgeschichte Kants, Leipzig 1876; Repr. Nachdr. Hildesheim 1973; hier insb. S. 99.
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dass sich jede Theorie, die an der Schöpferrolle Gottes Zweifel hegt, in das Schnittfeld religiös-philosophischer Probleme begibt: »Ich habe«, sagt Kant, »nicht eher Anschlag auf dieses Unternehmen gefasset, als bis ich mich in Ansehung der Pflichten der Religion in Sicherheit gesehen habe.«¹¹ Was eine Weltentstehung durch Naturkausalität für die Religion inakzeptabel macht, formuliert Kant deutlich: »Der Verteidiger der Religion besorgt: daß diejenigen Übereinstimmungen, die sich aus einem natürlichen Hang der Materie erklären lassen, die Unabhängigkeit der Natur von der göttlichen Vorsehung beweisen dörften. Er gesteht es nicht undeutlich: daß, wenn man zu aller Ordnung des Weltbaues natürliche Gründe entdecken kann, die dieselbe aus den allgemeinsten und wesentlichen Eigenschaften der Materie zu Stande bringen können, so sei es unnötig, sich auf eine oberste Regierung zu berufen.«¹² Eine mechanistische oder naturalistische Erklärung der Weltentstehung bringt Kant, so ist seine Befürchtung, in die Nähe eines modernen Epikureismus, d. h. nach der Terminologie der Zeit: – in die Nähe des Atheismus. Denn, so lautet die Selbsteinschätzung Kants, eine gewisse Ähnlichkeit mit der Meinung des Epikur sei durchaus zu erkennen.¹³ Die Konsequenz eines Atheismus möchte er allerdings nicht ziehen: »[E]s ist ein Gott eben deswegen, weil die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren kann.«¹⁴ Das betrifft nicht nur die rein wissenschaftliche Beantwortung dieser Frage, die in dem Versuch besteht, die Newton’sche Mechanik für die Kosmogonie fruchtbar zu machen. Vielmehr ist es für Kant eine höchst wichtige Aufgabe, die Freiheit Gottes mit der Naturkausalität abzugleichen, ein, so könnte man sagen, außertheoretisches Problem. Allerdings formiert sich in dieser Verflechtung bereits das kritische Potential, und es zeigt sich ein gewisser Problemdruck, der nur auf einer über die Theorie hinausgehenden, will sagen: methodologischen Ebene reformuliert und gelöst werden kann. Eine Theorie der Weltentstehung kongruiert freilich nicht notwendig mit der weitergehenden Fragestellung, ob die Welt einen Anfang hat oder nicht. Denn selbst wenn man einer naturalistischen Erklärung der Weltentstehung den Vorzug lässt, muss man nicht gleichzeitig einräumen, dass die Welt einen Anfang hat; denkbar ist nämlich, dass die Entstehung unserer raum-zeitlichen Welt nur ein Glied ist in einer unendlichen Kette von Weltentstehungen und -untergängen. Eine naturalistische Weltentstehungstheorie kann also mit der Behauptung zusammen bestehen, die Welt habe keinen Anfang in der Zeit. Die erste Behauptung ist kosmologisch, die zweite metaphysisch. Aber eine Gemeinsamkeit haben beide Fragestellungen: Sie bewegen sich in einem Feld empiriefreier Theorie. Die Weltentstehung, das lag Kant klar vor Augen, kann genauso wenig beobachtet werden, wie andererseits die Frage nach einem ersten Anfang der Welt jemals empirisch entschieden werden dürfte. Damit eröffnet sich ein weiteres Spannungsfeld, nämlich das von Erfahrung und reinem Denken, Verstand und Vernunft. Auch dieser
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Immanuel Kant: Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels, AA, I, S. 221. Ibid., S. 223. Vgl. ibid., S. 222. Ibid., S. 228.
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Aspekt der Frage nach dem Weltanfang führt die Untersuchung auf ein methodologisches Gebiet. Bereits ein Vierteljahrhundert vor dem Erscheinen seiner Kritik der reinen Vernunft war der Weltanfang für Kant ein gravierendes Problem. Als Wendepunkt von der dogmatischen zur kritischen Beantwortung des Problems ist bisher stets das Jahr 1769 genannt worden.¹⁵ Anlass gab eine Reflexion aus dem Nachlass, in der Kant sich über die Entwicklung seiner kritischen Philosophie, insbesondere seiner Antinomienlehre, äußerte: »Ich sahe anfänglich diesen Lehrbegriff wie in einer Dämmerung. Ich versuchte es ganz ernstlich, Sätze zu beweisen und ihr Gegentheil, nicht um eine Zweifellehre zu errichten, sondern weil ich eine illusion des Verstandes vermuthete, zu entdecken, worin sie stäke. Das Jahr 69 gab mir großes Licht.«¹⁶ Letzthin ist diese These mit guten Argumenten bestritten und frühestens das Jahr 1773 als Wendepunkt genannt worden.¹⁷ Kant spricht von einander widersprechenden Sätzen, deren Gültigkeit er dennoch zu beweisen versucht. Es geht ihm dabei nicht nur um landläufige Widersprüche, sondern um einen ernsthaften Konflikt zweier theoretischer Aussagen, die für sich jeweils beanspruchen, gesetzmäßig hergeleitet zu sein. Kant bedient sich zur Bezeichnung dieses Phänomens eines ursprünglich juristisch geprägten Begriffs: Antinomie.¹⁸ Eine Antinomie ist ein Widerspruch der Gesetze. Datierung und Entwicklung von Kants Antinomienlehre stehen in direktem Zusammenhang mit seiner Lehre von der Idealität von Raum und Zeit. Wie formuliert nun Kant die Frage nach dem absoluten Anfang und was sind die Schwierigkeiten? Im Zentrum steht bei Kant der Begriff der Kausalität, eine Zentralkategorie der wissenschaftlichen Rationalität in der Neuzeit. Sollte dieser Begriff sich in Bezug auf eine der wichtigsten theoretischen Hauptfragen als inkonsistent oder inkompetent erweisen, dürfte sich die wissenschaftliche Rationalität der skeptischen Einwänden nicht wirklich erwehren können. In der physikalischen Welt – Kant nennt sie jetzt die Welt der Erscheinungen – folgt stets die Wirkung auf eine Ursache, und zwar in der Zeit. »Die Ursache muß angefangen haben zu handeln, denn sonst ließe sich zwischen ihr und der Wirkung keine Zeitfolge denken.«¹⁹ Wenn die Ursache aber angefangen hat zu handeln, so muss es eine weitere Ursache geben, die sie zum Anfangen bestimmt hat. Für diese Ursache, nämlich die der Bestimmung der Ursache anzufangen, gilt dasselbe wie 15 Wegweisend war hier die Edition von Texten Kants zur theoretischen Philosophie durch Benno Erdmann, der in seinem Vorwort eine Entwicklungsgeschichte der Kantischen Philosophie versuchte: Benno Erdmann: »Die Entwicklungsperioden von Kants theoretischer Philosophie«, in: ders., Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie. Bd. II: Reflexionen Kants zur Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1844, S. XXIV-XLIX; ferner: Lothar Kreimendahl: Kant – der Durchbruch von 1769, Köln 1990. 16 Kant: Reflexion 5037, AA, XVIII, S. 69. 17 Vgl. Brigitte Falkenburg: Kants Kosmologie. Die wissenschaftliche Revolution der Naturphilosophie im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2000, S. 135–175. 18 Der Sache nach lässt sich das Phänomen der ›Antinomie‹ sicher bis zu Platon zurückverfolgen, terminologisch findet sich der Begriff aber in der späteren Antike. 19 Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, AA, IV, S. 343 f.
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zuvor, so dass in der physikalischen Welt stets die Wirkung auf ihre Ursache folgt, die wiederum selbst Ursache einer Wirkung ist, die eine Ursache hat usw. Es zeigt sich hier für Kant nicht nur ein unendlicher Regress, der es unmöglich macht, von einer ersten Ursache oder einem absoluten Anfang zu sprechen; es zeigt sich darin zugleich die unabwendbare Notwendigkeit, mit der die Naturprozesse ablaufen. Für die Welt der Erscheinungen gilt ein strenger Determinismus. Wirkung und Ursache folgen stets notwendig aufeinander. Der erste Anfang sei daher etwas, sagt Kant, »an dem die Physik überhaupt scheitert, sie mag es mit einer Kette der Ursachen versuchen, mit welcher sie wolle […].«²⁰ Kants Lehre von der Antinomie Die Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft lebt noch ganz von dem Impuls, die wissenschaftliche Rationalität gegen ihre Feinde zu verteidigen: Kant nennt Dogmatismus, Skeptizismus und Indifferentismus. Das Programm der Kritik der reinen Vernunft möchte er als Kritik des Vernunftvermögens überhaupt betrachtet wissen, »in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie [die Vernunft; Ch. A.], unabhängig von aller Erfahrung streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Gränzen derselben, alles aber aus Principien.«²¹ Auch die Theologie, die zur Zeit Kants noch Anspruch machte auf erfahrungsunabhängige Erkenntnisse, sollte sich diesem Programm unterwerfen. »Unser Zeitalter«, so Kant, »ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.«²² So ist es nur folgerichtig, dass Kant den Verfasser eines Buches tadeln zu können glaubt, »der darin etwa die einfache Natur der Seele, oder die Nothwendigkeit eines ersten Weltanfanges zu beweisen vorgiebt. Denn dieser macht sich anheischig, die menschliche Erkenntniß über alle Gränzen möglicher Erfahrung hinaus zu erweitern, […].«²³ Zwei wichtige Einschätzungen Kants lassen sich unterscheiden: (1) Die Kritik der reinen Vernunft zielt auf die Dialektik als den zweiten großen Hauptteil der Transzendentalen Logik. Oft genug konzentrieren sich die KantAusleger auf den ersten Teil, auf die Ästhetik und die transzendentale Analytik. Das ist mehr als nur eine Akzentverschiebung. Es steht zu befürchten, dass manch einer das argumentative Anliegen der Kritik der reinen Vernunft damit sicher verfehlt. Die Kritik begrenzt die mögliche Erkenntnis auf die stets mit Sinnlichkeit verbundene Erfahrung. Die Kritik ist folglich keine Darstellung und Untersuchung der Entstehung und des Zustandekommens unserer Erkenntnisse. Die transzendentale 20 21 22 23
Immanuel Kant: Kritik der Urtheilskraft, (=KdU) AA, V, S. 424. Kant: Kritik der reinen Vernunft, 1. Auflage (=KrV A) AA, S. 9. Kant: KrV A AA, S. 9. Ibid., S. 9.
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Ästhetik zeigt ihre erkenntnistheoretische Bedeutung erst in ihrer Anwendung in der Dialektik.²⁴ (2) Das Problem des Weltanfangs gehört zu den zentralen Fragestellungen in der Kritik der reinen Vernunft. Kant anerkennt ein genuines Interesse der Vernunft, Klarheit darüber zu erlangen, ob die Welt einen Anfang habe oder nicht. »[D]as sind Fragen, um deren Auflösung der Mathematiker gerne seine ganze Wissenschaft dahin gäbe.«²⁵ Neben der Vorrede zur ersten Auflage kann man auch die Einleitung zur Transzendentalen Dialektik heranziehen, in der Kant einen über die Grenzen der Erfahrung hinaus ausgeweiteten Gebrauch der Erkenntnisvermögen erläutert, indem er als Beispiel auf die Spekulationen über einen Weltanfang verweist. Denn der transzendentale Schein, der seinen Grund in einer natürlichen Anlage des Menschen hat, »hört gleichwohl nicht auf, ob man ihn schon aufgedeckt und seine Nichtigkeit durch die transscendentale Kritik deutlich eingesehen hat (z. B. der Schein in dem Satze: die Welt muß der Zeit nach einen Anfang haben).«²⁶ Gleichwohl muss diese natürliche Anlage des Menschen einen Sinn haben, d. h., sie muss im ganzen System der Erkenntniskräfte eine Funktion ausfüllen²⁷ und folglich der aus ihr entstehende Schein, ein notwendiges, jedoch nicht ihr wesentliches Produkt sein. Ja, Kant wünscht sich sogar kritische Leser, die sich hauptsächlich mit der Antinomie beschäftigen, »weil die Natur selbst sie aufgestellt zu haben scheint, um die Vernunft in ihren dreisten Anmaßungen stutzig zu machen und zur Selbstprüfung zu nöthigen.«²⁸ Darin unterscheidet sich die Vernunft – nach Kant – grundsätzlich vom Verstand, der in all seinen Urteilen auf die Sinnlichkeit angewiesen ist und erfahrungsgesättigtes Wissen hervorbringt. Die Antinomie bildet ein besonderes Phänomen des menschlichen Geistes, »nämlich: eine ganz natürlichen Antithetik, auf die keiner zu grübeln und künstlich Schlingen zu legen braucht, sondern in welche die Vernunft von selbst und zwar unvermeidlich geräth.«²⁹ Kant betont, dass es bei der Antinomie nicht um den empirischen Irrtum geht. In der Übereinstimmung der Sinnlichkeit mit den Gesetzen des Verstandes bestehe das Formale aller Wahrheit. So ist die Sinnlichkeit
24 Zur Diskussion um die Bedeutung der Dialektik vgl. bereits: Émile Boutroux: La philosophie de Kant, Paris 1926, S. 142–158. Boutroux argumentiert gegen eine Vernachlässigung der Dialektik. Sie sei kein bloßer Anhang der Erkenntnistheorie. Von einer Vernachlässigung kann indes keine Rede sein. Vgl. beispielsweise: Otfried Höffe: Immanuel Kant, München 1983, S. 44–50. 25 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage (=KrV B) AA, III, S. 491. 26 Ibid., S. 353. 27 »In den Naturanlagen eines organisirten, d. i. zweckmäßig zum Leben eingerichteten, Wesens nehmen wir es als Grundsatz an, daß kein Werkzeug zu irgend einem Zwecke in demselben angetroffen werde, als was auch zu demselben das schicklichste und ihm am meisten angemessen ist.« Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA, IV 395. 28 Immanuel Kant: Prolegomena, AA, IV, S. 341. 29 Immanuel Kant: KrV B, AA, III, S. 282. – Zum Begriff ›Antinomie‹ bei Kant instruktiv: Norbert Hinske: Artikel ›Antinomie‹, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, Sp. 393–395; ders.: »Kants Begriff der Antinomie und die Etappen seiner Ausarbeitung«, in: Kant-Studien 56 (1966), H. 3–4, S. 485–496.
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unfähig, Irrtümer zu produzieren, weil sie für sich allein überhaupt keine Urteile bildet. Erst ein schleichender und nicht zu Bewusstsein gelangter Einfluss der Sinnlichkeit auf den Verstand schafft Irrtümer und Fehler in der Beurteilung. So ist die Sinnlichkeit einerseits »der Quell realer Erkenntnisse«, andererseits »Grund des Irrthums«.³⁰ Man könnte das auch anders formulieren: Gerade weil im Zusammenspiel der Vermögen Irrtum möglich ist, kann es überhaupt zu Erkenntnisfortschritt kommen. Irrtum und Wissen bedingen einander wechselseitig. In der Antinomie kommt es zu einem Widerstreit der Vernunft mit sich selbst. Da sich dieser Widerstreit um rein metaphysische Fragestellungen dreht, ist ein Abgleich mit der und eine Entscheidung durch die Erfahrung nicht nur nicht zu erwarten, sondern völlig unmöglich. Die Vernunft gerät mit sich selbst in Zwist und Hader, wenn sie im Bereich der Metaphysik operiert, bei der keine Erfahrung zurate gezogen werden kann. Die Vernunft kann sich nicht mit der Sinnlichkeit und einem falsch urteilenden Verstand entschuldigen. Der Fehler entsteht nämlich weder in der Sinnlichkeit noch im Verstand. Das Dilemma ist hausgemacht: Es ist die Vernunft ganz für sich allein, die durch ihre metaphysischen Ansprüche in eine Antinomie gerät. Dabei geht Kant mit einem großen Teil der Tradition davon aus, dass nur durch die Vernunft notwendige und allgemeine Wahrheiten erkannt werden können. Die Kritik der reinen Vernunft will genau dies: prüfend erkunden, welchen Wert die Erkenntnisse der Vernunft besitzen, wenn sie ohne Erfahrungsinhalte nur für sich Inhalte denkt. Bezogen auf den Weltanfang ist es das Ziel Kants, eine Kritik der reinen, das heißt der erfahrungsunabhängigen Kosmologie zu liefern. Das Ergebnis Kants wird die Unangemessenheit der kosmologischen Idee für empirische Erscheinungen zeigen.³¹ In der ersten Antinomie kommt es zum Widerstreit der Sätze: »Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen« und: »Die Welt hat keinen Anfang und keine Grenzen im Raume,
30 Immanuel Kant: KrV B, AA, III, S. 235. 31 Vgl. zur Darstellung der transzendentalen Kosmologie, insbesondere der 1. Antinomie: Peter Krausser: »The First Antinomy of Rational Cosmology«, in: Philosophia Naturalis 19 (1982), S. 83–93; Otfried Höffe: Immanuel Kant, S. 143–151; Josef Schmucker: »Das Weltproblem in Kants Kritik der reinen Vernunft. Kommentar und Strukturanalyse des ersten Buches und des zweiten Hauptstücks des zweiten Buches der transzendentalen Dialektik«, in: Conscientia. Studien zur Bewußtseinsphilosophie, Bd. 18, Bonn 1990, S. 105–130; Léo Freuler: »Les antinomies cosmologiques de Kant«, in: Revue de Théologie et de Philosophie 124 (1991), S. 19–39; Hans Wagner: »Die kosmologische Antithetik und ihre Auflösung in Kants Kr. d. r. V.«, in: Hariolf Oberer (Hrsg.), Kant. Analysen – Probleme – Kritik. Bd. II, Würzburg 1996, S. 239–259; Peter Baumanns: Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehender Kommentar zu den Hauptkapiteln der Kritik der reinen Vernunft. Würzburg 1997; Lothar Kreimendahl: »Die Antinomie der reinen Vernunft, 1. und 2. Abschnitt (A405/B432-A461/B489)«, in: Georg Mohr und Marcus Willascheck (Hrsg.), Klassiker Auslegen. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1998, S. 413–446; Wolfgang Malzkorn: Kants Kosmologie-Kritik. Eine formale Analyse der Antinomienlehre, Berlin 1999; Brigitte Falkenburg: Kants Kosmologie, Frankfurt a. M. 2000.
2.1. Der Aufbruch der Transzendentalphilosophie
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sondern ist sowohl in Ansehung der Zeit als des Raums unendlich.«³² Hier möchte ich mich nur auf These und Antithese zur Frage des Weltanfangs beschränken. Im Mittelpunkt steht die Anschauungsform der Zeit, denn sie ist mit der Frage nach dem Anfang auf einer intuitiven Ebene unmittelbar verknüpft. Für die Frage nach dem Raum und seiner absoluten Begrenzung gilt dagegen sicher nicht, dass die Antinomie intuitiv einleuchtet. Kant muss umständlich argumentieren, um zu zeigen, dass auch der Raum mit einer ins Unendliche ausgeweiteten Reihe in Zusammenhang steht. Der Beweis für einen zeitlichen Anfang der Welt verfährt negativ oder indirekt, das heißt apagogisch, und konzentriert sich auf den Begriff einer unendlichen Reihe, eine Reihe, die durch fortschreitende Synthesis niemals vollendet sein kann. Unendlichkeit ist hier kein Maximum, sondern bezeichnet etwas, das größer ist als alle Zahl. Bis zu jedem gegebenen Zeitpunkt, z. B. dem gegenwärtigen Augenblick, müsste eine solche unendliche Reihe abgelaufen sein, wenn die Welt denn keinen Anfang haben sollte. Die unendliche Reihe ist aber durch jeden gegebenen Zeitpunkt vollendet, denn bis zu jedem Zeitpunkt müsste eine Ewigkeit vergangen sein, was aber unmöglich ist. »Der wahre (transscendentale) Begriff der Unendlichkeit ist: daß die sukzessive Synthesis der Einheit in Durchmessung eines Quantum niemals vollendet sein kann. Hieraus folgt ganz sicher, daß eine Ewigkeit wirklicher auf einander folgenden Zustände bis zu einem gegebenen (dem gegenwärtigen) Zeitpunkt nicht verflossen sein kann.«³³ Die Begrenzung durch einen gegenwärtigen Zeitpunkt mache es unmöglich, dass eine wirklich unendliche Reihe von realen Zuständen vorhergegangen ist. Die Welt muss also einen Anfang haben. Es ist immer schon bemerkt worden, dass dieser Beweisgang nicht gerade von selbst einleuchtet.³⁴ Man stellt sich hier gerne einen Zeitstrahl vor, der auf einer Seite durch einen Punkt, den von Kant sogenannten gegebenen Zeitpunkt, den gegenwärtigen Augenblick, begrenzt ist, in die Vergangenheit aber in die Unendlichkeit reicht. Warum sollte dieser Gedanke einen Widerspruch enthalten? Man muss drei Rahmenbedingungen in Kants Konstruktion berücksichtigen. Zunächst spricht er von der Ewigkeit als von der unendlichen Dauer³⁵ und nicht von einer unendlichen Menge von Zeitpunkten. Dann muss man berücksichtigen, dass die Analogie mit geometrischen Figuren, wie etwa einem Strahl, nur bedingt weiterhilft. Denn die Zeit verläuft nach Kants Vorstellung nur in eine Richtung. Der 32 Immanuel Kant: KrV B, AA, III, S. 295 33 Ibid., S. 298. – Kritisch – berechtigterweise – argumentiert hier bereits: Franz Erhardt: Kritik der Kantischen Antinomienlehre, Leipzig 1888, S. 4–9. Erhardt macht geltend, dass Kant im Begriff einer ›unendlichen Reihe‹ entweder offenlässt, ob sie in einer Richtung – durch Anfang oder Ende – begrenzt ist oder ob sie nur dann ›unendlich‹ ist, wenn sie auch durch keinen Jetzt-Zeitpunkt begrenzt ist. Zu diesem Ergebnis einer Ambivalenz oder Äquivokation im Unendlichkeitsbegriff kommt abschließend auch: Brigitte Falkenburg: Kants Kosmologie, S. 218–227, ins. S. 222 f., Anm. 94; S. 224 f. 34 Vgl. T. E. Wilkerson: Kant’s Critique of Pure Reason. A commentaty for students, Oxford 1976. 35 Vgl.Immanuel Kant: Reflexion 2732, AA, XVI, S. 490.
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2. Kapitel: Ein neuer Spielraum für die Philosophie
Strahl ist also nicht ›rückwärts‹ gerichtet, sondern ›vorwärts‹. Der Regress der Bedingungen hingegen läuft entgegen der Zeitrichtung, also rückwärts. Die Reihe der Bedingungen und die Reihe der Zeitpunkte verlaufen in entgegengesetzte Richtungen. Schließlich lohnt es sich darüber nachzudenken, dass Kant die vorhergehenden Zeitpunkte als eine Reihe von Bedingungen betrachtet, die nur in ihrer Vollständigkeit, das heißt Totalität, selbst unbedingt ist. Aus diesen drei Überlegungen folgt die vorläufige Plausibilität des Beweises. Die Aufeinanderfolge der Zeitpunkte hat eine Richtung: »Nun besteht eben darin die Unendlichkeit einer Reihe, daß sie durch sukzessive Synthesis niemals vollendet sein kann.«³⁶ Kant spricht hier nicht von der regressiven Reihe der Bedingungen, sondern von der progressiven Reihe der Zeitpunkte, der Aufeinanderfolge der Jetzt-Augenblicke. Der Begriff der unendlichen Dauer verbindet beide Zeitrichtungen. Jeder JetztAugenblick zeigt die Unvollständigkeit, Unvollendetheit und damit die Bedingtheit der vergangenen Reihe von Bedingungen. Der Widerspruch von unendlicher Dauer und Vollständigkeit der Reihe führt zur Widerlegegung der Thesis. Die Antithese, die Weltreihe habe keinen Anfang in der Zeit, beweist Kant – ebenfalls apagogisch – so: Ein Anfang ist dadurch bestimmt, dass zu einem gewissen Zeitpunkt ein Ding noch nicht ist. Gesetzt die Welt hätte einen Anfang, so muss der Welt eine Zeit vorangegangen sein, in der die Welt noch nicht existierte: eine leere Zeit. In einer leeren Zeit, so Kant, könne nichts entstehen, weil in einer leeren Zeit kein Kriterium vorhanden ist, einen Zeitpunkt von einem anderen zu unterscheiden. Ist das Entstehen unmöglich, ist auch der Anfang unmöglich. Der Welt einen Anfang setzen bedeutet, eine Zeit des absoluten Nichtseins anzunehmen, eine leere Zeit; aber leere Zeit, so Kant, sei ein Unding, eine in sich widersinnige Konsequenz. Also könne die Welt keinen Anfang haben.³⁷ Die Auflösung der Antinomie geschieht durch die Anwendung der Ergebnisse der transzendentalen Ästhetik und Analytik: Die Verstandesgesetze haben Gültigkeit nur für Erscheinungen und nicht für die Dinge, wie sie an sich sind. Es ist die Auffassung des transzendentalen Idealismus, dass »alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung nichts als Erscheinungen, d. i. bloße Vorstellungen, sind, die so, wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen oder Reihen von Veränderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben.«³⁸ Für Kant ist es eine Vernunftforderung, dass zu allem gegebenen Bedingten auch die Totalität der Bedingungen gegeben sein muss, welche letztlich in dem schlechthin Unbedingten als Möglichkeitsbedingung des gegebenen Bedingten bestehen muss. Diese Forderung leitet Kant aus dem logischen Gebrauch der Vernunft ab, stets die allgemeinen Bedingungen der Schlusssätze aufzusuchen. Da dieses Verfahren aber nicht mit der einmaligen Findung einer solchen allgemeineren Bedingung beendet ist, sondern erneut auf die gefundene Bedingung angewendet werden kann und soll, so ergeben sich letztlich Reihen von Bedingungen, die erst dann abgeschlossen sind, wenn das Unbedingte erreicht wird – als einheitliche Bedingung der ganzen Reihe von Bedingungen und Bedingten. Das ist nicht nur ein faktisches Verfahren, 36 Immanuel Kant: KrV B, AA, III, S. 294. 37 Vgl. Franz Erhardt: Kritik, S. 10–12. 38 Immanuel Kant: KrV B, AA, III, S. 338.
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sondern eine Maxime; die Vernunft verfährt nicht nur so, sondern soll so verfahren. Wenn dieses gesuchte Unbedingte nicht nur in der Totalität der Reihe selbst liegt – wie bei der Behauptung, die Welt habe keinen Anfang und sei ewig –, sondern als das erste Glied der Reihe aufgefasst wird – wie bei der Behauptung, das ganze Weltgeschehen habe einen zeitlichen Anfang –, so entspricht dies zwar dem architektonischen Interesse der Vernunft;³⁹ für die Antinomie insgesamt jedoch gilt, »daß im empirischen Regressus keine Erfahrung von einer absoluten Gränze, mithin von keiner Bedingung als einer solchen, die empirisch schlechthin unbedingt sei, angetroffen werden könne. Der Grund davon aber ist: daß eine dergleichen Erfahrung eine Begränzung der Erscheinungen durch Nichts oder das Leere, darauf der fortgeführte Regressus vermittelst einer Wahrnehmung stoßen könnte, in sich enthalten müßte, welches unmöglich ist.«⁴⁰ Hier greift nun die Reduktion der Dinge an sich auf Erscheinungen, welche letztlich immer Gegenstand möglicher Erfahrung sein müssen, d. h., prinzipiell in einen empirischen Horizont eingebettet sein müssen.⁴¹ »Ich kann demnach nicht sagen: die Welt ist der vergangenen Zeit, oder dem Raum nach unendlich. Denn dergleichen Begriff von Größe als einer gegebenen Unendlichkeit ist empirisch, mithin auch in Ansehung der Welt als eines Gegenstandes der Sinne schlechterdings unmöglich.«⁴² Der Reduktion des Dings-an-Sich auf Erfahrung entspricht folglich die Reduktion des Geltungsbereichs einer Totalität der Bedingungen auf ein regulatives Prinzip. Es ist nur geboten, die Reihe der Bedingungen regressiv zu verfolgen, und zwar nach der Maßgabe, die Erfahrung soweit als möglich zu erweitern, nicht aber die Grenzen der Erfahrung zu transzendieren. Das regulative Prinzip nimmt daher eine für Kant entscheidende Position ein. Sollte nämlich der transzendentale Schein in der 39 Ein solches Unbedingtes zugestanden ergeben sich Systeme, letztlich ein System: »Die menschliche Vernunft ist ihrer Natur nach architektonisch, d. i. sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System und verstattet daher auch nur solche Principien, die eine vorhabende Erkenntnis wenigstens nicht unfähig machen, in irgend einem System mit anderen zusammen zu stehen.« (Immanuel Kant: KrV B, AA, III, S. 502). 40 Immanuel Kant: KrV B, AA, III, S. 354. 41 Umgekehrt argumentiert: M. S. Gram: »Kant’s First Antinomy«, in: The Monist 51 (1967), H. 4, S. 499–518. – Für Gram sollen die Antinomien beweisen, dass die Erscheinungen »are transcendentally ideal« (S. 502). Damit stellt er Kants Argumentationsverlauf auf den Kopf. Kant zeigt, dass sich erst durch die Voraussetzung der Reduktion der Dinge an sich auf Erscheinungen das Antinomienproblem lösen lässt. So kann man höchstens formulieren, dass die Lösung des Antinomienproblems ein starker Hinweis ist für die Richtigkeit der Transzendentalen Ästhetik. Kant spricht dem AntinomienKapitel genau aus diesem Grund indirekte Beweiskraft zu: »Man kann […] aus dieser Antinomie einen wahren, zwar nicht dogmatischen, aber doch kritischen und doctrinalen Nutzen ziehen: nämlich die transscendentale Idealität der Erscheinungen dadurch indirect zu beweisen, wenn jemand etwa an dem directen Beweise in der transscendentalen Ästhetik nicht genug hätte.« (Kant: KrV, B 534); Vgl. Friedrich Adolf Trendelenburg: Historische Beiträge zur Philosophie, Bd. 3. Berlin 1867, S. 232 ff.; Kuno Fischer: Anti-Trendelenburg. Eine Duplik. Jena 1870, S. 51–54. 42 Immanuel Kant: KrV B, AA, III, S. 355.
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2. Kapitel: Ein neuer Spielraum für die Philosophie
Tat sowohl notwendig als auch natürlich sein, so muss er im System der Vernunft selbst eine Funktion haben, die sich nicht darin erschöpft, die Vernunft mit sich selbst in einen unauflösbaren Widerspruch zu verwickeln. Das regulative Prinzip ist diese positive Funktion. Die Auflösung gelingt Kant durch die Unterscheidung von kontradiktorischen und dialektischen Entgegengesetzten: Die erste Form der Entgegensetzung wird durch ein Entweder-oder beschrieben: eins von beiden Entgegengesetzten muss wahr sein; die letztere Form zieht auch in Betracht, dass beide Entgegengesetzten falsch sein können, keines also wahr ist. Bei der Antinomie handelt es sich, nach Kant, tatsächlich um dialektisch entgegengesetzte Urteile. Die Sätze: ›Die Welt hat einen Anfang in der Zeit‹ und ›die Welt hat keinen Anfang in der Zeit‹ sind einander kontradiktorisch entgegengesetzt, solange man annimmt, die Welt, die ganze Reihe der Erscheinungen, sei ein Ding an sich selbst. Erst unter der Perspektive, dass sie kein Ding an sich ist, dass sie »gar nicht an sich (unabhängig von der regressiven Reihe meiner Vorstellungen) existiert, so existiert sie weder als ein an sich unendliches, noch als ein an sich endliches Ganzes. Sie ist nur im empirischen Regressus der Reihe der Erscheinungen und für sich selbst gar nicht anzutreffen.«⁴³ Das Entweder-oder der strikten kontradiktorischen Entgegensetzung wird zu einem Weder-noch. Denn das Unbedingte gehört nicht zu dem, was gegeben ist. Wenn von der Welt als ganzer, wenn von ihr wie von einem Ding an sich gesprochen wird, dann laufen beide entgegengesetzten Urteile ins Leere. Für Kant können theoretische Urteile nicht sinnvoll auf das Unbedingte bezogen werden. Unter die Bedingungen, die die Urteile möglich machen, zählt nämlich auch, dass sie sich nur auf Gegebenes beziehen können, also auf empirische Erscheinungen. Erst der unzulässige Schluss vom Bedingten auf das Unbedingte erzeugt den transzendentalen Schein. Insofern ist der transzendentale Idealismus Bedingung für den empirischen Realismus. Kant resümiert: Auf die Frage nach dem Weltanfang sind zwei Antworten möglich, eine negative und eine affirmative. Die negative lautet: Die Welt hat keinen zeitlichen Anfang. Denn: »Da sie nun, als Erscheinung, keines von beiden an sich selbst sein kann, denn Erscheinung ist kein Ding an sich selbst, so müßte eine Wahrnehmung der Begrenzung durch schlechthin leere Zeit, […], möglich sein, durch welche diese Weltenden in einer möglichen Erfahrung gegeben wären. Eine solche Erfahrung aber, als völlig leer an Inhalt, ist unmöglich.«⁴⁴ Die affirmative Antwort lautet: Der Regress in der Reihe der Erscheinungen in der Welt geht unbestimmt weit zurück, jedoch nicht unendlich weit. Hier tritt das regulative Prinzip ein, das gebietet, die Reihe der Erscheinungen soweit zurückzuverfolgen, wie sie gegeben sind oder in einer möglichen Erfahrung gegeben werden können. Daher gilt für Kant: »Aller Anfang ist in der Zeit, und alle Gränze des Ausgedehnten im Raume. Raum und Zeit aber sind nur in der Sinnenwelt. Mithin sind nur Erscheinungen in der Welt bedingterweise, die Welt aber selbst weder bedingt, noch auf unbedingte Art begränzt.«⁴⁵ 43 Ibid., S. 347. 44 Immanuel Kant: KrV B, AA, III, S. 356. 45 Ibid., S. 357.
2.1. Der Aufbruch der Transzendentalphilosophie
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Anfang der Handlung Dem Anfang durch Notwendigkeit in der Natur steht bei Kant der Anfang durch Freiheit in der intelligiblen Welt gegenüber. Die intelligible Welt ist die Welt der Freiheit, des Willens und der Zwecke. Der Mensch als vernünftiges Wesen betrachtet sich als frei, das heißt, er betrachtet sich als unabhängig von den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt. Die intelligible Welt ist die Welt der Moral, und das Gesetz dieser Welt das Sittengesetz, der kategorische Imperativ. Für die physikalische Welt gilt dagegen das Naturgesetz. Kants Überlegungen kreisen um den Begriff der Autonomie, d.h. der Selbstgesetzgebung. Im Gegensatz zur kosmologischen Frage, kommt es hier zu einer Form der Sinnstiftung, die keine objektive Quelle hat. Nicht das faktische Weltgeschehen hat und verbürgt den Sinn des innerweltlichen Geschehens, sondern der Mensch als vernünftiges Wesen erschafft Sinn in einer an sich sinnlosen Welt: – eine Antwort auf die Sinnfrage ohne Rückgriff auf einen transzendenten Gott oder eine ursprüngliche Sinnstiftung im Sein. Ein erster Anfang⁴⁶ ist nach Kant nur in der intelligiblen Welt möglich. Maßgeblich dafür ist der Begriff der Freiheit. Hier kann nicht gefragt werden, was die Ursache dazu bestimmt hat, mit ihrer Wirksamkeit zu beginnen. Freiheit ist für Kant gerade das Vermögen, eine Handlung von selbst, spontan, anzufangen. Hier kann nicht gefragt werden, was die Kausalität der Handlung selbst wiederum bestimmt hat. Daraus folgt für Kant, dass die Ursache der Handlung als Kausalität nicht unter die Bestimmungen der Zeit fallen kann. Kants Rede von einer intelligiblen und einer Erscheinungswelt führt nicht, wie manchmal behauptet wird, zu einem Weltendualismus. Auch dürfte es wenig Sinn machen in der intelligiblen Welt eine Art Beletage der Philosophie zu erkennen, in der die eigentlich feineren Dinge aufgehoben und verhandelt werden. Kant geht es gar nicht um verschiedene Dinge bzw. Inhalte, die jeweils in verschiedenen Welten enthalten wären. Natur und Freiheit werden nämlich ein und demselben Dinge zugesprochen, aber jeweils in verschiedener Beziehung. Es geht Kant offensichtlich nicht um die Behauptung einer Welt neben oder über der Welt, sondern einer Welt in der Welt, nicht um einen Weltendualismus, sondern um einen Perspektivendualismus. Freiheit findet nur in der intelligiblen Welt statt, in der den endlichen, vernünftigen Wesen Wirksamkeit zuerkannt wird, auch für die Welt der Erscheinungen, für die physikalische Welt, ohne dass beide Welten – ihrem Inhalt nach – auseinanderfielen. Kant stellt den doppelten Aspekt des endlichen Vernunftwesens heraus. Die Intention ist allerdings gegenüber der theoretischen Philosophie verändert. Es geht ihm nicht mehr nur darum aufzuzeigen, dass Freiheit und Naturkausalität miteinander bestehen können, sondern vielmehr darum, was sich ein handelndes Subjekt 46 »Denn was diese betrifft, so ist ein jeder Anfang der Handlung eines Wesens aus objectiven Ursachen respective auf diese bestimmende Gründe immer ein erster Anfang, obgleich dieselbe Handlung in der Reihe der Erscheinungen nur ein subalterner Anfang ist, vor welchem ein Zustand der Ursache vorhergehen muß, der sie bestimmt und selbst eben so von einer nah vorhergehenden bestimmt wird: […].« (Immanuel Kant: Prolegomena, IV, S. 345.)
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2. Kapitel: Ein neuer Spielraum für die Philosophie
in praktischer Rücksicht zuschreibt und zuschreiben muss. Die theoretische Philosophie beschreibt die Welt mit der kalten Neugier eines auf die Geltungsbedingungen seines Wissens fixierten Naturwissenschaftlers; die praktische Philosophie nimmt ein vitales Interesse an dieser Welt; sie ist das Feld der Handlungen. So ist es gerade die sinnliche Komponente des Menschen, die macht, dass der Wille nicht unmittelbar praktisch ist. Sie mischt Triebfedern ein, die dem reinen Willen zuwiderlaufen und aus dem Wollen ein Sollen machen. Einer solchen Welt steht der Mensch nicht kalt und gleichgültig gegenüber, sondern er muss sich als Individuum in Entscheidungsprozessen bewähren. Es reicht ihm die Auskunft nicht, dass Freiheit und Naturkausalität miteinander bestehen können, sondern er muss sich selbst als sinnliches und vernünftiges Wesen in diese Zusammenhänge einstellen. Das Potential einer neuen Philosophie Mit der Frage nach dem Weltanfang steht für Kant die Rationalität selbst auf dem Prüfstand. Warum hat die Natur – so fragt Kant – unser Erkenntnisvermögen so eingerichtet, dass wir unwillkürlich beim Denken auf unauflösbare Widersprüche stoßen? Müssen wir dann nicht unser Vertrauen in die Vernünftigkeit unseres Forschens und Handelns aufgeben? Kant versteht es, seine Fragestellung und seine Lösung geschickt zu inszenieren. Nicht ohne dramatische Effekte schnürt er den Knoten seines Problems. Ratlos gesteht der Philosoph zunächst, dass er scheinbar keinen Ausweg kennt. Da das Problem ein Problem des Vernunftgebrauchs ist und die aporetische Situation nicht willkürlich, sondern notwendig eintritt, handelt es sich um eine ernste Angelegenheit, die unser Vertrauen in die Vernünftigkeit als solche und die Vernünftigkeit der Welt zutiefst erschüttert. Die Lösung ist dabei zugleich Erlösung: Wir können unserer Vernunft vertrauen, wenn wir nur sorgsam genug darauf achtgeben, sie nicht mit Inhalten zu beschäftigen, für die sie ihrer Natur nach gar nicht gemacht ist. Bei Kant kann man lernen, dass die Rationalität auf einen Anfang dringt, der bewirkt, dass alle ihre Konstrukte auf einem festen Fundament ruhen. Der Gedanke des Weltanfangs zeigte für Kant, dass diese Grundlage nicht in einer Metaphysik der reinen Vernunft gefunden werden kann. Er appelliert vielmehr an das Näherliegende: an die empirische Erscheinung; auf sie allein sollte sich der Verstand in theoretischer Absicht beziehen. Denn auf die Erscheinung sind die Funktionen von Verstand und Vernunft ausgerichtet. Den eigentlichen Anfang der Erkenntnis macht daher die Erscheinung; hier ist die Erkenntnis tief verwurzelt und ihr Tun verspricht fruchtbar zu sein. Das Zentrum des kritischen Unternehmens ist die Rehabilitierung der Erfahrung, ihre Sicherung gegen Einreden von Skeptizismus und Metaphysik. Spekulationen über den Weltanfang, die jedes empirischen Anteils entbehren, können nur leere Gedanken bleiben, die schließlich in eine Antinomie münden. Ihr Sinn liegt einzig in einer Forschungsmaxime, nach der für alles, was geschieht, ein Grund zu suchen ist, und nicht in der Übersteigerung einer Suche nach der Erstursache für alles, was je geschah, geschieht und was je geschehen wird.⁴⁷ In praktischer Hinsicht allerdings kommt dem Anfang und der 47 Das Verhältnis zur modernen physikalischen Kosmologie beleuchten: Peter Mittel-
2.1. Der Aufbruch der Transzendentalphilosophie
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Anfänglichkeit bei Kant größte Bedeutung zu. Sie beruht auf dem Gedanken praktischer Autonomie, die für das Handeln des Menschen, für Moral, Sitte und Recht unverzichtbar ist. Der Anfang der Welt ist ein Problem, an dem beispielhaft die Entwicklung und Stoßrichtung der Transzendentalphilosophie zutage tritt. Verstrickt in Widersprüche ist die Metaphysik als reine Wissenschaft nicht in der Lage, das Problem des Weltanfangs zu lösen. Dies gelingt erst der Reflexion auf die Verfahrensweise der Vernunft. Sie sucht zu jedem Bedingten die Bedingung und vereint diese Suche, indem sie aufs Ganze geht: Sie sucht letztendlich das Unbedingte, das alles bedingt. Die Perspektive, unter der die Philosophie auf die Welt schaut, hat sich dadurch verändert. Des Rätsels Lösung liegt nicht in der Welt, sondern in der Vernunft. Für Kant ist diese Vernunft unter theoretischer Perspektive die Vernunft der Wissenschaften, wissenschaftliche Rationalität. Es ist die endliche Vernunft, und Kants Anliegen ist es, den empirischen Gebrauch von Verstand und Vernunft festzuschreiben und durch Grenzziehung zu sichern. Dazu entwickelt Kant eine neuartige philosophische Herangehensweise: die Transzendentalphilosophie. Sie besteht darin, zunächst – das heißt, bevor sich die Vernunft an die Erkenntnis wagt – herauszufinden, was sie zu leisten im Stande ist und welche Erkenntnisse zuverlässig genannt werden können. Er will prüfen, unter welchen Bedingungen die Vernunfterkenntnisse überhaupt möglich sind. Sein Interesse richtet sich dabei nicht unmittelbar auf die Gegenstände, sondern auf die Vernunft selbst. Sie soll kritisiert werden – und zwar durch die Vernunft. Diese Prüfung stellt die Möglichkeitsbedingungen heraus, die gegeben sein müssen, damit Erkenntnis stattfinden kann. Dabei geht es Kant nicht darum, einen neuen Vorschlag zu unterbreiten, wie und durch welche Vermögen Erkenntnisse zustande kommen. Er geht von der Überzeugung aus, dass es wahre wissenschaftliche Erkenntnisse gibt. Für ihn sind das vor allem physikalische Erkenntnisse, Naturgesetze, die für Kant gefestigte wirkliche Erkenntnisse sind. Sein Ziel: angemaßte und wirkliche Erkenntnisse zu unterscheiden. Im Folgenden möchte ich diesen Gedanken vertiefen und aufzeigen, welche Möglichkeiten in diesen Überlegungen Kants stecken. Dabei geht es um die bereits von Kant stilisierte sog. ›Kopernikanische Wende‹. Ich werde zu zeigen versuchen, dass es dabei weniger um eine neuartige Vorrangstellung des Subjekts geht, als vielmehr darum, eine neue Methode zu etablieren.
staedt – Ingeborg Strohmeyer: »Die kosmologischen Antinomien in der Kritik der reinen Vernunft und die moderne Kosmologie« in: Kant-Studien 81 (1990), S. 145–169. – Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass Kants Antinomien nur in Bezug auf die ›klassische‹ Erfahrung auftreten, »so daß das Weltganze dennoch zum Gegenstand der modernen physikalischen Kosmologie werden konnte.« (168) – Vgl. auch: Brigitte Falkenburg: Kants Kosmologie, Frankfurt a. M. 2000, S. 307–352.
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2. Kapitel: Ein neuer Spielraum für die Philosophie
2.2
Die transzendentalphilosophische Wende
Wende ist zunächst eine historiographische Kategorie. Es gibt ein Vorher und ein Nachher und einen Wechsel zwischen beiden. Nicht selten schreiben sich Philosophen selbst den Platz zu, an dem sich das Vorher in das Nachher wendet oder gar in das ganz Neue umbricht. Das hat seinen Grund. Philosophische Gedanken sind verwurzelt in Gesprächszusammenhängen oder gedanklichen Konstellationen. Sie stehen niemals isoliert da, ohne eine Geschichte, sondern verweisen auf sie und deuten ihr Herkommen aus ihrer Geschichte – und verstehen sich oft als Abbrechen einer als veraltet empfundenen Tradition. Die Philosophie denkt daher nicht nur auf etwas hin, das neu ist oder als Altes im neuen Gewand auftritt, sondern wendet sich auch gegen das Alte und befreit sich davon. Das Bewusstsein, im Umbruch zu denken, macht deshalb ein Charakteristikum philosophisch-produktiven Denkens aus. Das trifft vielleicht in besonderer Weise für die Zeit um das Jahr 1800 zu. Die wirkliche Welt veränderte sich rasant – nicht nur das philosophische Denken. Es ist freilich nicht so, dass die Jahrhunderte zuvor überhaupt keine Veränderungen kannten. Das, was aber jetzt Einzug hält, ist in vielerlei Hinsicht gänzlich neu. Man versucht heute, diese Entwicklung, die weder abrupt noch unvorbereitet eintritt, mit verschiedenen Etiketten zu kennzeichnen. Man hat sie als den Anfang der Moderne oder den Beginn der Globalisierung bezeichnet. Das sind mehr hilflose Versuche, die Vielschichtigkeit eines Umbruchs zu rubrizieren, als sinnvolle Epochenbezeichnungen. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass diese Bezeichnungen nur vorläufig sein können. ›Moderne‹ Gedanken und ›moderne‹ Menschen treten schon viel früher auf; mit Fug und Recht kann man auch die Überlegung anstellen, ob der Mensch nicht seit seiner Menschwerdung der Globalisierung verhaftet ist.⁴⁸ Die Beschleunigung der gesellschaftlichen Veränderungen wird um dass Jahr 1800 jedenfalls so groß, dass sie der Einzelne zu fühlen bekommt. Er erfährt sie am eigenen Leibe. Manufakturen, Verstädterung, Wertewandel, Kreditwesen – alle diese Zeichen der Moderne schlagen sich auch im philosophischen Denken der Zeitgenossen nieder. Das ist Grund genug nachzufragen, wie es sich mit der ›Koperikanischen Wende‹ Kants verhält. Gemeinhin versteht man darunter den Wandel von einer objektzentrierten Perspektive hin zu einer subjektzentrierten. Analog dem Wandel eines geozentrischen zu einem heliozentrischen, kopernikanischen Weltbild. Ich will gar nicht pauschal bezweifeln, dass dieses von Kant selbst herrührende Bild zutreffend ist. Ich will vielmehr zeigen, dass der Wandel weitreichender und grundsätzlicher ist, als selbst der Wandel eines kosmologischen Weltbildes. Außerdem muss man im Hinterkopf behalten, dass es bei Kant gerade nicht zu einem Subjektivismus der Erkenntnis kommt, sondern dass seine Analysen der Subjektivität einzig dem Ziel dienen, die Objektivität unserer Erkenntnisse ein für allemal gegen einen die Wissenschaft zerstörenden Subjektivismus zu sichern.
48 Vgl. Hermann Parzinger: Die Kinder des Prometheus: Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift. München 2014.
2.2. Die transzendentalphilosophische Wende
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Die geschichtliche Kontinuität in der ›Kopernikanischen Wende‹ Kant hatte ein klares Bewusstsein davon, dass seine Kritische Philosophie, insbesondere die Kritik der reinen Vernunft, eine Wende für das philosophische Denken seiner Zeit bedeutete. Die Analogie, die Kant zwischen der Kopernikanischen Wende und seiner eigenen wissenschaftlichen Metaphysik andeutet,⁴⁹ dokumentiert das Selbstbewusstsein des Königsberger Philosophen, an einer Umbruchstelle zu denken. Nicht ohne Grund spricht Kant sogar von einer Revolution der Denkart,⁵⁰ die ihm als beispielhaft für die Verwissenschaftlichung von Physik und Mathematik gilt.⁵¹ Die Ablösung der bloß zufälligen Beobachtung durch das gezielte Experiment verdeutlicht dem Naturwissenschaftler, »daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Principien ihrer Urtheile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; …«⁵² Eine solche Revolution fordert Kant für die Metaphysik, damit sie Wissenschaft werde und ein sicheres Fundament erhalte. Alle Erkenntnisse – so wird Aristoteles zugeschrieben – beginnen in und mit den Sinnen. Kant habe diese Einsicht korrigiert. Die Entdeckung der konstitutiven Funktion des Subjekts wird, wenn man dem Bild einer Kopernikanischen Wende folgen möchte, als jene von Kant angezeigte Wende betrachtet. Das Erkennende, das Subjekt, soll nun – nach Kant – bestimmend sein für das Erkannte, für das Objekt. Der Erkenntnisprozess wird wie ein Spiel aufgefasst, in dem die Rollen neu verteilt werden. Während in einem ersten Anlauf der Erkennende als passiv vorgestellt wurde und die bestimmenden Inhalte einzig aus dem Erkenntnisgegenstand stammten, wird nun – nach Kant – auch das Erkenntnissubjekt als aktiv und als die Erkenntnis bestimmend angesetzt. Das funktioniert aber nur, wenn das Subjekt als allgemein, nicht-individuell, nicht-empirisch und als transnumeral verstanden wird. Um diese speziellen Eigenschaften, die sehr künstlich sind, von wirklichen Erkenntnisprozessen zu unterscheiden, spricht man vom transzendentalen Subjekt. Das Gegenstück dazu ist das empirische Subjekt. Es ist das Erkennende, wenn es in wirklichen Erfahrungs- und Erkenntnisprozessen begriffen ist. Aber ist diese aktivische und bestimmende Rolle des Subjekts neu? Bereits ein flüchtiger Blick auf die Philosophie Platons lehrt, dass dort längst nicht alle Erkenntnisse – materiale oder formale – aus den Sinnen stammen. Die Anamnesis-Lehre besagt nichts anderes, als dass ein Teil unserer Erkenntnisse gerade nicht nur in der Sinnlichkeit erworben werden können: Der Sklave in Platons Menon verfügt über Kenntnisse, die er nicht während seines Lebens erlernt hat, 49 Vgl. Immanuel Kant: KrV B, AA, III, S. 12: »Es ist hiemit eben so, als mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.« 50 Immanuel Kant: KrV B, AA, III, S. 10. 51 Ibid., S. 11. 52 Ibid., S. 10
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2. Kapitel: Ein neuer Spielraum für die Philosophie
die ihm jedoch zu aktuellem Wissen werden, wenn er von Sokrates befragt wird.⁵³ Deutlicher noch zeigt sich das in Platons Theaitet: Sokrates weist explizit daraufhin, dass die Seele vieles durch die Sinne des Körpers erforscht, einiges aber durch sich selbst.⁵⁴ Dies ist das Gemeinschaftliche in allen Dingen, das nicht durch die einzelnen Sinne gegeben werden kann.⁵⁵ Es ist das, was ihnen – gleichsam apriorisch – vorausliegt, jedoch für die konkrete Erkenntnis unverzichtbar ist.⁵⁶ Natürlich ist bei Platon nicht von einem Subjekt in einem neuzeitlichen Sinn die Rede, sondern von den Tätigkeiten der Seele als dem menschlichen Denken.⁵⁷ Trotzdem ist der Hinweis auf die konstitutiven Funktionen hier von Bedeutung. Die einseitige Ausrichtung der Erkenntnis – wie sie Kant zu korrigieren meint –, die vom aktiven Erkenntnisgegenstand zum passiven Erkennenden führt, ist schon seit der Antike in wesentlichen Zügen durchbrochen. In der Tat ist Kant sich dieser »Vorläuferschaft« bewusst. Er schreibt: »Die alten Philosophen, als Aristoteles, und nach ihm die Scholastiker, sagten: daß alle unsere Begriffe aus den Sinnen herkämen, welches sie durch den Satz ausdrückten: nihil est in intellectu, quod non antea fuerit in sensu. Der Verstand kann nichts erkennen, was nicht die Sinne vorher erfahren haben. Hierin hat Aristoteles wider den Plato geredet, der als ein mystischer Philosoph das Gegenteil behauptete, und nicht allein die Begriffe als angebohren, sondern auch als solche, die von der vorigen Anschauung Gottes übrig geblieben, betrachtete, woran uns nun der Körper hindere.«⁵⁸ Bereits der »vorkritische« Kant korrigierte seinen Aristoteles nur unwesentlich: Man müsse den Satz des Aristoteles nur »etwas einschränken« und schon erhalte man eine brauchbare Philosophie: »Nihil est quoad materiam in intellectu, quod non antea fuit in sensu. Die Materie und den Stoff müssen uns die Sinne geben, und diese Materie wird durch den Verstand bearbeitet. Was aber die Form der Begriffe anlangt, so ist sie intellektuell. Die erste Erkenntnißquelle liegt also in der Materie, die die Sinne darreichen. Die zweite Erkenntnißquelle liegt in der Spontaneität des Verstandes.«⁵⁹ Diese aus der zweiten Hälfte der 70er Jahre stammende Stelle aus den Pölitz-Handschriften zeigt, dass Kant damals noch glaubte, dass der Ursprung der Begriffe tatsächlich in der Erfahrung zu suchen sei, allerdings nicht unmittelbar, sondern der Natur des Verstandes nach »gelegentlich der Erfahrung 53 54 55 56
Platon: Menon 82–86. Platon: Theaitetos, 185e. Ibid., 185c-e. Den Zusammenhang mit der Philosophie des Mittelalters, insbesondere der des Dietrich von Freiberg, zeigt: Kurt Flasch: »Kennt die mittelalterliche Philosophie die konstitutive Funktion des menschlichen Denkens? Eine Untersuchung zu Dietrich von Freiberg« in: Kant-Studien 63 (1972), S. 182–206; ferner: Burkhard Mojsisch: »Konstruktive Intellektualität. Dietrich von Freiberg und seine neue Intellekttheorie« in: Miscellanea Mediaevalia. Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln, Bd. 27: Geistesleben im 13. Jahrhundert. Berlin/New York 2000, S. 68–78. 57 Vgl. zu Platons Erkenntnistheorie: Burkhard Mojsisch: Die Theorie des Intellekts bei Dietrich von Freiberg. (Dietrich von Freiberg: Opera omnia. Beiheft 1), Hamburg 1977, S. 21–26. 58 Immanuel Kant: Metaphysik L1, Pölitz, AA, XXVIII, S. 232. 59 Ibid. S. 232.
2.2. Die transzendentalphilosophische Wende
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durch Reflexion.«⁶⁰ Damit wehrt sich Kant zugleich gegen zwei andere Theorien, welche die Entstehung der Begriffe erklären wollen, einerseits nämlich gegen die Vorstellung, die Begriffe seien angeboren – für Kant eine unphilosophische Erklärung analog einer schwärmerischen Offenbarung; andererseits aber gegen Lockes Theorie der Verstandesbegriffe, der sie als Begriffe betrachtete, die durch Abstraktion aus der Erfahrung gewonnen werden. Dagegen Kant: »Durch Gewohnheit wird diese Reflexion uns geläufig, so daß wir nicht bemerken, daß wir reflectiren; und dann glauben wir, daß es in der sinnlichen Anschauung lieget.«⁶¹ Dennoch billigt Kant den Verstandesbegriffen schon vor dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft eine konstitutive Funktion zu. Und es findet sich später auch nur eine geringfügige Korrektur: »Daß alle unsere Erkenntniß mit der Erfahrung anfange, daran ist kein Zweifel; […]. Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung. Denn es könnte wohl sein, daß selbst unsere Erfahrungserkenntniß ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnißvermögen […] aus sich selbst hergibt, […].«⁶² Das heißt: Die bedeutenden begrifflichen Zuordnungen sind schon vor seinem metaphysikkritischen Hauptwerk klar zu erkennen. Sinnlichkeit und Verstand verhalten sich wie Materie und Form, die Sinnlichkeit ist rezeptiv, der Verstand produktiv und spontan. Zwar sind die Begriffe noch keine reinen Begriffe; trotzdem bilden sie einen wichtigen Zweig der Erkenntnis, der nicht unmittelbar auf die Sinnlichkeit zu reduzieren, vielmehr von ihr klar zu unterschieden ist. Die von Kant angezeigte Wende, die in einer radikal veränderten Perspektive bestehen sollte, ist keine wirkliche Wende, sondern vorbereitet durch eine ganze Reihe von Überlegungen – Überlegungen, die Kant wesentlich in Anlehnung oder Absetzung von anderen Denkern anstellte. Dass das Erkenntnissubjekt den Gegenständen die Gesetze des Erkennens vorschreibt, erscheint als »alter Hut«, wenn auch erst die Formulierung der Kritik der reinen Vernunft in vielen Bereichen Klarheit bringt. Kants Idee der Transzendentalphilosophie Abgesehen von seiner eigenen Einschätzung, bleibt jedoch zu prüfen, ob Kant in einer anderen, von ihm selbst nicht explizit thematisierten Weise eine Wende vollzogen hat. Mit der Formulierung einer kritischen Transzendentalphilosophie entwickelte Kant nämlich einen völlig neuen Theorietypus. An prominenter Stelle in der Kritik der reinen Vernunft formuliert Kant sein Programm: »Ich nenne alle Erkenntniß transscendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnißart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde TransscendentalPhilosophie heißen.«⁶³ Zweierlei lässt sich herausstellen:
60 61 62 63
Ibid. S. 233. Ibid., S. 234. Immanuel Kant: KrV B, AA, III, S. 27. Immanuel Kant: KrV B, AA, III, S. 43.
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2. Kapitel: Ein neuer Spielraum für die Philosophie
(1) Die Transzendentalphilosophie beschäftigt sich nicht mit Gegenständen oder mit Gegenstandserkenntnissen. Sie ist deshalb keine Ontologie.⁶⁴ Sie beschäftigt sich weder mit dem Seienden als Seiendem noch mit dem Seienden als Gewusstem. (2) Vielmehr wendet sie sich der Erkenntnisart endlicher Vernunftwesen zu, insofern diese Erkenntnisart unabhängig von aller Erfahrung möglich ist. Sie fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis. Die Transzendentalphilosophie ist ein erst gesuchtes, aber noch nicht gefundenes System des Wissens, seiner Begriffe und Grundsätze. Als eine Propädeutik gilt ihr die Kritik der reinen Vernunft. Sie ist keine Erweiterung der Erkenntnis, sondern dient der Läuterung, das heißt der Ausschließung von Irrtümern durch Angabe prinzipieller Gründe. »Die Transscendentalphilosophie ist die Idee einer Wissenschaft, wozu die Kritik der reinen Vernunft den ganzen Plan architektonisch, d. i. aus Principien, entwerfen soll, mit völliger Gewährleistung der Vollständigkeit und Sicherheit aller Stücke, die dieses Gebäude ausmachen. Sie ist das System aller Principien der reinen Vernunft. Daß diese Kritik nicht schon selbst Transscendental-Philosophie heißt, beruhet lediglich darauf, daß sie, um ein vollständig System zu sein, auch eine ausführliche Analysis der ganzen menschlichen Erkenntniß a priori enthalten müßte.«⁶⁵ Zwar ist die Kritik zugleich Propädeutik der Metaphysik, trotzdem enthält und untersucht sie alle notwendigen Prinzipien. Ihr fehlt allerdings die durchgeführte Analyse der apriorischen Erkenntnisse. Darin geht die Kritik nur so weit, »als es zur vollständigen Beurtheilung der synthetischen Erkenntniß a priori erforderlich ist.«⁶⁶ Sie fragt: »Wie sind synthetische Sätze a priori möglich?«,⁶⁷ und von der Beantwortung hängt die Existenz der Metaphysik ab. Wichtig ist hierbei, dass weder die Kritik noch die Transzendentalphilosophie selbst eine Erklärung der Erkenntnis im Ganzen intendieren. Sie geben vorderhand keine Liste von Ingredienzen, deren Verbindung gelingende Erkenntnis hervorbrächte. Sie beschreibt auch nicht den Erkenntnisvorgang, wie es etwa 64 Hier ist ein systematischer Gebrauch des Terminus Ontologie intendiert. Kant selbst benutzte indes den Begriff im Sinne der Schulphilosophie (vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Halle 1720) als ersten Teil der Metaphysik (vgl. Immanuel Kant: KrV B, AA, III, S. 547): Er setzt deshalb die Transzendentalphilosophie der Ontologie gleich: Die Transzendentalphilosophie »[…] betrachtet nur den Verstand und Vernunft selbst in einem System aller Begriffe und Grundsätze, die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen, ohne Objecte anzunehmen die gegeben wären (Ontologia); […].« (B 873) Die Transzendentalphilosophie stellt demnach nicht die Frage nach dem Was des Seienden, sondern nach den Geltungsbedingungen des menschlichen Erkennens. Darin zeigt sich gerade der Neuansatz, den Kant durch seine Philosophie schafft. Der Belegung mit dem alten Namen der Ontologie – obwohl historisch berechtigt – verwischt eher die Konturen, als dass sie sie schärft. – Vgl. Elena Ficara: Die Ontologie in der »Kritik der reinen Vernunft«, Würzburg 2006. 65 Immanuel Kant KrV B, AA, III, S. 44. 66 Immanuel Kant: KrV B, AA, III, S. 45. 67 Immanuel Kant: Prolegomena, AA, IV, S 276; vgl.: J. G. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95), GA I 2, 275.
2.2. Die transzendentalphilosophische Wende
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ein Hirnphysiologe versuchen könnte. Sie fragt primär nach dem Rechts- und Geltungsgrund menschlicher Erkenntnis. Deswegen besteht ihr Gehalt wesentlich aus Gesetzmäßigkeiten und Regeln des Verstandes- und Vernunftgebrauchs und dessen Prüfung durch den Verstandes- und Vernunftgebrauch. Die Transzendentalphilosophie ist in dem abstrakten Bereich der Möglichkeitsbedingungen angesiedelt, in dem keine konkreten Erkenntnisse betrachtet oder hervorgebracht werden können. In jeder konkreten Erkenntnis hingegen müssen die Möglichkeitsbedingungen gegeben und erfüllt sein. Dadurch erreicht Kant einen neuen Begründungsstandard. Die Philosophie vor Kant erklärte die Erkenntnis genetisch. Sie beschrieb das Zustandekommen wirklicher Erkenntnisse. Dazu zergliederte sie die Erkenntnis in die verschiedenen Vermögen und Instanzen (die natürlich auch in Kants späterer Transzendentaltheorie noch eine wichtige Rolle spielen) und in den Gegenstandsbereich, dem sie jeweils oder gemeinsam zugeordnet sind. Das ist ein analytisches Verfahren. Die Transzendentalphilosophie verfährt dagegen synthetisch.⁶⁸ Das Zusammenspiel der Vermögen, insbesondere der einander entgegengesetzten Vermögen des Verstandes und der Sinnlichkeit, ist vorausgesetzt und es wird nach den Bedingungen geforscht, unter denen dieses Zusammenspiel möglich ist. Damit ist vorausgesetzt, dass wirklich erkannt wird; gesucht wird nach den Möglichkeitsbedingungen, deren Feststellung gerade die Kritik als wissenschaftliches Unternehmen begründet. Als höchsten Punkt, »an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik und nach ihr, die ganze Transscendental-Philosophie heften muß«, ist die synthetische Einheit der Apperzeption,⁶⁹ jenes Ich denke, das alle meine Vorstellungen begleiten können mss. Diese synthetische Leistung des Verstandes ist die erste und höchste Möglichkeitsbedingung. »Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle, d. i. die analytische Einheit der Apperception ist nur unter der Voraussetzung irgend einer synthetischen möglich.«⁷⁰ Kants Verfahren sowie der von ihm neu entwickelte Theorietyp treten hier unmittelbar in ein deutliches Licht: Auf die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen erhält man keine Ontologie der Erkenntnis bzw. der Erkenntnisvermögen; vielmehr besteht die Antwort in einem Konstrukt notwendiger Bedingungen ohne ontische Realität. Die Erkenntnisvermögen sind keine Gegebenheiten oder existierende Entitäten mit Dingcharakter; vielmehr handelt es sich um Instanzen und deren Funktionen, die nur in einer theoretischen Perspektive eine Rolle spielen können. Der Vorteil einer solchen Theorie liegt auf der Hand: Da dieweder durch Abstraktion bloß faktischer Erkenntnisse noch durch Beschreibung gegebener Vermögen verfährt, sondern durch Rekurs auf die Möglichkeitsbedingungen aller Erkenntnis, kann sie eine ungleich größere Geltung beanspruchen, nämlich Geltung für die Erkenntnis endlicher Wesen überhaupt. Sie ist weder angewiesen auf
68 Vgl. Immanuel Kant: Prolegomena, AA, IV, S 253. 69 Immanuel Kant: KrV B, AA, III, S. 109, Anm. 70 Immanuel Kant: KrV B, AA, III, S. 109.
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2. Kapitel: Ein neuer Spielraum für die Philosophie
den tatsächlichen Vollzug der Erkenntnis noch auf die reale Existenz der Vermögen, von denen sie handelt. Immer dann nämlich, wenn erkannt wird, müssen die Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens erfüllt sein. Möglichkeitsbedingungen sind aber nicht auf dinghafte Existenz zu restringieren. So kann die Transzendentalphilosophie nicht in eine naturalisierte Erkenntnistheorie⁷¹ oder Psychologie transformiert werden; zugleich ist sie den rationalistischen und empiristischen Theorien in ihrem Begründungspotential überlegen. Das zeigt sich vor allem im Paralogismen-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft. Kant kritisiert dort Moses Mendelssohn und seinen Beweis der Beharrlichkeit der Seele aus dessen Phädon.⁷² Kants Argument: Das Ich denke der transzendentalen Apperzeption lässt sich nicht hypostasieren. »Die Einheit des Bewußtseins, welche den Kategorien zum Grunde liegt, wird hier für Anschauung des Subjects als Object genommen und darauf die Kategorie der Substanz angewandt. Sie ist aber nur die Einheit im Denken, wodurch allein kein Object gegeben wird, worauf also die Kategorie der Substanz, als die jederzeit gegebene Anschauung voraussetzt, nicht angewandt, mithin dieses Subject gar nicht erkannt werden kann.«⁷³ Das transzendentale Subjekt sollte nicht mit einem substantiellen, empirischen Subjekt verwechselt werden, da die ontologische mit der transzendentalen Ebene kategorial nicht übereinstimmt; gleichwohl ist die Beziehung zwischen beiden eng: Jeder Erkenntnisakt – Erkenntnis ist für Kant immer Erkenntniserweiterung durch die Beziehung der Kategorien auf Sinnlichkeit –, jeder Erkenntnisakt also setzt die verbindende Funktion des Bewusstseins voraus, die alle Vorstellungen auf ein Subjekt bezieht, eine Funktion, die kein ontologisches Substrat besitzt. Eine neue Form der Theoriebildung Die Transzendentalphilosophie ist tatsächlich etwas Neues. Man kann sagen, dass Kants neue philosophische Methode tatsächlich eine Wende der Philosophie eingeläutet hat – auch dann, wenn man heute daran zweifeln kann, dass diese Wende Allgemeingut geworden ist. Das Charakteristische dieser Wende ist die Verbindung von Gewissheits- und Begründungsansprüchen mit einer radikal endlichen Sicht auf die Rationalität. Einerseits bleiben die wissenschaftlichen Erkenntnisse ›hart‹. Sie fallen nicht unter den ubiquitären Relativismus, der Wahrheit nur einklammern kann: wahr, aber eben nur für mich. Diese subjektivistische Konsequenz, die gerne mit der Kopernikanischen Wende assoziiert wird, ist Kant völlig fremd. Seine Transzendentalphilosophie will vielmehr die Wissensansprüche der exakten Wissenschaften verteidigen gegen deren Verächter. Aber sie vermeidet dabei die Rückbindung an ein absolut Gegebenes, sei dies Gott, ein absoluter 71 Vgl. W. V. O. Quine: »Naturalisierte Erkenntnistheorie«, in: ders. Ontologische Relativität und andere Schriften, Stuttgart 1975, S. 97–126. 72 Moses Mendelssohn: Phädon, oder über die Unsterblichkeit der Seele, in drey Gesprächen, Berlin/Stettin 1767. – Zu dieser Debatte vgl.: Ulrich Pardey: »Über Kants ›Widerlegung des Mendelssohnschen Beweises der Beharrlichkeit der Seele‹ «, in: Kant-Studien 90 (1999), S. 257–284. 73 Immanuel Kant: KrV B, AA, III,S. 275.
2.2. Die transzendentalphilosophische Wende
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Intellekt oder die Natur. Sie macht sich frei von letztlich nicht einzuholenden Voraussetzungen und schöpft ihre Gewissheits- und Begründungsansprüche aus der Vernünftigkeit, das heißt aus der Rationalität selbst. Diese Rationalität ist keine instrumentelle Vernunft, von der Kants Wissenschaftsphilosophie noch nicht geplagt wird, sondern endliche Subjektivität. Unverkennbar hat Kants Transzendentalphilosophie mächtig Eindruck gemacht auf seine Zeitgenossen. Moses Mendelssohn sprach vom »alles zermalmenden Kant«,⁷⁴ der mit der Metaphysik Schluss gemacht habe, und schuf damit ein bis heute oft herbeizitiertes Etikett. Tatsächlich entzündete sich an Kant eine Diskussion, die weit über die Fachphilosophie hinausgetragen wurde. Einer der produktivsten und auch eigenwilligsten Weiterdenker der Philosophie Kants war Johann Gottlieb Fichte.
74 Moses Mendelssohn: Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes. (1790). In: Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Stuttgart Bad-Cannstatt 1972 ff., II, 2, S. 3.
Kapitel 3
Fichtes Transzendentalphilosophie 3.1
»Aus Verdruß warf ich mich in die Kantische Philosophie«
»Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses blossen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: das Ich ist, und es setzt sein Seyn, vermöge seines blossen Seyns.«¹ Das ist ein merkwürdiger, ein provokanter Satz. Er stammt aus Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95). Im Folgenden wird es darum gehen, diesen geheimnisvollen Satz angemessen zu verstehen. Dazu möchte ich zunächst philosophisch zeigen, wie Fichte auf das Ich gekommen ist und was für eine Auffassung er damit verknüpfte, und dann – in mehr historischen Perspektive, wie Fichte sich von der Philosophie Kants hat inspirieren lassen. Ich, Ich und nochmals Ich Die Philosophie Fichtes, die in ihrem spekulativen Zentrum Wissenschaftslehre sein soll, ist in einem speziellen nach-kantischen Theorieumfeld situiert.² Das hat für die Entwicklung seines theoretischen Ansatzes weitreichende Folgen. Ich möchte hier nur kursorisch an einige wesentliche Fragen und Aufgaben erinnern, welche die Diskussionen nach Kant bestimmten:³ (1) Zunächst ist hier die Aufgabe zu nennen, die Kritik in ein System zu transformieren. Die Kant nachfolgende Generation wollte bei einer bloß kritischen Philosophie nicht stehen bleiben und konnte zudem bei Kant einige Andeutungen lesen, nach denen der Urheber der kritischen Philosophie selbst daran dachte, seine Philosophie in ein System zu verwandeln. Zweifellos war das Problem des Systems für die Philosophen nach Kant eine gewichtige Fragestellung. (2) Damit hängt die zweite Aufgabe zusammen. Kant hatte drei Kritiken geliefert, nacheinander und sicher in spezifischen Entwicklungsschritten, sodass er beim Verfassen der ersten, der Kritik der reinen Vernunft, noch nicht wusste, dass es einmal drei Kritiken werden würden. Mit einem Wort: Die drei Kritiken sind nicht als ein Ganzes angelegt, nicht als Ganzes geplant. Es fehlte der ›Masterplan‹. Dem aufmerksamen Leser konnte das nicht verborgen bleiben. Die Generation
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J. G. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I, 2, S. 259. Vgl.: Günter Zöller: Fichte lesen, (legenda; 4) Stuttgart Bad-Cannstatt 2013 Vgl. etwa: Manfred Frank: ›Unendliche Annäherung‹. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt a. M. 1997.
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
nach Kant suchte hier nach Einheit, mit Kants Worten, nach der ›unerforschlichen Wurzel‹, in der die menschlichen Vermögen zusammenhängen. (3) Eine dritte Aufgabe betrifft die Kritik der reinen Vernunft: Es wurde als sehr ungenügend empfunden, dass Kant die Kategorien als die wichtigsten, höchsten und reinen Verstandesbegriffe aus der Logik ableitete, indem er aus der Urteilstafel auf die Kategorientafel schloss. Für Kant war die Logik noch eine in sich abgeschlossene Disziplin, deren Inhalte gewiss und dauerhaft stabil sind, eine auch der Form nach vollendete Wissenschaft. Kant war davon überzeugt, dass eine konsistente Philosophie letztlich eine Urteilstheorie sein müsse. Damit ist die Philosophie für Kant unlösbar mit der Propositionalität verbunden. Das Urteil ist für ihn der originäre Ort der Erkenntnis und Wahrheit. Mittelbar hängen also auf diese Weise die Erkenntnisse durch Urteile mit der Logik zusammen; ja, letztlich gründen sich die Erkenntnisse der Form nach auf Logik. Die Philosophen von Fichte bis Hegel hatten ganz verschiedene Interessen und Auffassungen, von dem, was Philosophie ist und sein kann, aber in einem waren sie sich einig: Die Logik ist eine bloße Hilfsdisziplin und kann keineswegs in den Rang einer vollgültigen Wissenschaft erhoben werden. Logik ist ein dürres, inhaltsloses Gerippe, aus dem sich kein Funken lebendigen Geistes schlagen lässt. Unter diesem Aspekt ist die Aufgabe einer neuen Kategoriendeduktion gar nicht hoch genug einzuschätzen.⁴ (4) Ein vierter Punkt betrifft die liegen gelassenen, oder besser, von Kant ausgesparten, nichtsdestotrotz aber virulent gebliebenen Probleme der Kritik. An erster Stelle ist hier sicher das Ding-an-sich zu nennen. Ferner erschien das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand in seinem Antagonismus überspitzt. Hier war es vor allem die Lehre von den zwei Quellen oder Elementen der Erkenntnis, die als ein nur schlecht kaschierter Dualismus angesehen wurde. Kant hatte die Gegengerichtetheit von Sinnlichkeit und Verstand geradezu als Ausdruck der Endlichkeit des endlichen Vernunftwesens stilisiert. Die nachfolgende Generation erkannte in der Beschränkung des Subjekts nicht nur seine Depotenzierung, indem Kant für die Erkenntnis unüberwindliche Schranken konstatierte, sondern gleichfalls eine Restriktion der möglichen Inhalte für diese Subjektivität. Nicht ohne Grund entzündete sich gerade an den Inhalten der Geschichte, der Kunst oder der Religion in der nachklassischen Zeit ein besonderes Interesse, waren das doch diejenigen Disziplinen, in denen sich – so die Vorstellung der jungen Wilden – geradezu paradigmatisch die unendlichen Seiten der Subjektivität zeigten. Häufig sind Problemlösungen deshalb so ungemein erfolgreich, weil sie wie ein Schlüssel sind, mit dem sich ganz verschiedene Schlösser öffnen lassen. Ein solcher Schlüssel ist das berühmt-berüchtigte Ich der ersten Wissenschaftslehre Fichtes, der Grundlage der gesammelten Wissenschaftslehre von 1794/95.⁵ Dieses sich selbst setzende Ich bedeutet zunächst nichts anderes als die völlige Bewusstseinsimmanenz. Es ist ein 4
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Christoph Asmuth: »›Sie muß drum als Wissenschaft nicht nur vernachlässigt, sondern positiv bestritten, und ausgetilgt werden‹ – Fichtes Logik als Logikkritik,« in: Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus 12 (2014), S. 213–235. Vgl.: Wolfgang Class / Alois K Soller.: Kommentar zu Fichtes ›Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (Fichte-Studien. Supplementa; 19) Amsterdam/New York 2004. – Hier auch die relevante Literatur zu Fichtes Hauptwerk.
