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German Pages 152 Year 2010
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Die ‘Werkinterpretationen pädagogischer Klassiker’ richten sich vor allem an Pädagogikstudierende. Durch eine Kombination von Quellentext und texterschließender Interpretation führen sie in klassische pädagogische Originaltexte ein und geben Einstiegs- und Verständnishilfen für eine eigenständige Erschließung von Quellentexten an die Hand. Die Werkinterpretationen widmen sich je nach Eigenart des Quellentextes dem Inhalt und der Absicht des Textes, den Erklärungen leitender Begriffe, der Erörterung des historischen und geistesgeschichtlichen Kontextes, der Herausarbeitung der das Werk leitenden Ideen, gegebenenfalls der Wirkungsgeschichte und der gegenwärtigen lebensweltlichen Bedeutung des Werkes. Herausgegeben von Dieter-Jürgen Löwisch
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Holger Burckhart
Theodor Litt: Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
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Einbandgestaltung: Neil McBeath, Stuttgart.
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2003 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de
ISBN 3-534-15198-4
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Inhalt Theodor Litt: Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt I. Historischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstes Kapitel. Die Sorge um den Menschen . . . . . . . . . . . . Zweites Kapitel. Naturbeherrschung und Naturumgang . . . . . Fünftes Kapitel. Kulturkritik als Hintergrund des Humanitätsideals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siebtes Kapitel. Das Verhältnis von Mensch und Welt bei Goethe II. Systematischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstes Kapitel. Das technische Handeln im Zusammenhang des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweites Kapitel. Die Versachlichung der Welt . . . . . . . . . . . Drittes Kapitel. Die Unangreifbarkeit von mathematischer Naturwissenschaft und Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Viertes Kapitel. Sachbeherrschung und Menschenbildung . . . . Fünftes Kapitel. Mittel-Zweck-Korrelation und Menschenbildung Sechstes Kapitel. Die Antinomie der Menschenbildung . . . . . . Siebtes Kapitel. Doppelleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Achtes Kapitel. Antinomie und Reflexion . . . . . . . . . . . . . Neuntes Kapitel. Die Unverdrängbarkeit des Umgangs . . . . . . Zehntes Kapitel. Umgang und Menschenbildung . . . . . . . . . Elftes Kapitel. Umgang mit Außermenschlichem . . . . . . . . .
9 9 12 19 22 32 32 38 42 48 52 59 66 72 78 83 91
Interpretation Wider den „Simplicissimus des Zeitgeistes“. Der Philosoph und Pädagoge Theodor Litt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Teil A: Pädagogik und Philosophie im Dialog . . . . . . . . . . . . . 104 Unterwegs zum „Apriori der Geisteswissenschaften“ als Grundlage von Philosophie und Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . 104 „Kultur“ als Bindeglied von Philosophie und Pädagogik und als Grundlage einer dialektischen Metaphysik des Geistes . . . . 105
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Inhalt
›Das Allgemeine im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis‹: Der Paradigmenwechsel im Denken Theodor Litts Dialektik als methodisches, prozedurales und inhaltliches Prinzip philosophischer und pädagogischer Reflexion und Praxis . . . . Dialektik als Kennzeichen des Verhältnisses und als zugrunde liegendes Prinzip von Philosophie und Pädagogik . . . . . . . Das Sittliche als immanenter Bewegungsgrund der Überwindung der dialektischen Spannungen: „Das Sein der Erziehung kann nur im Ausblick auf ihr Sollen erfaßt werden“ . . . . . . . . . Statt inhaltliches „Bildungsideal“ unendlicher Progress des SichBildens: Vom Stufenbau des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . Teil B: Bildungsdiskurs. „Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bildungsideal der deutschen Klassik. „Anthropozentrik“ versus „Sachzentrik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgrenzungen. Menschenwelt contra Sachwelt . . . . . . . . Entfremdung von Wirklichkeit. Pädagogische Provinz und Technikfeindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systematischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung im Spannungsfeld von „Sache“, „Prozess“ und „Mensch“ Die Perspektive der Sache (Kapitel 1–4) . . . . . . . . . . . . Menschenbildung versus Weltbildung (Kapitel 5) . . . . . . . Synthesis von „klassischem Humanitätsideal“ und „moderner Arbeits- und Sachwelt“. Bausteine einer Bildung zu dialektisch-reflexiver Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Selbstüberlistung der Humanitätsidee (Kapitel 6–7) . . . Doppelleben, Reflexion und mitmenschlicher Umgang. Die dialektisch-antinomische Verfasstheit des Menschen (Kapitel 8–10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitmenschlicher Umgang. Pädagogische Konsequenzen (Kapitel 11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blicken wir zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ausgewählte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Wichtige Schriften Theodor Litts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
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Theodor Litt: Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt*
* Der teilweise gekürzte Text ist entnommen aus: Theodor Litt. Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt. Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst. 6., verbesserte und erweiterte Auflage. Bonn 1959.
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I. Historischer Teil Erstes Kapitel Die Sorge um den Menschen Bildungsideal und geschichtliche Gesamtbewegung Man pflegt den Fortgang der geschichtlichen Bewegung bisweilen dem Dahinfluten eines Stromes zu vergleichen. Das Bild hat einen guten Sinn, und doch ist es geeignet, einen wesentlichen Zug an dem, was in ihm versinnlicht werden soll, zu verdecken. Ein Strom bewegt sich unter normalen Umständen in seiner ganzen Breite gleichmäßig vorwärts; es gibt da kein Vorauseilen, kein Zurückbleiben. Der „Strom“ der Geschichte zerlegt sich in eine Vielzahl von Teilströmungen, Armen, Rinnsalen, die sich nicht nur in ihrer Färbung, sondern auch und erst recht in dem Tempo ihrer Fortbewegung stark voneinander unterscheiden. Er umfaßt die staatlich-rechtliche, die gesellschaftliche, die wirtschaftliche Entwicklung. Zu ihm gehört die Bewegung der Kunst, der Religion, der Wissenschaft, der Philosophie. Und es ist keine Rede davon, daß es in all diesen Teilsphären des geschichtlichen Lebens gleichmäßig vorwärts ginge. Es gibt da Beschleunigungen und Verzögerungen, die auf bestimmte Sonderbezirke des geschichtlichen Lebens beschränkt sind. Und nicht gering ist die Zahl der Unstimmigkeiten und Reibungen, die sich gerade daraus ergeben, daß die Geschichte als Ganzes der Gleichmäßigkeit des Fortschreitens so sehr ermangelt. Allgemeine Erwägungen dieses Inhaltes sind es, die sich uns aufdrängen, wenn wir die Schicksale ins Auge fassen, die der Idee und der Praxis der „Menschenbildung“ gerade aus dem Grunde beschieden sind, weil die Teilsphäre geistigen Bestrebens, die mit diesem Worte bezeichnet wird, einen Eigenrhythmus entwickeln kann, der sie die Fühlung mit den nachbarlichen Dimensionen der geschichtlichen Bewegung fast völlig verlieren läßt. Ein jedes Kulturvolk erlebt in seiner Entwicklung einmal die große Stunde, da es ihm gelingt, die in ihm lebende Idee von Wesen und Bestimmung des Menschen zu einem durchgeformten Bilde zu verdichten. Es entsteht alsdann dasjenige, was man in der Sprache der pädagogischen Theorie das „Bildungsideal“ nennt. Ist aber einmal in den vereinten Bemühungen erlauchter Geister die Prägung eines solchen Bildungsideals
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I. Historischer Teil
geschehen, dann pflegt es nicht lange zu dauern, bis es jene kanonische Geltung gewinnt, die mit dem Worte „klassisch“ gemeint ist. Und das bedeutet: von Stund an halten alle Überlegungen, die sich auf das Problem der Menschenbildung beziehen, die Richtung ein, die durch den Ausblick auf das besagte Bildungsideal bestimmt ist. An ihm orientieren sich sogar diejenigen, deren bildnerischer Wille sich an dem Gegensatz zu dieser Zielbestimmung entzündet. Wie stark das Beharrungsvermögen des einmal zu kanonischer Geltung aufgestiegenen Bildungsideals ist, das bezeugt sich in der Tatsache, daß es selbst dann die Gemüter zu beherrschen nicht aufhört, wenn tief einschneidende Wandlungen, ja katastrophale Umwälzungen in der staatlich-gesellschaftlichen Sphäre die Bedingungen, unter denen das Geschäft der Menschenbildung zu betreiben ist, in eine völlig veränderte Gestalt überführen. Das „Bildungsideal“ hält die pädagogische Phantasie auch dann noch bei sich fest, wenn von der geschichtlichen Lage, aus deren Schoß es emporgestiegen ist, nur noch unerhebliche Reste vorhanden sind.
Die Humanität Uns Deutschen ist unser neuzeitliches „Bildungsideal“ in jener gesegneten Erntezeit geschenkt worden, deren vielseitige Bestrebungen man unter dem Namen „die deutsche Bewegung“ zusammenfaßt. Es ist geschaffen worden in der Folge von dichterisch-denkerischen Bemühungen, die sich zeitlich vom Auftreten Winckelmanns bis in die letzten Tage Hegels und Goethes erstrecken. Klassische Altertumswissenschaft, Dichtung und Philosophie haben sich die Hände gereicht, um es zu klarer und überzeugender Gestaltung herauszuarbeiten. Es ist das Ideal der „Humanität“, das in diesen vereinten Geistesmühen geboren worden ist. Daß ein Bildungsideal, welches sich so erlauchter Geburtshelfer erfreuen durfte, alsbald den Charakter der „Klassizität“ annahm – wie war es anders möglich! Und so kann es uns nicht verwundern, daß die Grundvorstellungen, die sich in diesem Ideal vereinigten, alle die grundstürzenden Wandlungen überdauerten, die die seitdem verflossenen anderthalb Jahrhunderte über unser Volk gebracht haben – ja, daß auch heute noch, in einer um ihre totale Neugestaltung ringenden Welt, die pädagogische Meinungsbildung sich weithin an den Gedanken meint orientieren zu sollen, in denen die Generation eines W. v. Humboldt ihr bildnerisches Wollen ausgesprochen fand.
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Die Sorge um den Menschen
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Die Divergenz Nun läßt aber der Rückblick auf die anderthalb Jahrhunderte, die uns vom Zeitalter Goethes trennen, uns eben das Phänomen gewahr werden, von dessen Betrachtung wir ausgingen: die Entfremdung, ja Verfeindung von geschichtlichen Bewegungen, die durch das Tempo ihres Fortschreitens empfindlich voneinander abweichen. Vielleicht dürfen wir sogar sagen, daß nur in seltenen Fällen die so entstehende Diskrepanz eine so krasse Gestalt angenommen und so tief eingreifende Folgen gezeitigt hat wie gerade in jenem Verhältnis von Bildungsideal und geschichtlichem Gesamtprozeß, das einen wesentlichen Teil des deutschen Schicksals ausmacht. Es ist, wie mir scheint, nicht immer genügend beachtet worden, daß unser klassisches Bildungsideal kaum in einem ungünstigeren Augenblick hätte ans Licht treten können als in dem Moment, da die gesellschaftliche Welt zu einer ihrer gewaltigsten Umgestaltungen ansetzte. War doch der Umschlag, der damals vor der Tür stand, so geartet, daß er die Bedingungen, die eine sei es auch kurz dauernde Verwirklichung jenes Ideals ermöglicht hatten, binnen kurzem in ihr Gegenteil verkehren sollte. Das Gemeinte zu verdeutlichen, genügt der Blick auf zwei Ereignisse, die gerade in ihrer zeitlichen Nachbarschaft das Auseinanderstreben der Entwicklungstendenzen symbolisch zur Darstellung bringen. 1769 erfindet Watt die Dampfmaschine. 1774 erschüttert Goethe die gebildete Welt durch „Werthers Leiden“. Der Vorbote und Wegbahner der industriellen Gesellschaft – der Fürst der Humanität: innerhalb eines Jahrfünfts erheben beide sich zu Geistestaten, in denen eine werdende Welt sich vernehmlich ankündigt. Aber es ist wahrlich nicht das gleiche, von dessen Annäherung der eine und der andere Zeugnis ablegt. Es sind einander widerstreitende Strebungen und Bewegungen, die in ihnen ihre Ansprüche anmelden. Die Tatsache der hier angedeuteten Divergenz ist natürlich keinem kritischen Betrachter der deutschen Bildungsgeschichte verborgen geblieben. Dagegen ist ihr tiefster Grund meist über oberflächlicheren Phänomenen übersehen worden. Zu dem Kern der Sache führt folgende Überlegung. Zu jedem „Ideal“ gehört ein Wirkliches, über dem es als zu erfüllende Forderung, als anzustrebendes Ziel, als richtungweisende Wertgestalt aufgerichtet ist. In ihm spricht sich ein „Sollen“ aus, das einem „Sein“ gegenübertritt. An welches Wirkliche sich das „Bildungsideal“ wendet, versteht sich von selber: es ist der Mensch, dem es als Norm und Vorbild vor Augen steht. Insofern scheint der Begriff der „Humanität“ nur dasjenige nochmals auszusprechen, was im Begriff des „Bildungsideals“ bereits enthalten ist.
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I. Historischer Teil
Allein wenn wir den Gehalt, der der Idee der „Humanität“ bei unseren Klassikern zuwächst, genauer prüfen, so entdecken wir, daß in ihm noch mehr beschlossen ist. Nicht nur dies will die genannte Idee besagen, daß es dem Menschen überhaupt aufgegeben sei, sich im Hinblick auf eine als Ideal vorschwebende Gestalt zu modeln – eine Aufgabe, deren Bejahung die Hingabe an weitere, als gleich gewichtig anzuerkennende Ziele nicht ausschließen würde –, sondern die Meinung ist die, daß in der Idee der Humanität sich alles das zusammenfasse, was seinem Dasein einen höheren, ja den eigentlich „menschlichen“ Sinn verleihe. Es ist die Bestimmung, ja die einzige Bestimmung des Menschen, sich zum Menschen zu „bilden“. Wird mit dieser Zielbestimmung Ernst gemacht, so liegt in ihr als Konsequenz enthalten, daß alle Inhaltlichkeit des geistig-geschichtlichen Lebens, alles, was dies Leben an Erfahrungen und Forderungen an den Menschen heranträgt, letztlich unter dem Gesichtspunkt zu bewerten sei, was es zu seiner Menschwerdung beitrage – daß folglich der Mensch, wo und wann immer er mit dieser Inhaltlichkeit in Berührung komme, sein Verhältnis zu ihr auf Grund der Überlegung zu regulieren habe, was sein Menschsein sich von dem Umgang mit ihr versprechen dürfe. Das ist der „anthropozentrische“ Zug, der der durchgebildeten Humanitätsidee ihr charakteristisches Gepräge verleiht. In letzter Zuspitzung tritt er uns überall da entgegen, wo die Gesamtheit der Kulturgehalte sich geradezu zu „Mitteln“ für den „Zweck“ der Menschwerdung muß herabsetzen lassen. Hier ist nun wirklich der Mensch zum „Maß aller Dinge“ geworden.
Zweites Kapitel Naturbeherrschung und Naturumgang Naturwissenschaft und Technik Man muß die Humanitätsidee in dieser extremen, dieser durch W. v. Humboldt gelehrten und gelebten Gestalt ins Auge fassen, um die Größe der Abweichung zu ermessen, durch die die zweite der oben unterschiedenen geschichtlichen Bewegungen sich von der durch das Humanitätsideal vorgezeichneten Richtung entfernt. Ist diese durch die ausschließliche Zuwendung zum „Menschen“ gekennzeichnet, so hat jene ihre mit gleicher Ausschließlichkeit kanonisierte Leitkraft an der „Sache“1. 1 Zu Kapitel 2–4: Th. Litt, Naturwissenschaft und Menschenbildung, Heidelberg 1959. Sachbemeisterung und Selbstbesinnung in: „Studium generale“, VI (1953) S. 553ff. Technisches Denken und menschliche Bildung, Heidelberg 1957.