3.1. »Aus Verdruß warf ich mich in die Kantische Philosophie«
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Ausdruck der Überzeugung Fichtes, dass es ein Missverstehen der Intelligenz durch sich selbst, ein Missverstehen der hinter ihr liegenden konstitutiven Möglichkeitsbedingungen ist, eine erkenntnisunabhängige Dingwelt anzunehmen. Fichte reduziert deshalb die Zwei-Quellen-Theorie Kants auf eine Ein-Quellen-Theorie. Statt der Zweiheit von Sinnlichkeit und Verstand setzt Fichte nur noch das Ich. Wie sollte aber aus dem Ich zu erklären sein, dass für uns alle eine Außenwelt als Außenwelt erscheint? Nach dem Gesagten dürfte klar sein, dass der Grund für Fichte nicht in der Außenwelt liegen kann, sondern nur im Ich. Fichte findet daher im Ich eine unbeweisbare, absolute Form des Entgegensetzens. Die Formel der radikal konstruktivistischen Grundanlage der Wissenschaftslehre lautet daher: Das Ich setzt sich ein Nicht-Ich entgegen. Was auch immer in der Außenwelt als Außenwelt erscheint, es ist demzufolge gesetzt durch das Ich. Das Ich ist das ursprünglich Tätige, ist Tathandlung, Energie, Genesis. Die Wissenschaftslehre ist insofern keine Theorie der realen Entstehung unserer wirklichen Welt, sondern, ganz dem Duktus der Transzendentalphilosophie entsprechend, eine Philosophie, welche die Möglichkeitsbedingungen des Erkennens und Handelns bestimmt und untersucht. In Jena hat die Wissenschaftslehre noch zwei Teile, einen theoretischen und einen praktischen. Die Aufgabe des theoretischen Teils ist die Deduktion der Vorstellung, das heißt nach der Terminologie der Zeit, die Ableitung der strukturellen Elemente des empirischen Bewusstseins. Zu ihnen zählen vor allem die Kategorien sowie die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit. Durch eine spezielle Form von Dialektik entwickelt Fichte aus dem anfänglichen Ich der Wissenschaftslehre einen genetischen Prozess, in dem die Kategorien nacheinander und auseinander abgeleitet werden. Im Zusammenspiel der Kategorien mit den Anschauungsformen ergibt sich, wie bei Kant so auch bei Fichte, die Struktur des Gegenstandsbewusstseins. Am Ende des theoretischen Teils muss es zum wirklichen Bewusstsein kommen, ein Übergang, den man auch als die Transformation bloßer Möglichkeitsbedingungen in Wirklichkeitsbedingungen bezeichnen könnte. Allerdings geschieht dieser Übergang immer unter der Maßgabe, dass diese Transformation selbst eine Möglichkeitsbedingung ist. Ganz an Kant anschließend erkennt Fichte in der Einbildungskraft ein Vermögen, das Anschauung und reinen Begriff vermittelt und dadurch die Vorstellung möglich macht; stärker als Kant dringt er aber auf deren produktive, das heißt hier schöpferische Funktion. Die Einbildungskraft erzeugt keine Schemata wie bei Kant, sondern sie erzeugt die erscheinende Wirklichkeit selbst, die insofern Bild ist, Repräsentation. Die Frage nach einem Bildbegriff bei Fichte muss sich an diesem ersten Entwurf einer Einbildungskraft orientieren. Es zeigt sich dabei ein charakteristisches Moment, das in allen weiteren Versuchen Fichtes, eine Wissenschaftslehre zu entwickeln, vorkommt: Die Einbildungskraft ist ein bildererzeugendes Vermögen, das im Prozess der Bilderzeugung sich selbst verleugnet, daher möglich macht, dass uns das erzeugte Bild als reale Außenwelt entgegentritt. Während bei Kant noch die Vorstellung als Repräsentation im Vordergrund steht, wird sie bei Fichte zur Präsentation. Während Kant noch, sei es auch bloß aus methodologischen Gründen, ein Ding-an-sich als Fluchtpunkt der Vorstellung markiert, wird es bei Fichte gänzlich gestrichen. Das ist ein bedeutender Wandel von der repräsentierenden Vorstellung
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
zur präsentierenden. In der Präsentation gibt es jenen Fluchtpunkt nicht mehr, jenen Anker in einer wie auch immer real aufgefassten Außenwelt. Was Fichte von Kant gelernt hat Kant gehörte für Johann Gottlieb Fichte Zeit seines Lebens zu den wenigen großen Heroen der Philosophie und ihrer Geschichte. Fichtes erste intensive Kantstudien fallen in das Jahr 1790.⁶ Das Scheitern einer Hauslehrerstelle bei der Familie Ott in Zürich⁷ treibt den unter notorischen Geldsorgen leidenden Fichte nach Leipzig, wo er sich größere Hoffnungen macht, eine einträgliche Stelle zu bekommen. Ein Brief Fichtes an seinen Bruder erklärt die Situation aus der Retrospektive und wirft ein interessantes Licht auf die offene Lebenssituation des späteren Wissenschaftslehrers: »Ich ging mit den weitaussehendsten Aussichten und Plänen von Zürich: nicht um in Sachsen zu bleiben, sondern um in Leipzig den Erfolg meiner großen Pläne abzuwarten. […] Auf meiner Reise lernte ich große Personen kennen, die alle mich zu ehren schienen. Bewegungsgründe genug, um mir viel zuzutrauen. Ich war von Zürich aus dringend an den Premier Ministre in Dänemark, Graf von Bernstorf, an den großen Klopstok, u. s. w. empfohlen. Ich erwartete nichts weniger, als eine Ministerstelle in Coppenhagen. – Zu gleicher Zeit schrieb mir eine vornehme Dame aus Weimar:⁸ sie arbeite, und habe Hofnung, mich an einen Hof zu bringen. – Im kurzen scheiterten alle diese Aussichten, und ich war der Verzweiflung nahe. Aus Verdruß warf ich mich in die Kantische Philosophie (vielleicht ist Dir der Name einmal in einem der Bücher, die Du liesest, vorgekommen) die eben so herzerhebend, als kopfbrechend ist. Ich fand darin eine Beschäftigung, die Herz und Kopf füllte; mein ungestümer Ausbreitungs Geist schwieg: das waren die glüklichsten Tage, die ich je verlebt habe. Von einem Tage zum andern verlegen um Brod war ich dennoch damals vielleicht einer der glüklichsten Menschen auf dem weiten Runde der Erden.«⁹ In dieser Briefstelle spiegelt sich sowohl der unbefriedigte Ehrgeiz eines sozialen Aufsteigers am Ende des 18. Jahrhunderts und dessen Reflex in der Anrede an den im heimischen Rammenau gebliebenen Bruder als auch ein genuin philosophisches Interesse an der Theorie Kants und dessen Lösungspotential. Tatsächlich scheint sich Fichte erst 1790 in Leipzig intensiv mit Kant beschäftigt zu haben. Unklar bleibt indes, ob sich Fichte nicht
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Vgl. zur gesamten Thematik die detaillierte Untersuchung Armin G. Wildfeuer: Praktische Vernunft und System. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zur ursprünglichen Kant-Rezeption Johann Gottlieb Fichtes. (Spekulation und Erfahrung; II, 40), StuttgartBad Cannstatt 1999. Vgl. Fichte: Tagebuch Zürich, in: GA II 1, S. 209–221, insb. S. 214. Grund für das Scheitern dürften unvereinbare Vorstellungen von der Erziehung der Ottschen Kinder gewesen sein. Fichte moniert die mangelnde Konsequenz der Eltern, die ihm seinen Erziehungsauftrag erschwere, wenn nicht verunmögliche. Das ist Marie Christiane von Koppenfels (1748–1810), die – folgt man Fichtes Darstellung in einem an sie gerichteten Brief – von ihm erwartete, er werde bald das ›Schwerdt in der gelehrten Republik führen‹ (GA III 1, S. 135). J. G. Fichte: GA III 1, S. 222.
3.1. »Aus Verdruß warf ich mich in die Kantische Philosophie«
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schon früher, etwa in Zürich, mit der Kantischen Philosophie befasst hatte. Richtig ist, dass der Name Kants in den uns erhaltenen Dokumenten in der Tat erst im August 1790 fällt.¹⁰ Fichte schreibt, dass er einem Studenten Privatvorlesungen über die Philosophie Kants geben werde.¹¹ Ein Grund für das Ansinnen des Studenten könnte darin bestanden haben, dass Friedrich Gottlob Born (1743–1808), der seit 1786 in Leipzig Vorlesungen über Kant hielt, seine Veranstaltung über die Kritik der reinen Vernunft im Sommersemester 1790 aussetzte.¹² Im August 1790 schreibt Fichte an seine Verlobte nach Zürich, »daß ich mich jetzt über Hals und Kopf in die kantische Philosophie würfe, und sichtbar spürte, daß Kopf und Herz dabei gewönnen.«¹³ Besonders beeindruckt zeigt sich Fichte von der Kritik der praktischen Vernunft: »Ich lebe in einer neuen Welt, seitdem ich die Kritik der praktischen Vernunft gelesen habe. Sätze, von denen ich glaubte, sie seyen unumstößlich, sind mir umgestoßen; Dinge, von denen ich glaubte, sie könnten mir nie bewiesen werden, z. B. der Begriff einer absoluten Freiheit, der Pflicht u. s. w. sind mir bewiesen, und ich fühle mich darüber nur um so froher. Es ist unbegreiflich, welche Achtung für die Menschheit, welche Kraft uns dieses System giebt!«¹⁴ Die praktische Philosophie Kants hatte ihn aus einer Theorie gelöst, die auf einem streng verfahrenden Kausaldeterminismus basierte.¹⁵ Jetzt konnte er mit einem philosophischen Begriff der Freiheit operieren, der zugleich – im Umfeld der Französischen Revolution – politisch aufgeladen war.¹⁶ Von Anfang an versuchte Fichte, die Kritische Philosophie Kants fortzuentwickeln. Bereits im Sommer 1790, kurz nach der Lektüre der soeben erschienen Kritik der Urteilskraft,¹⁷ bemerkt er über Kant: »Er verspricht nun noch eine Metaphysik der Natur und eine 10 Vgl. Wilhelm G. Jacobs: J. G. Fichte, Reinbek b. Hamburg 1984, S. 20–22. 11 J. G. Fichte: GA III 1, S. 165. 12 Vgl. Konrad Lindner: »›Vom Begriff der Freiheit‹. Fichtes Leipziger Kant-Studien (1790)«, in: Fichte-Studien 9 (1997), S. 19–26. 13 »Brief an Marie Johanne Rahn, 12. August 1790«, GA III 1, 166. 14 Vgl. den »Brief an Friedrich August Weißhuhn vom Spätsommer 1790«, GA III 1, S. 167 f. 15 Vgl. dazu Armin G. Wildfeuer: Praktische Vernunft und System, S. 161–281. 16 Vgl. die Deklaration der Menschenrechte am 26. August 1789. 17 Auch der dritten Kritik brachte Fichte besondere Wertschätzung entgegen, wie aus der programmatischen Schrift »Über den Begriff der Wissenschaftslehre« hervorgeht: »Der Verfasser [Fichte, Ch. A.] ist bis jetzt innig davon überzeugt, daß kein menschlicher Verstand weiter, als bis zu der Grenze vordringen könne, an der Kant besonders in seiner Kritik der Urtheilskraft, gestanden, die er uns aber nie bestimmt, und als die letzte Grenze des endlichen Wissens angegeben hat. Er weiß es, daß er nie etwas wird sagen können, worauf nicht schon Kant, unmittelbar oder mittelbar, deutlicher oder dunkler, gedeutet habe. Er überläßt es den zukünftigen Zeitaltern das Genie des Mannes zu ergründen, der von dem Standpunkte aus, auf welchem er die philosophierende Urtheilskraft fand, oft wie durch höhere Eingebung geleitet, sie so gewaltig gegen ihr letztes Ziel hinriß.«, (GA I 2, S. 110). Die philosophische Bedeutung der Kritik der Urteilskraft beleuchtet Rolf-Peter Horstmann: »›Kant hat die Resultate gegeben …‹ Zur Aneignung der ›Kritik der Urteilskraft‹ durch Fichte und Schelling«, in: Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann (Hrsg.), Hegel und die »Kritik der Urteilskraft«, Stuttgart 1990, S. 45–65. Horstmanns Resümee: Fichte habe sich ausführlich mit der Kritik
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
Metaphysik der Sitten.«¹⁸ In dieser Bemerkung drückt sich die Einsicht aus, dass Kants Projekt noch nicht beendet sei, solange die Metaphysik noch fehlt, zu der die Kritik nur die Propädeutik ist. Zunächst versucht sich Fichte jedoch als Erklärer und Ausdeuter der Kantischen Philosophie. Ein Plan, die Kritik der reinen Vernunft zusammenzufassen und für ein größeres Publikum aufzubereiten, scheitert, weil er diese Aufgabe bereits durch Johann Gottlieb Peuker gelöst sieht.¹⁹ Als Dokument dieses Vorhabens dürfte Fichtes Manuskript Der Transscendentalen ElementarLehre. Zweiter Theil anzusehen sein. Ein weiteres Publikationsprojekt konnte Fichte nicht verwirklichen, einen Versuch eines erklärenden Auszugs aus Kants Kritik der Urteilskraft. Das Manuskript bleibt unvollendet. Gleichwohl kann er 1791 seinem Bruder mitteilen: »Ich fing eine Schrift an, über diese [Kantische] Philosophie, die zwar warscheinlich nicht herauskommen wird, weil ich sie nicht vollendet habe; der ich aber doch glükliche Tage, und eine sehr vortheilhafte Revolution in meinem Kopfe, und Herzen verdanke.«²⁰ Die nähere Bekanntschaft mit der Theorie Kants ist ein Wendepunkt in der philosophischen Biographie Fichtes. Auch die Entwicklung seiner eigenen Philosophie, der von ihm sogenannten Wissenschaftslehre, lässt sich nur aus der Kantischen Philosophie heraus begreifen. In ihrer frühesten Form, der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre aus den Jahren 1794/95, zeigt sie deutlich das Bemühen, die Kritik Kants in Metaphysik zu verwandeln, ohne dabei in den Dogmatismus zurückzufallen. Insbesondere ist es Fichtes Ziel, die Metaphysik als ein System zu begreifen, d. h. als ein organisches Ganzes, entwickelt aus einem Prinzip.²¹ Analog zu den Bemühungen Reinholds ist das gesuchte Prinzip ein Satz, der Grundsatz eines Systems. In der Fassung von 1794/95 heißt dieser Satz: ›Das Ich setzt sich selbst.‹ Dieses von Fichte hervorgehobene Ich ist eine Transformation der transzendentalen Apperzeption Kants.²² Der
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der Urteilskraft auseinandergesetzt, »ohne daß diese Auseinandersetzung zu deutlich erkennbaren Konsequenzen für die Konzeption seines eigenen systematischen Entwurfs geführt hat, […].« (S. 56 f.). J. G. Fichte: »Brief an Friedrich August Weißhuhn vom Spätsommer 1790«, GA III 1, S. 168. Johann Gottlieb Peuker: Darstellung des Kantischen Systems nach seinen Hauptmomenten zufolge der Vernunftcritik, und Beantwortung der dagegen gemachten Einwürfe. Besonders zum Gebrauch academischer Vorlesungen, Grottkau und Leipzig 1790. J. G. Fichte: »Brief an Samuel Gotthelf Fichte« 5. März 1791, GA III 1, S. 222. Vgl. Axel Hutter: »Dem blinden Trieb ein Auge einsetzen? Die Verkehrung von Fichtes ursprünglicher Intention in seiner Auseinandersetzung mit Kant«, in: Fichte-Studien 9 (1997), S. 163–180; insb. S. 171–173. Vgl. Fichtes Urteil in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95): »Auf unsern Saz (Das Ich setzt sich selbst; Ch. A.), als absoluten Grundsatz alles Wissens hat gedeutet Kant in seiner Deduktion der Kategorien; er hat ihn aber nie bestimmt aufgestellt.« (GA I 2, S. 262) Noch deutlicher zeigt sich diese Anknüpfung im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (GA I 4, S. 227–230): »Sonach finden wir ja bei Kant ganz bestimmt den Begriff des reinen Ich, gerade so, wie die WissenschaftsLehre ihn aufstellt. – Und in welchem Verhältnis denkt Kant […] dieses reine Ich zu allem Bewusstseyn? Als dasselbe bedingend. Somit wäre ja nach Kant die Möglichkeit alles Bewusstseyns durch die Möglichkeit des Ich oder des reinen Selbstbewusstseyns be-
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kritische Vorbehalt, der in Kants Theorie eine Hypostasierung des Ich verhinderte, ist bei Fichte methodisch gewendet. Zu den Voraussetzungen und Eingangsbedingungen für die Wissenschaftslehre gehören nun Reflexion und Abstraktion: Das transzendentale Ich soll rein aufgefasst werden, unabhängig von allen empirischen Bedingungen, damit es seine genetische Potenz entfalten kann.²³ Dabei beabsichtigt Fichte – im ersten Teil der Wissenschaftslehre – eine Konstruktion der Vorstellung; er verfährt dabei noch ganz ähnlich wie Kant: Vorstellung entsteht durch die Spontaneität der Begriffe im Zusammenspiel mit einem unerklärlichen Anstoß, der die Unverfügbarkeit der Erscheinungen garantiert: Die Vorstellung muss so gedacht werden, dass die Erscheinungen bestimmt und nicht unserer subjektiven Willkür unterworfen sind. Sie müssen objektiv sein. Deshalb entwickelt Fichte – in Fortsetzung der Kritik der reinen Vernunft – einen Begründungszusammenhang zwischen dem reinen, transzendentalen Ich und den Begriffen (Kategorien), vornehmlich Wechselbestimmung (Relation), Substantialität und Kausalität.²⁴ Zielpunkt Fichtes ist jedoch nicht allein die Erklärung der Vorstellung aus Prinzipien. Fichte geht es um den Primat des Praktischen.²⁵ So erhält die Realität erst dann ein Fundament, wenn das Ich auch als bestimmend gedacht wird. Die Welt wird nicht nur in ihrer faktischen Vorhandenheit angesehen, sondern es soll und muss in ihr gehandelt werden. Die in der Vorstellung sich manifestierende Welt wird zum Materiale der Pflicht. Der Weg Fichtes bis zum Ende der Jenaer Zeit spiegelt sich in der populären Schrift über Die Bestimmung des Menschen.²⁶ Sie soll dem gebildeten Leser die Resultate des spekulativen Jenaer Systems nahebringen und einen Einblick in den Stand der Transzendentalphilosophie geben. Fichte wählt eine literarische Form, in der ein Ich-Erzähler über die Entwicklung seines philosophischen Denkens berichtet. In einem ersten Teil, der Zweifel betitelt ist, vertritt der Erzähler zunächst einen strengen Determinismus. Alles Faktische ist bestimmt durch die Reihe aller vorhergehenden Zustände, d. h. durch eine geschlossene Kausalkette. Allem Werden ist daher ein Sein als Grund vorausgesetzt. Die Beschaffenheit der Dinge
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dingt, gerade wie die WissenschaftsLehre.« (Fichte, GA I 4, S. 229), vgl. Alfred Menzel: Die Grundlegung der Fichteschen Wissenschaftslehre in ihrem Verhältnis zum Kantischen Kritizismus Diss., Kiel 1909, S. 97–105. Vgl. Wilhelm Metz: »Die Bestimmung des Menschen nach Fichtes Wissenschaftslehre 1794–1798 im Ausgang von Kants Vernunftkritik«, in: Fichte-Studien 16 (1999), S. 137–150; ferner: Tom Rockmore: »Fichte, die subjektive Wende und der kartesianische Traum«, in: Fichte-Studien 9 (1997), S. 115–125. Vgl. die detaillierte Untersuchung von Wilhelm Metz: Kategoriendeduktion und produktive Einbildungskraft in der theoretischen Philosophie Kants und Fichtes. (Spekulation und Erfahrung; II, 21), Stuttgart-Bad Cannstatt 1991. Vgl. Marek J. Siemek: »Fichtes Wissenschaftslehre und die Kantische Transzendentalphilosophie«, in: Klaus Hammacher (Hrsg.): Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes, Hamburg 1981, S. 524–531. Ein Mißverständnis der Kantischen Lehre vom Primat des Praktischen sieht hier: Alfred Menzel: Die Grundlegung der Fichteschen Wissenschaftslehre,, S. 84. Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen, Herausgegeben und eingeleitet von Christoph Asmuth, Wiesbaden 2013.
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
kommt ihnen zu, wie ein Akzidens einer Substanz zukommt. Alle Veränderungen werden durch Naturkräfte erklärt. Das Ich ist ebenfalls der strengen Naturnotwendigkeit unterworfen. Die Veränderungen des Denkens und der Fortschritt der Menschheit entspringen der Denkkraft. Für Fichte ergibt sich daraus eine an Spinoza erinnernde Kosmologie, in der die Freiheit des Einzelnen bloß scheinbar ist. Der Wille bleibt auf einen Bewusstseinsakt reduziert. Gegen den Determinismus erhebt sich schließlich das Bewusstsein der eigenen Freiheit. Der Mensch will frei sein und nach selbst entworfenen Zweckbegriffen frei handeln. Der Determinismus befriedigt den »Verstand«; Freiheit jedoch ist eine Forderung des »Herzens«. Unschwer erkennt man hier die frühe Position Fichtes wieder, seine Befreiung aus der deterministischen Tradition durch die unter dem Primat des Praktischen sich formierende Philosophie Kants.²⁷ In einem zweiten Teil, Wissen betitelt, wird diese Aporie – dargestellt in einem Dialog des Erzählers mit einem Geist – gelöst durch die Transzendentalphilosophie. Der Ursprung der Vorstellung von Gegenständen liegt nicht mehr außerhalb des Ich, das als Subjekt-Objektivität verstanden wird. Vielmehr wird der Gegenstand durch ein konstitutives Handeln hervorgebracht und nicht von einem Sein verursacht. Der Gegenstand scheint dem unmittelbaren Bewusstsein gegeben, dem reflektierten Bewusstsein jedoch durch sich selbst gesetzt. Das Ich ist sowohl das Anschauende als auch das Angeschaute. Über die Vorstellung hinaus ist kein Wissen möglich, Vorstellung aber ist Repräsentation, Bild; das Wissen daher ein »System bloßer Bilder«,²⁸ eine Traum- und Schattenwelt ohne Realität. Fichte stellt die theoretische Philosophie in ihrem Lösungspotential dar, weist aber darauf hin, dass eine Philosophie letztlich unbefriedigend bleibt, wenn aller Gehalt auf Erscheinung restringiert ist und das Was dessen, das erscheint, für immer verborgen bleibt.²⁹ Die phänomenale Ebene der Philosophie, 27 Gesteht man zu, dass die Bestimmung des Menschen den denkerische Werdegang Fichtes quasi autobiographisch spiegelt, so darf man hierin sicher die vorkritische Position Fichtes identifizieren. Armin G. Wildfeuer (Praktische Vernunft und System) hat gezeigt, dass der Determinismus Fichtes, obwohl er inhaltlich viel mit der Ethik Spinozas gemein hat, sicher nicht aus Spinoza geschöpft ist (S. 192 f.). Als mutmaßlichen Kandidaten für eine Quelle Fichtes nennt Wildfeuer (S. 203–219) den Juristen Karl Ferdinand Hommel (1722–1781), dessen Naturrechtslehre im 18. Jahrhundert eine gewisse Bedeutung erlangte. Er ist der Autor der pseudonym erschienenen Schrift Alexander von Joch über Belohnung und Strafe nach Türkischen Gesetzen, Bayreuth/Leipzig 1770. Die verschiedenen expliziten und impliziten Zitate aus dieser Schrift bei Fichte (Wildfeuer, S. 209, Anm. 62) machen einen Einfluss auf die Entstehung seiner deterministischen Position wahrscheinlich. 28 J. G. Fichte: Die Bestimmung des Menschen GA I 6, S. 252. 29 In der Einleitung zur o. g. Ausgabe der Bestimmung des Menschen argumentiere ich dafür, gerade das zweite Buch der Bestimmung als satirisch-kritische Antwort auf Jacobi zu lesen. Ich bin der Auffassung, dass Fichte polemisch durch die Augen Jacobis auf die Philosophie der Wissenschaftslehre schaut. Fichte zeigt, was passiert, wenn man seine Philosophie nur einseitig als theoretischen Idealismus betrachtet Er übersteigert dort den Vorwurf Jacobis bis zur Karikatur: Vordergründig scheint er Jacobi Recht zu geben, indem er suggeriert, dass das zweite Buch mit dem Titel Wissen den Standpunkt der Wissenschaftslehre wiedergibt. Aber entscheidende Punkte erscheinen ins
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welche die Welt betrachtet, insofern sie Erscheinung ist, muss durch eine noumenale Ebene ergänzt werden – dies ganz in der Tradition Kants. Der 3. Teil Glaube – nun wieder monologisch – ergänzt den erkenntnistheoretischen Idealismus durch einen Realismus des Willens, entsprechend dem Primat des Praktischen. Die Realität entspringt der Fähigkeit, frei nach selbständig erzeugten Zweckbegriffen zu handeln. Glaube ist für Fichte das Interesse für die Realität und bewirkt, dass die Vorstellungen etwas bedeuten. Hierdurch gewinnen die Vernunftwesen, die unter theoretischer Perspektive nur Produkte meines Denkens sind, praktische Realität – Interpersonalität. Die Welt wird ausschließlich Objekt meiner Pflicht. Der irdische Zweck des Menschen ist die Realisierung des Vernunftstaates und des ewigen Friedens, der überirdische die Realisierung der intelligiblen Welt, das heißt der Sittlichkeit. Das Gesetz der übersinnlichen Welt ist der ewige, lebendige Wille, die Vernunft, letztendlich – Gott. 1806 – in der Anweisung zum seeligen Leben – kann Fichte daher behaupten, die wissenschaftliche Philosophie als System sei »zwar nicht in Absicht der Versuche, wohl aber in Absicht des Gelingens, vorher nie in der Welt gewesen; und [sei], nächst der Leitung des Geistes unsers großen Vorgängers, größtentheils unser eigenes Werk.«³⁰ Fichte deutet damit eine philosophiegeschichtliche Selbstverortung an, die er an verschiedenen Stellen seiner Schriften in unterschiedlich differenzierten Urteilen durchscheinen lässt: Am Anfang steht Platon, dann Jesus, schließlich folgt Kant als der erste, für den die Philosophie zum wissenschaftlichen System hat werden können. Der letzte in der Reihe ist Fichte selbst.³¹ Seine Wissenschaftslehre schließt den Gang der Philosophie szientifisch ab: Die Philosophie ist vollendet. Dieser Gang der Philosophie gleicht in Fichtes Konzeption keineswegs einem ruhigen, gedeihlichen Wachstum. Vielmehr zeigt sich die Geschichte der Philosophie durch eine fundamentale Verkehrung geprägt, deren erneute Verkehrung erst die wahre Philosophie hervorkehrt. Durch die Renaissance und die Reformation seien selbst die höchsten Wahrheiten der freien Prüfung zugänglich geworden, wodurch die Philosophie nicht unmittelbar gefördert wurde. Zunächst »bildete sich allmählich eine Philosophie, die den Versuch machte, ob nicht das, ihr unverständliche Buch der Natur und Erkenntnis einen Sinn bekommen möchte, wenn sie es verkehrt läse; wodurch nun freilich alles ohne Ausnahme aus seiner natürlichen Gegenteil verkehrt: so etwa die Behauptung, ich, der Denkende, sei ein Bild. Fichtes Selbstkarikatur unterschlägt, dass gerade der Ich-Begriff der Wissenschaftslehre als Inbegriff aller Realität aufgefasst werden muss. Vgl. Fichte: Die Bestimmung des Menschen, S. 25–27. – Vgl. ferner Ives Radrizzani: »Die ›Bestimmung des Menschen‹: der Wendepunkt zur Spätphilosophie?«, in: Fichte-Studien 17 (2000), S. 19–42; Hartmut Traub: »Über die Grenzen der Vernunft. Das Problem der Irrationalität bei Jacobi und Fichte«, in: Fichte-Studien 14 (1998), S. 87–106; Peter L. Oesterreich und Hartmut Traub: Der ganze Fichte. Die populäre, wissenschaftliche und metaphilosophische Erschließung der Welt, Stuttgart 2006; Günter Zöller: »›Das Element aller Gewißheit‹. Jacobi, Kant und Fichte über den Glauben«, in: Fichte-Studien 14 (1998), S. 21–41. 30 J. G. Fichte: Anweisung zum seeligen Leben, GA I 9, S. 70. 31 An einer anderen Stelle in der Anweisung nennt Fichte auch Friedrich Heinrich Jacobi und stellt ihn mit Kant und den großen Dichtern auf eine Stufe. Vgl. Fichte: Anweisung, GA I 9, 73 f.
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
Lage auf den Kopf gestellt wurde.«³² Diese Verkehrung betrifft den Vorrang des Denkens vor dem Sein. Die »Philosophie der Alten« war Idealismus: Das Denken prädominierte das Sein. Erst der Umbruch in das Gegenteil, der für Fichte schon mit dem Christentum und seinen ersten Anhängern begann, verdeckte die ursprüngliche, natürliche und wahre Ansicht der Philosophie. Aber erst der Empirismus der Aufklärung treibt die Verkehrung auf die Spitze, sodass eine erneute Revolution der Denkungsart notwendig wird, nun aber um die richtige Philosophie hervorzutreiben: »Es ist daher gar kein Wunder, wenn, nachdem die Unnatur uns zur Natur geworden, die Natur uns erscheint als Unnatur; und wenn, nachdem wir alle Dinge zuerst auf dem Kopfe stehend erblickt haben, wir glauben, die in ihre rechte Lage gerückten Dinge ständen verkehrt. Dies ist nun ein Irrthum, der mit der Zeit wohl wegfallen wird: denn Wir, die wir den Tod aus dem Leben ableiten, und den Körper aus dem Geist, nicht aber umgekehrt, wie die Modernen – wir sind die eigentlichen Nachfolger der Alten, nur daß wir klar einsehen, was für sie dunkel blieb; die vorher erwähnte Philosophie aber ist eigentlich gar kein Fortschritt in der Zeit, sondern nur ein possenhaftes Zwischenspiel, als ein kleiner Anhang zur völligen Barbarei.«³³ Fichtes Position scheint sich aus einer Diffamierungstaktik zu speisen, die ein Reflex auf die herrschenden philosophischen Strömungen seiner Zeit ist. Kalte Verstandesphilosophie und blindes Vertrauen auf die Geltung der sinnlichen Erfahrung sind die Schreckgespenster seines philosophischen Bekenntnisses. Interessant ist seine Wertung der Kantischen Wende. Es ist Fichtes Auffassung, dass die Wahrheit auf natürliche Weise zu erlangen sein muss und nicht durch den aufwendigen theoretischen Unterricht der Wissenschaftslehre: ein Rousseauismus der philosophischen Bildung, der dazu führt, die Einsichten der Transzendentalphilosophie als natürliche Philosophie des Menschen aufzufassen. Der sogenannte allgemeine Menschenverstand, auf den sich einige seiner Vorgänger beriefen, muss in Fichtes Augen zu einem Holzweg werden, demgegenüber das wirkliche gesunde Weltverständnis erst geltend gemacht werden muss: eine Wende zurück zu den »Alten«, verknüpft mit dem Fortschritt der Wissenschaftlichkeit im Felde der Metaphysik. Eine ähnliche Selbsteinschätzung trifft man auch in der Wissenschaftslehre 1804² an: »So viel aus allen Philosophien bis auf Kant klar hervorgeht, wurde das Absolute gesetzt in das Sein, in das todte Ding, als Ding; das Ding sollte sein das Ansich. (Ich kann im Vorbeigehen hinzusetzen, auch seit Kant ist es ausser in der W.-L. allenthalben und ohne Ausnahme bei den angeblichen Kantianern, so wie bei den angeblichen Commentatoren und Weiterbringern der W.-L. bei demselben absoluten Sein geblieben, und Kant ist in seinem wahren, von ihm freilich nirgends deutlich ausgesprochenen Princip, nicht verstanden worden: denn es kommt nicht darauf an, wie man dieses Sein nennt, sondern wie man es innerlich faßt und hält. Man nenne es immerhin Ich. Wenn man es ursprünglich objektivirt, und sich entfremdet, so ist es eben das alte Ding an sich).«³⁴ Neben den orthodoxen Kan32 J. G. Fichte: Anweisung, GA I 9, S. 73 f. 33 J. G. Fichte: Anweisung, GA I 9, S. 74. 34 J. G. Fichte: Die Wissenschaftslehre 1804. 2. Vortrag im Jahre 1804, (Hrsg) Reinhard Lauth und Joachim Widmann, Hamburg 1986, S. 10.
3.1. »Aus Verdruß warf ich mich in die Kantische Philosophie«
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tianern richtet sich Fichte vor allem gegen Schelling. Der habe vom Ich geredet, sich als Schüler Fichtes ausgegeben und versucht, die Wissenschaftslehre weiterzubringen. Es sei ihm indes nicht gelungen, die Tendenz zur Objektivierung zu unterlaufen; selbst das Ich sei ihm zu einem Sein geworden, zu einem toten Ding. In der Kritik scheint aber auch die Aufgabe durch: Kant soll besser verstanden werden, als er selbst sich ausdrückte.³⁵ Das Sein soll lebendig aufgefasst werden, nicht als Gegenstand, sondern als nicht objektivierbares Ich. Dies kann nur in einer Perspektive gelingen, die immanent (innerlich auffaßt und hält) verfährt, die Entfremdung und Vergegenständlichung aufhebt. Über Kant hinaus So sehr Fichte sich in die Tradition der tranzendentalphilosophischen Wende Kants stellt, so sehr er versucht, ihre Tendenzen zu verstärken und gegen ihre Gegner stark zu machen, so übt er doch Kritik an Kant, allerdings mit der Selbsteinschätzung, das Programm seines Lehrers und Vorgängers fortzuführen. Im ersten Teil der Wissenschaftslehre 1804² setzt sich Fichte intensiv mit Kant auseinander: Das Konzept, welches Fichte seiner Philosophie zugrunde legt, geht davon aus, dass als Prinzip weder das Ding, das tote Sein, noch die Vorstellung des Dings, das Bewusstsein, anzusehen sei, sondern die Einheit von Sein und Wissen, also das Absolute. Die Aufgabe des ersten Teils der Wissenschaftslehre 1804² besteht darin, dieses Prinzip möglichst adäquat aufzufassen, d. h., es als es selbst hervortreten zu lassen. Zu den Eigenschaften dieses Prinzips soll nach Fichte gehören, dass es dem Anspruch höchster Einheit genügt und zugleich dazu taugt, Prinzip der Disjunktion von Ding und Bewusstsein zu sein. Dieses Prinzip nennt Fichte reines Wissen, Wissen an sich, ohne Objekt. Diese Einsicht, die Einsicht nämlich vom Einheitspunkt und Disjunktionspotential des Wissens, schreibt Fichte der Philosophie Kants zu: »Dies entdeckte nun Kant, und wurde dadurch der Stifter der Transscendental-Philosophie. Die W.-L. ist Transscendental-Philosophie, so wie die Kantische, darin also ihr ganz ähnlich, daß sie nicht in das Ding, wie bisher, noch in das subjektive Wissen, was eigentlich nicht möglich: – denn wer sich auf das zweite Glied besönne, hätte ja auch das erste; – sondern in die Einheit beider das Absolute setze.«³⁶ Aber Kant sei in seinem Bemühen nach systematischer 35 Fichtes hermeneutisches Credo, das sich häufig in Bezug auf Kant äußert, basiert auf der Vorstellung, dass Geist und Buchstabe einer Theorie nicht zwangsläufig identisch sein müssen. Fichte richtet sich damit gegen die Anhänger Kants, die in den Augen Fichtes bloße Nachbeter und keine Selbstdenker sind. Dagegen favorisiert er die kongeniale Interpretation und räumt ihr einen Vorrang ein vor der wortgetreuen Exegese: »Es ist hier weder der Ort zu zeigen, was sich übrigens handgreiflich zeigen läßt, daß Kant sehr wohl auch das wußte, was er nicht sagte; noch der, die Gründe anzugeben, warum er nicht alles sagen konnte, noch wollte, was er wußte. Die hier [in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre; Ch. A] aufgestellten, und aufzustellenden Principien liegen offenbar den Seinigen zum Grunde, wie jeder sich überzeugen kann, der sich mit dem Geiste seiner Philosophie (die doch wohl Geist haben dürfte) vertraut machen will.« (GA I 2, S. 335). 36 J. G. Fichte: Die Wissenschaftslehre 1804/2,, S. 11.
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
Einheit nicht weit genug gegangen. Zu einer künftigen Wissenschaftslehre gehört nach Fichte ein Einheitsgrund der sinnlichen und übersinnlichen Welt. Diesen anzugeben habe Kant nicht vermocht. Ferner sei damit ein methodisches Problem verbunden: Für die Kritik der reinen Vernunft sei die sinnliche Erfahrung das Absolute, für die Kritik der praktischen Vernunft die moralische Welt. Die Kritik der Urteilskraft fordere eine unerforschliche Wurzel beider, was ein drittes Absolutes setze.³⁷ Damit bezieht sich Fichte unmittelbar auf Kant, der in der Kritik der Urteilskraft ebendies fordert: »Also muß es doch einen Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält, geben.«³⁸ Aufgabe der Wissenschaftslehre ist nicht die Vereinheitlichung der drei Kritiken, sondern die genetische Ableitung aus einem absoluten Prinzip, das zugleich Prinzip der Spaltung von Sein und Denken sein müsste.³⁹ Sowohl Kant als auch Fichte betrachteten ihre Philosophie als Philosophie im Umbruch. Die Rhetorik von Wende und Erneuerung durchzieht ihre Reflexionen über das eigene denkerische Tun. Sie bestimmt die Selbstverortung im Geschehen der Philosophiegeschichte und – nicht zu vergessen – in der politischen Welt. Die Französische Revolution und ihre Folgen bleiben Fichte immer gegenwärtig und bestimmen seine auf geistige und dann auch auf gesellschaftliche Revolution ausgerichtete Philosophie. Die Geschwindigkeit, mit der sich die wissenschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Prozesse entwickelten, hatte sich vor den Augen Kants und Fichtes beschleunigt und zugleich differenziert. Das Verhältnis Fichtes zur kritischen Philosophie Kants ist indes kompliziert. Am Ende des letzten Jahrhunderts debattierten die Fichte-Forscher intensiv über die sogenannte veränderte Lehre. Gemeint war die auffällige Umstrukturierung seiner Lehre nach 1800. Diskutiert wurde vor allem, ob Fichte dem transzendentalphilosophischen Denken seiner Anfangsjahre treu geblieben sei oder ob er eine grundsätzliche und das heißt prinzipielle Wende vollzogen habe. Im Folgenden will ich versuchen darzulegen, dass Fichte seine Lehre zwar verändert, aber nicht im Sinne einer Abschwächung oder gar Abschwörung seines transzendentalen Ausgangspunkts, sondern im Sinne einer Radikalisierung. Ein Aspekt dieser Entwicklung ist die Erweiterung der Transzendentalphilosophie. Das kritische Konzept Kants war weithin methodologisch kontrolliert. Kant dachte in Regionen. Verstand und Vernunft sind solche Regionen, Bereiche – nicht-ontologischer, sondern methodischer Natur –, in denen besondere Formen der Urteilsbildung anzutreffen sind.⁴⁰ Die Philosophie nach Kant ist unter anderem dadurch geprägt, dass die Regionalisierung zurückgenommen und neue Globalisierungen eingezogen werden. 37 Vgl. J. G. Fichte.: Wissenschaftslehre 1804. 2. Vortrag, S. 18–22. – Vgl. dazu Armin G. Wildfeuer: Praktische Vernunft und System, S. 433–438. 38 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, AA, V, S. 176. 39 Vgl. Reinhard Lauth: »Kants Kritik der Vernunft und Fichtes ursprüngliche Einsicht«, in: ders., Transzendentale Entwicklungslinien von Descartes bis zu Marx und Dostojewski, Hamburg 1989, S. 140–154. 40 Vgl. Christoph Asmuth: »Endliche Vernunft – Fichtes. Programm der Wissenschaftslehre«, in: Fichte im Streit. Festschrift für Wolfgang Janke zum 90sten Geburtstag. (Hrsg.) Hartmut Traub, Alexander Schnell, Christoph Asmuth, Würzburg 2018, 11–22.
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Erweiterungen
Für einen vergleichenden und unterscheidenden Blick auf Kant und Fichte gibt es gewichtige historische und gewichtige systematische Gründe. Historisch hat tatsächlich noch niemand bezweifelt, dass die Philosophie Fichtes in eminenter Weise auf die transzendentalphilosophische Wende Kants bezogen ist. Fichte selbst hat Zeit seines Lebens betont, dass er sich und seine Philosophie als Fortsetzung und Vollendung des Kantischen Denkens ansah. Der Ansatz Fichtes bildet in vielen Hinsichten eine Verlängerung der Kantischen Transzendentalphilosophie. Hier wäre im Einzelnen viel zu sagen, nämlich über den historischen Anknüpfungspunkt und die Art, in der Fichte das Kantische Programm weiterentwickelt.⁴¹ Freilich reicht eine solche Feststellung nicht aus. Es bleibt nämlich offen, wie dieser historisch offenkundige Bezug zu deuten und zu werten ist. Noch mehr als das: Es muss die Frage gestellt werden, was dieser Bezug systematisch bedeutet. Kann man Fichte als legitimen Erben der Kantischen Philosophie betrachten? Oder ist er gar deren Vollender? Oder ist er – ganz im Gegenteil – Verderber und Verfälscher eines ursprünglich kritischen Ansatzes bei Kant? Alle diese Thesen und Deutungen sind vertreten worden, und zwar mit unterschiedlichem Recht und unterschiedlichen Begründungsansätzen. Eines tritt aber in aller Deutlichkeit hervor: Bewertungsfragen dieser Art lassen sich nur kaum durch eine isolierte historische Untersuchung klären. Denn es ist offenkundig, dass hier unmittelbar systematische Anliegen ins Historische spielen: Wertungen setzen immer systematische Vorentscheidungen voraus. Und weiter: Die deutende Unterscheidung kommt selbst nur zustande, wenn ein systematisch motiviertes Interesse vorliegt.⁴² Damit hängt zugleich die Stichhaltigkeit solcher Wertungen an der – explizit oder implizit – an das Verhältnis herangetragenen systematischen Vorentscheidung. Die These der folgenden Untersuchung beruht auf der grundlegenden Unterscheidung von Urteils- und Bewusstseinstheorien. Die Urteilstheorie beruht auf einer sprachphilosophischen Grundeinsicht, nach der wahre Erkenntnisse sich in widerspruchsfreie urteilslogische Form verwandeln lassen müssen. Das Urteil wird dadurch zu einer zentralen Schaltstelle für Erkenntnis und Erkenntnisfortschritt, vor allem wenn es um wissenschaftliche Zusammenhänge geht. Die Bewusstseinstheorie geht dagegen von der Einsicht aus, dass Bewusstsein ein unhintergehbares Faktum ist. Urteile bilden dagegen nur eine Form des Bewusstseins. Bewusstsein umfasst über das Urteil und die Diskursivität hinaus auch Anschauung, Empfindung und Gefühl. Das setzt einen viel weiteren Rahmen voraus, zu dem nicht nur 41 Wilhelm Metz: Kategoriendeduktion; Armin Wildfeuer: Praktische Vernunft und System; Christoph Asmuth: »Von der Kritik zur Metaphysik. Der transzendentalphilosophische Wendepunkt Kants und dessen Wende bei Fichte«, in: Klaus Kahnert und Burkhard Mojsisch (Hrsg.), Umbrüche. Historische Wendepunkte der Philosophie von der Antike bis zur Neuzeit. Festschrift für Kurt Flasch zu seinem 70. Geburtstag, Amsterdam/Philadelphia 2001, S. 167–187. 42 Zum Verhältnis von Interpretation und Transformation im Zusammenhang der Philosophiegeschichte vgl. Christoph Asmuth: Interpretation – Transformation. Das Platonbild bei Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher und Schopenhauer und das Legitimationsproblem der Philosophiegeschichte, Göttingen 2006.
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
wissenschaftliche, sondern auch alle alltäglichen Bewusstseinsvorgänge gehören. Das sind eine Erweiterung und eine Veränderung. Es folgt daraus, dass Urteils- und Bewusstseinstheorie nicht strikt entgegengesetzt sind. Vielmehr gibt es Bereiche, die sich ineinander transformieren lassen. Der gesamte Bereich der Diskursivität gilt etwa auch für die Bewusstseinstheorie. Aber die Bewusstseinstheorie geht in ihrem Begründungsanspruch und in ihrer inhaltlichen Extension über die Urteilstheorie hinaus. Eine Reduktion scheint also möglich, allerdings nicht verlustfrei, wie ich im Folgenden zu zeigen versuche. In systematischer Hinsicht trage ich diese Unterscheidung von außen an Fichte und Kant heran. Das Interesse an dieser Transformation lässt sich nämlich allein historisch kaum rechtfertigen. Für Kant wie für Fichte ist das keine sinnvolle Alternative: Urteilstheorie oder Bewusstseinstheorie. Und doch darf man nach dieser Unterscheidung fragen, und zwar dann, wenn man im Lichte des 20. Jahrhunderts und in der Abenddämmerung eines zu scholastischer Trockenheit heruntergekommenen sprachphilosophischen Paradigmas nach Ursachen, Wurzeln und Grundüberzeugung zu fragen willens ist. Mehr noch: Der kalte Morgen eines neurologischen Bewusstseinsbegriffs, der sich als neues Paradigma stilisiert und damit das alte zu verdrängen meint, macht es noch dringlicher, nachzufragen: Ist es möglich, Sprachphilosophie durch Bewusstseinstheorie zu begründen oder gar zu ersetzen? Im Folgenden werde ich in einem ersten Schritt versuchen, Kants Transzendentalphilosophie als Urteilstheorie zu rekonstruieren. Ein zweiter Schritt wird zeigen, wie Fichte über Kant hinausgeht, indem er die Urteilstheorie in eine umfassende Bewusstseinstheorie verwandelt. Transzendentalphilosophie als Urteilstheorie Kants Leitfrage der theoretischen Philosophie lautet bekanntlich: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? In gewisser Hinsicht liegt es daher auf der Hand, Kants Erkenntniskritik als ›Urteilstheorie‹ zu bezeichnen. Eine solche Beschreibung kann sich darüber hinaus auf die Deduktion der reinen Verstandesbegriff ebenso stützen wie auf die erklärte Absicht einer ›Kritik der reinen Vernunft‹: Beide Momente zielen auf die diskursiven Vermögen, auf den Verstand einerseits, die Vernunft andererseits. Der Verstand ist bei Kant ein Vermögen der Begriffe. Der Verstand schaut nicht an, er ist nicht intuitiv, sondern diskursiv. »Es gibt aber, außer der Anschauung, keine andere Art, zu erkennen, als durch Begriffe«, sagt Kant. »Also ist die Erkenntnis eines jeden, wenigstens des menschlichen, Verstandes eine Erkenntnis durch Begriffe, nicht intuitiv, sondern diskursiv.«⁴³ Dabei beruhen die Anschauungen auf Affektionen, der Verstand auf Funktionen. In der Anschauung wird das Mannigfaltige gegeben, im Verstand wird es gedacht, d. h., die Mannigfaltigkeit des Rezipierten wird durch eine spontane Handlung des Verstandes unter eine Einheit gebracht. Nun wird Kant nicht müde zu betonen, dass gerade der Verstand kein Vermögen ist, das selbständig und aus sich heraus zu Erkenntnissen fähig ist. Er, der Verstand, ist immer angewiesen auf die Sinnlichkeit. Dies gerade macht das 43 Kant: KrV, AA, III, S. 92 f.
3.2. Erweiterungen
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kritische Geschäft aus, dass der Verstand rsp. die Vernunft zu keinen Erkenntnissen gelangen kann, die sich nicht – mittelbar oder unmittelbar – auf die Sinnlichkeit, d. h. auf etwas Gegebenes beziehen. Das bedeutet allerdings nicht, dass nicht auch der Verstand Ursprung eigener ihm eigentümlicher Erkenntnisinhalte ist. Es bedeutet nur, dass dem Verstand zur Erfüllung seiner eigentümlichen Inhalte etwas gegeben sein muss, nämlich sinnliche Daten. Diese Zwei-Quellen-Theorie Kants darf keinesfalls missverstanden werden. Kant stellt keine kompositionale Erkenntnistheorie vor, nach der zwei Bestandteile getrennt beschrieben und dann in einem weiteren synthetischen Akt aufeinander bezogen werden, sodass erst durch ein sukzessives Zusammensetzen Erkenntnis entstünde und ihre Entstehung erklärt werden könnte. In der Tat stünde eine solche Interpretation vor erheblichen Schwierigkeiten, die sich nicht nur auf Konflikte mit einzelnen Textpassagen reduzieren ließen. Eine gravierende Schwäche eines solchen Konzepts bestünde etwa darin, erklären zu müssen, warum Kant keine Physiologie oder besser: Anthropologie der Wahrnehmung, ja nicht einmal eine Strukturierung des Wahrnehmungsvermögens anbietet, die etwa auf die verschiedenen Sinnenvermögen einginge. In der Tat fehlt dieser Bereich in Kants Kritik der reinen Vernunft vollständig, und es lässt sich wohl kaum annehmen, dass er diesen klassischen Teil aller Erkenntnistheorie einfach vergessen hat. Ein starkes Indiz für diese Feststellung findet sich in der Tatsache, dass Kant diesen Teil der Sinnlichkeit in der Anthropologie behandelt. Dort redet Kant von der Sinnlichkeit in ihrem Unterschied zum Verstand, aber auch von den fünf Sinnen und ihren Besonderheiten. Kant entwickelt in der Kritik der reinen Vernunft einen ganz anderen Theorietyp. Die veränderte Fragestellung nach den Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis enthebt ihn der Notwendigkeit, zu erklären, wie die Sinneseindrücke im Erkenntnissubjekt entstehen. Es reicht ihm, darauf hinzuweisen, dass die Sinnlichkeit zu den Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis zählt und dass sie auf bestimmte Weise strukturiert ist. Ähnliches gilt für die Zwei-Quellen-Theorie. Die beiden Elemente der Erkenntnis werden als Möglichkeitsbedingungen thematisiert und als solche isoliert – ein Terminus, den Kant selbst verwendet: »In der transzendentalen Ästhetik also werden wir zuerst die Sinnlichkeit isolieren, dadurch, dass wir alles absondern, was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt, […].«⁴⁴ Vorausgesetzt ist nämlich stets, dass Erkenntnis als Synthesis von Verstand und Sinnlichkeit wirklich ist. Erst in der wirklichen Erkenntnis lassen sich ihre Möglichkeitsbedingen als Momente isolieren. Möglichkeitsbedingungen sind aber nicht wirklich, d. h., sie bedürfen keines zugrundeliegenden wirklichen Substrats. So ist die Sinnlichkeit nicht als wirkliches Moment vom Verstand abgetrennt, sondern nur im Hinblick auf die Möglichkeit der Erkenntnis in ihren ihr eigentümlichen Kompetenzen vom Verstand unterschieden. Zentrale Bedeutung erhält dabei der Begriff der Vorstellung. Der Verstand ordnet nämlich verschiedene Vorstellungen einer anderen unter, sodass Kant erklären kann, dass der Verstand ein Vermögen ist, Vorstellungen unter Vorstellungen zu subsumieren. Die Vorstellungen des Verstandes, die Begriffe, beziehen sich nicht 44 Kant: KrV, AA, III S. 51.
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
unmittelbar auf den Gegenstand, sondern auf eine andere Vorstellung. Dies ist eine Folge der transzendentalphilosophischen Reduktion der Dinge an sich auf Erscheinungen, also eine Folge der idealistischen Auffassung von Raum und Zeit. Kant benutzt einen sehr weiten Vorstellungsbegriff. Während in der klassischen Tradition, der Ausdruck Vorstellung (repräsentatio) noch reserviert war für den Bereich der auf die Sinnlichkeit bezogenen Erkenntnisse, wie etwa Gedächtnis (memoria) oder Einbildungskraft (imaginatio), erweitert Kant den Vorstellungsbegriff und fasst auch Begriffe, ja sogar reine Begriffe und Ideen, die ihrer Definition entsprechend keinen Ursprung in der Sinnlichkeit haben, unter den Oberbegriff ›Vorstellung‹.⁴⁵ Kant erklärt damit ein spezifisch begriffliches Verfahren: »Das Urtheil ist also die mittelbare Erkenntniß eines Gegenstandes, mithin die Vorstellung einer Vorstellung desselben.«⁴⁶ Wenn auch Kant überall betont, es gäbe zwei Zweige, Wurzeln oder Elemente der Erkenntnis, so ist ihm doch klar, dass beide einen gemeinsamen Gattungsbegriff besitzen, nämlich den der Vorstellung. Und das Subsumieren einer Vorstellung unter eine Vorstellung ist das dabei das dem Verstand eigentümliche Handeln: Das Urteilen ist jene Einheitsfunktion des Verstandes. »Alle Urtheile sind demnach Funktionen der Einheit unter unsern Vorstellungen, da nämlich statt einer unmittelbaren Vorstellung eine höhere, die diese und mehrere unter sich begreift, zur Erkenntnis des Gegenstandes gebraucht […] werden. Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urtheile zurückführen, so daß der Verstand überhaupt als ein Vermögen zu urtheilen vorgestellt werden kann.«⁴⁷ Daraus folgt aber auch, dass für Kant Urteilen und Erkennen zusammenfallen. Die Position Kants in der Kritik der reinen Vernunft ist keine Erkenntnistheorie, sondern Erkenntniskritik. Ihren Mittelpunkt bildet die Lehre vom objektiven Urteil und seinen Konstitutionsbedingungen. Erkenntnis in diesem Sinne ist stets Erkenntniserweiterung: Synthetische Urteile sind die einzig relevante Form des Erkennens. Damit ist die Kritik der reinen Vernunft zunächst kritische Forschungslogik, entstanden aus dem methodologischen Reflex auf die Möglichkeitsbedingungen des Erkennens. Alle anderen Urteilsformen werden dadurch an den Rand gedrängt. Charakteristisch dafür ist der § 19 der B-Deduktion. Die transzendentale Apperzeption ist der höchste Punkt allen Verstandesgebrauchs, von dem alle Verstandestätigkeiten abhängen. Dieses Vermögen, so Kant nachdrücklich, sei der Verstand selbst, und zwar deshalb, weil die transzendentale Apperzeption die Einheitsfunktion ausdrückt, die der Verstand ist. Die transzendentale Apperzeption lässt sich beschreiben mit dem Satz: »Ich denke«, der nämlich alle meine Vorstellungen begleiten können muss, und die selbst nichts anderes ist als ursprüngliche, d. h. allen Erkenntnissen vorhergehende Verbindung des Mannigfaltigen in einem Bewusstsein. Darum kann Kant schließen, »daß ein Urtheil nichts anderes sei, als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperception zu bringen. Darauf zielt das Verhältniswörtchen ist in denselben, um die objective Einheit gegebener Vorstellungen von der subjectiven zu unterscheiden. […] Dadurch 45 Immanuel Kant: KrV, AA, III, S. 249 f. 46 Immanuel Kant: KrV B, AA, III, S. 85. 47 Ibid., S. 86.
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allein wird aus diesem Verhältnisse ein Urtheil, d. i. ein Verhältniß, das objectiv gültig ist und sich von dem Verhältnisse eben derselben Vorstellungen, worin bloß subjective Gültigkeit wäre, z. B. nach Gesetzen der Association, hinreichend unterscheidet. Nach den letzteren würde ich nur sagen können: wenn ich einen Körper trage, so fühle ich einen Druck der Schwere; aber nicht: er, der Körper, ist schwer; welches so viel sagen will als: diese beide Vorstellungen sind im Object, d. i. ohne Unterschied des Zustandes des Subjects, verbunden und nicht bloß in der Wahrnehmung (so oft sie auch wiederholt sein mag) beisammen.«⁴⁸ Das prädikative ›Ist‹ im ›Ist-Sagen‹ ist für Kant der Indikator für das objektive Urteil. Das Urteil scheint hier, in der Kritik der reinen Vernunft, eingegrenzt zu werden auf das Feld der objektiven Einheit, d. h. auf Erkenntnisse, die sich auf das Objekt beziehen und diesem ein allgemeingültiges Prädikat zusprechen. Diese Einengung beruht auf der Ausrichtung der Kritik auf ein wissenschaftstheoretisches Grundprogramm. In den Prolegomena unterscheidet Kant – bedeutend offener – zwischen Erfahrungsurteilen und Wahrnehmungsurteilen. Auch in den Prolegomena ist für Kant klar, dass einzig die Erfahrungsurteile objektive Geltung beanspruchen können. Wahrnehmungsurteile gründen sich auf die subjektive Empfindung, aber beanspruchen keine Allgemeingültigkeit. Hier findet ebenfalls eine Beziehung des Mannigfaltigen der Anschauung auf die Einheit des Verstandes statt; hier sind ebenfalls Begriffe als Einheitsfunktionen im Spiel, auch und gerade dann, wenn es sich nicht nur um reine Begriffe handelt. Die besondere Funktion, die den Kategorien als den reinen Begriffen des Verstandes zukommt, liegt in ihrer Bedeutung für die Allgemeingültigkeit objektiver Urteile, d. h. in ihrer Funktion, naturwissenschaftliches Forschen möglich zu machen, das sich in allgemeingültigen Urteilen aussprechen und in universellen Naturgesetzen ausdrücken lässt. Zu fragen bleibt, inwieweit Analoges auch für die praktische Philosophie Geltung hat. Die Beziehung zu den diskursiven Vermögen liegt auf der Hand, ist doch unmittelbar klar, dass die Regeln des Handelns auf praktischer Vernunft beruhen müssen. Diese Regeln heißen – nicht wie im theoretischen Verstand Kategorien oder in der theoretischen Vernunft Ideen –, sondern sie heißen Imperative. Nach Kant haben »alle sittliche Begriffe völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und Ursprung.«⁴⁹ Der Analogie folgend wird ein Imperativ ein normatives Urteil sein, und die praktische Philosophie folglich eine Theorie normativer Urteile.⁵⁰ In der praktischen Philosophie gibt es ebenfalls Subsumtionsverhältnisse, nämlich die der Maximen unter den kategorischen Imperativ, allerdings nicht unter Maßgabe des Faktischen, sondern unter den Vorzeichen des Praktisch-Normativen. Die Regeln beschreiben nicht den Verstandesgebrauch, wie er der Sinnlichkeit folgt, sondern die Regeln, die dem Handeln vorschreiben, was sein soll. Kants kritische Philosophie erweist sich also in verschiedenen Hinsichten als Urteilstheorie. Sie ist Sprachphilosophie, unter besonderen Aspkten sogar kritische Sprachphilosophie. Fichte weitet den transzendentalphilosophischen Ansatz 48 Ibid., S. 114. 49 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten IV, S. 411. 50 Vgl. Immanuel Kant: Jaesche-Logik § 32: Theoretische und praktische Sätze, AA, IX, S. 110 f.
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
in charakteristischer Weise aus, in dem er die feste Bindung an die Sprache, genauer: an das Urteil und seine Formen, aufhebt, und das Bewusstsein überhaupt in den Fokus der Aufmerksamkeit stellt. Er überträgt damit Resultate einer diskursiv orientierten Philosophie auch auf nicht-diskusive Inhalte, Inhalte die ihrer Struktur nach niemals in der Sprache ausgedrückt, gleichwohl aber gedacht – oder gewusst und bewusst – gemacht werden können oder aber – vollzogen werden können. Transzendentalphilosophie als Bewusstseinstheorie Fichtes Wissenschaftslehre unternimmt von Anfang an den Versuch, die Transzendentalphilosophie Kants zu erweitern.⁵¹ Das liegt an Fichtes Interesse, die von ihm – und nicht nur von ihm – konstatierte Unzulänglichkeit der Theorie Kants auszuräumen. Fichte erkennt vor allen Dingen Defizite in der Kategoriendeduktion und im Zusammenhang der drei Kritiken, d. h., er vermisst jenen Zusammenhang zwischen den drei Vermögen oder Zweigen der Erkenntnis: theoretische Vernunft, praktische Vernunft, Urteilskraft. Die Wissenschaftslehre stellt sich zunächst als Versuch einer grundlegenden systematischen Integration des von Kant bereits Geleisteten dar. Dass damit gleichzeitig eine Entgrenzung verbunden ist, liegt an der Unterschiedlichkeit der drei Projekte Kants. Nur scheinbar liegen nämlich die Kritik der reinen und die Kritik der praktischen Vernunft auf einer Ebene. Tatsächlich ist die Kritik der reinen Vernunft keine durchgeführte theoretische Philosophie, keine Erkenntnistheorie im eigentlichen Sinne. Ihr Ziel ist vielmehr die Befestigung der Erkenntnisgrenzen, und – in eins damit – die Befestigung des naturwissenschaftlichen Wissens innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft. Dagegen ist das Feld der praktischen Philosophie bedeutend weiter. Es bezieht sich nämlich auf das Feld aller Handlungen, wenn sie unter dem Aspekt der Normativität gefasst werden. Dem entspricht, dass die Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft nicht dieselbe Bedeutung besitzt wie die Dialektik in der theoretischen Vernunftkritik. Die Kritik der reinen Vernunft bezieht sich nur auf einen kleinen Ausschnitt unseres Wissens: als legitimierende Metatheorie naturwissenschaftlichen Forschens. Hier ist gerade die Grenzziehung von eminenter Bedeutung. Fichtes Wissenschaftslehre unternimmt von Anfang an den Versuch, das Wissen überhaupt zu begründen. Damit geht sie auf der theoretischen Seite weit über das hinaus, was Kant mit der Kritik der reinen Vernunft wollte: Die Wissenschaftslehre versucht die Vorstellung überhaupt zu erklären und nicht mehr bloß das wissenschaftliche Sprechen und Urteilen zu begrenzen, um es zu sichern. Der Begriff der Vorstellung bekommt dadurch bei Fichte einen ganz anderen Charakter. Er enthält nicht mehr die immanente Dichotomie des Artunterschieds von intuitiver und diskursiver Vorstellung, sondern integriert beide Momente. Der zugrundeliegende Wissensbegriff bei Fichte ist primär synthetisch und damit von vornherein nicht mehr begrenzt auf eine Theorie des Urteils, sondern betrifft jeden Bewusstseinsinhalt, vom Gefühl bis zur theoretischen Konstruktion der Wissenschaftslehre selbst. 51 Dieses Anliegen verbindet ihn mit dem frühen Schelling. Vgl.: F. W. J. Schelling System des transscendentalen Idealismus AA, I, 9, 1, S. 24
3.2. Erweiterungen
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Dabei verfährt Fichte in der Grundlage noch relativ unentschieden. Am Anfang stehen drei Grundsätze, die durch ein ähnliches Verfahren gewonnen werden, wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Sinnlichkeit mit ihren reinen Formen auffindet. Kant nannte das Verfahren Isolation, Fichte nennt es in der Grundlage Abstraktion und Reflexion, genauer: »Bei Darstellung dieser Thathandlung ist weniger zu befürchten, dass man sich etwa dabei dasjenige nicht denken werde, was man sich zu denken hat – dafür ist durch die Natur unseres Geistes schon gesorgt – als dass man sich dabei denken werde, was man nicht zu denken hat. Dies macht eine Reflexion über dasjenige, was man etwa zunächst dafür halten könnte, und eine Abstraction von allem, was nicht wirklich dazu gehört, nothwendig.«⁵² Ähnlich wie für Kant in jeder Erkenntnis die Sinnlichkeit immer schon mit den Leistungen vermischt ist, liegt auch für Fichte die Tathandlung in jedem Bewusstseinsakt, allerdings vermischt –, was für beide einen eigenen Akt nötig macht, der Sinnlichkeit bzw. Tathandlung als solche begreifbar macht. Fichte isoliert aber nicht mehr einen einzelnen konstitutiven Zweig der Erkenntnis bzw. dessen Möglichkeitsbedingungen, sondern die einige Grundlage aller Erkenntnis selbst. Bei Kant ist es der Begriff der Vorstellung, der, wie eine Klammer, die Möglichkeitsbedingungen in ihrer Dichotomie zusammenzwingt. Bei Fichte ist es die Synthese und Synthesisleistung der Tathandlung, die sich ausdrückt in den drei ersten Grundsätzen. Unentschieden bleibt dabei die Ambivalenz von Darstellung und Gehalt, eine Unbestimmtheit, deren Entscheidung für Fichte in späteren Jahren zum zentralen Problem werden sollte. Form und Gehalt werden zwar von Grundsätzen in ihrer Unbedingtheit ausgesagt, es fehlt aber ein Reflex auf die Form des Satzes selbst. Tatsächlich legt Fichte aber eine Beziehung nahe zwischen dem Setzen und den Sätzen, in denen das Setzen des Ich ausgedrückt wird. Das ganze Wortfeld von Setzen, Satz und Gesetz durchdringt die Grundlage ebenso wie die vielen anderen Versuche Fichtes, das Wissen sich selbst transparent werden zu lassen. Während also das Setzen des Ich in absoluter Dynamik aufgefasst werden soll, verfährt Fichtes Wissenschaftslehre 1794 noch immer in Sätzen. Dabei ist klar, dass das energische und energetische Setzen sich gerade nicht in Sätzen ausdrücken und demonstrieren lässt, sondern nur im Vollzug wirklich ist. Unterschwellig bedient sich Fichte dabei noch der Urteilstheorie Kants, für dessen Kategoriendeduktion es gerade eminent wichtig ist, dass sie den logischen Urteilen entspringen. Fichte versucht aber diese Begründung zu suspendieren. Die Logik kann für ihn nicht Begründung für die Kategorien sein, sondern nur umgekehrt: Aus der Wissenschaftslehre muss die Logik entwickelt werden können, obwohl die Folgerichtigkeit des Denkens faktisch auch für die Wissenschaftslehre gilt. »Die Gesetze, nach denen man jene Thathandlung sich als Grundlage des menschlichen Wissens schlechterdings denken muss, oder – welches das gleiche ist – die Regeln, nach welchen jene Reflexion angestellt wird, sind noch nicht als gültig erwiesen, sondern sie werden stillschweigend, als bekannt und ausgemacht, vorausgesetzt. Erst tiefer unten werden sie von dem Grundsatze, dessen Aufstellung bloss unter Bedingung ihrer Richtigkeit richtig ist, abgeleitet. Dies ist ein Cirkel; aber es ist ein unvermeidlicher Cirkel. Da er nun unvermeidlich, und frei 52 J. G. Fichte: Grundlage, I, 2, S. 91.
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
zugestanden ist, so darf man auch bei Aufstellung des höchsten Grundsatzes auf alle Gesetze der allgemeinen Logik sich berufen.«⁵³ Diese Ableitung der Logik aus der Wissenschaftslehre muss Fichte stets als Desiderat empfunden haben; denn sie wird ihm zum Programm, wenn er 1812 zweimal Vorlesungen hält mit dem Titel: Vom Verhältnis der Logik zur wirklichen Philosophie, als ein Grundriß der Logik, und eine Einleitung in die Philosophie, die bekannt sind unter dem leicht irreführenden Titel, die Fichtes Sohn diesen Vorlesungen gab: Transzendentale Logik. Dort vertritt Fichte die Auffassung, die Logik sei eine bloße Folge der Psychologie, d. h. einer empirischen Erkenntnistheorie.⁵⁴ Mehr noch: »Die Logik bleibt in der Empirie behangen: sie ist drum durchaus nicht Wissenschaft.«⁵⁵ Tatsächlich ist diese Umkehrung gegenüber dem Programm Kants von erheblicher Bedeutung. Sie folgt nicht nur aus der Ablehnung einer Zwei-Quellen-Theorie, sondern ist eine direkte Konsequenz der Grundlegungsproblematik. Fichte will die Kategoriendeduktion, d. h. einen wesentlichen Bestandteil der Konstitution der Vorstellung, nicht abhängig machen von einer von ihm als defizient betrachteten, rein formalen Logik. Die Logik kann nur tote Abstraktion sein von einer lebendigen, die Einheit von Anschauung und Begriff ausdrückenden Sprache. Fichte hat sich niemals umfassend – etwa in einem Werk über Theorie oder Philosophie der Sprache⁵⁶ – über die Bedeutung der Sprache und des Sprechens geäußert. Am nächsten kommt dem noch die Transzendentale Logik (1812). Es 53 54 55 56
J. G. Fichte: Grundlage, GA I, 2, S. 92. J. G. Fichte: Transzendentale Logik 1812/1, GA II, 14, S. 11. J. G. Fichte: Transzendentale Logik 1812/1, GA II, 14, S. 13. Fichtes Aufsatz Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache, der im ersten Band des Philosophischen Journals Teutscher Gelehrten 1795 (H. 3, S. 255–273; H. 4, S. 287–326) erschien, ist eine apriorische Theorie des Sprachursprungs, weniger aber eine Philosophie der Sprache oder eine Theorie des philosophischen Sprechens. – Vgl. zu Fichtes Theorie der Sprache: Wolfgang Janke: »Die Wörter ›Sein‹ und ›Ding‹ – Überlegungen zu Fichtes Philosophie der Sprache«, in: Klaus Hammacher (Hrsg.), Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes, Hamburg 1981, S. 49–67; ders., »Logos: Vernunft und Wort. Humboldts Weg zur Sprache und Fichtes Sprachabhandlungen«, in: Wolfgang Janke: Entgegensetzungen. Studien zu Fichte-Konfrontationen von Rousseau bis Kierkegaard. (Fichte-Studien-Supplementa; 4) Amsterdam/Atlanta 1994, S. 23–45; Jergius Holger: Philosophische Sprache und analytische Sprachkritik. Bemerkungen zu Fichtes Wissenschaftslehren (Symposion. Philosophische Schriftenreihe. 51), Freiburg/München 1975; Anna Maria Schurr-Lorusso: »Il pensiero linguistico di J. G. Fichte«, in: Lingua e stile 5 (1970), S. 253–270: Jere Paul Surber: »The Historical and Systematic Place of Fichte’s Reflection on Language«, in: Daniel Breazeale und Tom Tockmore (Hrsg.), Fichte. Historical Contexts. Contemporary Controversies, Atlantic Highlands, N. J. 1994, S. 113–127; Jere Paul Surber: »J. G. Fichte and the ›Scientific‹ Reconstruction of Grammar«, in: Daniel Breazeale und Tom Tockmore (Hrsg.), New Perspectives on Fichte, Atlantic Highlands, NJ 1996, S. 61–77; Manfred Zahn: »Fichtes Sprachproblem [sic!] und die Darstellung der Wissenschaftslehre«, in: Klaus Hammacher (Hrsg.), Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes, Hamburg 1981, S. 155–167. – Wichtige Einsichten zu Fichtes Sprachphilosophie finden sich bei Klaus Kahnert: »Sprachursprung und Sprache bei J. G. Fichte«, in: Christoph Asmuth (Hrsg.), Sein – Reflexion – Freiheit. As-
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gibt allerdings überall in seinem Werk, häufiger in seinem Spätwerk, verstreute Äußerungen und Hinweise, die daran denken lassen, dass Fichte so etwas wie eine Theorie der Sprache vorschwebte. Aus diesen Ansätzen und Äußerungen kann man aber doch so viel entnehmen, dass das Sprechen nicht nur der Ort ist, an dem das Wissen sich durchsichtig wird, sondern sich gleichzeitig auch verfehlt. Urteile sind – Fichte zufolge – gar nicht der Ort, an dem es primär und authentisch um das Wissen geht. Es ergibt sich also ein ambivalentes Bild. Das erste Moment, das die Macht des Philosophen über die Sprache, über die philosophische Begrifflichkeit akzentuiert, bezeichnet Fichte als das »eigenthümliche Recht des Philosophen über den Sprachgebrauch«.⁵⁷ Ziel sei es, eine der Theorie angemessene Terminologie zu entwickeln.⁵⁸ Dabei ist nicht etwa an eine vorhandene, nur neu zu belebende Begriffssprache zu denken. So wie die Gehalte der Wissenschaftslehre – nach Fichtes Worten – vor der Wissenschaftslehre noch nicht vorhanden sind, so ist auch die Sprache, in der die Wissenschaftslehre sich ausspricht, vor der Wissenschaftslehre noch nicht vorhanden. Sie wird in der Wissenschaftslehre durch die Wissenschaftslehre generiert. Gegen dieses Moment der Sprachmacht setzt Fichte das Moment einer weitreichenden Sprachohnmacht. Die Sprache ist defizient. Sie versagt am und mit dem Denken, denn sie vermag nicht, mit der Sprache über die sprachliche Ebene hinaus zum An-Sich des Gedachten vorzudringen. Darin liegt die absolute Beschränkung der Sprache – im Angesicht der Wahrheit. Interessanterweise ist damit eine Kritik des Ist-Sagens verbunden, welches noch für Kant geradezu das Signum eines objektiven Urteils ist. Wirkliches, dasheißt aus seinem Prinzip genetisch begründetes Wissen kann für Fichte nicht in einem Ist-Sagen bestehen, dasheißt, nicht auf einem Urteil beruhen. Dieser Zusammenhang von Ist-Sagen, Objektivität und Äußerlichkeit als Attribute des Urteilens findet sich auch an einer anderen prominenten Stelle: »Ich nemlich sage: Unmittelbar, und in der Wurzel, ist – Daseyn des Seyns das – Bewusstseyn, oder die Vorstellung des Seyns, wie sie an dem Worte: Ist, dasselbe von irgend einem Objecte, z. B. dieser Wand, gebraucht, sich auf der Stelle klar machen können. Denn was ist nun dieses Ist selber, in dem Satze: die Wand ist? Offenbar ist es Nicht die Wand selber, und Einerlei mit ihr; auch giebt es sich dafür gar nicht aus, sondern es scheidet, durch die dritte Person, diese Wand, als ein, unabhängig von ihm seyendes, aus von sich: es giebt sich also nur für ein äußeres Merkzeichen des selbstständigen Seyns, für ein Bild davon, oder, wie wir dies oben aussprachen, und wie es am bestimmtesten auszusprechen ist, als das unmittelbare, äußere Daseyn der Wand, und als ihr Seyn außerhalb ihres Seyns.«⁵⁹ Damit verbindet Fichte das prädikative und das existentiale ›Ist‹ zu einem synthetischen ›Ist-Sagen‹, das in einer doppelten Funktion besteht, nämlich vermittelst der Prädikation zugleich
pekte der Philosophie J. G. Fichtes, (Bochumer Studien zur Philosophie. 25), Amsterdam/Philadelphia 1997, S. 191–219. 57 J. G. Fichte: Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre, GA II 7, S. 378. 58 Vgl. Reinhard Lauth: »Vorwort« zu: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer, GA I 2, 187 f. 59 J. G. Fichte: Anweisung, GA I, 9, S. 86 f.
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
Entäußerung zu sein – ein Sein außerhalb des Seins, ein Bewusstsein, OffenbarSein des Seins, anzuzeigen – und das Sein selbst auszusagen. Das Absolute ist das »Allerklarste und zugleich das Allerverborgendste, da wo keine Klarheit ist. Viel Worte lassen sich über ihn [diesen Punkt; Ch. A.] nicht machen, sondern er muss eben mit Einem Schlage begriffen werden; um so weniger lassen sich über ihn Worte machen, noch durch sie dem Verständnisse nachhelfen, da die erste Grundwendung der Sprache, die Objektivität, […] hier in absoluter Einsicht vernichtet werden soll.«⁶⁰ Für Fichte ist das Absolute in der Weise eins, dass es nicht geäußert werden kann. Das Absolute verweigert sich der Objektivität des sprachlichen Zugriffs. Die Objektivität be-deutet nichts in Bezug auf das Absolute. Wie auch immer in einer Transzendentalphilosophie der Begriff des Absoluten aufgefasst werden muss,⁶¹ der Wissenschaftslehrer weiß jedenfalls, »daß diese Objektivität [des Sprechens der Wissenschaftslehre] eben so wenig, als irgend eine andere, Etwas bedeutet, […].« Die Grundwendung der Sprache, auf die Fichte hier anspielt, die Objektivität, ist eben jenes Be-Deuten der Begriffe, ihr Bezogensein auf etwas außer ihnen, als dessen Repräsentant sie aufgefasst werden, das Ist-Sagen im Urteil. Diese Kritik an der Sprachform hat Folgen für den gesamten Aufbau der Philosophie. Fichte ist überzeugt, dass die Zwei-Quellen-Theorie Kants korrigiert werden muss. Da er aber eine Quelle im Ding-an-sich ausschließt, bleibt nur die absolute Bewusstseinsimmanenz. Ähnlich wie Kant, aber radikaler in der Formulierung, besteht auch Fichte auf der absoluten Synthesis von Anschauung und Begriff; das eine lässt sich vom anderen nicht ablösen. Mehr noch: »Absolute Vereinigung der Anschauung u. des Begriffs. Alles begriffen, was im Bewußtsein vorkommt; denn es ist nur durch den Begriff im Bewußtseyn..«⁶² Gleichzeitig zieht Fichte die Konsequenz aus der von ihm konstatierten radikalen Bewusstseinsimmanenz: »Meine Absicht ist, Ihnen zu zeigen, daß auch die Begriffe des in der Empirie vorkommenden wirklichen, schlechthin apriorisch sind, d. i. im Wissen, durch das Wissen, u. dessen innere Gesetze sich selbst machen, ohne Zuthun irgend eines fremden Princips außer dem Wissen.«⁶³ Fichte löst also die empirischen Begriffe in apriorische, d. h. reine Begriffe auf. » schlechthin aller Begriff apriorisch (aller, ohne Ausnahme, auch der empirische.)«¹³ Auf diese Weise wird der Begriff völlig absorbiert von der Bewusstseinstheorie; er wird der Logik entfremdet und verschweißt mit der Anschauung. Die Urteilstheorie Kants gerät dadurch völlig aus dem Blick. Da der Begriff nicht sprachlich aufgefasst wird, sondern in seinem Begriffsgehalt anschaulich ist, weist er alle Formalität, aber auch die sprachliche Diskursivität ab: Urteilen und Schließen sind nur noch niedere Funktionen eines am authentischen Gehalt orientierten Wissens.
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J. G. Fichte: Wissenschaftslehre 1804/2, GA, II 8, S. 228 f. – Vgl. auch ibid., S. 230 Zum Begriff des Absoluten vergl. das Kap. 4.2 Fichte und das Absolute. J. G. Fichte: Transzendentale Logik 1812/1, GA II, 14, S. 17. J. G. Fichte: Transzendentale Logik 1812/1, GA II, 14, S. 27.
3.3. Das Hohe Lied der Einbildungskraft
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Entgrenzungen Getrost darf man fragen, ob diese Entgrenzung erfolgreich sein kann. Reißt Fichte nicht Unterscheidungen ein, die im Hinblick auf eine differenzierte Erkenntnisund Wissenschaftstheorie von größter Bedeutung sein könnten? Reduziert er damit das Problempotential zugunsten seiner Grundlegungsproblematik? Analoge Bestrebungen gibt es in der heutigen Philosophie: Es herrscht eine weitverbreitete Unzufriedenheit mit dem konventionellen Wissensbegriff. Der Vorwurf lautet: Der klassische Wissensbegriff grenzt wichtige Felder aus: vorreflektive Einstellungen, seien diese sprachlicher oder weltanschaulicher Art. Gefühle und Empfindungen haben, so der Einwand, ebenfalls kognitive Struktur und dürfen aus dem Wissensbegriff nicht eliminiert werden. Körperliche Bewegung, Habitus, Gewohnheit und Gewöhnung seien die entscheidenden Komponenten, wohingegen die technifizierte, logifizierte und mathematisierte Vernunft keinen Anspruch auf Authentizität haben könne. Diese Frage kann hier nicht entschieden werden. Denn es ist mit Fichte in der klassischen deutschen Philosophie das letzte Wort in dieser Sache noch längst nicht gesprochen. Die Tendenz zur Radikalisierung schneidet sich mit derjenigen, welche die Komplexität unterläuft. Die Vereinfachung kann eine größere Entschiedenheit und Konsequenz ausdrücken; sie kann aber auch komplexe Probleme unterkomplex darstellen und nur zu scheinbaren Lösungen führen. Ich will hier darauf hinweisen, dass solche Entgrenzungen der Wissensstrukturen und -Formen keine Glasperlenspiele sind. Für das Weltverständnis steht einiges auf dem Spiel, wenn alte Unterscheidungen aufgegeben werden. Es müssen dann nämlich neue her. Denn der Aufbruch in die Moderne ist gerade durch einen Zuwachs an Komplexität in Wissenschaft und Gesellschaft charakterisiert. Unterkomplexe Methoden und simplifizierende Darstellungen sind der Moderne zutiefst unangemessen und speisen sich häufig aus der Sehnsucht nach Zeiten, in denen es angeblich leichter war, die Welt zu verstehen. Ich möchte einen anderen Aspekt der Klassischen deutschen Philosophie akzentuieren: Die Einbildungskraft. Kaum ein anderes Thema könnte besser dazu geeignet erscheinen, die vielfältigen Impulse des Denkens um 1800 zu beschreiben. Es zeigt auch, dass eine klassische Instanz aus dem Kanon der Erkenntniskräfte eine ganz neue Karriere starten kann. Antrieb und Ausgangspunkt der Entwicklung ist die Philosophie Kants. Nun geht es nicht nur um die Frage nach der Erkenntnis, sondern auch um Wissenschaften, um Kunst, Dichtung und die Welt als Ganze. Im Folgenden möchte ich die Ausführungen auf einen kleinen Ausschnitt der Geschichte der Phantasie beschränken, nämlich auf den Umbruch von der Transzendentalphilosophie Fichtes zum radikal-romantischen Programm bei Schlegel und Novalis.