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Naturbeherrschung und Naturumgang
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Wir müssen, um diesen Satz recht zu verstehen, auf die geistigen Ursprünge der Entwicklungslinie zurückgehen, die wir uns durch die Erfindung Watts repräsentieren ließen. Die Technik, in deren Aufstieg die genannte Erfindung eine der wesentlichsten Etappen bezeichnet, ist bekanntlich mit der neuzeitlichen, der mathematischen Naturwissenschaft durch das Verhältnis der denkbar engsten Solidarität verbunden. Beide wachsen miteinander und durcheinander. Diese Wissenschaft aber bedeutet in ihrer methodischen Vollendung den reinsten Sieg, den die „Sache“ auf dem Boden der Theorie erringen kann. Was damit gemeint ist, leuchtet ein, wenn wir das Gefüge mathematisch-quantitativer Relationen, zu dem sich die Natur in dieser Wissenschaft entleert und formalisiert, zusammenhalten mit jenem in Qualitätenreichtum und unausdenkbarer Bedeutungsfülle sich ausbreitenden Ganzen, als welches dieselbe Natur das ihr sich öffnende menschliche Gemüt anspricht. Der Mensch muß recht eigentlich seiner selbst und des ihn persönlich mit der Welt Verbindenden vergessen, um, zum abstrakten Subjekt des reinen Denkens entselbstet, die begegnende Wirklichkeit in ein Netz ebenso abstrakter Beziehungen verwandeln zu können. Nun ist dies Hervortreten der „Sache“ zwar, wie wir sehen werden, durchaus nicht eine Vergewaltigung des menschlichen Geistes, bewirkt durch Einbruch eines ihm Äußerlichen und Fremden. Im Gegenteil: das Herausarbeiten dieser „Sache“ gehört zu den größten und bewundernswertesten Taten des Menschengeistes. Allein das ändert nichts an der Tatsache, daß, ist erst einmal das Prinzip dieser Forschung entdeckt und der Weg dieser Forschung betreten, der Fortgang der denkenden Bemühungen sich nicht nach dem freien Ermessen und den spontanen Antrieben der an ihr beteiligten Personen, sondern nach der unausweichlichen Logik der Sache bestimmt, mit der sich der denkende Geist nun einmal eingelassen hat. Es geht am Leitfaden dieser Logik weiter von Entdeckung zu Entdeckung kraft einer inneren Notwendigkeit, die den einzelnen Denker zum Vollstrecker eines durch ihn hindurchlaufenden Gesamtprozesses macht – eines Prozesses, der bei oberflächlicher Betrachtung sich von einem unablenkbaren Naturvorgang kaum zu unterscheiden scheint. Wie sehr hier die „Sache“ die Linie des Fortgangs bestimmt, lehrt die Überlegung, daß, hätte der Tod einen der diesen Fortgang Exekutierenden vor seiner Entdeckertat dahingerafft, ohne Zweifel ein anderer früher oder später den faktisch ihm gutzuschreibenden Fund eingebracht haben würde. Es gibt hier – im Unterschiede etwa von der völlig anders gebauten Bewegung der Kunst – keine unvertretbare Leistung. Es ist, als hole sich die „Sache“ selbst ihre Vollstreckungsorgane je nach Bedarf heran. Läßt uns die Entwicklung der Naturwissenschaft die Herrschaft der Sache auf dem Boden der Theorie studieren, so wiederholt die Technik
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dasselbe Schauspiel auf dem Boden der Praxis. Geht es dort kraft einer unausweichlichen Sachlogik weiter von Entdeckung zu Entdeckung, so geht es hier mit der gleichen Notwendigkeit von Erfindung zu Erfindung. Und auch hier ist der einzelne Mensch nicht mehr als der Exekutor einer Leistung, die, wäre er selbst aus irgendeinem Grunde ausgefallen, ein anderer an seiner Stelle ebensogut vollbracht haben würde. Die einzelne Erfindung ist das Sprungbrett, von dem aus die nächste Stufe erschwungen werden kann und soll. Wer faktisch den Sprung tut, ist von der Sache aus gesehen gleichgültig. Wollen wir das Bewegungsgesetz, das demgemäß der technischen Praxis nicht weniger als der naturwissenschaftlichen Theorie ihren Weg vorzeichnet, mit einem Kunstausdruck benennen, so bietet sich das Wort „Fortschritt“ dar. In der Tat: diese Bewegung schreitet mit der unablenkbaren Stetigkeit fort, die ein uns heute schwer verständlicher Vernunftoptimismus der menschlichen Kultur als Ganzem glaubt nachrühmen zu dürfen. Schon das bis hierher Erwogene läßt uns ahnen, wie schlecht sich das in dieser Sphäre herrschende Bewegungsgesetz mit den Prinzipien einer „humanen“ Pädagogik verträgt. Wie könnte eine Bildungslehre, die den Wertmaßstab, an dem alle Inhaltlichkeit des Kulturlebens zu messen sei, im Menschen, und nur in ihm, glaubt suchen zu sollen, sich mit einer geistigen Bewegung befreunden, die den Menschen so unerbittlich an das Diktat einer „sachlichen“, einer gegen den Menschen als solchen so gleichgültigen Instanz bindet! Und doch haben wir mit dem Erörterten noch gar nicht den Punkt erreicht, an dem die „Unmenschlichkeit“ der genannten Bewegung in ihrer ganzen Schärfe hervortritt.
Der Umgang mit der Natur Solange wir nur auf den naturwissenschaftlich forschenden und technisch erfindenden Geist hinblicken, haben wir es mit dem Menschen zu tun, der zwar in seinem geistigen Verhalten der Forderung einer ihm nicht nachgebenden Sache gehorcht, der aber andererseits dieser Sache nicht wie einem undurchsichtigen Fatum ausgeliefert ist, sondern ihr Gefüge kraft selbsterworbener Einsicht durchschaut und, weil solcher Mitwisserschaft gewürdigt, sich noch im Besitz seines personalen Seins fühlen darf. Er wird nicht blind von Station zu Station fortgezogen, sondern bewegt sich sehenden Blicks vom einen zum anderen. Er steht insoweit doch noch über der Sache, die ihn für sich fordert. Allein von dieser relativ günstigen Lage her geht es weiter in solche Lebensverflechtungen hinein, in denen gleichfalls die Sache regiert, aber nun nicht mehr als einsichtig erfaßter
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Naturbeherrschung und Naturumgang
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logischer Zusammenhang, sondern als einsichtslos hinzunehmende Gängelung des menschlichen Tuns. Wodurch wird diese Wendung möglich? In dem Verhältnis von Naturwissenschaft und Technik haben wir eine spezifische Ausgestaltung jenes Grundverhältnisses vor uns, das wir als dasjenige von „Theorie“ und „Praxis“ bezeichnen. Uns Söhnen eines Zeitalters, das sich selbst dasjenige der Technik nennt, ist diese Sonderform so geläufig, ja selbstverständlich geworden, daß wir der Vorstellung zuneigen, es gäbe für den Menschen, der sich mit der ihm begegnenden „Natur“ in ein Verhältnis setzen will – und das muß er schon aus Gründen der Selbsterhaltung –, überhaupt keine andere Weise der Auseinandersetzung als diejenige, die in dem Gefüge Naturwissenschaft–Technik in vorbildlicher Klarheit hervortritt. Wo und wann immer der Mensch sich mit den Stoffen und Kräften der „Natur“ abgebe, da verfahre er – so meint man – nach der Weise des Subjekts, das das ihm begegnende Wirkliche zunächst „theoretisch“ erforscht und dann die Ergebnisse seines Forschens „praktisch“, d. i. technisch, „anwendet“. Sollte diese Vorstellung begründet sein, so gäbe es zwischen dem Verhalten des prähistorischen Menschen, der mit einem Faustkeil seine Schlagkraft steigert, und dem Verhalten des modernen Menschen, der durch Einsatz der Atomkraft ungeheure Apparaturen bewegt, keinen grundsätzlichen Unterschied. Hier wie dort würde „theoretisch“ Erkanntes „praktisch“ verwertet. Es dürfte dann wirklich heißen: „Die Technik ist so alt wie der Mensch.“ Ich glaube, daß mit dieser Angleichung dem Menschen von heute die Möglichkeit genommen würde, sich von Wesen und Tragweite des Schicksals Rechenschaft zu geben, das erst mit dem Aufgang der mathematischen Naturwissenschaft über ihn gekommen ist. Denn durch diese Angleichung wird die radikale Umstrukturierung verschleiert, die dem Verhältnis von Mensch und Natur in dem Augenblick widerfuhr, da der denkende Geist darauf verfiel, das Spiel der natürlichen Kräfte auf ein System mathematischer Relationen zurückzuführen. Die „Sache“, zu der die Natur sich mit dieser Wendung formalisierte, war etwas anderes als die „Natur“, an der das Schauen und Schaffen des Menschen bis dahin sein Gegenglied gehabt hatte. Und die Bemühung um diese Sache war etwas anderes als die Auseinandersetzung mit jener Natur, die dem Menschen bis dahin als Partner gesellt war. Und zwar war es gerade das Verhältnis von „Theorie“ und „Praxis“, an dem sich der Unterschied der vortechnischen und der naturwissenschaftlich-technischen Naturbegegnung am schärfsten ausprägte. Die Eigenart jener ersteren ist dadurch gekennzeichnet, daß sie von der Sonderung und Verselbständigung der als „Theorie“ und „Praxis“ unterschiedenen Haltungen und Leistungen nichts weiß. Ihr Wesen können wir
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nur aussprechen, indem wir diese uns so selbstverständliche Sonderung verneinen. Die „Theorie“ des vortechnischen Menschen bildet sich in und mit der „Praxis“, als Moment an der „Praxis“; seine „Praxis“ ist die sich in die Handlung hinein verlängernde „Theorie“. Es gibt keine Theorie, an die sich die Praxis als erst hinterherkommende „Anwendung“ anschlösse; es gibt keine Praxis, der die Theorie als in sich abgeschlossene „Grundlegung“ vorgeschaltet wäre. Beides wächst ineinander und durcheinander. Ich wüßte, diese in einem theoretische und praktische Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur zu bezeichnen, keinen besseren Ausdruck als das Wort „Umgang“. Mit diesem Wort ist jene Weise der Verbundenheit bezeichnet, deren Innigkeit der Mensch am eindrucksvollsten in einer bestimmten Dimension seines Lebens und Erlebens erfährt: in der Begegnung mit seinesgleichen. Wer würde es sich einfallen lassen, dasjenige, was den Inhalt dieses Umgangs ausmacht, in ein die Praxis vorgängig begründendes theoretisches Wissen und ein die Theorie hinterher anwendendes praktisches Sichverhalten zu zerlegen! Ist es doch offenkundig, daß hier jede dem Gegenüber näherkommende Einsicht nur erwachsen kann aus den lebendigen Eindrücken, die das Mit- und Füreinandersein den Partnern beschert. Und dieses Mit- und Füreinandersein ist nicht bloß wechselseitige Kenntnisnahme: es ist der Austausch von Wirkungen und Gegenwirkungen, in dessen spannungsreichen Abwandlungen sich das Verhältnis vom Ich und Du erst profiliert. Die Reziprozität dieses Füreinanderseins ist recht eigentlich das Widerspiel zu jener distanzierenden Sonderung, die stattfinden muß, damit das „Subjekt“ ein „Objekt“ zu Gesicht bekomme, das zunächst „theoretisch“ zu bestimmen und dann, nach Maßgabe dieser Bestimmung „praktisch“ zu bearbeiten wäre. Wie sehr aber die durch diesen Austausch gespendeten Erfahrungen als „lebendige Eindrücke“ charakterisiert zu werden verdienen, dafür spricht vor allem die Eindringlichkeit, mit der die sinnliche Erscheinung der Partner bei dem Zustandekommen dieser Eindrücke mitredet. Das mir begegnende Du stände mir nicht als das Individuum vor Augen, das ich in ihm zu erkennen glaube, wenn es nicht in dieser bestimmten unverwechselbaren Gestalt an meine Sinne appellierte. Diese Gestalt ist wahrlich nicht, wie eine fehlgehende Auslegung uns einreden möchte, ein bloßes „Äußeres“, das das Eigentliche und Wesentliche „hinter“ sich hätte. Sie wirkt auf mich nicht lediglich als Aggregat rein sinnlicher Daten, sondern als „Ausdruck“ eines Mehr-als-Sinnlichen, das in ihm durchscheint. Sie ist mit „Bedeutung“ geladen und „spricht“ mich deshalb auch dann „an“, wenn ihr Träger nicht das Wort an mich richtet. Indem sie sich dergestalt sowohl an mein sinnliches Auffassungsvermögen als auch an mein unsinnliches Deutungsvermögen wendet, gibt sie zu erkennen, daß ich durch den Umgang
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Naturbeherrschung und Naturumgang
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nicht bloß als denkender Intellekt, sondern in der Totalität meines sinnlich-unsinnlichen Wesens in Anspruch genommen werde. Ich muß als ganzer Mensch ins Spiel treten, wenn mir in dem Eindruck, den ich von meinem Gegenüber empfange, ein ebensolcher ganzer Mensch begegnen soll. In der Sprache der herkömmlichen Psychologie gesprochen: in der verstehenden und deutenden Aufnahme des vom Mitmenschen herkommenden Eindrucks ist nicht weniger mein „Fühlen“ am Werke als mein „Denken“. So weit der „Umgang“ mit meinesgleichen. Aber geht es denn an, den so gewonnenen Begriff des „Umgangs“ auf das Verhältnis des Menschen zur außermenschlichen Natur zu übertragen? Hier habe ich es doch nicht mit dem „Du“, mit dem prinzipiell gleichgestellten Mitwesen, sondern mit einer Wirklichkeit zu tun, die, weil der personalen Zentrierung entbehrend, mir nicht als ebenbürtiger Partner die Stirne bieten kann! Und doch kann uns nur die Analyse jener vollkommensten Form des Umgangs, die uns die Begegnung mit unseresgleichen beschert, die Augen für jenes Verhältnis zur außermenschlichen Natur öffnen, das der Menschheit in eben dem Maße aus dem Blickfeld zu entschwinden droht, wie sie sich die Natur nur noch als „Objekt“ wissenschaftlicher Erforschung und technischer Bearbeitung zu sichten gewöhnt. Daß der Mensch auch mit dem Außermenschlichen „Umgang“ pflegen kann, das uns zu vergegenwärtigen müssen wir schon auf Gestalten wie den Bauer oder den Handwerker hinblicken, die auch heute noch, obschon dem Geist technischer Rationalisierung in erheblichem Maße verfallen, etwas von der Unmittelbarkeit des Umgangs mit der außermenschlichen Natur am Leben zu erhalten vermocht haben. In dem Verkehr, den sie mit dem Gegenstand ihrer Arbeit unterhalten, können wir in Andeutungen die Charaktere wiederfinden, die in vortechnischen Zeiten dem Verhältnis von Mensch und Natur sein Gepräge gaben. Wodurch der Umgang mit der äußeren Natur sich dem Umgang mit dem Mitmenschen vergleicht, das ist zunächst die Einheit von „Theorie“ und „Praxis“, die sich auch in ihm verwirklicht. Der Mensch vergewissert sich der Beschaffenheit der ihm begegnenden Dinge und Vorgänge nicht durch abstandhaltende Betrachtung, sondern indem er es mit ihnen aufnimmt, indem er mit ihnen handgemein wird, indem er sie „ausprobiert“. Er macht sich mit ihnen dadurch vertraut, daß er mit ihnen hantiert. Die Eindrücke, die er in dieser Auseinandersetzung empfängt, sind zunächst und vor allem solche, die mit den Sinnen erfaßt sein wollen. Stein, Holz, Metall, Leder, Wolle, Flachs und erst recht der Erdboden und seine Erzeugnisse – sie alle verraten ihr Geheimnis nur dem prüfenden Blick, der tastenden Hand, ja, auch dem Spürsinn des Gehörs, des Geruchs, des Geschmacks. Aber was sie dem mit ihnen Befaßten zu sagen haben, das erschöpft sich nicht in puren Sinnesqualitäten. Auch hier präsentiert sich das
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den Sinnen Begegnende als mit Bedeutung erfüllt, es gewinnt für den ihm beharrlich Zusetzenden eine „Physiognomie“, es „spricht“ ihn „an“. Es ist eine recht eigentlich „personale“ Verbundenheit, durch die der Mensch sich an den Gegenstand seines Bemühens attachiert. Es schlingt sich das Band der „Sympathie“ zwischen ihm und seinem Gegenüber. Daß hier sowohl die sinnliche Empfänglichkeit als auch die unsinnliche Witterung angesprochen werden, das bedeutet hinwiederum: es ist die ganze Person als leiblich-seelische Einheit, nicht eine vereinzelte und vereinzelnde Sonderfunktion, die ins Spiel treten muß, damit der „Umgang“ die ihm zu entnehmenden Aufschlüsse hergebe. Dieselbe gleichsam „organische“ Verbundenheit, die sich im Umgang mit den Gegenständen der Bemühung realisiert, kennzeichnet auch das Verhältnis des Menschen sowohl zu den Werkzeugen, durch deren Einsatz er den Umgang vervollkommnet, als auch zu den natürlichen Kräften, die er sich zu Bundesgenossen zu gewinnen weiß. Das Werkzeug, das er sich bereitet, wird verstanden und gehandhabt nicht als äußeres „Ding“, das er als Hilfsmittel der Fertigung heranholt, sondern als Verlängerung und Verstärkung des Organs, durch welches es regiert und erprobt wird. Mensch und Werkzeug wachsen zu einem der Aktion zudrängenden Organismus zusammen. Die natürliche Kraft, mit der der Mensch sich verbündet – sei es nun das Wasser, das Feuer, der Wind –, wird nach Wesen und Wirkungsweise durch dieselbe Hellsichtigkeit leiblich-seelischen Innewerdens erkundet, die auch den Stoff der Arbeit aufschließt, und gemäß den Anweisungen dieses dem Instinkt verwandten Spürsinns bald losgelassen, bald gezügelt, bald stillgelegt. Kurzum: der Mensch, der von der Natur gereichte Stoff und die durch die Natur gelieferte Kraft schließen sich zu einer Lebens- und Wirkenseinheit zusammen, die sich nur dadurch angemessen charakterisieren läßt, daß alle uns Späteren geläufige Aufteilungen und Sonderungen verneint werden. Es liegt auf der Hand, daß und weshalb eine „Praxis“, die so innig in den Lebensvollzug eingebettet und aus dem Lebensvollzug beseelt ist, die kraft dieser Verwurzelung jede Ablösung von der „Theorie“ ausschließt, dem um die „humane“ Bestimmung des Menschen sich Sorgenden zumindest sehr viel weniger Bedenken einflößt als diejenige, durch die sie abgelöst worden ist. Der „Umgang“ stiftet zwischen dem Menschen und seinem Gegenüber eine Beziehung, die, wie sie auch im einzelnen geartet sei, ihm keinesfalls zumutet, sich zu einer Vielheit gesonderter Einzelfunktionen aufzufächern, und die ihn daher auch nicht der Gefahr aussetzt, durch dieses Gegenüber in seinem personalen Sein überwältigt, erdrückt, ausgelöscht zu werden. Sie läßt wie den Partner in ihm so ihn in dem Partner zu seinem Rechte kommen. Er kann in dem Werk, das er im Einsatz seines totalen Menschentums aus dem naturgegebenen Stoff hervorwachsen
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sieht, sich selbst, d. i. seine Sachkenntnis, Geschicklichkeit, Erfindsamkeit, wiederfinden. Er wird durch das Geschaffene in dem, was er selbst ist, nicht verleugnet oder verdrängt, sondern bestätigt. […]
Fünftes Kapitel Kulturkritik als Hintergrund des Humanitätsideals Auflehnung wider den Zeitgeist Wir haben den Strang der geschichtlichen Gesamtentwicklung, der der „Sache“ zu einem unaufhaltsam sich steigernden Übergewicht über den Menschen verholfen hat, so dargestellt, wie er sich uns, den heute Lebenden, im Rückblick auf die drei Jahrhunderte darstellt, die seit dem Hervortreten der mathematischen Naturwissenschaft verflossen sind. Es ist, für uns nicht schwer, die Grundmotive dieser Bewegung aufzudecken, weil wir das Ganze der Entwicklung überschauen, in der sie das schon in ihren Anfängen Angelegte mit unablenkbarer Folgerichtigkeit und rapide zunehmender Geschwindigkeit zu allseitiger Entfaltung gebracht hat und mit jedem neuen Tage zu bringen fortfährt. Es macht uns deshalb auch keine Mühe, jene Richtungsabweichung, kraft deren sich der staatlichgesellschaftliche Prozeß von der durch das klassische Bildungsideal angezeigten Wegweisung fortbewegt, schon in der Physiognomie einer Epoche zu gewahren, welche – es sei an das Geburtsjahr von Watts Erfindung erinnert – die der Versachlichung zudrängenden Gewalten nur in den ersten schüchternen Andeutungen sichtbar werden ließ. Wir würden uns, da dem so ist, nicht wundern, wenn, im Unterschiede von uns, die noch jener Epoche angehörenden Verkünder der Humanitätsidee gar nicht bemerkt hätten, daß sie ein normatives Menschenbild aufrichteten, dem eine erst im Anlaufen begriffene gesellschaftlich-wirtschaftliche Bewegung immer mehr die Bedingungen der Verwirklichung entziehen sollte. Wir hätten in ihnen alsdann die Opfer einer zwar den Geist beschwingenden, aber die Realität verschleiernden Täuschung zu erblicken. Allein wenn wir uns den literarischen Selbstbezeugungen der Humanitätsbewegung zuwenden, dann finden wir diese Erwartung durchaus nicht bestätigt. Wir sind im Gegenteil überrascht, wenn wir feststellen, mit welcher Klarheit schon die Wegbereiter dieser Bewegung den Gegensatz bemerkt und ausgesprochen haben, den wir erst im nachklassischen Zeitalter deutlich meinen hervortreten zu sehen. Überraschend ist uns diese Entdeckung deshalb, weil, wenn wir unsere allgemeine Lebenslage mit der-
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jenigen vergleichen, aus welcher der Geistesfrühling unserer Klassik hervorbrach, es uns scheinen möchte, als habe jenes Zeitalter der Verwirklichung der „Humanität“ ebensoviel an Vergünstigungen zuteil werden lassen, wie das unsrige ihr an Hindernissen in den Weg legt. Müssen wir nicht die Zeitgenossen eines Goethe gerade deshalb beneiden, weil sie noch nicht in den Panzer einer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung eingeschnürt waren, in der dem Drang nach menschlicher Selbstvollendung der Atem ausgehen mußte? Um so mehr befremdet es uns, daß auch sie, die anscheinend so Bevorzugten, sich in eine geschichtliche Umwelt verschlagen glaubten, deren herrschenden Gewalten die Verwirklichung ihres Menschheitsideals abgekämpft werden müsse. Und wenn wir uns dann nach den Gründen umschauen, mit denen sich diese Frontstellung wider den Geist der Epoche rechtfertigt, dann widerfährt es uns, daß wir Klagen und Anklagen zu hören bekommen, die uns in die Ohren klingen, als seien sie durch die seelischen Bedrängnisse unserer Tage, durch die Widrigkeiten unserer gesellschaftlichen Einzwängung ausgepreßt. Wie sollen wir es verstehen, daß die führenden Geister der Klassik, sie, die uns gleich seligen Göttersöhnen vor Augen stehen, bereits den Druck von Lebensverhältnissen verspürten, in denen wir eine den Hinterherkommenden aufgesparte Heimsuchung meinen erblicken zu sollen?
Zerteilung und Totalität Daß die Apostel der Humanität dergestalt mit ihrem Zeitalter auf dem Kriegsfuß standen, dem ist um so mehr Gewicht beizulegen, als ihr Ideal überhaupt erst in der Auseinandersetzung mit ihm seine Gestalt gewonnen hat. Die Zustände dieses Zeitalters waren nicht bloß der dunkle Hintergrund, von dem sich das Bild wohlgearteten Menschentums in leuchtender Klarheit abheben sollte. Wesentliche Züge dieses Bildes sind geradezu als Verneinung der zu überwindenden Gebrechen der Epoche konzipiert und formuliert. Die Verkünder der Humanitätsidee stehen, so betrachtet, insgesamt in der Nachfolge des beredtesten unter den Anklägern ihres Jahrhunderts: in der Nachfolge Rousseaus. Wie seine ganze Erziehungsprogrammatik geboren ist aus dem Abscheu vor einem Kulturzustande, der den Menschen gerade in dem, was ihn zum Menschen macht, zur Verkümmerung verurteilt, so ist auch die Idee der „Humanität“ gedacht als das einzige Heilmittel, das einer von der Gefahr des radikalen Selbstverlustes bedrohten Menschheit zur Rettung ihres Eigentlichen und Wesentlichen verhelfen könne. Von dem Evangelium der Humanität ist nicht abzutrennen die Kritik der modernen Kultur. In ihr hat das sie beseelende missionarische Pathos seine Wurzel.
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Welches aber sind die Züge im Antlitz der Epoche, durch die sich der Anwalt der Humanität zum Widerspruch gereizt fühlt? Ihr Fluch ist die Zerrissenheit, verschuldet durch die künstliche Trennung von Funktionen, die nur vereint zum Heile wirken können. Der die Folgen dieser Sonderung zu tragen hat, das ist, wie selbstverständlich, der Mensch. Für eine der ausgesonderten Tätigkeiten ganz und gar mit Beschlag belegt, wird er selbst zu einem gewaltsam vereinseitigten, mit den nicht beanspruchten Teilen seines Wesens verkümmernden Geschöpf. Er wird Bruchstück dessen, was er sein sollte. Der Widerspruch wider diese Verstümmelung der menschlichen Natur bildet sich zur positiven Forderung um in jenem Begriff, der recht eigentlich das Herz der Humanitätsidee ausmacht: im Begriff der „Totalität“. Es ist die Sehnsucht nach dem ganzen Menschen, dem Vollmenschen, die sich gerade an dem Anblick von so viel fragmentarischem Menschentum zur Leidenschaft entzündet. Und die schier abgöttische Verehrung, mit der die Humanitätsbewegung auf die Gestalten und Begebenheiten von Hellas hinblickte, hatte ihren Grund vor allem in der Überzeugung, daß es dem griechischen Menschen, ihm allein, gelungen sei, das Wesen des Menschen überhaupt zu der Allseitigkeit zu runden, die anderwärts und zumal in der modernen Welt vergebens gesucht werde. Wenn wir diesen Lobpreis des unverstümmelten, des zur Ganzheit entfalteten Menschen lesen, dann wundern wir uns nicht, daß die pädagogische Gedankenbewegung der Gegenwart so oft und gerne auf die Formeln der Humanitätsbewegung zurückgreift. Denn alles das, was schon die Generation eines W. v. Humboldt an Verkürzungen des Menschentums meinte beklagen zu sollen, ist doch ein Kinderspiel, verglichen mit dem Zwang zur radikalen Vereinseitigung, dem der Mensch durch den fortschreitenden Siegeszug der sich zur Herrin aufschwingenden „Sache“ unterworfen worden ist. Ein „ganzer“ Mensch sein zu dürfen – dies eben ist doch das in der Tiefe bohrende Verlangen desjenigen, dem die sein Zeitalter beherrschende Arbeitsordnung zumutet, in einer vom Ganzen abgespaltenen Teilverrichtung von beschämender Geringfügigkeit seinen Lebensinhalt zu finden.
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Gestalten der Kulturkritik […]
Siebtes Kapitel Das Verhältnis von Mensch und Welt bei Goethe Goethe und die moderne Arbeitswelt Eine besondere und besonders beachtliche Abwandlung der von den Befragten behandelten Daseinsproblematik haben wir in der Gedankenwelt desjenigen vor uns, den wir bisher absichtlich im Hintergrund gehalten haben: in der Gedankenwelt Goethes. Was er zu diesem Thema zu sagen hat, das hat schon aus dem Grunde besonderes Gewicht, weil er im Unterschiede von der Mehrzahl der vor ihm abberufenen Klassiker lange genug gelebt hat, um die den Humanitätsaposteln anstößige Funktionalisierung des Menschen auch über das technisch-ökonomische Gebiet sich ausbreiten zu sehen. Das aufkommende „Maschinenwesen“ hat ihm schwere Beklemmungen bereitet. Die „Wanderjahre“ sind der dichterische Ausdruck für die Lebensstimmung eines Geschlechts, das in eine Epoche tief einschneidender gesellschaftlicher Umgestaltungen eingetreten zu sein gewiß ist2. So werden wir durch das Werk des alternden Goethe wesentlich näher an jene Verwicklungen herangeführt, deren letzte Gründe aufzudecken unsere oben vorgetragene Darlegung bestimmt war. Ja, wir finden diese Verwicklungen bis in ihr Herz hinein mit einer Klarheit bloßgelegt, die an den ahnenden Spürsinn eines prophetischen Geistes gemahnt. Weil Goethe vor den hier sich anbahnenden Entwicklungen nicht die Augen verschlossen hat, darum hat er auch – so lautet die herkömmliche Darstellung – das Evangelium der Humanität, als deren unübertroffene Verkörperung er den bewundernden Zeitgenossen gegolten hatte, so abgewandelt, wie die Rücksicht auf die sich umlagernden Zeitumstände es forderte. Die Pädagogik seiner Altersjahre ist, so meint man, die Brücke zwischen dem zu Ende gehenden Zeitalter der klassisch-bürgerlichen Kultur und der aufsteigenden Welt der industriellen Gesellschaft. Es ist vor allem die den „Wanderjahren“ eingefügte Utopie der „pädagogischen Provinz“, in der man das Dokument dieser Versöhnung mit dem Geist einer neuen Zeit meint erblicken zu sollen3. Und zwar sind es besonders zwei Grundzüge in dem Gemälde dieses pädagogischen Gemeinwesens, in denen man den Hinweis auf eine veränderte Grundhaltung finden will. 2 3
W. Flitner, Goethe im Spätwerk, Bremen 1957. Th. Litt, Die Geschichte und das Übergeschichtliche, Hamburg 1949, S. 20ff.
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Zum ersten: das der ursprünglichen Humanitätsbewegung selbstverständliche Postulat der „allgemeinen Bildung“ („Universalität“!) wird nicht nur aufgegeben, sondern nachdrücklich verneint. „Narrenpossen sind eure allgemeine Bildung.“ „Ja, es ist jetzo die Zeit der Einseitigkeiten.“ „Eines recht wissen und ausüben gibt höhere Bildung als Halbheit im Hundertfältigen.“ Zum zweiten: zu den Vermögen, die im Interesse der Bildung mit bewußter Einseitigkeit zu entwickeln die Weisheit der pädagogischen Provinz gebietet, zählen auch und gerade diejenigen Fertigkeiten, die der Mensch im Sichmessen mit den Stoffen und Kräften der „Natur“ erwirbt. Die Hand wird als Organ der Menschwerdung anerkannt, ja gepriesen. Humanität tritt aus den Bezirken des „reinen“ Geistes, der „Innerlichkeit“ heraus – wie stark die Neigung war, sie innerhalb ihrer festzuhalten, wird sich noch zeigen – und bezieht die „äußere“ Welt in ihre Kreise ein. Mit dem einen wie mit dem anderen aber hat doch wohl der alternde Goethe – dies die so manchen Pädagogen beherrschende Vorstellung – die Vorbehalte fallenlassen, mit denen bis dahin die Humanitätsbewegung der arbeitsteiligen Lebensordnung der modernen Welt gegenübergestanden hatte. Er hat der Spezialisierung, und zwar auch der Spezialisierung der manuell zu vollziehenden Produktion, den pädagogischen Segen erteilt. Es hätte für den Freund der Humanität etwas ungemein Beruhigendes, wenn er sich sagen dürfte, daß die Arbeitsordnung, die den modernen Menschen so sehr um sein Menschentum bangen läßt, durch den glaubwürdigsten Vorkämpfer unverkümmerter Menschlichkeit von dem Verdacht der Un-menschlichkeit losgesprochen sei. Soll, darf er sich von ihm überreden lassen, seine Besorgnisse als Ausfluß einer unbegründeten Hypochondrie zu verabschieden? So verlockend die hier winkende Beschwichtigung sein mag, sowenig dürfen wir uns verführen lassen, uns ein Beruhigungsmittel zu verschreiben, das – eine vollkommene Fehlinterpretation Goethes zur Voraussetzung haben würde. Es lohnt sich, zuzusehen, warum die angeführte Pädagogenmeinung in die Irre geht. Wir werden für die Klärung unseres Problems Wesentliches gewinnen, wenn wir das Mißverständnis aufklären, das ihr zugrunde liegt – wenn wir uns Rechenschaft geben, warum ein Geist nach Art des goetheschen sich selbst hätte aufgeben müssen, um mit der Arbeitsordnung der industriellen Gesellschaft einen vorbehaltlosen Frieden schließen zu können.
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Sinnesorgan und Apparat Um die Undenkbarkeit dieser Versöhnung zu erkennen, genügt die Erinnerung, wie unzertrennlich das Bündnis ist, das die industrielle Produktionsform mit der Technik und diese hinwiederum mit der mathematischen Naturwissenschaft zusammenhält. Wer zu der industriellen Produktionsordnung ja sagt, der billigt auch Technik und mathematische Naturwissenschaft. Wer umgekehrt die mathematische Naturwissenschaft verneint, der verwirft auch Technik und industrielle Produktionsordnung. Es gibt keinen Denker, an dem man die letztgenannte Verknüpfung besser studieren kann als an Goethe. Wie sehr gibt es schon zu denken, daß dieselben „Wanderjahre“, die von dem Übel, welches mit dem Maschinenwesen „sich in die Menschheit eingeschlichen habe“, so beweglich zu reden wissen, im gleichen Zusammenhang noch eine weitere Störung beklagen – die Störung nämlich, die in das Verhältnis von Mensch und Natur dadurch hineingekommen sei, daß das theoretisch die Natur erforschende Subjekt dazu übergegangen sei, die ihm vom Ursprung her mitgegebenen Sinnesorgane durch vorgeschaltete Apparaturen zu Leistungen emporzusteigern, die in der natürlichen Beschaffenheit dieser Organe gar nicht vorgesehen waren. Teleskop und Mikroskop, der exakten Naturwissenschaft einerseits durch ihre Herkunft verpflichtet, andererseits durch ihre Dienste unentbehrlich, werden von Goethe deshalb abgelehnt, weil durch ihre Zwischenschaltung die Proportion zerstört wird, die von Rechts wegen zwischen dem der Natur sich zuwendenden Menschen und der ihm sich öffnenden Natur obwalten sollte. Diese Proportion ist in der beide umfassenden Allnatur vorgezeichnet; sie wird durch ein flagrantes Mißverhältnis ersetzt, wenn der Mensch die Leistungskraft seiner Organe durch künstliche Zurüstungen über die ihnen mitgegebenen Möglichkeiten emporzusteigern versucht. „Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann, und das ist eben das größte Unheil der neuen Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja, was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will.“ Dabei ist es für Goethe nicht einmal das Schlimmste, daß durch diese Verkünstelung der Beobachtungsbedingungen die Erkenntnis mißleitet wird. Bedenklicher noch stimmt es ihn, daß „diese Mittel, wodurch wir den Sinnen zu Hilfe kommen, keine sittlich (!) günstige Wirkung auf den Menschen ausüben“. Der Mensch selbst wird desorganisiert, wenn sein Verhältnis zur Natur in Unordnung gebracht wird. Schwerlich wird man einem Autor, der schon in den theoretischen Vor-
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aussetzungen der Technik eine Gefährdung der menschlichen Integrität meint aufdecken zu können, es zutrauen, daß er im nämlichen Werk der von dieser Technik diktierten Arbeitsordnung eine dem Menschen heilsame und daher erzieherisch auszuwertende Rückwirkung zugesprochen habe. Schon jetzt wird es uns fraglich, ob die in der „pädagogischen Provinz“ geübte Spezialisierung der Tätigkeiten die nämliche sei wie die, in welche die technisch-ökonomische Entwicklung der Neuzeit eingemündet ist.
Goethe als Anwalt der sinnlich erfaßten Natur Zu den tiefsten Gründen aber der Haltung, in der Goethe diesem Gefüge theoretischer Forschungen und praktischer Veranstaltungen gegenübersteht, dringen wir erst dann vor, wenn wir von den „Wanderjahren“ zurückgehen auf das Werk, in dem Goethe diesem Problemkomplex in Gestalt einer wissenschaftlichen oder wenigstens wissenschaftliche Ansprüche erhebenden Untersuchung zu Leibe geht. Dies geschieht in der „Farbenlehre“4. Wenn wir im Vorausgegangenen immer wieder die Solidarität hervorzuheben hatten, welche die der Neuzeit eigentümlichen Ordnungen menschlicher Arbeit mit der sie ermöglichenden, ja provozierenden Wissenschaft von der Natur verbindet, so entspricht dem der ebenso strenge Zusammenhang, der zwischen Goethes Anweisung zur rechten Lebensgestaltung und der von ihm kanonisierten Naturanschauung obwaltet. Weil die letztere in der „Farbenlehre“ ihre ausführlichste Darlegung findet, darum darf behauptet werden, daß „Farbenlehre“ und „Pädagogische Provinz“ enger zusammengehören, als die landläufige Auffassung wahrhaben will. Was die pädagogische Provinz in sich einläßt und was sie sich fernhält, das entscheidet sich aus jener Deutung des Verhältnisses von Mensch und Natur, die in der „Farbenlehre“ kodifiziert ist. Diese Deutung aber hinwiederum gelangt erst dadurch zu letzter Klarheit und begrifflicher Präzisierung, daß sie sich in einer durchgeführten Polemik von einer anderen Interpretation desselben Verhältnisses abzusetzen genötigt ist – nämlich derjenigen Interpretation, die aus den Ergebnissen der mathematischen Naturwissenschaft als selbstverständliche Folgerung hervorzugehen behauptete. Wie Goethe in den „Wanderjahren“ das Recht, den Wahrheitsgehalt, ja die Überlegenheit der Eindrücke verficht, welche die nicht durch künstliche Apparaturen bewaffneten Sinnesorgane dem Menschen bescheren, so setzt er sich in der „Farbenlehre“ für
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Eigenwert, Eigengeltung, ja Überlegenheit der Sinneseindrücke ein, in denen die nicht durch künstliche (mathematische) Theorien transformierte Natur dem Menschen entgegentritt. Und zwar bedurfte es dieser Rehabilitierung, weil die von ihm befehdete Theorie, repräsentiert durch die physikalische Optik Newtons, von der mathematischen Umformung der Natur zu der Behauptung weitergegangen war, daß das aus dieser Umformung hervorgegangene Relationsgefüge uns die „eigentliche“ und „wirkliche“ Natur sichtbar mache, wohingegen uns in den Eindrücken unserer Sinne nur eine durch die Beschaffenheit unseres Organismus bedingte Umbildung, ja Verfälschung jenes Eigentlichen und Wirklichen dargeboten werde. Auch hier ist es also so, daß der „größte und genaueste physikalische Apparat“, den der Mensch an seinem Leibe besitzt, sich durch das Resultat einer künstlichen (in diesem Fall theoretischen) Zurüstung soll desavouieren lassen. Und auch hier ist es nach Goethes Überzeugung so, daß durch diese Verkehrung der in der Natur vorgezeichneten Ordnung nicht bloß die Erkenntnis mißleitet wird, sondern auch und besonders sittlich anfechtbare Wirkungen hervorgerufen werden. Wer den Menschen in dem Vertrauen zu der Echtheit und Wahrheit seiner Sinneseindrücke wankend macht, der rührt an die Grundlagen seiner sittlichen Existenz. Denn zu dieser Existenz gehört das Insgesamt der in ihrem Vollgehalt unbeschnittenen, in ihrem Wahrheitswert unbestrittenen Sinneseindrücke als unabdingbares Moment hinzu. Trägt doch Goethe kein Bedenken, den elementaren Sinneseindrücken, die das Auge uns in Gestalt der Farben zuführt, eine „sinnlichsittliche“, also eine den Menschen als solchen betreffende „Wirkung“ zuzuschreiben. Kommt ihnen eine solche zu, was ist dann von einer Wissenschaft zu halten, die ihrem methodischen Prinzip gemäß darauf aus ist, den qualitativen Reichtum der Farben durch eine Skala mathematischer, also rein quantitativer und insofern völlig abstrakter Werte zu verdrängen? Sie macht sich eines Angriffs auf die sittliche Integrität des Menschen schuldig. Denn sie bringt ihn in ein schiefes Verhältnis zu der ihm als Partner gesellten Natur und desorganisiert damit das Bild der Wirklichkeit, mit der sich ins rechte Verhältnis zu setzen seine sittliche Bestimmung ist.