3.3 Das Hohe Lied der Einbildungskraft Bereits Aristoteles kennt die produktiven Fähigkeiten der Phantasie, stellt indes doch fest, dass sie nur selten Quelle wahrer Erkenntnis ist. Ja, die Phantasie ist
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
nach Aristoteles auch gefährlich: Sie kann die Vernunft verhüllen durch extreme Leidenschaften, heftige Träume und – durch den Wahnsinn.⁶⁴ Eine Darstellung der Einbildungskraft in der Klassischen deutschen Philosophie kann nicht auf Kant verzichten. Indes will ich nicht ausführlich auf die grundlegende Funktion der Einbildungskraft bei Kant eingehen: Dazu ist viel geschrieben, darüber ist viel nachgedacht worden. Beides meist kontrovers. So wenig die Darstellung der Theorie der Einbildungskraft bei Kant ohne das Diktum auszukommen scheint, demzufolge die Einbildungskraft nichts anderes sei als »eine blinde obgleich unentbehrliche Funktion der Seele« (KrV B, AA, III :91), genauso kommt eine Untersuchung über dasselbe Thema bei Fichte wohl kaum ohne dessen Feststellung aus, wonach die produktive Einbildungskraft zwar das wunderbarste, zugleich jedoch ein fast immer verkanntes Vermögen sei.⁶⁵ Scheinbar liegt zwischen beiden Aussagen eine nicht zu überbrückende Kluft. Kant scheint der Einbildungskraft nichts Wunderbares abgewinnen zu können; für ihn ist sie zur Erkenntnis zwar notwendig, für sich jedoch blind. Für Fichte ist sie ein Vermögen mit ungeahnter Potenz. Aber die Differenz ist eben nur scheinbar; denn für Kant wie für Fichte gilt: Die Einbildungskraft fügt der Erkenntnis keine inhaltlichen Komponenten zu – sie vermittelt, sie synthetisiert, sie schematisiert. Für sich selbst erkennt sie jedoch nichts. Auf der anderen Seite ist das vermittelnde Wesen der Einbildungskraft gerade das Wunderbare an ihr. Die zentrale Stellung der Einbildungskraft in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft dokumentiert nicht ohne Grund, wie eminent wichtig die vermittelnde Funktion der Einbildungskraft für den Erkenntnisprozess ist. Dass dies im Verborgenen geschieht, nämlich ohne das Bewusstsein ihrer Tätigkeit, lässt die Einbildungskraft noch viel wunderbarer erscheinen als ihre bloße Fähigkeit, die disparaten Zweige der Erkenntnis ineinander zu schlingen. Die folgende Darstellung der Einbildungskraft bei Fichte und in der Frühromantik soll sich mit vier Problemfeldern auseinandersetzen: (1) Zunächst soll ein kurzer Blick auf Ernst Platners Philosophische Aphorismen einen Einblick geben in das, was ein philosophisch gebildeter Mensch im Ausgang des 18. Jahrhunderts mit dem Begriff Einbildungskraft gemeinhin verband. Eine kurze Beschäftigung mit Fichtes Kommentar zu den Philosophischen Aphorismen kann dann aufzeigen, wo Fichtes Theorie Neues aufweist. (2) Den Anstoß zu Fichtes früher Philosophie, wie er sie in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794 entwickelte, gab die Transzendentalphilosophie Kants. In den Augen Fichtes hatte Kant die wesentlichen Probleme der Philosophie gelöst, diese Lösung jedoch nur deskriptiv erbracht, und nicht deduktiv, d. h. genetisch. Alle formalen Ingredienzen einer wirklichen Erkenntnis sollten nicht nur aufgezählt, sondern auch streng wissenschaftlich abgeleitet werden. Das gilt auch für die Einbildungskraft und ihre Funktion innerhalb des Erkenntnisprozesses. Dieser spezifische Status der Einbildungskraft bei Fichte muss erläutert werden. Die Funktion der Einbildungskraft ist in den größeren Zusammenhang 64 Vgl. Aristoteles: De an. III, 429a. 65 Vgl. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre GA I 2, 350; vgl. auch: GA I 2, 353: das »… wunderbare Vermögen der produktiven Einbildungskraft …«
3.3. Das Hohe Lied der Einbildungskraft
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der Wissenschaftslehre eingebettet. Die Einbildungskraft selbst hat keine ihr eigentümlichen Inhalte, sondern ist eine Vermittlungsinstanz. Um aufzuzeigen, was sie vermittelt, muss – freilich skizzenhaft – die Wissenschaftslehre herangezogen werden. (3) Erstaunlicherweise verschwindet das wunderbare Vermögen der Einbildungskraft relativ früh wieder aus den Schriften Fichtes. Bereits um 1800 spielt die Einbildungskraft bei Fichte keine systematische Rolle mehr. Wenn er auf die Einbildungskraft zu sprechen kommt, so meist nur in pejorativer Hinsicht. Wenn etwas Produkt der Einbildungskraft ist, so bedeutet das: Es ist nur dahinphantasiert, aber nicht wissenschaftlich geprüft. Es soll daher gefragt werden, wohin denn dieses oft verkannte Vermögen verschwunden ist, es soll gefragt werden, ob sich in Fichtes späterer Theorie der Vermittlung Reste der Einbildungskraft wiedererkennen lassen.⁶⁶ (4) Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre hatte bereits unmittelbar nach ihrem Erscheinen eine enorme Wirkung auf seine Zeitgenossen. Das klingt in Friedrich Schlegels vielzitiertem Athenäums-Fragment an: »Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters.« (KFSA II, S. 198 [216]) Insbesondere für die Frühromantiker gewann die Einbildungskraft eine besondere Bedeutung. Die Frühromantik knüpft zwar an Fichte an, setzt sich jedoch in der ästhetischpoetologischen Umdeutung der Einbildungskraft von Fichtes transzendentalphilosophischem Denken ab. Platners »Philosophische Aphorismen« Ernst Platner, der 1744 in Leipzig geboren wurde, gehört sicher nicht zu den bedeutendsten Philosophen seiner Zeit. Allerdings erreichte seine Anthropologie für Aerzte und Weltweise über seine Zeit hinaus einige Bedeutung, weil Platner dort den Versuch unternahm, Physiologie und Psychologie synthetisch zu behandeln. Es ging ihm um die Untersuchung der gegenseitigen Beeinflussung von Körper und Seele. Die Philosophischen Aphorismen sind ein Kompendium der philosophischen Bildung, für sich betrachtet ohne Originalität, aber gerade deswegen von erheblicher Wirkung. Platner hat das ihm zur Verfügung stehende Material geordnet und in einen systematischen Zusammenhang gebracht. Überall fließen zur Kommentierung Einblicke in und Rückblicke auf die Philosophiegeschichte ein. Die Philosophischen Aphorismen bilden eine Systematik, aber kein System. Die Systematik enthält Kristallisationskerne für die Platner nachfolgende Generation der großen Systementwürfe. So eigneten sich die Aphorismen als Lehrbuch, insbesondere als Lehrbuch für Vorlesungen über Logik und Metaphysik.⁶⁷ In der Nachfolge von Karl Leonhard Reinhold hielt auch Fichte zuerst in Jena, dann auch in Berlin Vorlesungen über die Philosophischen Aphorismen. Insgesamt kommentierte Fichte elf Mal Platners Lehrbuch. Auch Hegels Phänomenologie des Geistes zehrt von den 66 Vgl. Julius Drechsler: Fichtes Lehre vom Bild, Stuttgart 1955. 67 Logik und Metaphysik bilden den ersten Teil (1793) der Philosophischen Aphorismen. Der zweite Teil behandelt die praktische Philosophie. Ich zitiere hier Platner nach der Ausgabe der Fichte GA, die die Aphorismen als Supplement-Band bieten.
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
Kristallisationskernen der Systematik Ernst Platners.⁶⁸ Die Einbildungskraft gehört für Platner zu den niederen Erkenntnisvermögen, genauer: zum Vermögen, Vorstellungen durch die Phantasie – und nicht durch die Sinne – hervorzubringen. Der Unterschied von Sinnlichkeit und Phantasie besteht in dem Bewusstsein der Anwesenheit oder Abwesenheit des Vorgestellten. Die Vorstellung des Abwesenden geschieht durch die Phantasie. Bezieht sich die Phantasie bei der Vorstellung auf etwas wirkliches Sinnliches, das gerade nicht anwesend ist, oder aber auf etwas, das in der Sinnlichkeit möglich ist, so heißen diese Vorstellungen physisch. Sie sind metaphysischen Vorstellungen entgegenzusetzen, deren Gegenstand selbst wiederum eine Vorstellung ist; die metaphysische Vorstellung ist also Vorstellung einer Vorstellung (§ 228: GA II, 4, 63). Das sind die übersinnlichen Ideen. Der Zusammenhang der Phantasie mit der Fähigkeit des Gedächtnisses liegt daher nahe. Aber auch die Einbildungskraft, die nach dem Konzept von Platner nicht deckungsgleich ist mit der Phantasie, gehört dem Bereich repräsentierender Bewusstseinsfähigkeiten zu. Einbildungskraft heißt hier: »eine zufällige Bestimmung der Phantasie, wenn ihre Vorstellungen eine ausgezeichnete Vollkommenheit besitzen, in Ansehung der Deutlichkeit« (§ 234: GA II, 4, 64).⁶⁹ Zufällig bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Einbildungskraft – im Gegensatz zur Phantasie – nicht jedem Menschen zukommt. Einbildungskraft ist ein exklusiver Besitz, den man als Talent bezeichnen kann. Besonders in der Wissenschaft ist Einbildungskraft eine Tugend (§ 344: GA II, 4, 86). Um der Vielfalt der Wissenszweige gerecht zu werden, muss die Einbildungskraft selbst differenziert sein. »Die Verschiedenheit der Einbildungskraft ist der Grund von der Verschiedenheit der Fähigkeit zu verschiedenen Wissenschaften, in verschiedenen Köpfen.« (§ 346: GA II, 4, 87) Die Verschiedenheit gründet schließlich in der Individualität der Person, in Lust und Geschmack. Platner kann das exemplifizieren. Einerseits nämlich richtet sich die Einbildungskraft auf empirische Gegenstände, z. B. auf große körperliche Gegenstände in großen Räumen. Der Besitzer einer solchen Einbildungskraft wird zu empirischen Wissenschaften in besonderer Weise befähigt sein, z. B. zur »Stern- und Erdkunde, auch zur Kriegs- und Staatswissenschaft.« (§ 352: GA II, 4, 88) Die Einbildungskraft, die sich besonders auf kleine Gegenstände in kleinen Räumen bezieht, macht zu Chemie, Physiologie und Pathologie tauglich; während eine Einbildungskraft, die komplexe Zusammenhänge in ihrer zeitlichen Ordnung erfasst, zur Geschichtswissenschaft prädestiniert. Auf diese Weise glaubt Ernst Platner die Fähigkeit zu allen besonderen Wissenschaften ableiten zu können. Andererseits jedoch richtet sich die Einbildungskraft auf die Allgemeinbegriffe, die dem höheren 68 Dass Platners Überlegungen wichtige Impulse gaben, ist schon allein daraus zu ersehen, dass er die Logik als »pragmatische, d. h. kritische Geschichte des menschlichen Erkenntnißvermögens.« (§ 21: GA II, 4 S, 19) bezeichnet – Fichte greift die Formulierung auf, wenn er sagt: »Die Wissenschaftslehre soll seyn eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes.« (Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I 2, 365) – Ebenso bestimmt Schelling »die gesammte Philosophie als das, was sie ist, nämlich als fortgehende Geschichte des Selbstbewußtseyns.« (AA, I, 9,25). 69 Vgl. ebenfalls: § 343: GA II, 4 S, 86.
3.3. Das Hohe Lied der Einbildungskraft
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Erkenntnisvermögen – dem Vermögen der Begriffe, Schlüsse und Urteile – entstammen. Diese Einbildungskraft erfüllt die Begriffe mit Anschauung. Die wenigen erhaltenen Vorlesungsnotizen Fichtes zu dieser Passage der Philosophischen Aphorismen versuchen vor allem, den Zusammenhang zwischen 1. den verschiedenen Vermögen und ihren Tätigkeiten, 2. dem Bewusstsein, dem sie zugehören, 3. und der allen bewussten Tätigkeiten zugrundeliegenden Freiheit aufzuzeigen und durch dieses Aufzeigen, die starre Konstruktion Platners zu unterwandern. Fichte betont, dass nicht nur die Phantasie, sondern auch die Einbildungskraft jedem Menschen zukommt.⁷⁰ Die Vorstellungen entstehen nicht durch mechanische Wirkungen, sondern setzen – darin folgt Fichte ganz Kant – eine Selbsttätigkeit des Bewusstseins voraus. Der Mensch reproduziert mit der Einbildungskraft nicht nur etwas, das durch die Sinne gegeben oder zumindest möglich ist, sondern er produziert auch, und zwar zweckgerichtet. »Nun hat der Mensch ferner das Vermögen, mit Bewußtseyn, u. zu einem Zweke zu producieren – welches er freilich, da es Freiheit ist, nur hat, in wiefern er selbst es sich nimmt.« (GA II, 4, 122) Fichte wirft Platner vor allem – und nicht nur an dieser Stelle – vor, den Erkenntnisvorgang als einen maschinellen Vorgang zu betrachten, etwa so wie ein Ingenieur einen technischen Apparat begutachtet. Erkenntnis ist aber nach Fichte stets etwas, das selbständig vollzogen werden muss und letztlich von der Freiheit abhängt. Alle Geistesfähigkeit und Tauglichkeit zum Denken, »alles Selbstdenken in jeder Rücksicht, wo es auch sey«, hänge – so Fichte – von der Freiheit ab. »Ohne sie ist u. bleibt man, nur eine vorstellende Maschine.« (GA II, 4, 123) Die Einbildungskraft in der ersten Wissenschaftslehre« Für Fichte ist das Wissen ein System, d. h. ein zusammenhängendes und kohärentes Ganzes, das unter dem Primat der Einheit steht. Diese Einheit ist weniger ein festgefügter einheitlicher Grund, auf dem das Wissen aufruht, als vielmehr eine unverzichtbare erste dynamische Voraussetzung. Insofern das Wissen vom Wissen eine Wissenschaft ist, muss sich – so Fichte noch 1794/95 – diese dynamische Voraussetzung des Wissens in einem Satz ausdrücken lassen, in einem Grundsatz. Später wird Fichte diese Konzentration auf den Satz aufgeben. Das Prinzip des Wissens jedenfalls kann nach Fichte nicht in irgendeiner Feststellung oder in der Behauptung einer Tatsache gefunden werden. Denn eine Tatsache ist etwas Objektives, etwas bloß Gegenständliches, etwas Starres und Fixiertes. Damit genügt eine Tatsache dem Anspruch nicht, als Prinzip zugleich prinzipiierende Einheit zu sein. Eine Tatsache ist Tatsache für das Bewusstsein. Das Prinzip des Bewusstseins
70 Vgl. dagegen Friedrich Schlegel: »Einbildungskraft und Verstand z. B., die nicht notwendig aus der Theorie der Anschauung folgen kann man wohl jemand absprechen, ohne ihm zugleich auch Sinn, Vernunft und Willen abzusprechen.«, Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern (Köln 1804/05), in: KFSA II, S. 12 326.
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
kann deshalb nicht Tatsache für das Bewusstseins sein: Es kann nicht im Bewusstsein vorkommen wie ein Objekt. Das Prinzip muss hervorbringendes Prinzip sein, Subjekt-Objekt, Spontaneität: – eben Tathandlung. Die Tathandlung als Prinzip allen Bewusstseins kann nicht selbst Bewusstseinsinhalt werden. Die Tathandlung ist ein reiner Denkinhalt und wird Objekt nur für das »Vermögen der Freiheit der innern Anschauung« (GA I, 2, 253). Tatsachen werden gewusst, die Tathandlung jedoch wird gedacht, und zwar gedacht als notwendige Bedingung allen Bewusstseins (GA I, 2 255). Das enthält zugleich eine zweifache Aufgabe für die Wissenschaftslehre: (1) Die nur im reinen Denken adäquat zu erfassende Bedingung allen Wissens, die dynamische Tathandlung, muss in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden mit dem Wissen von Tatsachen. Aus dem reinen Denken der Möglichkeitsbedingung allen Wissens muss das Gegenstandswissen abgeleitet werden können. (2) Umgekehrt muss das Gegenstandswissen auf ein Prinzip zurückgeführt werden, das im Wissen liegt. Das Gegenstandswissen kann nur dann Gewissheit beanspruchen, wenn ihm seine Möglichkeitsbedingungen – durch das reine Denken – durchsichtig geworden sind. Die Tathandlung ist das tätige absolute Ich und der Satz, mit dem die Wissenschaftslehre als Wissenschaft beginnt, heißt daher: Ich bin oder: »Das Ich sezt ursprünglich schlechthin sein eignes Seyn« (GA I, 2,261). Dieser Satz gilt unbedingt. Es lässt sich kein weiteres Prinzip angeben, das ihn gewiss macht. Er ist in sich selbst evident. Für das Ich sind Sein und Sich-Setzen dasselbe. Die Tathandlung oder das Ich vereint damit beide Momente: Sein und Handlung. Alle kategorialen Bestimmungen des Gegenstandwissens sind im reinen Denken des absoluten Ich suspendiert. Weder Kausalität noch Substantialität lassen sich auf das Ich anwenden: Es ist weder causa sui noch etwa beharrende Seele,⁷¹ weder Substanz noch Ding noch gar Gehirn oder etwas im Gehirn. Die einzige Funktion, die das Ich in Bezug auf die Kategorien besitzt, ist die, dass die Art der Handlung des Ich die Kategorie der Realität ergibt. Eine weitere Handlung des Ich, die ebenfalls – jedoch nur der Form nach – unbedingt ist, besteht im Entgegensetzen. Dem Ich ist das Nicht-Ich entgegengesetzt. Das Nicht-Ich zerstört deshalb nicht die absolute Identität des Ich, ist doch das Entgegensetzen eine Handlung des Ich. Vielmehr bezeichnet das Setzen des Nicht-Ich eine Handlungsart des Ich, nämlich das Entgegensetzen, das als Entgegensetzen dem Setzen entgegengesetzt ist. Über den absoluten Gehalt des Ich geht das Entgegensetzen jedoch nicht hinaus, nur über die Form. Das Entgegensetzen ist so unbedingt wie das Setzen; allerdings ist das, was gesetzt oder entgegengesetzt wird, der absolute Gehalt selbst, das Ich. Völlig unberührt bleibt dabei noch die Frage, ob etwa dem Nicht-Ich 71 »Ein Urtheil über dasjenige, dem nichts gleich, und nichts entgegengesezt werden kann, steht gar nicht unter dem Satze des Grundes, denn es steht nicht unter der Bedingung seiner Gültigkeit; es wird nicht begründet, sondern es begründet selbst alle mögliche Urtheile; es hat keinen Grund; sondern giebt selbst den Grund alles begründeten an. Der Gegenstand solcher Urtheile ist das absolute Ich, und alle Urtheile, deren Subjekt dasselbe ist, gelten schlechthin und ohne allen Grund; […].« (GA, I 2, 273).
3.3. Das Hohe Lied der Einbildungskraft
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Realität zukommt oder nicht. Um der Einheit des Bewusstseins willen, muss auch das Entgegensetzen durch das Ich geschehen, muss eine Handlung des Ich sein. So heißt der Satz, der dieses Entgegensetzen ausdrückt: Dem Ich wird schlechthin ein Nicht-Ich entgegengesetzt (GA I, 2, 266). Was das Nicht-Ich ist, ist allerdings bedingt durch das Ich: Das Nicht-Ich ist das, was das Ich nicht ist. Die setzende Tätigkeit des Ich und die entgegensetzende Tätigkeit des Ich sind einander entgegengesetzt. Ich und Nicht-Ich sind einander entgegengesetzt. Die Klammer, die diese Entgegengesetzten zusammenhält, ist das Ich; denn es ist ein identisches Bewusstsein, das durch die Entgegengesetzten konstituiert wird. Würde im Entgegensetzen nicht dem Ich entgegensetzt, wäre das Nicht-Ich nicht Nicht-Ich, es wäre überhaupt nicht entgegengesetzt, sondern es wäre ein weiteres absolutes Setzen. Die Einheit des Ich ist Garant für die Einheit des Bewusstseins. Auch hier gilt: Das »Ich-Denke« muss alle meine Vorstellungen begleiten können. Die antithetische Handlung des Ich, die ein bloß der Form nach vom Ich Verschiedenes setzt, führt zu einem Widerspruch mit dem Prinzip der Einheit. So widerspricht nicht nur das Nicht-Ich dem Ich und das Ich dem Nicht-Ich. Die Situation ist komplexer: Aus dem Entgegengesetzten des Nicht-Ich folgt, dass das Ich nicht gesetzt ist. Genauso folgt aber auch, dass das Ich gesetzt sein muss, denn ihm wird entgegengesetzt. Oder noch komplizierter: Der Satz des Entgegensetzens ist sich selbst entgegengesetzt. Er ist aber nur ungültig, d. h., sich selbst entgegengesetzt, insofern überhaupt entgegengesetzt wird. Er ist gültig, wenn er ungültig und ungültig, wenn er gültig ist. Nun kann dies nicht das letzte Wort sein, denn der Satz des Entgegensetzens steht unter dem Primat der Einheit, unter dem Primat des tathandelnden Ich. Im Ich sind Ich und Nicht-Ich entgegengesetzt. Soll nun die Einheit des Bewusstseins möglich sein, so müssen Ich und Nicht-Ich miteinander vereinbar sein. Sie müssen so gedacht werden, dass sie sich nicht gegenseitig aufheben. Der Gedanke, der dies leistet, ist derjenige der Einschränkung oder der Teilbarkeit. Ich und NichtIch sind nicht überhaupt entgegengesetzt, sondern eingeschränkt, d. h. zum Teil entgegengesetzt. Der dritte Grundsatz heißt also: »Ich setzt im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares Nicht-Ich entgegen.« (GA I, 2, 272) Die Totalität der Realität wird nun teilweise in das Ich, teilweise in das Nicht-Ich gesetzt, und zwar wird diejenige Realität ins Ich gesetzt, die nicht ins Nicht-Ich gesetzt wird und umgekehrt. So sind beide Etwas: das Ich und das Nicht-Ich und heben sich gegenseitig nicht auf. Dies ist die synthetische Handlung des Bewusstseins. Was hat Fichte nun erreicht? Das absolute Ich ist und bleibt unteilbar. Ihm kann nichts entgegengesetzt werden. Das teilbare Ich jedoch ist dem Nicht-Ich entgegengesetzt und ist in dieser Rücksicht auch dem absoluten Ich entgegengesetzt. So kann Fichte schließen, dass das Ich sowohl mit sich selbst identisch als auch sich selbst entgegengesetzt ist (GA I, 2, 271). Der Satz der Teilbarkeit bildet die Grundlage für alle folgenden Synthesen, so wie der Satz des Entgegensetzens die allen Synthesen zugrundeliegende Antithese ausdrückt. Das bedeutet: Alles, was überhaupt nur entgegengesetzt ist, ist prinzipiell bereits enthalten in der Entgegensetzung von Ich und Nicht-Ich. Und: Alles, was überhaupt nur synthetisiert werden kann, wird synthetisiert durch diejenige Tätigkeit, die der Satz des wechselseitigen Einschränkens oder der Teilbarkeit beschreibt.
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
Der Satz, mit dem der theoretische Teil der Wissenschaftslehre beginnt und unter den alles theoretische Wissen subsumiert sein muss, lautet: »das Ich sezt sich selbst, als beschränkt durch das Nicht-Ich.« (GA I, 2, 285) Er ist einer der beiden Sätze, der in dem Satz des wechselseitigen Einschränkens enthalten ist. Der andere Satz, der die Einschränkung des Nicht-Ich durch das Ich beschreibt, begründet bekanntlich den praktischen Teil der Philosophie. Erklärend möchte ich hier hervorheben, dass Fichtes Prinzipienlehre in der Wissenschaftslehre 1794/95 nicht psychologisch verstanden werden darf. Was hier unter dem Begriff ›Bewusstsein‹ untersucht wird, ist nicht jemandes Bewusstsein, es ist kein erfülltes, kein empirisches Bewusstsein. Niemand hat ein derartig leeres Bewusstsein, in dem außer Ich kein Inhalt vorkommt und das nur zwei operative Formen kennt: Setzen und Entgegensetzen. Fichte argumentiert auf einem ganz anderen Terrain. Dass es wirkliches Wissen gibt, ist vorausgesetzt. Das zeigen Fichtes Bemerkungen über den Satz der Identität A = A. Ihm geht es darum, durch Reflexion und Abstraktion jene Bedingungen explizit zu machen, unter denen Wissen möglich ist. Es handelt sich also um eine transzendentalphilosophische Konstruktion, die keinen Anspruch auf ein ontisches Substrat macht. Am Ende des theoretischen Teils jedenfalls muss die Deduktion der Vorstellung stehen. Alle ihre Ingredienzen müssen abgeleitet, alle Kategorien müssen deduziert sein. Deduktion ist hier eher im Sinne Kants zu verstehen⁷² als Erklärung der Rechtmäßigkeit und Gültigkeit der Vorstellung. Es geht also nicht darum, konkrete Vorstellungen abzuleiten, sondern darum, einen evidenten Begriff von der Welt zu konstruieren: Diese Welt muss den Charakter der Notwendigkeit besitzen, denn die Vorstellungen können nicht willkürlich im Bewusstsein zustande gebracht werden wie Phantasiegebilde, sondern laufen mit Notwendigkeit ab. Die Deduktion der Vorstellung zielt also darauf ab, den Realismus der Vorstellungen argumentativ zu begründen. Im praktischen Teil wird dann das Nicht-Ich oder die Welt zum Material für die Pflicht; es zeigt sich die Freiheit gegenüber der Determiniertheit der physischen Welt. Zu Anfang des theoretischen Teils ist das Nicht-Ich noch überhaupt Nichts. Es muss erst aufgezeigt werden, wie denn – auf transzendentalem Wege – dem Nicht-Ich Realität zukommen kann. Formal besteht dieser Weg darin, dass sich stets Synthesen ergeben, in denen sich durch Analyse Entgegengesetzte auffinden lassen, die wiederum synthetisiert werden müssen. Die ursprüngliche Synthese und die Synthese der in der ursprünglichen Synthese enthaltenen Entgegengesetzten unterscheiden sich durch den Grad der Bestimmtheit. Ist das Verhältnis von Ich und Nicht-Ich zunächst ganz unbestimmt, so bestimmt es sich durch Analyse und Synthese fort. Auf diesem Wege ergeben sich die Kategorien Substantialität und Kausalität.⁷³ Dieser Weg endet in der Deduktion der Vorstellung mit der Theorie der Einbildungskraft.⁷⁴ Sie liegt also in der Reihe der weiteren Bestim72 Vgl. KrV, B 116. 73 Eine Darstellung dieses Weges und dessen Bedeutung für Fichtes Theorie der Einbildungskraft ist luzid dargestellt bei Dorothee Schäfer: Die Rolle der Einbildungskraft in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794/95, Köln 1967 74 Grundlegend sind hier die Arbeiten von Bernd Küster: Transzendentale Einbildungskraft
3.3. Das Hohe Lied der Einbildungskraft
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mungen der Wechselbestimmung, und zwar unter der Regie der Notwendigkeit: Die Einbildungskraft gehört zum Inventar der theoretischen Philosophie, in der keine praktische Bestimmung wie etwa eine Absicht oder ein Zweck vorkommt. Die Einbildungskraft vermittelt »zwischen Bestimmung, und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem, und Unendlichem« (GA I/2 360), indem sie in der Mitte schwebt zwischen den Entgegengesetzten. Die Weiterbestimmung der Wechselbestimmung vermag alle Entgegengesetzten schließlich zu synthetisieren. Die wichtigste dieser Entgegensetzungen ist diejenige zwischen dem absoluten Ich, das – selbst unbestimmbar – die unendliche Tätigkeit ist, und dem endlichen Ich, das eingeschränkt und als vorstellendes Ich durch das Nicht-Ich bestimmt ist. Das unendliche, unbestimmbare Ich ist dem bestimmten, weil vorstellenden, und endlichen Ich entgegengesetzt. »Dieses Schweben der Einbildungskraft zwischen unvereinbaren, dieser Widerstreit derselben mit sich selbst ist es, welcher … den Zustand des Ich in demselben zu einem Zeit-Momente ausdehnt: (Für die bloße reine Vernunft ist alles zugleich; nur für die Einbildungskraft giebt es eine Zeit.)« (GA I, 2 260) Die Einbildungskraft synthetisiert folglich nicht die Entgegengesetzten zu einer Einheit, sondern sie tritt – schwebend – zwischen die Entgegengesetzten. Dabei dehnt sie das aus, was nicht Eins sein kann, aber Eins sein soll. Durch diese Tätigkeit der Einbildungskraft entsteht in der Vorstellung die Sukzession in der Zeit. Dadurch vermittelt die Einbildungskraft nicht nur endliches und absolutes Ich, nicht nur bestimmtes und unbestimmbares Ich, sondern auch das reine Wissen mit dem wirklichen, d. h. empirischen Bewusstsein. Durch die produktive Einbildungskraft allein ist aber die Vorstellung noch nicht wirklich hervorgebracht. Durch die Einbildungskraft entstehen zwar Raum und Zeit und entsteht alles, was inhaltlich vorgestellt wird. In der Anschauung ist es aber noch ein bloßes Schweben, eine unendliche Grenze zwischen dem Herausgehen und dem Einschränken. Neben der hervorbringenden, der dem empirischen Ich unbewussten Tätigkeit der Einbildungskraft muss es noch eine andere Tätigkeit geben, die das Angeschaute fixiert und festhält. Diese aufbewahrende Tätigkeit nennt Fichte Verstand. Er ist die Möglichkeitsbedingung des Bewusstseins. Er stellt vor. Ihm scheint das Vorgestellte außer ihm zu sein. Mit einem Wort: Erst indem der Verstand sich auf die Anschauung – und das heißt bei Fichte auf die Tätigkeit der Einbildungskraft – bezieht, erscheint die wirkliche Welt. Das Vermögen, das die Welt und alle Weltgehalte hervorbringt, ist daher die produktive Einbildungskraft. Der Verstand ist nur der Behälter, in dem die quecksilbrige reine Tätigkeit zur Gegenständlichkeit gerinnt. und ästhetische Phantasie: Zum Verhältnis von philosophischem Idealismus und Romantik, Königstein 1979, S. 43–69; J. Schreiter: »Produktive Einbildungskraft und Außenwelt in der Philosophie J. G. Fichtes« in: Klaus Hammacher (Hrsg.) Der transzendentale Gedanke, S. 120–125; Wilhelm Metz: Kategoriendeduktion; Wolfgang Janke: Vom Bilde des Absoluten, Berlin/New York 1993, insb. S. 293–333; Lore Hühn: Fichte und Schelling oder: Über die Grenze des menschilchen Wissens, Stuttgart/Weimar 1994, insb. S. 122– 126; dies.: »Das Schweben der Einbildungskraft«, in: Fichte-Studien 12 (1997) S. 127– 151.
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
Fichtes Theorie der Vermittlung Nach 1800 lässt sich die Einbildungskraft in Fichtes Philosophie nur noch an unbedeutenden Stellen finden. Wird sie von Fichte erwähnt, dann nur in einem pejorativen Sinne. Wohin ist das einstmals wunderbare Vermögen verschwunden? Und welchen Grund mag es dafür geben, dass Fichte sie nun entbehren kann? Eine entscheidende Rolle für die Beantwortung dieser Frage spielt die Umgestaltung der Theorie Fichtes. Um die Jahrhundertwende, wahrscheinlich schon im Jahre 1799, beginnt Fichte zumindest die äußere Gestalt der Wissenschaftslehre zu verändern. Seitdem die späteren Wissenschaftslehren veröffentlicht wurden, gibt es unter den Fichte-Forschern eine ausgiebige Diskussion um diese veränderte Lehre, vor allem um den Grad und die Radikalität der Umgestaltung. Ich werde an späterer Stelle auf diese Diskussion eingehen, vor allem im Zusammenhang mit der Frage, ob sich Fichte in seiner Spätphilosophie einer absoluten Metaphysik angenähert hat. Im Zuge dieser Umgestaltung verschwinden jedenfalls die Reste der klassischen Psychologie: Aus den Seelenvermögen werden Instanzen in einem Begründungsprozess, dessen Ziel es ist, das Hervorgehen des wirklichen Bewusstseins aus der absoluten Einheit nachzuvollziehen. Um die absolute Einheit mit ihrer begründenden Kraft nicht zu destruieren, muss sie auch dann Einheit sein, wenn das durch sie begründete Bewusstsein sich den mannigfaltigen Wissensinhalten zuwendet. Einheit und Unterschiedenheit müssen sowohl in ihrer Einheit als auch in ihrer Unterschiedenheit gedacht werden. Diesen Gedankengang, also die 1. Einheit und Unterschiedenheit in ihrer Unterschiedenheit, 2. Einheit und Unterschiedenheit in ihrer wechselseitigen Bezogenheit, 3. Einheit und Unterschiedenheit in ihrer absoluten Einheit, beschreibt Fichte als eine Drei- oder Fünffachheit⁷⁵ der Vermittlung. Die Fünffachheit ist ein wesentliches, konstruktives Element der Spätphilosophie Fichtes. Das Bewusstsein ist auf fünffache Weise strukturiert, die Welt wird in fünf prinzipiellen Formen aufgefasst: als Sinnlichkeit, Rechtlichkeit, Sittlichkeit, Religion und Philosophie.⁷⁶ Es gibt nach Fichte fünf Zeitalter oder Geschichtsepochen: Die Epoche des Vernunftinstinkts, die Epoche der entäußerten Vernunft, die Epoche der Befreiung, die Epoche der Wissenschaft, die Epoche der (Vernunft-)Kunst.⁷⁷ Die Fünffachheit ist daher nicht ein bestimmter Inhalt, sondern ist die Form der Vermittlung überhaupt. So heißt es in der Wissenschaftslehre 1804², die Gewissheit sei ein Schweben zwischen Entgegengesetzten, »schwebend von a zu b, und wiederum von b zu a, und 75 Vgl. zur Fünffachheit, Asmuth: Das Begreifen des Unbegreiflichen. Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte 1800–1806. Stuttgart 1999, S. 214 ff.; ferner Günter Meckenstock: Das Schema der Fünffachheit in J. G. Fichtes Schriften der Jahre 1804–1806. Göttingen 1974. 76 Vgl. dazu Christoph Asmuth: »Wissenschaft und Religion. Perspektivität und Absolutes in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes«, in: Fichte-Studien 8 (1995), S. 1–19. 77 Vgl. dazu Hartmut Traub: J. G. Fichtes Populärphilosophie 1804–1806, Stuttgart-Bad Cannstatt 1992 S. 31–46.
3.3. Das Hohe Lied der Einbildungskraft
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erschöpfend durchaus beides, also schwebend wiederum zwischen dem zwiefachen Schweben… W. d. E. w. und eine Drei- oder Fünffachheit der Synthesis giebt.«⁷⁸ Hier ist der Vermittlungsprozess klar benannt. Er durchläuft drei Stufen: 1. Die Entgegengesetzten: a und b; 2. die einfache Relationalität: a bezieht sich auf b, b bezieht sich a; und 3. die Korrelationalität: a bezieht sich auf b, indem sich b auf a bezieht. In der Korrelationalität sind die Entgegengesetzten organisch vereint; sie hören zwar nicht auf, entgegengesetzt zu sein, ihr Entgegengesetzt-Sein zerstört aber nicht mehr die Einheit, in der sie beide bestehen.⁷⁹ Fichte bezeichnet diesen Vermittlungsprozess als Schweben.⁸⁰ Er ist damit genau so charakterisiert wie die Einbildungskraft in der Wissenschaftslehre 1794/95. Die Einbildungskraft oder der Vermittlungsprozess der Fünffachheit ist ein Geschehen, das Entgegengesetzte in eine spannungsreiche, organische Einheit zusammenschweißt. Zugleich ist diese schwebende Bewegung zwischen den Entgegengesetzten Konstruktionsprinzip sowohl der Wirklichkeit als auch der Weise, in der die Wirklichkeit gewusst wird. Fichte entfernt sich damit immer weiter von den mechanistischen Bestimmungen der Seelenvermögen. Seine frühere Kritik an Ernst Platners Aphorismen ist bereits Ausdruck seiner Überzeugung, dass über das Bewusstsein nicht wie über eine Maschine gesprochen werden kann. Die Reste der Vermögenstheorie – die Einbildungskraft ist reine Tätigkeit und produziert unbewusst, der Verstand fixiert das Tätige wie ein Behältnis und macht das Unbewusste bewusst – werden schließlich in der Spätphilosophie zu einem integrativen Ansatz fortentwickelt, in dem ein wesentliches Moment der Einbildungskraft überdauert: das Schweben als Form der Vermittlung. Die Einbildungskraft in der Frühromantik Wie der Blick auf Platner und Fichte lehrte, kommt der Einbildungskraft eine primär erkenntnistheoretische Funktion zu. Das entspricht ganz ihrer historischen Herkunft.⁸¹ Die Verbindung von Einbildungskraft und Kunst bzw. Ästhetik ist dagegen zunächst sekundär.⁸² Eine unmittelbare Wirkung der Grundlage der ge-
78 J. G. Fichte: Wissenschaftslehre 1804/2, GA II, 8, S. 64 f. 79 Vgl. Christoph Asmuth: Bilder über Bilder, Bilder ohne Bilder. Eine neue Theorie der Bildlichkeit. Darmstadt 2011. 80 Vgl. dazu auch Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre aus den Jahren 1800/1801, GA II 6 152; – ferner: GA II, 6, 165: das Fünffache als »vollkommne Synthesis«. 81 Vgl. dazu auch Kant: KrV, B 102 ff.; B 151f; ferner Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abgefaßt, B 69 ff. 82 Dagegen ließe sich Kant anführen: KU § 22, Allgemeine Anmerkung zum ersten Abschnitte der Analytik (B 68 ff.). Allerdings zeigt sich gerade hier, welche Schwierigkeiten Kant hat, die Ergebnisse der Transzendentalphilosophie und praktischen Philosophie mit der Ästhetik zu verbinden. In der Literatur zum Begriffsfeld Einbildungskraft wird dies im Hinblick auf Fichte gelegentlich mit Verwunderung zur Kenntnis genommen: »Auch in Fichtes Wissenschaftslehre hat das Ästhetische keine selbständige Würde.«
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
sammten Wissenschaftslehre von 1794/95 findet sich bei Novalis.⁸³ 1795/96 betreibt Novalis intensive Fichte-Studien. Die Dokumente dieser Lektüre sind kein zusammenhängendes Buch oder etwa ein fortlaufender Kommentar, sondern eher Überlegungen, die Novalis im Anschluss an die Wissenschaftslehre anstellt. Novalis setzt sich intensiv mit der Wissenschaftslehre auseinander, allerdings nicht bloß rezeptiv, sondern produktiv, d. h. über Fichte hinausgehend. Das betrifft auch Fichtes Lehre von der Einbildungskraft, deren ästhetische Funktion bei Novalis nie gänzlich aus dem Blickfeld gerät. Der theoretische Teil der Wissenschaftslehre Fichtes deduziert die Anschauung aus der Tätigkeit der Einbildungskraft. Ihr Schweben zwischen den Entgegengesetzten stellt das Material für die Vorstellung. Für das Bewusstsein entsteht der Schein einer Welt außerhalb seiner. Der Philosoph jedoch weiß, dass die Welt ein Produkt der unbewusst tätigen Einbildungskraft ist. Hier schließt Novalis an: »Einbildungskraft ist lediglich produktif.«⁸⁴ Ganz wie Fichte und auch Kant beschreibt Novalis die Einbildungskraft als vermittelnde Instanz zwischen Sinnlichkeit und Verstand. »Anschauung und Vorstellung ist Eins. Jene Beziehung der Einbild[ungs]Kr[aft] auf die Sinnlichkeit – diese Beziehung d[er] Einb[ildungs]Kr[aft] auf d[en] Verstand.«⁸⁵ Die Einbildungskraft bezieht sich gleichermaßen auf die Sinnlichkeit wie auf den Verstand. Sie ist aber nicht bloße Vermittlung, sondern zugleich Grund ihrer Möglichkeit, ist die wahre Voraussetzung. Sie sind Eins, heißt: Sie sind Eins aufgrund ihrer Bezogenheit durch die Einbildungskraft. Damit ist die produzierende Kraft die eigentliche Produktivität. »D[ie] Einbild[ungs]Kr[aft] ist Schöpfungskr[aft] in Beziehung auf d[ie] Anschauung – Darstellungskr[aft] in Beziehung auf die Vorstellung – Anschauung könnte ich Materie nennen.«⁸⁶ Bis hierher könnte Fichte – mit einigen Konzessionen – folgen. Novalis dehnt jedoch den Bereich der Einbildungskraft über den theoretischen Teil der Philosophie aus. »Practische Vernunft ist reine Einbildungskraft.«⁸⁷ Die sich aus Anschauung und Verstand konstituierende Vorstellung ist für Fichte bloß das logische Vorausgehende für die Moralität. Erst muss eine Welt da sein, damit in ihr gehandelt werden kann. Die Einbildungskraft erzeugt den Stoff, der Verstand die Form. Die Handlung geschieht aber durch die Freiheit für ein wirkliches Bewusstsein, dem die Tätigkeit der Einbildungskraft unbewusst bleibt. Auch darin setzt sich Novalis von Fichte ab: »Die Einbildungskraft ist der wunderbare Sinn, der uns alle Sinne ersetzen kann – und der so sehr schon in unsrer
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(Joachim Rieder: Offenbarung und Einbildungskraft, Pfaffenweiler 1990, S. 47) Es sei »[…] zunächst verwunderlich, daß sich innerhalb der Wissenschaftslehre keine eigenständige ästhetische Theorie zu entwickeln vermochte.« (Bernd Küster: Transzendentale Einbildungskraft, S. 33). Vgl. dazu Manfred Dick: Die Entwicklung der Poesie in den Fragmenten des Novalis. Bonn 1967; Janke: Vom Bilde des Absoluten, S. 314–323. NW 2, S. 74, Nr. 212 NW 2, S. 75, Nr. 218 NW 2, S. 96, Nr. 248 NW 2, S. 168, Nr. 498
3.3. Das Hohe Lied der Einbildungskraft
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Willkühr steht.«⁸⁸ Bei Fichte ist die Einbildungskraft tätig, ohne dass sie einem wirklichen Bewusstsein bewusst ist. Dem Bewusstsein erscheint die Welt als gegeben, nicht als produziert. Für Novalis ist die Tätigkeit der Einbildungskraft nicht nur bewusst, sondern eine Tätigkeit, die bewusst, also willentlich, durch das Bewusstsein hervorgebracht wird. Die Grenze zwischen Anschauung und Imagination ist für Novalis fließend, wenn nicht sogar – in Bezug auf den Realitätsgehalt – aufgehoben. Von hier aus ist es zur poetologischen Umdeutung der Einbildungskraft nur noch ein kleiner Schritt.⁸⁹ 1798 bemerkt Novalis: »Es wäre wohl möglich, daß Fichte Erfinder einer ganz neuen Art zu denken wäre – für die die Sprache noch keinen Namen hat. Der Erfinder ist vielleicht nicht der fertigste und sinnreichste Künstler auf seinem Instrument – ob ich gleich nicht sage, daß es so sey – es ist aber wahrscheinlich, daß es Menschen giebt und geben wird – die weit besser Fichtisiren werden, als Fichte. Es können wunderbare Kunstwercke hier entstehen – wenn man das Fichtisiren erst artistisch zu treiben beginnt.«⁹⁰ Das Programm, das Novalis nicht ohne Ironie zur Sprache bringt, hat die Poetisierung der Wissenschaft zum Ziel. Ausgangspunkt der Überlegungen ist hier wiederum die Einbildungskraft. Die Poesie verbindet nach Novalis das Endliche und Unendliche zur innigsten Gemeinschaft, zur höchsten Sympathie.⁹¹ In dieser Formel ist noch der Nachhall zu hören, den Fichtes Beschreibung der Einbildungskraft auslöste. Hier – bei Novalis – steht die Einbildungskraft ganz unter dem Primat der Poesie. Wie sollte die Welt anders romantisiert werden⁹² als durch die den Weltstoff hervorbringende Einbildungskraft? Novalis wertet die Einbildungskraft auf. Für ihn ist sie dasselbe wie das absolute Ich. Sie ist der Quell aller Realität. Sie ist das Zwischen als Schwebezustand, darin jedoch zugleich absolut produktiv. Sie bringt die Extreme selbst hervor, zwischen denen sie schwebt. Dadurch wird die Philosophie zur transzendentalen Poesie,⁹³ und die Wissenschaft geht in der Kunst auf. 88 NW 2, S. 423, Nr. 479 89 Damit ist nicht gesagt, dass die Einbildungskraft bei Novalis nur eine unwesentliche Transformation erfahren habe. Bernd Küster ist vollständig beizupflichten, wenn er bemerkt: »Romantische Poesie ist keine ästhetisierte Wissenschaftslehre« (Bernd Küster: Transzendentale Einbildungskraft, S. 189). Und an anderer Stelle: »Ebensowenig bildet der romantische Phantasiebegriff eine bloß ästhetische Form der Fichteschen Einbildungskraft.« (S. 189, Fußnote). Vgl. auch Lore Hühn: Das Schweben der Einbildungskraft, S. 127–151; insb. S. 140: »Was demnach weder ein theoretischer noch ein praktischer Handlungsvollzug vermag, scheint – wenn auch auf völlig veränderte Weise – der Einbildungskraft zu gelingen, nämlich der Totalität einer (stets) noch ausstehenden Einheit Präsenz zu verleihen. Was aus romantischer Sicht eine ganze Tradition vergeblich suchte und was doch zugleich Antrieb und Ziel aller ontologischen Letztbegründungen war, wird über die Einbildungskraft allererst erfahrbar, […] die Überlegenheit der Einbildungskraft liegt für die Romantiker keineswegs darin, den gleichen Begründungsanspruch wie den ihrer philosophiegeschichtlichen Vorgänger erfüllen zu wollen, wobei die Einbildungskraft es eben nur um einiges besser vermag.« 90 NW 2, S. 314, Nr. 11 91 NW 2, S. 322, Nr. 31 92 NW 2, S. 334, Nr. 105 93 NW 2, S. 325, Nr. 47
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
Novalis präsentiert in seinen Fragmenten keine Theorie der Einbildungskraft. Gerade das Fragmentarische – »als Fragment erscheint das Unvollkommne noch am Erträglichsten«⁹⁴ – untergräbt die Theorie als wissenschaftliches System, untergräbt damit auch das Fundament der Fichteschen Wissenschaftslehre, deren Anliegen gerade im Beweis und der wissenschaftlichen Form besteht.⁹⁵ Auch beim frühen Friedrich Schlegel findet sich kaum – weniger sogar noch als bei Novalis – eine Theorie der Einbildungskraft.⁹⁶ Überhaupt ist Schlegel in Bezug auf die Einbildungskraft viel weniger an der transzendentalen Konzeption Fichtes orientiert. Das Schweben der Einbildungskraft spielt bei Schlegel fast keine Rolle. Die Einbildungskraft ist für ihn keine vermittelnde und durch Vermittlung hervorbringende Instanz. So ist zwar die Einbildungskraft zusammen mit dem Gefühl ein konstituierendes Moment von Poesie und Wissenschaft. Unter dem Einfluss von Schelling teilt Schlegel in den Philosophischen Lehrjahren die Kräfte des Menschen ein in eine ideale Kraft, das ist der Instinkt, und eine reale Kraft, das ist die Phantasie, die schaffende Einbildungskraft oder die produktive Anschauung: »Die Fantasie ist d[as] Divinatorische im Menschen].«⁹⁷ Schlegel hebt ganz auf die schöpferische Funktion der Einbildungskraft ab. Dass sie – wie es bei Fichte und nach diesem auch bei Novalis heißt – schöpferisch nur sein kann in der Vermittlung, kommt Schlegel nicht in den Sinn. Deshalb ist die Einbildungskraft für Schlegel mit der Phantasie identisch, während sie für Fichte scharf unterschieden und bei Novalis durchmischte Begriffe sind. In den Kölner Vorlesungen über Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern von 1804/05 entwickelt Schlegel nun – in dem Teil, der sich mit der Psychologie beschäftigt – ein klareres Bild der Einbildungskraft. Das Ausgangsproblem lautet: Worin unterscheidet sich die Vernunft, die Schlegel als das gebundene, leidende Denken, als einen defizienten Modus des Wissens vorstellt, vom Verstand, den Schlegel demgegenüber als ein freies Denken bezeichnet? Die Vernunft ist leidend – passiv – und gebunden, weil sie unmittelbar auf die sinnliche Anschauung bezogen ist. Sie abstrahiert zwar vom Konkreten, verwickelt sich jedoch in Widersprüche. Schlegel versucht – in der Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern – nun zu einer positiven Bestimmung des freien Denkens, zu einer positiven Bestimmung des Verstandes zu gelangen und verweist dabei auf die Einbildungskraft. Sie ist eine Form des freien Denkens. Sie bezieht sich nicht auf das Gegebene, z. B. eine gegebene Anschauung, sondern bringt willkürlich Vorstellungen hervor. »… sie ist, insofern Einbildungen innere Vorstellungen sind, Vorstellungen aber sich nicht richten nach den Dingen, ein freies Denken; sie ist durchaus nicht an die Gesetze der Dinge, der objektiven Welt gebunden, und also der Vernunft diametral entgegengesetzt.«Wie die Vernunft sich auf das Abstrakte richtet, so richtet sich die 94 NW 2, S. 384, Nr. 318 95 Vgl. Hühn: Das Schweben in der Einbildungskraft; Bernd Küster: Transzendentale Einbildungskraft, S. 133 ff. 96 Vgl. zur Einbildungskraft bei Friedrich Schlegel, Küster: Transzendentale Einbildungskraft, S. 122–187. 97 KFSA II, 18 159, Nr. III, 429
3.3. Das Hohe Lied der Einbildungskraft
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Einbildungskraft auf das Bild. »Das Bild ist ein Werk des Ichs, ein Gegen-Ding, welches das Ich hervorbringt, um sich der Herrschaft des Dings, des Nicht-Ichs zu entreißen.«⁹⁸ Das durch die Einbildungskraft hervorgebrachte undingliche Bild zeigt ihre Freiheit, die zunächst Freiheit ist von dinglichen Zusammenhängen. Ihr Zweck ist das freie Denken und Dichten. »Im Dichten ist sie auch wirklich am freiesten.«⁹⁹ Gerade in Bezug auf das Schöne zeigt die Einbildungskraft ihre ganze schöpferische Potenz. Der Schöpfer des Schönen schöpft durch die Einbildungskraft, und auch der Rezipient schaut das Schöne an durch die Einbildungskraft. Hier findet eine Berührung statt, ein gemeinsames Schöpfen der schönen Anschauung. In der verbindenden Funktion der Einbildungskraft zeigt sich ihre Beziehung auf das Gefühl, auf die Liebe. Schließlich fasst Schlegel die Einbildungskraft als das Vermögen des Ausdehnens und Zusammenziehens, das wesentlicher Ausdruck des Verhältnisses des Ich zur Welt ist. Die Welt ist für Schlegel die unendliche Ichheit, deren Wesen absolute Tätigkeit ist. Das eingeschränkte Ich steht mit der unendlichen Ichheit in einer inneren Beziehung, denn das eingeschränkte Ich ist einerseits ein Teil der unendlichen Ichheit, andererseits ist das Ich selbst Ichheit. Die Tätigkeit des eingeschränkten Ich, sich zu einer Welt auszudehnen, geschieht durch die Einbildungskraft: »… die Phantasie ist es, die einen Gedanken in ein Unendliches, zu einer Welt ausdehnen und eine unendliche Mannigfaltigkeit in einen Begriff zusammenfassen kann.« (KFSA II, 12 361) Die ausdehnende Fähigkeit ist Dichtungskraft, die zusammenziehende Verstand, beides jedoch sind Tätigkeiten der Einbildungskraft, »die man so füglich das Atmen der Seele nennen könnte, da durch sie die unendliche Fülle der Welt wechselweise ein- und ausgeatmet wird.« Einbildungskraft und Perspektivismus Die transzendentale Funktion der Einbildungskraft, wie sie Kant und Fichte entwickelten, war vornehmlich eine vermittelnde und in der Vermittlung – bei Fichte – eine die Anschauung hervorbringende Funktion. Bei Novalis erhält die Einbildungskraft eine poetologische Bedeutung, ohne jedoch das Konzept Fichtes prinzipiell zu verlassen. Wenn die Einbildungskraft den Stoff der Kunst hervorbringt, schafft sie damit allerdings eine Wirklichkeit mit höherem Wahrheitsgehalt, sie bringt selbst die Gegensätze noch hervor, zwischen denen sie hervorbringend vermittelt. Friedrich Schlegels Ansatzpunkt liegt außerhalb der Transzendentalphilosophie Fichtes, knüpft jedoch an die poetologische Aufwertung durch Novalis an. Das Moment der Vermittlung schlechthin Entgegengesetzter trägt Schlegel jedoch nicht weiter. Dieses Moment scheint bei Novalis sogar über Fichte, genauer: über den frühen Fichte, hinauszugehen. Die Einbildungskraft, nicht mehr als Vermögen, sondern
98 Ibid. 99 Ibid. – Allerdings verwickelt sich Schlegel in Widersprüche: »Die Einbildungskraft, an und für sich betrachtet, ist in solchem Grade frei, daß sie überhaupt von allem Gesetz und Zweck losgebunden ist.« (KFSA II, S. 12, S. 360)
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3. Kapitel: Fichtes Transzendentalphilosophie
als bloße Tätigkeit, ist nichts anderes als ein Zwischen, eine absolute Relation, welche die Relata erst konstituiert. Die Unvereinbarkeit von Ich und Welt, von Welt und Kunst, von Unendlichem und Endlichem führt weder zur Kapitulation vor dem unauflösbar scheinenden Dissens noch zur gewaltsamen Annexion durch eine übermächtige Einheit. Denn jeder Unvereinbarkeit, sei es auch der von Differenz und Identität, liegt die schöpferische und freie Tätigkeit des Zwischen, d. h. die produktive Einbildungskraft, zugrunde. Zugleich hat Novalis damit eine Zauberformel entdeckt, durch die sich die systembildende Immanenztheorie Fichtes aufbrechen lässt. Fichtes Theorie des Ich bildet einen ungeheuren Evidenzdruck aus: Alles, was auch immer nur gewusst werden kann, muss im und durch das prinzipiierende Ich realisiert werden. Dass dies letztlich nur in einem Streben gelingen kann, dass diese Realisierung nur in einem Sollen liegt, nicht in einem Sein, mag mit der Endlichkeit menschlichen Denkens und Tuns zusammenstimmen. Trotzdem verbreitet sich die Ich-Theorie Fichtes über das Wissen mit der Gewalttätigkeit einer unifizierenden Vernunft, die alle Pluralität in Einheit, alle Differenz in Identität aufzulösen bereit ist, ja, die gerade in diesem Programm den Ausweis aller Rationalität entdeckt. Für Novalis ist es allein die Einbildungskraft, welche diese vorgängige Geschlossenheit aufbricht. Jetzt ist nicht nur Pluralität möglich, sondern einzig möglich. Dass diese Auffassung ihr Paradigma der Kunst abgewinnt, ist dabei nicht verwunderlich: Denn eine Pluriperspektivität ohne Einheit muss Verzicht tun auf die wissenschaftlichphilosophische Einsicht. Die Philosophie geht über in die Kunst. Die Welt wird zum Fragment, das Wissen zur Poesie. Philosophisch-systematisch liegt hierin das Problem, wie ein transzendentalphilosophisches Programm mit Einheit und Differenz verfährt. Bei Fichte beherrscht die Einheit des Wissen des Begriff des Bewusstseins. Aber Unterschiedenheit, etwa von Wissen und Gewusstem, von Tun und Sagen, von Setzen und Entgegensetzen ist auf der methodisch-systematischen Seite ebenso wichtig. In dieser Konzeption ist diese Doppeltheit ebenfalls präsent: Das Wissen ist zugleich dasjenige, das in der Ableitung ableitet, wie auch dasjenige, das in seiner Struktur abgeleitet wird. Durch die Identität in dieser Doppeltheit und im Reflex darauf entsteht die Evidenz für ein wissendes Wesen im Vollzug des Wissens. Eine Lösung dieser Grundspannung scheint nur möglich in einer Theorie der Perspektivität, die eine vorgängige, absolute und globale Perspektive, die für alle Perspektiven gilt, explizit ausschließt, gleichwohl aber in ihrer Perspektivität, Anspruch auf eine globale Perspektive macht.¹⁰⁰ Dieser Anspruch, der weit mehr einschließt als partikulare Gültigkeit partikularer Gehalte, eröffnet die Möglichkeit produktiver Prozesse in der Auseinandersetzung nicht bereits apriori unifizierter Perspektiven. Dazu ist eine Einbildungskraft gefordert, die weder bloß die Funktion hat, eine allgemeine und einzige Welt für alles Wissen zu konstituieren,
100 Vgl. Christoph Asmuth/ Quentin Landenne: Perspektivität als Grundstruktur der Erkenntnis, (Kultur – System – Geschichte; 12) Würzburg 2018; Quentin Landenne: Le perspectivisme transcendantal de Fichte, New York / Hildesheim 2013; ders. (Hrsg.): Histoire des perspectivismes philosophiques, Brüssel 2018
3.3. Das Hohe Lied der Einbildungskraft
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noch, sich in der schlechten Unendlichkeit des Partikularen zu erschöpfen, sondern hervorbringend ist, frei und produktiv und ebenso fähig zur Korrektur, zur Prüfung und zur Selbstbegrenzung ihres Produzierens – eine Einbildungskraft im Dienste eines produktiven, streitbaren, prinzipiell unabschließbaren Dialogs.
Kapitel 4
Der Weg der Wissenschaftslehre 4.1
Transzendentalphilosophie oder absolute Metaphysik?
Wer einen Akt, etwa den einer transzendentalen Genese, nicht anders denken könne als durch Veränderung in der Zeit, dem gehe es wie Schelling, schimpfte Fichte 1805. Er komme so wenig wie die vielen anderen über das gewöhnliche Denken hinaus: »dies ist natürliche Blödsinnigkeit, schlechter Kopf, u. Mangel an der aller ersten Erforderniß zum Philosophiren. Mit einem solchen Kopfe geht man aber auch nicht an die Tr.Ph. sondern man sammle Anekdoten, oder schreibe Zeitungen, in welcher Sphäre ein Akt nicht weiter begriffen zu werden braucht, denn als eine in der Zeit vorfallende Veränderung.«¹ Die Selbstverständlichkeit, mit der Fichte die Philosophie von den ›Niederungen des Journalismus‹ abhebt, mag nicht besonders überraschen, spiegelt sich doch darin der aufgestaute Kampf, die allmähliche Durchsetzung und der bedrohte Status der Philosophie in einer vermeintlich unphilosophischen Kultur, gekoppelt mit dem Bewusstsein, den Schlüssel zu den entscheidenden Weltfragen selbst in Händen zu halten. Mehr überrascht tatsächlich, dass Schelling, der von Fichte lange Zeit als Schüler und der sich selbst als Mitstreiter des gemeinsamen Projektes begriffen hatte, in das Fahrwasser dieser geharnischten Kritik gerät: Schelling hätte besser Journalist werden sollen. Im Hintergrund liegt die – persönlich geführte Auseinandersetzung der beiden Denker –, die etwa um die Jahre 1799/1800 beginnt. Aus Fichtes Perspektive war es insbesondere Schellings »Darstellung meines Systems der Philosophie« aus dem Jahre 1801, die bereits durch das Possesivpronomen des Titels die Trennung von Fichtes Position anzeigte. Immer wieder, bis in das zweite Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hinein, kommt Fichte auf diese Schrift zurück. Es ist wiederkehrender Bestandteil seiner immer neuen Fassungen der Wissenschaftslehre: Schelling habe die gemeinsamen Bahnen der Transzendentalphilosophie verlassen und vertrete nun eine dogmatische Metaphysik, ein Projekt, das sich letztlich nicht begründen lasse und wegen mangelnder Evidenz scheitern müsse. Transzendentalphilosophie oder absolute Metaphysik? Die Frage könnte ambivalent erscheinen. Und nicht nur das: Die Möglichkeit, eine sinnvolle Antwort zu finden, läge vielleicht außerhalb des Feldes, in dem man seriös über philosophische Thesen diskutiert. Transzendentalphilosophie oder absolute Metaphysik? Mit der Frage erwächst zunächst ein Unbehagen, das darin besteht, dass die Frage nicht zu
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J. G. Fichte: Wissenschaftslehre 1805, GA II, 9, S. 218 f.
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4. Kapitel: Der Weg der Wissenschaftslehre
erkennen gibt, ob sich hinter ihr ein historisches oder ein systematisches Frageinteresse verbirgt. Historisch bezweckte die Frage eine kategorisierende Einordnung. Die Antwort würde voraussetzen, dass man angibt, was denn historisch unter den Etiketten Transzendentalphilosophie oder absoluter Metaphysik zu verstehen wäre.² Die Antwort müsste zeigen, was in den Jahren nach 1800 theoriegeschichtlich darunter subsumiert wurde oder heute darunter zu subsumieren wäre. Die Antwort bliebe historisch-positivistisch: Die zugrundeliegende Frage hieße dann präziser gefasst: Was war die Transzendentalphilosophie oder was war die Metaphysik? Andererseits scheint es gegenwärtig außerordentlich heikel, einen systematischen Begriff der Transzendentalphilosophie aufzubieten, ganz zu schweigen etwa von einem Begriff von Metaphysik, einem Begriff, der nicht nur inhaltlich umkämpft, sondern zugleich selbst ein Kampfbegriff ist. Man kann eine philosophische Position durch die Etikettierung Metaphysik als rational nicht begründbar diskreditieren oder aber als eine solche, die Letztbegründung zwar intendiere, jedoch keineswegs zu erreichen in der Lage sei.³ Gleichwohl bleibt es umstritten, ob eine klare Unterscheidung von metaphysischen und nicht-metaphysischen Sätzen oder ob gar ein Verzicht auf metaphysische Grundannahmen überhaupt möglich ist. Außerdem wäre zu bedenken, ob nicht mit dem Wegfall aller Metaphysik zugleich alle Entlastungsstrategien für den Menschen suspendiert würden: Der Mensch stünde als Einzelner allein in einer unbegreiflichen Welt, die niemals die seine werden, die er mit anderen nicht teilen und die er anderen nicht mit-teilen könnte. Alle seine Handlungen lasteten unmittelbar auf ihm, er müsste unter dem unauflöslichen Zugleich von maximaler Verantwortung und minimalem Handlungsspielraum sein Leben fristen. An diesen Diskussionen möchte ich mich jetzt nicht beteiligen, weil sie für die Beantwortung der Frage in Bezug auf die Spätphilosophie Fichtes nur bedingt relevant sind. Allerdings scheinen sie in systematischer Hinsicht mit der Frage nach Metaphysik und Transzendentalphilosophie verknüpft zu sein. Hier gilt es zunächst bescheiden zu sein und zu konstatieren, dass es diese systematisch geprägte Auseinandersetzung um die Spätphilosophie Fichtes gibt – wenn sie auch nicht immer als solche explizit gemacht wird. Sie ist systematisch, weil sie über die bloß historische Einordnung Fichtes hinausgeht und gerade das nicht historisierbare Element, in dem sich die Philosophie Fichtes ihrem eigenen Anspruch nach bewegt, zu ihrem Inhalt macht. Die vorkritische Metaphysik hat – dies sei in grober Schematisierung gesagt – das Seiende als Seiendes und seinen Grund, nämlich Gott, zu ihrem Thema.⁴ Die kritische Philosophie selbst prüft die Möglichkeit metaphysischer Sätze mit dem 2 3 4
Vgl. Emil Anghern: Der Weg zur Metaphysik. Vorsokratik, Platon, Aristoteles, Weilerswist 2000, S. 15, 32, 209. Vgl. Rudolf Carnap: »Testability and Meaning«, in: Philosophy of Science 3 (1936), S. 419–471, 4(1937), S. 1–40. Vgl. zur Komplexität des begrifflichen Terrains Burkhard Mojsisch und Orrin F. Summerell: »Metaphysik. Namen, Darstellungen, Deutungen« in: Die Philosophie in ihren Disziplinen. Eine Einführung. Bochumer Ringvorlesung Wintersemester 1999/2000. (Bochumer Studien zur Philosophie; 35), Amsterdam 2002, S. 89–118.
4.1. Transzendentalphilosophie oder absolute Metaphysik?
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Resultat, dass sich weder über das Seiende noch über Gott noch über das Ich substantielle oder essentielle Aussagen mit wissenschaftlichem Anspruch machen lassen. Das Verstandes- und Vernunftvermögen endlicher Wesen gilt nicht für Dinge an sich, sondern einzig für Erscheinungen, die selbst ausschließlich in Raum und Zeit angeschaut werden können. Kants Transzendentalphilosophie entwickelt dazu eine Theorie, die – in kritischer Absicht – eine explizit nicht-transzendente Begründung der Erkenntnis versucht. Der Rückgang auf Möglichkeitsbedingungen, die per se kein substantielles Substrat zulassen, macht den Verzicht auf ontologische oder theologische Prinzipien einsichtig. Schließlich verliert auch das Ich, bei Descartes noch letzte metaphysische Bastion im Gang des methodischen Zweifels, seine substantielle Bedeutung. Die transzendentale Apperzeption ist nur noch die oberste Bedingung allen Verstandesgebrauchs, keineswegs aber immaterielle, immortale, inkorruptible und personale Seele, an der die Vorstellungen wechselten wie Akzidenzien an einer Aristotelischen Substanz. Der Ansatz Fichtes bildet in vielen Hinsichten eine Verlängerung der Kantischen Transzendentalphilosophie. Ich habe im Verlauf dieser Darstellung schon einige Worte verloren über den historischen Anknüpfungspunkt und die Art, in der Fichte das Kantische Programm weiterentwickelt.⁵ Zu den von Fichte immer wieder aufgegriffenen Punkten zählt die Einheit der drei Kritiken in einer Bewusstseinstheorie, die Deduktion der Vorstellung und der Kategorien, die Kritik an der Zwei-Quellen-Theorie, insbesondere am Begriff und an der Realität eines Dings-an-sich. Insgesamt scheint es offenkundig, dass Fichtes Jenaer Programm die Transzendentalphilosophie Kants fortschreiben will, wenn auch unter einer charakteristischen oder – eigenwilligen Perspektive. Aber Fichtes spätere und späte Philosophie, beginnend etwa mit dem Jahr 1800, lässt manchen Zweifel daran zu, ob Fichte den Weg der Transzendentalphilosophie weiter verfolgte oder ob er ihn nicht vielmehr verlassen habe. Im Kontext beispielsweise der sich überbietenden Systementwürfe des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts könnte es scheinen, als handle es sich bei Fichtes Wissenschaftslehre um einen Beitrag zur Entwicklung einer absoluten Metaphysik. Auf diese Weise ließe sich von den Theorien Fichtes, Schellings und Hegels als von einer dreifachen Vollendung eines gemeinsamen Projektes der nachkantischen Philosophie sprechen. So hätte jeder Denker für sich in je eigener Ausprägung eine Gestalt der Vollendung eines Problembestandes herbeigeführt, der in der Philosophie Kants, besser: in der neuzeitlichen Aufklärung wurzelte. Vollendung meint hier dreierlei: Vollendung als höchste Aufgipfelung eines Lösungsansatzes in letztgültiger Präsentation, Vollendung als beendende Beantwortung einer Grundfrage, Vollendung als Ende einer ganzen Denkbewegung. Die Versuchung scheint groß, in den jeweiligen Ausprägungen der Spätphilosophien jene Vollendung zu entdecken, insbesondere jedoch in den umfangreichen nicht von Schelling und Fichte selbst zum Druck autorisierten Texten. Es liegt dem die Vorstellung zugrunde, als sei die letzte Wort gewordene Gestalt eines Denkers zugleich auch von letztgültiger philosophischer Relevanz. Für alle drei ›Vollender‹ scheint mir allerdings 5
Vgl.: Wilhelm Metz: Kategoriendeduktion; Asmuth, Christoph: »Von der Kritik zur Metaphysik«, S. 167–187, Wildfeuer, Armin, Wildfeuer, Armin G., Praktische Vernunft und System.
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4. Kapitel: Der Weg der Wissenschaftslehre
Vorsicht angebracht: Sklerotische Tendenzen lassen sich – bei aller bestehenden philosophischen Dignität – wohl kaum übersehen, und was Fichte insbesondere betrifft, so lässt der literarische Zustand der Texte seiner Spätphilosophie ohnehin nur bedingte Aussagen über die Entwicklung seines Philosophierens zu: – Anlass zur Mystifizierung und zugleich Anlass für weitreichende interpretatorische Projekte. Bei Schelling zeigt sich zuerst der Versuch, den transzendentalen Vorbehalt Kants, in einem Akt unmittelbarer Erhebung zu transzendieren, ohne jedoch die Resultate der Vernunftkritik rückgängig zu machen. Das Unbedingte als hypostasiertes Objekt eines totalisierten Vernunftschlusses wird zu einem nichtobjektivierbaren, gleichzeitig aber grundlegenden Prinzip einer alle Subjekt-Ob jektivität umfassenden Philosophie umgedeutet. Damit ist der kritische Vorbehalt in ein Positivum verwandelt, in ein absolutes Gesetz, das selbst durch nichts gesetzt, durch das vielmehr alles gesetzt ist, was gesetzt ist: absolute Autonomie. Gefordert ist dazu die Erhebung zu einem reinen oder absoluten Wissen, das als Akt nichts anderes sein kann als eine intellektuelle Anschauung, die alle Reflexion von sich abweist. Für Hegel schließlich wird der Akt der Erhebung selbst nun nicht mehr zu einem unmittelbaren Einssein mit dem Absoluten, sondern muss durch immanente Negativität hervorgebracht werden. Das absolute Wissen ist ihm wie Schelling zwar zunächst das Unmittelbare, aber zugleich auch Resultat eines vermittelnden Prozesses. Damit ist – so könnte man ungeschützt formulieren – Kants Programm einer Beschränkung der Vernunft, das auf die Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis rekurrierte, einer Theorie gewichen, in der die Selbstbeschränkung der Vernunft selbst beschränkt, d. h. nur in ihrer regionalen Gültigkeit ausgewiesen ist. So wird zwar bei Hegel die Endlichkeit der Vernunft überwunden, in der Überwindung aber festgehalten und erhalten. Die Reflexion bleibt, und zwar als ein Moment des Verstandes. Der junge Schelling entwickelt eine absolute Metaphysik, deren Charakteristikum in der Negation der Endlichkeit besteht, eine absolute Metaphysik freilich, die ihr durch Kant imprägniertes kritisches Potential – trotz aller Kritik an der kritischen Philosophie – beibehält. Den transzendentale Vorbehalt Kants weist er entschieden zurück. Gleichzeitig behält er die kritische Tendenz der Kantischen Transzendentalphilosophie bei: Er will nicht zurück zur alten rationalen Metaphysik, sondern über sie und durch sie hindurch zu einer neuen, absoluten Philosopie oder Philosophie des Absoluten fortschreiten. Die voraussetzungslose Duplizität von Denken und Sein ist für ihn apriorisch vermittelt in einem Absoluten. Subjekt und Objekt, Immanenz und Emanenz, Idealismus und Realismus, Rationalismus und Empirismus bleiben in ihrer Einseitigkeit bloße Momente, bloße Aspekte, bloße Tendenzen des Einen reichhaltigen Absoluten. Es wird damit zum Erbe sowohl der theologischen wie der philosophischen Rede von Gott und Sein, allerdings säkular gewendet in die welthaltige und welthaltende Vernunft selbst. Schaut man auf die viefachen Wendungen, welche die Philosophie Schellings in dessen philosophischen Schaffen nehmen wird, so muss man konstatieren, dass diese absolute Metaphysik freilich nur eine Durchgangsstation war. Und – betrachtet man die Entwicklung Schellings von seiner Spätphilosophie aus, so wird
4.1. Transzendentalphilosophie oder absolute Metaphysik?
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man der ungebrochenen und kaum von der Moderne angekränkelte Identität des absoluten Einen, dass der frühe Schelling vor sich herträgt, kaum trauen wollen. Um zu klären, ob Fichte diesem Theorieaufbau ebenfalls folgt, möchte ich zunächst einige Fragen an seine Spätphilosophie stellen: Was bedeutet Fichtes Rede von Gott? Was bedeutet seine Rede vom Ich? Welche Bedeutung kommt dabei dem Sein zu? Dann möchte ich auf eine besondere Form der Transzendentalphilosophie hinweisen, die Fichte gerade in seiner Spätphilosophie entwickelt hat und die charakteristische Veränderungen gegenüber Kant aufweist, ohne dabei Grundsätzliches aufzugeben. Fragen an die Spätphilosophie Fichtes Im sog. Grundsatz der Wissenschaftslehre 1804/2 bestimmt Fichte das Absolute oder Gott in siebenfacher Weise als Sein, Leben, Einheit, Immanenz Vernunft, Wir, Ich.⁶ Damit ist die Frage gestellt, was Fichtes Gottesbegriff ausmacht. Gott ist für ihn eine Bezeichnung, die er zunächst ungern in einer wissenschaftlichen Untersuchung benutzt; in der Spätphilosophie spricht er dann zunehmend häufiger von Gott. Die Assoziationen, die mit dem Gottesbegriff verbunden zu sein scheinen, stören für Fichte die reine Auffassung des Absoluten.⁷ Einer der Einleitungssätze zu den Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre (1805) kann erklären, was Fichte mit dem Gottesbegriff bezweckt: »Gott, Göttliches – sich nicht an die Personifikation gestoßen: wir hoffen durch unsre Ansicht diese ganz wegzubringen. –. bedeutet bei uns, was es im ächten Christenthum, und überhaupt bei allen sich selbst verstehenden Menschen, die diesen Begriff dachten, von jeher bedeutet hat, das absolute, […].«⁸ Das Absolute ist Gott.⁹ Bedenkenswert ist, daß es an dieser Textstelle nicht etwa umgekehrt heißt: Gott ist das Absolute! In der Tat scheint es primär eine Frage der Terminologie zu sein, ob Fichte vom Absoluten und seiner Erscheinung oder von Gott und der Welt spricht. »Die Hauptschwierigkeit bei der lezten Benennung [Gott; Ch. A.], die nie entscheidend gelöst worden, wie dieses Wesen durchaus in sich geschloßen, und vollendet, scheinbar aus sich heraus gehen, u. Ursache einer Welt seyn könne, und wie diese Welt in gewisser Rüksicht als ausser Gott, und er ausser ihr erscheine, die denn doch in andrer Rüksicht der That, u. Wahrheit nach mit Gott ganz dasselbe seyn muß.«¹⁰ Die Hauptaufgabe der Wissenschaftslehre ist es daher, Identität und Differenz des Absoluten und seiner Erscheinung aufzuzeigen oder »die Einheit, u. Verschiedenheit Gottes u. der Welt«.¹¹ Dabei ist für Fichte ›Gott‹ nur in abso6 7
Vgl. Christoph Asmuth: Das Begreifen des Unbegreiflichen, S. 244–253. So findet sich z. B. in der Wissenschaftslehre eine Stelle (Wissenschaftslehre 1804/2, GA II 8, S. 114), an der Fichte sagt, dass man das immanente Sein Gott zu nennen pflege. Fichte redet auch von der Gottheit, was eher dem unpersönlichen Gottes-Bild Fichtes entspricht (ibid.). 8 J. G. Fichte: Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre, GA II 7, S. 378. 9 Vgl. ibid., S. 380. 10 Ibid., GA II 7, S. 378. 11 Ibid., S. 394.
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4. Kapitel: Der Weg der Wissenschaftslehre
luter Immanenz möglich: »Jene haben nur einen formalen Gott, der auswendige: der eigentliche reale Gott ist in uns selber.«¹² Darin zeigt sich zugleich die innere Kongruenz von Gottesbegriff und dem Begriff des Ich aus der frühen Wissenschaftslehre: »[…] alle Realität ist in das Ich gesetzt, […]«¹³ Fichte entwickelt also weder einen theologischen noch einen transzendenten Gottesbegriff. Gott bedeutet für ihn vielmehr den Inbegriff der Realität, reine immanente Aktualität, die sich wesentlich in der sittlichen Durchdringung und Durchdrungenheit der Wissenschaftslehre ausfaltet und ihren Niederschlag findet im gelebten und lebendigen Leben. Schwierig und seit den Anfängen kontrovers diskutiert ist Fichtes Ich-Begriff. Bereits mit der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre beginnt die wechselvolle Karriere dieses Terminus in der Wissenstheorie Fichtes. Eine Interpretation unter dem Hinblick auf die Ich-Lehre Fichtes hat ein zentrales Problem zu lösen: Fichtes Rede vom Ich verändert sich nach 1800 grundlegend. Was vormals als Prinzip der Philosophie zu gelten hat, wird später zu einem nachgeordneten Terminus, ja, an vielen Stellen gebraucht ihn Fichte pejorativ. Das Ich gilt ihm dann als das, was überwunden werden muss zugunsten des Absoluten oder Gottes. Andererseits – und das macht die Sache entschieden unübersichtlich – betont Fichte überall, er habe seine Lehre in den Grundzügen nicht verändert; es handle sich auch in späteren Schriften, so Fichte explizit, um denselben Grundgedanken, der bereits der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre zugrunde gelegen habe. Entwürfe und Vorlesungsmanuskripte belegen diese Auffassung Fichtes. Will man nicht Fichtes dezidierte Selbsteinschätzung relativieren oder ignorieren, bleibt nur die Annahme, Fichte habe seine Terminologie stark verändert: Das vormalige Ich als Prinzip der Philosophie sei nun unter den Begriffen Gott oder Absolutes wiederzufinden. Diese These ist in den letzten Jahren vermehrt vorgetragen und an verschiedenen Wissenschaftslehren der späteren Jahre überprüft worden. Es handelt sich dabei um einen weitreichenden Interpretationsvorschlag, der insbesondere die Ergebnisse der Spätphilosophie für die Jenaer Periode fruchtbar macht. Damit kann allerdings zugleich die Auffassung von einer grundlegenden Wende Fichtes – weg von einer Theorie des Ich, hin zu einer Theorie des Seins – nicht mehr einfach aufrechterhalten werden. Nach meiner Auffassung kann von einer Kehre Fichtes, die in eine negative Theologie oder Mystik einmünde, nicht die Rede sein. Ein weiterer schwerer Einwand gegen Fichtes Ich-Theorie formulierte Dieter Henrich Mitte der 60er Jahre.¹⁴ Zu Recht verweist Henrich darauf, dass das Ich nicht in der Weise einzusehen und zu erkennen ist wie ein beliebiger Weltinhalt.¹⁵ 12 J. G. Fichte: Wissenschaftslehre 1805, GA II 9, S. 227; Vgl. auch Fichte: Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre, GA II 7, S. 403. 13 J. G. Fichte: Grundlage, GA I 2, S. 291. 14 Dieter Henrich: »Fichtes ursprüngliche Einsicht«, in: Subjektivität und Metaphysik. Festschrift für Wolfgang Cramer, Frankfurt a. M. 1966, S. 188–232; dass., Frankfurt a. M. 1967. [zitiert im Folgenden nach der Festschrift f. W. Cramer]. Vgl. auch: »Fichtes ›Ich‹«, in: Dieter Henrich: Selbstverhältnisse. Stuttgart 1982, S. 57–82). 15 Ibid., S. 213.
4.1. Transzendentalphilosophie oder absolute Metaphysik?
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Ein Ich, das sich selbst vorstellt, das sich auf die Weise der Vorstellung erkennt, verfehle sich, indem es sich mit einem Objekt verwechsele. Dies sei eine Verwechslung, die – wie Henrich beschreibt – in eine zirkuläre Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins treibt. Allerdings hält Henrich daran fest, dass in Fichtes Rede vom Ich stets ein Selbstbezug thematisiert sei, stets als Differenz aufeinander bezogener Relata. Eine Analyse der Wissenschaftslehre 1804/2 zeigt aber, dass Fichte das Ich als absolute Einheit fasst, als Einheit, welche die formale Zweiheit der Glieder im Selbstbewusstsein erst begründet. Dieser Grund ist Ich und bleibt Ich in reiner Einheit ohne Unterschied, ist jedoch in Beziehung auf sich, sich auf sich beziehendes Ich und ist zugleich das Ich, auf das es sich bezieht: – Einheit, die Zweiheit impliziert¹⁶ . Henrich beschreibt in seinem fundamentalen Aufsatz zu Fichtes philosophischer Grundlegung eine Entwicklung der Selbstbewusstseinstheorie in drei Stufen, wobei Henrich das vorwärtstreibende Element in der jeweiligen Einsicht Fichtes begründet, der gerade die Zirkularität als defizient erkannt habe und nach einem Ausweg suchte. Die Stufen sind: 1. Das Ich setzt sich schlechthin (1794). 2. Das Ich setzt sich schlechthin als sich setzend (1797). 3. Das Ich als Selbstbewusstsein ist eine Tätigkeit, der ein Auge eingesetzt ist (1801).¹⁷ Die Wissenschaftslehre 1805, die Henrich freilich in den 60er Jahren gar nicht kennen konnte, kommt noch einmal auf die Terminologie der Wissenschaftslehren vor der Jahrhundertwende zurück und stellt klar: »Das Ich sezt sich selbst, nicht als ursprünglich sich setzend, wodurch das Wissen, als ein Intelligiren, in seiner Wurzel vernichtet wird, sondern in alle Ewigkeit als seinem sich setzen vorausgesezt: welche Vorausgeseztheit eben in dem Sichsetzen selber liegt. (Diesen Punkt hat keiner von denen, die sich über das Ich der W. L. vernehmen lassen, gefaßt, und so hat sich ihnen unter der Hand die W. L. in ein leeres Reflektirsystem verwandelt.) Wo ruht es? Im Mittelpunkt der Duplicität: u. dieser ist u. giebt, noch hinzugedacht daß er intelligiren ist, das ganze Ich, – […]«¹⁸ Fichte hält also 1805 an der Formel von 1794 fest: das Ich setzt sich selbst und präzisiert: Das Ich setzt sich als seinem Sich-Setzen vorausgesetzt. Im Sich-Setzen liegt Duplizität; es ist die
16 Vgl. den 19. und 20. Vortrag der Wissenschaftslehre 1804/2. – Vgl. dazu auch: Manfred Frank: »›Intellektuale Anschauung‹. Drei Stellungnahmen zu einem Deutungsversuch von Selbstbewußtsein: Kant, Fichte, Hölderlin/Novalis«, in: Die Aktualität der Frühromantik, (Hrsg.) Behler, Ernst – Hörisch, Jochen, Frankfurt a. M. 1987, insb. S. 115– 119. M. Frank fasst – darin Henrich folgend – das Ich als Selbstbewusstsein auf. Unter dieser Bedingung bliebe im Prinzip der Wissenschaftslehre in der Tat immer ein Unterschied aufweisbar. Vgl. Manfred Frank: »Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseinstheorie von Kant bis Sartre«, in: Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, Frankfurt a. M. 1991, insb. S. 449–455. 17 Dieter Henrich: »Fichtes ursprüngliche Einsicht«, in: Subjektivität und Metaphysik, Frankfurt a. M. 1966, S. 188–232. 18 J. G. Fichte: Wissenschaftslehre 1805, GA II 9, S. 272 f.
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4. Kapitel: Der Weg der Wissenschaftslehre
Keimzelle des Selbstbewusstseins. Im Sich-Setzen des Ich liegt aber bereits seine Vorausgesetztheit: – Das Ich als absolute Einheit ist sich als sich setzendem Ich, das heißt dem duplizierten Ich, vorausgesetzt, ist jedoch nichts anderes als Ich. Das Ich ruht im Mittelpunkt der Duplizität. Dagegen lehnt Fichte die Beschreibung 1797 als ursprüngliche ab. Das Ich setzt sich nicht als ursprünglich sich setzend, weil es sich dann auch als sich setzend als sich setzend setzen müßte usw. Dies ergäbe ein tatsächlich ein leeres Reflektiersystem, wie es Schelling und Hegel Fichte vorwarfen. Ferner ist gegen diese Interpretation Henrichs einzuwenden, dass die Reflexion bei Fichte keineswegs leere Verdopplung ist. Vielmehr verändert sich das Ich durch die Reflexion. Es reichert sich im Prozess der Reflexion an, gewinnt an Gehalt, ohne sich dabei selbst zu verlassen. Schließlich – und das betrifft ebenso auch jene, die Henrichs Position zu Fichte übernommen haben – ist auf die grundlegende Differenz von Ich und Selbstbewusstsein hinzuweisen. Selbstbewusstsein, das zeigt sich in der Spätphilosophie noch viel deutlicher als in der Grundlage – ist ein nachrangiges Epiphänomen, ebenso wie das Bewusstsein. Dies ist gerade dasjenige, was durch die Theorie des Ich erklärt und in seiner Struktur analysiert werden soll, aber keineswegs der Ausgangspunkt. Bekanntlich betont Fichte selbst in der Grundlage, dass das Ich als Prinzip in keinem empirischen Bewusstsein explizit vorkommt, eben weil es in allem Bewusstsein als dessen Prinzip bereits implizit liegt. Nicht anders stellt sich Fichtes Position zum Seinsbegriff dar. Es sei zu »brandmarken mit dem rechten Namen Materialismus, was ein Seyn zugiebt, u. sezt; ob dies nun auch ein Gott seyn soll. Denn dies ist ohne dies ein leerer Schattenbegriff,«¹⁹ bemerkt Fichte in der Königsberger Wissenschaftslehre von 1807. Das Sein bildet nicht etwa die Voraussetzung alles Denkens und Lebens; es ist nicht das unverfügbar Andere, keine geheimnisvolle ursprüngliche Verborgenheit, in deren Durchsichtigmachung die menschliche Existenz erst ihre unverbrüchliche Authentizität zu finden hoffen dürfte. Das Sein bildet nicht die Voraussetzung, es sei denn, das Sein sei bereits voraus gesetzt, d. h. Folge einer Setzung, die selbst wiederum durchschaut und durchdacht werden muss. Innerhalb der Spätphilosophie Fichtes rückt der Seinsbegriff in eine doppelte Funktion. Einerseits bildet er – gemeinsam und in eins mit dem Gottes- und Ichbegriff – eine grundsätzliche, jedoch schwebende Kennzeichnung des Absoluten, ganz Fichtes Einsicht gemäß, nach welcher der Begriff selbst sich an sich selbst für unvermögend erkennen muss, das An-sich der Sache, hier des Absoluten, zu repräsentieren. Es kommt nur zu einem ›Schattenbegriff‹. Andererseits zielt der Seinsbegriff auf das schlechte Sein. Fichte kritisiert damit nicht die Sinnenwelt, diskreditiert nicht die Empirie, son19 J. G. Fichte: Wissenschaftslehre 1807, GA II 10, S. 113. Diese Textstelle referiert die Kritik Fichtes an Spinoza: Der Vorwurf Fichtes an Spinoza lautet, Spinoza habe ein totes Sein als Absolutes an die Spitze seines Systems gesetzt. Es mangele diesem Absoluten an dem mit dem realen Moment versöhnten Idealen, das aus dem starren, beharrenden und damit toten Sein, ein lebendiges, sich auf sich selbst beziehendes Absolutes mache. Dies erst könne die Transzendentalphilosophie erreichen. (Vgl. J. G. Fichte: Wissenschaftslehre 1804/2, GA II 8, S. 116).
4.1. Transzendentalphilosophie oder absolute Metaphysik?
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dern vielmehr den Blick des Betrachters, in dessen Hinschauen sich die an sich lebendige, d. h. einzig der Intelligibilität zugängliche Welt des Sittlichen zu einem bloß vorhandenen Etwas verwandelt. Das Sein disqualifiziert sich dadurch, dass es ist, für die Stelle des Absoluten. Sein hat einen Gegensatz: – nämlich das NichtSein, mit dem das Sein behaftet ist, insofern es ist. Ein weiterer Gegensatz des Seins ist der Begriff. Gegensatz heißt für Fichte aber substantielles Uneins-Sein: Das unterschiedslose Eine, die absolute Realität, jenes Singulum lebendigen Seins des Grundsatzes der Wissenschaftslehre 1804/2, jenes absolute Ich, wird durch das Mannigfaltige nicht berührt. Das Mannigfaltige ist gegenüber dem einen lebendigen Sein absolutes Nichtsein..²⁰ Nun ist es für Fichte nicht das Sein, das den Gegensatz zum Begriff ausmacht, sondern es ist der Begriff selbst, der, indem er sich als Begriff weiß, sich das Sein entgegensetzt. Beide Seinsbegriffe sind daher miteinander verbunden. Der Begriff verwandelt das absolute, lebendige und organische Sein in das tote Sein, den toten Absatz, in eine stehende, substante Welt. Weder Gott noch Ich noch Sein sind also Begriffe, mit denen Fichte eine extramentale Realität kennzeichnet. Sie scheiden aus als Begriffe für das existentiell vorgeordnete Unvordenkliche oder geheimnisvoll Verborgene. Sie sind für ihn nicht das opake Refugium Gottes, das einzig einer mystischen Versenkung zugängliche wäre, sondern ›sonnenklare‹ Transparenz. Grundsätzlich ließe sich das analog auch für den Begriff ›Leben‹ zeigen.²¹ Fichte kennzeichnet damit nichts, was vor dem Wissen liegt oder etwa über oder unter ihm, sondern in ihm als lebendige Quelle der Realität. Wie für Sein und Gott gilt auch für das Leben: Sie sind Begriffe, welche die ursprüngliche Unmittelbarkeit in ihrer Einheit charakterisieren, daher prinzipiell dem Denken, d. h. der philosophischen Nachkonstruktion, zugänglich. Aufgrund ihres Inhalts, ursprüngliche Unmittelbarkeit in Einheit, lassen sie sich allerdings nicht als solche denken: Der Begriffscharakter ist dem Begriffsinhalt prinzipiell unangemessen, eine Überlegung, um die Fichtes Spätphilosophie immer wieder kreist. Diesen Gedanken überträgt Fichte schließlich auf den des Absoluten selbst: »Absolut ist selbst ein relativer Begriff, nur denkbar im Gegensatz mit dem relativen; […]«.²² Fichtes Weiterentwicklung der Transzendentalphilosophie Das kritische Geschäft der Vernunft beruht auf der revolutionären Einsicht Kants, dass es zur Sicherung der Allgemeinheit, Valenz und Evidenz des Wissens nicht notwendig ist, auf eine göttliche, transzendente oder substante Vernünftigkeit zu rekurrieren, die dem endlichen Bewusstsein von Außen gegeben oder aus seiner 20 Vgl. J. G. Fichte: Wissenschaftslehre 1804/2, GA II 8, S. 234. 21 Vgl. Sell, Annette: »Aspekte des Lebens. Fichtes Wissenschaftslehre von 1804 und Hegels Phänomenologie des Geistes von 1807«, in: Sein–Reflexion–Freiheit. Aspekte der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes. Hrsg. v. Ch. Asmuth. Bochumer Studien zur Philosophie. Bd. 25. Hrsg. v. K. Flasch, B. Mojsisch, O. Pluta. Amsterdam/Philadelphia 1997. S. 79–94. 22 J. G. Fichte: Wissenschaftslehre 1805, GA II, 9, S. 195.
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4. Kapitel: Der Weg der Wissenschaftslehre
Körperlichkeit, seiner physischen Natur, geschlossen sein müsste. Seine Überlegungen entwickeln ein Konstrukt aus Möglichkeitsbedingungen, die in jeder wirklichen Erkenntnis faktisch sind, selbst aber über kein ontisches Substrat verfügen. Damit ist zugleich die Reduktion auf die bloße Körperlichkeit des Erkennens weder ausgeschlossen noch eingeschlossen, denn seine Theorie ist auf einem Terrain bloßer Möglichkeitsbedingungen angesiedelt, damit gerade nicht belanglos für körpergebundene Erkenntnisprozesse, sondern im Gegenteil: in höherem Maße, weil in höchstem Maße allgemein und objektiv, gültig für alle möglichen Erkenntnisse. Fichte entwickelt zwei Modelle transzendentalphilosophischer Argumentation, die über Kant hinausgehen, und zwar in ihrer genetischen Potenz, nicht in ihrem inhaltlichen Umfang. Das erste lässt sich als transzendentalphilosophische Reflexion beschreiben, das zweite als transzendentalphilosophische Problematizität. Reflexion und Problematizität Fichte beschreibt die transzendentalphilosophische Reflexion ganz dezidiert in der Wissenschaftslehre 1805, und zwar als Kunst des transscendentalen Denkens.²³ Der Gedanke erkennt im Denken einen Inhalt, vermag aber, wenn auch nicht zugleich, den Gedanken dieses Inhalts zu denken. Fichte bezeichnet das als Reflex. Im alltäglichen Vernunftgebrauch ergibt sich daraus eine schlechte Unendlichkeit, die sich durch ihre Insuffizienz selbst ankündigt: Sie verliert den Inhalt in seiner Unmittelbarkeit und bleibt statisch bei dem Immer-Selben stehen, das sie in unendlichen Schleifen umkreist. Die transzendentalphilosophische Reflexion unterscheidet sich vom Reflex durch das sich vermittelst seines Denkens und seines Durchdenkens dieses Denkens selbst bewegende Subjekt. Und die perennierende Möglichkeit der Reflexion bleibt zurück als Reflexibilität.²⁴ Der Träger der Argumentation ist zunächst das empirische Ich, mein Ich, dann das Wir der Wissenschaftslehre. Es ist das Subjekt der Argumentation und damit die Triebkraft der Wissenschaftslehre. Seine Funktion ist klar: Das Wir ist die sich bewegende Nahtstelle zwischen Mir, dem jeweiligen Hörer oder Leser der Wissenschaftslehre, und ihren Inhalten. Das Wir enthält das jeweilige Argument: Wir haben es gedacht und waren uns unseres Denkens bewusst, also … Da die Reflexion auf das Denken des Gedankens reflektiert, muss der Gedanke gedacht sein, wenn weiter gedacht werden soll. Wird der Gedanke nicht gedacht, ist die Reflexion auf das Denken des Gedankens leer, das Argument daher insuffizient oder fehlt schlechthin. Dazu braucht das Denken, sei dieses empirisch oder bereits transzendental, den Gedanken des Seins oder Absoluten als eines ersten und notwendigen Gedankens. An diesem absoluten Gehalt und an der Reflexion auf diesen absoluten Gehalt und an der Reflexion auf das Denken dieses absoluten Gehalts realisiert sich die Wissenschaftslehre als ein Prozess der Selbstversicherung des Absoluten im endlichen Bewusstsein, das sich in diesem Prozess als unendliches, als vernünftiges, als transzendentales Bewusstsein begreift, letztlich, d. h. bei Fichte ›in der Wurzel‹, begreift als identisch mit dem 23 Vgl. zum folgenden: Fichte, Wissenschaftslehre 1805, GA II, 9, S. 230–232 24 J. G. Fichte: Transzendentale Logik 1812/1.
4.1. Transzendentalphilosophie oder absolute Metaphysik?
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Absoluten. Ein Exempel der transzendentalen Reflexion findet sich in der Wissenschaftslehre 1804/2, bei der sich das Subjekt der Wissenschaftslehre durch transzendentalphilosophische Reflexion in das unmittelbare, unvermittelte Absolute vermittelt, allerdings nur, um sich in seiner dadurch erreichten Selbstgewißheit wieder zu restituieren. Die transzendentale Reflexion hat die Tendenz alle eingeschränkten Bewusstseinsinhalte auf ihre zugrundeliegenden Bedingungen hin zu prüfen. Durch die permanente Koppelung alles Gewussten an einen grundlegenden Bewusstseinsakt als Möglichkeitsbedingung entsteht ein hoher Grad an Gewissheit. Denke ich einen Gehalt, so versichere ich mich im Denken dieses Gedankens seiner Bedingungen. Letztlich ist dadurch selbst der absolute Gehalt – vermittelst eines absoluten Denkaktes – mit dem endlichen Bewusstsein eines empirischen Ich verbunden. Und umgekehrt: Es ist sichergestellt, dass selbst das Wissen des Absoluten in einem absoluten Wissen nicht verschieden sein kann von allen empirischen Wissensakten, sondern vielmehr in allen Wissensakten als dessen oberste Möglichkeits- und Realitätsbedingung stets – implizit – enthalten ist. Beginnend mit den drei Fassungen der Wissenschaftslehre im Jahr 1804 entwickelt Fichte eine weitere transzendentalphilosophische Argumentationsform. Fichte bezeichnet sie als Problematizität. In der Wissenschaftslehre 1804/1 heißt es formelhaft: »Problematicität = Subjectivität = Standpunct der W. L.«²⁵ Ziel und innere Tendenz der Wissenschaftslehre ist es, aus dieser Problematizität hinaus zu gehen zur Notwendigkeit und Objektivität des wirklichen Wissens. »[…] die WL werde daher durch ihr eignes, in seiner Möglichkeit begriffenes Seyn, genöthigt seyn, aus sich selber zu einem Nothwendigen herauszugehen.«²⁶ Als Standpunkt der Wissenschaftslehre bewegt sich die Problematizität in einem Bereich logischer Möglichkeit. Im Unterschied aber von formallogischer Möglichkeit handelt es sich bei der Wissenschaftslehre um transzendentallogische Möglichkeit. Ihre Begriffe enthalten nicht nur keinen inneren Widerspruch, sondern sind darüber hinaus angelegt auf mögliche Erkenntnis. Das zeigt sich paradigmatisch an der Wissenschaftslehre 1804/2. Durch transzendentale Reflexion hat sich das Subjekt der Wissenschaftslehre in seinem Vollzug in das Absolute, jenes grundsätzliche Sein-Leben-Vernunft-Ich-Singulum, vermittelt, eine absolut realistische Gedankenbewegung. Trotzdem aber bleibt die ganze Untersuchung problematisch. Das zeigt sich bereits an der Aufforderung zur Konstruktion dieses Absoluten. Müssen Wir als Subjekt der Wissenschaftslehre erst aufgefordert werden, so können Wir das Aufgegebene auch unterlassen. Die Notwendigkeit der Konstruktion des Seins ist selbst problematisch. Die Konstruktion des Seins steht unter der Bedingung: Soll das Sein konstruiert werden, so muss …. Charakteristisch für die von Fichte vorgetragene Gedankenbewegung der Problematizität ist, dass einerseits gilt: Soll das Sein konstruiert werden, so ist es ein in sich geschlossenes Singulum lebendigen Seins. Das ist die in Rede stehende Problematizität. Ist aber das Sein andererseits ein in sich geschlossenes Singulum lebendigen Seins, so ist die Problematizität in ihm begründet. »Ist Construction 25 J. G. Fichte Wissenschaftslehre 1804/1, GA II, 7, S. 192. 26 J. G. Fichte: GA II, 7, S. 192 f.
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4. Kapitel: Der Weg der Wissenschaftslehre
des Seins, so ist sie in ihm selber absolut begründet; […].«²⁷ Das Soll …, so muss … wird zum prägenden Charakter des zweiten Teils der Wissenschaftslehre 1804/2. Es ist das von Fichte sogenannte problematische Soll. Es ist schon im ersten Teil, allerdings implizit anwesend, kongruiert es doch mit der transzendentalen Reflexion: »Soll es zu dieser eben erlangten Einsicht kommen, so muß ec.«²⁸ Der Gang der transzendentalen Reflexion erscheint in einer nachträglichen Betrachtung selbst als ein Grenzfall der Problematizität. Allerdings war es die Tendenz des ersten Teils, die Aktivität des Subjekts zugunsten des Vollzugsmoments zu eliminieren. Erst der zweite Teil, die Phänomenologie, restituiert das problematische Soll und macht es zum wesentlichen Movens der Argumentation: »Jetzt aber im Herabsteigen haben wir uns nun eben an dieses vernachlässigte Soll zu halten, das ja die fortdauernde innere Seele aller der Idealismen abgab, die während des Aufsteigens fortwährend sich ausschieden.«²⁹ Die Argumentationsweise der Problematizität tendiert dazu, das Problematische in Kategorizität zu verwandeln. Problematizität ist mögliche Kategorizität. Daher sind in der Problematizität Problematizität und Kategorizität verschränkt. Das ist ein deutliches Zeichen für eine idealistische Argumentationsweise. Einerseits basiert die Problematizität wie der Idealismus auf der Selbständigkeit des Wir, andererseits enthält auch die Problematizität Kategorizität wie jede idealistische Argumentation eine realistische. Die Formel soll…, so muss … erzeugt dabei die Verbindung des transzendentalen Wissens mit dem wirklichen. Sie garantiert, dass nicht etwa die Sphäre des transzendentalen Gedankens abgesondert existiert. Vielmehr liegt das transzendentale Wissen im wirklichen. Es ist das, was in jedem Wissen implizit zugrunde liegt. Bereits in der Grundlage von 1794/95 war Fichte der Überzeugung, dass nur das in allem Wissen Liegende durch Reflexion und Abstraktion zum philosophischen Bewusstsein erhoben werden müsse, und zwar als dessen nicht ontologisches, sondern transzendentales Prinzipienwissen. In den Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre erklärt Fichte, dass das problematische Soll sich auf das Dasein oder Erscheinen Gottes bezieht: »Es soll schlechthin zum Daseyn Gottes kommen, so wie er in sich ist.–. Ich sage nicht, es ist, ist nicht, sondern soll.. Da die Form des Daseyns Wissen: es kann zu diesem Daseyn nur in seiner Form kommen, […], also nur im Wissen.–. Drum ist das Wissen da, und alle seine Beziehungen, u. Bestimmungen sind da lediglich um jenes Willen, u. sind daraus als aus dem UrPrincip vollständig zu erklären u. abzuleiten.«³⁰ Es könnte sich hier um einen Fall einer deduktiven Metaphysik handeln: Am Anfang steht Gott als absolutes Prinzip. Daraus folgt das Dasein Gottes oder seine Erscheinung, die sich wiederum als Prinzip des Wissens erweist und aller seiner weiteren Bestimmungen. Was aber aus dieser affirmativen Metaphysik Transzendentalphilosophie macht, ist das problematische Soll: »Ich sage nicht, es ist, ist nicht, sondern soll.« Im problematischen Soll ist eben nicht von einer metaphysisch vorausgesetzten Existenz die
27 28 29 30
Wissenschaftslehre 1804/2, GA II, 8, 262. Wissenschaftslehre 1804/2, GA II, 8 S. 264 f. Ibid. J. G. Fichte: Principien, GA II, 7, S. 437.
4.1. Transzendentalphilosophie oder absolute Metaphysik?
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Rede, sondern von den Möglichkeitsbedingungen des Wissens überhaupt, zu denen auch Gott als schlechthinnige oder absolute Realität, aber auch sein Dasein zu zählen ist. Ähnlich entwickelt sich der Gedankengang in der Wissenschaftslehre 1811. Dort entfaltet Fichte seinen transzendentalphilosophischen Ansatz in verschiedenen Stufen auseinander. Die Aufgabe der Wissenschaftslehre setzt Fichte klar von anderen dogmatischen Positionen ab. Unter Dogmatismus versteht er eine Theorie, bei der das Denken erst nachträglich zu den Dingen hinzutritt. Diese Nachträglichkeit erzeugt für den Dogmatiker erst so etwas wie Erkenntnis. Daher behauptet der Dogmatismus die unabhängige Existenz der Außenwelt. Anders die Wissenschaftslehre! Sie geht umgekehrt vom Primat des Denkens aus, alle Erkenntnis ist folglich eine Bestimmung des Wissens, die Außenwelt nur eine Perspektive des Wissens und daher ihrer Form nach aus dem Wissen ableitbar. Die Wissenschaftslehre bleibt immer in der Sphäre des Wissens, ist deshalb – formal betrachtet – immer Idealismus. Die Wissenschaftslehre stellt sich deshalb ein fünffaches Beweisziel. Die Wissenschaftslehre soll aufzeigen: 1. 2. 3. 4. 5.
die Selbständigkeit des Wissens, die Mannigfaltigkeit der Gestaltungen im Wissen, die Bestimmungen der Gestaltungen durch sich selbst, die Bestimmung nach notwendigen Gesetzen, die Totalität dieser Bestimmungen in ihrer Endlichkeit.³¹
Das Verfahren der Wissenschaftslehre ist problematisch: Sie fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit des Wissens; die Antworten sind deshalb ein theoretisches Konstrukt ohne ontischen oder substantiellen Status. Gleichwohl müssen die von der Wissenschaftslehre abgeleiteten Möglichkeitsbedingungen in allem wirklichen Wissen gegeben sein. Die Wissenschaftslehre ist daher – so Fichte explizit – keine Seinslehre, keine Ontologie, keine Kosmologie, keine Metaphysik. Der problematische Charakter der Wissenschaftslehre spricht sich grammatisch in der Form aus: Wenn Wissen ist, dann notwendig unter genau diesen Bestimmungen. Fichte nennt diese Methode auch hier Problematizität, und es lässt sich das alte Soll …, so muss … wiedererkennen. Erst in der unmittelbaren Anschauung, d. h. dem wirkliche Wissen in seinem unmittelbaren Vollzug, verwandelt sich die Problematizität in Kategorizität.³² Die Wissenschaftslehre beginnt nicht beim unmittelbaren Wissen, sondern bei dessen höchster Voraussetzung. Fichte nennt diese Voraussetzung Gott. Fichte behauptet hier nichts positiv oder dogmatisch von Gott, sondern allein in der problematischen Form: Unter Voraussetzung eines Absoluten (oder Gottes), ist notwendig Wissen, das auf notwendige Weise bestimmt ist. Es ergibt sich unmittelbar das Problem, wie dieses Absolute (oder Gott) gewusst werden kann. Fichtes Antwort: Das Absolute ist auch Wissen, aber nicht als Wissen, noch nicht charakterisiert, Wissen ohne Als. Erst im Übergang durch das Denken wird der Zusammenhang von Absolutem und Wissen transparent. Das Absolute oder Gott ist die oberste transzendentale Bedingung des Wissens 31 Wissenschaftslehre 1811, GA II, 12, S. 144. 32 Vgl. Ibid., S. 145.
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4. Kapitel: Der Weg der Wissenschaftslehre
– und zunächst nichts anderes. Die transzendentale Problematizität zeigt sich also, betrachtet man die Form, in der Fichte sie verwendet, als eine Methode der transzendentalphilosophischen Argumentation. Sie geht nicht von der Faktizität eines Gottes oder eines Seins aus, sondern konstruiert die Möglichkeitsbedingungen wirklichen Wissens, zu denen – als ihre höchste Bedingung – ein Begriff der Totalität der Realität zu finden ist. Wissen ist nach Fichte jedoch kein kaltes Festellen des Dass, sondern aktives Hervorbringen und Vollziehen, letztlich sittliches Handeln im Horizont fortschreitender Vernünftigkeit. Die transzendentale Problematizität zeigt sich im problematischen Soll, das durch einen Akt absoluten Sollens in ein kategorisches Soll zu verwandeln ist, soll Wissen wirklich, das heißt wirklich Wissen sein. Endliche Vernunft Die Wissenschaftslehre bleibt – so Fichte – nichts anderes als das, was sie auch schon 1794/95 war: eine Untersuchung über die transzendentale Apperzeption,³³ d. h. eine Lehre vom Wissen und seinen Prinzipien. Die Spätphilosophie zeichnet sich insbesondere als Transzendentalphilosophie aus durch: – die Apriorizität der Grundbegriffe; – den Primat der transzendentalen Apperzeption und der transzendentalen Einheit; – die Immanenz des Wissens; – die transzendentale Freiheit; – den Rekurs auf die Möglichkeitsbedingungen des Wissens; – und schließlich durch die beiden transzendentalen Argumentationsweisen: transzendentale Reflexion und transzendentale Problematizität. Die transzendentale Reflexion fungiert dabei – achtet man auf den strukturellen Aufbau der Wissenschaftslehre – als ein realistisches Argument: die Reflexion auf das subjektive Moment führt zu einer Depotenzierung. Das Denkende vernichtet sich selbst vor der Absolutheit seines absoluten Gehalts. Dadurch gewinnt die Wissenschaftslehre allererst ihren eigentlichen Ausgangspunkt; transzendentale Reflexion als spezifische Form der Abstraktion bildet – wie schon 1794/95 so auch in der Spätphilosophie – die einzige Propädeutik und Erhebung zu Wissenschaftslehre. Die transzendentale Problematizität ist strenggenommen der eigentümliche Modus, in dem die Wissenschaftslehre prozediert. Sie dient nicht nur dazu, die Unabtrennbarkeit des transzendentalen vom wirklichen Wissen argumentativ aufzuweisen, sondern zugleich dazu, die unauflösbare Synthesis des Praktischen und des Theoretischen zu demonstrieren. Das problematische Soll ist die Zauberformel, durch die sich im endlichen Wissen das Absolute aufzeigen lässt, nicht als sein Anderes, sondern als sein Eigenes, nicht in geheimnisvoller Verborgenheit, sondern in vollständiger Transparenz, nicht als substantes Sein, sondern als lebendiger Gedanke.
33 Vgl. Wissenschaftslehre 1811, GA II, 12, S. 208.
4.2. Fichte und das Absolute
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Mag es also sein, wie es wolle: – ob Schelling nun mit natürlicher Blödsinnigkeit oder schlechtem Kopf geschlagen war oder nicht, er hat sich jedenfalls für ein anderes Philosophieren entschieden, das sich von den Fesseln der transzendentalen Argumentation losreißen wollte und musste. Ihm reichte die bloße Evidenz eines in sich gewissen Absoluten und des aus ihm begründbaren eben so evidenten Wissens nicht hin. Er wollte, wie auch später Hegel, ein System, das die Fülle der kulturellen Phänomene in ihrem Wesen erfasst und darstellt. Schelling entschied sich daher – zumindest in seiner frühen Philosophie, die in unmittelbarer Auseinandersetzung mit Fichtes Projekt entstand – für eine Überwindung einer Transzendentalphilosophie des Endlichen und für Endliche. Für die Entwicklung der Transzendentalphilosophie Fichtes ist es nun entscheiden herauszustellen, in welcher Weise er vom Absoluten spricht. Welche Rolle kann ein Absolutes in einer Philosophie des Endlichen spielen? Und warum erachtet es Fichte für notwendig, einen solchen Begriff, der mehr Verwirrung stiftet, als Nutzen bringt, beizubehalten? Im folgenden Kapitel möchte ich die These untermauern, dass es ein Missverständnis ist, Fichtes Wissenschaftslehre als eine Philosophie des Absoluten zu interpretieren. Nach meiner Auffassung ist es entscheidend für die Durchdringung der klassischen deutschen Philosophie, ob man sie unter den Vorzeichen eines vorrangigen und hierarchisch vorgeordneten Einheitsbegriffs versteht oder – unter dem modernen Gedanken einer uneinholbaren, indes produktiven wie systembildenden Differenz.
4.2
Fichte und das Absolute
Der Mensch ist von Natur aus neugierig. Oder, wie Aristoteles sich vornehmer ausdrückte: Er strebt von Natur aus nach Wissen. Deshalb ist nichts für den Menschen weniger erträglich, als wenn er weiß, dass er etwas nicht weiß. Am schlimmsten ist es allerdings, wenn man ihm mitteilt, dass er etwas prinzipiell nicht wissen kann. Das ist wie ein Stachel im Fleisch. Er lässt keine Ruhe einkehren. Sagt man etwa, dieser oder jener Sachverhalt lässt sich nicht aufklären, ja, es ist sogar unmöglich etwas Verlässliches darüber herauszubringen, so wird das einen neugierigen Menschen dazu bringen, doch zu versuchen, wenigstens ein bisschen darüber in Erfahrung zu bekommen. Ein bisschen Nachforschung schadet schließlich nicht! Ich glaube, dass diese – zugegebenermaßen vulgärpsychologische Bemerkung – vielleicht doch etwas erklärt, was der Wissenschaftslehre Fichtes zugestoßen ist, nämlich als eine Philosophie des Absoluten stilisiert worden zu sein. Dabei gibt es keinen Zweifel: Die Wissenschaftslehre ist auch eine Philosophie des Absoluten. Aber die Hinsicht, unter der sie auch als Philosophie des Absoluten betrachtet werden kann, ist philosophisch völlig uninteressant. So ist das Absolute, wie Fichte sagt, zwar unbegreiflich. Aber nirgendwo sagt Fichte, dass es wunderbar wäre, wenn wir das Absolute nur begreifen könnten. Im Gegenteil! Das wirkliche Ergreifen des Absoluten ist das Ende des Begreifens, das Ende des Begriffs des Absoluten, das Ende des Absoluten. Das Absolute steht, mit einem Wort gesagt, bei Fichte stets in einer konstitutiven Differenz.
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4. Kapitel: Der Weg der Wissenschaftslehre
Verwandtschaftsverhältnisse: Ding-an-sich und Absolutes Ein prominentes Beispiel für eine von undurchschauten methodischen Voraussetzungen diktierte Interpretation philosophischer Gedanken findet sich früh schon als Reaktion auf Kants Theorie vom Ding-an-sich, das – nebenbei bemerkt – eine große systematische Ähnlichkeit mit Fichtes Begriff des Absoluten besitzt. Das Ding-an-sich, so Kant, sei unerkennbar. Das ist eine Formulierung, die einen neugierigen Menschen besonders neugierig machen könnte. Tatsächlich kreisen die Gedanken der frühen Leser der Kritik der reinen Vernunft häufig um das Ding-ansich. Dessen Unerkennbarkeit hatte zwei widersinnige Folgen, welche die ersten Interpreten schnell feststellten: Die erste ist vielleicht harmlos. Begreift man das Ding-an-sich als ein Ding, verfolgt man also eine realistische Lektüre der Kritik der reinen Vernunft, so muss man sich fragen, warum gerade in einer Erkenntnistheorie das Ding-an-sich unerkennbar sein soll, geht es doch gerade um Erkenntnis der Dinge. Hier folgerte man, die Philosophie Kants sei ein schlechter Idealismus, der uns weismachen will, die Dinge seien ganz anders, nur nicht so, wie wir sie erkennen, ganz anders, nämlich unerkennbar. Hier stellt sich schnell der Verdacht ein, für diese – so verstandene – Theorie Kants könne weder Kant noch sonst jemand einen Beweis anführen. Eine solche Theorie disqualifiziere sich selbst; es handle sich um ein typisches Selbstimmunisierungs-Argument. Das Ding-an-sich sei unerkennbar, und gerade das sei unerkennbar, eine Theorie folglich, die in einem völligen Skeptizismus enden müsse. Die zweite Folgerung indes, könnte vielleicht einen guten Grund abgeben, von der Theorie Kants Abstand zu nehmen. Sie besteht nämlich darin, dass gerade der Ding-Charakter, von dem Kants Ding-an-sich spricht, etwas ist, was wir vom Ding-an-sich wissen und erkennen. Es soll ja die Ursache unserer Erkenntnisse sein; es soll ja der Grund unserer Affektionen sein. Dieser Grund kann doch nur nachträglich für unerkennbar erklärt werden, nachdem wir bereits etwas erkannt haben, nämlich offenbar die Dinge, seien sie es nun, wie sie an sich sind oder wie sie für uns sind. Diese und ähnlich Verwicklungen haben dazu geführt, Kants Lehre vom Dingan-sich abzulehnen. Tatsächlich führt sie noch bis zum heutigen Tage zu einer ablehnenden Haltung. Etwa bei Peter Strawson, der es im übrigen außerordentlich spannend findet, sich mit Kant auseinanderzusetzen, so dass er ein ganzes Buch über die Kritik der reinen Vernunft schreibt, ja, sie sogar gelegentlich verteidigt. Bis eben auf diese Lehre vom Ding-an-sich und seine Unerkennbarkeit, die für Strawson viel zu weit in Richtung eines Idealismus geht, d. h. in Richtung eines Anti-Realismus. Diese realistisch-antirealistische Lektüre Kants stellt den Interpreten vor eine Alternative: Entweder schließt man sich der Kritik an und behauptet, Kants Theorie sei in diesem Punkt fehlerhaft und zu verwerfen. Das geht meist mit dem – leider zum Scheitern verurteilten – Versuch einher, den erklecklichen Rest noch retten zu wollen. Oder man möchte Kant verteidigen. Das läuft auf den Versuch heraus, Kant eine realistische Position auch in Bezug auf das Ding-an-sich zuzuschreiben. Diese Lektüre Kants enthalten aber zwei zugrundeliegende, aber nicht explizit gemachte Voraussetzungen, zunächst die, es handle ich bei Kant Kritik der
4.2. Fichte und das Absolute
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reinen Vernunft um Erkenntnistheorie, und, zweitens, es gehe ihr um die Dinge. Die beiden Voraussetzungen lassen sich (1) als epistemologische Erklärungsmaxime und (2) als ontologische Erklärungsmaxime klassifizieren. Es ist also dementsprechend zunächst zu klären, ob der im strengen Sinne transzendentalphilosophische Ansatz Kants überhaupt als epistemologische oder ontologische Theorie angemessen auszudrücken ist. Dieser Frage bin ich anderer Stelle intensiv nachgegangen. Hier scheint mir zunächst der Hinweis zu genügen, dass sich Kants Transzendentalphilosophie nur angemessen erschließen lässt, wenn man einige methodologische Vorbedingungen klärt. Dazu gehört zunächst die Einsicht, dass Kant in der Kritik der reinen Vernunft weder eine Epistemologie noch eine Ontologie entwickelt. Zu dem neuen, unglaublich erfolgreichen Theorietyp gehört es, dass er aus der vorkritischen Disziplineneinteilung ausschert. Denn erst auf einem neuen Boden lassen sich die brennenden Probleme der Metaphysik, Epistemologie und Ontologie, lösen. Es handelt sich dabei nicht um einen der Sache nach neuen Ansatz, der etwa die Erkenntnistheorie und die Ontologie völlig revolutionieren würde. Vielmehr geht es um eine neue Methodologie, die für die Begründung von Erkenntnistheorie und Ontologie angesetzt werden muss, wenn transzendent-metaphysische Begründungen ausscheiden. Dieser neue Boden ist kritisch und transzendentalphilosophisch. Die Termini, die in einer solchen Theorie vorkommen, haben dementsprechend einen methodologischen Status und sind nicht in einem dinglich-vorstellungsmäßigem Sinne zu verstehen. Das betrifft vor allem das Ding-an-sich. Es handelt sich bei ihm um einen Grenzbegriff. Freilich redet Kant bisweilen von dem Ding-an-sich, als ob es sich dabei um einen vorliegenden Gegenstand handelt. Er benutzt beispielsweise den Plural und spricht von den Dingen an sich. Nicht zuletzt diese Redeweise hat ihm die Kritik eingetragen, sein Konzept sei anti-intuitiv und antirealistisch. Aber in seiner Konzeption ist das Ding-an-sich ein Grenzbegriff, kein Grenzding oder gar ein Ding-jenseits-der-Grenze. Das Absolute – ein langweiliger Begriff Zur Recht lässt sich fragen, was das mit Fichtes Konzept des Absoluten zu tun hat. Und ich möchte ihnen die Antwort nicht lange schuldig bleiben. Zumindest in einem Punkt habe ich einen konzeptionellen Zusammenhang bereits angedeutet: Das Absolute und das Ding-an-sich sind beides Grenzbegriffe. Sie markieren keine wirkliche Grenze, sie sind nicht so etwas wie ein Grenzstein, an dem ein Reich endet, dafür aber ein anderes beginnt. In der dinglichen Wirklichkeit gibt es keine Grenzen, mit denen nicht zugleich etwas Neues oder Anderes beginnen würde. Aber für das Denken gibt es solche Grenzen. Sie bezeichnen absolute Punkte, seien es Anfangs- und End- oder Zielpunkte. Das Ding-an-sich Kants und das Absolute Fichtes sind solche Grenzbegriffe. Es gibt eine weitere Gemeinsamkeit: Beide Konzepte bezeichnen die Grenze dessen, was wir wissen können. In diesem Können des Wissens- und Nicht-wissenKönnens ist bereits etwas enthalten, was sich jeder bloßen Faktizität widersetzt. Dieses Können findet man nirgendwo vor. Es drückt nämlich eine bloß gedankliche Position zur Wirklichkeit aus. Die Wirklichkeit ist in diesem Fall aber das
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4. Kapitel: Der Weg der Wissenschaftslehre
Wissen der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst. Es handelt sich also um ein Verhältnis der Subjektivität zu sich selbst, eine immanente Untersuchung des Wissens durch das Wissen, ohne Rückgriff auf die ›Wirklichkeit‹ der Wirklichkeit. Man kann wohl zu Recht daran zweifeln, ob damit viel für die Wirklichkeit gewonnen ist. Spätere Autoren haben das getan. An erster Stelle ist hier wohl an Hegel zu denken, der die sich auf sich beziehende endliche Subjektivität – zusammen mit Schelling übrigens – als Reflexionsphilosophie abgetan hat. Dabei richtete sich sein Zweifel nicht auf die mögliche Sinnlosigkeit, weil Leere, eines solchen Verfahrens, sondern er war der Auffassung, dass damit für die Subjektivität nicht genug gewonnen wäre. Noch spätere Autoren hegten den Verdacht, nicht nur Hegel sei zu weit gegangen, sondern bereits Kant und Fichte hätten die Subjektivität übersteigert. Der Vorwurf beruht auf der Überlegung, die Grenzziehung des Wissen-Könnens beruhe ihrerseits auf metaphysischen Prämissen einer substantiell gedachten Vernunft. Einer Vernunft, derer man faktisch habhaft werden könne. Nichts indes widerspräche dem Konzept Kants und Fichtes mehr. Gerade der Rekurs auf Möglichkeitsbedingungen (z. B. der Erkenntnis) erlaubt es beiden Denkern gleichermaßen allgemeingültige und nicht empirische Sachverhalte und Imperative zu formulieren. Dabei brauchen beide keinen Rückgriff auf einen substantiellen Begriff von Subjektivität, etwa den Willen Gottes, seine Güte oder Macht, einen absoluten Intellekt, der über allen einzelnen Vernunftwesen ist und an dem als einzelnen Vernunftwesen partizipieren. Allgemeinheit und Nicht-Empirizität folgen hier aus der Subjektivität allein, aus der Klärung der ihr eigentümlichen Prozesse. Dies geschieht prinzipiell ohne Rekurs auf eine wie auch immer konzipierte Substantialität, man denke sie immerhin als immateriellen, unsichtbaren und unkörperlichen Geist oder Gott, man denke sie als ein materielles, sichtbares und körperliches Gehirn. Den Preis den Kant und Fichte auf der methodologischen Ebene dafür zahlen, ist die Begrenzung der Subjektivität durch etwas, über das – und dies zu erkennen obliegt allein der Subjektivität selbst – sie keine Macht hat, durch etwas, das die Subjektivität nicht in sich selbst setzen kann. Mehr – und das ist meine erste These – haben uns weder das Ding-an-sich Kants noch das Absolute Fichtes zu sagen: Die endliche Subjektivität hat eine absolute Grenze, derentwegen die Subjektivität gerade endlich ist. Aber sie ist zugleich Vernünftigkeit. Damit begreift die Vernunft ihre Grenze als das, was sie ist, als unbegreiflich und absolut. Wer mehr begreifen will vom Ding-an-sich oder vom Absoluten, der greift über diese Grenzen hinaus und verfehlt damit das Absolute. Und er verwandelt den Charakter der methodologischen Überlegungen Kants und Fichtes in ein Projekt, das beiden Denkern zwar nicht fremd, aber gleichermaßen unzeitgemäß und unzureichend zu sein schien: die Metaphysik. Das Ding-an-sich ist genau so langweilig wie das Absolute. Wer sich dafür interessiert, verfehlt nach meiner Ansicht völlig den methodologischen Status der Kritik der reinen Vernunft wie der Wissenschaftslehre. Aus dem Absoluten ist nichts herauszuholen, es gibt dort nichts zu erschöpfen, nichts quillt dort über wie beim überseienden Absoluten der Neuplatoniker. Mit dem Absoluten ist so wenig Staat zu machen wie Religion, ja noch nicht einmal Erkenntnistheorie ist durch es möglich. Ich plädiere daher dafür, das Absolute der Wissenschaftslehre Fichtes zunächst – und das heißt: in der Wissenschaftslehre – auf der methodologischen Ebene
4.2. Fichte und das Absolute
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anzusiedeln, keineswegs aber auf der ontologischen und auch nicht auf der erkenntnistheoretischen und schon gar nicht auf einer religiösen. Alles dies kann das Absolute bei Fichte auch sein, aber nicht in seinem primären, methodologischen Sinn. Wenn das Absolute in der Wissenschaftslehre begegnet, dann ist es ein technischer Begriff, der immer von Fichte auch in dieser Begrifflichkeit begriffen wird. Das Absolute ist insofern immer relativ. Allerdings erlaubt der transzendentalphilosophische Theorieaufbau auch das Ausgreifen auf weitere philosophische Bereiche. Im ontologischen Sinn heißt das Absolute bei Fichte dann ›Welt‹ oder ›Natur‹, in religiösem Sinne ›Gott‹, in sittlichem Sinne ›Wir‹, im politischen Sinne ›Volk‹. In allen diesen Bereichen, die von den Fichteforschern bisweilen gerne ›Anwendungsbereiche‹ oder ›Phänomenbereiche‹ genannt werden, geht es um das Absolute, insofern es wirklich und damit nicht mehr absolut ist. Das ›Absolute‹ ist dagegen ein technischer Ausdruck, der in der Religion und im Leben, zumindest kann man das an Fichtes Texten nachvollziehen, wenn überhaupt, nur uneigentlich gebraucht wird. Das Absolute ist nicht mehr und nicht weniger als die Möglichkeitsbedingung des Wissens, damit aber gerade nicht wirklich im Sinne der Wirklichkeit. Wirklich ist das Absolute etwa im Gottesverhältnis des Religiösen, der, einem Mystiker gleich, sich in das Absolute versenkt, um eins zu werden mit dem göttlichen Willen, ein Glauben, der ein Aufgehen in Gott bedeutet. Dieses Versenken ist der Wissenschaftslehre gänzlich unangemessen. Denn sie setzt Unterscheidungsfähigkeiten voraus, ja, sie beginnt – systematisch gesehen – mit dem Entschluss zur Unterscheidung, nämlich des Absoluten vom Nicht-Absoluten. Die Wissenschaftslehre verwandelt den Glauben in ein Schauen, in Theorie, in Spekulation.³⁴ Die Wissenschaftslehre ist eine Theorie der Differenz. Zu dieser Perspektive einer Einholung des Absoluten haben zahlreiche FichteBücher beigetragen. Tatsächlich beruht dieser Eindruck vor allem auf einer Forschungsentwicklung, die einerseits stark an strukturellen Problem orientiert war, etwa die Struktur der Wissenschaftslehre (Lauth, Widmann, Gliwitzky, Girndt) zu entdecken, oder aber die Wissenschaftslehre 1804/2 in den Mittelpunkt rückte, was sicherlich auf der Zugänglichkeit und dem fortgeschrittenen literarischen Zustand dieser Wissenschaftslehre beruhte (Janke, Hühn, der frühe Traub). Dabei kamen Vorüberlegungen oder Vorurteile ins Spiel, die nicht aus der Philosophie Fichtes geschöpft waren, nämlich einerseits, dass die Wissenschaftslehre überhaupt eine Struktur im Sinne einer Textstruktur besitzt. Fichtes eigenen Worten zufolge handelt es sich bei der Wissenschaftslehre nicht um einen durch Fünffachheiten von Fünffachheiten komponierten Text, sondern um einen stets neu zu entwickelnden einen Gedanken, dessen Fünffachheit kein Strukturgesetz, sondern ein immanentes dialektisches Fortschreiten bezeichnet, also die Natur des Gedankens. Stärker auf eine inhaltliche Interpretation der Wissenschaftslehre wirkte allerdings die Vorstellung, in der Wissenschaftslehre gehe es um ein Aufdecken des Absoluten. Bezeichnend und wegweisend war sicherlich die Ausgabe der Wissenschaftslehre 1804/2 von Wolfgang Janke, mit dem Titel: Wissenschaftslehre 1804. Wahrheits- und Vernunftlehre. I.-XV. Vortrag, die tatsächlich nur den ersten Teil
34 Vgl. Fichte, Anweisung, GA I, 7, S. 112.
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4. Kapitel: Der Weg der Wissenschaftslehre
dieser Wissenschaftslehre brachte.³⁵ Dahinter liegt die Überzeugung, Fichtes Wissenschaftslehre könne gar nichts anderes sein als eine Lehre vom Absoluten. Dabei wird das Absolute in ganz traditionellem Sinne verstanden, nämlich als Basis und Grundlage der Philosophie. Mit der Aufdeckung des Absoluten ist dann die prima philosophia beendet und es beginnt die Anwendung. Wolfgang Janke steht mit dieser Interpretation keinesfalls allein. Ich glaube, dass diese Auffassung in verschiedenen Varianten bis heute vorgetragen wird. Diese Rekonstruktion besteht darin, das Absolute als Zielpunkt einer Freilegungsbewegung zu interpretieren. Demnach ging es Fichte um die Authentizität des Absoluten verbunden mit einer heiligen Scheu – vor diesem Absoluten, die zugleich um die Unmöglichkeit weiß, das Absolute als Wissensbestand zu besitzen und seiner habhaft zu werden. Die Wissenschaftslehre wird so zu einer Variante der negativen Theologie. Das Absolute offenbart sich nicht, und der Mensch muss geistig ringen mit dem Absoluten, um das Absolute durch einen denkerischen Prozess, gleichsam kreisend, in seiner Unbegreiflichkeit zu begreifen. Dieser Interpretation zufolge steht das Absolute im Zentrum der Philosophie Fichtes. Die vordringlichste Aufgabe der Wissenschaftslehre sei folglich das Durchbrechen zum Absoluten. Die prima philosophia Fichtes laufe deshalb darauf hinaus, eine absolute Einheit mit dem Absoluten vorzubereiten, vorzugsweise im Leben. Ganz analog zum Seinsdenken Heideggers wird die Moderne als Scheitern begriffen, als ein großer Irrweg, diese Authentizität des Absoluten einzuholen. Je nach Temperament wird dafür die moderne Naturwissenschaft, die Technik, die mangelnde Konzentrationsfähigkeit, Bildungsversagen, die herrschende Metaphysik, die präzisierte oder technizistische Vernunft verantwortlich gemacht. Gleichzeitig rückt diese Interpretation den Begriff emphatischer Einheit in den Mittelpunkt und verpflichtet das Absolute auf diese Einheit. Nicht, dass der Wortlaut der Schriften Fichtes dieser Lektüre kein Recht gäbe. Es ist Fichte selbst, der immer wieder das Absolute mit einem starken, mit einem prävalierenden Einheitsbegriff amalgamiert. Diesem Fichte geht es einzig um die Wissenschaftslehre, seine Gedanken kreisen um das Absolute, welches er nur als Einheit zu denken vermag und dessen Undenkbarkeit sich an diesem Gedanken selbst erweist. Fichte als Denker unvordenklicher Authentizität, oder wie man sich deutscher auszudrücken gepflegt hat, als Denker der Eigentlichkeit. Diese Interpretation macht Fichte zu einem vorkritischen Philosophen, der seine Wurzeln in der Vernunftkritik Kants vergessen hat. Was Fichte nun behauptet und gelehrt haben soll, könnte man bei dem einm oder anderen mittelalterlichen Autoren besser nachlesen, dazu noch logisch-argumentativ stringenter und formal ausgereift. Ich möchte unterdessen noch einmal zu meinen anfänglichen Überlegungen zurückkehren, denn es scheint mir, dass gerade dieses Missverständnis gerade dadurch möglich wird, dass man Fichte der Philosophie Kants und seiner eigenen Jenaer Position entfremdet. Die gemeinsame Basis der Konzeptionen Kants
35 J. G. Fichte: Wissenschaftslehre 1804. Wahrheits- und Vernunftlehre. I.-XV. Vortrag. Einleitung und Kommentar von Wolfgang Janke. (Quellen der Philosophie. Texte und Probleme. 2), Frankfurt a. M. 1966.
4.2. Fichte und das Absolute
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und Fichtes ist die neuerrungene und theoretisch gefestigte transzendentalphilosophische Ausgangslage. Sie ermöglicht erstmals eine metaphysikfreie Begründung von Erkenntnis, Ontologie und Moral. Und sie erlaubt es, erstmals ein neues Verhältnis von gedanklicher Theorie und Lebenspraxis zu denken. Vorher wurde – und betrachtet man die heutigen Verhältnisse, wird man getrost zugestehen müssen, dass sich daran so viel nicht geändert hat – vorher wurde jedenfalls ein Realprinzip, sei dies Gott oder Empirie, Messen oder Wiegen, bestimmte Sachverhalte oder ganz unbestimmt die Welt zugrunde gelegt. Das enthält massive metaphysische Vorannahmen. Immer aber wird das Verhältnis einer realen Begründungsebene zu einem dependenten Wirklichkeitsbereich in den Vordergrund gerückt. Ein reales Absolutes verursacht Welt und Denken; – in der besten aller Welten sorgt es auch dafür, dass Welt und Denken fleißig korrespondieren.³⁶ Aber das Absolute bleibt stets ein Realprinzip mit allem metaphysischen Ballast, sei dieses Absolute auch Messen und Wiegen, bestehe es in Wahrnehmen, Sinnesdaten oder Intuition. Neu ist bei Kant und Fichte erstaunlicherweise dies: Die Welt ist und bleibt wie sie ist. Es gibt kein vorgängiges Messen und Wiegen. Keinen primordinalen Gott. Keine vorrangige, strenggenommen unbegreifliche Erfahrung. Es gibt keinen Spalt, keine Kluft zwischen mir und der Wirklichkeit. Alles ist so, wie es ist, es gibt bei beiden – Kant und Fichte – keine, woher auch immer abgeleiteten konzeptionellen Implikationen, die Sinn in der Wirklichkeit stiften könnten. Kant und Fichte gehen von einer radikalen Endlichkeit der Welt und des Menschen aus, die weiter reicht als Sartres Geworfenheit oder Wittgensteins Welt, die alles ist, was der Fall ist. Die Metaphysik hat sich aus dieser Welt zurückgezogen, bevor Gott tot war. Der Mensch ist allein. Aber er ist auch vernünftig. Diese Vernunft steht der Welt nicht gegenüber, weil diese Gegenüberstellung keinen Sinn macht. Die Vernunft ist bei Fichte nicht mehr das Andere der Welt, sondern die Welt selbst, oder die Welt ist die Vernunft in ihrer notwendigen Beschränktheit. Aus dieser so konzipierten Vernunft fließen völlig neue Impulse. Die endliche Vernunft vergewissert sich durch sich selbst ihrer über die Partikularität hinausgehenden Verbindlichkeit. Die Allgemeinheit der Vernunft ist nicht, wie man heute gelegentlich hört, eine Zumutung, eine bittere Kröte, die man erst zu schlucken hat, bevor man die Gefilde der Transzendentalphilosophie betreten darf. Sie ist vielmehr eines ihrer ersten und wichtigsten Ergebnisse: Sie bindet das Partikuläre und Einzelne durch die partikuläre und einzelne Vernunftwesen selbst zu einem Allgemeinen, das für die Partikulären und Einzelnen verbindlich ist, eine Verbindlichkeit, die insofern nicht vorgeschrieben, sondern selbst hervorgebracht ist. Der Ort der Philosophie Fichtes ist daher keineswegs das Absolute oder die absolute Identität. Es ist nicht die Authentizität, die im Mittelpunkt seines Interesses steht. Es ist vielmehr die Differenz und mit ihr die endliche Vernunft. Statt der Authentizität des Absoluten in seiner Unmittelbarkeit bleibt die Philosophie Fichtes eine Theorie der Vermittlung, wenn man es paradox ausdrücken will: der 36 Strenggenommen ein Gedanke, der so weit nicht von Fichtes Transzendentalphilosophie entfernt ist, wie Fichte überhaupt ein – im systematischen Sinne – guter Leibnizianer ist.
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4. Kapitel: Der Weg der Wissenschaftslehre
absoluten Vermittlung. Nichts bleibt außerhalb dieses Vermittlungsprozesses. Das ist faktisch zwar nicht einzuholen, lässt sich aber methodologisch einsehen. Damit diese Vermittlung aber kein bloßes Abspiegeln einer sich immer wieder in sich selbst spiegelnden Subjektivität ist, benötigt diese Theorie der Vermittlung einen methodologischen Grenzbegriff. Für den späteren und späten Fichte ist dieser Grenzbegriff das Absolute.³⁷ Meine Interpretation wird eindrucksvoll bestätigt, durch die Dominanz der Reflexion vor dem Absoluten, die sich vor allem in den späten Texten ab 1810 mit aller Klarheit festmachen lässt. Sie ist zugleich eine Antwort auf die Identitätsphilosophie Schellings, in der sich – umgekehrt – die Dominanz des Absoluten vor der Reflexion ausdrückt und von Fichte scharf zurückgewiesen wird. Damit weist der Begriff des Absoluten eine Verwandtschaft auf zu den Begriffen Ich und Anstoß im Jenaer System. Diese systematische, nicht historische These will ich kurz erläutern: Im Jenaer System sind das tathandelnde Ich und Anstoß noch Überbleibsel einer dualistischen Anlage. Vor allem der unerklärliche Anstoß, dessen Realisierung wirkliche Vorstellung erklärt, ist in einer durchgeführten Theorie des Ich als Immanenztheorie störend, wenn auch nicht völlig abwegig. Fichte denkt dort die Begrenzung der Subjektivität noch nach dem Modell des Affiziertwerdens. Das ist – wegen seiner Passivität – auch ein Grenzbegriff, der immanent konstruiert ist. Er verführt weniger als das Ding an sich dazu, eine Außenperspektive anzunehmen und eine Ontologisierung des Dings-an-sich vorzunehmen. Aber es genügt nicht dem Anforderungsprofil Fichtes an eine konsistente Begründung der Vorstellung. Dies gelingt ihm erst durch die Umwandlung in der neu konzipierten Wissenschaftslehre ab 1800, die deshalb kein Neuanfang der Wissenschaftslehre ist, sondern eine Weiterentwicklung im Sinne einer Ausweitung und Radikalisierung zugleich. Fichtes Pathos Es bleibt noch die Frage zu beantworten, warum Fichte mit solcher Emphase von dem Absoluten spricht. Die Antwort erschließt sich, wenn man über das Verhältnis von Theorie und Praxis nachdenkt. Schon bei Kant führte die transzendentalphilosophische Durchdringung der Erfahrung zu einem neuartigen Verhältnis der Möglichkeitsbedingungen zu den Wirklichkeitsbedingungen. Es handelt sich weder um eine Abstraktion von der Wirklichkeit, z. B. durch Fortlassen von Merkmalen oder Quantifizierung und Operationalisierung von Termen, die auf Erfahrung basieren. Noch handelt es sich um eine Theorie starker Setzungen, nach der aus einer starken metaphysischen Grundsetzung oder Axiomatisierung auf die Struk37 Ob diese Terminologie tatsächlich aus der Kontroverse mit Schelling stammt, lässt sich nicht wirklich absehen. Im Unterschied zu Schelling und in der Diskussion mit ihm kommt es immer wieder zu der bemerkenswerten Unterscheidung von seiten Fichtes, dass er gerne das Absolute unter einen kritischen Vorbehalt bringen möchte. Vgl. Christoph Asmuth: »Letzte Kreuzungen: Fichte liest Schelling – Schelling liest Fichte«, in: Mildred Galland-Szymkowiak und Maxime Chédin, (Hrsg.) Fichte-Schelling: lectures croisées.
4.2. Fichte und das Absolute
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turen der Empirie geschlossen werden. Möglichkeitsbedingungen und Wirklichkeitsbedingungen verhalten sich wie Möglichkeit und Wirklichkeit. Ihr Unterschied beruht, in dieser transzendentalphilosophischen Hinsicht, auf einem gedanklichen Unterschied, der unter den Bedingungen der Wirklichkeit aufgehoben ist. Für Fichtes Grundlegungsphilosophie bedeutet dies, dass die Theorie des Absoluten in der Wirklichkeit liegt. Es gibt keinen Weg zum Absoluten, den man beschreiten könnte, einen Weg, an dessen Ende das vollgültige Be- und Ergreifen des Absoluten stünde, sei es auch in seiner Unbegreiflichkeit. Das Absolute ist überhaupt kein induktiv zu erschließender Sachverhalt oder ein deduktiv zu verwendender Ausgangspunkt. Durchbrechen zum Absoluten heißt deshalb nicht, das Absolute zu erschließen oder durch sich ihm durch einen Prozess negativer Theologie anzunähern, um einen Ausgangspunkt für eine Philosophie des Absoluten zu gewinnen. Durchbrechen zum Absoluten heißt nicht, sich in das Absolute zu versenken, um in einer Art unio mystica die Einheit mit dem Absoluten zu realisieren. Das Durchbrechen zum Absoluten ist vielmehr ein revolutionärer Akt. Er bedeutet, in der Wissenschaft, in der Religion, in der Sittlichkeit, in der Kunst, d. h. in der differenten Wirklichkeit, das Absolute zu sein. Das Pathos Fichtes wird angetrieben durch die Einsicht, dass die Kluft zwischen der Theorie und der Praxis in der Vollziehung des Absoluten verschwindet. In diesem Licht ist die späte Wissenschaftslehre Fichtes zu werten. Sie weiß, dass sie erst dann ein Ende, d. h. an ein Ziel gelangt, wenn sie ins Leben übergeht. Das Leben ist, wie Ich, Vernunft, Gott und Licht, einer der zentralen Begriffe Fichtes für das Absolute. Der Übergang in das Leben hat aber die volle Akzeptanz der Differenz und damit der Endlichkeit zur Voraussetzung. Die Aufgabe der Wissenschaftslehren ist es daher zunächst, Endlichkeit und Differenz für eine Theorie der Immanenz zu begründen, eine Aufgabe, die darauf hinausläuft, die Selbstbegründung endlicher Vernünftigkeit in der Vernunft selbst zu begründen. Die späten Wissenschaftslehren entwickeln den Begriff des Absoluten vor dem Hintergrund dieser Selbstbeschränkung der Vernunft, im Wechselspiel von Setzung und Begrenzung, von Konstruktion und Konstruiertheit. Niemals aber erreicht sie eine Position absoluter Unvermitteltheit. Sie kann diese Position benennen – durch den Begriff des Absoluten, der sich aber stets als Begriff des Absoluten erweist. So ist das Absolute für die Perspektive der Wissenschaftslehre nichts anderes als der Selbsterweis endlicher, d. h. in die Differenz verwobener Subjektivität. Allerdings liegt der Motor der Wissenschaftslehre im Spannungsverhältnis zum Absoluten. Wie in der frühen Wissenschaftslehre treibt auch die späte Wissenschaftslehre dadurch über sich hinaus. Sie enthält den Trieb zur Praxis. Folgt man den Überlegungen Fichtes, ist diese Praxis politisch. Sie enthält die Aufgabe der Umgestaltung der Welt, der Natur und der Menschenwelt. Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Aufgabe einer neuen Lektüre Fichtes. Die isolierte Wissenschaftslehre könnte den Eindruck erwecken, dass es sich bei Fichte um eine Philosophie des Absoluten handelte. Aber gerade die späteren und späten Vorlesungszyklen, 1804/05 in Berlin und Erlangen und nach 1812 in Berlin zeigen, dass Fichte parallel zur Wissenschaftslehre gerade mit materialen Inhalten beschäftigt war. Die Parallelität dieser Vorlesungen zeigt eindrucksvoll, wie für Fichte die Wissenschaftslehre mit der Praxis zusammenfällt, wie sehr Absolu-
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4. Kapitel: Der Weg der Wissenschaftslehre
te für ihn untrennbar mit dem tätigen Sollen in der Wirklichkeit zusammenfällt. Ein Beispiel für das Zugleich von Theorie und Praxis findet man im Diarium, den späten Tagebuchaufzeichnungen Fichtes. Sie zeigen den Philosophen als politisch engagierten Mitbürger, wenn nicht sogar als politischen Aktivisten, der zugleich und gleichzeitig seine Wissenschaftslehre weiterentwickelt. Beide Projekte, die im heutigen philosophischen Interesse gerne getrennt behandelt werden, bilden interagierende Sphären seines Nachdenkens und sind gerade nicht abgetrennte Projekte.
Kapitel 5
Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte »Und so ist bei diesem philosophischen Heros, wo es Ernst wird, nichts mehr zu finden, als der alte wohlbekannte Spaß eines materialistischen Dualismus. Nicht Wißenschaftslehre, nicht Kant, sondern Du, Heiliger Leibnitz, bitte für ihn!«¹ Dieses Stoßgebet aus dem Munde Fichtes, überliefert in einem Manuskript, das sich – unvollständig – unter dem Titel Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre im Nachlass findet, eröffnet ein Panorama. Es gewährt einen Rundumblick auf jenes prekäre Nachleben, das der Leibnizschen Philosophie nach dem Jahr 1800 beschieden war. Fichte erfleht hier – ironisch gebrochen, versteht sich – die Hilfe des ›Heiligen Leibnitz‹. Dazu benutzt er eine Formel, die der katholischen Allerheiligen-Litanei nachgebildet ist. Das ist kein Scherz auf Kosten der Gegenreformation, wie man mit den Augen des frühen 18. Jahrhunderts lesen könnte. Die Zeiten haben sich grundlegend gewandelt. Der Protestantismus hat sich, zumindest in Preußen, in der literarischen Öffentlichkeit längst durchgesetzt und regiert die Geister nahezu unangefochten. Eine Allerheiligen-Litanei im Text eines avancierten Philosophen, das ist am Beginn des 19. Jahrhunderts ein Anachronismus! Fichte verdichtet damit den Eindruck des Altertümlichen, des Veralteten, des längst Abgelegten. Jener ›philosophische Heros‹, von dem die Rede ist und für den mit Leibniz Hilfe erbeten wird, hat eine anachronistische Krankheit. Er leidet nämlich unter einem ›materialistischen Dualismus‹, einem unheilbaren Gebrechen, angesichts dessen man nur durch das – beinahe magische – Anflehen des zuständigen Heiligen Besserung erwarten darf. Es ist eine Perversion der Philosophie: Da, wo man zu Recht Ernst erwartet, wird nur ein Späßchen geboten. Es ist der ›wohlbekannte Spaß des materialistischen Dualismus‹, ein unheilbarer Schluckauf der Philosophie, eine Krankheit, bei der – wie Fichte schreibt – letztlich die »natürliche Haut des rohesten, stokgläubigsten, und pöbelhaftesten Empirismus« zum Vorschein kommt, ein Empirismus, »bei dem sich über das Ansichseyn der Materie auch nicht einmal Verdacht regt«² . Wem die Situation in der deutschen Philosophie um 1800 vertraut ist, der ahnt längst, von wem die Rede ist. Der ›philosophische Heros‹ ist kein geringerer als Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Gewöhnlich werden Fichte, Schelling und Hegel in einem Atemzug genannt. Man denkt dann dabei an ›drei Heroen‹ der klassischen deutschen Philosophie. Man stellt sie sich vor als eine mehr oder minder einheitliche Gruppe von Philosophen, als drei idealistische Freunde, als das 1 2
J. G. Fichte: Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre, GA II, 10, S. 61. Ibid.
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
Dreigestirn des deutschen Idealismus. Gelegentlich war und ist sogar von Vollendung die Rede, die sich bei dem ein oder anderen oder gar bei allen dreien ereignet haben soll. Kaum eine Intuition könnte irreführender sein. Zunächst sind es ja nicht nur diese drei. Dass andere Philosophen aus jener Zeit in Deutschland außer Acht bleiben, hat fatale Folgen für die philosophiehistorische Forschung und für unser Bild von dieser Epoche. Im Schlagschatten der ›drei Heroen‹ ziehen zahlreiche interessante Kometen ihre Bahn, die gewöhnlich nicht beachtet werden, deren Namen man kaum kennt und die als kleine Geister gelten – sehr zu unrecht, wie sich bei genauerer Betrachtung zeigt. Ebenso fatal wirkt sich die Vorstellung aus, dass jene drei ein mehr oder weniger einheitliches Anliegen vertreten hätten, das mit ›Idealismus‹ zutreffend zu charakterisieren sei.³ Der detaillierte Blick zeigt das Gegenteil! Einträchtig waren die drei Philosophen nur wenige Jahre, vielleicht in der Zeit von 1794 bis vielleicht 1798. Zwischen Fichte und Schelling entbrennt dann nach 1800 – wie bereits angedeutet – ein Grundlagenstreit⁴ , Die Philosophie Fichtes spricht sich nach dem Zerwürfnis mit Schelling vehement gegen die Naturphilosophie aus. Von Fichte aus gesehen bildet die Naturphilosophie nicht nur eine unerwünschte Konkurrenz, sondern setzt auch ein völlig falsches Signal. Die Subjektivierung der Natur, welche den zentralen Kern der Neuerung Schellings ausmacht, ist in Fichtes Augen eine unzulässige Unterwanderung des Transzendentalen Grundsatzes, dass nicht das Denken dem Sein nachfolgt, sondern das Denken – in methodischer Hinsicht – dem Sein vorausgesetzt ist. Nun wird das Subjekt von der Natur her gedacht. Spinoza, den Fichte umgekehrt zu haben glaubte, kehrt in dieser Grundkonstellation als wahre Grundlage der Philosophie zurück. Leibniz’ Idealismus wird dadurch umgekehrt. Ein höherer Naturalismus verlangt sein Recht. Schellings Sicht auf diese Grundkonstellation kommt aus einer ganz anderen Richtung. Schelling sieht eine andere Natur. Sie offenbart für ihn in ihrer Begrenzung das unendliche Ganze. In ihr mischen sich Dunkelheit und Licht und in ihrer höchsten Aufgipfelung erkennt sich die Vernunft in der Natur selbst. Mensch und Natur sind nicht mehr unterschieden. Die Natur ist selbst Subjekt.
5.1
Naturphilosophie im Streit. Natur als Objekt – Natur als Subjekt
Man kann nicht sagen, dass die Natur ein zentrales Thema oder integraler Teil der Philosophie Fichtes gewesen sei. Aber sie ist ihm immer wieder Gegenstand seines Nachdenkens geworden. Zweifel sind durchaus darüber angebracht, ob Fichte 3 4
Vgl.: Christoph Asmuth u. a. (Hrsg.), Schelling – Zwischen Fichte und Hegel. (Bochumer Studien zur Philosophie), Amsterdam 2000. Vgl. zum Verhältnis von Schelling und Fichte: Schelling-Fichte. Briefwechsel. Kommentiert und hrsg. v. Hartmut Traub, Neuried 2001; Christoph Asmuth: »Letzte Kreuzungen«, S. 175–187; Alfred Denker: »Freiheit ist das höchste Gut des Menschen. Schellings erste Auseinandersetzung mit der Jenaer Wissenschaftslehre Fichtes«, in: Christoph Asmuth u. a. (Hrsg.), Schelling., S. 35–68.
5.1. Naturphilosophie im Streit. Natur als Objekt – Natur als Subjekt
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tatsächlich ein System der Naturphilosophie angestrebt oder sogar in Gedanken gefaßt und durchgearbeitet habe. Zweifellos jedoch spielt die Natur in seinem Denken keine bloß untergeordnete Rolle.⁵ Das ist kein Wunder: Ein jüngerer Kollege, nämlich Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, für Fichte zunächst Schüler, dann kongenialer Mitarbeiter, schließlich erbitterter Gegner, provozierte ihn durch sein mit jugendlichem Elan entwickeltes System der Naturphilosophie. Die Forschung der letzten Jahre zeigt Fichte nicht mehr als jenen Fels in der Brandung, als den er sich selbst gern gesehen hat – oder gesehen haben wollte, unbeirrbar von den tumulthaften Streitfällen um ihn herum, überlegen, moralisch, standhaft. In den Manuskripten aus dem Nachlaß, die nun schon seit dreißig Jahren sukzessive zugänglich werden, ringt Fichte fortwährend mit der spekulativen Philosophie Schellings.⁶ Darin mag sich der Neid auf den ›erfolgreicheren‹ Jüngeren, darin mag sich auch die Ernüchterung über mangelnde Solidarität während des Atheismusstreits oder einfach die Enttäuschung spiegeln, die sich einstellt, wenn im Kampf der Geister der sicher geglaubte Mitstreiter desertiert oder gar die Seiten wechselt. Unberührt und desinteressiert blickte Fichte jedenfalls nicht auf die philosophische Karriere Schellings; zahllose Kommentare belegen dies: Schelling sei einer »der verworrensten Köpfe, welche die Verwirrung unserer Tage hervorgebracht« habe. In der Wissenschaftslehre von 1807, der sogenannten Königsberger Wissenschaftslehre, kommentiert Fichte beispielsweise entschieden polemisch die Materiekonstruktion Schellings, ein zentrales Stück in dessen Naturphilosophie: »Wird aber mit dem Seyn ein Ernst gemacht, u. es realisirt, so wird es eben Materie, […].«⁷ Durch weiteres intellektuelles Absinken – so Fichte – gelange man dann 5
6
7
Grundlegend dazu: Reinhard Lauth: Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. (Schriften zur Transzendentalphilosophie; 6) Hamburg 1984. Vgl. dazu die Korrespondenz der beiden Philosophen: Schelling-Fichte-Briefwechsel. Kommentiert und neu herausgegeben von Hartmut Traub. Neuried 2000. Zur Kontroverse Fichte-Schelling ferner: Christoph Asmuth: Das Begreifen des Unbegreiflichen, S. 317–370; Ralf Borlinghaus, Neue Wissenschaft. Schelling und das Projekt einer positiven Philosophie. Frankfurt a. M. u. a. 1995, S. 40–50; Alfred Denker: »Freiheit ist das höchste Gut des Menschen. Schellings erste Auseinandersetzung mit der Jenaer Wissenschaftslehre Fichtes«, in: Christoph Asmuth (Hrsg.), Sein – Reflexion – Freiheit. Aspekte der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes (Bochumer Studien zur Philosophie. 25), Amsterdam; Philadelphia 1997, S. 35–68; Ingtraud Görland, Die Entwicklung der Frühphilosophie Schellings in der Auseinandersetzung mit Fichte, Frankfurt a. M. 1973; Harald Holz: »Die Dialektik in den Frühschriften von Fichte und Schelling«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 52 (1970), S. 71–90; Wolfgang Janke: »Glauben und Wissen. Ein Beitrag zur Schellingkontroverse in Fichtes Erlanger Wissenschaftslehre 1805«, in: Christoph Asmuth u. a. (Hrsg.), Schelling, S. 55–76; Reinhard Lauth: »Die erste philosophische Auseinandersetzung zwischen Fichte und Schelling 1795–1797«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 21 (1967), S. 341–367; Orrin F Summerell, »Das Sich-Setzen der Freiheit. Zum Verhältnis Schelling-Fichte«, in: Christoph Asmuth (Hrsg.), Sein – Reflexion – Freiheit, S. 69–78; Hartmut Traub, »Schellings Einfluß auf die Wissenschaftslehre 1804 Oder: ›Manche Bücher sind nur zu lang geratene Briefe‹«, in: Christoph Asmuth u. a. (Hrsg.), Schelling, S. 77–92. J. G. Fichte:Wissenschaftslehre 1807 GA II, 10, S. 113.
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
schließlich »zu einer absoluten Natur, u. zu einer NaturPhilosophie aus dieser Voraussetzung, als dem tiefsten Grade.«⁸ Fichte nimmt hier eine Witterung auf, die in späteren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts geradezu zum Attraktionspunkt für die Naturphilosophie Schellings werden sollte: eine Tendenz zur materialistischen Naturauffassung. Theoretische Einschätzungen bestehen aber nicht für sich wie ein staubtrockener Überbau, sondern dringen in die konkrete phänomenale Auffassung der Wirklichkeit ein. Eine Untersuchung über das unterschiedliche Naturverständnis Fichtes und Schellings wird daher nicht nur auf die theoretische Ebene beschränkt bleiben können. Ein prägnantes Beispiel für die Unterschiedlichkeit der Auffassungen oder Betrachtungsweisen sei bereits jetzt zur Illustration gegeben. Es betrifft das Phänomen der Tierbewegung und ihrer Erklärung im Horizont einer Philosophie der Natur. So schreibt Schelling bereits 1797: »[…] die Vermögen thierischer Organe – Sensibilität, Irritabilität u. s. w. – setzen selbst ein impulsives Princip voraus, ohne welches das Thier unfähig wäre, Reizen von außen Reaktionen entgegenzusetzen, und nur durch die freie Zurückwirkung der Organe wird der von außen angebrachte Stimulus Reiz und Eindruck; es herrscht hier völligste Wechselwirkung: nur durch Reiz von außen wird das Thier zur Hervorbringung von Bewegungen bestimmt, und umgekehrt, nur durch diese Fähigkeit, Bewegungen in sich hervorzubringen, wird der äußere Eindruck zum Reiz. (Daher ist weder Irritabilität ohne Sensibilität, noch Sensibilität ohne Irritabilität möglich.)«⁹ Dasselbe Thema behandelt Fichte etwa um 1800 auf ein paar Manuskriptseiten, die hier später noch einmal Gegenstand werden sollen, nämlich den Sätzen zur Erläuterung des Wesens der Thiere. Hier handelt er vom Unterschied des Tieres von der Pflanze, und zwar in bezug auf die Bewegung. So schreibt Fichte: »In ihr [der Pflanze; Ch. A.] u. ihrem Wirkungskreise ging alle Bewegung aus Einem Mittelpunkte aus, und auf denselben hin. Im Thiere ist jeder mögliche Punkt, – indem ja in ihm ein eigenthümliches Princip der Bewegung ruht – Mittelpunkt einer PflanzenSphäre, als seiner niedrigern Welt. Das Thier wäre sonach ein System von PflanzenSeelen, und die Pflanze ein abgerißner isolirter ThierTheil. Beide stehen in Wechselwirkung mit einander.«¹⁰ Unmittelbar drängt sich hier der Verdacht auf, Fichtes Bemerkungen entstammten einer vorwissenschaftlichen Sphäre, während Schellings Ausführungen geradezu aufgeladen zu sein scheinen mit den neuesten Ergebnissen, Konzepten und Begriffen der Naturforschung seiner Zeit. Ihm, Schelling, steht ein differenziertes Arsenal von Kriterien zur Verfügung, während Fichte sich in methodisch unfruchtbaren Spekulationen ergeht, die letztlich zu einer Reduktion auf eine Seelentheorie führen. Gleichzeitig wird deutlich, dass für beide Philosophen der Gedanke der Wechselwirkung zentral ist, 8 9
Ibid., S. 114. F. W. J. Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur, SW I 2, S. 48. – Differenzierter dann und unter dem zentralen Begriff der Erregbarkeit: F. W. J. Schelling: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, SW I 3, 144–220; vgl. dazu: Paul Ziche: »Gehört das Ich zur Natur? Geistige und organische Natur in Schellings Naturphilosophie«, in: Philosophisches Jahrbuch 108 (2001,1), S. 41–57. 10 J. G. Fichte, Sätze zur Erläuterung des Wesens der Thiere, GA II, 5, S. 429 f.