Goethe als Anwalt des Umgangs Wir sind damit an der Stelle angelangt, an der es angezeigt ist, von der Auslegung, die Goethe dem Verhältnis Mensch–Natur widerfahren läßt, die Brücke zu schlagen zu derjenigen Gestaltung dieses Verhältnisses, die wir oben als Phase des von uns analysierten Entwicklungsganges kennenlernten. Denn dies ist kaum zu übersehen: das, was Goethe als die einzig
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gesunde und förderliche Form dieses Verhältnisses darstellt und feiert, ist nichts anderes als jene innige Wechselbezogenheit füreinander bestimmter Partner, deren Betätigung wir oben mit dem Namen „Umgang“ belegten. Und die Eigentümlichkeiten dieses Verhältnisses, auf denen ihm seine Zukömmlichkeit zu beruhen scheint, sind genau diejenigen, durch die der Umgang mit der Natur sich von der naturwissenschaftlich-technischen Auseinandersetzung mit ihr unterscheidet. Der Umgang ist ja, wie wir sahen, diejenige Form der Begegnung mit der Natur, in deren Wesen es liegt, daß sie zwischen den einander begegnenden Partnern das Verhältnis einer wohlausgewogenen Proportion selbsttätig herstellt und bewahrt. Und daß sie diese Proportion getreulich einhält, das hat eben darin seinen Grund, daß sie die Natur nur in den Grenzen ihrer sinnlichen Anschaulichkeit und Greifbarkeit sichtbar und zugänglich macht. Genau diese Selbstbegrenzung ist es aber, die nach Goethes Überzeugung gewahrt werden muß, wenn das Verhältnis des Menschen zur Natur „sittlich“ in Ordnung sein soll – sie ist es, die zum Schaden der sittlichen Gesundheit des Menschen durchbrochen zu haben er der mathematischen Naturwissenschaft zur Last legt. Wir dürfen also feststellen, daß das, was Goethe uns in den einschlägigen Darlegungen gibt, nichts anderes ist als eine eindringliche und liebevolle Darstellung desjenigen Verhältnisses von Mensch und Natur, das sich als „Umgang“ realisiert, unter nachdrücklicher Hervorhebung dessen, was den einzigartigen Vorzug dieses Verhältnisses ausmacht. Ob wir zusammen mit dieser Darstellung auch das Verdikt anzunehmen haben, das über die den besagten Vorzug preisgebende naturwissenschaftlich-technische Naturbearbeitung ergeht – diese Frage muß einstweilen offenbleiben.
Die pädagogische Provinz Wenn wir aber von der Aufdeckung dieser Übereinstimmung her unseren Blick zurücklenken auf die „pädagogische Provinz“, dann erhellt erst recht die Notwendigkeit der Verbindung, die wir zwischen dieser und der „Farbenlehre“ glaubten herstellen zu sollen. Denn dann zeigt sich: die Grenzsetzung, durch welche die Anthropologie der „Farbenlehre“ sich von den Erkenntnisformen der mathematischen Naturwissenschaft scheidet, steht in vollkommener Entsprechung zu der Grenzsetzung, durch welche die Pädagogik der „Wanderjahre“ sich von den Arbeitsformen der technisch-ökonomischen Welt scheidet. Hier wie dort ist es der „Umgang“, in dessen Namen und zu dessen Gunsten das Werk der radikalen Versachlichung verworfen wird. Sind wir für diese Unterscheidung sehend geworden, dann fällt es uns nicht schwer, zu erkennen, wie tief sich das, was die pädagogische Provinz
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als Spezialisierung der Arbeit anerkennt und pflegt, von dem unterscheidet, was die technisch-ökonomisch durchorganisierte Arbeitswelt unter dem gleichen Titel entwickelt hat und unaufhaltsam vorwärtstreibt. Zunächst fragen wir uns: Ist die Spezialisierung der Tätigkeiten, der wir in der pädagogischen Provinz begegnen, diktiert durch die Forderungen einer Sache, deren Produktion erst durch Zerlegung der sie produzierenden Arbeit möglich wird oder wenigstens durch diese Zerlegung sich wesentlich vervollkommnet? Nein: sie erfolgt ausschließlich im Hinblick auf die Besonderheit der Begabungen. Sie sind es, denen die Spezialisierung der Tätigkeiten zugute kommen soll. Ist es doch die Aufgabe der Erziehung, sie durch eine ihnen gemäße Ausbildung zu der ihnen erreichbaren Vollkommenheit emporzuführen. „Es ist unser höchster und heiligster Grundsatz, keine Anlage, kein Talent zu mißleiten.“ Es ist nicht das Arbeitsprodukt, sondern einzig und allein der Mensch, um dessentwillen auf Viel-, wo nicht Allseitigkeit der Ausbildung verzichtet wird. Die spezielle Tätigkeit aber, die dem Zögling als die seiner Anlage entsprechende Aufgabe zugewiesen ist, kann und wird, das ist die leitende Überzeugung, nur dann den erstrebten bildnerischen Erfolg haben, wenn sie ihrerseits nicht die Hervorbringung von etwas Fragmentarischem, der Ergänzung Bedürftigem einmündet, sondern ein Ganzes zustande bringt, das seinen Sinn in sich selbst hat und nicht von einem übergeordneten Gefüge zu Lehen trägt. Denn nur von einem solchen gilt dasjenige, was notwendiges Ingrediens des bildnerischen Ertrages ist: nur von ihm darf behauptet werden, daß es sich „als ein zweites Selbst von ihm (dem Produzierenden) ablöst“. Genügt schon diese nähere Bestimmung der „spezialisierten“ Leistung, um ihren Abstand von dem Bau eines die Arbeit zerstückelnden industriellen Systems sichtbar zu machen, so braucht man weiterhin nur zuzusehen, welche Tätigkeiten in der pädagogischen Provinz zugelassen, welche von ihr ausgeschlossen sind, um vollends gewahr zu werden, wie weit wir hier von der Arbeitswelt der industrialisierten Gesellschaft entfernt sind. Was in der pädagogischen Provinz als bildnerisch wirksam anerkannt und gepflegt wird, das ist: Bergbau (aber nur soweit er es auf die Gewinnung von Metallen wie Zinn und Silber5, nicht auf diejenige von Kohle abgesehen hat), Viehzucht, Ackerbau, Handwerk mannigfaltiger Art; von rein geistigen Tätigkeiten die Sprachen und das Rechnen (nicht die Mathematik). Aber das Rechnen wird nicht in abstrakter Reinheit geübt, sondern nur im Anschluß an die Musik, also bloß in der Anwendung als Maßkunst, zugelassen und gepflegt. 5 Was
Jarno-Montanus über sein Spüren nach Metallen berichtet, ist das schönste Beispiel eines durch und durch untechnischen Umgangs mit Bodenschätzen.
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Daß diese Pädagogik, soweit sie die Bearbeitung der „äußeren“ Welt in den Kreis der bildenden Tätigkeit einbezieht, sich nicht weniger streng als die Farbenlehre innerhalb jener Grenzen hält, die der Begriff des „Umgangs“ markiert, das wird durch nichts so deutlich bezeugt wie durch die bevorzugte Stellung, die dem Handwerk innerhalb des Ganzen zufällt, und durch die Begründung, die seiner Auszeichnung beigegeben wird. Denn diese Begründung greift auf eben die Eigentümlichkeiten handwerklichen Tuns zurück, die uns oben veranlaßten, in ihm die reinste Form des Umgangs mit der Natur anzuerkennen. Seine Lebensbedeutung erleuchtet der Satz: „Allem Leben, allem Tun, aller Kunst muß das Handwerk vorausgehen, welches nur in der Beschränkung erworben wird.“ Und daß es der Bildung des Menschen so dienlich ist, das wird auf genau diejenige Eigentümlichkeit zurückgeführt, deren Abwesenheit den Dienst in arbeitsteiliger Industrieproduktion kennzeichnet. Es ist der ganze, seine leiblichseelische Einheit zum Einsatz bringende, Tun und Denken vereinende Mensch, der ein Ganzes schafft, das er ohne Abzug sich selbst zurechnen darf und in dem er deshalb sich selbst wiederfindet. In dem, was hier geschieht, ist wahrlich die Forderung erfüllt: „Was der Mensch leisten soll, muß sich als ein zweites Selbst von ihm ablösen, und wie könnte das möglich sein, wäre sein erstes Selbst nicht ganz davon durchdrungen?“ Nehmen wir noch hinzu, daß das ganze Leben in der pädagogischen Provinz erheitert und verklärt wird durch eine allgegenwärtige musische Stimmung und zumal durch einen jegliches Tun begleitenden Gesang, so erkennen wir in dieser Pflegestätte „spezialisierter“ Tüchtigkeit geradezu das Gegenbild zu dem in der Zucht strenger Sachdienstbarkeit disziplinierten Arbeitsgetriebe der industriellen Gesellschaft.
Grenzen der Weltoffenheit Unter den Verkündern der Humanitätsidee ist Goethe derjenige, der am energischsten darauf dringt, der Mensch könne nur dadurch Mensch werden, daß er sich in verantwortlichem Handeln mit der Welt einlasse, an der Welt messe, für die Welt einsetze. Auf sich allein gestellt bleibe er unerfüllte Versprechung. Da er als einzelner notwendig unvollständig sei, so müsse er, wie es in dem Winckelmann-Aufsatz heißt, dahin streben, „mit der Welt verbunden ein Ganzes zu bilden“. Goethe hielt es für angezeigt, diese Notwendigkeit einzuschärfen, weil er gerade an „vorzüglichen Geistern“ seiner Epoche die Eigentümlichkeit zu bemerken glaubte, „eine Art Scheu vor dem wirklichen Leben zu empfinden, sich in sich selbst zurückzuziehen, in sich selbst eine eigene Welt zu erschaffen“. Sie wollen also nichts Geringeres, als in sich selbst, aus eigener Kraft, hervorbringen, was nur im Verein mit der Welt zustande kommen kann.
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Gerade weil Goethe im Gegensatz zu den Gerügten den Menschen, der er selbst werden will, so nachdrücklich an die Welt verweist, ist es um so lehrreicher, festzustellen, wie weit diese Anerkennung der Welt als des notwendigen Lebenspartners geht und an welchem Punkte sie der bedingungslosen Verneinung weicht. Die „pädagogische Provinz“ ist gerade deshalb so aufschlußreich, weil sie haargenau die Grenze bezeichnet, bis zu der der Anwalt der klassischen Humanität den Arbeitsformen der „Welt“ glaubt entgegenkommen zu können, ohne sein Ideal aufgeben zu müssen. Es muß uns zu denken geben, daß selbst ein Goethe, in seiner Weltoffenheit den meisten Mitstrebenden voraus, hier auf eine Schranke stößt, über die er nicht hinauskann. Er gibt sich keiner Täuschung darüber hin, daß keine Macht dieser Erde der Ausbreitung des „Maschinenwesens“ Einhalt gebieten kann. Schillers geschichtsphilosophische These, es sei nur eine zu überwindende Durchgangsstufe, die von ihm ihr Gepräge erhalte, findet bei ihm keine Gegenliebe. Aber deshalb die Arbeitsformen und -ordnungen, die an der Maschine ihr sichtbares Symbol haben, in das Heiligtum der „humanen“ Wirkensmächte einzulassen – das kann er nicht über sich gewinnen. Er bringt es aus dem Grunde nicht fertig, weil er sich nicht verhehlen kann, daß mit ihrer Zulassung die „Harmonie“ der Wesensentfaltung gestört werden würde, die dem Anwalt der Humanität über allem steht. Allein wird durch diese Weigerung an dem tatsächlichen Stande der Dinge etwas geändert? Sprechen wir das unumwunden aus, was Goethe ausdrücklich einzugestehen unterläßt, so müssen wir sagen: jene „Welt“, mit der nach Goethe der Mensch es aufnehmen muß, um wahrhaft Mensch werden zu können, ja mit der er einen „Bund“ eingehen muß, auf daß ein Ganzes herauskomme – sie schließt nach seinem eigenen Eingeständnis einen Bereich in sich, der durch die von ihm ausgehenden Nötigungen der Menschwerdung, wie sie von ihm gefordert und gefeiert wird, nicht nur nicht dienlich ist, sondern entgegenarbeitet. Die Welt, wie sie nun einmal ist, läßt sich nicht ohne Rest mit dem auf Harmonie hinarbeitenden Streben des Menschen in Einklang bringen. Der Schein einer möglichen Harmonie läßt sich nur so lange aufrechterhalten, wie man diese Partien des Menschenlebens künstlich abblendet – also etwa den Zögling in den Naturschutzpark einer „pädagogischen Provinz“ versetzt. Werden sie umgekehrt unabgeschwächt und unbeschönigt in das Bild des Daseins aufgenommen, so ist es um die Harmonie geschehen und der Zwiespalt der der Menschwerdung förderlichen und der ihr bedrohlichen Lebenstendenzen als unverdrängbares Daseinsmotiv anerkannt. Wenn wir aber Goethe durch Aussprechen des von ihm Übergangenen so zu Ende denken, sehen wir dann sein Sinnen nicht auf eine Auslegung des menschlichen Daseins herauskommen, die derjenigen Pestalozzis auf-
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fallend nahesteht? Daß der Widerstreit der aus der „kollektiven“ und der aus der „individuellen“ Existenz entfließenden Ansprüche nicht aus dem Leben zu verbannen sei: das wäre darnach die Überzeugung nicht bloß des Anwalts der im Schatten der Dienstbarkeit Dahinlebenden, sondern auch des Abgotts der im Lichte des Geistes Wandelnden gewesen. Und der einzige Unterschied wäre der, daß jener ohne Schonung auszusprechen sich nicht gescheut hätte, was dieser unbelichtet im Hintergrunde zu halten vorzog. […]
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II. Systematischer Teil Erstes Kapitel Das technische Handeln im Zusammenhang des Lebens Der Konflikt Ein halbes Jahrhundert ist dahingegangen, seitdem Kerschensteiner der pädagogischen Welt einen neuen Impuls zu geben versuchte. Es hat der Trias Naturwissenschaft – Technik – Produktion eine Entwicklung beschert, wie sie selbst die kühnste Phantasie nicht zu erträumen gewagt hätte, und jeder Tag läßt uns von neuem verspüren, mit welchem Ungestüm uns der „Fortschritt“ auf der ihm vorgeschriebenen Bahn vorwärtsreißt. Die Empfindungen, mit denen wir diesen Vorgang begleiten, sind von höchst zwiespältiger Art. Auf der einen Seite wissen wir, daß unser eigenes Forschen, Erdenken, Planen, Handeln es ist, durch welches er Realität gewinnt. Er würde unfehlbar aussetzen, wenn wir ihn vorwärtszutreiben aufhörten. Aber auf der anderen Seite können wir uns des Gefühls nicht erwehren, als ob wir in unserer Bewußtseinshaltung, mit unserem deutenden Verstehen, immer hilfloser hinter dem durch uns selbst entfesselten Geschehen zurückblieben. Die Dinge, die wir selbst hervorbringen, entgleiten uns und entwickeln ein Eigenleben, an das wir mit unseren Erklärungen, Auslegungen, Mutmaßungen nicht heranreichen. Dieses Mißverhältnis macht sich auch in den Bemühungen geltend, die darauf gerichtet sind, der uns beanspruchenden gesellschaftlichen Wirklichkeit durch eine Erziehung bzw. Erziehungstheorie gerecht zu werden, die ihr zukommen läßt, was ihr gebührt, dabei aber den Menschen davor bewahrt, durch sie verschlungen zu werden. Diese Bemühungen können nicht anders als erfolglos bleiben, solange sie an einer Idee der Menschenbildung festhalten, die in polemischer Abwehr der genannten Wirklichkeit konzipiert ist.
Sachliches Tun und persönliches Sein Allein, haben wir eigentlich Grund, diese an sich unleugbare Diskrepanz sonderlich zu beklagen? Blicken wir zurück auf die Entwicklung, die Deutschlands gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben im Zeitraum
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eines Jahrhunderts hinter sich gebracht hat, so haben wir das Bild eines Aufstiegs vor Augen, der es zweifellos macht, daß Naturwissenschaft, Technik und industrielle Produktion durch die nachgewiesene Unstimmigkeit nicht gehindert worden sind, Höchstleistungen von bewundernswürdiger Art aus sich hervorzuholen. Offenbar hat es für diejenigen, die an diesem Aufstieg tätig beteiligt waren, nichts ausgemacht, daß sie im Zeichen eines Bildungsideals erzogen worden waren, das für den Inhalt ihrer Lebensarbeit keinen Platz hatte. Wir dürften uns bei diesem Trostspruch beruhigen, wenn in den Erfolgen, die innerhalb der genannten Arbeitsgebiete einzuheimsen einem Volke vergönnt ist, sich dasjenige erschöpfe, was es sich selbst abzuverlangen hat – wobei es zunächst dahingestellt bleiben mag, ob dies zu Verlangende mehr in der Befriedigung des Glücksbegehrens oder mehr in der Erfüllung sittlicher Forderungen zu suchen ist. Nun hat es in der Tat nie an Enthusiasten des „Fortschritts“ gefehlt, die dafür hielten, daß sich an der Skala der im technisch-ökonomischen Prozeß erzielten Arbeitserträge sei es der Glücksanteil, sei es der sittliche Rang der zu beurteilenden Gemeinschaft ablesen lasse. Indes, daß die darin liegende Vereinfachung unstatthaft ist, lehrt eine schlichte Überlegung. Wo immer es eine Arbeit zu vollbringen gilt, über deren Anlage und Durchführung die „Sache“ entscheidet, da hat der arbeitende Mensch sich einem Gebot unterstellt, vor dem alles das zu verstummen hat, was in ihm selbst an Bedürfnissen, Begehrungen, Sehnsüchten, Forderungen lebt. Es könnte nicht mitreden, ohne daß die Reinheit der Sache getrübt würde. Der Mensch hat sich für die Dauer des Arbeitsvorgangs gleichsam neutralisiert, zum Vollstreckungsorgan der Sache entselbstet. Aber das, was so auf Zeit zum Schweigen verurteilt wird, ist darum nicht aus der Welt. Einerseits mußte es zuvor schon da sein, damit überhaupt der Dienst an der Sache aufgenommen wurde. Denn ohne ein Motiv, das zur Fügung in den Sachdienst drängte, würde die Person niemals die besagte Entselbstung über sich verhängt haben. Andererseits meldet es sich unüberhörbar zum Worte, sobald die Diktatur der Sache aussetzt. Denn über Wert und Erfolg der Sachdienstbarkeit zu urteilen wird der sie übende Mensch sich aus dem einfachen Grunde nicht nehmen lassen, weil sie ihm die befristete Unterdrückung seines Selbst zugemutet hat. In der einen wie in der anderen Hinsicht ist eine große Mannigfaltigkeit von Stellungnahmen möglich. Sie können sich erstrecken von dem Pol engherziger Selbstsucht, die nur auf den zu erwartenden Profit hinblickt, bis zu dem Gegenpol lauteren Wahrheitsstrebens, das über dem Angezielten das eigene Selbst vergißt. In jedem Falle aber ist es der konkrete Mensch, der, aus der Zucht der Sache entlassen, sein Ja oder sein Nein zu dem zu Tuenden bzw. Getanen spricht und so die der Sache gewidmete Lebensstrecke dem Ganzen eines nichts weniger als sachbestimmten Lebens einfügt.
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Aus diesem Verhältnis von sachgebundener Dienstbarkeit und sachüberlegener Selbstbestimmung geht hervor, daß durch die Qualität der Arbeit und die Höhe des Arbeitsertrages über den sie ausübenden Menschen, sein Wesen, seinen Wert, seine Seelenverfassung, nicht das mindeste ausgemacht ist. Denn alles dies kann ja erst zum Vorschein kommen, wenn er aus der Disziplin der Sache herausgetreten und sich selbst zurückgegeben ist. Und so kann es auch so sein, daß zwischen der Sachgebundenheit des Menschen und seinem Streben nach Selbstvollendung ein empfindlicher Widerspruch besteht, ohne daß von ihm an dem Arbeitseffekt die leiseste Spur bemerkbar würde. Denn daß die Arbeit „sachgemäß“ verrichtet wurde, ist ja nur ein anderer Ausdruck dafür, daß aus ihrer Ausführung wie alles Menschlich-Persönliche überhaupt so auch ein etwaiger durch sie verschuldeter Konflikt herausgehalten und in den Bereich des auf Zeit suspendierten Personalen abgeschoben wurde. Daß die Sache so ganz und gar in sich abgeschlossen und gegen das personale Sein abgedichtet ist, darin ist die Möglichkeit begründet, daß das an die Sache sich bindende Tun von allen Schwankungen des persönlichen Lebens unberührt bleibt – aber dadurch ist auch die Möglichkeit ausgeschlossen, daß aus dem Ergebnis des an die Sache sich bindenden Tuns auf Wesen und Wert des ihr sich widmenden Menschentums geschlossen wird. Aus diesem Grunde wäre es auch sehr voreilig, wollte man durch den unanzweifelbaren Erfolg von Deutschlands technisch-ökonomischer Kräfteanspannung sich über den Konflikt beruhigen lassen, den wir zwischen der deutschen Arbeitswelt und dem deutschen Bildungsideal aufklaffen sahen. Es wäre durchaus denkbar, daß er zwar im Bezirk einer Arbeit, in deren Wesen es liegt, daß sie alles spezifische Menschliche und so auch alle etwaigen menschlichen Konflikte aus ihrem Sachgefüge heraushält, nirgend sichtbar würde und doch außerhalb und jenseits dieses Bezirks, also da, wo zusammen mit dem Menschlichen überhaupt auch jeder ihm innewohnende Konflikt zu Worte kommen müßte, die Seelen verwirrte und den Lauf der Dinge mißleitete.
„Mittel“ und „Zweck“ In der Unterscheidung von sachgebundenem Tun und sachüberlegenem Selbstsein haben wir nur einen neuen Aspekt jenes Dualismus vor uns, durch den das menschliche Leben aufgespalten wurde, als aus dem Grunde abstandsloser Weltumfangenheit sich das Gegenüber von „Subjekt“ und „Objekt“ herausdifferenzierte. Mit dem Vorgang dieser Differenzierung treten, wie wir wissen, Theorie und Praxis auseinander. Nun, die eben behandelte Unterscheidung ist nichts anderes als der Dualismus dieser
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beiden Funktionen, betrachtet in der Gestalt, die er annimmt, weil die selbständig gewordene Theorie sich in den Dienst der selbständig gewordenen Praxis stellt. Es ist, mit einem Worte, das „technische“ Verhältnis zwischen Mensch und Welt, in dem die erörterte Unterscheidung zu ihrer Vollendung durchdringt. Wo dieses Verhältnis sich rein ausgebildet hat, da wird aus der Absonderung des Menschlichen vom Sachlichen die Absonderung der „Zwecke“ von den „Mitteln“6. Die „Zwecke“ zu bestimmen, d. h. sich für oder wider die jeweils in Betracht zu ziehenden Zwecke zu entscheiden, kommt jenem Selbstsein zu, das, wenn die „Mittel“ ausfindig gemacht werden sollen, sich jeglichen Hineinredens zu enthalten hat. Denn die „Mittel“ sind ja nichts anderes als die „Sache“, betrachtet unter dem Gesichtspunkt, ob und wie sie der Verwirklichung als möglich angenommener Zweck dienstbar gemacht werden könne. Die Forderung, daß, wenn es die Sache zu bestimmen gilt, der Mensch als Person zu verstummen habe, nimmt hier also die Fassung an, daß, wenn die „Mittel“ ausfindig gemacht werden sollen, der die „Zwecke“ setzende Wille – natürlich nur für die Dauer dieser Nachforschung – sich Schweigen aufzuerlegen habe. Mit dieser Wendung ist ein Begriffspaar in unseren Gesichtskreis eingetreten, das es nötig hat, aus mancherlei mißbräuchlicher Verwendung zu seiner reinen Bedeutung zurückgeführt zu werden. Ein Zeitalter, dem die technische Form des Denkens und Handelns so in Fleisch und Blut übergegangen ist wie dem unsrigen, unterliegt nur zu leicht der Versuchung, die im technischen Bereich sich rein herausgestaltende Relation „Mittel– Zweck“ als ein Schema des Denkens und Handelns anzusehen, dem alles, was der Mensch nur immer sich vornehmen und angreifen mag, zu unterstellen sei. Bestände diese Angleichung zu Recht, so dürften wir z. B. ebensogut nach den „Mitteln“ fragen, die geeignet wären, den „Zweck“ der moralischen Rettung eines von Untergang bedrohten Menschen zu realisieren, wie wir nach den Mitteln fragen, die geeignet sind, den Zweck der Hebung eines untergegangenen Schiffs zu realisieren. Allein diese Übereinstimmung in der Ausdrucksweise bringt gerade das zum Verschwinden, wodurch das hier und das dort Geschehende sich im tiefsten unterscheiden. Ausschlaggebend ist der Unterschied, der darin liegt, daß im zweiten Beispiel der Zweck in einer Veränderung besteht, die nicht nur in der „äußeren“, der räumlich-extensiven Welt stattfindet, sondern auch so in dieser Äußerlichkeit aufgeht, wie das bei Dingen und Vorgängen von anorganischer Beschaffenheit der Fall ist – daß im ersten Beispiel der Zweck in einer Veränderung besteht, die in der „inneren“, der seelischen Welt statt6
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findet und damit einem Gefüge angehört, das als intensive Einheit das vollkommene Widerspiel jeder äußeren Anreihung und Nebenordnung darstellt. Die Raumwelt ist in ihrer Extensität die ideale Sphäre der Mittel, weil alles, was in ihr an anorganischen Dingen und Vorgängen enthalten ist, sich so widerstandslos dem von ihr schärfstens geschiedenen Zweck unterordnet, wie es die Bezeichnung als „bloßes“ Mittel mit so dankenswerter Präzision ausdrückt. Selbst wenn es dem Zweck zuliebe bis auf den letzten Rest verbraucht wird, widerfährt ihm nur das, was im recht verstandenen Begriff des Mittels als äußerste Möglichkeit enthalten ist. Was aus den eingesetzten Mitteln wird, ist gleichgültig, wenn durch sie nur der scharf umrissene Zweck – in unserem Beispiel die Hebung des Schiffs – erreicht wird. Sie sind das eine, das dazu da ist, dem anderen zum Opfer gebracht zu werden. Am Gegenbilde dieser Stufenordnung von zu verbrauchendem Mittel und zu erfüllendem Zweck zeichnet sich in äußerster Schärfe die Ordnung ab, die dann den Verlauf der Dinge bestimmt, wenn das angebliche „Mittel“ dem „Zweck“ einer seelischen Veränderung dienen soll. Als „Mittel“ einer seelischen Aufrichtung zu wirken, ist ein Vorgang nur dann imstande, wenn er in eben der Seele seinen Ort hat, um deren Wiederherstellung es geht. Damit ist er aber in ein Medium aufgenommen, das von keinem Nebeneinander von Teilgeschehnissen weiß, die, weil äußerlich angereiht, sich in eine Stufenordnung einstellen ließen – er ist in ein Ganzes eingegangen, das alles ihm Widerfahrende so in sich einarbeitet, wie es im Wesen der „Person“ liegt. Hier gibt es keine Vorgänge, deren Bedeutung sich darin erschöpfte, einem jenseits ihrer selbst gelegenen „Zweck“ zur Verwirklichung zu verhelfen. Hier gibt es nicht das eine, das, nicht mehr als gleichgültiges Material, nur dazu da wäre, dem anderen zum Opfer gebracht zu werden. Sondern die ganze Scheidung und Stufung von Mittel und Zweck wird schon dadurch hinfällig, daß in dem Vorgang, der sich in die Dimension der „Mittel“ soll verweisen lassen, bereits der „Zweck“ in das Stadium der Verwirklichung eingetreten ist. Die Wiederaufrichtung des Menschen geschieht eben in nichts anderem als in der Folge von inneren Wandlungen, durch welche die in die Irre gegangene Seele wieder auf den rechten Weg gebracht wird. Der „Zweck“ springt nicht am Ende als Effekt der auf ihn hinarbeitenden Maßnahmen heraus; er ist bereits in ihnen allen als beseelende Macht zur Stelle. Es ist die „Person“, die durch ihre einheitstiftende Macht alles Vorher und Nachher der seelischen Abläufe überhöht und zum bloßen Außenaspekt herabdrückt. Vielleicht wird die hier vorgenommene Unterscheidung manchen haarspalterisch, die auf sie verwandte Mühe überflüssig anmuten. In Wahrheit ist sie keineswegs bloß im Interesse der gedanklichen Sauberkeit geboten. Sie tut deshalb not, weil dem Menschen zusammen mit ihr auch das Vermögen abhanden kommt, zu unterscheiden zwischen denjenigen Sphären
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des Planens und Operierens, denen das technische Schema gemäß ist, und denjenigen Daseinsbereichen, die in Unordnung gebracht, ja um ihren eigentlichen Sinn betrogen werden müssen, wenn ihnen das gleiche Schema appliziert wird. Alle die Übergriffe, die man heute unter dem Namen „Technokratie“ zusammenfaßt, sind nichts anderes als Äußerungen jener Desorganisation des menschlichen Daseins, die nicht ausbleiben kann, wenn das technische Denken über die Schranken des ihm zugewiesenen Bereichs hinauswuchert. Der Satz, daß „der Zweck die Mittel heilige“, konnte nur deshalb so heftige Kontroversen hervorrufen, weil in seine Auslegung die unzulässige Erweiterung der „Mittel-Zweck“-Kategorie hineinspielte. Schließen wir das technologische Denken in die Grenzen ein, innerhalb deren es einzig am Platze ist, so tritt folgender Sachverhalt als der für sein Wesen bestimmende hervor. So streng und so allgegenwärtig die Herrschaft der „Sache“ in diesem Bereich sein mag: diese „Sachlichkeit“ fällt notwendig zusammen mit einer Neutralität, die sich jedes Pro und Contra verbietet, die schlechterdings alle Entscheidungen über zu Tuendes und zu Lassendes offenläßt. Das will besagen: wer mit der „Sache“ theoretisch und praktisch vertraut ist, der weiß genau, wie er zu verfahren hat, wenn er eine auf den Beistand dieser Sache angewiesene Absicht ausführen will. Ob er sich aber diese Absicht vorsetzen soll, um sei es seinem Glücksverlangen Befriedigung zu verschaffen, sei es seinem sittlichen Gewissen Genüge zu tun, darüber wird er im Bereich der Sache vergeblich Rat und Aufschluß suchen. Das sachgebundene Denken weiß von keinem Ja und keinem Nein. Es könnte nicht dem Ansinnen, ein solches auszusprechen, auch nur einen Fußbreit nachgeben, ohne daß es aufhörte, ein „sachliches“ Denken zu sein. Dasselbe in der Sprache unseres Begriffspaars ausgedrückt: es würde zwar nicht ein Denken über „Mittel“ sein, wenn es nicht auf mögliche Zwecke hinblickte; aber es würde ebensowenig ein Denken über „Mittel“ sein, wenn es seine Unparteilichkeit aufgeben, d. h. für diese und gegen jene unter den möglichen Zwecken optieren wollte. Mittel sind als solche immer Mittel „für“ etwas. Dieses Wofür als möglich, als realisierbar in Sicht zu bringen und gleichzeitig jeden Hinweis auf seine Bejahungs- oder Verneinungswürdigkeit auszuschließen: dies eben ist es, was das „technische“ Denken zu dem macht, als was es mit diesem Namen bezeichnet wird. Mit einer nicht zu erweichenden Unerbittlichkeit schiebt dies Denken die Entscheidung darüber, was zu tun und was zu lassen ist, auf eben den Menschen ab, der, indem und solange er sich zu seinem Organ machte, zu seinen Gunsten sein Menschsein gleichsam suspendiert hatte. Das ist jene kalte Indifferenz, durch welche die Technik unserer Tage, ihre ungeheuerlichen Kraftwirkungen jedwedem Vorhaben zu leihen erbötig, uns frösteln macht. Aber vergessen wir nicht: nur durch diese
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kompromißlose Abscheidung alles Menschlichen wird es möglich, daß der durch die Sache vorgezeichnete Fortschritt durch alle Schwankungen und Ausschläge der geschichtlichen Gesamtbewegung so ganz und gar nicht alteriert wird!
Zweites Kapitel Die Versachlichung der Welt „Äußeres“ und „Inneres“ Allein wenn wir uns davon überzeugen, mit welcher Strenge die für die Sache reservierte Sphäre des entscheidungslosen Fortschrittes und die dem Menschen überlassene Sphäre der sachüberlegenen Entscheidung sich voneinander sondern, dann sieht es doch fast so aus, als ob in abgewandelter Gestalt jene Scheidung wieder auflebte, die uns bei Humboldt als Gegenüberstellung vom „Inneren“ und „Äußeren“ begegnete7. Ja, nicht nur die Scheidung des einen vom anderen, sondern auch die Erhöhung des einen über das andere scheint mit veränderter Begründung wiederzukehren. Tun wir denn nicht recht daran, den in Gestalt der Sache sich anbietenden Vorrat an „Mitteln“ dem „Äußeren“, den unter den möglichen „Zwecken“ wählenden und damit über die Mittelverwendung entscheidenden Willen dem „Inneren“ gleichzusetzen? Und ist nicht in der Tat das so verstandene „Innere“ dem so verstandenen „Äußeren“ wenigstens insofern übergeordnet, als zwar der zwecksetzende Wille über die Mittel, nicht aber das mittelbestimmende Denken über den Zweck verfügt? Gewiß ist zuzugeben, daß innerhalb der möglichen Zwecke alle denkbaren Schattierungen von Wert und Unwert vertreten sind, daß insofern mit der Vorordnung des zwecksetzenden „Inneren“ über die Ranghöhe der im Einzelfall maßgebenden Zwecke nicht das mindeste ausgemacht ist. Aber daß sich die Frage nach Wert und Unwert ausschließlich in der Region der „Zwecke“ und ganz und gar nicht in der Region der „Mittel“ entscheidet – das läßt dann doch hinwiederum die Überlegenheit des „Inneren“ über das „Äußere“ von einer neuen Seite her sichtbar werden. Das Prädikat der „Äußerlichkeit“ ist doch wohl nicht ungeeignet, die Indifferenz zu bezeichnen, in der die Mittel als solche verharren. Nun steht es uns natürlich frei, das Verhältnis der beiden hier unterschiedenen Bereiche mit dem von W. v. Humboldt – und nicht nur von ihm – so sehr geschätzten Gleichnis zu bezeichnen. Die Frage ist nur, ob nicht das Festhalten an diesem Gleichnis das Aufkommen von Vorstellungen 7
Vergleiche das hier nicht abgedruckte Kapitel 8 des Originaltextes (H. B.).