5.2. Schellings »Timaeus-Kommentar«
101
ein zunächst von Fichte, dann auch von Schelling bevorzugtes Erklärungsmodell, das beide der Philosophie Kants entnahmen.
5.2
Schellings »Timaeus-Kommentar«
Schelling begann seine Arbeiten zur Naturphilosophie früh; einige erhaltene Manuskripte belegen dies. Hervorzuheben ist allerdings sein Kommentar zum Platonischen Timaios, also zu jenem Werk, das der gesamten Tradition als Platons Naturphilosophie gegolten hat. Bei diesem Kommentar handelt es sich um eine fortlaufende, wenn auch nicht vollständige Auslegung der Passage Tim. 28a bis 53c. Schellings Perspektive ist – um es zunächst neutral zu formulieren – Kantisch geprägt. Darin zeigt sich deutlich eine gewisse Dominanz erkenntnistheoretischer Überlegungen gegenüber einer naturphilosophisch-kosmologischen Perspektive. Das zeigt sich auch in Schellings Interesse am Idealismus der Platonischen Ideenlehre. Seine Lektüre scheint durch die Fragestellung motiviert, wie sich das Verhältnis von Verstand und Anschauung, von Form und Materie rational erklären lässt, weniger jedoch durch Überlegungen zu einer Weltentstehungstheorie. Die Frage nach der Natur ist im Timaeus-Kommentar – durch die Textvorgabe Platons angeregt – angereichert durch Überlegungen zur Schönheit und Vollkommenheit, zur Regelmäßig- und Regelhaftigkeit der Schöpfung, d. i. die sichtbare Natur, ferner zum Problem der Zeit und – wichtig für die Entwicklung seiner Naturphilosophie – zur Weltseele. Die Transformation der Platonischen Ideenlehre in eine Kantische Terminologie macht einige Besonderheiten deutlich. Von zentraler Bedeutung ist für Schelling offensichtlich der Naturbegriff. Die für Platon selbst stets wesentliche ethische und soziale bzw. politische Bedeutung der Ideenlehre wird von Schelling auf die Natur reduziert, wobei zu fragen bleibt, welche inhaltliche Füllung dieser Begriff beim frühen Schelling haben kann. Hier liegt es nahe, dass Schelling die Erscheinungswelt als solche mit der Natur identifiziert. Die moralische oder soziale Welt hätte dann zunächst eine bloß untergeordnete Funktion innerhalb der Natur. Die Ideen bilden die Gesetze dieser Erscheinungswelt; sie sind die Formen unseres Vorstellungsvermögens und erzeugen ihre Gesetzmäßigkeit. Insofern ist für Schelling plausibel, wenn Platon – aber auch andere in der Zeit vor Platon – davon sprechen, dass die sichtbare Welt »Typus« einer übersinnlichen Welt sei. Schelling sieht bei Platon einen erkenntnistheoretischen Bogen, der ihm erklären kann, weshalb die Welt zweckgerichtet, geordnet und organisiert ist: Empirische Erkenntnis lehrt, dass die Natur regelhaft und gesetzmäßig ist. Regel und Gesetz lassen sich nicht empirisch erkennen. 1. Diese Begriffe müssen a priori, vor aller Erfahrung, vorhanden gewesen sein als Ingredienzen einer absoluten Intelligenz.¹¹ 11 Vgl.: F. W. J. Schelling: »Timaeus.« (1794). (Hrsg) Hartmut Buchner, mit einem Beitrag von Hermann Krings: »Genesis und Materie – Zur Bedeutung der ›Timaeus‹Handschrift für Schellings Naturphilosophie«. (Schellingiana; 4). Stuttgart-Bad Cann-
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
2. Diese Begriffe, Ideen, müssen eine hervorbringende und ordnenden Funktion für die Welt besitzen, dies nicht nur im allgemeinen, sondern auch im besonderen, d. h. für das einzelne Ding. 3. Obwohl nur durch diese Ideen die Einzeldinge möglich sind, drücken sie sich doch in keinem Einzelding empirisch aus, sondern sind rein intellektuell zu erkennen, nicht empirisch wahrnehmbar. Insofern sind die Ideen nicht durch Abstraktion von den Einzeldingen entstanden, sondern umgekehrt: Die Einzeldinge sind vielmehr nach Maßgabe der Ideen entstanden. Die Ideen entstehen gar nicht, sind »nichts Entstandnes u. nichts Zerstörbares, überhaupt nichts der Zeitform unterworfenes […].«¹² Damit ist für Schelling klar, dass eine »empirische Naturforschung«¹³ – nach Platon, dem Schelling hier allerdings zustimmt – ihrem Gegenstand, der Natur, unangemessen bleiben muss. Auf empirischen Wege kann man nicht zu den reinen Verstandesformen gelangen, deren Ausdruck gerade in den empirischen Gestalten aufgesucht wird. Der erkenntnistheoretische Bogen – weg von der unzureichenden Empirie, hin zu den Ideen als Erkenntnis- und Seinsgrund, von den Ideen zurück zur Empirie – markiert dabei einen Idealismus, der die wirklichen Gestalten der Natur durch ihre nicht physisch, sondern gedanklich existierenden Formen zu erklären und zu erkennen bemüht. Daher kann Schelling behaupten: »Der Schlüßel zur Erklärung der ganzen Platonischen Philosophie ist die Bemerkung, daß er überall das subjektive auf ’s objektive überträgt. Daher entstund bei Plato der (aber schon lange vor ihm vorhandne) Satz, daß die sichtbare Welt nichts als ein Nachbild der unsichtbaren sei.«¹⁴ Platons Demiurg verfertigt das Weltall, indem er die Vernunft in der Seele, die Seele aber im Körper schafft. Schelling wendet seine Aufmerksamkeit besonders der Platonischen Kosmogonie zu, indem er sie transzendentalphilosophisch wendet: Die Weltseele hat Anteil an der Verstandesform, die Schelling als das Produkt des Verstandes identifiziert. So wird die Natur und die Naturphilosophie aufgesogen und transformiert in eine transzendentalphilosophische Perspektive. Fichtes Konstitution der Vorstellung 1794/95 erschien Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre.¹⁵ Friedrich Schlegel rechnete sie neben Goethes Wilhelm Meister und der Französischen Revolution zu den großen Tendenzen des Zeitalters. Sie ist ein zentrales Dokument
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statt 1994, S. 37: »Überhaupt muß man bei der ganzen Untersuchung über die Platonische Ideenlehre immer das vor Augen behalten, daß Platon von ihnen immer als Ideen eines göttlichen Verstandes spricht, die nur durch intellektuelle Gemeinschaft des Menschen mit dem Ursprunge aller Wesen in seinem Verstande möglich geworden wären.« Ibid., S. 37. Ibid., S. 34. Ibid., S. 31. – Vgl. dazu auch die analoge Stelle: ibid, S. 38. Vgl. zur vorliegenden Darstellung vor allem: Wilhelm Metz: Kategoriendeduktion und produktive Einbildungskraft in der theoretischen Philosophie Kants und Fichtes (Spekulation und Erfahrung; II, 21), Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 199–323.
5.2. Schellings »Timaeus-Kommentar«
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der Philosophie des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Gleichwohl ist die Geschichte dieser ersten Wissenschaftslehre eine Geschichte voller Missverständnisse. Das zentrale Anliegen Fichtes dürfte indes darin bestanden haben, die Vorstellung als solche wissenschaftlich, d. h. genetisch aus ihren höchsten Gründen abzuleiten. Vorstellung ist für Fichte Objektbewusstsein oder, wie er später ausführt, Etwas-Wissen als Wissen von Etwas. Dieses Etwas-Wissen ist charakterisiert durch eine begriffliche Grundstruktur, nämlich die Kategorien, und durch einen Inhalt. Damit ist gleichsam der Gattungsbegriff angesprochen, unter den Fichte seinen Naturbegriff subsumieren kann. Denn: Das Etwas umfasst alle Objekte, die in Raum und Zeit gegeben sein können, d. i. die Welt, von der die Natur ein gewisses, in besonderer Weise qualifiziertes Segment ausmacht. Für Fichte muss das Wissen ein System sein, d. h. ein zusammenhängendes und kohärentes Ganzes, das unter dem Primat der Einheit steht und einem einheitlichen Prinzip folgt. Das Prinzip des Wissens kann nach Fichte nicht in irgendeiner Feststellung oder in der Behauptung einer Tatsache gefunden werden. Denn eine Tatsache ist etwas bloß Gegenständliches, etwas Starres und Fixiertes. Das Prinzip muss aber ein transzendentalphilosophisch-genetisches Prinzip sein, SubjektObjekt, Spontaneität: – eben Tathandlung. Die Dreieinheit von Setzen, Entgegensetzen und Wechselbestimmen, durch die Fichte die Prinzipienfunktion scheint zunächst ganz abstrakt zu sein. Schlegels Begeisterung für diesen Text lässt sich heutzutage nicht unmittelbar nachvollziehen. Angesichts der Tatsache jedoch, dass in Frankreich eine bürgerliche Revolution just in diesen Jahren die hergebrachten Formen von Herrschaft und Religion radikal infrage stellte, wird plausibel, dass die Zeitgenossen die Grundsatzphilosophie Fichtes mit ganz anderen Augen lasen: Das souveräne Ich schien die feudalistisch verfasste politische Wirklichkeit zu unterwandern. Wie sollte ein Ich, von dem Fichte sagte, »alle Realität, welche ist, ist im Ich gesezt«,¹⁶ zugleich ausschließlich Untertan sein? Wie sollte ein absolutistischer Herrscher Menschen regieren können, wenn eines Jeden Ich die höchste Substanz ist?¹⁷ Gleiches gilt für die Religion: Fichtes Zeitgenossen entdeckten schnell, dass in der Philosophie des Ich von Gott zunächst keine Rede sein konnte. Ja, man konnte mit gewissem Recht vermuten, der Ich-Begriff habe den Gottesbegriff abgesetzt oder gar ersetzt. Wie sollte man sich denn Religion denken, wenn das Ich Anspruch auf die Stelle des Absoluten machte? Und auch im Naturbegriff deutet sich eine Wandlung an. Sie ist weniger spektakulär, liegt indes doch in der Konsequenz der Theorie Fichtes: Die Natur kann nicht als Schöpfung begriffen werden, als Schöpfung, die zumindest in ihren Strukturen unverfügbar und in ihren Auswirkungen hinzunehmen wäre. Die Natur ist strukturell durch die logischen Formen des Ich überformt und letztlich durch die Realität des Ich dominiert. Sie ist Nicht-Ich, negative Seite des Ich, ist das, was das Ich nicht ist. Sie lässt sich, zwar nicht de facto, jedoch intelligibel
16 J. G. Fichte: Grundlage, GA I, 2, S. 296. 17 Ibid., S. 282.
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
aufheben. Das Ich hat ihr gegenüber einen unbegrenzten Machtanspruch. Welche Konsequenzen das hat, dazu später!¹⁸ Schellings Philosophie der Natur Die Formulierung »Natur als Subjekt« stammt bekanntlich von Schelling selbst,¹⁹ und zwar aus einer kleinen Schrift mit dem barock anmutenden Titel: Einleitung zu dem Ersten Entwurf einer Philosophie der Natur oder über den Begriff der speculativen Physik und die innere Organisation eines Systems dieser Wissenschaft aus dem Jahre 1799. Natürlich kann man diesen Ausdruck »Natur als Subjekt« kritisieren: als transzendentalphilosophischen Unsinn, als logisch widersprüchlich, als vordergründig paradox.²⁰ Natürlich wendet sich dieser Ausdruck gegen eine objektivierende, empirische Naturwissenschaft. Aber es spiegelt sich vornehmlich darin eine Tendenz, die den Ausbruch aus den engen Fesseln der Kantischen, besonders aber der Transzendentalphilosophie in der Ausprägung Fichtes markiert. Die Ideen zu einer Philosophie der Natur leitet Schelling 1797 bereits mit einigen Überlegungen ein, die eine Trennung von der Position Fichtes erahnen lassen.²¹ Sie beruhen auf einem anderen kulturellen Hintergrund, einer anderen gesellschaftlichen Erfahrung. So meint Schelling beispielsweise, dass derjenige, der unmittelbar die Natur erkundet, der sie empirisch erforscht, genau so wenig dazu bereit ist, die Natur philosophisch zu befragen, wie derjenige, der ihren Reichtum genießt. Eine, wenn nicht sogar die zentrale Frage der Philosophie wäre aber die, wie die Natur überhaupt möglich sei. Naturforscher und Naturgenießer, letztere sicher ästhetisch und kulinarisch definiert, gehören zu den philosophisch Naiven: Sie distanzieren sich nicht von der Natur, sondern bleiben in ihr, sie sammeln und beobachten, was geschieht,²² sie staunen und bewundern oder verleiben sich die Natur ein. Dem gegenüber steht der Philosoph. Seine Genese wird von Schelling idealhistorisch erklärt: Im philosophischen Naturzustand habe der Mensch in Einheit mit der Natur und mit sich selbst gelebt, eine Art Paradieszustand. Der Grund für den Auszug aus dem Naturzustand sei der Geist des Menschen. Ihm verdanke er das Streben nach Freiheit, das Streben danach, »sich den Fesseln des Natur und ihrer Vorsorge [zu] entwinden und dem ungewissen Schicksal seiner eigenen Kräfte [zu] überlassen.«²³ Ziel sei es, zurückzukehren in jenen ersten Zustand der Einheit, nun aber durch eigene Kraft, eigenes Verdienst, als »Sieger«. 18 Vgl. dazu insbesondere: Hartmut Traub: »Natur, Vernunft-Natur und Absolutes. Drei Hinsichten auf den Natur-Begriff in Fichtes Wissenschaftslehre«, in: Christoph Asmuth (Hrsg.), Sein – Reflexion – Freiheit, S. 175–190. 19 F. W. J. Schelling: Einleitung zu dem Entwurf einer Philosophie der Natur, AA, I, 8, 41 20 Vgl. dazu: Hermann Krings: »Natur als Subjekt. Ein Grundzug der spekulativen Physik Schellings« in: Reinhard Heckmann u. a. (Hrsg.), Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, S. 111–128, insb. 111 ff. 21 Vgl. Ralf Borlinghaus: Neue Wissenschaft, S. 51–57. 22 Vgl. F. W. J. Schelling: Einleitung zu dem Entwurf einer Philosophie der Natur, AA, I, 8, 40. 23 F. W. J. Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur, AA, I, 5, 70.
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Durch die erste Differenz des Menschen zur Natur entsteht die Reflexion: »von nun an trennt er was die Natur auf immer vereinigt hatte, trennt den Gegenstand von der Anschauung, den Begriff vom Bilde, endlich (indem er sein eigenes Objekt wird) sich selbst von sich selbst.«²⁴ Ursprünglich sei im Menschen ein Gleichgewicht zwischen seinen Kräften und seinem Bewusstsein, ein Gleichgewicht, dass der Mensch durch die Freiheit aufzuheben imstande ist, nur um es wiederzuerlangen. Dabei lässt sich folgendes herausstreichen: 1. Der Naturzustand des Menschen wird von Schelling durchgehend positiv bewertet. Dort ist der Mensch eins mit sich selbst und der Natur, ein – nach der Trennung – wiederherzustellender Zustand. 2. Einheit mit der Natur ist jeder Form von Differenz vorausgesetzt, sei diese jene zwischen Geist und Natur, sei sie die zwischen Einheit und Reflexion, sei sie die von Gegenstand und Anschauung. 3. Schelling sieht die Rolle der Reflexion durchaus nicht positiv. Sie ist für ihn ein Zeichen der Trennung, letztlich also etwas, das überwunden werden muss. 4. Philosophie ist ihm das Instrument der Rückkehr. Damit ist die Philosophie selbst der reflexive Akt, die Reflexion zu überwinden. In allen vier Positionen zeigt sich eine mehr oder weniger deutliche Abgrenzung von Fichte. Insbesondere die vorgängige Einheit von Natur und Geist, projiziert in eine Idealhistorie mit einer Erzählung vom Urzustand, dürfte mit Fichtes Konzeption unvereinbar sein. Schelling scheint, das zeigen die Ideen zu einer Philosophie der Natur, speziell durch Naturphänomene wie Magnetismus, Elektrizität, Galvanismus und chemische Prozesse zu weitergehenden Fragen angeregt worden zu sein. Eine bloß mechanistische Erklärung schien ihm nicht angemessen zu sein. Dies zeigt sich für Schelling am lebenden Organismus: »Die Organisation aber producirt sich selbst, entspringt aus sich selbst; jede einzelne Pflanze ist nur Produkt eines Individuums ihrer Art, und so producirt und reproducirt jede einzelne Organisation ins Unendliche fort nur ihre Gattung. Also schreitet keine Organisation fort, sondern kehrt ins Unendliche fort immer in sich selbst zurück. Eine Organisation als solche demnach ist weder Ursache noch Wirkung eines Dinges außer ihr, also nichts, was in den Zusammenhang des Mechanismus eingreift.«²⁵ Die Unzufriedenheit Schellings mit der Naturforschung und Naturphilosophie seiner Zeit beruht darauf, dass sie keinen Begriff haben entwickeln können von einem Zusammenhang von Geist und Natur. Dabei ist es für Schelling klar, dass es keine Reduktion auf eine der beiden Pole, Geist oder Natur, sinnvollerweise geben kann. Entweder entsteht daraus eine leere Reflexionsphilosophie, ein Idealismus 24 Ibid., 5, S. 71. 25 Ibid, 5, S. 94. Vgl. dazu: Dietrich von Engelhardt: »Prinzipien und Ziele der Naturphilosophie Schellings – Situation um 1800 und spätere Wirkungsgeschichte«, in: Schelling. Seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und Geschichte. (problemata; 91) Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, S. 77–98; Marie-Luise Heuser-Keßler: Die Produktivität der Natur. Schellings Naturphilosophie und das neue Paradigma der Selbstorganisation in den Naturwissenschaften (Erfahrung und Denken; 69), Berlin 1986.
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
ohne Gehalt, oder aber ein Realismus, der letztlich Empirismus oder Materialismus ist, eine Philosophie jedenfalls, die nicht erklären kann, was sie erklären soll. Gerade die organische Natur zeigt für Schelling die Lösung an, denn in ihr erkennt der menschliche Geist die sich selbst organisierende Materie. Weil aber Organisation, so Schelling, nur in bezug auf einen Geist vorstellbar sei, entstehe der Gedanke der »ursprünglichen Vereinigung des Geistes und der Materie«²⁶ im Organismus. Schließlich müsse man konsequenterweise Geist und Natur als eins denken. Diesen Gedanken feiert Schelling schließlich mit emphatischen Worten: »Solange ich selbst mit der Natur identisch bin, verstehe ich was eine lebendige Natur ist so gut, als ich mein eigenes Leben verstehe; begreife, wie dieses allgemeine Leben der Natur in den mannichfaltigsten Formen, in stufenmäßigen Entwicklungen, in allmählichen Annäherungen zur Freyheit sich offenbaret; sobald ich aber mich von der Natur trenne, bleibt mir nichts übrig, als ein todtes Objekt, und ich höre auf zu begreifen, wie ein Leben außer mir möglich seye.«²⁷ Bereits 1799 hat sich Schellings Position ins Systematische verwandelt. Schelling schwebt eine neuartige Verbindung von Ideellem und Reellem vor, die einer Forderung 1797 in den Ideen entspricht: »Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn.«²⁸ Dazu musste er jedoch die transzendentalphilosophische Theorie Fichtes aufgeben oder zumindest korrigieren, nach der die Natur wesentlich Nicht-Ich ist. Wie aber kann die Natur etwas anderes sein als ein Objekt? Schellings Antwort liegt in der Akzentuierung der Produktivität in der Natur: »Die Regelmäßigkeit in allen Bewegungen der Natur, die erhabene Geometrie z. B., welche in den Bewegungen der Himmelskörper ausgeübt wird, wird nicht daraus erklärt, daß die Natur die vollkommenste Geometrie, sondern umgekehrt daraus, daß die vollkommenste Geometrie das Producirende der Natur ist, […].«²⁹ Hier kommt Schelling zugleich zu einer begrifflichen Trennung von Welt und Natur. Ist ihm die Welt der Inbegriff aller Erscheinungen, so ist der entscheidende Unterschied der Natur, dass sie kein bloßes Produkt, sondern dass sie selbst produktiv ist. In einem Rückgriff auf jene wirkungsgeschichtlich äußerst bedeutende Metapher Fichtes vom Schweben der Einbildungskraft, kann Schelling das beständige Übergehen der Natur von der Produktion zum Produkt und vom Produkt zum erneuten Produzieren als ein Schweben bezeichnen. Dieses Schweben kommt der Natur nicht äußerlich zu, sondern ist ihr wesentlich, ein Signum ihrer Geisthaftigkeit, ihrer Beseeltheit, letztlich der Wechselwirkung. »Insofern wir das Ganze der Objekte nicht bloß als Produkt, sondern nothwendig zugleich als produktiv setzen, erhebt es sich für uns zur Natur, und nichts anderes, ist selbst im gemeinen Sprachgebrauch durch den Begriff der Natur bezeichnet. Die Natur als bloßes Produkt (natura naturata) nennen wir Natur als Objekt. Die Natur als Produktivität (natura naturans) nennen wir Natur als Subjekt (auf diese allein geht alle Theorie).«³⁰ Schelling konnte einen ähnlichen Gedanken schon bei Jacobi lesen, 26 27 28 29 30
F. W. J. Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur, AA, I, 5, 99. Ibid., 5, S. 100. Ibid., 5, S. 107. F. W. J. Schelling: Einleitung zu dem Entwurf einer Philosophie der Natur, AA, I, 8, S. 29. Ibid., S. 41.
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der im Anhang an sein Spinoza-Buch (Ueber die Lehre des Spinoza, in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn, Breslau ²1789, Beilage 1) einen Auszug gibt aus Giordano Bruno. Dort redet Jacobi im Namen Brunos vom »Subjekt der Natur«, der formlosen, aber schöpferischen Materie, ein Gedanke, den Schelling aufnehmen konnte. Allerdings muss der Subjekt-Begriff bei Jacobi noch in der alten Bedeutung als Substrat verstanden werden, nicht einem erkenntnistheoretischen Sinne als das dem Objekt gegenüberstehende Erkennende. Gelegentlich einer Neuauflage seiner Ideen zu einer Philosophie der Natur 1803 fügte Schelling seiner Einleitung einige Überlegungen an, die erkennen lassen, welche Richtung sein Projekt einer Philosophie der Natur genommen hat. In der Retrospektive erscheinen ihm die Überlegungen von 1797 in großer Abhängigkeit von der Philosophie Fichtes, die er nun als relativen Idealismus charakterisiert.³¹ Damit erhebt Schelling den Vorwurf, Fichtes Ich-Philosophie sei einseitig. Bedingung aller Philosophie ist für Schelling die Einsicht, dass das absolut Ideale zugleich auch das absolut Reale sei, eine Position, die in verschiedenen Formulierungen das Programm der sog. identitätsphilosophischen Phase beschreibt. Zentral wird für Schelling jetzt der Begriff der Einbildung, eine Wendung der transzendentalen Einbildungskraft in einen systembildenden Funktionsbegriff. So denkt Schelling das Absolute nun als eine Einheit dreier Einheiten, die, jede für sich absolut, das Absolute in drei Instanzen ist: Das Absolute »ist also nur das Absolute ohne weitere Bestimmung; es ist in dieser Absolutheit und dem ewigen Handeln schlechthin Eines, und dennoch in dieser Einheit unmittelbar wieder eine Allheit, der drei Einheiten nämlich, derjenigen, in welcher das Wesen absolut in die Form, derjenigen, in welcher die Form absolut in das Wesen gestaltet wird, und derjenigen, worin diese beiden Absolutheiten wieder eine Absolutheit sind.«³² Diese Absolutheit wird als Unendliches ins Endliche eingebildet und damit unterschieden vom Absoluten. Dies ist Schellings Begriff der Natur. In der Natur selbst ist das Absolute wie ein Punkt, wie Aug- und Fluchtpunkt, anwesend und enthalten. Es durchdringt die Natur, die zwar den Charakter der Endlichkeit nicht verliert, aber in der Endlichkeit die Unendlichkeit als Einbildung repräsentiert. Die drei Instanzen des Absoluten spiegeln sich deshalb in der Natur wieder. Sie sind die drei Potenzen der Schellingschen Naturphilosophie: »Die erste Einheit, welche in der Einbildung des Unendlichen ins Endliche selbst wieder diese Einbildung ist, stellt sich im Ganzen durch den allgemeinen Weltbau, im Einzelnen durch die Körperreihe dar. Die andere Einheit der Zurückbildung des Besonderen ins Allgemeine oder Wesen drückt sich, aber immer in der Unterordnung unter die reale Einheit, welche die herrschende der Natur ist, in dem allgemeinen Mechanismus aus, wo das Allgemeine oder Wesen als Licht, das Besondere sich als Körper, nach allen dynamischen Bestimmungen, herauswirft. Endlich die absolute Ineinsbildung oder Indifferenzierung der beiden Einheiten, dennoch im Realen, drückt der Organismus aus, welcher daher selbst wieder, nur nicht als Synthese, sondern
31 Vgl. F. W. J. Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur (2. Aufl. 1803), SW I, 2, S. 69. 32 Ibid., S. 64.
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
als Erstes betrachtet, das An sich der beiden ersten Einheiten und das vollkommene Gegenbild des Absoluten in der Natur und für die Natur ist.«³³ Fichtes Konzept Für Schelling ist die Natur der Ort spekulativer Naturforschung, Ort der Schönheit und des Genusses, der Ort, an dem der Mensch heimisch ist. Die Natur ist sein Haus, aus dem er durch Freiheit und Reflexion auszieht, um durch Freiheit und eigenes Verdienst wieder einzuziehen. Anders Fichte: »Ich trage, laut der Wissenschaftslehre auf die Natur den Begriff meiner selbst über, so weit ich es kann, ohne die Natur selbst zu vernichten, d. i. ohne sie zur Intelligenz (Ich, sich selbst setzend) zu machen.«³⁴ Natur, so Fichte explizit in seiner Schrift Sätze zur Erläuterung des Wesens der Thiere um 1800, – Natur ist kein Subjekt, es ist nicht Ich, damit weiter bestimmtes Nicht-Ich, also Objekt. Kritisch geht Fichte auf Schellings Potenzenlehre ein. Wenn es heiße, die Intelligenz sei eine höhere Potenz der Natur, so habe dieser Satz nur in einem gewissen Sinne eine philosophische Bedeutung: Es könnte damit gemeint sein, dass im Menschen alles das sei, was auch in der Natur ist, ergänzt um eine zusätzliche Komponente, eben die der Intelligenz und des Kosmos des Intelligiblen. Und insofern die Intelligenz tatsächlich über die Natur hinausgeht, hätte der Satz eine gewisse Berechtigung: »Beide, die Natur und die Intelligenz, schließen in diesem bloß aufzählenden, nicht begründenden Systeme ohne Hiatus an einander.« Der Satz ist rein deskriptiv, er weist dem Menschen zwei Komponenten zu wie in einem Baukasten. Aber er begründet keinen argumentativen Zusammenhang, keine genetische Aufeinanderfolge. Diese könnte darin bestehen, dass die Intelligenz ein Produkt der Natur und in diesem Sinne eine höhere Potenz der Natur wäre, eine Formulierung, die dem heute herrschenden wissenschaftlichen Konsens nahe käme: Bewusstsein – ganz allgemein und ganz unspezifisch – als Produkt einer evolutionären Entwicklung. Erstaunlich ist es indes, mit welcher Verve Fichte seine Kritik formuliert, zu einem Zeitpunkt zumal, an dem Lamarcks Philosophie zoologique nicht geschrieben und Charles Darwin noch nicht einmal geboren war. »Vor nichts aber hüte – sowohl die Geschichte; als eine gewisse Halb=Philosophie, – sich mehr, als vor der völlig unvernünftigen, und allemal vergeblichen Mühe, die Unvernunft, durch allmähliche Verringerung ihres Grades, zur Vernunft hinaufzusteigern; und, wenn man ihnen nur die hinlängliche Reihe von Jahrtausenden giebt, von einem Orang=Outang zuletzt einen Leibnitz, oder Kant, abstammen zu lassen!«³⁵ Aus dem Unvernünftigen kann sich das Vernünftige nicht herausentwickeln. Zusätzlich verstieße dies für Fichte gegen die Grundsätze der Transzendentalphilosophie. Derzufolge heißt es umgekehrt: »Die Natur ist Produkt der Intelligenz; wie kann denn nun durch einen offenbaren Cirkel die Intelligenz wieder Produkt der Natur sein?« Das eigentlich Produzierende ist die Intelligenz. So muss nach Fichte in der Transzendentalphilosophie formuliert werden: »Die endl. Intelligenz ist nemlich niedere 33 Ibid., S. 68. 34 J. G. Fichte: Sätze zur Erläuterung des Wesens der Thiere, GA II, 5, S. 421. 35 J. G. Fichte: Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters,] GA I, 8, S. 299.
5.2. Schellings »Timaeus-Kommentar«
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Potenz der unendlichen. In dieser aber liegt ein – bloß Bestimmbares, wovon sie die höhere ist. Dieses ist die Natur ihren durchaus unerklärbaren u. unbegreiflichen GrundElementen nach.«³⁶ Die Natur ist nur ein Gegenbild, letztlich dazu da, um der Freiheit ein Objekt zu geben – die Welt als Materiale der Pflicht. Als etwas bloß Bestimmbares hat sie keine ihr eigentümliche Aktivität oder Produktivität. Die Natur muss vielmehr in die Grundform der Intelligenz aufgenommen werden. Die Natur ist nicht an sich da, sondern immer nur als eine erkannte, in der sich die Strukturen des Erkennens als ihre Elemente niederschlagen. So sind auch Pflanzen und Tiere in ihren Prinzipien für die Philosophie zu konstruieren, ein rein apriorisches Verfahren, das der Erfahrung zur Gültigkeit seiner Aussagen und zur Evidenz seiner Behauptungen nicht bedarf. Letztlich ist für Fichte das Leben der Natur nur ein scheinbares. Zum Leben gehört für ihn Freiheit und durch sie die Partizipation an der intelligiblen Welt. Charakteristischen Unterschiede Die Macht, die Fichte dem transzendentalen Denken zuschreibt, löst letztlich die Naturphilosophie auf in einen ethischen Idealismus mit einem starken apriorischen Impuls, so dass Fichte auf mögliche Einwürfe der empirischen Naturforschung reagieren kann, indem er dekretorisch formuliert: »Einwürfe aus der Erfahrung thun nichts.«³⁷ Schellings spekulative Physik³⁸ indes wird auch niemals Verzicht tun wollen auf einen ihr eigentümlichen apriorischen Anteil. Gerade diesen hält Schelling für das Auszeichnende seines Ansatzes. Aber die Naturforschung seiner Zeit hat ihm ein begrifflich-theoretisches Instrumentarium an die Hand gegeben, das ihm differenzierte spekulative, d. h. die empirische Forschung bestimmende theoretische Unterscheidungen ermöglicht.³⁹ Zum Schluss dieser Betrachtung möchte ich noch darauf hingewiesen, dass hier neben internen philosophischen Unterscheidungen sicher auch soziale Aspekte eine Rolle spielen. Für Fichte ist die Natur zeitlebens nicht nur Gegenbild, sondern auch Gegner geblieben. Der Sohn eines armen Bandwebers aus Rammenau hatte zu genau erfahren, dass die Natur kein romantischer Ort ist, an dem sich aufzuhalten wie die ersehnte Heimkehr in den tiefsten Ursprung ist. Ihm ist die Natur nicht durchwirkt von Symbolen; er kann in ihr keine Genien, keine Putten, keine Intelligenzen entdecken. Klar scheidet er den Menschen und seine Freiheit, d. h. zugleich die Gesellschaft und die Sittlichkeit, vom Bereich der substantiell unfreien Natur. Er sieht den Bauern, 36 J. G. Fichte: Sätze zur Erläuterung des Wesens der Thiere, GA II, 5, S. 422. 37 Ibid., S. 426. 38 Vgl. zu diesem Terminus: Rudolf W. Meyer: »Zum Begriff der spekulativen Physik bei Schelling«, in: Reinhard Heckmann u. a. (Hrsg.), Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, S. 129–155. 39 Vgl. dazu: Hans Poser: »Spekulative Physik und Erfahrung. Zum Verhältnis von Experiment und Theorie in Schellings Naturphilosophie«, in: Schelling. Seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und Geschichte (problemata; 91), Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, S. 129–138.
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
dem ein Unwetter die Ernte verhagelt, Überschwemmungen, Fluten, Erdbeben, Kälte und Frost.⁴⁰ Das Gesicht der Natur, wie Fichte es sieht, ist nicht das der freundlichen Mutter, in deren Schoß er gern zurückkehren möchte. Eine Stelle aus dem Geschloßnen Handelsstaat (1800) mag das verdeutlichen: »Wenn nicht entweder«, schreibt Fichte dort, »die Kräfte unsrer eignen Natur sich ins ungeheure vermehren, oder wenn nicht die Natur ausser uns sich ohne unser Zuthun durch ein plötzliches Wunder umwandelt, und ihre eignen bisher bekannten Gesetze vernichtet, so haben wir jenen Wohlstand nicht von ihr, wir haben ihn lediglich von uns selbst zu erwarten; wir müssen ihn durch Arbeit erwerben.«⁵ Schelling gehörte nicht nur einer anderen Generation an. Seine Herkunft aus einer alten Pastorenfamilie bezeugt seine Verwurzelung in einer bürgerlichen Tradition und in einem gediegenen, über lange Zeit akkumulierten Bildungsgut. Er stand der Natur frei gegenüber, neugierig und sicherlich mit ästhetischen Ansprüchen. Er eignete sich in kurzer Zeit alle wesentlichen Errungenschaften der Naturwissenschaften seiner Zeit an. Und dass er die Natur als bedrohlich empfunden hätte, lässt sich aus seinen Schriften zur Naturphilosophie nicht erkennen. Sein Bild von der Natur favorisiert daher den Naturforscher oder den Künstler als Grundformen des Naturverhältnisses, für Fichte sind es der Ingenieur oder, wie eine späte Schrift zum Messmerismus erkennen lässt, vielleicht der Arzt. Das Bild der Natur hat sich innerhalb kurzer Zeit gewandelt. Dabei gehen beide Denker von ähnlichen Grundvoraussetzungen aus. Der Wandel ist eingebunden in kulturelle Vorgaben, die letztlich nicht nur das Bild von der Natur bestimmen,
40 So sieht es Fichte z. B. in der Bestimmung des Menschen, GA I, 6, S. 267 ff.: »Noch erringet mit Mühe unser Geschlecht seinen Unterhalt und seine Fortdauer von der widerstrebenden Natur […] Noch ereignet es sich oft, daß, wenn nun der Arbeiter vollendet hat, und für seine Mühe sich seine und seiner Mühe Fortdauer verspricht, eine feindseelige Witterung in einem Augenblick zerstört, was er Jahrelang langsam und wohlbedächtig vorbereitete, und den fleißigen und sorgfältigen Mann, unverschuldet, dem Hunger und dem Elende Preis giebt; […] Alle jene Ausbrüche der rohen Gewalt, vor welchen die menschliche Macht in Nichts verschwindet, jene verwüstenden Orkane, jene Erdbeben, jene Vulkane können nichts anderes seyn, denn das letzte Sträuben der wilden Masse gegen den gesetzmäßig fortschreitenden, belebenden und zweckmäßigen Gang, zu welchem sie ihrem eigenen Triebe zuwider gezwungen wird – nichts, denn die letzten erschütternden Streiche der sich erst vollendenden Ausbildung unsers Erdballes. […] Die Natur muß allmählich in die Lage eintreten, daß sich auf ihren gleichmäßigen Schritt sicher rechnen und zählen lasse, und daß ihre Kraft unverrückt ein bestimmtes Verhältniß mit der Macht halte, die bestimmt ist, sie zu beherrschen, – mit der menschlichen. […] Angebaute Länder sollen den trägen und feindseeligen Dunstkreis der ewigen Wälder, der Wüsteneien, der Sümpfe beleben und mildern; geordneter und mannigfaltiger Anbau soll rund um sich her neuen Lebens= und Befruchtungs=Trieb in die Lüfte verbreiten, und die Sonne soll ihre belebendsten Strahlen in diejenige Atmosphäre ausströmen, in welcher ein gesundes, arbeitsames und kunstreiches Volk athmet.« – Unnachahmlich spießt bereits Hegel diese Textstelle auf: Für ihn zeigt sie paradigmatisch, wie dem endlichen Subjekt gegenüber eine vernunftlose Sinnenwelt (Natur) auftritt, deren Bedeutung nur in der gesollten Vernichtung besteht: Hegel, Glauben und Wissen, Hegel GW, 4, S. 406.
5.3. Schellings Freiheitsschrift
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sondern auch die philosophischen Grundlagen und Zielrichtungen erreichen, dies alles jedoch in einer engen Spanne gedanklicher Nähe, die vor allem durch die Herkunft, Fortsetzung und Abwendung von der Kantischen Philosophie geprägt ist. Naturkonzepte, wie wohl die Philosophie überhaupt, erweisen sich als kulturell determinierte gedankliche Gebilde, ohne sich jedoch in ihnen zu erschöpfen.⁴¹ Beide hier vorgestellten Formen lassen sich, wenn auch differenzierter, noch heute finden – neben anderen, die ein gewandeltes Naturverständnis repräsentieren. Trotzdem oder gerade deswegen besitzt die philosophische Rekonstruktion dieser Positionen ihre eigene Relevanz: – weil sie, trotz aller Differenzen, zum gewachsenen kulturellen Umfeld unseres Naturverständnisses gehören. Gegenwärtige Probleme indes, etwa die der Naturausbeutung oder des Naturschutzes, dürften sich weder mit Fichte noch mit Schelling denkerisch angehen lassen. Die Philosophie Schellings hält für eine kohärente Interpretation zahlreiche Schwierigkeiten und Fallstricke bereit. Das liegt an der ungeheuren Produktivität vor allem des jungen Schelling und an dessen wechselnden Positionen, Anfängen und Neuanfängen. Hinzu kommen zahlreiche Beteuerungen Schellings, er habe seine Philosophie im Grunde nicht verändert, was er vorlege, sei nur ein weiterer Teil seines Systems oder dessen Vertiefung. Konterkariert werden diese Selbsteinschätzungen durch Korrekturbekenntnisse und Absagen an früher geteilte Positionen. Liest man Schelling von seinen Anfängen her, erscheint die Entwicklung dagegen sprunghaft und gebrochen. Trotzdem gibt tatsächlich Übergänge und kohärente Gedankengänge, die überraschende Durchblicke durch sein Denken liefern. Dazu zählt sicher die subkutane Verbindung der Naturphilosophie mit der Freiheitsschrift.
5.3 Schellings Freiheitsschrift Betrachtet man den philosophischen Weg Schellings bis zur Freiheitsschrift ohne Rücksicht auf die spätere Entwicklung, also gleichsam genetisch oder wie aus der Perspektive eines Zeitgenossen, so dürfte man zu dem überraschenden Ergebnis gelangen, dass die hier von Schelling selbst als neuer Entwurf apostrophierte Theorie eigentlich nicht zu erwarten war. Mit der Freiheitsschrift macht Schelling eine überraschende Wende öffentlich, die er selbst nicht als Wende oder gar als Kehre deutet, sondern als grundlegenden Neuansatz seines – immer schon angestrebten – Systems. Schelling selbst suggeriert die Ansicht, er habe sich vom Idealismus distanziert. Er bemängelt, der Idealismus in seiner avanciertesten Gestalt – Fichte – sei bloß 41 Die Differenz zugunsten der transzendentalen Konstitutionstheorie entscheiden möchte: Reinhard Lauth: »Der Unterschied zwischen der Naturphilosophie der Wissenschaftslehre und der Schellings von zwei charakteristischen Ansatzpunkten der letzteren aus erläutert«, in: Reinhard Heckmann u. a. (Hrsg.), Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, S. 211–228.
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
abstrakt und verfehle den realen und lebendigen Begriff.⁴² Allerdings gibt es auch Bemerkungen, aus denen hervorgeht, dass Schelling den Idealismus lediglich für einseitig und daher ergänzungsbedürftig hält. Das entspräche ganz jener Programmatik, die bereits Fichte ins Spiel brachte, als er von einem Subjekt-Objektivismus sprach, der in Schellings Ideal-Realismus schließlich seine Fortsetzung finden sollte.⁴³ Freilich täte man Schelling unrecht, diesen erneuten Systemwechsel als Mangel aufzufassen, wie es Hegel tat, der einmal so oberlehrerhaft wie treffend witzelte, Schelling habe seine Ausbildung vor dem Publikum gemacht. Oder Heinrich Heine, der befand: Ein vollständiges System »findet sich in keinem von Herrn Schellings Büchern. […]. Man muß vielmehr seine Bücher chronologisch lesen, die allmähliche Ausbildung seines Gedankens darin verfolgen und sich dann an seiner Grundidee festhalten. Ja, es scheint mir auch nötig, daß man bei ihm nicht selten unterscheide, wo der Gedanke aufhört und die Poesie anfängt. Denn Herr Schelling ist eines von jenen Geschöpfen, denen die Natur mehr Neigung zur Poesie als poetische Potenz verliehen hat […].«⁴⁴ Freilich macht es wenig Sinn, die Diskontinuität und Sprunghaftigkeit der philosophischen Entwicklung bei Schelling gegen eine Kontinuität des Denkens auszuspielen: Welchen Maßstab wollte man dafür anlegen? Und man muss nicht zartfühlend mit einem Autor umgehen, wenn man die Stärken eines Denkens erkennen will, das zwar den Grund anstrebt, aber zielsicher verfehlt. Wäre dies ein Kriterium, so müsste man manche Theorie verbannen, von deren Bedeutsamkeit man überzeugt ist. Andererseits fällt es nicht schwer, den Weg Schellings als einen Weg in die Tiefe zu begreifen. Diese Spur legt Schelling selbst, und wir wissen heute, dass die Freiheitsschrift auf diesem Weg nur eine Station war.⁴⁵ Das Problem, von dem Schelling ausgeht, lässt sich in doppelter Weise exponieren: Einerseits geht es ihm 42 F. W. J. Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände SW I, 7, S. 352 – Vgl.: Christoph Binkelmann: „Derivierte Absolutheit. Die Bedeutung des transzendentalen Idealismus Fichtes für Schellings Freiheitsschrift“, in: Schelling-Studien 3 (2015), S. 115–131 43 »Idealismus ist Seele der Philosophie; Realismus der Leib; nur beide zusammen machen ein lebendiges Ganzes aus.« (F. W. J. Schelling: Freiheitsschrift,, SW, I, 7, S. 356.) 44 Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. (Bd. 5) Berlin/Weimar ²1972, S. 295 f. 45 Vgl. zum frühen Schelling: Wolfgang Bartuschat: »Über Spinozismus und die menschliche Freiheit beim frühen Schelling«, in: Hans-Martin Pawlowski u. a. (Hrsg.), Die praktische Philosophie Schellings und die gegenwärtige Rechtsphilosophie. (Spekulation und Erfahrung: Abt. 2, Untersuchungen; 13) Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, S. 153–176. – Zur Entwicklung: Thomas Buchheim: »Das Prinzip des Grundes und Schellings Weg zur Freiheitsschrift«, in: Hans Michael Baumgartner und Wilhelm G. Jacobs (Hrsg.), Schellings Weg zur Freiheitsschrift. Legende und Wirklichkeit (Schellingiana; 5), StuttgartBad Cannstatt 1996, S. 223–239; Walter E. Ehrhardt, »›Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes‹ – ein Rückweg zur ›Freiheitsschrift‹?«, in: Hans Michael Baumgartner und Wilhelm G. Jacobs (Hrsg.), Schellings Weg zur Freiheitsschrift. Legende und Wirklichkeit (Schellingiana; 5), Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 240–251; Dale E. Snow: »The Evolution of Schelling’s Concept of Freedom«, in: Christoph Asmuth u. a. (Hrsg.), Schelling, S. 317–332.
5.3. Schellings Freiheitsschrift
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nach wie vor um die Entwicklung des Systemgedankens; andererseits strebt er nach einer Vertiefung der ethisch-praktischen Dimension seiner Philosophie. Beide Problemkomplexe entsprechen einer Dynamik der Philosophie nach Kant. Es handelt sich um drei, hier nur summarisch anzugebende, allerdings die innere Systemgenerierung betreffende Überlegungen, die miteinander verzahnt sind. Die Auseinandersetzung mit Fichte bis etwa 1806, die Kritik Eschenmayers in dessen Schrift Die Philosophie in ihrem Uebergange zur Nichtphilosophie (1803), auf die Schelling schon in Philosophie und Religion (1804) eingegangen war, und schließlich die unverhohlene Kritik Hegels in der Phänomenologie des Geistes (1807). Hier wollte und musste Schelling eine Standortbestimmung vornehmen. Die Freiheitsschrift zeigt auf der einen Seite das ungebrochene Interesse Schellings an der Systembildung, unter der er letztlich eine Prävalenz der Einheit vor der Differenz, die Dominanz der Kohärenz vor der Pluralität verstand, auf der anderen Seite aber die Tendenz, die ethisch-praktische Ausrichtung seiner Philosophie zu vertiefen und zu begründen, womit letztlich die Anerkennung eines in sich differenten Prinzips verbunden ist. Seit den Arbeiten von Siegbert Peetz Anfang der neunziger Jahre scheint sich dieser Befund klar in die Entwicklung Schellings einzuordnen.⁴⁶ Damit gehört Schellings Freiheitsschrift in den beginnenden Diskurs der Moderne, den Diskurs über Einheit und Vielheit des Wissens und die Diversifizierung der Wissenschaften, zugleich verstanden als Prozess einer zunehmenden Differenzierung und Pluralisierung. Mit Fichtes Wissenschaftslehre und Hegels Phänomenologie lagen bereits zwei profilierte Entwürfe vor, wie angesichts zunehmender Diversifizierung trotzdem Einheit zu denken sei, Einheit des Wissens und Einheit der Welt.⁴⁷ Holzschnittartig vorgestellt lassen sich die beiden Antworten so aufeinander beziehen und einander entgegenstellen: Für beide Lösungsmöglichkeiten gilt, dass sie aus einer prinzipiellen Differenz eine dynamische Konstruktion der Philosophie gewinnen wollen. Bei Fichte ist dies das Reflexionsmodell, das zwar unter einer Prävalenz der Einheit steht, indes aber nur gedacht werden kann unter Voraussetzung prinzipieller Zweiheit. In vielfältigen Varianten spielt Fichte diese Idee durch, die zugleich eine Idee endlicher Selbstbezüglichkeit ist. Prinzipielle Dualität stellt sich unter einem Primat von Einheit dar – und ist überhaupt nur unter einem Primat von Einheit darstellbar. In einer komplexen Dialektik von Vollzug und Darstellung, von Tun
46 Siegbert Peetz: Die Freiheit im Wissen: eine Untersuchung zu Schellings Konzept der Rationalität (Philosophische Abhandlungen; 64), Frankfurt a. M. 1995. 47 Vgl. Masakatsu Fujita, »Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ in Schellings ›Freiheitsschrift‹«, in: Juichi Matsuyama und Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Natur, Kunst und Geschichte der Freiheit. Studien zur Philosophie F. W. J. Schellings in Japan, Frankfurt a. M. 2000, S. 115–126; Lore Hühn: Fichte und Schelling oder: Über die Grenze menschlichen Wissens, Stuttgart 1994; Sven Jürgensen: Freiheit in den Systemen Hegels und Schellings (Epistema: Reihe Philosophie; 158), Würzburg 1997; Theodor I. Oiserman, »Zur Frage der Differenz der Freiheitsphilosophie Schellings und der Freiheitslehren Kants und Fichtes«, in: Hans Michael Baumgartner und Wilhelm G. Jacobs (Hrsg.), Schellings Weg zur Freiheitsschrift. Legende und Wirklichkeit (Schellingiana; 5), Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 305–312.
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
und Sagen, entwickelt Fichte ein Modell des Wissens als Generierung von Perspektiven, ein Modell, das sich letztlich selbst als Perspektive erweist. Diese philosophische Konstruktion ist dynamisch, weil die prinzipielle Zweiheit nicht aufgelöst werden kann, die philosophische Konstruktion ist System, weil sie unter dem Primat der Einheit steht. Ähnlich liegt der Fall bei Hegel: In der Phänomenologie des Geistes feiert er seine Entdeckung der Negativität mit emphatischen Worten. Die Selbstentzweiung des Begriffs, der sich von sich unterscheidet, um sich mit sich zusammenzuschließen, jenes Gegeneinander von Verstand und Vernunft, das Versöhnung nur begreifen kann im Durchgang durch den Schmerz des Negativen, jene Arbeit des Begriffs, dessen Durchdringung der Wirklichkeit zugleich Selbstdurchdringung des Begriffs ist, ist ebenfalls ein Modell, dessen Dynamik aus dem Zusammenspiel von Unterschied und Ununterschiedenheit und im Wechselspiel beider miteinander seine argumentative Kraft gewinnt. Die Eingangspassagen der Freiheitsschrift zeigen nachdrücklich, dass auch Schelling eine besondere Form der Negativität zu entwickeln beabsichtigt. Bereits in Philosophie und Religion zeigt sich klar, dass ein negatives und unterscheidendes Moment bereits auf der Ebene der Prinzipien angesetzt werden muss, wenn anders denn Schelling über eine bloß deskriptive, argumentativ harmlose Anerkennung des Kontingenten hinausgehen will. Tatsächlich deutet bereits der Begriff der Indifferenz in der Darstellung meines Systems von 1802 deutlich darauf hin, dass Schelling sich ganz darüber im Klaren ist, dass ohne Integration des Negativen bereits auf der Prinzipienebene ein System der Philosophie nicht möglich ist, ein Begriff der Indifferenz, der auch in der Freiheitsschrift eine gewichtige Rolle spielt.⁴⁸ (VII, 406) Damit kann man den Befund bereits relativ früh ansetzen, dass Schelling Abschied nimmt von einer harmonistischen Identitätsphilosophie. Allerdings verkennt er vollkommen, dass er mit der Indifferenz, der Ununterschiedenheit, bereits ein wichtiges argumentatives Element mit systembildender Dynamik in Händen hält. Zumindest macht er keinen Gebrauch davon. Das Interesse Schellings, das er in der Freiheitsschrift auf den Grund und dessen negative Implikate richtet, zeigt, dass für Schelling der Diskurs über das Verhältnis von Unterschied und Ununterschiedenheit noch nicht abgeschlossen ist. Fichte und Hegel konnten seiner Auffassung nach keineswegs zeigen, wie Negativität möglich ist, geschweige denn, wie deren systembildende Kraft ineins: entfesselt und gebannt werden kann. Allerdings kommt es bei Schelling weder in der Freiheitsschrift noch auch später zu einer Klärung der fundamentalen Optionen, entweder die Aufgabe des Systemgedankens samt der diesem innewohnenden harmonistischen Tendenzen oder Anerkenntnis des Negativen im Gewand konstitutiver Vielheit. Aber auch in der zweiten Hinsicht, namentlich die Gewinnung einer ethischpraktischen Position, steht Schelling unter Zugzwang. Fichte hatte den Primat des Praktischen zur einzigen Systemoption gemacht. Sein System, schrieb Fichte bekanntlich an Reinhold, und Schelling formuliert das in der Freiheitsschrift nahezu mit den gleichen Worten, sein System sei von Anfang bis Ende eine Analyse des Begriffs der Freiheit.⁴⁹ Ähnlich stellt sich die Situation bei Hegel dar, für den be48 F. W. J. Schelling: Freiheitsschrift,, SW, I, 7, S. 356 49 Vgl. J. G. Fichte, GA III, 4, S. 182.
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kanntlich Freiheit nichts anderes ist als das Bei-sich-selbst-Sein im Anderen. Freiheit ist insofern nichts anderes als Negativität.⁵⁰ Der Unterschied zwischen beiden Ansätzen besteht darin, dass Fichte im Gegensatz zu Hegel die Differenz zwischen dem Sollen und dem Begriff des Sollens, zwischen Prozess und Deskription, im Prozess aufheben will und dieses Aufheben selbst zum Gegenstand des Sollens macht. Hegel indes insistiert auf die analytische Kraft der begrifflichen Konstruktion und hält insofern am Begriff der Freiheit und dessen Systemcharakter fest. Für ihn, Hegel, bleibt die Position Fichtes dem Horizont des Endlichen verhaftet. Gehen wir der Sache auf den Grund: Grund und Tiefe Es ist genau dieser Diskurs, an den Schelling am Beginn der Freiheitsschrift anknüpft.⁵¹ Seine Grundfrage lautet: Wie ist ein System möglich, das durch ein Prinzip realer konkreter Freiheit bestimmt ist? Wie ist ein solches System möglich, in dem der Grund der Negativität zugleich Grund der Freiheit ist? Schellings Lösungsweg zeigt sich als Kritik an Fichte und, unter dem Etikett des Idealismus, als Kritik an Hegel. Dabei kann Schelling nicht verleugnen, dass es sich in erster Linie und zugleich um Selbstkritik seines eigenen philosophischen Wegs handelt. Jene Unfähigkeit, reale Freiheit in einem System zu denken, ist der Schatten seines eigenen Verständnisses von einer idealistischen Philosophie. Das Verständnis für die Philosophie Fichtes, das in der Freiheitsschrift auftritt, ist charakteristisch verzerrt. Die Anspielung auf das Ich, das eines jeden Ich sei und die höchste Substanz, bezieht sich weniger auf Fichte als auf Schellings eigenen Ansatz, etwa in Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen ( 1795). Schelling orientiert sich in der Freiheitsschrift nach wie vor an der Darstellungsform des Systems, wobei System bei ihm in klarer Anspielung auf Spinoza vornehmlich mit dem Pantheismus in eins gesetzt wird.⁵² Dieses Etikett sollte nicht verwirren. Schelling bezieht sich damit unmittelbar auf die zeitgenössische Diskussion. Insbesondere Jacobi und vermittelst seiner: Lessing und Moses Mendelssohn, später Fichte und Schelling selbst diskutierten ihre eigenen Positionen vor dem Hintergrund der Ethica Spinozas. In Rede steht jedenfalls die Vorstellung, dass die einzelnen Elemente des Erkennens und Handelns miteinander in ein kohärentes 50 Vgl. Christoph Binkelmann: Theorie der praktischen Freiheit. Fichte – Hegel. Berlin 2007. 51 Zur Freiheitsschrift grundlegend: Otfried Höffe, (Hrsg.): F. W. J. Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit (Klassiker auslegen; 3), Berlin 1995; Siegbert Peetz: Die Freiheit im Wissen: eine Untersuchung zu Schellings Konzept der Rationalität (Philosophische Abhandlungen; 64), Frankfurt a. M. 1995; Bernhard Rang: Identität und Indifferenz: eine Untersuchung zu Schellings Identitätsphilosophie (Philosophische Abhandlungen; 78), Frankfurt a. M. 2000. 52 Vgl. Damir Barbarić: »Das reale Prinzip in der ›Freiheitsschrift‹ und in der Weltalterphilosophie. Zu Schellings Auseinandersetzung mit dem Problem des metaphysischen Dualismus«, in: Hans Michael Baumgartner und Wilhelm G. Jacobs (Hrsg.), Schellings Weg zur Freiheitsschrift. Legende und Wirklichkeit. (Schellingiana; 5) Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 272–278; Sabine Doyé: Die menschliche Freiheit und das Problem des absoluten Vernunftsystems. Zur Entwicklung des Schellingschen Systems, Köln 1972.
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
Gefüge integriert werden können müssen, vor allem dann, wenn ideale Methode und reale Sachhaltigkeit ununterscheidbar zusammenfallen sollen.⁵³ Schelling kennt zwei Formen, wie sich das Eine und die Vielheit der Dinge zueinander verhalten können, um ein System zu bilden. Zunächst und erstens: Alles ist im Einen, dann besteht Freiheit in der Einheit mit dem Einen. Dies ist der Weg der Mystik. Die Freiheitsschrift erklärt sich nicht darüber, warum dieser Weg abgeschnitten ist. Allerdings gibt es Andeutungen. Es scheint, dass Schelling die reale Möglichkeit individueller Freiheit in den mystischen Konzeptionen vermisst. Die später folgende Frage nach dem Bösen lässt sich in der Mystik nicht beantworten, ja, noch nicht einmal stellen. Die Mystik beschreite jenen Weg, »den Menschen mit seiner Freiheit, da sie im Gegensatz der Allmacht undenkbar ist, in das göttliche Wesen selbst zu retten, zu sagen, dass der Mensch nicht außer Gott, sondern in Gott sei, und dass seine Tätigkeit selbst mit zum Leben Gottes gehöre.«⁵⁴ Ferner und zweitens: Das Eine ist identisch mit Allem, eine Theorie, die Schelling Spinoza zuspricht und deren Missverständnisse Schelling an den drei Arten der Kopula: Existenz, Identifikation, Prädikation, diskutiert. Im Gegensatz zur ersten Form, die Vielheit in der Einheit aufzuheben, geht es bei der zweiten Form um die Restitution der Differenz. Die Dominanz der Identität soll hier als gebrochen erwiesen werden. Zwar gibt Schelling zu, dass erst der Idealismus den eigentlichen Begriff der Freiheit entwickelt habe; aber er ist unzufrieden mit der systematischen Durchdringung des idealistischen Freiheitsbegriffs. Die Formel Schellings lautet: der Idealismus habe die Freiheit zum einzig Realen gemacht. Nun komme es darauf an, dass umgekehrt allem Wirklichen Freiheit zugrunde liege.⁵⁵ Schelling entscheidet sich keineswegs zur Rückkehr zur alten Ontologie; es heißt: »Wollen ist Urseyn« – nicht aber: Ursein ist wollen. Gott will nicht, weil er ist, sondern er ist, weil er will. Der Gedanke des Idealismus lautet: Freiheit sei der einzig mögliche positive Begriff des An-sich. Schelling kritisiert ihn, weil er abstrakt ist. »Der Idealismus gibt 53 »Das einzig mögliche System der Vernunft sey Pantheismus, dieser aber unvermeidlich Fatalismus.« (F. W. J. Schelling: SW I, 7, S. 338). 54 Ibid., S. 339 – Offen bleibt die Frage, inwieweit Schelling sich in der Freiheitsschrift und seinem Mystikbegriff an Meister Eckhart hätte orientieren können. So weiß man, dass Hegel durch Baader aufmerksam gemacht wurde auf den »Mystiker« Meister Eckhart. Nicht ohne Stolz berichtet Baader von seinem Berlinaufenthalt 1823/24: »Ich war mit Hegel in Berlin sehr häufig zusammen. Einstens las ich ihm nun auch aus Meister Eckhart vor, den er nur dem Namen nach kannte. Er war so begeistert, dass er am folgenden Tag eine ganze Vorlesung über Eckhart vor mir hielt und am Ende noch sagte: da haben wir es ja, was wir wollen.« Baader, Franz von: Sämmtliche Werke. Hoffmann, Franz (Hrsg.) Leipzig 1851–60, Bd. 15=Hauptabth. 2, Bd. 5, S. 159. Dass sich Schelling in der Freiheitsschrift positiv auf Baader bezieht, ist offenkundig. Außerdem fallen zahlreiche Begriffe, die einen Bezug zu Eckhart herstellen können: Geburt, Gelassenheit, Eigenwille, Selbstheit, Lauterkeit usw. Natürlich tradieren auch andere Traditionslinien vor allem neuplatonischer Provenienz die genannten Ausdrücke, so dass ein Bezug zu Eckhart keinesfalls zwingend ist. – Vgl.: Andrés Quero Sánchez: »Schellings neuzeitliche Repristination der ›mystischen‹ Vernunft – als Kritik an der ›modernen‹ Ansicht«, in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 17 (2014), S. 166–220. 55 Ibid. S. 351 f.
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nämlich einerseits nur den allgemeinsten, andererseits den bloß formellen Begriff der Freiheit.«⁵⁶ Schelling hingegen geht es um den realen und lebendigen Begriff der Freiheit, der ein Vermögen sei des Guten und des Bösen.⁵⁷ Was für den frühen Schelling kaum thematisch war, erhält in der Freiheitsschrift große Bedeutung, nämlich der Begriff des Bösen.⁵⁸ Hier kann man durchaus von mehr als nur einer Akzentverschiebung sprechen. Bis in die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts hinein dominierte bei Schelling ein Begriff der Vollkommenheit, ein Begriff der Harmonie, der durchaus auf antike Wurzeln zurückverweist. Zwar gibt es einen Begriff der Materie, des Regellosen, das erst durch einen Schöpfungs- und Schaffensprozess in Ordnung und Harmonie übergeht, aber die Spuren des Chaos werden bedeutungslos. Entsprechend hätte man hier erwartet, dass Schelling nun den Begriff des Guten, Schönen, Vollkommenen in das Zentrum der Erörterung stellt. Das ist bekanntlich nicht der Fall. Schellings Interesse kreist nun um das Böse. Das erscheint mir weniger eine Wiederkehr der Theodizee-Problematik zu sein,⁵⁹ denn Schelling erörtert nicht nur die Frage, wie ein an sich guter Gott das Böse zulassen kann, sondern verknüpft die Frage nach dem Bösen mit der metaphysischen Frage nach dem Grund der Welt, der Schöpfung, des Systems. Das ist die Frage nach dem Bösen als dessen Realprinzip.
56 Ibid. S. 352. 57 Es liegt nahe, diese Konzeption bei Schelling in unmittelbare Nähe zu rücken zum Naturrechtsaufsatz Hegels, der die These vertritt: »Es ist die Ansicht der Freyheit völlig zu verwerfen, nach welcher sie eine Wahl seyn soll zwischen entgegengesetzten Bestimmtheiten, so daß, wenn +A und -A vorlägen, sie darin bestünde, entweder als +A oder als -A sich zu bestimmen, und an dies entweder oder schlechthin gebunden wäre. So etwas wie diese Möglichkeit der Wahl ist schlechthin eine empirische Freyheit, welche eins ist mit der empirischen gemeinen Nothwendigkeit, und schlechthin nicht von ihr trennbar.« (Vgl. G. W. F. Hegel: Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältniss zu den positiven Rechtswissenschaften, Hegel GW, 4, S. 446) 58 Vgl. Hans-Ulrich Baumgarten: »Das Böse bei Schelling. Schellings moralphilosophische Überlegungen im Ausgang von Kant«, in: Kant-Studien 91 (2000), S. 447–460; Renate Breuninger, »Das Böse in der Philosophie Schellings«, in: dies; Peter Welsen (Hrsg.): Religion und Rationalität, Würzburg 2000 S. 69–83; Thomas Buchheim: »Schelling und die metaphysische Zelebration des Bösen«, in: Philosophisches Jahrb. 107 (2000), S. 47–61; Friedrich Hermanni: Das Böse und die Theodizee. Eine philosophischtheologische Grundlegung, Gütersloh 2002; Christian Iber: »Die Theodizeeproblematik in Schellings Freiheitsschrift«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 48 (2001), S. 146–164; Bernd Irlenborn, »›Das Böse ist das Gute‹. Die Depotenzierung des Bösen in Schellings ›Freiheitsschrift‹ vor dem Hintergrund der abendländischen Privationslehre«, in: Archiv f. Begriffsgeschichte 42 (2000), S. 155–179; Wilhelm G. Jacobs: »Vom Ursprung des Bösen zum Wesen der menschlichen Freiheit oder Transzendentalphilosophie und Metaphysik«, in: Hans Michael Baumgartner und Wilhelm G. Jacobs (Hrsg.), Schellings Weg zur Freiheitsschrift. Legende und Wirklichkeit. (Schellingiana; 5) Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 11–27. 59 Vgl. Christian Iber: »Die Theodizeeproblematik in Schellings Freiheitsschrift«, in: Freiburger Zschr. f. Philos. u. Theologie 48 (2001), 146–164.
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Um es vorweg zu sagen: die Antwort Schellings ist zunächst nicht besonders originell. Prinzip des Bösen ist der individuelle Eigenwille, die Trennung und Losreißung vom göttlichen Willen, das Verlassen der Einheit mit dem Einen; das Böse ist »Verkehrung oder Umkehrung der Prinzipien«, menschliche Hybris, luziferisches Prinzip des gefallenen Engels, Sündenfall. (Freiheitsschrift, SW I, 7, 366) Diese und ähnliche Vorstellungen von Existenz und Wirken des Bösen finden sich zahlreich in der Geschichte der Theologie und der Religion wie der Philosophie. Tatsächlich schließt sich Schelling mit dieser Theorie nicht nur an spätantike Vorstellungen an, sondern tradiert gleichzeitig Überlegungen aus Mystik und Theosophie. Zu den vielfältigen Querverweisen kommt eine antikisierende, metaphernreiche Sprache, die poetische Ader Schellings sowie ein unterschwelliger Diskurs zur Philosophie Platons. Dies hat dazu geführt, dass sich die Forschung auf diese Aspekte besonders gestürzt hat. Man muss diese historischen Analysen nicht für falsch halten, um den Akzent doch anders zu legen. Ich glaube nämlich, dass die Verankerung Schellings im Kontext neuplatonischer⁶⁰ oder mystischer Traditionen⁶¹ schnell den Blick verstellt für die Tatsache, dass Schelling dennoch in der Diskussion des beginnenden 19. Jahrhunderts anzusiedeln ist und daher ein ganz spezifisches Verhältnis zur Moderne ausdrückt. So mag man seine Philosophie immerhin als Kritik am Autonomieprinzip deuten; – neu oder originell wäre das im Jahr 1809 nicht. Bedeutsam scheint mir indes, dass Schelling nicht gewillt ist, das Böse mit der Irrationalität zu konfundieren und damit zu depotenzieren. Es ist Schellings Bestreben, das Böse in seiner Wesentlichkeit zu zeigen. Es soll nicht nur in einer Privation bestehen. Das Böse sei keinesfalls mit dem nur weniger Guten zu verwechseln: Dies ergäbe nämlich keinen realen Begriff des Bösen, sondern nur ein Böses für Menschen, die »dem Himmel nicht, wie sich gebührte, die Hölle, sondern die Erde entgegensetzen.«⁶² Und hierin liegt der eigentlich spannende Aspekt der Antwort Schellings. Das Böse liegt nicht im Anderen der Vernunft, sei dies auch die Sinnlichkeit, sondern in der Rationalität selbst, im »Geist«. Der Grund des Bösen liegt »in dem höchsten Positiven«, in der Geistigkeit des Menschen, die sich in ihrer Partikularität den Universalwillen angeeignet hat. Darin liegt zugleich die enorme Hellsichtigkeit Schellings und seine Aktualität, komme sie auch im Gewand tief verankerter Traditionen daher: Das Böse der Moderne liegt in der Rationalität, nicht in der geistlosen Natur, nicht in der Irrationalität. Damit ist das Böse gerade nicht im Extraordinären zu suchen, sondern in dessen rationaler Banalität. Die Überlegung, ein bloß indirektes Prinzip des Bösen in Gott anzunehmen, leitet die Frage nach dem Grund und regiert damit zugleich die Aufgabe einer Durchdringung des Grundes. Bekanntlich greift Schelling auf ein Theorem zurück, das er zuvor in der Naturphilosophie entwickelt hat: die Unterscheidung »zwischen dem Wesen, sofern es existirt, und dem Wesen, sofern es bloß Grund
60 Z. B. Plotin, F. W. J. Schelling: Freiheitsschrift, SW I, 7, S. 355. 61 Z. B. Mystik, F. W. J. Schelling: SW I, 7, S. 339. 62 F. W. J. Schelling: Freiheitsschrift, SW I, 7, S. 371.
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von Existenz ist.«⁶³ Zu beachten ist hier, dass Schelling eine Differenzstruktur im göttlichen Grund konstatiert. Der Grund von Existenz und die Existenz selbst des göttlichen Wesens sind unterschieden, allerdings korrelational aufeinander bezogen und keinesfalls als zeitliches Grund-Folge-Verhältnis aufzufassen. Schelling sagte: »Es ist hier kein Erstes und kein Letztes, weil alles sich gegenseitig voraussetzt, keins das andere und doch nicht ohne das andere ist. Gott hat sicher einen innern Grund seiner Existenz, der insofern ihm als existirendem vorangeht; aber ebenso ist Gott wieder das Prius des Grundes, indem der Grund, auch als solcher, nicht seyn könnte, wenn Gott nicht actu existirte.«⁶⁴ Ferner ist zu bemerken, dass in beiden hier vorkommenden Formulierungen der »Grund der Existenz« mit einem einschränkenden »bloß« oder »nur« belegt wird. »Nur« Grund von Existenz zu sein, heißt noch nicht zu existieren. Es ergibt sich also im Grund eine selbstbezügliche Struktur, in der die Noch-nicht-Existenz und die Existenz einander wechselseitig bedingen. Es liege nahe, hier auf ein Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit zu denken, von dynamis und energeia, allerdings in einer ontologisierten Tiefenstruktur, die dem aristotelischen Denken fremd ist: Das »dynamische« Prinzip nennt Schelling die »Natur in Gott«. Die interessante Wendung, die Schelling hier vollzieht, besteht in der Überlegung, dass jener Grund der Existenz prinzipiell dunkel ist. Zwar finden sich in der Freiheitsschrift immer wieder Bemerkungen, die diese Grundüberlegung abschwächen und kompatibel machen sollen mit einer durchgängig auf die Vernunft setzenden Philosophie. Das kann indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der Grund der Existenz dem denkenden Zugriff entzieht. Der Verlust des Grundes besteht nicht in der Einsicht, dass kein Grund existiert, sondern dass er a-logisch ist. Er ist das, was »in Gott selbst, nicht Er Selbst ist«.⁶⁵ Schelling bezeichnet ihn als »Sehnsucht, die das ewige Eine empfindet, sich selbst zu gebären«, also unbewussten ahnenden Willen, als das anfängliche Regellose, als Dunkelheit und Finsternis, als tiefe Nacht.⁶⁶ Da die existentielle Bedeutsamkeit des Bösen nicht auf ein abgetrenntes Prinzip zurückgeführt werden darf, das neben Gott eigenständig ist, muss es einen Grund in Gott haben, der aber in Gott nicht böse ist. Die Differenz muss auf ein Prinzip zurückgeführt werden, das selbst Differenz ist, in Gott aber Einheit. Diese Überlegung versetzt den Grund in die Tiefe. In Gott ist ein Grund, der Grund seiner Existenz ist, der unter dem Aspekt des Noch-nicht-Gott-Seins völlige Dunkelheit und bloßer Wille ist. Hier ist nicht Entzug, sondern Entzogenheit. Schellings Rede vom Grund erweist sich dabei als ambivalent, denn er spricht von der Grundlage wie von der Begründung. Grund ist einerseits Grund und Boden, das Fundament, auf dem das göttliche Lichtwesen sich entwickelt. In diesem Sinne ist der Grund keineswegs Ursache,⁶⁷ eine Bemerkung, die wichtig 63 F. W. J. Schelling: Freiheitsschrift, SW I, 7, S. 357 – Schelling verweist selbst auf die Darstellung meines Systems der Philosophie. 64 F. W. J. Schelling: I, 7, S. 302. 65 F. W. J. Schelling: Freiheitsschrift, SW I, 7, S. 359. 66 F. W. J. Schelling: Freiheitsschrift, SW I, 7, S. 359 ff., vgl.: I, 7, S. 375 67 Vgl. dazu bereits Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (G. W. F. Hegel: Werke, XX, 450).
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ist, weil sie zu Überlegungen anregt, inwieweit die grundlegende Selbstbezüglichkeit in Gott überhaupt als causa sui aufzufassen ist. Ebenfalls bedeutsam ist die Differenzierung von Grund und Ursache für die Frage nach der Schöpfung. Andererseits ist der Grund Begründung für die dynamische Prozessualität, die aus der anfänglichen »Natur in Gott« die im Menschen verwirklichte Vernunft entwickelt, ein Prozess, der zugleich Selbstbegründung des Menschen in der Natur ist. Schelling entscheidet sich dabei für ein Begründungsmodell, das anstrebt, in den Grund zurückzugehen. Der Rückgang in den Grund ergründet den Grund und Boden des göttlichen Wesens. Und es erlaubt, die Substantialität des Bösen in den Grund zu projizieren, ohne dass das Böse zum göttlichen Wesen gehörte. Denn erst die Partikularität, die sich im Einzelnen ausdrückt, lässt das substantiell Böse zum Ausdruck kommen. Und hier ist es nicht irrational, sondern im höchsten Sinne vernünftig, weil durch die Vernunft gemacht. Die Rationalität des Bösen ist insofern erkauft durch eine Verdunkelung des Grundes und dessen Vertiefung. »Nihil sine ratione«. Grund und Ungrund Schließlich überschreitet Schelling auch die Vertiefung in den Grund. Der Abstieg in die Tiefe ist dabei zugleich der »höchste Punkt der ganzen Untersuchung«. (VII, 406) Höhe und Tiefe sind dabei dasselbe, der höchste Punkt ist die tiefste Tiefe. Schelling knüpft dabei unmittelbar an die Unterscheidung an zwischen dem Wesen, sofern es Grund ist und insofern es existiert. Während der anfänglichen Grundlegung schien es so, als konstruierte Schelling einen Unterschied ohne Unterschied. Denn das Wesen bleibt ein einheitliches Wesen, mit einem immanenten Unterschied, der keine Trennung zulässt. Diese Idee verdankt sich einer Vorstellung von Einheit, die den Unterschied dominiert, aber nicht eliminiert. Denkbar ist ein solcher Unterschied ohne Unterschied nur im Zusammenhang prinzipienhafter Korrelationalität. In der Tradition gibt es zwei Themenbereiche, in denen solche Formen von Korrelationalität begegnen. Zuerst sind sicher die neuplatonischen inspirierten Trinitätsspekulationen zu nennen, auf die vor allem Augustins mächtiger Erklärungsversuch in De trinitate gewirkt hatte und dessen Ausläufer in der Moderne deutlich, wenn auch meist anonym, spürbar sind.⁶⁸ Damit verbunden, aber argumentativ nicht darin aufgehend, ist ein zweiter Bereich zu nennen: der Bereich der Selbstbezüglichkeit. Neben der schon genannten Schrift Augustins sind hier noch ganz andere Traditionsstränge zu nennen, für Schelling sicherlich bedeutsam die philosophische Entwicklung nach Descartes und deren Aufhebung. Schelling kann das unruhige Prinzipiengefüge aus Grund und Existenz nicht auf sich beruhen lassen. Der unruhige Trieb des Grundes, welcher der reinen Geistigkeit, dem Licht, vorausgesetzt ist, trägt ein Moment der Differenz in das Absolute, welcher das Werden Gottes erklärbar macht. Diese Zurücknahme der Dif68 Vgl. Malte Dominik Krüger: Göttliche Freiheit: die Trinitätslehre in Schellings Spätphilosophie (Religion in philosophy and theology; 31), Tübingen 2008; Peter L. Oesterreich, »›Der umgekehrte Gott‹. Augustinus’ Einfluß auf Schellings Rede vom Bösen«, in: Rainer Adolphi und Jörg Jantzen (Hrsg.), Das antike Denken in der Philosophie Schellings (Schellingiana; 11), Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, S. 483–495.
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ferenz, die schon in der Frage steckt, ob nicht dieses Zugleich von Grund und Existenz im Blick auf ein Eines überboten oder unterboten werden müsse, konterkariert Schellings Ansatz in der Freiheitsschrift. »[…] es muss vor allem Grund und vor allem existierenden, also überhaupt vor aller Dualität, ein Wesen sein; wie können wir es anders nennen als den Urgrund oder vielmehr Ungrund?«⁶⁹ Der Ungrund ist die gewaltsame Vernichtung aller Gegensätze.⁷⁰ Der Ungrund ist absolute Differenzlosigkeit. Ohne Differenz gibt es aber keine Möglichkeit der Prädikation. Schelling nimmt zu einer Theorie Zuflucht, bei der das Eine schlechthin unbenennbar ist. Es ist nur als das Unbenennbare benennbar. Es handelt sich um eine Theorie, die eine negative Totalität ausdrückt, nämlich die völlige Abwesenheit von Gegensätzen. Es handelt sich um die schon erwähnte Indifferenz, von der Schelling nun schreibt: »die Indifferenz ist nicht ein Produkt der Gegensätze, noch sind sie implicite in ihr enthalten, sondern sie ist ein eignes von allem Gegensatz geschiedenes Wesen, an dem alle Gegensätze sich berechnen, das nichts anderes ist als eben das Nichtseyn derselben, und das darum auch kein Prädicat hat als eben das der Prädicatlosigkeit, ohne daß es deßwegen ein Nichts oder ein Unding wäre.«⁷¹ Vom Ungrund kann nicht nur nichts Gegensätzliches ausgesagt werden, es kann gar nichts von ihm ausgesagt werden. Die Schwachstelle einer solchen Theorie wird von Schelling gleich mitbenannt: Es könnte sein, dass es so etwas, das völlig gegensatzlos ist und unbenennbar, gar nicht gibt, dass es nichts wäre oder in sich widersprüchlich, also unmöglich, das heißt notwendig inexistent. Tatsächlich ist diese Schwachstelle fundamental. Die Indifferenz ist per se inexistent, ja, sogar weder existent noch inexistent. Die bloße Behauptung der realen Existenz einer absoluten Indifferenz nützt hier gar nichts. Genauso verhält es sich mit der Beziehung des Ungrundes zu Grund und Existenz, von der Schelling ebenfalls bloß behauptet: »das Wesen des Grundes, wie das des Existirenden, kann nur das vor allem Grunde Vorhergehende seyn, also das schlechthin betrachtete Absolute, der Ungrund.«⁷² Der Rückgang auf die Indifferenz erscheint in der Freiheitsschrift weder notwendig zu sein, noch trägt er etwas zur Theorie der Freiheit bei. Es scheint sich vielmehr um einen Reflex zu handeln, über die Vertiefung der Tiefe hinaus nochmals einen weiteren Schritt hinabzusteigen bis zur Wurzel der Wurzelhaftigkeit. Die Idee der Indifferenz geistert spätestens seit 1802 durch die Theoriebildungen Schellings. Hier überhöht oder, wie man jetzt sagen könnte, ›untertieft‹ sie die bisherige Grundlegung, indem sie einen weiteren Modus von Einheit einführt, der alle Gegensätzlichkeit von sich ausschließt. Schelling scheint aber zu entgehen, dass er damit seiner eigenen Absicht zuwiderhandelt. Die Differenz wird durch die Vertiefung entmündigt. Sie steht jetzt nicht nur in einem 69 F. W. J. Schelling: Freiheitsschrift, SW I, 7, S. 406. 70 Vgl. zum Ungrund: Hans-Joachim Friedrich: Der Ungrund der Freiheit im Denken von Böhme, Schelling und Heidegger (Schellingiana; 24), Stuttgart 2009; Ingo Schütze, »Schellings Deutung des christlichen Dogmas der Dreieinigkeit«, in: Hans Michael Baumgartner und Wilhelm G. Jacobs, (Hrsg.), Schellings Weg zur Freiheitsschrift. Legende und Wirklichkeit (Schellingiana; 5), Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 313–324. 71 F. W. J. Schelling: Freiheitsschrift, SW I, 7, S. 406. 72 F. W. J. Schelling: Freiheitsschrift, SW I, 7, S. 408.