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begünstigt, die unvermerkt doch wieder den Sachverhalt, den zu erhellen das Gleichnis eingeführt wurde, verdunkeln. Es ist zu zeigen, daß dies in der Tat der Fall ist.
Gegebenes und Gestaltung Alle Gedankengänge, die sich an das Bild „Inneres–Äußeres“ halten, sehen den Menschen als ein zwischen zwei „Räumen“ sich hin und her bewegendes Wesen. Er verweilt bald „draußen“, im Umkreis der die Mittel darbietenden Sache, bald „drinnen“, im Zentrum des die Zwecke auswählenden Selbst. Indes diese Vorstellung, die sich mit dem in Rede stehenden Gleichnis unfehlbar einstellt, muß unweigerlich einen für unser Problem fundamentalen Sachverhalt zum Verschwinden bringen. Räume, die man wechselweise aufsucht, sind im Verhältnis zu dem zwischen ihnen wechselnden Wesen ein Vorhandenes, Vorgegebenes, sie bilden das Medium, das man als Rahmen und Voraussetzung des eigenen Verhaltens hinnimmt und nach dessen Ordnung man sich in seinem Benehmen richtet. Kann, darf diese Vorstellung festgehalten werden, wenn es gilt, Unterschied und Verhältnis des bei der Sache verweilenden und des in sich selbst zurückgehenden Menschen zu bestimmen? Sie dürfte es in dem Falle, wenn das als das „Äußere“ Bezeichnete, wenn die Welt der „Sachen“ als das schon vorhanden wäre und vorgefunden würde, als was sie sich in der Perspektive des forschenden Geistes darstellt, wenn also der Mensch, um ihrer kundig und mächtig zu werden, nichts weiter zu tun hätte als das, was da ist, so, wie es da ist, betrachtend zur Kenntnis zu nehmen und handelnd zum Einsatz zu bringen. Sie dürfte es in dem Falle, wenn das als das „Innere“ Bezeichnete, wenn die Sphäre des „Selbst“ als das schon vorhanden wäre und vorgefunden würde, als was sie der bei sich einkehrende Geist erfährt, wenn also der Mensch, ihrer kundig und mächtig zu werden, nichts weiter zu tun hätte, als das, was da ist, so, wie es da ist, betrachtend zur Kenntnis zu nehmen und handelnd in Tätigkeit zu versetzen. Aber – so wird man erwidern – die hier wiedergegebene Vorstellung trifft doch den Nagel auf den Kopf! Es ist doch wirklich so, daß ich „draußen“ eine Welt vorfinde, die fertig dasteht, von deren Vorhandensein und Beschaffenheit ich lediglich Kenntnis zu nehmen habe und die ich nur so, wie sie ist, in den Dienst meiner Zwecke stellen kann. Es ist doch wirklich so, daß ich „in mir“ ein Selbst vorfinde, besser: daß ich mich als ein Selbst vorfinde, das ich in seiner gegebenen Beschaffenheit hinzunehmen habe und das ich nur so, wie es ist, in Akten der Zwecksetzung und Zweckverwirklichung betätigen kann. Nichts anderes als dies doppelte Gegebene ist es, was mit den Ausdrücken „Äußeres“ und „Inneres“ bezeichnet werden soll.
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Allein in dieser Gegenrede ist gerade das Entscheidende verfehlt. Was ich „draußen“ als gegeben vorfinde, das ist nicht die Welt in derjenigen Gestalt, in der sie sich mir darstellen muß, damit ich sie als Inventar von Mitteln in den Dienst meiner Zwecke stellen könne. Was mir als Welt gegeben ist, das tritt mir in der ganzen Fülle der sinnlichen Anschauung und nicht als das abstrakte Gefüge quantitativer Relationen entgegen, als welches sie in der Perspektive von Naturwissenschaft und Technik figuriert. Umgekehrt ist jene „Natur“, die die Naturwissenschaft vor uns hinstellt und die Technik für uns bereitstellt, nicht ein Vorgefundenes, das so, wie es ist, hinzunehmen und einzusetzen wäre, sondern das Resultat der methodischen Be- und Verarbeitung, die die besagte Wissenschaft dem in sinnlicher Anschaulichkeit sich Darbietenden hat widerfahren lassen. In Kürze: das Gegebene ist noch nicht die Sache, und die Sache ist nicht mehr das Gegebene. Und was andererseits mein Selbst angeht, so ist zwar einzuräumen, daß nicht ich selbst mich zu dem gemacht habe, der ich bin, und daß ich insofern wirklich mir selbst „gegeben“ bin. Aber wenn das als Außenwelt Gegebene nicht ein Letztes ist, bei dem ich als bei einem nicht Abzuwandelnden stehenzubleiben hätte – warum soll das mir in Gestalt meiner selbst Gegebene die Möglichkeit der Um- und Fortbildung ausschließen? Ist es nicht umgekehrt ein naheliegender Gedanke, daß, wenn es mir vergönnt ist, das mir als Außenwelt Gegebene durch eigene Geistestat in eine neue Gestalt überzuführen, ich nicht das mir in meinem Selbst Gegebene als unwiderruflich Verhängtes hinzunehmen verurteilt bin? Drängt sich nicht die Vermutung auf, daß auch dieses mein Inneres ebensogut wie, ja vielleicht noch mehr als jenes Äußere Möglichkeiten der Umbildung in sich schließt, wo nicht der Forderung solcher Umbildung untersteht? Und wir brauchen uns nicht weit von dem bisher Erörterten zu entfernen, um ein Beispiel dieser inneren Umgestaltung zu Gesicht zu bekommen. Ist es doch ausgeschlossen, daß jene Denkakte, die die Person zu vollziehen hat, damit die ihr begegnende Welt sich in ein Gefüge von „Sachen“ verwandle, sie selbst, das Subjekt dieser Denkakte, in der Verfassung beließen, in der sie sich befand, als diese Aufgabe noch vor ihr lag. Es kann nicht anders sein, als daß im Vollzuge dieser den Weltaspekt verwandelnden Prozeduren auch sie selbst, die Vollstreckerin dieser Prozeduren, eine andere wird, als sie vor dem Eintritt in diese Auseinandersetzung war und bei ihrem Unterbleiben sein würde. Das Selbst wandelt seine eigene Gestalt, indem es die Gestalt der Welt abwandelt! Was zunächst nur als Veränderung des Weltaspekts unsere Aufmerksamkeit auf sich zog, das wäre alsdann nur die eine Seite eines Gesamtvorganges, der als korrelativ hinzugehörige Gegenseite die am Selbst geschehende Veränderung umspannte.
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Veräußerlichung und Verinnerlichung Daß das Selbst, indem es die Welt zur „Sache“ umdenkt, zugleich in sich ein anderes werde – diese Annahme gewinnt den Charakter unumstößlicher Gewißheit, wenn wir uns daran erinnern, welches die Lage ist, aus deren Schoß sich dieses Verhältnis von Mensch und Welt entbindet. Um die Welt zur Sache reduzieren zu können, muß der Mensch mit ihr zuvor durch jenes Lebensverhältnis geeint gewesen sein, welches sich im „Umgang“ realisiert. Wie ist die Struktur des Vorganges zu denken, der stattfinden muß, damit aus dem ungeteilten Grunde dieses Lebensverhältnisses das Gegenüber jener zwei Parteien hervortrete, die wir als „Subjekt“ und „Objekt“ bezeichnen?8 Da es nicht angeht, einen von außen her kommenden Eingriff – etwa den Gewaltakt eines dem „Leben“ feindlichen „Geistes“ – für diese Aufspaltung verantwortlich zu machen, so kann es nicht anders sein, als daß jene Parteien in wechselseitiger Profilierung, d. h. indem die eine sich von der anderen abgrenzt (und vice versa), ihre Eigenständigkeit gewinnen. Als Prozeß der wechselseitigen Abhebung aber kann dies Geschehen nur dann gelten, wenn es auf beiden Seiten ein Neues ans Licht treten läßt, mithin auf der Seite des „Subjektes“ nicht weniger ein Vorgang der Verwandlung ist als auf der Seite des „Objekts“. So enthüllt sich die Korrelation, die die Umbildung des Weltaspekts an die Umbildung des Selbst bindet, als durch die Genesis des neuen Weltverhältnisses gefordert und gesichert. Was ist in diesen Überlegungen aus dem Gleichnis „Äußeres–Inneres“ geworden? Wie sich gezeigt hat, ist das „Äußere“ sowenig wie das „Innere“ ein vorgegebenes, vorgefundenes Medium, das der Mensch so, wie es ist, hinzunehmen und in dem er sich gehorsam einzurichten hätte; vielmehr ist die Scheidung des einen von dem anderen, das Auseinandertreten des der „Welt“ Zuzurechnenden und des dem „Selbst“ Angehörigen, sein eigenes Werk. Dieses Werk konnte nur zustande kommen, indem der Mensch die innige Gemeinschaft, die in der Phase des „Umgangs“ ihn an die Welt, die Welt an ihn verwies, aufkündigte und zwischen sie und sich den Abstand legte, der sich in eben dem Maße erweiterte und befestigte, wie sie sich zum „Objekt“ profilierte und er sich zum „Subjekt“ sublimierte. Das „Äußere“ ist das Resultat des „veräußerlichenden“, des die Sache vom Selbst abdrängenden Tuns – das „Innere“ ist die Frucht des „verinnerlichenden“, des das Selbst von der Sache distanzierenden Tuns.
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Drittes Kapitel Die Unangreifbarkeit von mathematischer Naturwissenschaft und Technik Ein Sündenfall? Wir haben mit der Kritik der Vorstellungen, die sich im Gefolge des Gleichnisses „Äußeres–Inneres“ notwendig einstellen, mehr gewonnen als den Ausschluß verbreiteter Vorurteile, die das von uns zu behandelnde Problem verdunkeln. Wir haben durch Abwehr des Irrtümlichen einen wesentlich tieferen Einblick getan in die Struktur der Beziehung, die der Mensch zwischen sich und der Welt herstellt, indem er sie zur „Sache“ reduziert. Und was uns damit zuteil geworden ist, das ist hinwiederum mehr als ein Zuwachs an theoretischer Klarheit. Der ganze Komplex von Fragen, die sich erheben, wenn das Verhältnis der „Bildung“ zu diesem Kreis von menschlichen Leistungen in Frage steht, kann nicht angemessen behandelt werden, solange nicht über die fragliche Korrelation vollkommene Klarheit besteht. Das Erste und Grundsätzliche, das erst auf dem Wege der von uns gesuchten Klärung entschieden werden kann, ist eine Frage, von deren Beantwortung es abhängt, ob die im Zeichen von Naturwissenschaft und Technik einhergehenden Bestrebungen es überhaupt verdienen, mit dem Problem der Menschenbildung in Verbindung gebracht zu werden, oder ob sie nicht durch ihren ureigensten Charakter jede unter diesem Gesichtspunkt erfolgende Prüfung sinnlos machen. Dieser Frage ist deshalb nicht auszuweichen, weil über die genannten Bestrebungen in der Tat ein Urteil ergangen ist, das der Verneinung ihrer pädagogischen Wertigkeit gleichkommt. Denn ohne Zweifel heißt es, diese verneinen, wenn man die Behauptung aufstellt, der Mensch habe, indem er von sich als „Subjekt“ die Welt als „Objekt“ schied und dieses Objekt in mathematische Relationen auflöste, der „Natur“ zuwider gehandelt, also einen Fehltritt begangen. Man kann, man darf nicht den Folgen eines Fehltritts die pädagogische Weihe geben. Kein Geringerer als Goethe ist es gewesen, der mit seinem Feldzug gegen die rechnende Naturwissenschaft als erster diese Losung ausgegeben hat und der auch in seinen eigenen pädagogischen Entwürfen nach Maßgabe dieser Losung verfahren ist. An Gesinnungsgenossen hat es ihm in der Folgezeit nicht gefehlt. Und gerade wir Heutige haben allen Grund, seine Polemik ernst zu nehmen. Denn gerade in unseren Tagen haben die Stimmungen und Meinungen, die seinem Verdikt recht geben, an Verbreitung und Stärke beträchtlich zugenommen – und zwar keineswegs bloß auf Grund der schmerzhaften Erfahrung, welche
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Wunden die mit der Naturwissenschaft verbündete Technik dem für ihre Ausbildung verantwortlichen Geschlechte schlagen kann. Wenn dem Menschen daraus ein Vorwurf gemacht wird, daß er dazu übergegangen sei, die Natur mathematisch zu berechnen und technisch zu verwenden, so liegt darin eine gewichtige Voraussetzung enthalten: die Voraussetzung, daß, so wahr er diesen Schritt nicht hätte tun sollen, er ihn ebensogut hätte unterlassen können, wie er ihn tatsächlich getan hat. Er habe, so meint man, die Wahl zwischen dem einen und dem anderen gehabt. Träfe diese Voraussetzung zu, so läge dem besagten Übergange eine Entscheidung des Menschen zugrunde. Nun haben wir in der Sphäre der „Zwecke“ bereits die Sphäre kennengelernt, in der die wählenden Entscheidungen zu Hause sind. Aber unmöglich kann die Entscheidung, auf die wir hier gestoßen sind, in dieser Sphäre ihren Ort haben. Denn diese Sphäre gibt es ja nur auf Grund der Tatsache, daß sich die Sphäre der Zwecke von der Sphäre der Mittel abgesondert hat, daß also die Entscheidung bereits zugunsten des beanstandeten Verfahrens gefallen ist. Die Entscheidung, die hier zum Vorschein kommt, schafft überhaupt erst die Möglichkeit aller der einzelnen Entscheidungen, die in der Sphäre der verselbständigten Zwecke gefällt werden. Sie ist im Verhältnis zu ihnen eine Entscheidung, die gleichsam eine Stufe tiefer, näher an den Ursprung heran, gelegen ist. Sie ist die Ur-Entscheidung, die alle jene besonderen Entscheidungen aus ihrem Schoße entläßt. Und diese Urentscheidung ist es, auf welche die oben wiedergegebene Anklage zielt. Sie wird im Lichte dieser Anklage zu dem originären Sündenfall, durch den der Mensch sein Dasein aus der Richte gebracht und ihm das Heer der im einzelnen zu beklagenden Heimsuchungen auf den Hals gezogen habe.
Mathematik und Natur Goethe 9 hat das, wodurch die mathematische Naturwissenschaft seinen Widerspruch herausfordert, in einer „Maxime“ niedergelegt, in der wir alles, was seitdem wider sie ins Feld geführt worden ist, wie in der Nuß zusammengefaßt finden. Sie lautet: „Als getrennt muß sich darstellen: Physik von Mathematik. Jene muß in einer entschiedenen Unabhängigkeit bestehen und mit allen liebenden, verehrenden, frommen Kräften in das heilige Leben derselben einzudringen suchen, ganz unbekümmert, was die Mathematik von ihrer Seite leistet und tut. Diese muß sich dagegen unabhängig von allem Äußeren erklären, ihren eigenen großen Geistesgang gehen und sich selber reiner ausbilden, als es geschehen kann, wenn sie wie bis9
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her sich mit dem Vorhandensein abgibt und diesem etwas abzugewinnen oder anzupassen trachtet.“ Was in dieser Auslassung zur Charakteristik der mathematischen Naturwissenschaft ausgesagt ist, das läßt sich ungesucht in zwei Gedanken zerlegen, die gesondert erwogen sein wollen. Erstens: Was uns in der mathematischen Naturwissenschaft unter dem Namen „Natur“ entgegentritt, das ist nicht dasselbe wie die Natur, die sich uns schenkt, wenn wir uns ihr „mit allen liebenden, verehrenden, frommen Kräften“ zuwenden, um mit ihrem „heiligen Leben“ eins zu werden. Jene „Natur“ ist das Resultat einer gedanklichen Be- und Verarbeitung, die diese ursprüngliche, diese mit uns einige Natur über sich ergehen lassen mußte. Zweitens: Diese Bearbeitung ist schon aus dem Grunde zu verneinen, weil sie die Mathematik in die Natur hineinträgt. Das ist eine unzulässige Vermischung von denkerischen Funktionen, die nur in strenger Sonderung das Ihre verrichten können. Die mit Physik infizierte Mathematik büßt ihre ideale Reinheit ein, die durch Mathematik deformierte Physik setzt eine methodische Fiktion an die Stelle des gesuchten Gegenstandes. Was Goethe in dem ersten Gedanken ausführt, das ist eine Wahrheit, die immer wieder ausgesprochen und beherzigt sein will, weil diejenigen nicht aussterben, die sich einbilden, die „Natur“ der mathematischen Naturwissenschaft sei einfach die gedankliche Wiedergabe dessen, was der Mensch, der aufmerksamen Blickes in die Wirklichkeit hineinschaue, als Natur vorfinde – sie komme dadurch zustande, daß er sie so, wie sie da ist, abschreibe. Es tut wahrlich auch heute noch not, den Unterschied und Abstand einzuschärfen, durch welche die mathematisch durchkonstruierte „Natur“ sich von der uns unmittelbar begegnenden Natur absetzt. Indes die Zustimmung zu dem ersten Gedankengang zieht keineswegs mit Notwendigkeit die Bejahung des zweiten nach sich. Auch wenn es feststeht, daß die Mathematik als solche eine Wissenschaft von „idealen Gegenständen“, also eine ohne Anleihen bei der Erfahrung auskommende Disziplin ist, ist damit noch nicht ausgemacht, daß in der nur der Erfahrung sich erschließenden Wirklichkeit keine die mathematische Fassung ermöglichenden oder fordernden Relationen sich müßten auffinden lassen. Ob die Natur eine von der Mathematik geleitete Verarbeitung zuläßt oder nicht: das ist eine Frage, die nicht durch eine negative Vorentscheidung abgeschnitten werden darf, sondern ihrerseits nur durch eine Anfrage bei der Erfahrung entschieden werden kann. Es ließe sich vorstellen, daß die Natur auf diese Anfrage in der Weise eine verneinende Antwort erteilte, daß sie durch die Regellosigkeit ihrer Erscheinungen jedes Versuches spottete, sie in Gesetze oder gar mathematisch präzisierte Gesetze zu fassen. Tatsächlich tut sie das bekanntlich nicht. Aber freilich: ob sie
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eine bejahende Antwort vernehmen läßt, das hängt davon ab, daß nicht nur überhaupt gefragt wird, sondern daß in der rechten Weise gefragt wird. Das würde z. B. dann nicht der Fall sein, wenn der Mensch sich damit begnügen wollte, auf die ihm begegnende Natur hinzuschauen, ob sich in ihr an irgendeiner Stelle mathematisch formulierbare Relationen auffinden ließen. Das wäre ein Verfahren, durch welches die Grenze des dem Umgang eigentümlichen „Probierens“ grundsätzlich nicht überschritten würde. Das wahrhaft Ingeniöse der Frageweise, durch die als Antwort das Ja der befragten Natur hervorgelockt wird, liegt, wie wir sahen, darin, daß das sie übende Subjekt die vermutete mathematische Beziehung in vorwegnehmender Konstruktion als „Hypothese“ formuliert und sich durch das „Experiment“ lediglich bestätigen („verifizieren“) läßt. Ist aber dieser Befragung der Natur wieder und wieder eine bejahende Antwort zuteil geworden – und die Geschichte der mathematischen Naturwissenschaft ist eine nicht abreißende Folge von solchen Bejahungen –, wie dürfte dann der Wissenschaft, die sich so millionenfach bestätigt findet, eine Vergewaltigung oder Verunstaltung der Natur schuld gegeben werden! Insofern ist die Geschichte der neuzeitlichen Naturwissenschaft eine einzige große Widerlegung des zweiten Gedankens, den wir aus der angeführten Maxime herausgelöst haben. Daß Goethe und mit ihm so mancher Verkleinerer der rechnenden Naturwissenschaft vor den nicht wegzuleugnenden Tatsachen der Wissenschaftsgeschichte seine Augen verschließt, das wird einigermaßen verständlich, wenn man in seiner Ablehnung die Reaktion erkennt, durch die eine nicht weniger hartnäckige Voreingenommenheit der Gegenseite beantwortet wird. Die vorwissenschaftliche, die fromm verehrende Begegnung mit der Natur wider jedes Hineinreden rechnender Naturbearbeitung in Schutz zu nehmen wird sich immer dann als unumgänglich erweisen, wenn Recht und Wert dieser ursprünglichen Naturhingabe im Namen der genannten Wissenschaft ausdrücklich in Abrede gestellt werden. Und das geschah mit Notwendigkeit in dem Augenblick, in dem die Wortführer dieser Wissenschaft sich der oben kritisierten Vorstellung hingaben, in den Ergebnissen ihrer Forschung nur die „wirkliche“, d. h. die in eben dieser Gestalt vorhandene und vorgefundene Natur abgeschrieben, nicht sie in ein methodisch gebautes Relationsgefüge umgeschrieben zu haben. Denn diese „realistische“ Auslegung des durch die eigene Forschung Erkundeten zog ja notwendig die Folgerung nach sich, daß jede Ansicht der Natur, die von der mathematisch strukturierten abweiche, eben dadurch sich als nicht real, also als trügerisch und der Verabschiedung würdig erweise. Von den Wortführern der mathematischen Naturwissenschaft dergestalt in dem, was ihm das Heiligste war, angegriffen und Lügen gestraft, konnte ein Geist nach Art des goetheschen nur mit einer ebenso radikalen Vernei-
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nung dessen antworten, wodurch der Angreifer die fromm verehrte Allmutter verdrängen wollte. So kam es, daß beide Parteien sich auf die Verleugnung dessen versteiften, was die Gegenseite vergötterte.