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
fragilen Verhältnis zur Einheit, sondern sie wird – als Folge des Ungrundes – der Einheit untergeordnet. Der Versuch, den Differenzcharakter von Wissen und Welt im Absoluten zu verankern, scheitert am Konzept von Einheit, sei diese auch Indifferenz. Hier ist ebenfalls kein Entzug, sondern absolute Entzogenheit. Ferner kann Schelling jetzt nicht mehr erklären, wie aus dem Ungrund überhaupt etwas folgt. Dem Ungrund entspräche eine Unfolge, eine Folge, die keine Folge wäre.⁷³ Zwischen Ungrund, Grund und Existenz kann keine Korrelationalität stattfinden, da im Ungrund keine Differenz ausgemacht werden kann. Mehr noch: Die Differenz der Indifferenz zu Grund und Existenz rückt für Schelling ins Unerklärbare. Dies nicht nur deshalb, weil ohnehin von der Indifferenz nichts zu prädizieren ist, sondern weil die Indifferenz per definitionem keine Differenz hat. Mir scheint dieses Dilemma Schellings vor allem darum zu entstehen, weil er sich einer Methode verpflichtet fühlt, die Begründung nur im Rückgang verankern kann. Die Metapher der ›Tiefe‹ signalisiert diese Art des Weges. In ihrer Konsequenz liegt der Perspektivwechsel weg von der Differenz des Phänomenalen und dessen vielfältigen Gründen hin zur Authentizität und Ursprünglichkeit. Dies mag auch ein Grund sein, weshalb die Spekulationen über das Wesen Gottes, dessen Persönlichkeit und Geschichte, nur im Rückzug von der Welt möglich ist. Dem entspricht eine edle Melancholie, die weiß, dass der Grund Gottes der dunklen Schwerkraft analog ist und in der Einheit Gottes mit dem göttlichen Licht eins ist. Die Vertiefung der Tiefe zerstört schließlich auch die Einsicht Schellings in die existentielle Bedeutung des Bösen. So wie der Ungrund schließlich alle Differenz in der absoluten Indifferenz negativ egalisiert, so fügt sich letztlich auch das Böse unter die Herrschaft des Positiven: »Das Böse aber ist kein Wesen, sondern ein Unwesen, das nur im Gegensatz einer Realität ist, nicht an sich.«⁷⁴ Schelling widerspricht damit ganz offen seiner eigenen Intention, denn er kritisierte alle traditionellen Formen, das Böse zu erklären, den Kardinalfehler aller anderen Erklärungsarten, weil sie alle »sämtlich auf der Vernichtung des Bösen als positiven Gegensatzes und der Reduktion desselben auf das so genannte malum metaphysicum oder den verneinenden Begriff der Unvollkommenheit der Kreatur« beruhten. Dabei hatte Schelling gute Argumente in der Hand. Vor allem der Begriff der Indifferenz, der bei Schelling wie ein Dietrich in jedes Schloss zu passen scheint, gelangt nicht zur argumentativen Entfaltung. Schelling war nicht dazu gezwungen, die Indifferenz der Differenz von Grund und Existenz vorauszusetzen. Er hätte vielmehr das Verhältnis von Grund und Existenz selbst als Indifferenz fassen können. Da die Indifferenz selbst bereits Differenz enthält, ohne in schiere Differenz umzuschlagen, hätte ihm dieser Begriff erlaubt, Differenz und Indifferenz als Unterschied ohne Unterschied zu fassen. Faktisch ist dies in der Tradition schon geschehen, und zwar in einem analogen Zusammenhang mit neuplatonischem Hintergrund, nämlich paradigmatisch bei Nikolaus von Kues, der ebenfalls über 73 Vgl. Fichtes Konzept der Freiheit als Nicht-Folge in der Wissenschaftslehre 1805. – Christoph Asmuth: »Fichtes Theorem der Nicht-Folge: Der Anfang transzendentaler Freiheit«, in: Fichte-Studien 33 (2009), S. 45–62. 74 F. W. J. Schelling: Freiheitsschrift, SW I, 7, S. 409.
5.4. Fichte liest Schelling
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das Problem nachdachte, wie die Gottheit als das Eine adäquat zu benennen sei. Sein Begriff des »Nicht-Anderen«, das nichts anderes ist als das Nicht-Andere, ist nicht nur selbstbezüglich, weil es sich selbst definiert, sondern zugleich auch selbst entfaltend, weil es sich selbst differenziert. Dieser Weg war für Schelling indes abgeschnitten, weil er dem Rückgang in die Tiefe verpflichtet war. Zugleich erweist sich damit sein Begriff der Freiheit, insofern sie gerade Freiheit auch zum Bösen ist, einerseits als hellsichtig, andererseits aber in der Ausführung als inkohärent. Die Freiheitsschrift macht eine Verzweigung der klassischen deutschen Philosophie offensichtlich. Schellings Spekulationen über das Böse und den Ungrund mochten weder Fichte noch Hegel teilen. Schelling artikulierte einen Bruch, den er im beginnenden Projekt der Moderne erkannte. Er artikulierte die tiefe Verlorenheit, derer der Mensch sich bewusst wird, wenn ihm alle Gründe genommen sind und nur noch das Ungründige als Grund benannt werden kann. Er artikuliert eine tiefe Schwermut, die nur dem Denker sich zeigt, der in die Tiefe der Geschichte gestiegen und die Verwerfungen der Weltalter durchschritten und als Selbstentfaltung Gottes gedeutet hat. Mit dem Vernunftvertrauen Fichtes und dessen Verzweiflung an seiner vernunftscheuen Zeit hat das nicht mehr viel zu tun. Daher ist es von großem Interesse zu schauen, wie Fichte auf Schellings revidierte Philosophie reagiert.
5.4 Fichte liest Schelling Die Auseinandersetzung zwischen Schelling und Fichte hatte von Anfang an alles, was man für eine dramatische Story braucht: einen stürmischer Aufbruch, große Pläne, frühe Missverständnisse, ein bisschen Intrige, unversöhnliche Gegensätze und ein bitteres Ende in tiefem Schweigen. Blickt man von diesem Ende zurück auf die glücklichen Tage in Jena, so wird man kaum umhin kommen, von einer gründlichen Enttäuschung zu sprechen. Es hätte alles besser kommen können. Anfänglich wussten sich Fichte und Schelling nämlich ganz einig. Sie wollten gemeinsam die kritische Transzendentalphilosophie Kants in ein gültiges wissenschaftliches System verwandeln. Beide gaben sich größte Mühe und traten mit einem Pathos der Abschließlichkeit auf. Beide reklamierten im Namen der Philosophie, sie hätten eine letztgültige Entwicklungsstufe erklommen. Beide führten das Absolute und das Unbedingte im Munde, als seien es alte Bekannte aus der gemeinsamen Kinderstube. Und beide täuschten sich gründlich; vor allem über den jeweils anderen – und über sich selbst. Die beiden Denker im Gleichschritt geraten bald ins Stolpern. In diesem Konflikt werden nicht bloß persönliche Vorbehalte der Philosophen gegeneinander deutlich. Es geht beiden immer auch um die philosophischen Theorien, deren Unterschiede in thematischer Nähe verhandelt werden. Grundlage ist die nachkantische Theoriekonstellation. Gerade in dieser Vertrautheit zeigen sich die Differenzen in gleißendem Licht. Aus den Quellen und Dokumenten ist nur schwer zu erschließen, ob der endgültige Bruch Konsequenz einer philosophischen Diskussion oder eines persönlichen Konfliktes war oder sogar das Resultat einer po-
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
litischen Kontroverse.⁷⁵ Walter Schulz bemerkt einleitend zu dem von ihm herausgegebenen Briefwechsel Fichte-Schelling, es liege eine gewisse Tragik in dieser Auseinandersetzung. Die Ungleichzeitigkeit gleichartiger Ansätze in ihrer Spätphilosophie habe ein fruchtbares Gespräch der beiden Philosophen verhindert, urteilt Schulz. »Die faktisch vollzogene Auseinandersetzung […] ist eigentümlich verfehlt: […]«.⁷⁶ Die Kontroverse der beiden Denker begann bereits 1793/94. Es handelte sich zunächst um eine einseitige Auseinandersetzung Schellings mit Fichte,⁷⁷ die sich nach 1800 zu einer der philosophisch wichtigsten Diskussionen der Philosophiegeschichte entwickelte.⁷⁸ Die direkte Kontroverse der beiden Philosophen endete jedenfalls mit einem Brief Schellings an Fichte vom 25. Januar 1802, in dem Schelling noch einmal vor allem auf die persönlichen Invektiven und Intrigen zu sprechen kommt; von beiden Seiten aus gab es, aus unterschiedlichen Motiven, Versuche, außer dem inhaltlich-wissenschaftlichen Disput auch in der Außendarstellung zu punkten.⁷⁹ Die Kontroverse zwischen Fichte und Schelling hat in der Literatur breite Aufmerksamkeit gefunden.⁸⁰ Die ältere Forschung tendierte 75 Den eigentlichen Skandal besorgte allerdings ein Brief Fichtes an Johann Baptist Schad, der im Winter 1801/02 noch Privatdozent in Jena war. Fichte meint dort, Schelling habe sein System nie verstanden, habe deshalb nur vorgegeben, es fortzuführen. Schelling habe nie gewusst, was transzendentaler Idealismus sei. Schelling wolle, so schreibt Fichte weiter an Schad, »das Ding vom Wissen vom Dinge« (Fichte an Johann Baptist Schad, 29. Dezember 1801, in: GA III, 5, 101). Vgl. auch Wolfgang Förster: »Johann Gottlieb Fichte – Theoretiker der kleinbürgerlichen Demokratie«, in: Wolfgang Förster (Hrsg.), Klassische Deutsche Philosophie in Berlin, Berlin 1988, S. 20–58. – Förster entdeckt in dieser Kontroverse eine dominierende politische Komponente. (S. 21). 76 Walter Schulz: »Der Briefwechsel Fichtes und Schellings«, in: Einleitung zu: FichteSchelling. Briefwechsel. Einleitung von Walter Schulz, Frankfurt 1968, S. 12. 77 Vgl. Werner Beierwaltes: Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen, Frankfurt a. M. 2001, S. 199 f. – Es handelt sich um die Enn. III, 8 unter dem Titel: Von der Natur, von der Betrachtung und von dem Einen. 78 J. G. Fichte: Wissenschaftslehre 1807, GA, II, S. 123. 79 Vgl. Schelling – Fichte Briefwechsel, kommentiert und hrsg. v. Hartmut Traub, Neuried 2001. 80 Vgl. Ingtraud Görland: Die Entwicklung der Frühphilosophie Schellings in der Auseinandersetzung mit Fichte, Frankfurt a. M. 1973; Harald Holz: »Die Dialektik in den Frühschriften von Fichte und Schelling«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 52 (1970), S. 71–90; dass., in: Manfred Frank und Gerhard Kurz (Hrsg.), Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, Frankfurt a. M., S. 215–236; Hartmut Kuhlmann, Schellings früher Idealismus. Ein kritischer Versuch, Stuttgart u.a. 1993; Reinhard Lauth: »Die erste philosophische Auseinandersetzung zwischen Fichte und Schelling 1795–1797«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 21 (1967), S. 341–367; ders., »Die zweite philosophische Auseinandersetzung zwischen Fichte und Schelling über die Naturphilosophie und die Transzendentalphilosophie und ihr Verhältnis zueinander (Herbst 1800 – Frühjahr 1801)«, in: Kant-Studien 65 (1974), S. 397–435; ders., Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie in der Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre (1795–1801), Freiburg i.Br. u.a. 1975; ders., »Der Unterschied zwischen der Naturphilosophie der Wissenschaftslehre und der Schellings von zwei charakteristischen Ansatzpunkten des letzteren aus erläutert«, in: Reinhard Heckmann u. a. (Hrsg.), Natur
5.4. Fichte liest Schelling
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dazu, den Dissens der beiden Denker forciert darzustellen. Dabei ist unbestreitbar eine Neigung zu unangemessener, weil verspäteter Apologetik zu bemerken. Man schlug sich tapfer auf eine Seite und verteidigte eine der beiden Konfliktparteien gegen die andere. Entweder war man in diesem Streit also auf der Seite Schellings oder auf der Seite Fichtes. Ebenso unbestreitbar scheint mir die Tatsache, dass die Fichte-Verteidiger diese Diskursform besonders perfektionierten. Neuerdings herrschen allerdings Harmoniekonzepte vor. Die Neuherausgabe des Briefwechsels durch Hartmut Traub soll die These unterstreichen, die beiden Philosophen seien thematisch viel näher beieinander gewesen und hätten sich gegenseitig inhaltlich befruchtet. Die einseitig Vorstellung, Fichte habe einen großen Einfluss auf die Philosophie des jungen Schelling gehabt, wird nun ergänzt durch den Nachweis, auch der späte Fichte habe zahlreiche Anregungen von Schelling erhalten. Ich muss gestehen, dass mir die Dissonanzen wichtiger sind als die Harmonien. Vielleicht kommt mir deshalb der Verdacht, dass es sich hier um eine hermeneutischen Kitt handelt, ein von außen herangetragener Wunsch, es müsse doch jemals und vor allem am Anfang ein gegenseitiges Einverständnis, wenigstens aber ein gegenseitiges Verständnis der beiden Autoren gegeben haben. Ich bin anderer Auffassung. Das betrifft schon die glücklichen Tage in Jena. Schellings Ansatz unterscheidet sich, das ist meine Auffassung, schon vorher, nämlich bereits in der Schrift Vom Ich prinzipiell – in Anlage und Methode – vom transzendentalphilosophischen Projekt Fichtes. Schelling wollte stets eine absolute Metaphysik auch dann, wenn er sich der Begriffe der Wissenschaftslehre bediente, eine absolute Metaphysik, die der Wissenschaftslehrer Fichte als später als unkritisch zurückweisen musste und schließlich zurückgewiesen hat. Eine absolute Metaphysik freilich, in der sich der Verlorenheit der Moderne und die Verdunkelung der Rationalität eindrücklich zu Wort melden. Mich interessiert daher auch das Ende mehr als der hoffnungsvolle Beginn und die produktive Auseinandersetzung des Briefwechsels. Mich interessiert das Nachspiel. Gegen Ende 1801, sicher aber am Beginn des Jahres 1802 endet die inhaltliche Auseinandersetzung. Jetzt dominieren Rückzugsgefechte. Die beiden Großdenker versuchen sich aus der Affäre zu ziehen, ohne allzuviel Porzellan zu zerund Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling, Stuttgart 1985, S. 248–265; Francesco Moiso: »Filosofia e vita: Dialogo e polemico tra Fichte e Schelling«, in: Annali della Facoltà di lettere e Filosofia 16 (1983), S. 211–250; hier insb.: S. 236–250; ders.: »Il nulla e l’assoluto. La Wissenschaftslehre 1805 e Philosophie und Religion«, in: Annuario Filosofico 4 (1988), S. 179–245; Walter Schulz, Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Stuttgart 1955; Pfullingen 21975, S. 96–102; Marek J. Siemek, »Schelling gegen Fichte. Zwei Paradigmen des nachkantischen Denkens«, in: Albert Mues (Hrsg.), Transzendentalphilosophie als System. Die Auseinandersetzung zwischen 1794 und 1806 (Schriften zur Transzendentalphilosophie; 8), Hamburg 1989, S. 388–395; Michael G. Vater, »The Wissenschaftslehre of 1801–1802«, in: David Breazeale und Tom Rockmore (Hrsg.), Fichte. Historical Contexts – Contemporary Controverses, Atlantic Highlands, N. J. 1994, S. 191–210; hier insb. S. 198–206; Franz Josef Wetz: »Die rätselhafte Existenz der weltsetzenden Vernunft und vernünftigen Welt. Strukturvergleich der Spätphilosophie Fichtes und Schellings«, in: Philosophisches Jahrbuch 1991, 1. Halbbd., S. 78–92.
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
schlagen. In höflicher Form werden Anschuldigungen abgemildert, Perspektiven verschoben, Argumente zurechtgerückt. Aber damit endet die Diskussion nicht. In den folgenden Jahren lesen und äußern sich Schelling und Fichte über den jeweils anderen. Zu einer direkten Kommunikation, sei es mündlich oder schriftlich, kommt es freilich nicht mehr. Schließlich lesen Schelling und Fichte auch die Texte des jeweils anderen nicht mehr. Schelling liest nicht mehr Fichte, weil Fichte die versprochene Neue Darstellung seines Systems gar nicht mehr veröffentlichen wird. Fichte liest nicht mehr Schelling, weil er nach dessen Philosophie und Religion das Interesse und die Lust an der Philosophie Schellings verloren hat. So endet die Kontroverse nicht nur philosophisch unbefriedigend, sie endet in einer kommunikativen Sackgasse.⁸¹ In den späten Wissenschaftslehren 1807 und 1811 äußert sich Fichte noch einmal zu Schelling. Man erfährt und spürt, welchen Nachhall die Enttäuschung über Schelling in ihm hinterlassen hat. Fichte erfährt auf der Flucht vor Napoleon auf dem Weg nach Königsberg von seiner Frau Johanna von der Kritik Schellings in der Darlegung des wahren Verhältnisses. Dreimal ermuntert Johanna den flüchtigen Philosophen zur öffentlichen Erwiderung.⁸² »Schelling Spukt gar sehr herum, und legt sich nun emsig darauf zu beweisen Du seyest von Deiner Wißenschaftslehre abgegangen, und näherst Dich seiner Naturph:«⁸³ Und mit Blick auf Fichtes Plan, die Wissenschaftslehre erneut zu publizieren, um damit Schelling in die Schranken zu weisen, schreiben Frau Fichte und Friedrich Severin Metger, der Hauslehrer von Immanuel Hermann, um die Gesundheit des flüchtigen Philosophen besorgt nach Königsberg: »mein einziger Trost ist, es wird nicht mehr lange dauern, so wird der ruhende Löwe auffahren; ich hoffe Ihre Wißensch.lehre erscheint bald; es thut Not, Herr Professor, dass Sie jetzt aufs neue in voller Glorie hervortreten. Eins besorge ich, Sie werden es nicht der Mühe werth finden, Sich ganz zusammen zu nehmen, sondern in der Verdauungsstunde die Sache vornehmen.«⁸⁴ Ob in der Verdauungsstunde oder nicht: es gibt zahlreiche Stellen in Fichtes späten Vorlesungsmanuskripten zur Wissenschaftslehre, bei denen er auf Schelling und seine Darstellung zu sprechen kommt; es gehört nahezu zum Repertoire der Wissenschaftslehren Fichtes, den Hörern klarzumachen, dass Schelling, er firmiert für Fichte bis zum Schluss unter dem Etikett ›Naturphilosoph‹, die Wissenschaftslehre verkannt, die wahre Philosophie verdreht und einen gewaltigen Rückschritt eingeleitet habe.⁸⁵ Im Gegensatz zu den Bezeugungen von unverstandener Nähe, die im Briefwechsel häufig zu vernehmen sind, herrscht beim späteren Fichte beharrliche Distanziertheit vor, die bis zur Polemik reicht. In Königsberg, wo Fichte auf seiner Flucht 81 Vgl. zur Auseinandersetzung zwischen Schelling und Fichte in den Jahren 1801–1806, Christoph Asmuth: Das Begreifen des Unbegreiflichen, S. 317–370. 82 Johanna an J. G. Fichte, 7. März 1807, GA III 6, 53; 20. April 1807, GA III 6, 79; 21./22. (?) April 1807, GA III, 6, 82. 83 Ibid. 84 Johanna Fichte und Friedrich Severin Metger an Fichte, Juni 1807, GA III 6, S. 124. 85 Vgl. auch den schon erwähnten Brief Fichtes an Schelling vom 31. Mai 1801; ferner: J. G. Fichte: Wissenschaftslehre 1805, GA II, 9, S. 183 f.; S. 231–234; ders.: Wissenschaftslehre 1810, GA II 11, S. 203–309; vgl. auch die nachträglichen Kommentare in J. G. Fichte: Seit d. 1. April 1808, GA II 11, S. 181–229.
5.4. Fichte liest Schelling
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längere Station macht und 1807 die Wissenschaftslehre liest, kann er noch nicht auf Schellings neueste Schrift die Darlegung des wahren Verhältnisses verweisen. Er kennt die Schrift noch nicht. Aber er repliziert auf Schellings Philosophie und Religion. Der antikisierende Ton dieser Schrift erscheint Fichte völlig unverständlich. Schellings dort erstmals erörterter Gedanke eines Abfalls vom Absoluten stilisiert er polemisch zu den »Emanationen der neuern Platoniker«.⁸⁶ Er glaubt den traditionellen Fall eines Schöpfungstheoretikers vor sich zu haben. Die Welt wird von einem göttlichen Prinzip geschaffen und als unabhängig gesetzt, dies in einer Art Ausfluss aus dem Absoluten. Die näheren Feinheiten der neuplatonischen Hypostasentheorie sind dem Selbstdenker Fichte unbekannt, z. B. dass das Prinzip in approximativer Weise als überseiendes Eines benannt werden kann, darum überhaupt nichts Seiendes ist. Anders als Schelling, der wahrscheinlich sogar die erste Übersetzung Plotins durch Georg Friedrich Creuzer und Carl Daub in den Studien (1805) angeregt haben dürfte,⁸⁷ ist Fichte konstant desinteressiert an neuplatonischem Gedankengut. Darum kann er – irrigerweise – folgende Kritik anbringen: »Ist Gott ganz in sie [die Welt; Ch. A.] übergegangen, so ist er nicht mehr, sondern sie, wie wohl auch eine solche Verwandlung sich gar nicht denken lässt; denn ist er eben ganz, so hat er sich nicht verwandelt; ist er aber nicht ganz; so hat er sich in sich selbst zerrissen: u. ist auch zu Hause nicht mehr ganz, was sich aber niemals nicht denken lässt.«⁸⁸ Fichte wendet sich insbesondere gegen das tote und starre Sein, dem er ein dynamisches Sein entgegensetzt. Für ihn ist das von Schelling vorausgesetzte Sein zugleich die Natur. Damit verortet Fichte Schellings Identitätsphilosophie in der Nähe Spinozas. Er glaubt, dass Schelling »ein todtes u. auf sich ruhendes Seyn haben will.« Das entspricht Fichtes Kritik an einem objektivierten Absoluten, dessen Starrheit aus einem Mangel an Reflexion zu erklären sei. Erst wenn das lebendige Denken selbst erstarrt, kann es ein totes, derivatives Sein absetzen, zu dem es sich wie ein Objekt verhalten kann. Daher erklärt es sich, dass Fichte Schelling und mit ihm Spinoza 1807 einen durchgängigen Dualismus vorwirft. Beide hätten vergessen, auf sich selbst zu reflektieren. Nur dadurch sei ihnen der Gedanke eines objektiven Seins überhaupt möglich. Schließlich erneuert Fichte auch in der Wissenschaftslehre 1811 seine Kritik an Schelling. Jetzt, wieder in Berlin, kann er offensichtlich auf seine immer noch unveröffentlichten Ausführungen aus dem 1806, auf der Bericht über die Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre und die bisherigen Schicksale derselben zurückgreifen. Schärfer als dort ist nun sein Resümee: »[…] Schritt für Schritt, solche Widersprüche u. Ungereimtheiten […]; ein durchaus schlechter Kopf, ohne Wahrheitsgefühl[,] ohne Besinnung, ohne dialektisch u. logische Kunst, – kurz in philosophischer Rüksicht in jeder Betrachtung ein armer Sünder. –. Wer. Schelling!«
86 J. G. Fichte: Wissenschaftslehre 1807, GA II, 10, S. 123. 87 Vgl. Brief Fichtes an Schelling, 31. Mai 1801, Nr. 605, GA III, 5, S. 45 f. 88 Vgl. J. G. Fichte, Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre, GA II, 10, S. 56 f.; F. W. J. Schelling: Darlegung des wahren Verhältnisses, SW, I, 7, S. 68. – Vgl. dazu: Martha Horneffer: Die Identitätslehre Fichtes, S. 44–46.
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
Was ergibt sich nun für die Diskussion zwischen Fichte und Schelling? Der charakteristische Unterschied zwischen beiden philosophischen Systemen ist unzweifelhaft die Rolle der Reflexion. Das erkennen beide Denker – Schelling wie Fichte – an. Schelling ist bestrebt, die verendlichende Reflexion durch einen der Philosophie vorgängigen Akt aufzuheben, durch einen Akt der Abstraktion – in der Darstellung meines Systems – oder durch eine negative Beschreibung – in Philosophie und Religion. Für Fichte ist dagegen die Reflexion von erheblicher systematischer und methodischer Bedeutung. Sie aus der Theorie zu eliminieren käme für Fichte dem Versuch gleich, auf Evidenz grundsätzlich zu verzichten.¹⁶ Von derselben Bedeutung für die Diskussion zwischen Schelling und Fichte ist es, dass jeder dem anderen vorwirft, das Absolute nicht richtig aufgefasst zu haben. Es könne in dieser Auffassung des Absoluten nicht von einem Absoluten, sondern nur von zwei Absoluta – bei Fichte: Sein und Dasein, bei Schelling: Wesen und Form – gesprochen werden. Folglich könne das Absolute nicht das Absolute, nicht absolute Identität, sein. Inwiefern freilich das Absolute als Identisches gedacht werden muss – und kann, ist bei beiden Denkern umstritten. Für den Schelling der Identitätsphilosophischen Phase gilt sicher, dass das Absolute nur als Identisches, dass das Mannigfaltige nur als Nicht-Identisches gedacht werden kann. Für Fichte ist zwar die absolute Identität in sich absolut identisch, aber sie ist mit dem NichtIdentischen nicht identisch. Die Identität ist – solange gedacht wird – mit einem unabweisbaren Gegensatz kontaminiert, einem Nicht-Identischen, das sich nicht auflösen lässt und das aus dem Denken der Identität selbst folgt. Bei Fichte wird man deshalb nicht von einer Identitätsphilosophie im strengen Sinne sprechen können. Denn sein methodischer Ansatz geht vom Nicht-Identischen, von der Differenz aus. Diese Differenz ist nicht gegeben, sondern wird hervorgebracht, indem die Identität, das absolute Sein, gedacht wird. Denken des Absoluten ist Denken der Differenz. Letztlich scheint mir aber der Hauptpunkt der Auseinandersetzung darin zu bestehen, dass Fichte sein Programm der Transzendentalphilosophie nicht verlassen will, Schelling aber, und noch mehr Hegel, über Kant und Fichte hinaus eine Philosophie anstreben, welche die Kritik nicht negiert, sie aber aufhebt in einem System, das den Reichtum der kulturellen und geschichtlichen Welt in sich aufnimmt. Fichte beharrt dagegen auf einem Standpunkt von Evidenz. Er will nicht über das Endliche hinaus zu einem Unendlichen, sondern es reicht ihm, sich im Endlichen des Unendlichen auf evidente Weise zu versichern. Fichtes Reaktion auf Schellings Philosophie zeigt die unversöhnliche Haltung eines Lehrers, der bemerken muss, dass sein Schüler eigene Wege geht. Diese Geschichte kommt in der Philosophie häufiger vor. Aber nicht immer ist das Personal unversöhnlich, der Schüler offensiv und der Lehrer rechthaberisch. So ein Fall findet sich in der Person von Karl Wilhelm Ferdinand Solger. Er war Schüler Fichtes und Schellings. Er verbindet beider Theorien zu einer neuen. Er ist – von Schelling inspiriert – ein Kunstliebhaber und entwickelt eine Philosophie der Kunst. Eine Theorie, die nicht nur formal bleibt wie bei Fichte und Kant, sondern die Fülle künstlerischen Schaffens auch ihrem Inhalt nach zum Gegenstand des Nachdenkens macht. Außerdem zeigt sich in seinem Schaffen, dass es einer neuen Verbindung von Form und Inhalt des Philosophierens bedarf. Bereits Fichte
5.5. Der Dialog bei Karl Wilhelm Ferdinand Solger
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wollte die starre Grenzen der bloß schriftlichen Philosophie durchbrechen. Philosophie sollte ins Leben eingreifen, sollte die Lebensumstände des Menschen und der Gesellschaft verändern, ja, umstürzen. Anders Solger! Er entwickelt die Dialogform zu einer neuen, vielleicht letzten Blüte. Dabei übertrifft er die Versuche seines Lehrers Schelling – man denke etwa an dessen Schrift Bruno durch seine große literarische Meisterschaft. Solger ist ein Denker, der sich mit einer eigenen, wenn auch nicht besonders populär gewordenen Position zwischen den beiden Konkurrenten etabliert, ohne mit ihnen in einen Disput zu geraten. Er nimmt die Impulse beider Philosophen auf, ohne dabei einen von beiden zu diskreditieren. Seine Philosophie ist weniger radikal. Dafür ist er von tiefer Bildung geprägt. Er ist ein Vertreter des Bildungsbürgertums am Beginn des 19. Jahrhunderts. Er greift dessen Kanonisierungen etwa der Kunst und Literatur auf, bleibt den Gestalten der klassischen Kunst und Philosophie eng verbunden und entwickelt eine Theorie des Dialogs.
5.5 Der Dialog bei Karl Wilhelm Ferdinand Solger Die Dialogform in der Kritik Das Philosophieren in Dialogen hat seit Platons Zeiten Konjunktur.⁸⁹ Allerdings hat schon Platon selbst mit der Form gerungen.⁹⁰ Nicht alle seine Dialoge sind – blickt man mit heutigen Maßstäben zurück – als geglückt zu bezeichnen; manche 89 Vgl. Walter Bröcker: Platos Gespräche, Frankfurt a. M. 1964; Jay Farness: Missing Socrates – problems of Plato’s writing, University Park, Pa. 1991; Bernard Freydberg: The play of the Platonic dialogues (Literature and the sciences of man; 12), New York u. a. 1997; Charles H. Kahn: Plato and the Socratic dialogue – the philosophical use of a literary form, Cambridge u. a. 1998; Burkhard Mojsisch, »›Dialog‹ und ›Dialektik‹: Politeia, Theaitetos, Sophistes«, in: Theo Kobusch, und Burkhard Mojsisch (Hrsg.), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Darmstadt 1996, 167–180; Heinrich NiehuesPröbsting: Die antike Philosophie, Frankfurt a. M. 2004, S. 38–90; Wolfgang H. Pleger.: Sokrates. Der Beginn des philosophischen Dialogs. Hamburg 1998; Rudolf Rehn, Der logos der Seele. Wesen, Aufgabe und Bedeutung der Sprache in der platonischen Philosophie, Hamburg 1982. 90 Vgl. zur philosophischen Bedeutung, des Dialogs: Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 1996; Martin Buber: Ich und Du, Gerlingen 1994; Bernhard Casper: Das dialogische Denken. Eine Untersuchung der religionsphilosophischen Bedeutung Franz Rosenzweigs, Ferdinand Ebners und Martin Bubers, Freiburg u. a. 1967; Gottfried Gabriel und Christiane Schildknecht (Hrsg.), Literarische Formen der Philosophie, Stuttgart 1990; Ferdinand Ebner: Das Wort und die geistigen Realitäten – pneumatologische Fragmente, Innsbruck 1921; Erwin Hasselberg (Hrsg.): Der Dialogbegriff am Ende des 20. Jahrhunderts, Internationale wissenschaftliche Konferenz anläßlich des 225. Geburtstags von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Berlin 1996; Johannes Heinrichs: »Dialog, dialogisch«, in: HWPh Bd. 2. Basel; Stuttgart 1972, 226–229; Rudolf Hirzel: Der Dialog. Ein literaturhistorischer Versuch, Hildesheim 1963; Vittorio Hösle: Der philosophische Dialog – eine Poetik und Hermeneutik, München 2006; Gabriele Kalmbach: Der Dialog im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Diss. Köln 1992 (Com-
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
scheinen unausgeglichen in Anlage und Aufteilung des Stoffs, andere gerinnen in der Einsilbigkeit des Antwortenden zu bloß kurzzeitig unterbrochenen Monologen. Bei den Nachfolgern ist das nicht anders. Beschließt jemand, sein Denken in Gesprächsform vorzubringen, darf er sich deshalb über ein ambivalentes Urteil nicht wundern. Zustimmung erhält er von all jenen, die einen Sinn haben für die literarische, für die ästhetische Seite der Philosophie: Sie loben die Verknüpfung des philosophischen Denkens mit der Kunst und wittern darin den höchsten Aufschwung der Idee und die höchste Vollendung der menschlichen Bestimmung. Ablehnung erfährt er von derselben Seite, von jenen nämlich, denen etwas an der ästhetischen Darstellung des Denkens liegt: Sie halten die Ausführung der Idee für misslungen, sie kritisieren den Zwiespalt zwischen Form und Inhalt, sie bemerken das Beschwerliche und Künstliche in der Führung des Gesprächs. Dies ist die Reaktion, die Solgers unzeitgemäßer Versuch, seine Philosophie in Dialogen vorzustellen, tatsächlich provozierte. Die Klagen über die Unverständlichkeit seiner Dialoge sind durchaus verständlich. Sein Freund, Friedrich von der Hagen, schrieb ihm einmal über sein Hauptwerk: »Bis jetzt verstehe ich das Straßburger Münster besser als deinen Erwin«.⁹¹ Und es war Hegel, jener Hegel, der seinen Lehrstuhl nicht zuletzt dem Engagement Solgers verdankte, der diese Kritik mit allem Nachdruck vertrat. Ihn störte die Unangemessenheit von Form und Inhalt. Der spekulative Gedanke in seiner Reinheit könne nicht in einer ästhetisierten Form vorgetragen werden. Was schon sein Verdikt über die Gesprächsform der Philosophie Platons motivierte, hält Hegel auch Solgers Dialogen vor: Die Kühle des philosophischen Denkens, die aus seinem Anspruch auf überpersönliche und überzeitliche Geltung fließe, werde vermengt mit der in die Zeit fallende und durch eine Person gefilterte Perspektive. Daraus entstehe ein Amalgam, das der Philosophie nicht gerecht werden könne, denn die Sphäre der Allgemeinheit, in der die Philosophie angesiedelt ist, widerspreche dem individuellen und subjektiven Anspruch auf Geltung, der sich in den vorgestellten Personen eines Dialogs widerspiegle.
municatio; 11) Tübingen 1996; Hans-Herbert Kögler: Die Macht des Dialogs – kritische Hermeneutik nach Gadamer, Foucault und Rorty, Frankfurt a. M. 1991; Stuttgart 1992; Martin F. Meyer (Hrsg.): Zur Geschichte des Dialogs – philosophische Positionen von Sokrates bis Habermas, Darmstadt 2006; Martin F. Meyer: »Dialog«, in: Christian Bermes und Ulrich Dierse (Hrsg.), Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts (Archiv für Begriffsgeschichte; Sonderheft 6), Hamburg 2010, S. 73–85. Wolfgang H. Pleger: »Dialog«, in: Hans J. Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd. 1. Hamburg 1999, S. 225f; Christiane Schildknecht: Philosophische Masken – literarische Formen der Philosophie bei Platon, Descartes, Wolff und Lichtenberg, Diss. Konstanz; Stuttgart 1990; Claudia Schmölders (Hrsg.): Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie, München 1996; Heinz-Horst Schrey: Dialogisches Denken. Darmstadt ³1991; Michael Theunissen: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin u. a. 1977; Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, Darmstadt ²1969. 91 Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Nachgelassene Schriften und Briefwechsel I, hrsg. v. Ludwig Tieck und Friedrich von Raumer, Heidelberg 1973, S 741.
5.5. Der Dialog bei Karl Wilhelm Ferdinand Solger
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Dabei wertet er Solgers Versuche in zweifacher Hinsicht als gescheitert: Einerseits ist die Darstellung der Philosophie ihrer wissenschaftlichen, d. h. bei Hegel ihrer spekulativ-philosophischen Dimension entgegengesetzt. Andererseits sei diese Darstellungsform bei Solger – anders als bei Platon – der Zeit, d. h. Solgers Zeit, entfremdet und unangemessen. An die Stelle der spröden Sprache, die in der spekulativen Wissenschaft hätte gesprochen werden müssen, sei die schöne Unterhaltung unter einander zugewandten Freunden getreten. Statt der strengen Notwendigkeit philosophischen Argumentierens und seinem notwendigen Fortschreiten finde man eine Anzahl junger Männer – aus einem zufälligen Anlass – in ernste Gespräche vertieft, in denen zufällige Meinungen über spekulative Inhalte ausgetauscht würden. Hegel bemängelt, dass die Umstände der Konversation, wir würden sagen: das Berliner Lokalkolorit der zwei ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, in die Darstellung mit einflössen, die Nebensache die Sache der Spekulation dominiere, die Philosophie aber und das ihr eigentümliche Arbeitsethos in den Strudel des allgemeinen Ungefährs und der Beliebigkeit des Debattierens hineingerieten. Es ergebe sich eine »ermattende Breite des Vortrags, ein lästiger Überfluß, die Gestalt der Zufälligkeit des Vorgetragenen, die Störung oder Unmöglichkeit, den Faden des Räsonnements festzuhalten und zu übersehen.« ⁹² Das hat Solger selbst schon früh erkannt. Beides schwebte ihm 1812 als Alternativen vor: das Gespräch und die dogmatische Abhandlung. »Auf der einen Seite,« so schreibt Solger an Friedrich von Raumer, »verlangt die Zeit eine gelehrte und vollständig vorkauende Abhandlung; auf der andern sehe ich nicht, wie sich die volle Erscheinung der Philosophie im Leben und in den Dingen selbst anders als durch [das; Ch. A.] Gespräch darstellen lasse.«⁹³ Hegel seinerseits hatte ebenfalls ein klares Gefühl für das Unpassende der Dialogform: »Wir haben in modernen Sprachen Meisterwerke des dialogischen Vortrags […]; aber hier [im Gegensatz zu Solger; Ch. A.] ist die Form […] der Sache untergeordnet, nichts Müßiges; die Sache ist aber kein spekulativer Inhalt, sondern eine solche, welche ganz wohl ihrer Natur nach Gegenstand der Konversation sein kann.«⁹⁴ Hegel erkennt eine Bruchstelle, die er als Differenz von Konversation, d. h. wirklichem Gespräch, und Dialogform, d. h. Kunstform, bezeichnet. Für Hegel ist die Ausbildung der Spekulation, d. h. der wahrhaften Philosophie als Wissenschaft, nur in einer speziellen, ihr angemessenen Form begrifflichen Prozedierens möglich. Die Spekulation lässt das Gespräch hinter sich, sie wirft ihre äußere Form ab und kehrt sich in sich selbst, in die Selbstvermittlung reiner Begrifflichkeit. Solger erkennt die Differenz, die er zwischen der sich selbst transparenten Subjektivität in ihren drei Modi: Religion, Kunst und Philosophie und der Wirklichkeit des Gesprächs ansiedelt. Und Solger leidet darunter, während Hegel den höchsten Triumph durch die Aufhebung dieser Differenz in der Versöhnung eines absoluten Wissens feiern kann, eines absoluten Wissens, für das die Subjektivität seines Aufgefasst-Werdens explizit gleichgültig geworden ist.
92 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Solger-Rezension, Hegel: GW, 16, S. 124. 93 K. W. F. Solger: Nachgelassene Schriften und Briefwechsel I, S. 221. 94 G. W. F. Hegel: GW, 16, S. 125.
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
Solgers Dialogtheorie Solger hat das Personal seiner Dialoge gründlich ausgesucht. Die Figuren tauchen in verschiedenen Dialogen auf. Ihnen werden Eigenschaften zugewiesen, die sie als Personen dauerhaft kennzeichnen. Es entsteht ein Kreis aus miteinander vertrauten Gesprächspartnern. Es fällt leicht, sich das Umfeld Solgers als Vorbild für seine literarisch-philosophische Produktion vorzustellen. Die gepflegte Konversation unter den brandenburgischen Freunden oder im Freitags-Kreis mag denn auch paradigmatische Bedeutung für die Entwicklung der Dialogform bei Solger gehabt haben. Vielleicht sind es auch die Briefpartner seiner verzweigten Korrespondenz, die eine Vorbildfunktion haben. Hierin findet die Intuition Hegels ihr Recht: Das Gespräch in den Schriften Solgers bildet die Konversation der Salons und Kreise in Berlin nach; damit ist es tatsächlich verwoben in die Zufälligkeit der historischen Situation. Mehr noch: Die Verteilung eines Stoffes auf miteinander diskutierende Gesprächsteilnehmer, die Imagination eines Gesprächsanlasses und eines Gesprächsbeginns verstricken die Inhalte sogar in die Zufälligkeit des gewöhnlichen Lebens. Solger ist die Reduktion der reinen Spekulation fremd. Er sucht das Leben selbst, das er nicht von der Spekulation getrennt, sondern gemeinsam mit der Spekulation im Leben selbst aufgehoben sieht. Allerdings steht er selbst kritisch seinen literarischen Erneuerungsversuchen gegenüber. Dabei überwiegt nicht die Vorstellung, dass der Dialog möglicherweise seinem Gehalt, nämlich der Philosophie selbst, unangemessen sei, als vielmehr der eklatante Mangel an Erfolg beim Publikum: »Ich bin überall auf Kälte und Gleichgültigkeit gefaßt«, schreibt er im November 1817 an Tieck. »Manchmal vergeht mir ganz die Lust weiter zu schreiben, wenn ich mir so vorstelle, wie ich die Sachen zusammenkünstele, und niemand sich die Mühe geben mag, die Kunst zu merken. Ich komme mir vor wie ein müßiger Witzling, dessen Pointen niemand finden kann, noch suchen mag.«⁹⁵ Solger versteht das Gespräch als die Form des Philosophierens. Der Dialog ist für ihn keineswegs etwas Äußerliches oder etwas Hinzukommendes. Die Seite der Darstellung ist mit dem Inneren der Philosophie verknüpft und nicht etwa gleichgültig oder nur eine Frage des Geschmacks. Das schließt nicht aus, dass dem Dialog eine didaktische Funktion zukommt, die gebunden ist an die Zeit, besonders an die Entwicklung der Philosophie und ihrer Stellung im politisch-kulturellen Raum. So dürfen Klage und Seufzer, die Solgers Brief an Tieck charakterisieren, wohl in systematischer Hinsicht als theoretisch wohlbegründet bezeichnet werden.⁹⁶ In einem längeren, erst im Nachlass veröffentlichten Text mit dem Titel Über die wahre Bedeutung und Bestimmung der Philosophie, besonders in unserer Zeit (1818) gesteht Solger, dass auch ihm die Dialogform manche Schwierigkeit bereitet habe und dass ihm vor allem der ausbleibende Erfolg beim Publikum zu schaffen mache. Allerdings weiß er jetzt, dass es zur Dialogform in der Philosophie keine Alternative gibt, und er gibt zu erkennen, dass er die Gründe durchschaut hat, weshalb sein literarisches Schaffen so 95 K. W. F. Solger: Nachgelassene Schriften und Briefwechsel I, S. 571 f. 96 Vgl. dagegen G. W. F. Hegels Bemerkungen über Solgers »trübe Vorstellung von seiner Zeit.« (Hegel: GW, 19, S. 120).
5.5. Der Dialog bei Karl Wilhelm Ferdinand Solger
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wenig Anerkennung findet: Der Zeitgeist sei verwöhnt und verzogen, und das sei noch geschmeichelt, bekennt Solger. Er empfindet eine tiefe Kluft zwischen seinen Ambitionen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Vor allem mit der philosophischen Literatur ist er unzufrieden. Dabei sind es zwei Richtungen, die er kritisiert und die seine Zuwendung zur Dialogform motivieren. Die thetische Form halbphilosophischen Deklamierens ziehe die Philosophie, so Solger, herab an den Stammtisch. Solger diagnostiziert damit eine Zeitkrankheit: Halbwissen, Sophismen und ständiges Schielen nach vorherrschenden Meinungen verunmögliche eine substantielle Einschätzung der (politischen) Lage ebenso wie die überlegte Aktion. Die zweite Richtung philosophischen Schreibens betrifft die systematische Form des wissenschaftlichen Dogmatismus, ein Lehrwerk, in dem mit schulmäßiger Genauigkeit der ganze Bereich einer Wissenschaft, hier der Philosophie, durchschritten wird. Solger kritisiert die ertötende Insistenz der Gliederung, der lebendige Inhalt werde durch »technische Classennamen« und »technisches Kauderwelsch« in pure Langeweile verwandelt. Solger führt die zeittypischen Elemente eines organischen Philosophieverständnisses vor: Authentizität, Ganzheit, Lebendigkeit, Kräftigkeit. Das Absolute oder Ewige ist nicht das unverfügbare Andere, sondern in zeitloser Selbsttransparenz schon immer zugänglich, und zwar der gegenwärtigen Unmittelbarkeit, die zugleich reines Bewusstsein ist, – d. h. in einer intellektuellen Anschauung. Dieser Aufriss seines Philosophieverständnisses zeigt Solger als Anhänger Schellings. Solger hatte 1802 Schellings Vorlesungen in Jena und vermutlich auch seine Vorlesungen über die Philosophie der Kunst besucht. Allerdings scheint Solger mehr von Schellings grundsätzlicher Haltung zur Philosophie beeinflusst als von einzelnen Elementen, so dass es nicht gerechtfertigt ist, ihn als Schellingianer zu bezeichnen. Dieses Urteil trifft sicher sowohl auf die reine Philosophie als auch auf die Entwicklung seiner Ästhetik zu.⁹⁷ Wie Schelling setzt er jedenfalls ein Absolutes in Selbsttransparenz als Erstes und Innerstes des Menschen, ein Ewiges im Endlichen, das zugleich Quell ist einer universellen Harmonie, ein Garant für die Ausgewogenheit und Ganzheit des Menschen und aller menschlichen Vollzüge. Dabei gewinnt seine philosophische Auffassung eine religiös-mystische Dimension, die sich weit von der Position des mittleren Schelling entfernt: Jenes Innerste und Ewige ist Gott selbst in uns als Quell und Realität alles Guten und Wahren. So schreibt Solger: »Indem nun Gott in unserer Endlichkeit existiert oder sich offenbart, opfert er sich selbst auf und vernichtet sich in uns; denn wir sind nichts.«⁹⁸ Gott gelange in uns zur Existenz. Dazu müsse sich Gott von sich selbst trennen. Damit nimmt Solger einen Akt ursprünglicher Entzweiung an, die zugleich perspektivisch eine doppelte Entzweiung ist, in der sich nämlich einerseits Gott von sich selbst trennt und in die Existenz tritt, eine Existenz, die sein eigenes Nichts ist: Gott opfert sich. Andererseits aber – jetzt aus der Perspektive des Menschen – handelt es sich um eine Selbstentzweiung, in welcher der Mensch 97 Paul Schulte: Solgers Schönheitslehre im Zusammenhang des deutschen Idealismus – Kant, Schiller, W. v. Humboldt, Schelling, Solger, Schleiermacher, Hegel, Kassel 2001. 98 K. W. F. Solger: Nachgelassene Schriften und Briefwechsel I, S. 603.
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
sein Wesen verfehlt und dadurch Nichts wird. In der Vernichtung seines Nichts⁹⁹ kehre der Mensch zu sich zurück. Das göttliche Opfer erfährt seinen Sinn in der Selbstaffirmation Gottes und in der Selbstfindung des Menschen als das, was er ursprünglich ist, Erscheinung und Offenbarung Gottes. Solger stellt eine mehr oder minder säkularisierte Form der Christologie vor: Das Opfer ist nicht nur in seiner historischen Dimension zu verstehen, »sondern«, so Solgers Worte, »wir sollen diese Begebenheit der göttlichen Selbstaufopferung in uns erleben und wahrnehmen […] Was so in jedem von uns vorgeht, das ist in Christus für die ganze Menschheit geschehen.«¹⁰⁰ Offenbarungsgeschehen und Soteriologie werden in Solgers Aufriss zu einer universalen Metaphysik verquickt. Darin spiegelt sich die Vorstellung von Harmonie und Ganzheit ebenso wie die Säkularisierung von Sündenfall und Erlösung: Entzweiung und Versöhnung als zugrundeliegende Elemente der klassischen deutschen Philosophie. Es brauche, so Solger, zunächst ein Bedürfnis nach einer substantiellen Überzeugung. Dieses Bedürfnis, das ist seine Diagnose, sei verschüttet durch die Einseitigkeit und Flachheit seiner Zeitgenossen. Dies zeige sich im »phantasierenden Herumspielen um die Tiefen des menschlichen Bewußtseyns«, welches das »wahre Wesen in tausend Gespenster verwandle« und auf der Seite der Empfindung »wollüstige Beängstigung« erzeuge. Solger redet von einer Art magisch-esoterischer Psychologie: Der Mesmerismus, der sich auf ›animalischen Magnetismus‹, ›Lebensmagnetismus‹ und Hypnose stützt, scheint ihm obskure Kräfte im Menschen freizusetzen. »Von einzelnen Regionen unsers Innern wird die Decke, welche sie mit dem Ganzen verbindet, hinweggerissen, man zeigt die pulsierenden Organe, und der stumpfe Sinn, des wahren Schauens ungewohnt, glaubt in ihren krankhaft zuckenden Bewegungen die Lust des höchsten Lebens wahrzunehmen.«¹⁰¹ Solgers ungnädige Haltung dem Publikum gegenüber erstreckt sich auch auf die Stadt, in der er lebt, nämlich Berlin. »Ich lebe in dieser großen Stadt fast wie auf einer wüsten Insel. Selbst derer, die ein beschränktes Parteiinteresse bewegt, sind doch nur wenige; alles übrige ist, wo es nicht auf das tägliche Brot und die täglichen Austern ankommt, ein weiter stehender Sumpf.«¹⁰² Solger hebt daher die didaktische Funktion des Gesprächs hervor. Es sei dazu bestimmt, die Einseitigkeiten aufzuheben, die Verkrustungen zu beseitigen, die Mühe des Denkens zu fordern und zu fördern. Darüber hinaus ist das Gespräch die der Philosophie selbst adäquate Form. Angemessenheit ist dabei eine zentrale Kategorie. Dahinter liegt nicht nur die Vorstellung der Unablösbarkeit von Inhalt und Form oder die Vorstellung, dass es für bestimmte Inhalte nur eine ›richtige‹, das ist die ›wahre‹ Form gibt, sondern auch die Überlegung einer prinzipiellen Harmonie des Gedankens, die auf der Übereinstimmung von Form und Inhalt beruht. Die Überlegungen Solgers zu Ganzheit und Totalität, universaler Harmonie und innerer Bildung schlagen sich auch in seiner Auffassung des Dialogs nieder. Dann ist der Dialog aber nicht nur eine Möglichkeit unter vielen, Philosophie zu treiben, sondern die ›richtige‹ 99 Vgl. ibid. S. 703. 100 Ibid. S. 632. 101 K. W. F. Solger: Nachgelassene Schriften und Briefwechsel II, S. 193. 102 K. W. F. Solger: Nachgelassene Schriften und Briefwechsel I, S. 607.
5.5. Der Dialog bei Karl Wilhelm Ferdinand Solger
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und ›wahre‹, und nicht nur dies: Das Gespräch muss in sich selbst im eminenten Sinne philosophisch sein. Außer im Gespräch hat die Philosophie keinen ihr angemessenen Platz. Philosophieren heißt nichts anderes, als sich im Gespräch zu befinden. Für die Kunstform des Gesprächs fordert Solger mehr als eine bloße Verteilung des Stoffs auf verschiedene Personen, die dann einzeln und für sich und dann im Gegeneinander die einschlägigen Argumente vorbringen. Dies, so Solgers Auffassung, sei zu wenig und lasse sich – und Solger nimmt damit den Einwand Hegels vorweg – tatsächlich besser dogmatisch beweisend darstellen. Die Dialogform sei dann nur ›leerer Aufputz‹. Gleiches gilt für die Ausgestaltung der Personen: Mit mehr Phantasie ließe sich zwar eine größere Lebendigkeit und Dramatik des Gesprächs erreichen; dies sei aber doch nur ein ›falsches Herüberspielen in das Gebiet der Kunst‹.¹⁰³ Es scheint fast, als habe Solger hier Schellings Dialog Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge vor Augen, der gerade durch einen eklatanten Mangel an innerer Bewegung und Dramatik auffällt. Der Leser müsse an der Entwicklung der Gegensätze aus ihrem gemeinsamen Mittelpunkt teilnehmen: Er müsse hineingezogen werden in das lebendige Geschehen der Entwicklung, um in sich, im eigenen Bewusstsein den Ursprung der Gegensätze in ihrem einfachen und ewigen Wesen zu entdecken. Dabei formt der Dialog die ursprünglich dialektisch-theologische Bewegung von Entzweiung und Versöhnung nach. Das, was die ursprüngliche Identität des eigenen Wesens ausmacht, stellt sich in der erscheinenden Wirklichkeit als entzweit dar, als Nichts des Ewigen, dessen ewige Erscheinung es doch ist. »[…] durch die Aufhebung oder Vermittlung derselben muß er zurückversenkt werden in die Wahrnehmung seiner selbst und der göttlichen Gegenwart, welche in ihm, wie in allem, das wahre Wesen ausmacht.«¹⁰⁴ Die Form des Gesprächs ist nach Solger lebendig und deshalb Ausdruck einer lebendigen Philosophie. Lebendigkeit ist dabei Solgers Schlüsselwort, zugleich Schlüsselwort einer ganzen Generation. Es deutet einerseits eine religiöse Perspektive an, anderseits weist es aber auf die Unmittelbarkeit der Erfahrung hin. Solger deutet mit der Lebendigkeit des Gesprächs und des Lebens an, dass die Philosophie nicht nur theoretisch und rezeptiv ist, sondern eine Aktivität der ›inneren Erfahrung‹ ausdrückt. Das überträgt Solger auch auf das politische Denken. Man dürfe den Staat nicht auf ein Gleichgewicht von Kräften reduzieren. Dies sei eine »Mechanik für Politik, die nie zureicht und alles entwürdigt.«¹⁰⁵ Dagegen komme es auf die Lebendigkeit der Staatsfunktionen an, nämlich Recht, Justiz, Verfassung, Gesetzgebung, Verwaltung. Das Politische ist für Solger nichts anderes als die lebendige Harmonie der Äußerung Gottes mit Gott selbst, ausgedrückt im inneren Leben der Staatsorgane. Lebendigkeit kommt im eminenten Sinn dem inneren Leben zu, der Ort, an dem das Ewige in uns erscheint und in das Leben ›hervorwächst‹. Die Philosophie nimmt in Solgers Überlegungen eine Mittelposition ein zwischen Religion und Kunst. Alle drei Weisen der Weltauffassung sind miteinander 103 Vgl. K. W. F. Solger: Nachgelassene Schriften und Briefwechsel II, S. 197. 104 Ibid. S. 197. 105 K. W. F. Solger: Nachgelassene Schriften und Briefwechsel I, S. 611.
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
organisch verbunden. Die Religion ist Bewusstsein als Glaube des Ewigen. Die Aktivität des Glaubens ist – wie der innere Sinn – introspektiv: Unser Inneres ergreift sich im Glauben selbst, nämlich als Nichts, und verwandelt sich in dieser Selbstauffassung zur Offenbarung des Absoluten. Dies alles nicht in einer rezeptiven Haltung, sondern in aktiver Erfahrung. Solger favorisiert – ähnlich wie Fichte in der Anweisung zum seeligen Leben von 1806 – eine mystische Religiosität, die alle Spuren von Konfessionalität tilgen will, gleichwohl aber auf dem Boden pietistischer Traditionen stehen bleibt. So betont er das Element unmittelbarer – lebendiger – religiöser Erfahrung, eine Erfahrung des Höchsten, in der »wir uns mit Anderen unmittelbar als Eins, als aufgegangen in ein gemeinsames Element«¹⁰⁶ empfinden, eine Erfahrung, welche die Grenzen der Mitteilbarkeit überschreitet und in das Gebiet des Unsagbaren fällt. Das Bewusstsein verschwindet im Ewigen. Anders die Kunst: Kunst ist Bewusstsein als Gestaltung des Ewigen. Das Ewige gestaltet sich durch das Bewusstsein in »ein volles gegenwärtiges und erscheinendes Leben.«¹⁰⁷ Das Medium der Kunst ist das Schauen, in dem die wechselweise Durchdringung von Gott und Erscheinung zugänglich wird. Das Schauen der Kunst verschwindet im Dasein. In der Mitte steht die Philosophie. Sie teilt mit der Kunst das Interesse am Dasein des Ewigen in der Erscheinung. Darüber hinaus muss sie aber das Dasein des Ewigen auch denkend erkennen; sie kann sich daher nicht an das Dasein verlieren, kann sich nicht völlig in die Anschauung des Ewigen versenken. Zugleich darf sie die Seite der Anschauung nicht verlieren, denn Denken ohne Anschauung ist bloße Abstraktion. Dies geschieht in der – nicht als bloß gedankliche Reflexion zu verstehenden – Rückwendung des Menschen zu sich selbst. Darin vermittelt sich die innere Seite der Religion mit der äußeren Seite der Kunst, ohne die Differenz beider Seiten zu nivellieren. Das gelingt der Philosophie durch ihre diskursive Anlage, dies jedoch nur dann, wenn sie einerseits die Introspektion der Religion und das schauende Gestalten und gestaltende Schauen der Kunst in sich vereinigt. Das Resultat ist klar: »Dieses alles nun geschieht durch das Gespräch, in welchem der Mensch sein eigenes Kunstwerk und dadurch nur desto tiefer in das einfachste, unmittelbarste und stillste Bewußtseyn von seinem innersten Wesen und der Gegenwart des Ewigen in ihm zurückgeführt wird.«¹⁰⁸ Das Gespräch verbindet Innen und Außen, Kunst und Religion, Erfahrung und Denken. Der Unterschied zwischen wirklichem Gespräch und Kunstdialog ist längst aufgehoben, ebenso wie der zwischen Inhalt und Form. In dieser Funktion ist das Gespräch der Sphäre alltäglichen Sprechens ebenso enthoben wie dem Bereich der Darstellungsform. Dialogizität ist das Wesen der Philosophie: – Kunst und Gottesdienst zugleich. Sie verschweißt das Dasein der Welt als Kunst mit den vielen anderen Individuen zu einer Gemeinschaft der Philosophen: – Symphilosophieren als ästhetisierte Religion.
106 K. W. F. Solger: Nachgelassene Schriften und Briefwechsel II, S. 195. 107 Ibid. S. 195. 108 Ibid. S. 196.
5.5. Der Dialog bei Karl Wilhelm Ferdinand Solger
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Philosophie und Dialog Es drängt sich die Überlegung auf, dass Solger den Rahmen dessen, was ein Dialog sein kann, gänzlich gesprengt und seine Funktion völlig metaphysiziert hat. Die Ansprüche, die er an seine Dialoge wird stellen müssen, scheinen in jedem Gespräch, sei dieses ein wirkliches oder ein Kunstdialog, uneinholbar. Das Gespräch als Mitte der Philosophie und die Philosophie als Mitte der Wissenschaft erheben die Dialogform zur höchsten Instanz intellektueller Tätigkeit – und werten damit alles wirkliche Schreiben, Sprechen und Unterreden, das dem Anspruch eines solchen Dialogs nicht gerecht wird, zur Scheinhaftigkeit und Unwesentlichkeit herab. Ideal und Wirklichkeit stehen einander unvermittelt gegenüber, und Solger schlägt das Negative daran einseitig der Wirklichkeit zu. Solgers Theorie des Dialogs reflektiert allerdings wesentliche Momente des Philosophierens. An erster Stelle sei die platonische Tradition des Philosophierens erwähnt. Es ist hier nicht der Ort, die Frage nach Platons Theorie des Dialogs und seiner Dialektik zu stellen, geschweige denn, sie beantworten zu wollen. Ich möchte nur kurz darauf hinweisen, dass Platon explizit einen Zusammenhang herstellt zwischen dem äußeren Gespräch und dem inneren Denken, und zwar in einem seiner Dialoge, nämlich dem Theaitet. Platon lässt den Sokrates behaupten, Denken sei nichts anderes als ein Unterreden der Seele mit sich selbst, indem sie fragt und antwortet, bejaht und verneint, solange bis sie eine begründete Meinung hat über das, was sie untersucht. Dann spricht sie ihre Auffassung in einem Satz aus, aber nicht mit der Stimme zu einem anderen, sondern stillschweigend zu sich selbst.¹⁰⁹ Bei Platon gibt es daher eine dreifache Entsprechung: das wirkliche Gespräch, den Kunstdialog und das Denken als Unterreden der Seele mit sich selbst. Alle drei Formen des Dialoghaften hängen mit seiner Auffassung von der Sprachlichkeit des Denkens zusammen. Allerdings macht Platon das nicht explizit. Und er gibt für seine Auffassung keine Argumente, zumindest nicht im Theaitet, vielleicht aber, und das wäre gesondert zu prüfen, im Sophistes. Letztlich wird klar, dass Platon mit dem Unterreden der Seele mit sich selbst eine Selbstbewegung der höchsten Begriffe intendiert, dies zugleich als höchste Form des philosophischen Wissens, – als Dialektik. In der Zeit nach Kant stellte sich die Frage nach der Darstellung der Philosophie mit neuer Schärfe.¹¹⁰ Fichte, dessen Vorträge zur Wissenschaftslehre Solger 1804 in Berlin hörte, war ein reiner Immanenz- und Einheitstheoretiker, dessen ganzes Denken um nichts anderes als um die Darstellung seiner Wissenschaftslehre kreiste. Dabei wurde ihm zunehmend klar, dass sich Inhalt und Darstellung, Tun und Sagen, nur in einem Prozess unablässiger Gedankentätigkeit miteinander abgleichen lassen. Schleiermacher, den Solger 1807 durch den Verleger Reimer kennenlernte, behauptete im Unterschied zu Hegel geradezu die Unablösbarkeit der Dialogform von der Philosophie Platons, indem er darauf hinwies, dass Platon 109 Platon: Theaitetos. 189e-190a. 110 Vgl. Christoph Asmuth: »Tun, Hören, Sagen. Performanz und Diskursivität bei J. G. Fichte«, in: Brady Bowman (Hrsg.), Literarische Darstellungsformen der Philosophie im Umfeld von Romantik und Deutschem Idealismus, Paderborn 2007, S. 77–93.
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5. Kapitel: Philosophenkonkurrenz: Schelling – Fichte
zugleich unter ästhetischer Hinsicht zu rezipieren sei. Schelling, dessen Kolloquium Solger in Jena besuchte, reflektierte in jener Zeit immer wieder den Unterschied, der sich auftut zwischen der begrifflichen Argumentation einer Evolution des Bewusstseins und dem Standpunkt des Philosophen, dem sich diese Evolution darstellt.¹¹¹ Hegel schließlich argumentierte für seine Sprache der Philosophie ebenfalls im Namen der Kongruenz von Sache und Darstellung und schloss damit gerade die Dialogform aus dem Bereich möglicher Darstellungsformen aus. Solger steht mit seiner Auffassung also keineswegs allein. Was seine Auffassung allerdings von anderen unterscheidet, ist seine Option für den Dialog als Darstellungsform seiner eigenen Philosophie. Deutlicher als bei anderen Denkern zeigt sich darin das prinzipielle Scheitern dieses Konzepts, und zwar nicht nur das Scheitern des Dialogs als Darstellungsform, sondern zugleich der zugrundeliegenden Auffassung einer Kongruenz von Form und Gehalt. Ein systematisches Philosophieren, das sich noch nicht dem Druck zur Differenzierung hat ergeben müssen, bildet ein philosophisches System, in dem die leitende Auffassung von Ganzheit, Totalität des Gehalts, Harmonie der Teile zu einem Gesamtorganismus des Denkens und dessen Lebendigkeit vorherrschend ist. Dass diese Auffassung an der Darstellung, d. h. an ihrer Form, scheitert, ist nicht zufällig. Im Gegensatz zu den großen formalen Bauten, etwa den gewaltigen Summen des Mittelalters, sollte die Organisation aus dem Mittelpunkt der Philosophie selbst herrühren, aus ihm abgeleitet und auf ihn zurückgeführt werden. In ihrer höchsten Potenz sollten auch Form und Gehalt aus einem gemeinsamen Prinzip deduziert werden. Das Scheitern ist daher nicht nur eine Anerkenntnis der faktischen Mannigfaltigkeit des Wissens, sondern zugleich der Unauflöslichkeit der Perspektive, in der diese Mannigfaltigkeit erscheint. Solgers Dialogkonzeption hat etwas prinzipiell Ambivalentes. Dieser Befund sollte allerdings keinesfalls dazu führen, etwa Hegels Wertung zu übernehmen, nach der die Dialogform für die Philosophie als Wissenschaft überflüssig, müßig und daher irreführend ist. Im Gegenteil: In Solgers Renaissance des Dialogs kann man eine paradigmatische Entwicklung erkennen. Zwar fügt sich bei Solger die antikisierende Form nur schwer mit seinen philosophischen Ambitionen zusammen. Darin spricht sich aber gleichzeitig die Berechtigung aus, nicht nur Form und Inhalt in Beziehung zu bringen, sondern der Philosophie als Gespräch zu ihrem eigentümlichen Ort zu verhelfen – einem Ort zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Es ist verschiedentlich – und das nicht kritisch, sondern affirmativ – die Rede davon, die Philosophie sei eine textzentrierte Disziplin. Philosophische Gedanken müssten nicht nur textfähig sein, sondern seien darüber hinaus auch textbedürftig. Es gebe keinen Weg am Text oder an textfähigen Aussagen vorbei zur Sache der Philosophie.¹¹² Wenn dies bedeutet, die Philosophie sei der Hauptsache nach eine 111 Vgl. F. W. J. Schelling: System des transscendentalen Idealismus. AA, I, 9,1-2, S. 107. 112 Vgl. Wolfgang Wieland: »Über den Grund des Interesses der Philosophie an ihrer Geschichte«, in: Rolf W. Puster (Hrsg.), Veritas filia temporis? Philosophiehistorie zwischen Wahrheit und Geschichte; Festschrift für Rainer Specht zum 65. Geburtstag, Berlin 1995, S. 9–30; hier S. 27.
5.5. Der Dialog bei Karl Wilhelm Ferdinand Solger
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Bücherwissenschaft, so dürften Solgers Überlegungen zum Dialog hier explizit als Kontrapunkt gelten. Aber damit steht er nicht allein. Bereits Nikolaus von Kues kritisierte die Vorstellung, Philosophie sei Bücherwissen, und zwar in einem Dialog: »Redner: Obwohl ohne Bücherstudium vielleicht manches gewußt werden kann, so doch keineswegs die schwierigen und bedeutenden Gegenstände, […]. Laie: Das ist ja, was ich sagte: daß du von einer Autorität geführt und getäuscht wirst. Irgend jemand hat dieses Wort geschrieben, und du glaubst ihm. Ich aber sage dir: die Weisheit ruft draußen auf den Straßen, […].«¹¹³ Die Authentizität der Philosophie spricht sich nicht in Texten aus, sondern in ›lebendigen‹ Gedanken, die ihre Autorität nicht von außen, sondern von innen beweisen. Solgers Hinweis auf die Gesprächslosigkeit der Philosophie, aus welchen Quellen auch immer sie sich speist, weist auf eine fundamentale Stärke der Philosophie hin, nämlich sich nicht nur in der Sprachlichkeit des Textes, sondern auch in der Sprachlichkeit des Gesprächs und in dem Dritten eines textlichen Gesprächs oder Gesprächstextes aussprechen zu können. Wenn man will, kann man darin das Aufbrechen der Moderne erkennen: Das Prinzip der Subjektivität macht sich geltend, und zwar in der doppelten Thematisierung von Entzweiung und Versöhnung, Potenzierung und Depotenzierung. Der Dialog, die Äußerung des Subjekts in seiner Individualität, will sich nicht mehr in das Konzept einer wissenschaftlichen Philosophie fügen und bleibt unvereinbar mit ihr als Anachronismus zurück. Die Herrschaft der Vernunft in ihren unterschiedlichen Verkörperungen, ihr Machtanspruch gegenüber dem Individuum, lässt sich nur kritisieren im Licht dieser Vernunft, die sich mit sich selbst entzweit als destruktive Macht und als machtlose Destruktion der Macht. In diesen Zusammenhang ließe sich mühelos auch das Auseinandertreten von Dichtung und Wissenschaft einordnen, und der vergebliche Versuch, eine Einheit beider für die Philosophie wiederzuerwerben. Solgers ironischer Wunsch nach einem Lehrgedicht über preußische Finanzwissenschaft bekäme darin einen weiteren paradigmatischen Sinn. Solger war nicht nur der Schüler Fichtes und Schellings. Er öffnete Hegel auch das Tor nach Berlin. Hegel spielte in der Perspektive Fichtes keine Rolle. Fichte hielt ihn für einen unbedeutenden Schüler Schellings. Obwohl gelegentlich darüber spekuliert wird, ob sich an der ein oder anderen Stelle in den Schriften Fichtes vielleicht eine Lektüre der Aufsätze und Bücher Hegels nachweisen ließe, muss man sich dennoch bescheiden. Einen wirklichen Nachweis gibt es nicht. Es ist auch unwahrscheinlich, dass Fichte die ein oder andere Schrift Hegels gelesen haben könnte. Fichte stellte sich als Selbstdenker dar, der seine Philosophie ohne historische Rücksichten vortrug. Und selbst wenn er einiges gelesen hätte: man müsste zu dem Urteil kommen, dass er Hegels Philosophie kaum hätte adäquat würdigen können. Hegels Wirksamkeit in Berlin begann, als Fichte bereits gestorben war. Zuvor allerdings trat er als Kritiker der Transzendentalphilosophie hervor.
113 Nikolaus von Kues: Idiota de sapientia. Der Laie über die Weisheit, hrsg. v. Renate Steiger, Hamburg 1988, S. 5.
Kapitel 6
Erkenntnis und Methode: Kritik und System bei Hegel Im Laufe seines langen philosophisch produktiven Lebens hat sich Hegel intensiv mit der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes auseinandergesetzt. Nach meiner Einschätzung, die ich hier im einzelnen nicht begründen kann, ist die Einschätzung der Philosophie Kants durch Hegel mehr als problematisch. Sein Blick auf Kant ist und bleibt durch seine Tübinger Lehrer beeinflusst und wird durch seine Zusammenarbeit mit Schelling in Jena geschärft. Er beharrt auf einer Sichtweise, die der ersten Generation der Kantnachfolger verpflichtet bleibt. Sein Kantbild ist anders als Fichtes grundsätzlich kritisch und distanziert. In gewisser Hinsicht vereinnahmt Hegel auch Fichte für seine an Kants Philosophie geschulte Kritik der Transzendentalphilosophie. Aber in Bezug auf Fichte wird man Hegels Einwänden doch ein sachlich größeres Gewicht zumessen müssen. Er erkennt einige wesentliche Schwachstellen in der für ihn zugänglichen, d. h. von Fichte zum Druck gebrachten philosophischen Position. Das gilt freilich nur, wenn man die Rahmenbedingungen und Zielsetzungen der Philosophie Hegels akzeptiert. Fichte beharrt darauf, dass seine Philosophie eine Philosophie endlicher Vernunft für endliche vernünftige Wesen sei. Hegel dagegen ist überzeugt, dass es um die unendliche Vernunft gehen muss, die mit ganz eigenen Inhalten umzugehen hat wie der Geschichte, der Relion und der Kunst.
6.1 Hegels frühe Auseinandesetzung mit Fichte Hegel zeichnet in Glauben und Wissen¹ mit klaren Worten und nicht ohne Polemik ein Bild der Reflexionsphilosophie Fichtes. Dabei nimmt er vor allem vier zentrale Argumente Fichtes ins Visier und unterzieht sie einer Kritik. Hegel kritisiert 1. die Formalität und Leere des anfänglichen Ich; 2. die Insistenz des Endlichen; 1
Zum historischen Hintergrund vgl. Hartmut Buchner: »Hegel und das Kritische Journal der Philosophie«, in: Hegel-Studien 3 (1965), S. 95–156. – Zu Glauben und Wissen: Günter Ralfs: »›Glauben und Wissen‹. Eine Interpretation von Hegels Journal-Aufsatz aus dem Jahre 1802«, in: Hermann Glockner (Hrsg.), Lebensformen des Geistes. Vorträge und Abhandlungen, Köln 1964, S. 214–258; Reinhard Lauth: »Hegels Fehlverständnis der Wissenschaftslehre in ›Glauben und Wissen‹«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 88 (1983), 1–34, S. 298–321; Reinhard Lauth: »Hegels Verständnis der Wissenschaftslehre«, in: ders., Hegel vor der Wissenschaftslehre, Stuttgart 1987, S. 75–110.
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6. Kapitel: Erkenntnis und Methode: Kritik und System bei Hegel
3. den reduzierten Naturbegriff, nämlich bloßes Mittel, nichts an sich selbst und darüber hinaus endlich zu sein; 4. den Dualismus des Sollens, der alle Bereiche des menschlichen Lebens unter den Primat der Endlichkeit stellt. Fichtes Transzendentalphilosophie ist für Hegel eine Synthese der Positionen Kants und Jacobis. Kant repräsentiert für Hegel die Subjektivitätsphilosophie unter dem Prinzip des formalen Denkens, nämlich dem Verstand mit seinen Einheitsfunktionen Schematismus, Einbildungskraft und transzendentaler Apperzeption. Ziel sei bei Kant das kritische Geschäft: Die totalisierenden Schlüsse der Vernunft über ihre Gebundenheit an die Erscheinung hinaus – Seele, Gott, Welt in ihrer Unendlichkeit – gehören nicht zu dem Bereich, über den sich wissenschaftlich sprechen lässt. Damit ist die Vernunft auf ihre endliche Potenz reduziert. Diese Gehalte bleiben jenseits der Sphäre des Erkennbaren und ihre Einheit verhält sich bloß abstrakt zum Verstand: wahrhafte Einheit und wahrhafte Gehalte seien reserviert für ein Jenseits, das entweder nur ein Grenzbegriff mit methodologischem Charakter ist oder Gegenstand des Glaubens, der sich explizit nicht als Wissen versteht. Die Idee bleibe bei Kant ein bloßer Gedanke, dem Realität nicht zugesprochen werden könne.² Von der Idee auf ihre Realität überzugehen sei für Kant daher ein »unnatürlicher bloßer Schulwitz, aus Begriffen eine Realität heraus zu klauben«.³ Jacobi nun habe seinerseits diese Differenz, die in dem nicht zur Vernunft kommenden Verstand besteht, in den Ton subjektiver Empfindsamkeit gekleidet. Bei ihm verwandle sich der Gegensatz für das fühlende Individuum in ein Sehnen und Ahnen, das zu einem Wissen weder kommt noch kommen will. Der Grund, weshalb Hegel die Position Jacobis in diese Reihe von Reflexionsphilosophen stellt, liegt in Hegels Auffassung, Jacobi habe diesen Schmerz der nur gefühlten Differenz, wiederum für das Individuum requiriert, den Schmerz damit ästhetisiert, veredelt zu einem schmerzlosen Schmerz, vergoldet zur Süßigkeit religiöser Empfindung, die sich ihres Selbstgenusses im höchsten Maß bewusst ist. Dadurch sei die Naivität einer pietistischen Selbstbescheidung zu scheinbarer individueller Schönheit geläutert, die im Ernstfall – nämlich in Jacobis Romanen – zu nichts anderem reiche als zur »Unzucht mit sich selbst«.⁴ Beide Positionen seien bei Fichte synthetisiert, so dass, und dies die weitreichendste These Hegels, die Reflexionsphilosophie der Subjektivität mit der Fichteschen Transzendentalphilosophie in der Fülle ihrer Formen vollständig auf- und dargestellt, damit geprüft, verworfen und überwunden sei.⁵
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Vgl. G. W. F. Hegel: GW, 4, S. 341: »Der Notwendigkeit dieser Idee, die hier nur als Gedanke vorkommt, ungeachtet, soll doch Realität von ihr nicht prädiziert werden […]. Die Idee ist etwas schlechthin Notwendiges und doch etwas Problematisches.« G. W. F. Hegel: GW, 4, S. 325. Ibid., S. 383. Vgl. ibid., S. 413. Es handelt sich nach Hegel um die »Totalität der für das Prinzip möglichen Formen.« (G. W. F. Hegel: GW, 4,S. 321).
6.1. Hegels frühe Auseinandesetzung mit Fichte
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Formalität und Leere des Ich Hegel kritisiert zunächst das Formale der Philosophie Fichtes, das ihn mit Kants Transzendentalphilosophie verbinde. Fichtes Grundbegriff des Ich, eine Modifikation der transzendentalen Apperzeption Kants verbunden mit der – anders als bei Kant konzipierten – intellektuellen Anschauung, expliziere bloß die formale Einheit des Idealen, der die Differenz uneinholbar entgegentritt. So behaupte Fichte zwar formal, dass alle Weltgehalte nichts anderes seien als Ich, da das Ich die einzige Realität sei; die Weltgehalte sind aber nur im Allgemeinen Ich, nicht in ihrer Besonderheit. Das Mannigfaltige, das Materiale der Erkenntnis, das Besondere des Besonderen, das im strengen Sinne Reale, bleibt für Fichte – nach Hegels Auffassung – philosophisch auf der anderen Seite, d. h. philosophisch uneinholbar. Hegels Kritik richtet sich hier wie auch schon in der Differenzschrift⁶ nicht gegen den Einheitsbegriff als solchen, sondern darauf, dass Fichte eine Einheit vor aller Mannigfaltigkeit gedacht habe, nicht eine Einheit in aller Mannigfaltigkeit. Die Einheit ist nur Einheit vermöge der Abstraktion von der Mannigfaltigkeit. Demgegenüber steht die Auffassung Hegels, dass die Einheit – hier noch gelegentlich gedacht als Indifferenz – nicht vom Mannigfaltigen verschieden ist, sondern in ihm sein wesentliches Sein ausmacht. Damit hängt Hegels Kritik am Realitätsbegriff zusammen. Schon die Reduktion der Dinge an sich auf Erscheinungen ist für Hegel nur verständlich unter der Voraussetzung der Endlichkeit des Subjekts. Damit ist diese Reduktion eine Folge der Vernunftkritik und nicht umgekehrt. Fällt der Verdacht gegen die Vernunft und ihre ihr eigentümlichen Gehalte fort, so muss es gleichgültig sein, ob man von Erscheinungen spricht oder von Dingen, von Empfindungen oder Eigenschaften – gleichgültig in Hinsicht auf die Realität.⁷ Diese Realität bildet, so Hegels Argumentation, bei Fichte einen für den Einzelnen uneinholbaren Zusammenhang des Wirklichen, geprägt durch unbegreifliche Notwendigkeit.⁸ Damit ist das empirische Dasein des empirischen Subjekts kein Gegenstand, sondern nur eine Grenze für die Vernunft. Und die formale Identität des Ich, das in der Perspektive der Wissenschaftslehre einzige Substanz sein soll, erfährt gerade hierin einen unerklärlichen Gegensatz. Mehr noch: Dieses Ich ist frei von Gehalt. Hegel sagt, es sei leer. Der Gehalt, der aus den transzendentalen Formen wirkliches Wissen macht, trete erst nachträglich hinzu. Darin sieht Hegel strenggenommen keinen Dualismus, denn das Ich bleibt absolute Substanz, ist für sich nur unbestimmt gegenüber der Bestimmtheit mannigfaltiger Gehalte, die jedoch – insofern sie Realität besitzen – nichts anderes sind als Ich. Zu kritisieren bleibt für Hegel hier einzig die fehlende Ableitung des 6
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Vgl. G. W. F. Hegel: GW, 4, S. 36: »Ich=Ich, ist […] einer unendlichen objektiven Welt entgegengesetzt. Auf diese Weise ist durch die transcendentale Anschauung kein philosophisches Wissen entstanden, sondern im Gegentheil, wenn sich die Reflexion ihrer bemächtigt, sie anderem Anschauen entgegensetzt und diese Entgegensetzung festhält, ist kein philosophisches Wissen möglich.« Vgl. G. W. F. Hegel: Glauben und Wissen: GW, 4, S. 388. Vgl. ibid., S. 389.
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6. Kapitel: Erkenntnis und Methode: Kritik und System bei Hegel
Bestimmten und der unbestimmte Zusammenhang zwischen der Unbestimmtheit des Ich und der Bestimmtheit wirklichen Wissens. Es macht geradezu das anfängliche Ich, das Hegel als absolutes kennzeichnet, zu einem mangelhaften, zu einem, dem etwas fehlt. Daraus folgt für Hegel, dass das Prinzip Fichtes nur eingeschränktes Prinzip, das Absolute eingeschränktes Absolutes ist. »[…] das völlig Leere, womit angefangen wird, hat durch seinen absoluten Mangel den Vorteil, in sich immanent, die unmittelbare Notwendigkeit zu tragen, sich zu erfüllen, […] eine Notwendigkeit, die darauf beruht, daß das Prinzip schlechthin Teil, und durch seine unendliche Armut, die unendliche Möglichkeit des Reichtums ist,«⁹ vergleichbar einem leeren Geldbeutel, aus dem ebenso das Geld deduziert werden kann, aber eben als das, was völlig fehlt.¹⁰ So wird der Mangel des Prinzips zum eigentlichen Motor der Deduktion. Ist das Prinzip prinzipiell unvollständig, besteht die Notwendigkeit, zur Totalität fortzuschreiten.¹¹ Hegel hat hier den Systemaufbau Schellings vor Augen, an dessen Spitze das Absolute qua Indifferenz steht. Dieses Prinzip als Anfang des Systems muss selbst voraussetzungslos und zugleich Eins und Alles sein, eben das, dem nichts mangelt, Fülle und Identität, zugleich in Allem und für Alles und über Allem, Subjekt-Objekt, Absolutes, absolute Indifferenz. Bei dieser Auffassung wird Hegel nicht bleiben. In der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes setzt er einen anderen Akzent: Dort heißt es, das Wahre sei das Ganze, das Ganze aber erst in der vollendeten Entwicklung wirklich.¹² Der Anfang sei dagegen nur Unmittelbarkeit oder Begriff. »So wenig ein Gebäude fertig ist, wenn sein Grund gelegt worden, so wenig ist der erreichte Begriff des Ganzen das Ganze selbst.«¹³ Anfang, Prinzip und Vollendung treten auseinander und zwischen sie tritt die lebendige Entwicklung. Hegel ist ein Stück zurückgegangen zur Theoriekonzeption Fichtes, auch wenn seine Kritik am bloßen Formalismus der Fichteschen Wissenschaftslehre bestehen bleibt. Gleiches gilt für die Logik von 1812 und Hegels Reflexionen über den Anfang der Wissenschaft. Seine Kritik an Fichte besteht nun nicht mehr darin, dass Fichte mit einem absoluten Ich beginnt, das einen unendlichen Mangel an Bestimmtheit aufweist. Im Gegenteil: darin ist Hegel nun mit Fichte einig, dass der Anfang nur mit dem Unbestimmten gemacht werden kann. Hegel kritisiert, dass Fichte nicht mit einem schlechthin Bekannten und Unmittelbaren beginnt, sondern mit einer Abstraktion, als welche Hegel das anfängliche Ich Fichtes ansieht.¹⁴ Dass dieses Ich leer ist, stört ihn jetzt nicht mehr; in Hegels eigener Theorie des Anfangs beginnt die Wissenschaft vielmehr selbst mit dem gänzlich Leeren.¹⁵ 9 Ibid., S. 390. 10 Vgl. ibid., S. 392. 11 Vgl. Ludwig Siep: Hegels Fichtekritik und die Wissenschaftslehre von 1804, Freiburg; München 1970, 29 f. 12 G. W. F. Hegel GW, 9, S. 19. – Vgl. Christoph Asmuth: »Die Dynamik der Vernunft und der Reichtum der Gehalte. Hegels Position in der Vorrede zur ›Phänomenologie des Geistes‹«, in: Hegel-Jahrbuch 2001 [»Phänomenologie des Geistes«, 1. Teil], 34–40. 13 G. W. F. Hegel GW, 9,S. 15. 14 Vgl. G. W. F. Hegel GW, 11, S. 38 f. 15 Vgl. ibid., S. 44: Das Sein »ist die reine Unbestimmtheit und Leere.«
6.1. Hegels frühe Auseinandesetzung mit Fichte
145
Die Insistenz des Endlichen In Glauben und Wissen kritisiert Hegel, dass bei Fichte »die Leerheit des Wissens Prinzip des Fortgangs wird.«¹⁶ So ist das absolute und anfängliche Ich für Hegel nur ein Teil, der durch einen anderen Teil – die empirische Mannigfaltigkeit – komplettiert werden muss. Dies sind die »Fußeisen der Reflexion«, die diesen Teil, das Ich, zu einem An-sich und zum einzigen An-sich machen und dadurch das Ganze für die Erkenntnis unerreichbar werden lässt. Der Formalismus der Fichteschen Wissenschaftslehre bleibt für Hegel daher nur eine Abstraktion, ein Absehen von der empirischen Mannigfaltigkeit des Wissens. Das Endliche ist dadurch nicht vernichtet, es bleibt vielmehr bestehen, dies gerade wegen der Abstraktion. Die Wissenschaftslehre überwinde das Endliche nicht, sondern abstrahiere lediglich von ihm, um es dann in der Empirie wieder aufzusuchen – nach Hegel »ein Kunststück, das Negative in ein Positives umzusetzen«, das eben nur dazu taugt, »jene Masse gemeiner empirischer Realität, eine allenthalben endliche Natur, eine Sinnenwelt« zu produzieren.¹⁷ Die empirische Realität werde in der Abstraktion zuerst vernichtet. Sie werde durch diese Operation zum eigentlichen Mangel, denn es bleibt nur eine leere Vorstellung. Das Subjekt dieses Mangels – für Hegel das Ich Fichtes – werde dann an die Empirie künstlich wieder angeknüpft, ohne dass das Ganze in seinem inneren Zusammenhang wieder hergestellt werden könne. Hegel entwickelt damit eine Kritik an der Transzendentalphilosophie überhaupt, nicht nur an ihrer Ausprägung in Fichtes Wissenschaftslehre. Der reduzierte Naturbegriff Das Andere, die empirische Realität, welches das formale Ich als sein Komplement benötigt, wird für Fichte – so Hegels Kritik – zur endlichen Natur. Diese steht dem Menschen daher gegenüber, aber nicht symmetrisch, sondern als bloßes Mittel für die Zwecke des setzenden Ich. Hegel gebraucht den Begriff Teleologie, weil die Natur in der Perspektive Fichtes nur um eines anderen Zweckes willen da sei. »Die Fichtesche Teleologie stellt dasjenige, was als Natur erscheint, […] als um eines andern willen Vorhandenes dar, nämlich um den freien Wesen eine Sphäre und Spielraum zu bilden, und um zu Trümmern werden zu können, über denen sie sich erhöben, und so ihre Bestimmung erreichten.« Hegels Vorwurf ist dreifach: 1) die Natur sei bloß als endliche aufgefaßt; 2) sie sei zum bloßen Materiale der Pflicht degradiert; 3) sie diene schließlich selbst in ihrer Vernichtung nur der Erhebung des moralischen Wesens. Dadurch sei die Natur »Nichts an sich, sondern nur in Beziehung auf Anderes, ein absolut Unheiliges und Totes.«¹⁸ Hegel belegt das mit einem berühmten Zitat aus der Bestimmung des Menschen. Fichte beschreibt dort den Kampf des Menschen um seine Subsistenz, die er einer feindlichen Natur abgewinnt. Die Natur überzieht den Menschen mit einer nie endenden Fülle von Katastrophen und Krankheiten. Das Paradigma des Naturverhältnisses ist für 16 G. W. F. Hegel GW, 4, S. 391. 17 Ibid., S. 393. 18 Ibid., S. 405.
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6. Kapitel: Erkenntnis und Methode: Kritik und System bei Hegel
Fichte eher der Ingenieur oder der Arzt. Für Hegel dürfte es auch der Naturwissenschaftler und Künstler sein. Der Dualismus des Sollens Aus all diesem folgt der Hauptkritikpunkt Hegels. Die Reduktion der Welt auf eine Erscheinung der Ich-Substanz, die Reduktion der Natur auf ein Material der Pflicht, die Reduktion des absoluten Prinzips auf einen absoluten Mangel führe nämlich bei Fichte zu einen unbedingten Sollen, zu einem gesollten Zu-sichKommen der Subjektivität, dem ein Nicht-zu-sich-kommen-Können entgegenstehe. So ergebe sich bei Fichte ein unendlicher Progress,¹⁹ in dem zugleich die Vervollkommnung des Menschen, der Gesellschaft, des Staats und der Natur involviert sei. Damit nimmt Hegel die Grundstruktur der Wissenschaftslehre Fichtes ins Visier: »Durch die absolute Subjektivität der Vernunft und ihre Entgegensetzung gegen die Realität, ist nunmehr die Welt der Vernunft absolut entgegengesetzt, dadurch absolute vernunftlose Endlichkeit und unorganische Sinnenwelt, die im unendlichen Progress gleich Ich werden soll, d. h. absolut ist und bleibt.« Das Sollen löst in der Fichteschen Philosophie nicht das ein, was von ihm erwartet wird: die Kluft zu schließen zwischen dem Absoluten – d. h. dem schlechthin sich selbst und alle Realität setzenden Ich am Beginn der Wissenschaftslehre – und der zu sich selbst zurückgekehrten, durch das Mannigfaltige erfüllten Subjektivität. So müssen Unendlichkeit und Endlichkeit auseinanderfallen. Die Realität tritt dabei auf die Seite der Endlichkeit, die darum Endlichkeit bleibt, weil sie das Absolute, die erfüllte Einheit mit sich selbst, nur erstrebt, nicht aber sein kann. Das Charakteristikum der Endlichkeit ist darum auch eine doppelte Getrenntheit, nämlich einerseits verschieden zu sein von sich selbst – empirisches Ich und absolutes Ich sind ein in sich getrenntes Ich,²⁰ dessen Ausdruck das Sollen ist – und andererseits verschieden zu sein vom Verschiedenen, dem Mannigfaltigen des Objektiven. »[…] für Ich können die Dinge schlechthin nicht werden, was sie sein sollen, weil eben damit das NichtIch aufhörte zu sein, und Ich würde, Ich=Ich als wahrhaft absolute Identität ohne einen zweiten Grundsatz wäre, das Ich etwas aufhöbe, was es selbst gesetzt hat, und selbst aufhörte Ich zu sein.«²¹ Dies die fundamentale Kritik Hegels: das System Fichtes habe den im Sollen enthalten Dualismus nicht gelöst; im Gegenteil: es habe ihn auf Ewigkeit festgeschrieben. Hegels System – Fichtes Transzendentalphilosophie Hegels Kritik verdankt sich einer umfangreichen Textkenntnis, insbesondere bezieht er sich auf die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre sowie auf die Be19 Darin unterscheidet sich Fichte – nach Hegel – von dem eher bescheidenen Programm Kants, in dessen praktischer Philosophie allein der Gedanke einer Harmonie von Moralität und Glückseligkeit im Vordergrund stehe, eine Harmonie, die als höchstes Gut figuriere. Vgl. G. W. F. Hegel GW, 4, S. 345. 20 Vgl. G. W. F. Hegel, Differenzschrift, in: GW, 4, S. 34. 21 G. W. F. Hegel GW, 4, S. 399.
6.1. Hegels frühe Auseinandesetzung mit Fichte
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stimmung des Menschen.²² Aber von einer weiteren Entwicklung, die Fichte bereits 1799 über das Jenaer System hinausführte, wusste Hegel nichts – und konnte auch nichts wissen, denn Fichte publizierte seine Hauptarbeiten nicht mehr: Nahezu alle Texte zur Wissenschaftslehre blieben Manuskript. So steht in Hegels Überlegungen die Bestimmung des Menschen in ihrer Bedeutung merkwürdig quer. Sie ist eine der schwächsten Schriften Fichtes, eine Krisenschrift, deswegen nicht weniger wichtig für eine Beurteilung seines Denkweges, aber für sich von nur geringem systematischem Wert. In der Tat scheint sich Fichte hier der Position Jacobis anzunähern, aber nur um alsbald wieder den Weg der Transzendentalphilosophie aufzunehmen.²³ In der Anweisung zum seeligen Leben (1806) ist der Glaube ein subalterner Standpunkt, demgegenüber das reine Denken als Auge bezeichnet wird, mit dem Gott geschaut werde: Fichte behauptet die wurzelhafte Identität von Gott und Denken. Tatsächlich strebt Fichte die Entwicklung einer immanent verfahrenden Transzendentalphilosophie an. Gott ist ihm das Reale schlechthin, ein notwendiger Gedanke, wenn objektives Wissen als System möglich sein soll. Fichte verstärkt dabei den Standpunkt der sich seiner selbst versichernden endlichen Subjektivität. Durch die Rückbindung aller transzendentalen Gehalte an ein es vollziehendes empirisches Subjekt gelingt es Fichte, auch für die nicht empirischen Gehalte Evidenz und Verbindlichkeit zu erzielen.²⁴ Die Struktur des Sollens bleibt erhalten, allerdings modifiziert, insoweit Fichte nämlich auch die der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre noch zugrundeliegende Struktur aufhellen will. Das Sollen wird nun zwischen einem vorauszusetzendem Sein und der transzendentalen Freiheit angesiedelt, die nichts anderes ist als die unvermittelte und unvermittelbare Möglichkeit der Erscheinung der Erscheinung dieses Seins. Sollen ist dabei nicht allein gerichtet auf die moralische Welt, sondern gehört wie das Sein und die Freiheit zu den transzendentalen Möglichkeitsbedingungen des Welthabens schlechthin. Sollen ist die basale und primäre Synthesis von Sein und Freiheit.²⁵ Hegels Grundsatzkritik ist daher auch für den späteren Fichte zutreffend: Es erhält sich bei ihm ein prinzipieller Dualismus. Allerdings gilt für Fichte ebenso: Die Wissenschaftslehre bleibt eine Theorie absoluter Einheit. Dass sich beide Positionen in der Wissenschaftslehre Fichtes nicht gegenseitig ausschließen, liegt an der Umsetzung dieser Entgegensetzung in Gedankenbewegung. Ein Stehenbleiben und Anhalten bei einem einseitigen Resultat wird dadurch unmöglich. Hegel beurteilt dagegen die Wissenschaftslehre, und das betrifft auch die Grundlage, nach ihren Resultaten. Er sieht nicht auf den methodologischen Gewinn, den Fichte vor allem im Evidenzcharakter seiner Theorie erkannte. Hegel sieht die 22 Dass Hegel die Schriften aus dem sog. Atheismusstreit zur Kenntnis genommen hat, versteht sich von selbst, bildete doch das Geschehen einen literarisch-politischen Skandal erster Güte. Dazu gehört auch der berühmt-berüchtigte öffentliche Brief, den Jacobi an Fichte sandte und in dem Jacobi sowohl Fichte als auch die literarische Öffentlichkeit wissen ließ, er hielte Fichtes Wissenschaftslehre ganz und gar nicht für Atheismus, denn es sei in Wirklichkeit Nihilismus. 23 Vgl. dagegen Ludwig Siep, Hegels Fichtekritik und die Wissenschaftslehre von 1804, 28. 24 Vgl. J. G. Fichte, WL ²1804. 25 Vgl. J. G. Fichte, WL 1811, GA II, 12, S. 190–209.
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6. Kapitel: Erkenntnis und Methode: Kritik und System bei Hegel
Dürftigkeit und den Mangel an realem Gehalt. Die Argumente Hegels entstammen einer Perspektive, die Fichte als Transzendentalphilosoph gar nicht einnehmen kann: nämlich der einer Totalen.²⁶ Hegel abstrahiert gerade – und dies aus einer systemstrategischen Argumentation heraus – vom Vollzug der Theorie, die für Fichte nur Akt eines empirischen Subjekts sein kann. Für Fichte kommt das Ganze niemals als solches in den Blick, weil es niemals als solches gegeben ist, sondern stets nur als ein Gedanke in einem bestimmten Argumentationszusammenhang, was eine ständige Reflexion auf die Gegebenheitsweisen notwendig macht. Für Fichte ist das Unendliche nur in einer endlichen Perspektive aufgehoben, aber ihm ist der Gedanke möglich, dass sich das Endliche zugunsten des Unendlichen explizit für ungültig erklärt, um das Unendliche als Unendliches hervortreten zu lassen. Hegels nachkritische Metaphysik besitzt den Reichtum an Gehalten, den man in Fichtes verwinkeltem Theoriegebäude schmerzhaft vermissen darf. Darin und in der tiefen intellektuellen Durchdringung der Mannigfaltigkeit philosophischen Denkens liegt sein unendlicher Vorzug gegenüber der Wissenschaftslehre Fichtes. Diese ist – wie Hegel richtig einschätzt – nicht auf die Welt gerichtet, sondern auf die Evidenz, damit prinzipiell nicht auf die Weltgehalte, sondern auf die Qualität unseres Wissens von ihnen. Und darin liegt der Vorzug der Transzendentalphilosophie Fichtes. Da man in der Philosophie nicht zwei Vorzüge einfach addieren kann, so dass aus zwei Vorzügen eine noch vorzüglichere Philosophie resultierte, wird man sich bescheiden müssen, zunächst systematisch zu diskutieren, wie sich Zielsetzung, Aufbau und Erklärungspotential einer Theorie zueinander verhalten. Das Resultat dürfte sein, dass sich Fichtes Begründungslogik und Hegels metaphysische Logik sowohl von ihrem Ansatz als auch in ihren Ausgestaltungen in einer anderen Sphäre bewegen, beide deshalb strenggenommen keine Konkurrenten oder Alternativen wären – weder historisch noch systematisch. Die scheinbare Nähe der theoretischen Konzepte beruht einzig auf dem Faktum, dass sie sich gleichermaßen in der nachkantischen Theoriesituation entwickelt haben. Eine dialogische Theorieform, die das Andere als Anderes und nicht bereits als Anderes seiner selbst thematisiert, strebten beide Philosophen nicht an. Sie glaubten an die Universalität der Vernunft, die doch nur ihre Vernunft war, und reduzierten sie – sei sie endlich oder unendlich – auf ein präfiguriertes Feld. Die quecksilbrige Essenz des Denkens will sich aber dadurch nicht beruhigen lassen.Das Bild, das Hegel von der Transzendentalphilosophie, insbesondere aber von Kant zeichnet, wirkt heutzutage stark durch seine eigenen systematischen Vorentscheidungen geprägt. So entsteht ein Kantbild, dass eher einer Karikatur Kants gleicht. Man bekommt schnell den Eindruck, dass viele Kritikpunkte gar nicht Kant selbst treffen, sondern eine
26 Vgl. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke, 18, S. 25, Anm. 10: »Der Geist erfordert, daß er eine allgemeine Vorstellung von dem Zweck, der Bestimmung des Ganzen bekomme, damit man wisse, was man zu erwarten hat. Man will die Landschaft im allgemeinen überschauen, die man dann aus dem Auge verliert, wenn man den Gang in die einzelnen Teile antritt.«
6.2. Hegel über die Kritische Philosophie
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bestimmte Gruppe von Kantinterpreten und Weiterdenkern, denen er in Tübingen bereits begegnet ist. Das entwertet freilich seine Ausführungen zu Kant keines. Sie bilden nämlich ein beredtes Zeugnis für die Schnitt- und Demarkationslinien, die für Hegels Philosophie charakteristischen sind.
6.2 Hegel über die Kritische Philosophie Die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften ist jenes Buch Hegels, dass sein System dem intellektuellen Publikum vollständig vorstellen sollte. In diesem Buch gibt es einen Vorbegriff, eine Art Propädeutik für das System. Der Vorbegriff besitzt die Funktion einer Einleitung in die Logik. Dazu gehören nach Hegel nicht nur die Erklärung des Standpunktes und der Form, in der eine Logik als die »Idee im abstrakten Element des Denkens«²⁷ abzuhandeln wäre, sondern auch die Problemgenese, durch die das Antwortpotential der Logik allererst angemessen einzuschätzen sei. Neben der Metaphysik der Verstandes, die sich für Hegel hauptsächlich im sog. Rationalismus der Aufklärungsphilosophie darstellt, präsentiert er in der Zweiten Stellung des Gedankens zur Objektivität zwei weitere Positionen: Empirismus und Transzendentalphilosophie. Entsprechend der Gesamtanlage der Philosophie Hegels geht es ihm dabei um drei wichtige Aspekte im Umgang mit philosophischen Gedanken. Einerseits kritisiert Hegel die vorausgegangenen philosophischen Positionen. Insofern werden Empirismus und Transzendentalphilosophie als unzureichende, einseitige und daher falsche Antworten auf zentrale philosophische Probleme gewertet. Dagegen setzt Hegel – und das ist der zweite wichtige Aspekt – sein eigenes philosophisches System ab, ein System von dem er behauptet, dass es alle Einseitigkeiten vermeide und eine schlüssige Form der Philosophie biete. Unter einem dritten Aspekt wertet Hegel die überwundenen Positionen als substantielle Beiträge für die Entwicklung der Philosophie. Empirismus und Transzendentalphilosophie werden daher nicht nur abgelehnt, sondern zugleich als zwar unvollkommene, aber dennoch wahrheitsfähige Teilprojekte der Philosophie anerkannt. Hegel kritisiert nicht nur, sondern er weiß, was seine Philosophie dem Kritisierten verdankt. Betrachtet man die Position Hegels selbst aus einem historischen Standpunkt, so erkennt man unschwer, dass Hegel die Aufklärungsphilosophie überhaupt kritisiert. Das ist für diese Zeit nichts Ungewöhnliches. Tatsächlich setzt sich in der Zeit nach Kant die Auffassung durch, die Aufklärungsphilosophie überwunden zu haben oder sie überwinden zu müssen. Es entsteht das Bewusstsein, eine neue Philosophie an deren Stelle setzen zu wollen oder bereits gesetzt zu haben. Die Philosophen in der Zeit Hegels reflektieren auf eine radikale Brucherfahrung. Es handelt sich insgesamt um Philosophen, welche die Französische Revolution direkt oder indirekt thematisieren oder auf ihrem Hintergrund zu verstehen sind. Es handelt sich um Denker, welche die Revolutionszeit erlebt haben und die gravierenden Umstrukturierungen der europäischen Ordnung durch Napoleon bewusst 27 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie 1817, GW, 13, S. 23.
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6. Kapitel: Erkenntnis und Methode: Kritik und System bei Hegel
wahrgenommen haben. Es handelt sich um Intellektuelle, die die Restauration der alten europäischen Kräfte im nachrevolutionären Europa nicht selten mit Depressionen quittierten. Anders jedoch als die Philosophen der Romantik, welche die Überwindung der Aufklärung in einer radikalen und bewusst vollzogenen Abkehr von ihr suchten, besteht Hegels Programm in einer Überwindung durch Vollendung. Dementsprechend wird der Vernunftoptimismus von Hegel nicht abgelehnt, sondern gesteigert. Diese Klimax, die zugleich Kritik ist, versteht Hegel als einen zielgerichteten Prozess vernünftiger Selbstbestimmung. Damit dieser Prozess in seiner in sich differenzierten Komplexität überhaupt dargestellt werden kann, bedient sich Hegel einer tradierten immanenten Differenzierung der Subjektivität. Bereits Platon und Aristoteles, auf die sich Hegel in anderen Schriften ausführlich und positiv stützte, kannten eine solche innere Ausdifferenzierung der Subjektivität in Anschauung, Verstand und Vernunft. Innere Differenzierung bedeutet dabei, dass die Einheit der Subjektivität durch die Benennung ihrer unterschiedlichen, ja sogar gegensätzlichen Funktionen nicht gefährdet wird. Die Subjektivität wird von Hegel nämlich nicht wie ein Ding oder Gegenstand betrachtet. Die Unterscheidung bei einem Gegenstand würde zur Erkenntnis seiner verschiedenen Teile führen. Teile eines Gegenstandes aber bilden einen Gegenstand, der folgerichtig teilbar ist und aus Teilen zusammengesetzt ist. Anders die Subjektivität! Sie besteht nicht aus den Teilen Anschauung, Verstand und Vernunft. Trotz unterschiedlicher Funktionen ist die Subjektivität eine und bleibt eine im Vollzug ihrer Instanzen und deren jeweils speziellen Funktionen. Der Empirismus Dieses Modell innerer Differenzierung wendet Hegel auf die Entwicklung der Philosophie der Neuzeit an, die für ihn eine Entwicklung der Subjektivität selbst ist. Ein Historiker der Aufklärungsphilosophie müsste hier scharf intervenieren, denn Hegels Urteil ist pauschal und den einzelnen Positionen gegenüber ungerecht und unangemessen. Aber historische Gerechtigkeit ist nicht das vordringliche Ziel Hegels: Es geht ihm vielmehr um ein zugrundeliegendes Prinzip, dass nicht nur, sondern auch in der Geschichte der Philosophie der Neuzeit wirksam ist. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Hegel den sog. Rationalismus,²⁸ also die philosophische Entwicklung, die mit Descartes beginnt und in der Zeit Kants zu einem Abschluss kommt, insgesamt als eine Philosophie des Verstandes auffasst. Das bedeutet, folgt man der Auffassung Hegels, dass die Philosophie des Rationalismus keineswegs unvernünftig war, denn selbstverständlich ist der Verstand immer auch vernünftig. Die Vernunft ist im Verstand aber nur verständig. Diese Einseitigkeit erzeugt – und das ist Hegels Idee – eine grundlegende Abstraktheit, mit der die Philosophie sich ihren Gegenständen zuwendet. Die Verstandesphilosophie der Aufklärung sei durch diese Abstraktheit zugleich leer. Darin spricht sich die Auffassung aus, dass abstrakte Vorstellungen durch Absehen von konkreten 28 Die philosophiehistorisch gebrauchte Periodisierung Rationalismus kommt selbst erst in der Zeit Hegels auf und hat zunächst einen abwertenden Klang.
6.2. Hegel über die Kritische Philosophie
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Merkmalen entstehen. Die Vorstellung einer Gottheit beispielsweise als Inbegriff der Realität sei völlig unbestimmt und damit leer gegenüber dem konkreten Gott, der durch die Fülle der Geschichte und die existentiellen Erfahrung des Menschen in der Religion aufgeladen ist. Hegel kritisiert diese Abstraktheit, weil sie – folgt man Hegel – unter der Vorherrschaft einer leeren Identität steht, die aus der Beziehung gedanklicher Bestimmungen besteht, Bestimmungen, die einen grundlegenden Mangel besitzen: Es fehlt ihnen konkreter Inhalt. Diese Mangelsituation ist für Hegel zugleich Erklärungsgrund. Sie erklärt nämlich die Wendung des Empirismus zur konkreten Erfahrung. Als eine Art Kompensation beschreibt Hegel den Empirismus, der nun nicht mehr den abstrakten aus der Zeitlichkeit herausgehobenen Gedanken betrachtet, sondern das Hier und Jetzt der konkreten Wahrnehmung, der Empfindung und des Gefühls. Der Empirismus fordert die Konkretion des Wirklichen ein, und zwar gegen den bloß abstrakten Gedanken der Metaphysik. Er ist irdisch, er wendet sich der Sinnlichkeit zu und nimmt mit den Sinnen seinen Ausgang. Damit wohnt dem Empirismus ein skeptisches Moment inne; er wendet sich gegen die leere Konstruktion, gegen das beweisende Verfahren bloß verständiger Gedanken. Der Empirismus erkennt das Ungenügen des rationalistischen Verfahrens, das darin besteht, Definitionen festzulegen und aus ihnen zu schließen. Zwar braucht auch der ›Rationalismus‹ eine Empirie, aber ihre Rolle ist, so Hegel, zurückgeschnitten auf die bloße Beglaubigung abstrakter Schlüsse. Die konkrete sinnliche Erfahrung des Menschen wird damit degradiert und gegenüber den Inhalten einer rationalen Metaphysik, Ontologie, Psychologie, Kosmologie, Theologie abgewertet. Aus dieser Grundsituation entwickelt Hegel das Verhältnis des Empirismus zu jenen allgemeinen Inhalten, die die rationale Metaphysik behandelt. Er nennt vor allem die theoretischen Begriffe Materie, Kraft, Eines, Vieles, Allgemeinheit usw. Im Gegensatz zu den Begriffen der Moral oder der Theologie beziehen diese Begriffe ihre Berechtigung aus den Fortschritten der Naturwissenschaft. Sie sind etwas Allgemeines, das gleichwohl vom Empirismus nicht als bloß definierter Gedanke aufgefasst werden kann, sondern dessen Wirklichkeit und Rechtfertigung aus der Sinnlichkeit abgeleitet werden muss. Mit einem Wort: Hegel macht auf das Induktionsproblem aufmerksam, das eine zentrale Rolle für jede empiristische Position spielen muss. Es besteht darin, dass aus einzelnen sinnlichen Eindrücken letztlich auf eine allgemeine Regel geschlossen werden soll. In Hegels Darstellung gewinnt das Induktionsproblem eine allgemeine Stellung: Welche Bedeutung kann das Allgemeine überhaupt gewinnen, wenn ausschließlich konkrete einzelne Sinneseindrücke, Wahrnehmungen und Empfindungen Geltung beanspruchen können? Hegel bewertet den Empirismus daher in zweierlei Hinsicht. Er hebt die Zuwendung zur Erfahrung positiv hervor. Der Empirismus besteht in einem Gewinn an Realität. Er wendet sich der Wirklichkeit der Erfahrung zu, und mit der Erfahrung dringt die Fülle wirklicher Inhalte in die Philosophie ein. Das ist nach Hegel ein echtes philosophisches Prinzip. »Es liegt im Empirismus dies große Prinzip, daß, was wahr ist, in der Wirklichkeit sein und für die Wahrnehmung da sein muß.« ²⁹ Hegel zeigt damit unmissverständlich, dass er nicht gewillt ist, einen in29 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie 1817, GW, 13, § 38
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6. Kapitel: Erkenntnis und Methode: Kritik und System bei Hegel
tellektualistischen Idealismus zu vertreten, nach dem nur das wahr und wirklich ist, was sich denken lässt. Im Gegenteil: Die Wahrnehmung darf auf keinen Fall entwertet werden, denn sie ist ein wesentlicher Zugang zur Wirklichkeit. Wahr ist nicht nur, was gedacht wird; das Wahre muss auch wahrgenommen werden können. Eine unsinnliche, bloß intellektuelle Metaphysik unterläuft daher ein zentrales Wahrheitskriterium. Eine weitere wichtige Einsicht des Empirismus – Hegel nennt sie subjektiv, weil sie die Seite des Subjekts betrifft – besteht in einer besonderen Art der Freiheit, nämlich sich selbst, das Subjekt, in der Erkenntnis aktiv zu wissen. Das ist eine Art theoretischer Freiheit: Sie ist zunächst nicht moralisch, sondern akzentuiert nur das performative Moment allen Erkennens. Es ist da nicht nur das Objekt, das zu erkennen ist, sondern ich selbst bin in der Erkenntnis aktiv. In der Hinwendung zur Wahrnehmung, zur Empfindung, zur Erfahrung insgesamt wird daher die Abstraktheit des ›Rationalismus‹ überwunden – ein Fortschritt in der Philosophie. Damit hat die Philosophie zugleich ein weitreichendes skeptisches Potential gewonnen, denn die Definitionen, Schlüsse und Konstruktionen der rationalen Metaphysik werden nicht nur an der Erfahrung überprüft, sondern durch die konkrete Erfahrung infrage gestellt. Hegel nennt insbesondere den Skeptizismus David Humes: »Der Humesche [Skeptizismus] legt die Wahrheit des Empirischen, des Gefühls, der Anschauung zum Grunde und bestreitet die allgemeinen Bestimmungen und Gesetze von da aus, aus dem Grunde, weil sie nicht eine Berechtigung durch die sinnliche Wahrnehmung haben.« (Enz. § 39) In der zweiten Hinsicht hebt Hegel den dadurch neu entstandenen Mangel hervor: Der Empirismus vergisst das eigene Vorgehen. Durch die Zuwendung zur Erfahrung, die zugleich eine Beschränkung auf die Erfahrung ist, geht – und das ist der zentrale Kritikpunkt Hegels – das Interesse für das Übersinnliche verloren. Dieses Übersinnliche, das Hegel für die Philosophie einfordert, ist nun keineswegs mit dem esoterischen Geisterglauben oder etwa der symbolischen Astrologie heutiger unaufgeklärter Zeitgenossen zu verwechseln. Hegel denkt vielmehr an den ganzen Bereich der Methodologie und Wissenschaftstheorie, für die er eine Begründung eigener Art fordert. Hegel denkt an seine eigene Logik, für die im Empirismus kein Platz ist. Eine nominalistische Begründung einer Theorie der Wissenschaften ist nach Hegel unmöglich. Aus der Empirie heraus lässt sich noch nicht einmal die Empirie selbst als Konzept begründen. Deshalb fordert er, dass neben der Erfahrung und den Schlüssen, die aus ihr gezogen werden können, zumindest auch das Schließen selbst thematisch werden muss, ein Schließen, dass sich in der Erfahrung nicht findet und auch nicht finden lässt. Das Schließen, das Fortgehen von einer Beobachtung zur nächsten, das Fortgehen von vielen Beobachtungen zu einer Regel, das Fortgehen von einer Regel zu einem System von Regeln, setzt, so Hegel, Metaphysik voraus, nicht aber Metaphysik im Sinne der Alten, sondern Meta-Physik, als einen eigenständigen gedanklichen Bereich, der in sich selbst begründet und durchsichtig ist, jenseits der Physik. Hegels Kritik am Empirismus läuft also darauf hinaus, eine Logik als Desiderat anzumahnen – eine Logik natürlich im speziellen Sinne Hegels.
6.2. Hegel über die Kritische Philosophie
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Die kritische Philosophie Kants Unter dem Begriff der kritischen Philosophie handelt Hegel einzig die Philosophie Kants ab, nicht etwa, wie man vermuten könnte, auch die Wissenschaftslehre Fichtes. Kant ist für Hegel – wie für die ganze Generation – der zentrale Anknüpfungspunkt. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Philosophen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachdachten, sich innerhalb eines Kantischen Referenzrahmens bewegten. Das gilt mit verschiedenem Akzent vielleicht bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, sicher aber für die Philosophie in Deutschland bis nach dem 2. Weltkrieg. Für die heutige Philosophie kann man diesen Referenzrahmen nicht mehr oder nur bedingt voraussetzen. Das macht für uns Heutige die Auseinandersetzung Hegels mit der Philosophie Kants ziemlich problematisch. Es ergeben sich Schwierigkeiten, den Kontext und die theoretischen Ansatzpunkte Hegels zu dechiffrieren, weil uns der Diskussionsstand der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts nicht mehr geläufig ist. Ein weiteres Problem tritt hinzu: Hegels Ausführungen in der Enzyklopädie von 1830 blicken auf eine über dreißigjährige intensive Auseinandersetzung mit Kant zurück.³⁰ Sie sind deshalb ein Kondensat, dicht gedrängt, teilweise nur anspielend oder abkürzend, und sie setzen die genaue Kenntnis der drei Kritiken Kants voraus. Hinzu tritt, dass Hegel eine ganz eigenständige Lektüre und eine spezifische Kritik der kritischen Philosophie entwickelt hat, die ihre ganze Dynamik erst auf dem Boden des Hegelschen Systems und dessen Grundbegriffen vollständig entwickelt. Es ist daher nicht zu Unrecht behauptet worden, dass die Kantkritik Hegels auf Missverständnissen und Fehleinschätzungen beruht. Für die Interpretation der Texte Hegels sollte indes das Augenmerk auf der Selbständigkeit seiner Position liegen. Kant in historischer Hinsicht Gerechtigkeit widerfahren zu lassen ist in Bezug auf die Texte Hegels eine Verengung. Ich will mich deshalb hier im Wesentlichen darauf beschränken, die Interpretation Hegels zu erklären, nicht aber, sie mit der Philosophie Kants abzugleichen. Hegel behandelt die kritische Philosophie Kants in der Aufeinanderfolge der drei Kritiken. Allerdings gibt es in der Darstellung ein klar zu erkennendes Ungleichgewicht zwischen der theoretischen Philosophie – der Kritik der reinen Vernunft – und den beiden anderen Kritiken – Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft. Die Kritik der reinen Vernunft wird detailliert besprochen, während Hegel auf die beiden anderen Kritiken nur kursorisch eingeht, ja, die Kritik der Urteilskraft wird sogar bloß in einer Art Einschub in den praktischen Teil behandelt. Dieser Aufbau dürfte der Funktion des Vorbegriffs einer Logik geschuldet sein, die ihrem Inhalt nach mehr auf der Seite der theoretischen Philosophie steht und dem Material und Aufbau entsprechend mehr an die Kritik der reinen Vernunft anschließt.
30 Martin Bondeli: Der Kantianismus des jungen Hegel. Die Kant-Aneignung Hegels auf seinem Weg zum philosophischen System, Hamburg 1997.
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6. Kapitel: Erkenntnis und Methode: Kritik und System bei Hegel
Hegels Kritik der Kritik Zunächst geht Hegel von den Gemeinsamkeiten aus, die einen Übergang zwischen dem Empirismus und der kritischen Philosophie möglich machen (§ 40). Diese Gemeinsamkeit findet sich in der Restriktion der Erkenntnis auf Erfahrungserkenntnis. Wie der Empirismus so sei auch Kant von einem starken Erfahrungsbegriff ausgegangen. Allerdings falle diese Restriktion bei Kant anders aus als im Empirismus: Kant betrachte die Erkenntnis als Erkenntnis von Erscheinungen. Mit diesen wenigen Worten erläutert Hegel die gesamte transzendentale Ästhetik Kants. Dann stellt Hegel das methodologische Grundgerüst der theoretischen Philosophie Kants dar: die Zwei-Quellen-Theorie, nach der Verstand und Sinnlichkeit die beiden einander entgegengesetzt operierenden Stämme, »Elemente«, unserer Erkenntnis bildeten. Die Sinnlichkeit bietet das Material, die Begriffe oder Kategorien, die allgemeinen Beziehungen dieses Materials. Eine Analyse der Erfahrung durch Kant ergebe, dass sich die allgemeinen Beziehungen nicht in der Sinnlichkeit finden lassen, die immer nur unverbundenes Einzelnes enthalte. Die allgemeinen Beziehungen oder Kategorien sind folglich apriorisch. Sie gehen der Erfahrung vorher und gehören der Spontaneität des Verstandes zu. Die Kategorien verbürgen in ihrer Beziehung auf das Material der Sinnlichkeit die Objektivität der Erkenntnis, nach Hegel: deren Allgemeinheit und Notwendigkeit (§ 41). Dieser Gegensatz der Erkenntnisquellen, Sinnlichkeit und Verstand, Rezeptivität und Spontaneität, gehört indes, so Hegel, trotz der Objektivität seiner Beziehung zur Subjektivität. Diese Auffassung Hegels gründet in der transzendentalen Reduktion, nach der unsere Erkenntnisse nicht Dinge an sich, sondern nur Erscheinungen betreffen. So kann Hegel schließen, »dass in die Subjektivität das Gesamte der Erfahrung, d. h. jene beiden Elemente zusammen, fällt, und derselben nichts gegenüber bleibt als das Ding-an-sich.« Bereits in diesem Aufriss, der viele Aspekte der Kritik der reinen Vernunft stark verkürzt darstellt, mischen sich bei Hegel kritische Bemerkungen. So weist Hegel darauf hin, dass Kant zwar die Kategorien als Beziehungen aufstellt, die ihre Funktion in der Synthesis von Verstand und Sinnlichkeit besitzen, dass er sie aber weder ableitet noch in ihren Beziehungen untereinander bestimmt. Diese beiden Kritikpunkte waren seit dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft häufig als Mangel benannt worden. Zuerst hatte Carl Leonhard Reinhold den Versuch unternommen, eine Grundlegung aus einem Prinzip zu bieten. Schließlich hatte Fichte mit seiner Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre einen Systementwurf vorgelegt, der eine formale und materiale Ableitung der Gesamtstruktur des Bewusstseins vorschlug. Dabei verknüpfte Fichte die Deduktion der Kategorien, insbesondere die der Qualitäts- und Relationskategorie, mit einer inhaltlichen Beziehung der Kategorien untereinander. Dementsprechend bildet die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre eine der Referenzpunkte für die Logik Hegels, insbesondere was die Idee einer inhaltlichen Verbindung und Ableitung der Kategorien betrifft.³¹
31 »Der Fichte’schen Philosophie bleibt das tiefe Verdienst, daran erinnert zu haben, daß die Denkbestimmungen in ihrer Notwendigkeit aufzuzeigen, daß sie wesentlich abzulei-
6.2. Hegel über die Kritische Philosophie
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Für Hegel fehlt darüber hinaus in der Kritik der reinen Vernunft eine nähere inhaltliche Bestimmung der Kategorien. Dabei kann Hegel sich auf Kants Diktum berufen, nach dem Gedanken ohne Inhalte leer, Anschauungen ohne Begriffe blind seien,³² um daraus zu folgern, dass die Kategorien (Begriffe) ihren Inhalt lediglich durch die Sinnlichkeit erhielten, also an sich selbst nur formal, d. h. leer seien (§ 43). Ebenso gerät Kants Lehre vom Ding an sich in die Schusslinie der Kritik Hegels. Es bleibt, so Hegel, wie ein unerklärbarer Rest der Subjektivität gegenüber stehen. »Das Ding-an-sich […] drückt den Gegenstand aus, insofern von Allem, was er für das Bewußtsein ist, von allen Gefühlsbestimmungen, wie von allen bestimmten Gedanken desselben abstrahirt wird.«³³ Die Folge sei die völlige Transzendenz des Dings an sich. Hegel spricht von einer ›Leere‹, die nur noch als Jenseits bestimmt sei, das heißt als ein völliges Abstraktum, dessen einzige Bestimmung bloß negativ sei, nämlich nicht für das Bewusstsein zu sein. Damit ist in erster Hinsicht die Konsistenz der Theorie, der innere Zusammenhang und die Stimmigkeit des Systems, gefährdet: Die gesamte Welt ist als erfahrungsimmanent bestimmt. Die gesamte Materialität der Erkenntnis liegt im Subjekt, dessen Endlichkeit durch die Entgegensetzung von Verstand und Sinnlichkeit erklärt wird. Sogar die Objektivität wird durch einen konstitutiven Akt des Subjekts begründet, nämlich durch die spontane Synthesis des Verstandes. Wie dieser Subjektivität noch ein Ding an sich entgegenstehen könne, bleibt, so Hegel, rätselhaft, ja letztlich unerklärlich. Mit dem Ding an sich ergibt sich für Hegel mit Kant jedoch nicht nur ein Konsistenzproblem. Hegel liest die erste Kritik Kants – anders als das heute häufig der Fall ist – von ihrem Zielpunkt her, nämlich von der Dialektik, dem zweiten großen Hauptteil.³⁴ Eine isolierte Betrachtung der transzendentalen Ästhetik und der Kategorienlehre unabhängig von der Dialektik ergibt für Hegel einen ›subjektiven (platten) Idealismus‹ (§ 46), denn beide beschrieben lediglich eine formelle Subjektivität, nämlich die bloße Struktur der Erkenntnis bar jeden Inhalts. Schon der Ursprung und das Prinzip der Kategorien, die ›ursprüngliche Identität des Ich‹, die von Kant so genannte transzendentale Apperzeption, ist eine an Inhalt gänzliche leere und arme Vorstellung. Hegel fasst die Kategorien als Fortbestimmungen dieser ursprünglich synthetischen Einheit des Ich und muss konstatieren, dass die ganze Struktur des Bewusstseins auf eine bloße Identität hinausläuft. Hegel ten seien.« (G. W. F. Hegel: Enzyklopädie 1827, GW, 19, S. 59.) – Das Verhältnis Hegels zur Philosophie Fichtes ist wechselhaft. Gerade in der Jenaer Phase – unter dem Eindruck der Auseinandersetzung Schellings mit Fichte, die nicht nur als rein sachliche beschrieben werden darf – hat sich Hegel mehrfach äußerst abwertend gegenüber der Wissenschaftslehre Fichtes geäußert. Für den Hegel der späteren Jahre lässt sich dieses Urteil indes nicht mehr aufrecht erhalten. Im Gegenteil! Bereits die Äußerungen in der Logik (1812/13), vollends aber die Enzyklopädie zeigen ein eher positives Verhältnis zur Philosophie Fichtes, wenn auch für Hegel immer klar ist, dass es sich bei Fichte um eine überwundene Gestalt der Philosophie handelt. 32 Kant: KrV B 75. 33 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie 1827, § 44, GW, 19, S. 60. 34 »Hier tritt die zweite Seite der Vernunftkritik ein; und diese zweite ist für sich wichtiger als die erste.« (G. W. F. Hegel: Enzyklopädie 1827 § 46, GW, 19, S. 61).
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wertet diese Strukturbeschreibung des Bewusstseins – übrigens im Gegensatz zur Selbstbewertung Kants³⁵ – als einen subjektiven Idealismus, weil sich die Reflexion unweigerlich anschließe, welche das Ding an sich selbst als eine, wenn auch gänzlich negative Bestimmung des Denkens zu entlarven. Dann blieben in der Tat nur noch Denkbestimmungen ohne ein reales Substrat. Vor dem Hintergrund der Dialektik der ritik der reinen Vernunft zeigt sich für Hegel indes, dass das Ding an sich für Kant nicht nur ein epistemologischer Grenzbegriff ist, sondern zugleich die drei großen metaphysischen Bereiche substituiert, über welche die Kritik Kants ihr Verdikt erlässt: das Ich als Seele, die Welt als Ganze und die Existenz Gottes. Damit schließt Hegel den epistemologischen Anfang der Kritik mit ihrem metaphysikkritischen Ende kurz. Das Ding an sich ist insofern nicht nur selbst ein Resultat des Denkens, sondern fraglich gewordener Grund als Seele, als Welt, als Gott. Aus diesen Überlegungen resultiert die Auffassung Hegels, dass das Ding an sich, welches in der transzendentalen Ästhetik die Funktion eines ganz formalen Begriffs innehatte, nun – in der Dialektik – auf seinen Inhalt hin überprüft wird. »Es tritt aber das Bedürfnis ein, diese Identität oder das leere Ding-an-sich zu erkennen« (§ 46). Dieser Satz am Beginn des § 46 leitet Hegels Überlegungen zum zweiten Teil der Kritik der reinen Vernunft ein. Das formale Subjekt (›Es‹), das völlig offen lässt, wer dieses Bedürfnis hat und woher es rühren mag, weist auf ein metaphysisches Bedürfnis hin, die Sache zu erkennen, wie sie ist. Hegel zeigt damit an, dass die Philosophie weder bei dieser gänzlich leeren noch auch bei einer völlig endlichen Subjektivität stehen bleiben kann. Gleichzeitig referiert er Kants Aufbau der Kritik der reinen Vernunft, nach der die Vernunft sich auf den Verstand bezieht und dessen Restriktionen zu überbieten versucht. Die Vernunft weitet durch ihren Gebrauch die Verstandeskategorien bis zum Unbedingten aus. Hegel diagnostiziert in der Vernunft eine weitere Stufe jener Einheitsbildung, die bereits dem Verstand zugrunde lag; jetzt – in der Vernunft – aber mit dem Unterschied, dass die Einheitsbildung gleichzeitig Totalitäten hervorbringt, die der Auffassung Kants zufolge, die Grenzen möglicher Erfahrung überschreiten, und von ihm daher als transzendent, d. h. als der endlichen menschlichen Erkenntnis unzugänglich bezeichnet werden. Dementsprechend lautet der Urteilsspruch der sich selbst richtenden Vernunft bei Kant, dass die Existenz Gottes so wenig zu erkennen sei wie die Unsterblichkeit der Seele oder die Welt in ihrer Totalität. Für Hegel ist die Verendlichung der Vernunft durch die Restriktion ihrer Funktion auf Erscheinungserkenntnis ein Skandal. Das liegt, allgemein gesprochen, an seiner Auffassung, dass die Sache der Religion wie der Welterkenntnis weit über die bloß naturwissenschaftliche Erkenntnissphäre hinausreicht. Hegel versucht die Kultur in ihrer Geschichtlichkeit, die Formen des geistigen Lebens in ihrer Gewordenheit und ihrer aktuellen Dynamik zu begreifen. Ein Gott, bei dem es bloß fraglich ist, ob ihm Existenz zugesprochen werden kann, wie bei einem Ding, von
35 Kant selbst weist darauf hin, dass die transzendentale Ästhetik mit ihrer Erörterung des Status von Raum und Zeit für Vernunftkritik einen transzendentalen Idealismus etablieren will, der zugleich empirischer Realismus sei (Kant KrV B AA, III, S. 61).
6.2. Hegel über die Kritische Philosophie
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dem man bloß gehört hat, dass es so etwas geben soll, ist für Hegel eine kalte Abstraktion. Religion ist ein geschichtlicher Prozess, der nicht unabhängig von der Subjektivität betrachtet werden kann, sondern Ausdruck kultureller Energie ist. Aus diesen allgemeinen Gründen unterwirft Hegel die Kantische Vernunftkritik selbst wiederum einer Kritik. Kant entwirft in der Dialektik ein Verfahren, das die drei wichtigen Themen der rationalen Metaphysik grundlegend destruiert. Er hält sich dabei an die drei Teile der metaphysica specialis, nämlich die rationale Psychologie, die rationale Kosmologie und die rationale Theologie.³⁶ Alle drei Teile behandeln ihren jeweils spezifischen Gegenstand unter der Hinsicht, was sich von ihm auf vernünftige Weise aussagen lässt. Dabei ist die Empirie, die auf Sinnlichkeit gestützte Erfahrung, als Erkenntnisweg prinzipiell ausgeschlossen, denn weder die Seele, noch die Welt als Ganze in ihrem Zusammenhang noch Gott lassen sich wahrnehmen. Kants Kritik richtet sich daher auch an die Metaphysik, insofern sie die Erfahrung übersteigt, also transzendent ist. Wie Kants Kritik der reinen Vernunft geht es Hegel zunächst um die Metaphysik der Seele, d. h. die rationale Psychologie. Die von Kant aus der Metaphysik der Leibniz-Wolffschen Schule entnommenen Argumente beziehen sich auf die Immaterialität, Inkorruptibilität, Personalität, Spiritualität und Immortalität der Seele, alles insgesamt Eigenschaften, die der Seele in der klassischen Metaphysik zugesprochen werden. Das Vorgehen der Metaphysik, wie es Kant beschreibt, besteht darin, aus dem empirischen Bewusstsein des Ich, welches sich in jedem empirischen Bewusstseinsakt aufzeigen lässt, zu einer generellen Eigenschaft überzugehen. Das Ich, welches nur ein Gegenstand des inneren Sinnes ist, wird dadurch zu einem metaphysischen Gegenstand, dem allgemeine Bestimmungen zugesprochen werden. Hegel stimmt dieser Diagnose Kants zu, die frühere Metaphysik habe an die Stelle empirischer Bestimmungen nun Denkbestimmungen gesetzt: Aus dem bestimmenden Subjekt³⁷ – in jedem Urteil – sei eine Seelensubstanz, aus der logischen Identität des »Ich denke« sei die Einfachheit einer Substanz, aus der Einheit des »Ich denke« bei allen möglichen Inhalten sei numerische Einfachheit und aus dem Unterschied des »Ich denke« zu den Gegenständen außer mir sei das Verhältnis der Seele zu den möglichen Dingen im Raum gemacht worden. Kant folgt hier, wie er selbst bemerkt, der Ordnung der Kategorien:³⁸ allerdings beginnend mit der Substanz (Relation), dann Qualität, Quantität und Modalität. Auf dieses Verfahren bezieht sich Hegels Bemerkung, nach der bei Kant die rationale Seelenlehre durch Umwandlung empirischer Urteile vermittels der Kategorien zustande kommt. Bei Kant führt diese Rekonstruktion zur Dekonstruktion: »An diesem Uebergange wird der Mangel bemerklich gemacht, daß zweierlei Bestimmungen miteinander verwechselt werden (Paralogismus), nämlich empirische Bestimmun-
36 Vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt, und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Halle 1751. 37 Vgl. Kant: KrV B AA, III, S. 267; G. W. F. Hegel: Enzyklopädie 1827, § 47, GW, 19, S. 61. 38 Kant: KrV A 344.
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6. Kapitel: Erkenntnis und Methode: Kritik und System bei Hegel
gen mit Kategorien.«³⁹ Hegel kritisiert das Verfahren Kants, allerdings nicht, weil er eine Verteidigung der rationalen Psychologie anstrebt, sondern weil sich für ihn darin eine Ablehnung des Denkens ankündigt. Hegel sieht, dass Kant den Versuch unternimmt, die innere Erfahrung, also alles, was ein Subjekt in sich von sich empfindet bis hin zu dem Gedanken »Ich denke« gegen die Gedankenbestimmungen, insbesondere gegen die Vernunft auszuspielen. Kant findet, so Hegel, innerer Sinn und Vernunft seien nicht adäquat, und er suche den Mangel einseitig bei der Vernunft. Mit anderen Worten: Für Hegel ist die rationale Psychologie nicht deshalb unangemessen, weil sie dem inneren Sinn nicht entspricht, sondern weil ihr Gedankenkonstrukt in sich unzureichend ist. Für Hegel besteht ihr Mangel bereits darin, die Seele zu einem Ding gemacht zu haben. Nach seiner Vorstellung ist das auch aus einem gewöhnlichen Gesichtspunkt leicht einzusehen, dass dabei eine unzulässige Verdinglichung vorgenommen wurde. Und die Kritik Hegels an Kant besteht darin, dass er ihm vorwirft, der Verdinglichung eines Seelenbegriffs nicht explizit widersprochen zu haben, eines Seelenbegriffs, der bei Kant ganz auf die Sinnlichkeit beschränkt sei.⁴⁰ In einem zweiten Schritt bezieht sich Hegel auf die Antinomienlehre. Dort behandelt Kant die Welt als Ganze in ihrem Zusammenhang. Kant hat festgestellt, dass sich einander widersprechende Sätze über die Welt ergeben, wenn man sie in ihrer Totalität begreifen will. Am leichtesten zu begreifen ist die Teilungsantinomie, die ihre Tradition schon im Denken der Antike hat. Im 5. vorchristlichen Jahrhundert behaupteten etwa Demokrit und Leukipp, die Welt bestehe aus unteilbaren kleinsten Teilchen, den Atomen. Um aber die Bewegung erklären zu können, mussten sie die Existenz der Leere annehmen. Damit existiert die Materie diskret und nicht kontinuierlich, wie die Eleaten nach Parmenides annahmen. Eine Entscheidung über dieses Problem lässt sich – bis heute, muss man sagen – nicht empirisch entscheiden. Kant erklärt diese Antinomie durch die Funktionsweise unserer Vernunft, die Totalisierungen hervorbringt. Ob eine Substanz teilbar ist, kann man empirisch überprüfen. Ob aber alle Substanzen unendlich teilbar sind, entzieht sich einer empirischen Nachprüfbarkeit, und zwar nicht nur deshalb weil ich es faktisch nicht prüfen kann, sondern weil es alle Prüfbarkeit prinzipiell übersteigt. Kant führt für Position und Gegenposition in einer genialen Inszenierung Beweise, in denen es immer um die Kontinuität, das Leere und die Diskretheit der Materie geht. Die Lösung dieses Widerstreits bietet Kant in der Auflösung der Antinomien: Dazu reflektiert er auf die Funktionsweise der Vernunft, Totalisierungen, oder wie Kant auch sagt, das Unbedingte hervorzubringen. Er sieht darin ein fast mechanisches Prinzip unserer Geistigkeit, in allen unseren Erkenntnissen größte Einheitlichkeit und Kohärenz herzustellen. Daher drängen sich uns diese Antinomien natürlicherweise auf: der Schein, den diese Thesen mit sich bringen, betrügt, sagt Kant, aber er betrügt unweigerlich. Trotz dieser schlechten Nachricht für die Erkenntnisfähigkeit der Vernunft besitzt sie dennoch eine positive Funktion: sie ist regulativ und gerade nicht konstitutiv.
39 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie 1827, § 47, GW, 19, S. 62. 40 Vgl. Kant: KrV A AA, IV, S. 216: »Ich, als denkend, bin ein Gegenstand des innern Sinnes, und heiße Seele.«
6.2. Hegel über die Kritische Philosophie
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Die Vernunft leitet damit unsere Erkenntnisfortschritte, ohne selbst Erkenntnisse hervorbringen zu können. Aber auch die Vernunft muss sich letztlich auf die Erfahrung beziehen. Sie muss den Verstand leiten, kann aber aus sich heraus und in ihrer Sphäre ohne Beziehung zur Sinnlichkeit nichts bewirken. Hegels Resultat in seiner Darstellung der Antinomienlehre lautet: »Die Auflösung ist, daß der Widerspruch nicht in den Gegenstand fällt, sondern allein der erkennenden Vernunft zukommt.«⁴¹ Hegels Haltung zur Antinomienlehre ist ambivalent. Hegel hat sie in der Wissenschaft der Logik in zwei großen Anmerkungen abgehandelt.⁴² Einerseits spricht er Kant dort das Verdienst zu, die alte Metaphysik gestürzt zu haben und eine tiefe Einsicht in die Vernunft gewonnen zu haben, nämlich dass sie in sich selbst Widersprüche hervorbringt. Andererseits sei sie »theils in sich selbst gehindert und verschroben, theils schief in Ansehung ihres Resultats.«⁴³ Der Anlass für Hegel, in der Logik über die Antinomien zu sprechen, liegt an den Begriffen der Kontinuität und der Diskretion, die für Hegel reine Quantitätsbegriffe sind und auch völlig ohne kosmologischen Hintergrund behandelt werden können und müssen.⁴⁴ Im Vorbegriff urteilt Hegel ganz ähnlich: »Dieser Gedanke, daß der Widerspruch, der am Vernünftigen durch die Verstandesbestimmungen gesetzt wird, wesentlich und notwendig ist, ist für einen der wichtigsten und tiefsten Fortschritte der Philosophie neuerer Zeit zu achten.«⁴⁵ Allerdings teilt Hegel keineswegs die Bewertung Kants und vor allen Dingen deren Konsequenzen. Hegel begreift nämlich Kants Diktum, nach dem die Vernunft sich selbst widerstreitet, wenn sie die totalisierten Kategorien auf die Dinge an sich anwende, als eine Abwertung der Vernunft durch Kant und eine Höherwertung der Empirie. Dass die Vernunft nur eine regulative Funktion besitzen soll, ist für Hegel ein Skandal. Er kehrt das Verhältnis der Erkenntnisinstanzen geradezu um. Dass die erscheinende Welt für die Erkenntnis voller Widersprüche sei, ist für Hegel eine selbstverständliche Aussage. Umso mehr erstaunt es ihn, dass Kant diese Widersprüchlichkeit der Welt eliminieren will. Kant habe zu viel »Zärtlichkeit für die weltlichen Dinge«.⁴⁶ Diese Akzentuierung habe Kant dazu veranlasst, die substantielle Widersprüchlichkeit der Erkenntnis der Welt durch die transzendentale Reduktion zu erklären und damit zu entschärfen. Hegel befürchtet, dass die Einheit, welche in der Auffassung Kants von der Vernunft nur die potenzierte Einheit des Verstandes ist, eine bloß leere Identität ergibt mit der Folge, dass jeder Inhalt aus der Vernunft ausgegrenzt wird. 41 42 43 44
G. W. F. Hegel: Enzyklopädie 1827, § 48, GW, 19, S. 63. Vgl. G. W. F. Hegel: Logik (1812), GW, 11, S. 113–120, 147–150. G. W. F. Hegel GW, 11, S. 114. Vgl.: G. W. F. Hegel GW, 11, S. 114: »Ferner hat Kant die Antinomien nicht in Begriffen selbst, sondern in der schon concreten Form kosmologischer Bestimmungen aufgefasst. Um die Antinomien rein zu haben und sie in ihrem einfachen Begriff zu behandeln, mussten die Denkbestimmungen nicht in ihrer Anwendung und Vermischung mit der Vorstellung der Welt, des Raums, der Zeit, der Materie u. s. f. genommen, sondern ohne diesen concreten Stoff, der keine Kraft noch Gewalt dabey hat, rein für sich betrachtet werden, indem sie allein das Wesen und den Grund der Antinomien ausmachen.« 45 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie 1827, § 48, GW, 19, S. 63. 46 Ibid.
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Dies geschieht, wenn die Vernunft nicht mehr eigene Inhalte besitzt, die sie gegen Verstand und Anschauung und über beide hinaus für sich selbst hervorbringt, sondern beide bloß unter der Maxime größtmöglicher Einheit des Vernunftgebrauchs leitet, also nicht konstitutiv, sondern bloß regulativ fungiert. In analoger Weise behandelt Hegel auch die Kritik der Gottesbeweise bei Kant. Bereits in § 36 hat Hegel klargestellt, dass der Gottesbegriff der rationalen Theologie völlig abstrakt und daher einer lebendigen Religion unangemessen ist. Aber auch die Kritik Kants an den Gottesbeweisen besitzt für Hegel diesen Mangel, Gott als einen völlig abstrakten Gegenstand zu behandeln. In dieser Auffassung zeigt sich Gott als der Inbegriff aller Realität oder als allerrealstes Wesen. Bereits in der Logik hat Hegel darauf insistiert, dass »der Inbegriff aller Realitäten, wenn sie ohne Grenze gedacht werden, zum leeren Nichts wird«,⁴⁷ ein Nichts, das nichts ist, aufgrund seiner Bestimmungslosigkeit und Abstraktheit. Ganz ähnlich heißt es auch hier im Vorbegriff, dass die Bestimmung eines allerrealsten Wesens völlig unbestimmte Begriffe erzeugt, nämlich das abstrakte Sein und die abstrakte Identität. Unter diesen Bestimmungen fasst Hegel die Idee Kants einer Konstruktion des Ideals der Vernunft. In der Kritik der reinen Vernunft zieht Kant ein komplizierte Ableitung heran, in der vor allem die Prädikate eine Rolle spielen, die einem höchsten Wesen zugesprochen werden müssen. Hegel ist bereits im § 36 auf diese Theorie der Prädikate eingegangen. Nun will er die Kritik der Gottesbeweise bei Kant selbst kritisieren. Er hat dabei – anders als bei Kant angelegt – eine zweifache Gliederung vor Augen. Zunächst behandelt er den kosmologischen und den physikoteleologischen Beweis. Gemeinsam ist ihnen, dass sie vom Sein auf das Denken des Seins schließen. Dann behandelt Hegel den sog. ontologischen Gottesbeweis, den Hegel immer mit einer gewissen Sympathie behandelt, weil er von der Mächtigkeit des Denkens ausgeht, die sich darin zeigt, selbst das Sein Gottes noch aufweisen zu können. Kant hatte eine dreifache Gliederung entwickelt, in welcher dem ontologischen Gottesbeweis keine spezielle Rolle zugedacht war. Hier bei Hegel besitzt die Anordnung eine gewisse Finalwirkung. Zunächst spricht Hegel über die beiden schwächeren Beweisgänge und ihre Kritik, dann über den wichtigeren und philosophisch tragfähigeren ontologischen Beweis.⁴⁸ Das Prinzip des kosmologischen und des physikoteleologischen Beweises sieht Hegel im Übergang von einem als Fülle der Wirklichkeit aufgefassten Sein zu einem totalisierenden Gottesbegriff. Zu den unendlichen Zufälligkeiten der Welt werde ein unbedingt notwendiges Sein als Korrelat gedacht,⁴⁹ zu den unendlichen vielen Zwecken in der Welt ein »nach allgemeinen Zwecken sich bestimmendes und thätiges Seyn«.⁵⁰ Das Sein wird dabei gedacht als die positive Menge alles einzeln Existierenden, als eine erfahrbare 47 G. W. F. Hegel: Logik (1812), GW, 11, S. 76. 48 Diese Wertschätzung teilt auch Kant, der den ontologischen Gottesbeweis auch in der KrV als den »einzig möglichen Beweisgrund (wofern überall nur ein speculativer Beweis stattfindet)« Immanuel Kant: KrV B AA, III, S. 416 bezeichnet. 49 Kant: KrV B AA, III, S. 404 f.: »Wenn etwas existirt, so muß auch ein schlechterdings notwendiges Wesen existiren. Nun existire zum mindesten ich selbst: also existirt ein absolutnotwendiges Wesen«. 50 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie 1827, § 50, GW, 19, S. 65.
6.2. Hegel über die Kritische Philosophie
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Welt abgegrenzter Tatsachen. Oder, im zweiten Fall, als Welt unter teleologischer Perspektive, das heißt in einer Weltansicht, in der die Funktionen der natürlichen Dinge angesehen werden, als ob sie von einem Welturheber zu gewissen Zwecken eingerichtet worden seien. Diese letztere Art zu denken ist uns heute fremd, weil die teleologische Betrachtungsweise in unserer wissenschaftlichen Erklärung der Welt keine Rolle mehr spielt. Allenfalls in ideologisch motivierten Debatten um die Evolutionstheorie, wie sie in den USA geführt werden und auch in Europa ein Echo gefunden haben, z. B. in der Theorie des intelligent design der Neokreationisten, gibt es einen Rest dieses empirioteleologischen Denkens.⁵¹ Tatsächlich gehören Kant wie Hegel in die Geschichte der Kritik des teleologischen Denkens, allerdings aus verschiedenen Gründen und mit verschiedenen Konsequenzen. Für Hegel jedenfalls findet sich die Zweckbestimmtheit der Welt nicht in der empirischen und einzelnen Tatsache, sondern in den Bestimmungen des Denkens und im Leben. In dieser Hinsicht kommt auch Hegel zum Schluss, dass der teleologische wie der kosmologische Gottesbeweis scheitern müssen. Er kritisiert aber nicht nur wie Kant die Art und Weise des Übergangs vom empirisch Einzelnen zu einem unbedingten Ideal der Vernunft, sondern dieses Ideal selbst, dass ihm als eine völlig unzureichende, nach endlichen Bestimmungen entwickelte Vorstellung von Gott ist. Wenn die Welt in Gedanken gefasst wird, geschieht dies Hegel zufolge nicht nur durch die Abstraktion des Verstandes. Gerade die Vernunft erzeugt ein ganz neues Verhältnis zur Empirie, die dadurch wesentlich verändert wird. »Die empirische Welt denken heißt vielmehr wesentlich, ihre empirische Form umändern und sie in ein Allgemeines verwandeln; das Denken übt zugleich eine negative Thätigkeit auf jene Grundlage aus; der wahrgenommene Stoff, wenn er durch Allgemeinheit und Nothwendigkeit bestimmt wird, bleibt nicht in seiner ersten empirischen Gestalt. Es wird der innere Gehalt des Wahrgenommenen mit Entfernung und Negation der Schale, herausgehoben. Die metaphysischen Beweise vom Daseyn Gottes sind darum mangelhafte Auslegungen und Beschreibungen der Erhebung des Geistes von der Welt zu Gott, […].«⁵² Die Folge ist für Hegel ein ganz von der Vorstellung abhängiger Gottesbegriff, der gänzlich unzureichend bleibt, ja, der »durch selbst kindische Anführungen von Zwecken und deren Beziehungen verunreinigt werden kann«.⁵³ Anders verhält es sich nach Hegel mit dem ontologischen Gottesbeweis. Im Gegensatz zum kosmologischen und physikoteleologischen Beweis geht der ontologische Beweis vom Denken aus und schließt auf die Existenz Gottes als eines notwendigen Wesens, das nur als existierend und keineswegs als nichtexistierend gedacht werden kann. Ausgehend vom Begriff eines vollkommenen Wesens, das als Begriff möglich ist, wird auf dessen Wirklichkeit geschlossen, indem darauf aufmerksam gemacht wird, dass das vollkommene Wesen, wenn es nicht existierte, nicht das vollkommenste Wesen wäre. Mit Nachdruck weist Hegel die Kritik an diesem Beweis ab. Das populäre Beispiel,
51 Vgl. Christoph Asmuth, »Einleitung«, in: Christoph Asmuth und Hans Poser (Hrsg.), Evolution. Modell – Methode – Paradigma, Würzburg 2007, S. 7–12. 52 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie 1827, § 50, GW, 19, S. 66. 53 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie 1827, § 50, GW, 19, S. 68.
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6. Kapitel: Erkenntnis und Methode: Kritik und System bei Hegel
das Kant in der Kritik der reinen Vernunft beibringt, nach dem der Begriff von hundert möglichen Talern nicht mehr enthalte als der von hundert wirklichen, aber der Unterschied von möglichen und wirklichen Talern indes für den Vermögenszustand erheblich sei,⁵⁴ empört Hegel zutiefst. Er sieht damit sogar die Philosophie selbst bedroht. Das liegt nicht nur daran, dass Hegel den Vergleich von pekuniären Verhältnissen mit dem höchsten Begriff der Religion, der hundert Taler mit Gott, für geschmacklos hält. Er sieht darin einen höchst trivialen Vorwurf an die Philosophie: Etwas sei nicht darum schon wirklich, nur weil man es gedacht habe. Das sei eine ganz ordinäre Sichtweise auf die geistige Welt, die selbst die höchsten Inhalte von Philosophie und Religion in die Endlichkeit faktischer sinnlicher Existenz herunterziehe. »In der That ist alles Endliche dies und nur dies, daß das Daseyn desselben von seinem Begriff verschieden ist. Gott aber, ganz abstract gefaßt, soll ausdrücklich das seyn, das nur ›als existierend gedacht‹ werden kann, wo der Begriff das Sein in sich schließt.«⁵⁵ Hegel wiederholt damit in gewisser Hinsicht eine Diskussion, die bereits im Mittelalter zwischen Anselm von Canterbury, dem Erfinder dieses Arguments, und seinem Kritiker, Gaunilo von Marmoutier, geführt wurde.⁵⁶ Wenn auch die Argumente der mittelalterlichen Denker in Form und Inhalt von der Debatte bei Kant und Hegel abweichen, so findet sie doch an derselben Bruchlinie statt. Es geht darum, wie viel der Vernunft zuzutrauen ist. Hegel sieht klar, dass das gesamte Programm der Kritik der reinen Vernunft nicht nur die Ansprüche der Vernunft beschneiden will, sondern ihrem Vorgehen grundsätzlich skeptisch gegenübersteht. Dagegen optiert Hegel für einen weitreichenden Vernunftoptimismus. Die Vernunft ist in der Lage, den Gedanken Gottes zu fassen, dies nicht nur in der äußerlichen Weise, wie es auch noch der ontologische Beweis versucht, sondern als innerer geistiger Prozess der sich mit sich selbst vermittelnden, daher nicht bloß abstrakten, sondern substantielle Inhalte generierenden Vernunft.⁵⁷ Im Gegensatz zur theoretischen Philosophie widmet Hegel im Vorbegriff der praktischen Philosophie Kants nur wenig Aufmerksamkeit. Es sind vor allem drei wichtige Gesichtspunkte, die Hegel heraushebt. Auf der einen Seite konstatiert Hegel eine Gegenläufigkeit zwischen der Philosophie transzendentaler Freiheit und einer deterministischen Grundhaltung, etwa bei Hume, eine Gegenläufigkeit, welche die praktische Philosophie nicht aufzuheben vermag, weil sie an die Erfahrung der Freiheit im Selbstbewusstsein anknüpft. So sollen moralische Gebote aus der Vernunft für die Vernunft gegeben werden, deren Berechtigung werde aber an eine bloße Erfahrung geknüpft. Mit gleichem Recht könne daher auf die Erfahrung der faktischen Verschiedenheit von Normen, Sitten und Gebräuchen unter den Menschen verwiesen werden, woraus unmöglich ein einheitliches Sittengesetz folge, das objektive Gültigkeit für sich beanspruchen könne. 54 Vgl. Kant: KrV B AA, III, S. 401. 55 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie 1827, § 51, GW, 19, S. 69. 56 Vgl.: Kann Gottes Nicht-Sein gedacht werden? Die Kontroverse zwischen Anselm von Canterbury und Gaunilo von Marmoutiers, Lateinisch – Deutsch, übersetzt, erläutert und hrsg. von Burkhard Mojsisch, mit einer Einleitung von Kurt Flasch (excerpta classica IV), Mainz 1989. 57 Vgl. Dieter Henrich: Der Ontologische Gottesbeweis: sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit, Tübingen 1967.
6.2. Hegel über die Kritische Philosophie
163
Auf der anderen Seite – und das ist sicher schwerwiegender – formuliert Hegel den Vorwurf des Formalismus, weil Kant das Sittengesetz als abstrakte Identität formuliere, als bloße Einstimmigkeit der Vernunft mit sich selbst, »dass kein Widerspruch in dem Bestimmen Statt finde«.⁵⁸ Damit ist diese Idee der Sittlichkeit noch nicht praktisch; sie ist das »letzte der theoretischen Vernunft«.⁵⁹ Damit die Vernunft praktisch werde, müsse gefordert werden, dass das Gute in der Welt verwirklicht werden solle. Das Gute soll objektiv sein. Die Verwirklichung des Guten, und das ist Hegels dritter Gesichtspunkt, bleibe bei Kant aber rein subjektiv. Es gehe ihm bloß um die »Uebereinstimmung des Weltzustands und der Weltereignisse mit unserer Moralität«.⁶⁰ Daran ist, Hegel zufolge, nichts falsch. Aber es ist zu wenig; denn es bestimmt die Glückseligkeit nur als etwas, das zunächst völlig unabhängig von der unbedingten Pflicht ist, die das Sittengesetz gebietet. Hegel kritisiert daher, dass Kant die Korrelierung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit als Grund der Postulatenlehre aufgestellt hat, dass er ihre Verbindung nicht als wirklich, sondern als seinsollend gedacht habe. Das Sollen aber, dies ist ein bei Hegel seit der Jenaer Zeit wiederkehrender Gedanke,⁶¹ ist nicht Realität, es ist »ein Geglaubtes, dem nur subjektive Gewißheit, nicht Wahrheit, d. i. nicht jene der Idee entsprechende Objektivität zukomme«.⁶² Mit dieser Auffassung der praktischen Philosophie Kants spricht Hegel den Vorwurf aus, dass Kant eine bloß formale Moral entwickle, die in einem unendlichen Progress auslaufe. Überhaupt ist Hegel der Zuschnitt der praktischen Philosophie bei Kant zu eng. Es ist für ihn fraglich, wie aus einem bloß formalen Prinzip letztlich eine Theorie des objektiven Geistes entwickelt werden kann. Er betrachtet die praktische Philosophie Kants als eine endliche Moralphilosophie. Recht, Moral, Sitte erfordern nach Hegel aber mehr als diesen bloß formalen Ausgangspunkt, vor allem dann, wenn sie in ihrem substantiellen Zusammenhang untereinander aufgezeigt werden sollen. Diese Formen des Praktischen bleiben bei Kant, so Hegel, unerklärlich, weil durch das Sollen Idee und Realität unvereinbar als getrennt gedacht werden. Die Wirklichkeit des Praktischen muss ausgeblendet bleiben, wenn es bloß als Sollen gegen die Beschränktheit des Endlichen konzipiert ist. Im Gegensatz zur Kritik der praktischen Vernunft zeigen die wenigen Worte Hegels hier im Vorbegriff, dass er Kants dritte Kritik höher einschätzt, allerdings mit einigen für Hegel kritischen Einschränkungen. Er macht dies vor allen Dingen an der Bedeutung der reflektierenden Urteilskraft bei Kant fest. Während die Urteilskraft in ihrer bestimmenden Funktion einzig die Aufgabe hat, das Besondere unter das Allgemeine zu subsumieren, verfahre die reflektierende Urteilskraft komplexer: Sie sucht, zu dem gegebenen Besonderen das Allgemeine zu finden.⁶³ Das Besondere – Hegel bezeichnet es als das für das Allgemeine unableitbar Zufällige, 58 59 60 61 62 63
G. W. F. Hegel: Enzyklopädie 1827, § 54, GW, 19, S. 70. Ibid. G. W. F. Hegel: Enzyklopädie 1827, § 60, GW, 19, S. 73. Vgl.: G. W. F. Hegels Aufsatz Glauben und Wissen. G. W. F. Hegel: Enzyklopädie 1827, § 60, GW, 19, S. 73. Immanuel Kant: KdU AA, V, S. 179 – G. W. F. Hegel: Enzyklopädie 1827, § 55, GW, 19, S. 70 f..