Subjekt-Objekt-Differenzierung Indem wir das Korrespondenzverhältnis aufklärten, das zwischen dem die Natur befragenden menschlichen Geist und der seine Frage beantwortenden Natur obwaltet, haben wir eine oben in allgemeiner Form aufgestellte These durch Einzelausführung präzisiert. Wir legten dar, daß das Gegenüber von Subjekt und Objekt sich nicht anders aus dem Grunde der ursprünglichen Lebenseinheit habe hervorarbeiten können als durch einen Vorgang wechselseitiger Abhebung, der Glied und Gegenglied in immer schärferen Umrissen hervortreten ließ. Es ist also durchaus nicht so, daß die eine Seite des Verhältnisses der anderen eine aus eigener Vollmacht dekretierte Form aufpreßte, es ist durchaus nicht so, daß das Subjekt – denn nur dieses könnte als Träger solcher Vollmacht fungieren – das Objekt aus einer widerstandslos duldenden Materie hervorbildete. Vielmehr ist jeder Schritt, den das Selbst auf dem Wege der fortschreitenden Versachlichung tut, nicht weniger legitimiert durch die von der Gegenseite her ergehende Aufforderung und Bestätigung als durch die auf der eigenen Seite treibende Energie des methodischen Denkens. Nur kraft dieser Entsprechung kann es geschehen, daß das Selbst, indem und dadurch daß es das Gegenüber zum Objekt des Denkens profiliert, zugleich sich selbst zum Subjekt des Denkens diszipliniert10. An der Einsicht in dies Wechselverhältnis aber begrenzt sich nun auch das Recht der Vorstellung, als habe es beim Menschen einer Art von „Urentscheidung“ bedurft, auf daß der Weg der Versachlichung der Natur betreten werde. Lassen wir uns den Begriff der „Entscheidung“ durch die Willensentschlüsse verdeutlichen, die der die Zwecke setzende Mensch im Angesicht der Welt der Mittel fort und fort zu fassen nicht umhin kann, dann leuchtet es ein, daß der von hier aus gewonnene Begriff der „Entscheidung“ unter keinen Umständen zur Klärung des Prozesses herangezogen werden darf, in dem der Mensch erst zum zwecksetzenden Wesen heranreift. Dieser Prozeß muß schon zu einem gewissen Abschluß gediehen sein, wenn Entscheidungen der genannten Art überhaupt möglich sein sollen. Sind doch diese Zweckentscheidungen durch eine Einseitigkeit des Verfügens gekennzeichnet, die das genaue Gegenteil ist der Wechselseitig10
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keit, die in dem auf sie hinführenden Werdegang obwaltet. Wer einen Vorrat von bereitliegenden Mitteln im Hinblick auf mögliche Verwendung mustert, der würde, aus zur Genüge erörterten Gründen, seine eigene Situation gröblich mißverstehen, wollte er von seinem Gegenüber ein Ja erwarten, das seiner eigenen Entscheidung recht gäbe. Er ist ganz auf sich selbst gestellt. Der Entwicklungsgang aber, durch den er zur Höhe dieser Entscheidungsvollmacht emporgeführt worden ist – er konnte nur durch ein Selbst vollzogen werden, das von Station zu Station durch sein Gegenüber der Richtigkeit seines Vorgehens versichert wurde. Hatten wir also schon deshalb Grund, den Vorwurf eines „Sündenfalls“ zurückzuweisen, weil die seiner schuldig gesprochene Wissenschaft nur ein im Verhältnis von Mensch und Welt uranfänglich Angelegtes aktualisiert, so wird dieser Vorwurf erst recht an der Feststellung zunichte, daß der die besagte Wissenschaft hervorbringende Mensch in den auf ihre Vollendung zielenden Akten gar nicht in dem Besitz der „Entscheidungs“-Freiheit ist, die ihm zu eigen sein müßte, damit diese Akte als sündig gebrandmarkt werden dürften. Was nicht weniger durch das dem Selbst gesellte Gegenüber als durch die dem Selbst einwohnende Denkenergie gefordert ist, das kann nicht einseitig dem Konto des Selbst als Schuldposten zugeschoben werden.
Technik und Produktion In dem Gedankengang, in dem die mathematische Naturwissenschaft von dem Vorwurf der Naturvergewaltigung entlastet wurde, ist mehr enthalten als die Rehabilitierung einer zu Unrecht in Anklagezustand versetzten Wissenschaft. Wie wir uns erinnern, sind Naturwissenschaft, Technik und technisch organisierte Produktion durch eine unlösbare Solidarität verknüpft. Auch Technik und Produktionsordnung sind, weil auf jenem Verhältnis von Mensch und Natur basierend, dessen Unsträflichkeit sich herausgestellt hat, grundsätzlich über jede Anfechtung erhaben. Allerdings ist hinzuzufügen: sie sind es nur so lange, wie die durch sie entwickelten Formen des Denkens und Handelns sich innerhalb der Grenzen der Sachwelt halten, an der sie sich herangebildet haben. Erliegen sie der Versuchung, diese Grenzen zu überschreiten, so lebt die Anklage mit abgewandelter Begründung wieder auf.
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Viertes Kapitel Sachbeherrschung und Menschenbildung Ausschaltung des Menschen? Indem wir den auf Herausarbeitung der Sachwelt zielenden theoretischen und praktischen Funktionen den Vorwurf der Naturwidrigkeit abnahmen, haben wir den prinzipiellsten unter den Einwänden entkräftet, durch die der „Bildungs“-Wert dieser Funktionen in Frage gestellt werden sollte. Wir haben eine Behauptung widerlegt, durch deren Bejahung jeder Gedanke an einen möglichen Bildungsertrag von vornherein ausgeschlossen wäre. Allein ist mit dieser Abwehr auch schon der Ausschlag zugunsten des fraglichen Bildungswerts gegeben? Ist eine Tätigkeit schon dadurch ihres „bildenden“ Charakters versichert, daß sie sich als in dem ursprünglichen Verhältnis von Mensch und Welt angelegt und vorgesehen auszuweisen vermag? Es möchte doch sein, daß diese Tätigkeit, obwohl aus sachlichen Gründen notwendig und gefordert, gleichwohl einer Rückwirkung auf das sie ausübende Selbst ermangelte, die durch das Prädikat „bildend“ ausgezeichnet zu werden verdiente. Warum sollte es nicht Betätigungsformen geben, die notwendig, unverwerflich und gleichwohl nicht „bildend“ wären? In der Tat meint man an der in Rede stehenden Tätigkeit Wesenszüge zu entdecken, die geeignet sind, dem Zweifel an ihrer „bildenden“ Wertigkeit Nahrung zu geben. Je mehr sich die auf Herausarbeitung der Sache ausgehende Bemühung ihrem Ziele nähert, je schärfer sich die Konturen der Sache aus den Gesichten der im Umgang begegnenden Natur herausheben, um so mehr sehen wir aus dem Bilde des dem Menschen gesellten Gegenüber jede Spiegelung dessen, was ihm als dieser bestimmten Person eigentümlich ist, verschwinden. Die im Umgang ihm begegnende Natur war „seine“ Natur, d. h. die Natur, wie sie sich gerade und nur ihm, dem so und nicht anders gearteten Individuum, zu eigen geben konnte. Durch sie konnte er sich als dieser eine und einzige angesprochen fühlen; in ihr konnte er sich als diesen einen und einzigen bestätigt finden. Die zur Sache gewordene Natur ist „die“ Natur, d. i. die Natur, wie sie sich jedem ihr zugekehrten denkenden Subjekt ohne Unterschied präsentiert. Sie kennt keine Rücksicht auf das persönliche Sein; in ihr ist jede den konkreten Menschen einbeziehende Bindung ausgelöscht. Dasselbe vom Standpunkt des Menschen aus gesehen: der Mensch zieht sich aus der Natur zurück; er läßt in ihrem Bilde alles das sich verflüchtigen, was von seinem Einverständnis mit ihr Zeugnis ablegt. Jede Spur dieses Einverständnisses, die zurückbliebe, würde ja einem Abbruch an der Reinheit der Sache
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gleichkommen. In diesem Sinne darf der Prozeß der „Versachlichung“ ein solcher der „Entmenschlichung“ heißen. Wenn aber der konkrete Mensch in der Ausübung der in Rede stehenden Tätigkeit sich um so gründlicher verleugnet, je weiter er in ihrem Vollzuge vorwärtskommt, wenn er im Fortschreiten seiner Bemühung gleichsam der Sache immer mehr das Feld räumt, dann muß doch wohl, so denkt man, auch seine „Bildung“, die doch nur als Verfassung des ganzen, des konkreten Menschen verstanden werden kann, bei dieser Weise menschlicher Betätigung leer ausgehen. Ihre Ausübung scheint einer befristeten Suspension des Bildungsprozesses gleichzukommen. Der Mensch wäre demnach am Abschluß dieser Exkursion in ein völlig neutral-unpersönliches Land zuletzt derselbe, der er bei ihrem Antritt war – um ein indifferentes Sachwissen bereichert, aber als Person sich gleichgeblieben. Man kann dieser Überlegung nicht nachgehen, ohne die humboldtische Statuierung eines „Äußeren“, an das der Mensch sich nicht hingeben könne, ohne daß sein „Inneres“ darben müßte, in veränderter Form wieder aufleben zu sehen. Daß die hier wiedergegebene Auffassung bis in die jüngste Gegenwart hinein so breite Gefolgschaft hat finden können, dazu haben alle die modernen Denker das Ihrige getan, die der rechnenden Naturwissenschaft mit den bereits erörterten Einwänden begegnen. Den prägnantesten Ausdruck finden ihre Bedenken in den auf die Menschenbildung bezüglichen Gedanken M. Schelers. In aller Schärfe unterscheidet er von dem „Bildungswissen“ dasjenige, was er das „Leistungs- und Herrschaftswissen“ nennt. Er meint damit jenes Wissen, welches der Mensch in der Naturwissenschaft erwirbt und in der Technik auswertet. Ist diese Disjunktion einmal als treffend anerkannt, dann sind Naturwissenschaft und Technik endgültig aus dem Bereich möglicher Bildungswirkung ausgeschlossen. Sie sind selbst zu lediglich „technisch“ zu bewertenden Hilfsvorrichtungen degradiert.
Der Wille zur Sache Indes die wiedergegebene Vorstellung krankt an demselben Übel wie die durch das Gleichnis „Äußeres–Inneres“ eingegebene: sie bleibt an räumlichen Anschauungshilfen hängen, die gerade überwunden werden müssen, wenn der Sachverhalt, um den es geht, unentstellt herauskommen soll. Ist man des Glaubens, daß der Mensch um so mehr zurückweichen müsse, je mehr die Sache hervortritt, so stellt man sich Mensch und Sache als Konkurrenten vor, die sich in ein begrenztes Gelände zu teilen haben. Natürlich kann alsdann der eine nur so viel gewinnen, wie der andere aufgibt. Aber die Tätigkeit, deren es bedarf, damit die Sache zum Vorschein
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komme – von wem wird sie denn ausgeübt, wenn nicht von dem konkreten Selbst, das aus ihrem Ergebnis nicht sowohl ausgeschaltet wird als vielmehr sich selbst ausschaltet! Es ist die im konkreten Selbst und nur in ihm wurzelnde Motivation, durch die der Wille zu dieser Selbstausschaltung nicht nur wachgerufen, sondern auch für die Dauer der Sachbearbeitung rege erhalten wird. Es ist dieser Wille, durch den im Selbst alles das niedergehalten wird, was dem Vordringen zur Sache hinderlich sein könnte: alle die Regungen der Schwäche, der Unlust, der Verstimmung, der Begehrlichkeit, denen das Selbst nicht nachgeben könnte, ohne die Fühlung mit der Sache zu verlieren. Nicht weil das konkrete Selbst zurücktritt, sondern weil und solange es mit unnachsichtiger Strenge diese Zensur an den Wallungen seines Innenlebens ausübt, kann die strenge Lineatur der Sache sich mit ständig zunehmender Schärfe von dem Auf und Nieder der seelischen Bewegung ablösen. Daß das konkrete Selbst es ist, welches nicht durch vorübergehende Stillegung, sondern durch stetige Anspannung seiner Energien den Aufgang der Sache bewirkt, das zeigt sich daran, daß das nämliche Selbst nicht daran denkt, den Ertrag des Bemühens der Sache gutzuschreiben – als hätte sie sich ohne sein Zutun zur Kenntnis gebracht –, vielmehr als sein ureigenstes Verdienst zu buchen keinen Anstand nimmt. Mit gutem Grunde! Hat es doch den Sieg errungen über den Widerstand der Triebe, Hänge, Leidenschaften, die den Menschen an sich selbst fesseln, auf sich selbst beschränken, in sich selbst einschließen möchten, und sich so zum Organ des reinen, des allgemeinen Denkens emporgeläutert! Ist es doch mit diesem Aufstieg der Wahrheit ansichtig geworden, die nicht ihm als diesem Einzelnen, sondern dem Denken überhaupt und schlechthin zugehört! Was die hierzu erforderliche Anspannung der Kräfte im Selbst hervorbringt, das ist der „Wille zur Sache“, d.h. der Wille, die Sache in ihrer Reinheit zum Reden zu bringen. Wenn wir hervorhoben, daß der Fortgang der Sacherschließung, obwohl einem den Menschen mit sich fortreißenden Verhängnis gleichend, doch in seiner ganzen Erstreckung reine Geistestat sei, so lernen wir in diesem Willen die Macht kennen, als welche diese Freiheit sich realisiert. Der Mensch ist frei, weil nicht die Sache es ist, die ihn an sich bindet, sondern sein Wille es ist, der sich an die Sache bindet. Von dieser Freiheit gilt das gleiche wie von der Subjekt-Objekt-Relation, in deren Ausbau sie sich betätigt: sie ist nicht fertig „da“ wie eine Kraft, die man so, wie sie ist, bloß einzusetzen brauchte, sondern bildet sich aus dem als „Umgang“ erfahrenen Lebensverhältnis in eben dem Maße hervor, wie die wechselseitige Abhebung von Subjekt und Objekt fortschreitet. Besser gesagt: es ist ein und derselbe Aufstieg, der als Werden der Subjekt-ObjektDifferenzierung und als Werden der Freiheit gesehen werden kann.