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6. Kapitel: Erkenntnis und Methode: Kritik und System bei Hegel
das Partikuläre – wird nun nicht einfach vorgefunden und subsumiert, sondern das Allgemeine werde im Besonderen erzeugt. Für Hegel hat Kant in der Kritik der Urteilskraft die Einheit von Begriff und Objektivität ausgedrückt, allerdings in subjektiver und endlicher Rücksicht. Kant habe das konkrete Allgemeine gedacht und dies einem anschauenden Verstand zugesprochen, der diese Einheit in der Kunst und in der Natur tatsächlich erfahren kann. Diese Reduktion der Einheit von praktischer und theoretischer Philosophie, von Allgemeinem und Besonderem auf erfahrbare Inhalte liefert für Hegel zugleich den größten Kritikpunkt: Kant habe die Wahrheit, die in dieser Einheit liege, ja, dass dies »die Wahrheit selbst ist«,⁶⁴ nicht eigens herausgestellt, sondern nur anhand und in Bezug auf die endliche Erfahrung ausgedrückt. Damit werde die besondere Einsicht der Kritik der Urteilskraft wiederum auf ein Konstruktionsprinzip des endlichen Verstandes zurückgestuft und damit gültig nur für Erscheinungen. Die besondere Schwierigkeit, die sich in der zweiten »Stellung des Gedankens zur Objektivität« zeigt, betrifft das spezielle Verhältnis Hegels zur Philosophie Kants. Hegels Darstellung setzt ein hohes Maß an Vertrautheit mit der Diskussion um die Philosophie Kants am Beginn des 19. Jahrhunderts voraus. Hegel reflektiert dabei nicht nur die Diskussion um die Stellung des Dings an sich, sondern auch die Frage nach dem System, nach Resten des Empirismus und des Dualismus in der Konzeption Kants. Auffällig ist jedenfalls, dass Hegel die drei Kritiken unter einem Anspruch vorstellt, der davon ausgeht, Kant habe damit ein System der Philosophie vorlegen wollen, das auf der einen Seite den Ansprüchen an Letztbegründung genügen und andererseits das menschliche Wissen insgesamt umfassen und ausleuchten sollte. Tatsächlich entspricht das den Vorstellungen Kants von Aufgabe und Umfang der Philosophie keineswegs. Kant hat wohl selbst erst im Laufe seiner Arbeiten an den drei Kritiken und auch erst nach der Kritik der reinen Vernunft daran gedacht, dass weitere Kritiken folgen müssten. Die Äußerungen Kants über den Zusammenhang der einzelnen Kritiken blicken immer zurück auf das bereits Vorgelegte. Offenkundig wächst bei Kant aus einem Grundansatz in der Kritik der reinen Vernunft nach und nach der Gedanke eines Systems. Das heißt bei Kant aber nicht, was es bei Hegel bedeutet: ein Ganzes der Philosophie als Ausdruck der Selbstbewegung des Geistes, sondern nur die Einheit der Vernunfterkenntnisse nach Prinzipien. Außerdem entgeht Hegel die spezielle transzendentalphilosophische Ausrichtung der Kritik der reinen Vernunft. Er behandelt sie wie einen wichtigen Teil eines möglichen Ganzen, nämlich die Erkenntnistheorie Kants. Dabei übersieht er, dass sich Kant dort streng an seine Grundfrage hält: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Kant entwickelt daher eine urteilstheoretische Wissenschaftstheorie in kritischer Absicht und gerade keine Erkenntnistheorie mit allgemeinem Anspruch. Hegel bürdet der Kritik der reinen Vernunft also eine viel größere Last auf, als Kant ihr zugedacht hat und als sie ihrer Konstruktion entsprechend tragen kann. Ähnliche Bemerkungen ließen sich auch bei den beiden anderen Kritiken anbringen. Spürbar ist bei Hegel stets die Tendenz, die Restriktionen der Kritiken Kants einerseits aufrechtzuerhalten, andererseits aber diese Restriktionen ihrerseits zu restringieren. Hegel erkennt in ihnen ein Werk des Verstandes, 64 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie 1827, § 56, GW, 19, S. 71.
6.3. Lebendiges Denken – denkendes Leben
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der trennt, isoliert und abstrahiert. Dagegen stellt er ein affirmatives Verständnis der Vernunft. Sie ist nicht das Andere des Verstandes, sondern sie ist selbst Verstand, Verstand allerdings, der seine Beschränkungen beschränkt, seine trennende und negierende Tätigkeit negiert und das Partikuläre in der Selbstbewegung der Vernunft aufhebt. Negativität ist die Kraftzelle der Philosophie Hegels. Sie sorgt dafür, dass das philosophische Denken eine dynamische Qualität behält. Es kann daher nicht verwundern, wenn eine philosophische Entwicklung, wie die der deutschen Klassik ein besonderes Sensorium für den Begriff des Lebens entwickelt. Das Leben ist ein ganzes, das dennoch in unterschiedliche Prozesse gegliedert werden kann, besteht in Entstehen und Vergehen und ist insofern Werden im eminenten Sinn. Die Weite des Lebensbegriffs erhält bei Hegel eine charakteristische Schärfe, der im folgenden nachgegangen werden soll.
6.3 Lebendiges Denken – denkendes Leben ›Das Leben denken‹ – damit sind zwei wichtige Fundamentalbegriffe zusammengestellt und miteinander verbunden, der Begriff des Lebens und der des Denkens, zwei Begriffe allerdings, die neben ihrer philosophischen Bedeutung auch eine hinreichende Unschärfe gemeinsam haben. Der eine erreicht eine Spannbreite von sinnen- und leibloser intellektueller Tätigkeit bis zu messbaren kognitiven Prozessen; der andere deckt ein Feld ab, das sich von religiös-metaphysischen Vorstellungen bis zu biologischen Vorgängen erstreckt. ›Das Leben denken‹ – wem bei diesen Worten wohlig philosophisch zumute wird, dürfte jedoch einem Missverständnis unterliegen. Bei Hegel jedenfalls ist weder das Denken noch das Leben eine bloß beschauliche Angelegenheit. Das Denken – einerseits – formt keine passive Abbildung einer immerfort quellenden Vitalität; das Leben – andererseits – ist keine harmlose unscharfe Ganzheit grundsätzlich freundlicher Prozesse, zu denen noch ein erleuchtendes Denken nachträglich hinzutreten müsste. Hegels Auffassung von der Wirklichkeit – darin folgt er Kant, Fichte und Schelling – verunmöglicht die Trennung von Denken und Leben, sodass Interpretation und Praxis nicht auseinanderfallen können. Daher misst sich das Verständnis für die Philosophie Hegels nachgerade an der Bedeutung der Umkehrung: ›Das Denken leben‹.⁶⁵ Leben und Denken Der allgemeine Terminus ›Leben‹ lässt sich bei Hegel nicht auf die Alternative zwischen natürlichen oder geistigen Prozessen reduzieren. Hegel kann ihn genau 65 Zum Problem des Lebens bei Hegel, insbesondere in der Phänomenologie: Annette Sell: »Aspekte des Lebens. Fichtes Wissenschaftslehren von 1804 und Hegels Phänomenologie des Geistes von 1807«, in: Christoph Asmuth (Hrsg.), Sein – Reflexion – Freiheit. Aspekte der Philosophie J. G. Fichtes, Amsterdam; Philadelphia 1997, 79–94; dies., Martin Heideggers Gang durch Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹, Bonn 1998, 104 ff.
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6. Kapitel: Erkenntnis und Methode: Kritik und System bei Hegel
so als biologische Grundkategorie deuten wie als religiös gefüllten Begriff für das Absolute, etwa in der Rede vom Leben Gottes.⁶⁶ Leben bleibt ein vieldeutiges Element, das sich in unterschiedlichen systematischen Kontexten wiederfindet, gleichwohl aber nicht so vieldeutig ist, dass sich sein Gehalt in eine bloß gefühlte warme Geborgenheit diffuser Empfindungen ergießen müsste. Ein Ort, an dem Hegel sich explizit zu den verschiedenen Kontexten des Lebensbegriffs äußert, findet sich in der Begriffslogik, deren dritter Teil das Leben thematisiert. In wissenschaftlicher, d. h. philosophischer Hinsicht, unterscheidet Hegel drei Perspektiven: 1. das natürliche Leben, 2. das Leben des Geistes sowie 3. das logische Leben. Das natürliche Leben oder das Leben der Natur wird in der Naturphilosophie behandelt. Dort zeigt sich das Leben als eine Resultante aus der unorganischen Natur. Hegel spricht davon, dass das natürliche Leben in die »Äußerlichkeit des Bestehens« hinausgeworfen sei. Es ist die äußerliche Objektivität des Materiellen, jenes Aus-ein-ander-Sein, das die gegenständliche Welt charakterisiert. Hegel entschärft diese Seite des Lebens nicht. Er taucht sie nicht ein in die begriffliche Watte einer immer schon in den Wolken, d. h. im süßen Jenseits, schwebenden universellen Verklärung. Das natürliche Leben, Leben in der Bedeutung des Biologisch-Organischen, steht immer unter den Bedingungen des Unorganischen, d. h. es ist immer den mechanischen und chemischen Eigenschaften des Stofflichen unterworfen. Und es ist zerstreut in die Vielheit des Lebendigen und die Vielheit der Lebensformen. Es zeigt sich darin eine realistische Sicht der Dinge: Insofern das Leben unter der Perspektive seiner Natürlichkeit aufgefasst wird, gehen die Individuen zugrunde; das Leben erhält sich zwar, doch ist der Tod ein unabdingbares Moment alles Lebendigen. Die Prädominanz der Äußerlichkeit zeigt sich in der Endlichkeit alles Lebendigen: Schmerz, Vernichtung, Entstehen und Vergehen.⁶⁷ Das Leben bildet in der Natur die höchste Stufe und den Übergang in die Subjektivität, die sich an ihr zeigt als ein In-sich-Gehen des Lebens aus 66 Zentral dazu: Kazimir Drilo: Leben aus der Perspektive des Absoluten. Perspektivwechsel und Aneignung in der Philosophie Hegels, Würzburg 2003; Annette Sell: Der lebendige Begriff. Leben und Logik bei G. W. F. Hegel. Freiburg/München 2013. 67 Vgl. Christa Hackenesch: »Die Wissenschaft der Logik (§§ 19–244)«, in: H. Drüe u. a. (Hrsg.), Hegels ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹ (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß, Frankfurt a. M. 2000, 87–138, insb. 129: Hier wird – freilich mit Bezug auf die Enzyklopädie – deutlich, dass Hegel keineswegs bereit ist, im Interesse des Systems eine harmonistische Sicht des individuellen Lebens zu etablieren. Hackenesch schreibt: »Das ›lebendige Individuum‹ ist Seele und Leib zugleich, eine Identität, die andauernden Kampf beinhaltet, Kampf des Lebens gegen seine Auflösung, den Zerfall des Organismus in der Trennung von Seele und Leib, die seinen Tod bedeutet. […] Das Individuum vermag nur zu leben, indem es sich dauernd reproduziert, sich aneignet, was nicht es selbst ist. Es ist endlich, angewiesen auf anderes und darin seinem eigenen Wesen widersprechend […]. Es als ein Individuum vermag diesen Widerspruch, der es ist, nicht aufzuheben. Indem es sich in einem anderen Individuum fortpflanzt, erneuert es ihn nur, und indem es stirbt, besiegelt es ihn durch seinen Tod. – Für Hegel ist dieser Widerspruch des existierenden Menschen jedoch kein Skandal, gegen den das Denken seine Energie zu richten hätte, sondern er findet seine Versöhnung im Gedanken der Gattung.« – Ferner: Klaus Düsing, »Die Idee des Lebens in Hegels Logik«, in: Rolf-Peter Horstmann und Michael John Petry (Hrsg.), Hegels Philosophie der Na-
6.3. Lebendiges Denken – denkendes Leben
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der Äußerlichkeit. So ist das Leben der Natur eine einfache Bewegung, die auf sich selbst gerichtet ist, eine Bewegung, die eine Selbständigkeit herausstellt gegenüber dem bloßen Aus-ein-ander-Sein des Anorganischen. Das Leben erscheint im Geist – d. h. sowohl in der Philosophie des Geistes als auch in der Sphäre des Geistigen – und ist im Unterschied zum natürlichen Leben von einer doppelten Bewegung bestimmt. Teils, so sagt Hegel, ist der Geist vom natürlichen Leben verschieden, teils ist es eins mit ihm. Einerseits nämlich – und das macht die Gegensätzlichkeit aus – stehen Natur und Geist einander gegenüber. Das eine ist das, was das andere nicht ist. Der Geist ist nichts Natürliches; er kommt in der Natur nicht vor; gleichzeitig bestimmt der Geist die Natur für seine Zwecke und Tätigkeiten. Allerdings gibt es auch ein Leben des Geistes. Es ist nämlich eine wesentliche Bestimmung des Vernünftigen, lebendig zu sein. In dieser Einheit von Geist und Natur ist das Leben nichts anderes als das lebendige Individuum, das eins ist mit seinem lebendigen Körper. So ergibt sich eine dreifache Bedeutung des Lebens in der Sphäre des Geistigen. Erstens ist es Mittel des Geistes zur Erreichung seiner ihm eigentümlichen Bestimmungen, zweitens ist es die lebendige Einheit des Geistes mit der Leiblichkeit, das lebendige Individuum, Leiblichkeit der Seele,⁶⁸ schließlich drittens das ästhetische Ideal des schönen Leibes, in welchem die Einheit von Seele, Geist und Körper aufscheint: eine Verbindung von Innen und Außen, natürlicher Körperlichkeit und geistiger Lebendigkeit. In beiden Formen steht das Leben unter den Bedingungen der Natur, dies auch dann, wenn die Bewegung des Geistes ein allmähliches Freiwerden von dieser Gebundenheit impliziert. Hegel sieht in beiden Formen des Lebens eine »Bestimmtheit seiner Aeusserlichkeit«.⁶⁹ Das Leben im reinen Wissen ist dagegen frei von den Bedingungen der Äußerlichkeit, wie sie das natürliche Leben charakterisierte, frei aber auch von der Verzwecklichung, wie sie in der Sphäre des Geistes vorkommt, frei auch von der Teleologie einer idealen Einheit von Leib und Seele, wie es die Ästhetik entwickelt. Für das reine Wissen der Logik ist die Objektivität des Lebens völlig durchdrungen durch den Begriff. Er bildet die Substanz und »allgegenwärtige Seele«. Das reine Wissen legt das Leben aus, dies bekanntlich in dreifacher Weise als lebendiges Individuum, als Lebensprozess und schließlich als den Prozess der Gattung, alles insgesamt Bestimmungen, die in der Entwicklung der Logik nicht mit psychologischen, anthropologischen oder vitalistischen Kategorien kontaminiert werden dürfen, sondern rein begrifflich bleiben. Negativität und der ›Schmerz des Negativen‹ Die zentrale Schaltstelle in Hegels Betrachtung über das Leben bildet in systematischer Hinsicht die Negativität. Sie ist die charakteristische Beziehung des Gedankens auf sich. Oder wie Hegel selbst formuliert: »Wenn […] von Negativität oder tur. Beziehungen zwischen empirischer und spekulativer Naturerkenntnis, Stuttgart 1986, 267–289. 68 Vgl. G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik, GW, 12, S. 183. 69 Ibid., S. 181.
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negativer Natur die Rede seyn wird, so ist darunter nicht jene erste Negation, die Grenze, Schranke oder Mangel, sondern wesentlich die Negation des Andersseyns zu verstehen, die, als solche, Beziehung auf sich selbst ist.«⁷⁰ Die Identität, die das Substantielle der Negativität ausmacht, ist eine Selbstbeziehung, und zwar eine negative Selbstbeziehung, Selbstbeziehung, die vermittelst der Negation seiner selbst sich auf sich bezieht. Damit ist die Negativität nicht nur eine Bestimmung des Gehalts, der sich auf diese Weise zu sich verhält. Sie ist ferner – abgesehen von der strukturellen Komplexität – eine spezifische Eigentümlichkeit des philosophischen Erkennens selbst, dass nämlich im Durchgang durch die Andersheit des Gedachten letztlich eine Selbstbestimmung gewonnen wird. Und sie bildet schließlich die Verbindung zwischen jeglichem Gehalt und dem es denkenden Subjekt. Sie tritt nicht auf eine Seite, der eine andere gegenüberstünde. Daher ist die Negativität sowohl dem Leben wesentlich als auch dem Denken, synthetisiert beide zu einem Leben des Denkens und Denken des Lebens. Wird nun allerdings die Negativität einzig unter dem Gesichtspunkt des Zusammenschließens mit sich selbst aufgefasst, theologisch gesprochen unter der ›Versöhnung‹, so wird das Element des Negativen zum bloßen Beiwerk oder zur Durchgangsstufe degradiert.⁷¹ Das Negative zeigt sich aber in der Prozessualität, nämlich der Bewegung von sich durch das Andere hin zu sich selbst, als Schmerz – und in bezug auf das Leben als Schmerz des Lebendigen.⁷² Hegel drückt seine Auffassung in der Phänomenologie noch ganz mit der Emphase einer frischen, gerade gewonnenen Einsicht so aus: »Das Leben Gottes und das göttliche Erkennen mag also wohl als ein Spielen der Liebe mit sich selbst ausgesprochen werden; diese Idee sinkt zur Erbaulichkeit und selbst zur Fadheit herab, wenn der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen darin fehlt. An sich ist jenes Leben wohl die ungetrübte Gleichheit und Einheit mit sich selbst, der es kein Ernst mit dem Anderssein und der Entfremdung sowie mit dem Überwinden dieser Entfremdung ist. Aber dies Ansich ist die abstrakte Allgemeinheit, in welcher von seiner Natur, für sich zu sein, und damit überhaupt von der Selbstbewegung der Form abgesehen wird.«⁷³ Der mit theologischen Elementen aufgeladene Begriff des göttlichen Lebens expliziert das Absolute in seiner Grundstruktur.⁷⁴ Es kann nicht bleiben, was es an sich ist, nämlich Gleichheit mit sich selbst, es muss für sich werden, muss durch sein Anderes hindurch sich auf sich beziehen. Das Absolute muss transparent werden, eben deshalb, weil es nicht nur Objekt, sondern genau so Subjekt ist. Die Erbaulichkeit liegt in der schmerzfreien Verklärung der Prozessualität des Absoluten. Sie 70 G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik, GW, 11, S. 77. 71 Vgl. Harald Schöndorf, »Anderswerden und Versöhnung Gottes in Hegels Phänomenologie des Geistes«, in: Theologie und Philosophie 57 (1982), 550–567. 72 Vgl. zur Religionsphilosophie insb.: Walter Jaeschke, Die Religionsphilosophie Hegels, Darmstadt 1983; ders., Die Vernunft in der Religion, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986. 73 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, 3, S. 24. 74 Vgl. Dieter Henrich, »Andersheit und Absolutheit des Geistes. Sieben Schritte auf dem Wege von Schelling zu Hegel«, in: Ders. (Hrsg.), Selbstverhältnisse: Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982, 142–172.
6.3. Lebendiges Denken – denkendes Leben
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ist bloß eine stillgestellte und fixierte Allgemeinheit, die sich gleichgültig verhält zu der in ihr begriffenen besonderen Gestalt des Negativen; wird sie zum Leitmotiv der intellektuellen Existenz ergibt sie sich in das Diffuse, Trübe, Unklare. Ernst, Schmerz, Geduld und Arbeit des Negativen machen sich aber von sich aus gegen die Fadheit und Langeweile eines bloß identischen Allgemeinen bemerkbar und setzen das abgetrennte Allgemeine in den Zusammenhang mit dem Besonderen. Vom lebendigen Individuum sagt Hegel in der Logik: »Die unendliche Beziehung des Begriffes auf sich selbst ist als die Negativität das Selbstbestimmen, die Diremtion seiner in sich [–] als subjektive Einzelheit und in sich [–] als gleichgültige Allgemeinheit.«⁷⁵ Es ist die Entzweiung, die in der Perspektive des Absoluten Selbstentzweiung ist, welche sich im Bewusstsein des lebendigen Menschen als unendlicher Schmerz manifestiert. »Der Mensch hat dies Bewußtsein in sich, daß er im Innersten dieser Widerspruch ist; so ist das der unendliche Schmerz über sich selbst. Schmerz ist nur vorhanden im Gegensatz gegen ein Sollen, ein Affirmatives. Was nicht ein Affirmatives mehr in sich ist, hat auch keinen Widerspruch, keinen Schmerz. Schmerz ist eben die Negativität im Affirmativen, daß das Affirmative in sich selbst dies sich Widersprechende, Verletzte ist.«⁷⁶ Diese Entzweiung, der Schmerz des Negativen, ist daher Signum des endlichen Menschen, dessen Aufgabe es ist, sich zu erkennen und in dem Sich-Erkennen seine höhere Wirklichkeit zu erkennen. Darin steckt eine emanzipative Bewegung, weg von dem Partikularen und Einzelnen, das Hegel als das Unwahre vorstellt, hin zu dem organisch in die Selbstbewegung des Absoluten eingebundenen Wahren. Das Denken leben Als Prototyp des erkennenden Menschen stellt Hegel die biblische Geschichte von Adam und der Vertreibung aus dem Paradies vor. Was Adam geschieht, vertritt dabei den Menschen überhaupt. Die Erzählung vom Sündenfall erklärt die Natur des Menschen, der durch die Erkenntnis des Guten und Bösen aus dem Stande der Unschuld heraustritt, um wieder dahin zurückzukehren. Erkenntnis ist für Hegel der Schlüssel zur Deutung der Geschichte. Sie repräsentiert für Hegel den Ausgang des Menschen aus dem Schoß einer als unschuldig und unmündig interpretierten Einheit mit und in der Natur. »Die Schlange sagt, Adam werde Gott gleich werden, und Gott bestätigt, daß es wirklich so sei, daß diese Erkenntnis die Gottähnlichkeit ausmache. Diese tiefe Idee ist in die Erzählung niedergelegt. Es wird aber dann weiter dem Menschen eine Strafe auferlegt, er wird aus dem Paradiese vertrieben, und Gott sagt: ›Verflucht sei die Erde um deinetwillen, im Schmerz sollst du, was sie dir bringt, essen; Dornen und Disteln soll sie dir tragen, und das Kraut des Ackers wirst du essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, und du sollst wieder zur Erde werden, da du von ihr genommen bist; denn Staub bist du, und zum Staube wirst du zurückkehren.‹ Wir haben anzuerkennen, daß dies die Folgen der Endlichkeit sind, aber andererseits ist das 75 G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik, GW, 12, S. 185. Vgl. zum Lebensbegriff in der Phänomenologie: Kazimir Drilo: Leben aus der Perspektive des Absoluten, 129 ff. 76 G. W. F. Hegel: Werke, 17, S. 263.
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gerade die Hoheit des Menschen, im Schweiße des Angesichts zu essen, durch seine Tätigkeit, Arbeit, Verstand sich seinen Unterhalt zu erwerben. […] Daß auch nach der natürlichen Seite der Mensch frei ist, das liegt in seiner Natur, ist nicht an sich als Strafe zu betrachten. Die Trauer der Natürlichkeit ist allerdings an die Hoheit der Bestimmung des Menschen geknüpft.«⁷⁷ Das Denken leben, hieße dann – nach Hegel – so viel wie: nur denkend lebt der Mensch. Es ist die Erkenntnis, die den Menschen vom Tier unterscheidet; das Bewusstsein seiner Endlichkeit ist konstitutiv für sein Menschsein. Mehr noch: In der Erkenntnis selbst zeigt sich das Göttliche. Der Mensch erkennt sich selbst durch diese Erkenntnis in seiner Gottesebenbildlichkeit. Das Denken lässt sich daher gar nicht abtrennen von seinem Leben, weil er nur denkend lebt und lebend denkt. Zugleich spricht sich Hegel damit für eine Vorstellung von Bildung aus, nach welcher der Mensch durch die Erkenntnis seiner Endlichkeit bereits über diese Endlichkeit hinausgegangen ist. Das, was in der Erzählung des Sündenfalls von Hegel allegorisch gedeutet wird, bezieht sich auf die Verbindung von Erkenntnis und Moral, auf die Frage nach dem Grund für die Existenz des Bösen in der Welt. In seiner Allgemeinheit wird es von Hegel zu einer paradigmatischen, aber freilich unvollkommenen Erzählung vom Wesen des endlichen Menschen stilisiert. Ebenfalls augenscheinlich wird die Bedeutung des Denkens für das Leben auch in einer anderen Hinsicht, nämlich biographisch verstanden, für den Philosophen. In den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie widmet Hegel dem Leben Platons einen exklusiven Platz.⁷⁸ Auch hier findet er Paradigmatisches. Er hält sich besonders an dem politischen Experiment Platons auf. Diese Episode, die Reisen Platons nach Sizilien, dienen, so Hegel, dem Zweck Platons politische Theorie in die Wirklichkeit umzusetzen. Interessanterweise wertet Hegel Platons Versuch als einen ›schiefen Schritt‹. In allen Einzelheiten malt Hegel ein Bild vom Scheitern der Pläne. In seinen Augen ist es vor allem Dionysios, der Herrscher Siziliens, der durch seinen Halbheiten – er sei ein halbgebildeter schwacher Herrscher gewesen, mehr an Ruhm und äußerem Erfolg interessiert als an der Errichtung eines gerechten Staates – der durch diese Halbheiten ein Zerwürfnis mit Platon provozierte. Das Scheitern Platons, seines Versuchs eine gerechte Verfassung zu verwirklichen, führt Hegel ohne Umwege zu einer Reflexion über seine eigene Gegenwart: »Jetzt, in den letzten dreißig Jahren, hat man viele Verfassungen gemacht, […]. Aber das Theoretische reicht bei einer Verfassung nicht hin, es sind nicht Individuen, die sie machen; es ist ein Göttliches, Geistiges, was sich durch die Geschichte macht. Es ist so stark, daß der Gedanke eines Individuums gegen diese Macht des Weltgeistes nichts bedeutet; und wenn diese Gedanken etwas bedeuten, realisiert werden können, so sind sie nichts anderes als das Produkt dieser Macht des allgemeinen Geistes. Der Einfall, daß Platon Gesetzgeber werden sollte, war dieser Zeit nicht angemessen; […]«⁷⁹
77 Ibid., S. 77. 78 Vgl. dazu: Klaus Düsing, Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit, Darmstadt 1983. 79 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Hegel: Werke, 19, S. 19.
6.3. Lebendiges Denken – denkendes Leben
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Der späte Hegel wertet die Kompetenz des Individuums zur Veränderung seiner Welt, insbesondere seiner politischen Welt ab. Das ›welthistorische Individuum‹ ist nicht als Individuum wirkungsmächtig. Hinter dem Rücken des Einzelnen treiben allgemeine Kräfte die Geschichte an. Diese geschichtsphilosophische Konstruktion basiert auf einer Vorstellung von Vernünftigkeit, die weit über das Individuelle hinausgespannt ist und den Einzelnen schließlich für das Ganze verbraucht. Aber auch diese Vernünftigkeit wird von Hegel als lebendiges Denken aufgefaßt, weder dem Leben noch dem Denken entgegengesetzt. Das Leben des Denkens und das Denken des Lebens verbinden sich in der geschichtlichen Perspektive auf die Welt. Die Philosophie tritt nicht auf die eine Seite, auf die des Denkens, sondern muss, nach Hegel, ebenso auf die Seite des Lebens treten und darin das Negative aufnehmen und auf sich nehmen.⁸⁰ Das impliziert auch das Scheitern an der eigenen Zeit, wie es Platon zugestoßen ist.⁸¹ Der an sich wahre Gedanke des gerechten Staates und die Theorie einer Verfassung brechen sich an der Zeit, einer Zeit, die nicht als unverfügbare Kontingenz, sondern als Wirklichkeit des Geistigen verstanden wird. Denken und Leben sind für Hegel nicht zu trennen; die analytische Kraft der Philosophie korrespondiert in Hegels Auffassung mit dem Leben des Denkens, das sich in allen Verästelungen seines Systems widerspiegelt, letztlich nichts anderes ist als das Absolute selbst. Dass sich in der Universalität des Denkens, dass sich in der höchsten Aufgipfelung des Vernünftigen genau so das Scheitern Hegels an seiner Zeit manifestiert, eine Zeit, die er meinte in Gedanken fassen zu können, entwertet sein Denken keineswegs. Im Gegenteil: Erst diese negative Beziehung auf sich erlaubt der Philosophie, die Hoffnung auf die Veränderbarkeit des Wirklichen nicht gänzlich aufzugeben. In der Bescheidenheit eines wissenden Nicht-Wissens und einer Kritik an den Höhenflügen der Vernünftigkeit, die wirkliche Selbstkritik der Vernunft ist, zeigt sich ein Anspruch auf Gestaltung, die mehr ist als nur Interpretation und für die sich andere Kriterien geltend machen lassen, als die der ökonomischen Rationalität. Hegel kommt über zehn Jahre später erneut auf die Reflexionsphilosophie zu sprechen. im 2. Band der Wissenschaft der Logik (1816). Es handelt sich dabei nicht nur um einen der schwierigsten Texte der Logik und damit der Philosophie Hegels überhaupt. Er ist auch eine Hommage an die Transzendentalphilosophie, die zeigt, dass Hegels Bestreben dahin geht, die zunächst kritisierten und abgelehnten Positionen nun – systematisch gewandelt – wieder aufzunehmen und als substantielle Formen der Philosophie zu betrachten. So findet man in der sog. Wesenslogik allenthalben Spuren seiner Auseinandersetzung mit Kant – vor allem aber mit Fichte.
80 Vgl. Manfred Baum: »Durch Philosophie leben lernen«, in: Hegel-Studien 12, Bonn 1977, S. 43–81. 81 Hier ist eine deutliche Ambivalenz Hegels zu erkennen, die ihren Niederschlag in unterschiedenen Bewertungen findet. Die Rolle des Philosophen schwankt zwischen Akteur und Zuschauer. Vgl.: Heinz Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels System der Philosophie in den Jahren 1800–1804, Bonn 1970.
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6. Kapitel: Erkenntnis und Methode: Kritik und System bei Hegel
6.4
Fichtes Wiederkehr in Hegels Wesenslogik
Die Lehre vom Wesen ist stets für das schwierigste Buch der Wissenschaft der Logik gehalten worden. Die Aufmerksamkeit auf die begrifflichen Unterschiede lässt sich nicht mehr, wie noch in der Logik des Seins, an den Unterschieden der Sache des Denkens festmachen. Die Wesenslogik beginnt indes mit der Reflexion in sich. Sie kämpft mit der »Hartnäckigkeit des Verstandes«,⁸² der sich der spekulativen Verflüssigung zu entziehen trachtet. Während die Bewegung der Seinslogik ein Übergehen ist, das von einem Sachverhalt des Denkens zum anderen fortschreitet, so zeigt sich in der Lehre vom Wesen, dass der reflektierende Verstand seine Bestimmungen selbst hervorbringt, sie in ihren Unterschieden festhält, sie als selbstständige betrachtet und nebeneinanderstellt. Anstelle des Übergehens tritt nun das Scheinen.⁸³ »Dieser, (der schwerste) Theil der Logik enthält vornehmlich die Kategorien der Metaphysik und der Wissenschaften überhaupt; – als Erzeugnisse des reflectierenden Verstandes, der zugleich die Unterschiede als selbstständig annimmt, und zugleich auch ihre Relativität setzt; beides aber nur neben- oder nacheinander durch ein Auch verbindet und diese Gedanken nicht zusammenbringt, sie nicht zum Begriffe vereint.«⁸⁴ Tatsächlich scheint mit der Wesenslogik eine gegenüber der Seinslogik ganz andere, grundlegend veränderte Denkform, eine andere Dynamik einzutreten. Gerade am Anfang, wenn Hegel über die Grundformen der Reflexion als Reflexion des Wesens in sich selbst spricht, akzentuiert er die Unterschiedlichkeit der beiden Perspektiven.⁸⁵ Er betont, dass das Denken nun eine gänzlich veränderte Stellung zu seinen originären Inhalten einnimmt. Dabei ist impliziert, dass sich nicht ein sachlich völlig neuer Bereich auftut, sondern Inhalte zu denken sind, die sich in einer neuen Sichtweise neuartig darstellen. Damit wirft er zugleich einen neuen Blick auf den Anfang der Logik.⁵ Die Reflexionsbestimmungen setzen nicht nur die Logik fort, sondern vertiefen sie auch, und zwar im Sinne einer vertiefenden Begründung. Damit erklärt die Wesenslogik die Bestimmungen des Seins als Reflexionsbestimmungen. Sie macht verständlich, inwiefern das Übergehen der Bestimmungen des Seins nur einseitig ist und auf einer Selbstvergessenheit der Reflexion beruht. Eine Dialektik zwischen Vergessenheit und Erinnerung kann erst in der Wesenslogik als solcher hervortreten. Interessanterweise lässt sich feststellen, dass sich Hegel mit der Wesenslogik erneut mit dem Ansatz Fichtes beschäftigt. Bereits durch das Thema der Reflexion ist dieser Bogen gespannt. Allerdings geht es Hegel jetzt weniger um eine Auseinandersetzung mit dem oder einem Werk Fichtes wie noch in der Jenaer Zeit. 82 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie 1827, § 113, GW, 19, S. 112. Zur ›kleinen Logik‹ der Enzyklopädie vgl. Christa Hackenesch: »Die Wissenschaft der Logik«, S. 87–138. 83 Vgl. Klaus J. Schmidt, G. W. F. Hegel: Die Wissenschaft der Logik – Die Lehre vom Wesen, Paderborn 1997. 84 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie 1827, § 114, GW, 19, S. 112. 85 Vgl. Andreas Arndt: »Die anfangende Reflexion. Anmerkungen zum Anfang der ›Wissenschaft der Logik‹«, in: Andreas Arndt und Christian Iber (Hrsg.), Hegels Seinslogik. Interpretationen und Perspektiven, Berlin 2000, 126–139. 5 Christa Hackenesch: Die Logik der Andersheit. Eine Untersuchung zu Hegels Begriff der Reflexion, Bodenheim 1989, S. 263–276.
6.4. Fichtes Wiederkehr in Hegels Wesenslogik
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Allerdings dürfte die Wesenslogik hier an Grundansichten anknüpfen. Ich möchte mit folgenden Bemerkungen diese Blickrichtung auf den Gedankengang Hegels in der Wesenslogik lenken. Das ist zunächst ein historisch-genetischer Blick. Wie aber stets in der Beschäftigung mit der klassischen deutschen Philosophie handelt es sich dabei auch um systematische Einsichten, deren Tragweite über das Historische weit hinausgeht. Fichte expliziert mit seiner Grundidee eines tathandelnden Ich zugleich den besonderen Charakter der Reflexion, der, indem er später von Hegel und Schelling aufgegriffen wird, zum Schlagwort der Reflexionsphilosophie beitrug, unter dem beide Denker in der Jenaer Zeit vornehmlich die Philosophie Fichtes kritisch verhandelten. Reflexion ist dabei tatsächlich eine Grundstruktur, die sich bei Fichte bis in die späten und spätesten Entwürfe seiner Wissenschaftslehre finden, und sie ist zugleich zentraler Terminus einer Logik der Reflexion bei Hegel. Ich werde diesen Befund zum Anlass nehmen, um einen Weg in die Wesenslogik zu versuchen. Zu den wichtigsten Erfindungen der Philosophie Fichtes im Umkreis der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre gehört ferner ohne Zweifel die Lehre von den zwei Reihen des Denkens. Sie begründete einerseits eine nachkantische Theorie der Perspektivität mit zahlreichen Nachwirkungen und wird von Fichte im Verlauf der Entwicklung seiner Wissenschaftslehre zur Grundstruktur seines Denkens. Die Transformation dieses Gedankens in der Wesenslogik macht den zweiten Teil meiner Untersuchung aus. Die Reflexion In einer Anmerkung zum Abschnitt über die äußere Reflexion schreibt Hegel 1813 in der Wesenslogik:⁸⁶ »Die äußerliche Reflexion war […] gemeint, wenn der Reflexion überhaupt, wie es eine Zeitlang Ton in der neueren Philosophie war, alles Übel nachgesagt und sie mit ihrem Bestimmen als der Antipode und Erzfeind der absolute Betrachtungsweise angesehen wurde.«⁸⁷ Tatsächlich handelt es sich hierbei um eine späte Richtigstellung. Schließlich waren es Hegel und Schelling, die gemeinsam am Beginn des 19. Jahrhunderts die pejorative Rede von der Reflexionsphilosophie inaugurierten,⁸⁸ um sich deutlich von der Transzendentalphilosophie Kants, Reinholds und Fichtes abzusetzen. Noch in Glauben und Wis86 Vgl. zum Folgenden: Christian Iber, Metaphysik absoluter Relationalität. Eine Studie zu den beiden ersten Kapiteln von Hegels Wesenslogik, Berlin; New York 1990, insb. S. 1– 8; Thomas M. Schmidt: »Die Logik der Reflexion. Der Schein und die Wesenheiten«, in: Anton Friedrich Koch und Friederike Schick (Hrsg.), G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Klassiker Auslegen, Berlin 2002, S. 99–117; Taiju Okochi: Ontologie und Reflexionsbestimmungen. Zur Genealogie der Wesenslogik Hegels, Würzburg 2008. 87 G. W. F. Hegel: GW, 11, S. 254 f. 88 Vgl.: Schelling: Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie [1802], Schelling: Werke, I, 4, S. 350–361. Schelling verortet die Wissenschaftslehre Fichtes als Reflexionsphilosophie und kritisiert den Schein, dem diese Philosophie aufsitzt, indem sie ihn selbst erzeugt: »Es ist die bestimmteste Erklärung der Wissenschaftslehre (Grundlage S. 272), daß sie alles Bewußtseyn aus einem unabhängig von ihm, außer ihm Vorhandenen erklärt, hiemit scheint sie sich mit dem Dogmatismus und Kantianismus in das
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6. Kapitel: Erkenntnis und Methode: Kritik und System bei Hegel
sen (1804) geißelte Hegel insbesondere die Philosophie Fichtes, wobei er sich auf die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre bezog. Sein Hauptvorwurf bestand darin, dass das Wissen, das von sich weiß, letztlich mit einer »reine[n] leere[n] Tätigkeit« beginnt. Damit kritisiert Hegel den Anfang der Wissenschaftslehre Fichtes in einem sich selbst setzenden Ich. Dieses Ich ist reine Tätigkeit, Tathandlung. Nach der Auffassung Hegels handelt es sich bei diesem anfänglichen Ich um einen reinen Akt, der in sich inhaltslos, gleichwohl aber von höchster Gewissheit ist. Dieses Ich ist Wissen, ohne dass etwas gewusst wird, ist Wissen als bloße Möglichkeit und ist insofern allem wirklichen Wissen gegenüber leer. Die Wissenschaftslehre Fichtes erscheint in Glauben und Wissen als ein Prozess, der nur die Möglichkeit der Anreicherung des Wissens mit Inhalt konstruiert, den Übergang aber zwischen bloßen formalen Elementen zu einem inhaltlich gefüllten Bewusstsein nicht erklären kann. »Das Verhältnis der absoluten Leerheit und Unbestimmtheit des Wissens zu der Bestimmtheit und jener Realität ist das Unbegreifliche und eins dem anderen, das Besondere dem Allgemeinen gleich fremde, wie die empirisch gegebene Bestimmtheit.«⁸⁹ Die Kritik Hegels greift daher zwei Punkte auf: Einerseits versucht er zu zeigen, dass Fichte aus methodischen Gründen mit einer inhaltlich leeren und daher unbestimmten Tathandlung beginnen muss. Andererseits weist er darauf hin, dass der Übergang von einer Ebene, die lauter formelle Bestimmungen enthält, zu einem konkreten Bewusstsein mit konkreten Inhalten von Fichte nicht geleistet wird. Die erste dieser Bestimmungen ist die formale Identität: Ich = Ich.⁹⁰ Über diese Identität komme Fichte nicht hinaus, und insofern alles im Ich und für das Ich ist, verbleibt Fichtes Wissenschaftslehre in der Reflexion, einem Akt selbstbezüglichen Denkens, dem das Leben und der erfüllte Reichtum des Inhalts entgegenstehen. Hegel schließt damit an eine lange Diskussion an, die sich kurze Zeit nach der Publikation von Fichtes Wissenschaftslehre entwickelte. Diese Diskussion ist mit dem Namen Jacobis verbunden. 1798 entbrannte der Atheismusstreit, in dessen Folge zahlreiche Streitschriften erschienen. Um seine Verteidigungspositionen zu verstärken, bat Fichte Friedrich Heinrich Jacobi um eine öffentliche Erklärung. Jedenfalls hoffte er, dass sich Jacobi für ihn erklären würde. Und Jacobi antwortete mit einem öffentlichen Sendschreiben. Er halte die Transzendentalphilosophie insgesamt, worunter er Kant, Reinhold und Fichte fasste, nicht für Atheismus, dekretierte Jacobi, – sondern für Nihilismus (1799). Damit erneuerte Jacobi seine beste Vernehmen zu setzen, die eben nichts anderes wollten; die transscendentale Seite soll aber wieder durch die Frage geltend gemacht werden: ›für wen läßt sich das Bewußtseyn nicht anders als durch eine von ihm unabhängig vorhandene Kraft erklären, und für wen soll es denn erklärt werden? Wer überhaupt ist es denn, der erklärt? – Die endlichen Naturen selbst‹; obgleich diese Reflexion bestimmt genug den Schein ausspricht, der den philosophirenden gemeinen Menschenverstand äfft und zwingt, immer nach dem An-sich zu laufen, indem es ihm immer entgeht, wenn er eben darnach greifen will – bleibt sie doch selbst ganz innerhalb dieses Scheins, den sie für unauflöslich hält, […].« Schelling: Werke, I, 4, S. 357 – Vgl. Klaus Düsing, »Zur Zusammenarbeit Schellings und Hegels in Jena«, in: Hegel-Studien 5 (1969), 95–128. 89 G. W. F. Hegel: Glauben und Wissen, GW, 4, S. 390. 90 Vgl. G. W. F. Hegel: Glauben und Wissen, GW, 4, S. 396.
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Kritik an der Transzendentalphilosophie, die er für einen übersteigerten Intellektualismus hielt. Fichtes Wissenschaftslehre musste sich nun noch einem weiteren Vorwurf ausgesetzt sehen, nicht nur Atheismus, sondern, fast schlimmer noch, – Nihilismus. Jacobi versuchte damit, die Philosophie Fichtes samt der Transzendentalphilosophie im Ganzen zu diskreditieren. Er verknüpfte dabei die Resultate der theoretischen Philosophie, insbesondere Kants Lehre vom Ding-an-sich, mit der praktischen Philosophie, insbesondere mit der Kritik einer bloßen Gefühlsreligion, und schloss daraus, dass es sich bei der Transzendentalphilosophie um einen Irrealismus handeln müsse, der die Existenz der Außenwelt in einem realen Sinne leugne und zugleich die Bedeutung des Gefühls, der ›Ahndung‹, für das Göttliche bestreite. Dagegen setzte er seinen Begriff des Glaubens, dessen äquivoken Gehalt er nutzte, um sowohl das Für-wahr-Halten einer Außenwelt als auch eine religiöse Unmittelbarkeit jenseits allen Intellektualismus bezeichnen zu können. Um die Gegenposition Kants und Fichtes zu charakterisieren, benutzte er den damals noch ganz neuen und fast noch unschuldigen Begriff des Nihilismus. Die Realität wird zu Nichts, wenn sie nur Bestand für ein reflektierendes Wissen hat. So entsteht eine nichtige Welt aus lauter Reflexionsakten, die aus dem Ich projiziert werden. Die Bestimmung des Menschen aus dem Jahr 1800, die in der Fichteforschung eine sehr ambivalente Rolle spielt, lässt sich als eine Antwort auf den NihilismusVorwurf Jacobis werten. Fichte stellt dort die Nihilismus-Position vor, um sie durch seine eigene Philosophie zu kritisieren: »Die Vorstellung aber ist mir nur Bild, nur Schatten einer Realität; sie kann mir an sich selbst nicht genügen, und ist an sich selbst nicht von dem geringsten Werthe. Ich könnte mir gefallen lassen, dass diese Körperwelt außer mir in eine bloße Vorstellung verschwände, und in Schatten sich auflösete; an ihr hängt mein Sinn nicht; aber nach allem bisherigen, verschwinde ich selbst nicht minder denn sie; gehe ich selbst über in ein bloßes Vorstellen ohne Bedeutung und ohne Zweck.«⁹¹ Auch hier verwandelt sich die Welt in Nichts, wird zu einem Traum, zu einer bloßen Vorstellung einer Vorstellung. Dies ist die auch von Hegel kritisierte Leere, die der Transzendentalphilosophie anhaftet, insofern sie bloß äußerliche Reflexion ist. »Kants reine Vernunft ist eben dieses leere Denken, und Realität ebenso jener leeren Identität entgegengesetzt, […].«⁹² Analog das Urteil über Fichte: Fichtes Wissenschaftslehre beginne mit einer leeren Identität, entwickle im Verlaufe der Reflexion einige formelle Bestimmungen, um letztlich in einer leeren Identität zu enden. »Auf diese Weise ist im Fichteschen Idealismus das System des Wissens ein Wissen von einem ganz leeren Wissen, welchem eine empirische Realität, von der Einheit, welcher die Mannigfaltigkeit absolut entgegengesetzt ist, und von einer relativen Identität beider, einem solchen formalen Wissen, dass es nicht weiter als bis zur relativen Identität bringen kann, […].«⁹³ Diese Ausführungen untermauern die These, dass sich Hegel in der Wesenslogik, vor allem in den Ausführungen über die Reflexion und die Reflexionsbestimmungen erneut mit Fichte auseinandersetzt. Allerdings 91 J. G. Fichte: Bestimmung des Menschen GA I, 6, S. 248. 92 G. W. F. Hegel: Glauben und Wissen, GW, 4, S. 395. 93 Ibid., S. 396.
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6. Kapitel: Erkenntnis und Methode: Kritik und System bei Hegel
geschieht diese Wiederaufnahme unter einer ganz anderen, neuen Perspektive, die vor allem dadurch von den Jenaer Schriften unterschieden ist, dass die kritische Tendenz hier nahezu vollkommen fehlt und nur noch durch die Gesamtanlage der Wesenslogik und in den gelegentlichen Anmerkungen zum Ausdruck kommt. Die Reflexion ist nun ein immanenter systematischer Bestandteil der absoluten Metaphysik Hegels und nicht mehr eine ausschließlich zu überwindende Form einer Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie. Das zeigt sich bereits in einer grundlegenden Bemerkung Hegels, mit der er ganz allgemein das Verfahren der Wesenslogik charakterisiert: »Das Werden im Wesen, seine reflektierende Bewegung, ist daher die Bewegung von Nichts zu Nichts und dadurch zu sich selbst zurück.«⁹⁴ Hegel unterscheidet hier den Prozesscharakter der beiden ersten Teile der Logik voneinander. In der Seinslogik dominiert das Übergehen als Übergehen von Etwas zu Anderem. Die Bestimmung des Werdens in der Seinslogik ist nichts anderes als das Übergehen von Sein und Nichts. In der Wesenslogik entspricht diesem Prozess die Reflexion. Sie geht aber nicht von Sein und Nichts aus, sondern allein vom Nichts, das sich auf sich selbst bezieht. Damit blendet die Wesenslogik die substantielle Andersheit des Anderen prinzipiell aus. Das Andere, das sie intendiert, ist ein gesetztes Anderes.⁹⁵ Darin schlägt sich die Auseinandersetzung mit Fichte nieder, dessen Formulierungen ›das Ich setzt sich selbst‹ und ›das Ich setzt sich im Ich ein Nicht-Ich entgegen‹ wie eine Hintergrundfolie mitschwingen.⁹⁶ Die absolute Reflexion ist nichts anderes als die »Bewegung von Nichts zu Nichts«. Sie ist damit Selbstbezüglichkeit, bei der nicht das Sein am Anfang steht, sondern der Gegensatz des Seins, das Nichts. Ja, das Wesen selbst ist nichts anderes als diese Bewegung. »Das Sein ist nur als die Bewegung des Nichts zu Nichts, so ist es das Wesen und dieses hat nicht die Bewegung in sich, sondern ist sie als der absolute Schein selbst, die reine Negativität, die nichts außer ihr hat, das sie negierte, sondern die nur ihr Negatives selbst negiert, das nur in diesem Negieren ist.«⁹⁷ Diese Passage lässt sich durchaus als eine radikalisierte Variante jenes Arguments verstehen, das Hegel bereits 1804 gegen Fichte gebrauchte. Das anfängliche Ich der Wissenschaftslehre ist jenes Nichts, das allem Sein unendlich entgegensteht und doch alles Sein potentiell in sich enthält. Es ist eine völlige Immanenz, die nichts außerhalb hat. Das Nichts ist, wie das anfängliche Ich Fichtes, Rückkehr in sich.⁹⁸ Nur im Akt des Negierens, das Negieren des Nichts ist, hat das Negative Bestand. Insofern negiert die absolute Reflexion ihren eigenen Schein.⁹⁹ 94 G. W. F. Hegel: Logik GW, 11, S. 250. 95 Vgl. Christa Hackenesch: Die Logik der Andersheit, S. 282: »Hegel leugnet die Unabhängigkeit des Anderen gegenüber der Reflexion; aber er bestreitet zugleich die Möglichkeit für das Ich, sich dem Anderen zu entziehen, indem es sich einer differenzlosen Einheit assimiliert.« 96 Vgl. zur Rolle des ›Anderen‹: Michael Theunissen: Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik. Frankfurt a. M. 1980. Ferner dazu: Klaus J. Schmidt: Die Wissenschaft der Logik, S. 43. 97 G. W. F. Hegel: Logik, GW, 11, S. 250. – Vgl. Christa Hackenesch: Die Logik der Andersheit, S. 207–263. 98 Vgl. Christa Hackenesch: Die Logik der Andersheit, S. 251–253. 99 Vgl. Klaus J. Schmidt, Die Wissenschaft der Logik, S. 39.
6.4. Fichtes Wiederkehr in Hegels Wesenslogik
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Es entsteht dadurch eine Folge von Bestimmungen, die jeweils eine prekäre Stellung besitzen, da ihr Bestand fraglich bleiben muss, verdanken sie doch alle ihre Bestimmtheit einem Akt der Reflexion, die selbst wiederum eine Bewegung von Nichts zu Nichts ist. Deshalb kann Hegel die Reflexion auch als reine Vermittlung bezeichnen, als »die Bewegung des Nichts durch Nichts zu sich selbst zurück«, als »das Scheinen seiner in einem anderen«.¹⁰⁰ Hier zeigt sich eine große Nähe zu Fichtes Charakterisierung des Nihilismus-Vorwurfs von Jacobi. Ein solches Scheinen des Nichts in einem anderen erzeugt eine Welt voller Bilder, eine Reflexionswelt ohne realen Bestand. Um es in den pathetischen Worten Fichtes auszudrücken: »Es giebt überall kein Dauerndes, weder außer mir, noch in mir, sondern nur einen unaufhörlichen Wechsel. Ich weiß überall von keinem Seyn, und auch nicht von meinem eigenen. Es ist kein Seyn. – Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder: – Bilder die vorüberschweben, ohne daß etwas sey, dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen, Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern. – Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt; in einen Traum, der in einem Traume von sich selbst zusammenhängt. Das Anschauen ist der Traum; das Denken, – die Quelle alles Seyns und aller Realität, die ich mir einbilde, meines Seyns, meiner Kraft, meiner Zwecke, – ist der Traum von jenem Traume.« Fichte selbst bringt hier die Negativität der Reflexion in anderen Termini – nämlich Bild, Bilder von Bildern, Traum – zum Ausdruck; der Sache nach aber spricht er vom Nichts, das sich auf sich bezieht, ohne realen Bestand in einem Sein, ohne Realität eines Anderen außer der Reflexion. Hegel beerbt diese Diskussion. Sein Begriff des Scheins, der freilich noch eine viel weitere und ältere Tradition ins Spiel bringt, ist eine Verwandlung des Bildbegriffs in Fichtes Bestimmung des Menschen. »Das Sein ist Schein«, beginnt Hegels Kapitel über den Schein. »Das Sein des Scheins besteht allein in dem Aufgehobensein des Seins, in seiner Nichtigkeit; diese Nichtigkeit hat es im Wesen, und außer seiner Nichtigkeit, außer dem Wesen ist er nicht.«¹⁰¹ Man kann daher ohne Zweifel Hegels Lehre von der Reflexion als Kommentar oder besser Auflösung der Diskussion um die Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes lesen. Diesen Hinweis gibt Hegel selbst, wenn er betont, dass »der neuere Idealismus […] sich nicht [erlaubte], die Erkenntnisse als ein Wissen vom Ding-an-sich anzusehen; jener Schein sollte überhaupt keine Grundlage eines Seins haben, in diese Erkenntnisse sollte nicht das Ding-an-sich eintreten.«¹⁰² Damit bezieht sich Hegel auf ein Grundproblem der nachkantischen Philosophie. Er liest Fichtes Wissenschaftslehre letztlich als idealistische Konstruktion. Zwar geht er in ihrem Verständnis weit über Jacobi hinaus, indem er eine naiv idealistische Leseweise konterkariert; letztlich restituiert er aber – auch in der Wesenslogik – den Vorwurf der Jenaer Jahre: Die Entgegensetzung, welche die Grundlage der 100 G. W. F. Hegel: Logik, GW, 11, S. 292. 101 Ibid., S. 246. 102 Ibid.
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gesammten Wissenschaftslehre noch durch einen unbegreiflichen Anstoß erzeugt, führe letztlich zu einer unerklärbaren Bestimmtheit und Beschränktheit des Ich. Das ist die Wiederholung des Vorwurfs, Fichte habe das wahre Unendliche nicht denken können, sondern sei bei einem endlichen Ich stehengeblieben. »[…] diese Bestimmtheit ist eine dem Ich […] zugleich unmittelbare, eine Schranke desselben, über die es hinausgehen kann, welche aber eine Seite der Gleichgültigkeit an ihr hat, nach der sie, obzwar im Ich, ein unmittelbares Nichtsein desselben enthält.«¹⁰³ Die Bemerkungen Fichtes in der Bestimmung des Menschen sind bereits in dieser Schrift nicht Fichtes letztes Wort in dieser Angelegenheit, sondern charakterisieren die letztlich unzutreffende Sichtweise Jacobis auf Fichtes Wissenschaftslehre. In gewisser Weise wehrt sich damit Fichte auch gegen die Einwände Hegels, die er zwar hätte zur Kenntnis nehmen können, aber wohl kaum gekannt hat. Bedenkt man die Ausführungen Hegels in der Wesenslogik, so muss man feststellen, dass bereits Fichte die Unzulänglichkeit der in Rede stehenden Position eines ›neueren Idealismus‹ klar vor Augen stand. Allerdings ist sein Lösungsweg signifikant von dem Hegels verschieden. Nach der Bestimmung des Menschen entwickelt sich Fichtes prima philosophia immer stärker zu einer prozessual verfahrenden Experimentalphilosophie, wird immer weniger Werk, sondern setzt auf den Vollzug. Hegels Logik setzt dagegen auf die Integration. Die vormals kritisierte Reflexionsphilosophie nimmt nun einen eigenen Platz in Hegels Projekt einer Wissenschaft der Logik ein, auch wenn es nicht der Ehrenplatz ist. Die Moderne auf den Begriff bringen Es ist ausgesprochen schwer, wenn nicht gar unmöglich, Hegels monumentale Wissenschaft der Logik auf ihre geschichtlichen Anregungen hin vollständig abzusuchen. Es ist aber vielleicht auch gar nicht sinnvoll, ein solches Unterfangen zu forcieren. Schließlich ist Hegel nicht nur ein Denker der Philosophiegeschichte, sondern selbst getrieben von einer systematischen Intention, die sich in der Aufzählung möglicher Vorläufer und Vordenker gar nicht zu erkennen geben kann. So ist der vorliegende Versuch einer Rekonstruktion der von Fichte stammenden oder durch ihn angeregten Gedanken kein Versuch, die Wesenslogik Hegels zu erklären oder zu einer entwicklungsgeschichtlichen Analyse beizutragen. Vielmehr geht es um die Aufdeckung der Wurzel denkerischer Perspektivität. In der Reflexion ist die Subjektivität ganz bei sich und vermittelt sich negativ in sich selbst. Ähnliches versucht die Wissenschaftslehre Fichtes. In dieser radikalen Wendung der Subjektivität auf sich – bei Fichte mit dem Anspruch letzter Gültigkeit und Gewissheit, bei Hegel in einer systematisch induzierten Vorläufigkeit – begreift sich das Scheinen der Subjektivität in sich selbst, und zwar nicht nur als Einheit, nicht nur als Unmittelbarkeit, sondern als pluraler Prozess der Polyperspektivität. Damit sind Fichtes und Hegels Beiträge zu einer Grundlagentheorie der Moderne angesprochen, die nicht nur Problemstellungen der klassischen deutschen Philosophie, sondern unsere bis heute maßgeblichen Paradigmen des philosophischen Denkens mit letzter Konsequenz vorstellig machen. Imponierend ist bei beiden 103 Vgl.: Ibid., S. 247.
6.4. Fichtes Wiederkehr in Hegels Wesenslogik
179
Denkern nicht nur der freilich ganz unterschiedlich ausgeformte Drang zum System, den man je nach dem eigenen Ansatzpunkt ablehnen oder restaurieren mag, sondern vor allem das kritische Potential, das beide Denker in die Waagschale werfen. So verwundert es nicht, dass Hegels Wiederaufnahme Fichtes in die Wesenslogik nicht nur affirmativ, sondern auch und zugleich kritisch bleibt. In den Augen Hegels verharrt Fichtes Wissenschaftslehre im unüberwindbaren Gegensatz von Reflexion und Welt. Zu einer Aufnahme Hegels in die Wissenschaftslehre Fichtes ist es umgekehrt nie gekommen – Fichte sah in Hegel zeitlebens nur den Schüler Schellings. Beider Kritik am verdinglichten Denken sowie an der Metaphysik, ihre Bemühungen um die Dynamisierung der Philosophie und ihr gesteigertes Interesse an den Strukturen subjektiver Selbstbezüglichkeit weisen sie dennoch als Mitarbeiter am selben Projekt aus: die Moderne auf den Begriff zu bringen.
Kapitel 7
Philosophie im Aufbruch – Philosophie des Aufbruchs Josef K. wird eines Morgens von einem Gerichtsdiener abgeholt und muss sich von nun an vor Gericht verteidigen. Leider kennt er weder Ankläger noch das Vergehen, das ihm zur Last gelegt wird. – Franz Kafka inszeniert mit diesem Roman ein modernes Paradebeispiel für einen anonym sich entwickelnden und verbreitenden Legitimationsdruck. Der Protagonist hat keine Chance zu entkommen. Er verstrickt sich vollkommen in seinen Prozess. Nun ist Kafkas Roman schon in vielfältigen Hinsichten interpretiert und spekulativ ausgelegt worden, und ich bin nicht versucht, dem eine weitere Variante hinzuzufügen. Tatsächlich will ich mit dieser literarischen Anspielung nur auf das Phänomen aufmerksam machen, das entsteht, wenn man sich in Legitimationsprozessen verfängt: Anstatt die Objektivität der Situation kritisch zu beleuchten, wird die Rechtfertigung der eigenen Existenz zum Selbstläufer – und zum Dauerbrenner. Das eigene Selbstbewusstsein depotenziert sich selbst durch die freiwillige Übernahme und Transformation von Vorwürfen, die nie erhoben oder wenn erhoben, dann nur begrenzt sachhaltig begründet werden können. So schlägt der Prozess zurück, und die Legitimation wird zum eigentlichen Lebensinhalt und zweck. Die Philosophiegeschichtsschreibung, besonders aber die der klassischen deutschen Philosophie, hat einen Prozess großer Ernüchterung hinter sich. Einst in Deutschland eine Paradedisziplin mit autokratischen Zügen ist sie heute im akademischen Betrieb an den Rand gerückt. So wird sie beispielsweise gern mit einem Tresor verglichen, in dem die systematische Philosophie ihre Pretiosen verwahrt, eine Vorratskammer für den Fall, dass der systematischen Philosophie nichts mehr einfällt, ein Korrektiv, damit man die falschen Wege nicht ein zweites Mal beschreitet. Die Philosophiegeschichtsschreibung versucht, ihre Daseinsberechtigung auszuweisen, indem sie verzweifelt ihre systematischen Kompetenzen herausstreicht. Dabei verwickelt sie sich – wie vielleicht die gesamte philosophische Szenerie – in einen fruchtlosen Legitimationsdiskurs. Damit steht viel auf dem Spiel. Ich denke dabei weniger an die Geschichte der Philosophie. Sie wird bleiben, was sie war, und zwar in der jeweiligen Neuentdeckung durch jede weitere Philosophengeneration. Schwieriger ist es für das systematischen Denken der gegenwärtigen Philosophie: Die Philosophie von heute ist die Geschichte von morgen – ein konkreter Historisierungsprozess, der das aktuelle Denken mit voller Wucht trifft. Denn die systematische Bedeutung einer Philosophie verblasst mit jedem neuen Gedanken, mit jedem neuen Problem. Das systematische Denken entwertet sich folglich selbst, wenn es die Möglichkeit verneint, seine systematische
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7. Kapitel: Philosophie im Aufbruch – Philosophie des Aufbruchs
Bedeutung zu behalten, auch wenn es geschichtlich wird. Um der Systematizität gegenwärtigen Denkens willen darf die Geschichte der Philosophie daher nicht im Panzerschrank aufbewahrt und nur zu gewissen nostalgischen Stunden ans Licht geholt werden. Für die klassische deutsche Philosophie scheint diese Diagnose verschärft zuzutreffen, handelt es sich doch nicht einmal um einen Schatz, den es sicher zu verwahren gilt, sondern eher um einen toten Hund. Ein Spiegel dieser Schwierigkeiten zeigt sich bereits in der Verlegenheit, das Objekt adäquat zu benennen. Die meisten von uns möchten den früher gängigen Begriff »Deutscher Idealismus« nicht mehr verwenden. Einerseits ist »Idealismus« einfach eine falsche Kategorie oder zumindest irreführend, andererseits ist »deutsch« geografisch-historisch unsinnig und als Bezeichnung der Sprache, in der philosophiert wird, viel zu eng, denn schließlich handelt es sich schon lange um ein kontinentaleuropäisches Phänomen. Auch »Transzendentalphilosophie« ist bei weitem zu eng. Der Begriff ist außerdem in den Diskussionen um die ›Letztbegründung‹ zerschlissen und aus der Polemik ziemlich ramponiert hervorgegangen. Wer auf die systematische Valenz verzichten möchte, sagt neuerdings »die Philosophie um 1800«, eine Begriffsbildung, die bei Kultur- und Kunsthistorikern, wie ich höre, schon länger üblich ist. Oder man sagt eben »klassische deutsche Philosophie« und rückt die Heroen des Geistes in eine gediegene Vergangenheit, aus der ihre Gedanken nur schwer wieder in den Gang systematischer Theoriebildung zurückzuholen sind. Zunächst und ganz nüchtern betrachtet muss man konstatieren, dass mit der Wende des Jahres 1989 auch für das Verhältnis der deutschen Philosophie zu ihrer Vergangenheit, insbesondere zum sog. Deutschen Idealismus eine Wende eingetreten ist. Die Zeit nach Hegel bis in die jüngste Vergangenheit ist geprägt durch eine fundamentale Ideologisierung. Man konnte Hegel nicht lesen, ohne in einen ambivalenten Richtungsstreit zu geraten: Linkshegelianer – Rechtshegelianer, eine Auseinandersetzung, die sich noch in die bis heute existierende Spaltung in zwei Hegelgesellschaften mit unterschiedlichen Kulturen fortsetzt. Der Neukantianismus, der vor dem zweiten Weltkrieg die vorherrschende Strömung nicht nur in der Philosophie war, hatte einen Teil ihrer führenden Köpfe durch Emigration verloren, ein anderer großer Teil hatte sich vollständig diskreditiert. Der Neufichteanismus hatte sich bereits im Ersten Weltkrieg zu einer hochgestimmten, moralinsauren Weltanschauungsphilosophie verstiegen, deren Ausläufer direkt oder indirekt in der nationalsozialistischen Propaganda endeten. Mit einem Wort: Erst heute lässt sich ein unbefangener Blick auf die »Philosophie um und nach 1800« werfen, ein Blick, der nicht durch Bewertungen geleitet ist, die sich – berechtigt oder unberechtigt – ideologischen Vorurteilen verdanken. Hier gibt es Neues zu entdecken und Altes wiederzuentdecken. Ich bin der Auffassung, dass gerade diese Zeit und ihre Debatten schlecht erforscht sind. Zwar entstehen – nicht ohne große existenzbedrohende institutionelle und finanzielle Schwierigkeiten – große Klassikerausgaben; aber es gibt nach wie vor eine Fokussierung auf Kant und das Dreigestirn: Fichte, Schelling, Hegel, die man ohnehin am liebsten in einem Atemzug nennt. Dadurch sind zahlreiche Philosophen am Beginn des 19. Jahrhunderts, jene Herbart, Solger, Sinclair, Eschenmayr, Bardili, Bouterwek, schlichtweg vergessen worden. Mir scheint, dass wir dort – im Gegensatz etwa zur gut dokumentierten
7. Kapitel: Philosophie im Aufbruch – Philosophie des Aufbruchs
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Spätaufklärung – eine nahezu unentdeckte Generation vor uns haben. Wer weiß schon, dass in dieser Zeit eine Geist-Gehirn-Debatte geführt wurde, in der zahlreiche spannende Argumente ausgetragen werden, die bis heute von prinzipieller Bedeutung sind? Der Aufschwung der Anthropologie, der Medizin als Wissenschaft, die Entwicklung von Modellbildungen zwang zahlreiche Philosophen zu Einlassungen. Die Massivität, mit der dort um Welt- und Menschenbilder gerungen wurde, ist mit der heutigen Situation direkt vergleichbar. Die klassische deutsche Philosophie ist unvollendet geblieben – wie vielleicht alles Fragen des Menschen überhaupt unvollendet bleiben muss. Das scheint der unentwegten Rede vom Absoluten, das oft auch als Ringen um das Absolute verstanden wurde, ganz und gar zu widersprechen. Zweihundert Jahre nach dieser philosophischen Entwicklung gilt die Ablehnung häufig diesem beanspruchten Absoluten, der mit ihm verbundenen Abgeschlossenheit und Letztbegründung des philosophischen Denkens sowie dem Gestus, mit dem jene Philosophen die Totalität und Identität für sich beanspruchten.¹ Es ist sehr schwer im Namen historischer Gerechtigkeit an eine gewisse Fairness appellieren zu wollen. Denn dann verwechselt man historische Angemessenheit mit systematischer Geltung. In philosophiegeschichtlicher Perspektive kann man deshalb darauf hinweisen, dass gegenwärtige Urteile häufig der hochgestimmten Rhetorik, der Künstlichkeit philosophischen Sprechens oder einer gedanklichen Fremdheit aufsitzen. Aus Unverständnis kommt es zu Vorwürfen, die sich in beliebig langen Listen zusammenfassen lassen. Dabei treffen viele Invektiven eher die Epigonen als die Urheber. Man kann sich heute gut vor Augen halten, dass der Schlagschatten der klassischen deutschen Philosophie bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinausgereicht hat. Dabei sind die Vertreter dieser Philosophie nur zu oft Stellvertreter – zumindest haben sie sich dafür gehalten. Was sie freilich weder ausdrücklich machten und ihnen vielleicht noch nicht einmal bewusst wurde, ist die heute offenkundige Tatsache, dass sie die Philosophie der deutschen Klassik mit äußerst gespannten, teils nationalistischen, später weltanschaulichen Richtungen ihrer eigenen Zeit unlösbar zusammenschweißten. So riefen sie schon früh Kritiker auf den Plan. Außer Marx und Nietzsche, die immer genannt werden, wenn es um die Kritik der klassischen deutschen Philosophie geht, kann man auch gut und gerne auf Hugo Balls Zur Kritik der deutschen Intelligenz (1919) verweisen. Die deutschtümelnde, national-chauvinistische Interpretation der klassischen deutschen Philosophie hat einen breiten Flurschaden angerichtet. Nach dem 2. Weltkrieg in der Zeit der Systemkonfrontationen orientierten sich die Interpretationen auf den Ost-WestGegensatz und schlugen sich auf eine Seite. Das lässt sich besonders gut an der Philosophie Hegels beobachten. Erst seit dem Ende des ideologischen Sozialismus nach 1989 kann Hegel und mit ihm die klassische deutsche Philosophie wieder unvoreingenommen studiert werden. Daher verwundert es auch nicht, dass seit dieser Zeit vermehrt darum gerungen wird, ein historisch angemessenes Bild jener Epoche zu zeichnen, das auf 1
Peter Sloterdijk hat diese Mischung aus Bewunderung und vehementer Ablehnung häufig öffentlich inszeniert: Vgl. z. B. Peter Sloterdijk: Nach Gott. Berlin 2017, S. 241– 244.
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ideologische Präfigurierungen verzichten kann. Die Interpreten fühlen sich nicht mehr genötigt, in die Konkurrenz der großen Philosophen einzusteigen und einen Stellvertreterkrieg zu führen – für den ein oder anderen ihrer Vertreter. Jetzt ist es möglich, die klassische deutsche Philosophie in ihrer ganzen Breite zu diskutieren. Aber eine bloße Historisierung ist zu wenig. Die Philosophie muss ein Interesse an der systematischen Seite der Philosophiegeschichte haben. Sie sollte dies nicht leugnen müssen, denn die Verbindung von Geschichte und systematischem Interesse im Wechselspiel von Tradition und Bruch verschafft der Philosophie ihre notwendige Tiefendimension. Unter diesen Vorüberlegungen ist es ausgesprochen spannend, die Philosophie der deutschen Klassik als Aufbruch der Moderne zu rekonstruieren. Dann stehen weniger die Helden der ein oder anderen philosophischen Richtung oder der ein oder anderen Grundauffassung im Mittelpunkt, sondern eine philosophische Entwicklung, die wie kaum eine andere – ein Spiegel der Moderne ist. Unter diesem Blickwinkel kann man die klassische deutsche Philosophie als Philosophie der Differenz betrachten. – Das meint nicht, dass die Identität keine Rolle mehr spielte, aber doch, dass sie von der Differenz her charakterisiert wird. Diese Interpretationsperspektive entwirft ein neues Bild des Aufbruchs in die Moderne. Während früheren Ansätzen daran gelegen war, die Einheit des Absoluten vor der Pluralität zu retten und damit einer Kontinuität in der abendländischen Philosophie das Wort zu reden, geht es nun darum, gerade die Diskontinuität herauszustellen. Hier kann man bei Hegel und Fichte, aber auch bei Schelling und Schopenhauer sehr gute Argumente finden, warum sie nicht einfach die Tradition fortsetzen. Das Auftreten eines neuen Paradigmas in der Philosophie, der Transzendentalphilosophie, und deren gewaltsame Überschreitung bei Schelling und Hegel ist das beredte Zeichen für den Aufbruch in die Moderne. Gleiches gilt sicher für die Beendigung des Streits von Idealismus und Realismus. Noch heute schallt das Echo dieses Streits aus dem Wald heraus.² Obwohl die klassische deutsche Philosophie häufig deutscher Idealismus genannt wird, kann man ihr kaum die erkenntnistheoretisch eingefärbte Etikettierung Idealismus zuweisen. Fichte, Schelling und Hegel, in gewisser Weise auch Kant, nehmen für sich in Anspruch, die Dichotomie von Innen und Außen, von In-mir und Außer-mir, durch ihre philosophischen Systeme endgültig wirkungslos gemacht zu haben. Dabei entledigt sich der sog. deutsche Idealismus der eingeschränkten erkenntnistheoretischen Perspektive auf das Wahrheitsproblem, die nur die Wahl lässt zwischen Adäquations- oder Kohärenztheorie der Wahrheit, gleichzeitig säkularisiert sie – ganz folgerichtig im Fahrwasser der Moderne – den religiösen Begriff der Wahrheit. Daher ist es kein Widerspruch, zu behaupten, die Denker des sog. deutschen Idealismus seien unumstritten Realisten gewesen, allerdings reflektierte Realisten, die auch noch begründen können wollten, warum sie denn Realisten sein sollten. Die bloße Berufung auf das Reale – es sei, was es wolle: Gott, Natur oder Welt – reichte ihnen nicht aus. Darin erblickten sie einen Rest von Metaphysik, das heißt 2
Vgl. Markus Gabriel: Neutraler Realismus. Mit kritischen Beiträgen, hrsg. von Thomas Buchheim, Freiburg; München 2016.
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von einer nicht reflektierten Gegebenheit. In dieser Verknüpfung von radikalem Begründungsanspruch und höherem Realismus liegt der Punkt, an dem sie über die Dichotomie von Realismus und Idealismus hinausgehen. Unbestreitbar modern ist auch der Freiheitsbegriff, der sich in ihrem Nachdenken spiegelt. Es geht nicht nur um das bürgerliche Subjekt, dessen in der Französischen Revolution formulierte und gewonnene Freiheit sicher Pate stand für Fichtes absolutes Ich in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre. Vor allem geht es um die immer stärker zum Ausdruck kommende Ambivalenz der Freiheit. So schwebte Fichte und in gewisser Hinsicht auch Hegel, eine Freiheit vor die zugleich Notwendigkeit sein sollte. Bloße individuelle Freiheit hielten sie für zutiefst verwerflich. Dem spürt auch Schelling nach, wenn er in seiner Freiheitsschrift die Abgründigkeit der Freiheit beschwört. Diese Ambivalenz setzt aber die von Kant herausgehobene Autonomie des Menschen voraus. Die Gesetze werden dem Menschen nicht von Gott oder König gegeben, sondern der Grund ihrer Geltung liegen in ihm selbst. Diese Ermächtigung des Menschen zum Gesetzgeber enthält in der Umkehrung eine Machtlosigkeit, die in der Hilflosigkeit des Menschen vor dem abgründigen Bösen besteht. Der autonome Mensch ist nicht der kraftstrotzende Heros der archaischen Heldenzeit, sondern ein seine Endlichkeit reflektierender auf Vernunft setzender, der Unvernunft aber ausgesetzter Mensch. Die Brüchigkeit der modernen Welt ist daher ein unablösbares Charakteristikum der Suche nach dem System.
Danksagung Bücher sind immer Dokumente eines Denkweges. Auf diesem Denkweg haben viele Diskussionen stattgefunden, mit Kollegen, Doktoranden, Studentinnen und Studenten. Diese Debatten haben sich tief in mein Buch eingegraben. Sie haben meine Bemühungen um mehr Klarheit motiviert. Die Teilnehmer meiner Seminare und Vorlesungen an der Technischen Universität Berlin mussten viel unverdaulichen Stoff ertragen, manche gewagte Spekulation erdulden und einige Großthesen über sich ergehen lassen. Viele haben mich mit ihren Fragen und Problemen vor fast unlösbare Aufgaben gestellt. Sie waren nachsichtig mit mir – und aufmerksam. Ihnen gilt mein aufrichtiger Dank; eine bessere Prüfung des eigenen Denkens kann man sich nicht wünschen und ist durch die beste Selbstprüfung gar nicht zu ersetzen. Dank gebührt auch Eleonore F. Asmuth, die viele Teile des Textes aufmerksam gelesen, korrigiert und mit kritischen Anmerkungen gefördert hat. Explizit danken möchte ich auch Simon Gabriel Neuffer für zahlreiche produktive Diskussionen inhaltlicher Natur und für die unerlässliche Hilfe beim Einrichten des Textes für den Druck.
Editorische Notiz
In dieses Buch sind verschiedene meiner Texte – teils stark überarbeitet – eingegangen: »›… das sind Fragen, um die der Mathematiker gerne seine ganze Wissenschaft gäbe …‹ – Kant und das Problem des Weltanfangs«, in: Monika Schmitz-Emans – Kurt Röttgers (Hrsg), Anfänge und Übergänge, (Philosophisch-literarische Reflexionen; 5) Essen 2003, S. 69–83. »Von der Kritik zur Metaphysik. Der transzendentalphilosophische Wendepunkt Kants und dessen Wende bei Fichte«, in: Kahnert, Klaus – Mojsisch, Burkhard (Hrsg), Umbrüche. Historische Wendepunkte der Philosophie von der Antike bis zur Neuzeit, Festschrift für Kurt Flasch zu seinem 70. Geburtstag, Amsterdam/Philadelphia 2001, S. 167–187. »Von der Urteilstheorie zur Bewusstseinstheorie. Die Entgrenzung der Transzendentalphilosophie«, in: Fichte-Studien 33 (2009), S. 221–249. »›Das Schweben ist der Quell aller Realität‹. Platner, Fichte, Schlegel, Novalis und die produktive Einbildungskraft«, in: Rolf Ahlers (Hrsg.): System and Context. Early Romantic and Early Idealistic Constellations/System und Kontext. Frühromantische und Frühidealistische Konstellationen, New Athenaeum/Neues Athenaeum, New York/Toronto 7 (2004). S. 349–374. »Transzendentalphilosophie oder absolute Metaphysik? Grundsätzliche Fragen an Fichtes Spätphilosophie«, in: Fichte-Studien, (2007), S. 45–58. »Natur als Objekt – Natur als Subjekt. Der Wandel des Naturbegriffs bei Fichte und Schelling«, in: Günter Abel u.a. (Hrsg), Neuzeitliches Denken. Festschrift für Hans Poser zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 2002, S. 305–321. »Zur Theorie des Dialogs bei Karl Wilhelm Ferdinand Solger.« In: Anne Baillot und Mildred Galland-Szymkowiak (Hrsg), Karl Solger und die Berliner Universität um 1810. Idealistische Forschung und Lehre,Hochschulpolitik und intellektuelle Netzwerke, Berlin 2014, S. 169–180. »›Reflexions-Aberglaube‹. Hegels Kritik an der Transzendentalphilosophie Fichtes«, in: Andreas Arndt u.a. (Hrsg), Hegel-Jahrbuch 2005. Glauben und Wissen, Teil 3., Berlin 2005, S. 228–233. »Der Empirismus und die kritische Philosophie Kants. Zur zweiten ›Stellung des Gedankens zur Objektivität‹ im enzyklopädischen Vorbegriff der spekulativen Logik«, in: Annette Sell (Hrsg), Der ›Vorbegriff‹ aus Hegels ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830)‹, (Interpretationen und Quellen; 2), 2010, S. 144–165. »Das Denken leben. Zur Kraft des Spekulativen bei Hegel«, in: Andreas Arndt u.a. (Hrsg), Hegel-Jahrbuch 2007: Das Leben denken, Bd. 2., Berlin 2007, S. 252–257.
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Editorische Notiz
»›Das Wesen als Reflexion in ihm selbst‹ – Fichte in Hegels Wesenslogik«, in: Matthias Wunsch (Hrsg), Von Hegel zur philosophischen Anthropologie. Gedenkband für Christa Hackenesch, Würzburg 2012, S. 73–85.
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GA FiGe
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GW Werke
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, (Hrsg.) RheinischWestfälische Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff. Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe, (Hrsg.) Moldenhauer, Eva – Michel, Karl Markus. Frankfurt a. M. 1971. Immanuel Kant
AA
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NW
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