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Wesen und Tragweite dieser Freiheit zu erhellen ist nichts so geeignet wie der Vergleich der Lebenssituation des Menschen mit derjenigen der ihm am nächsten stehenden Tiere. Die Grenze dessen, was man mit einem sehr anfechtbaren Ausdruck als „tierische Intelligenz“ bezeichnet, ist haargenau markiert durch die Feststellung, daß auch das am höchsten organisierte Tier es nicht fertigbringt, seine Triebverhaftung auch nur für die kürzeste Zeitspanne so zu suspendieren, daß es die Sache in ihrer Reinheit zu Gesicht bekommen könnte. Es bleibt im Bann des „Umgangs“ befangen – aber eines Umgangs, der sich von dem dem Menschen vergönnten dadurch unterscheidet, daß er den Übergang zur Subjekt-Objekt-Spaltung nicht offenläßt, geschweige denn begünstigt, sondern ausschließt. Die Ergebnisse der „Umwelt“-Forschung lassen über die Undurchbrechbarkeit der Bindung, die das Tier an „seine“ Welt fesselt, keinen Zweifel11.
Die „bildende“ Rückwirkung Daß das Hervortreten der Sachwelt nicht ein Zurückweichen, sondern eine äußerste Kräfteanspannung des Selbst zur Voraussetzung hat, das bestätigt sich in schlagender Weise, wenn wir unseren Blick auf den Gesamtprozeß richten, in dem die Sachwelt zu jener vollkommenen Ausgestaltung durchgedrungen ist, die sie in der mathematischen Naturwissenschaft gefunden hat. Er zeigt uns, daß Theorie und Praxis der „Veräußerlichung“ es erst in einer späten Stunde der Menschheitsgeschichte zu dieser methodischen Vollendung gebracht haben. Das wäre doch unbegreiflich, wenn die Natur sich dem sie umwerbenden Geist ohne sonderliche Widerstände ergäbe. Die Geschichte der einschlägigen Geistesmühen ist die Geschichte eines unsäglich anstrengenden und langwierigen Ringens um die immer von neuem dem Blick entschwindende, dem Griff entgleitende Natur – ist die Geschichte so gut der Fehlschläge und Enttäuschungen wie der Erfüllungen und Triumphe. Undenkbar, daß dieser dornige Weg durch die Jahrtausende hindurch so unermüdlich und erfolgreich verfolgt worden wäre, wenn es zuträfe, daß, je reiner in diesem Streben die Sache hervortritt, um so mehr der Mensch aus dem Vorgang der Sachgewinnung ausscheide. Denn dann müßten wir annehmen, daß er, was die Bemühung um die Sache angeht, sich seit dem siebzehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung immer gründlicher zur Ruhe gesetzt habe. In Wirklichkeit verhält es sich genau umgekehrt: Art und Maß seiner geistigen Anspannung kommen um so unübersehbarer zur Geltung, je besser es ihm gelingt, aus dem Th. Litt, Die Sonderstellung des Menschen im Reich des Lebendigen, Wiesbaden 1948. 11
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Ergebnis seines Denkens das eigene Selbst verschwinden zu machen. So läßt uns die Weltgeschichte des Geistes im Freskostil dasjenige erkennen, was schon die Analyse der im Einzelmenschen geschehenden Wandlung lehrte: daß die Sache immer vollständiger, immer schärfer umrissen in den Horizont des Menschen einrückt, das ist nicht ein Zeugnis der Abdankung, sondern des intensiven Einsatzes seiner selbst. Wie widersinnig ist es also, aus dem Umstande, daß die Früchte dieses geistigen Eroberungszuges nichts von dem verraten, der ihn vollführt, den Schluß ziehen zu wollen, daß er für ihn als Person ohne Belang sei und daher zu seiner „Bildung“ nichts beitrage! Weit gefehlt! Je weniger das Selbst im sachlichen Ergebnis von sich zu entdecken vermag, um so fester darf es vertrauen, im Mühen um dies Ergebnis auch sich selbst vorwärtsgebracht, ja, recht eigentlich „gebildet“ zu haben. Der „Veräußerlichung“, die sich im Ergreifen der Sache vollendet, gebührt ein Ehrenplatz im Kreise der Betätigungen, die in der „Bildung“ der als Ganzes gesehenen Menschheit zusammenwirken. Und wenn man sich von dem Daß und dem Wie dieser Bildung des „Inneren“ am „Äußeren“ und durch das „Äußere“ überzeugt hat, dann fühlt man sich versucht, in dem Tun des so sich Bildenden eine Äußerung jenes „lebhaften Triebes“ zu finden, dem Goethes ungeteilter Beifall gilt: des Triebes, „mit der Welt verbunden ein Ganzes zu bilden“. So enthüllt sich die theoretisch-praktische Einstellung, mit der sich Goethe so gar nicht befreunden kann, als Erfüllung einer von ihm selbst erhobenen Grundforderung.
Fünftes Kapitel Mittel-Zweck-Korrelation und Menschenbildung Gleichgültigkeit der Mittel? Selbst wenn man sich dazu versteht, den Vorgängen, in denen die theoretische und praktische Herrschaft über die „Sache“ errungen wird, eine „bildende“ Wirkung zuzuerkennen, sind die Bedenken, die im Namen der Pädagogik wider diesen ganzen Bereich erhoben werden, noch nicht ausgeräumt. Sie nehmen, aus der bisher gehaltenen Position vertrieben, folgende Gestalt an. Durch die Tatsache, daß der Mensch im Ringen um die Sache zugleich an sich selbst „bildet“, wird nichts daran geändert, daß er, mit diesem Ringen ans Ziel gelangt, lediglich die Verfügungsgewalt über einen Vorrat an Mitteln erworben hat, dagegen hinsichtlich der Zwecke, für die diese Mittel einzusetzen wären, vollkommen unerleuchtet und daher entgegen-
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gesetzten Möglichkeiten ausgeliefert ist12. Ob er die errungene Macht den gediegensten oder den windigsten Projekten, den edelsten oder den verruchtesten Vorhaben dienstbar macht, das hängt einzig und allein von seiner persönlichen Entscheidung ab. Dabei ist zu beachten, daß ein jedes Vorhaben des Menschen durch Bereitstellung der ihm dienstbaren Mittel nicht bloß die äußere Möglichkeit der Durchführung gewinnt, sondern auch in seiner seelischen Durchschlagskraft erheblich gesteigert wird. Weiß ich, daß es in meiner Macht steht, ein mir am Herzen liegendes Unternehmen durchzuführen, so muß und wird der Gedanke an dies Unternehmen in meinem Gemüt ganz anders die Oberhand gewinnen, als es dann der Fall sein würde, wenn seine Ausführbarkeit mir zweifelhaft oder gar seine Unausführbarkeit mir zweifellos wäre. Die Verfügung über die Mittel, die einen Zweck ausführbar machen, erhöht den Hitzegrad der Leidenschaft, die dieser Zweck in mir entzündet. Und auch von dieser Steigerung gilt es, daß sie allen denkbaren Zwecken, den verwerflichsten so gut wie den löblichsten, gleichmäßig zustatten kommt. Es kann sein, daß sie den Menschen in solchen Entwicklungstendenzen bestärkt und fördert, in deren Verfolgung sein Menschentum zur Wohlgestalt heranreift. Es kann aber ebensogut sein, daß sie sein Trachten auf Abwege verleitet, durch deren Verfolgung sein Menschentum sich zu greulicher Mißgestalt verzerrt. Wie wäre es angängig, ein in sich so richtungsloses Vermögen den an der Menschenseele „bildenden“ Mächten zuzurechnen! Könnte es doch im Hinblick auf seine negativen Möglichkeiten mit gleichem Recht ein „ver-bildendes“ heißen. Nicht darauf kommt es an, welche Mittel der Mensch beherrscht, sondern welche Zwecke er sich setzt. Ist es mit seiner Zwecksetzung in Ordnung, so braucht man sich um Art und Maß seiner Mittelbeherrschung keine Gedanken zu machen. Hat er es umgekehrt in der Mittelbeherrschung erstaunlich weit gebracht, so ist über seine Zwecksetzungen und damit über sein Menschenturn noch nicht das mindeste ausgemacht. In den hier wiedergegebenen Überlegungen erlebt die Theorie, die von dem „Inneren“ des Menschen ein im Verhältnis zu ihm indifferentes „Äußeres“ abspaltet, in veränderter Form ihre Auferstehung. Die Stelle des „Äußeren“ nimmt jetzt das Insgesamt der Mittel ein, über deren Verwendung im „Inneren“ des zwecksetzenden Menschen die Entscheidung fällt. Für die „Bildung“ ist entscheidend, was im Inneren geschieht, nicht was mit dem Äußeren angefangen wird.
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Die Mittel-Zweck-Korrelation Aber wer nur die Zwecke in das Reich der Bildung aufnimmt, hingegen die Mittel aus ihm ausschließt, der reißt Zusammengehöriges in eben jener mechanischen Weise auseinander, für die das Haften an räumlichen Vorstellungen so charakteristisch ist. Jene seelischen Inhalte, denen wir den Namen „Zweck“ beilegen, sind nur dann dasjenige, als was sie mit diesem Wort bezeichnet werden, wenn sie dem sie in sich hegenden Menschen nicht lediglich als lockende Wunschbilder vorschweben, an denen sich das Gemüt erwärmt, sondern seinen Willen auf sich verpflichten. „Zweck“ zu heißen verdient nur ein mit vollem Ernst ergriffenes und mit aller Zähigkeit verfolgtes Willensziel. An diesem Ernst würde aber ein Wesentliches fehlen, wollte der diesem Zweck zugeschworene Mensch nicht alles tun, um der die Zweckrealisierung ermöglichenden Mittel kundig und mächtig zu werden. Gleichgültigkeit gegen die Mittel käme der Untreue gegen den Zweck gleich. Natürlich hat von der Nachhaltigkeit der Bemühung um die Mittel auch der verwerfliche Zweck den Vorteil. Aber ohne sie würde auch der bejahungswürdigste Zweck aufhören, echter Zweck zu sein; er würde sich in die Unverbindlichkeit müßiger Wunschphantasien auflösen. So enthüllt sich die redliche Sorge um die Mittel als condicio sine qua non auch derjenigen Zwecke, die um ihrer positiven Wertigkeit willen in das Reich der Bildung aufgenommen werden sollen. In der Unzulässigkeit der hier bekämpften Abtrennung zeigt es sich abermals, wie unstatthaft es ist, in dieser Problemdimension Scheidungen von der Art als ursprünglich gegeben vorauszusetzen, wie sie für den Aufbau der Raumwelt (die ihre Teilräume streng auseinanderhält) konstitutiv sind. Es ist sinnlos, von „Zwecken“ zu reden, als ob sie auch ohne Beziehung auf mögliche „Mittel“ das sein würden, als was sie mit diesem Wort bezeichnet werden; es ist sinnlos, von „Mitteln“ zu reden, als ob sie auch ohne Beziehung auf mögliche „Zwecke“ das sein würden, als was sie mit diesem Wort bezeichnet werden. Das ist mehr als eine Explikation von Wortbedeutungen; es ist Aufweis eines realen Sachverhalts. Nicht so verhält es sich, daß der Mensch zunächst in seinem „Inneren“, ohne Rücksicht auf mögliche Realisierung, Zwecke setzt und dann erst sich im „Äußeren“ umschaut, ob sich wohl Mittel zu ihrer Realisierung ausfindig machen ließen. Sondern zum „Zweck“ verdichtet sich das ihm zunächst in schwankenden Umrissen Vorschwebende erst dadurch, daß es mit den in der Außenwelt sich anbietenden Möglichkeiten in eins gedacht und im Hinblick auf sie präzis umrandet wird. Und nicht so verhält es sich, daß der Mensch zunächst im „Äußeren“, ohne Rücksicht auf mögliche Verwendung, Mittel aufhäuft und dann erst in seinem „Inneren“ die Frage
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aufwirft, welche Zwecke sich mit ihrer Hilfe realisieren ließen. Sondern zum „Mittel“ verfestigt sich das ihm zunächst in fließender Unbestimmtheit Begegnende erst dadurch, daß es mit den in der Seelenwelt sich regenden Begehrungen in eins gedacht und im Hinblick auf sie präzis umrandet wird. Die Sonderung von Mittel und Zweck ist also nicht schon mit der Ausgangslage gegeben, in der der Mensch, wenn er die Augen aufschlägt, sich vorfindet, sondern das Endergebnis einer Entwicklung, die er selbst von der der Differenzierung voraufliegenden Ausgangslage her in Gang bringt und zu diesem Ziele vorwärtstreibt. Die Korrelation des scharf umrissenen Zwecks und des scharf umrissenen Mittels ist der Abschluß einer Bewegung, in deren Verlauf sich Glied und Gegenglied mit stetig zunehmender Bestimmtheit voneinander absetzen. Damit erkennen wir, daß die Mittel-Zweck-Korrelation nichts weiter ist als ein neuer Aspekt jenes Systems von Beziehungen, dessen Bau uns zuerst in dem Gegenüber von Subjekt und Objekt vor Augen trat. In eben dem Maße, in dem das Subjekt das Objekt von sich abrückt, trennt sich der in und mit der Objektwelt präsente Vorrat der Mittel von dem im Subjekt sich ausformenden Kosmos der Zwecke. Wiederum dient es der Verdeutlichung dieses reichgegliederten Gefüges, wenn wir uns vergegenwärtigen, mit welcher Strenge selbst das höchstorganisierte Tier für die Dauer seines Lebens in eine Situation gebannt ist, die die entsprechende Differenzierung bedingungslos ausschließt.
Zweideutigkeit und Entscheidung Mit der Einsicht in den Bau dieses Gefüges erhellt die Abwegigkeit einer Auffassung, die dem Reich der „Bildung“ nur die Zwecke zuweisen, dagegen die Mittel fernhalten möchte. Der Begriff eines Zweckes, der losgelöst vom Mittel in sich seinen Bestand hätte und daher unter Zurücklassung des letzteren in das Reich der Bildung einziehen könnte, ist ein Unbegriff. Um bejahenswerte und deshalb als „bildend“ anzuerkennende Zwecke setzen und verfolgen zu können, muß der Mensch ein Wesen sein, das überhaupt und im allgemeinen Zwecke zu setzen imstande ist. Der Begriff des Zwecke setzenden Wesens aber fällt mit dem des Mittel bestimmenden Wesens zusammen. Die „Bildung“ des Menschen setzt also nicht erst dann ein, wenn er aus der Vielzahl der ihm als möglich vorschwebenden Zwecke durch wählende Entscheidung die bejahenswerten adoptiert und die verneinenswerten ausscheidet. Sie hebt schon dann an, wenn er durch die Differenzierung von Mitteln und Zwecken die Voraussetzung schafft, von der die Möglichkeit jener Wahlentscheidung abhängt. Wieder ist es jene angebliche „Ur-Entscheidung“, bis zu der mit der Be-
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trachtung zurückgegangen werden muß, wenn das „bildende“ Geschehen unverkürzt zum Vorschein kommen soll. Wenn aber durch diese „Ur-Entscheidung“ dem Menschen nicht weniger die Möglichkeit zu solchen Zwecksetzungen, durch die er sich selbst verunstaltet, als die Möglichkeit zu solchen Zwecksetzungen, durch die er sich selbst vollendet, erschlossen wird, so hüte man sich, diese Zweideutigkeit als dem Interesse der „Bildung“ zuwiderlaufend zu beklagen! Denn angenommen, daß die erste, die negative Möglichkeit entfiele, angenommen also, daß jene „Ur-Entscheidung“ nur zu den bejahenswerten Zwecksetzungen den Zugang eröffnete, dann würde der Mensch im Akt der Zwecksetzung dasjenige entbehren, was vom Begriff der Bildung nicht abzutrennen ist: die Freiheit!13 Er könnte gar nicht anders als nur das seinem Menschentum Zuträgliche anstreben, nur das seine Bildung Fördernde aufsuchen. Seiner Entscheidung wäre gerade dasjenige genommen, was ihr das Gewicht und die Spannung des Schicksal- und Wesenbestimmenden verleiht. Wäre sie doch alsdann nicht Entscheidung zwischen zu Bejahendem und zu Verneinendem, Aufbauendem und Zerstörendem, sondern nur Entscheidung zwischen Spielarten des der Bejahung und Förderung Würdigen. Deshalb gehört wie die Welt der Mittel überhaupt so auch die dieser Welt eigentümliche Zweideutigkeit mit in den recht verstandenen Begriff der „Bildung“ hinein. Ja, einen Schritt weitergehend dürfen wir behaupten: erst dann gewinnt die der Entscheidung obliegende Wahl zwischen „Gut“ und „Böse“, diese auch sub specie des Bildungsgedankens zentrale Begebenheit, ihre letzte Schärfe, erst dann tritt an ihr der Ernst des Ausschlaggebenden und Schicksalstiftenden unübersehbar hervor, wenn die Differenzierung von Mitteln und Zwecken zur Vollendung gediehen ist. Denn gerade dann und nur dann setzt sich das, was Sache des Menschen und nur des Menschen ist, mit unüberbietbarer Klarheit von dem ab, was auf der Seite der Welt zu Hause ist. Je vollkommener sich die sachgewordene Welt zu der das Mittel als solches kennzeichnenden Unparteilichkeit neutralisiert, um so weniger kann sich der Mensch über Tragweite und Verantwortung der ihm auferlegten Entscheidung täuschen. Durch die stumme Fühllosigkeit, mit der die Welt der Mittel ihm entgegenstarrt, wird er recht eigentlich auf sich selbst zurückgeworfen. Vollmacht und Würde, Gewissensnot und Verzweiflung des zur Selbstbestimmung entbundenen Wesens kann er erst dann ohne Abzug und Milderung erfahren, wenn er erkennen muß, wie gnadenlos die Welt es ablehnt, ihm von seiner Wahlentscheidung auch nur das mindeste abzunehmen. So wenig kann davon die Rede sein, daß von der Heraussonderung des 13
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Reichs der Mittel das Anliegen der Menschenbildung überhaupt nicht oder nur am Rande berührt würde!
Utilität? Die unverbrüchliche Strenge, mit der das Reich der Mittel gegenüber den möglichen Zwecken seine Neutralität wahrt, muß man sich auch dann gegenwärtig halten, wenn über das Recht einer in Humanistenkreisen weitverbreiteten Meinung entschieden werden soll, die wir bereits kennen: der Meinung nämlich, daß, wer sich mit der „Außenwelt“ abgebe, wer sich mit den auf diese Außenwelt bezüglichen Doktrinen und Praktiken einlasse, sich damit unweigerlich dem Geist der „Nützlichkeit“ verschrieben habe. Diesem Geiste aber huldigen: das heiße der Sphäre des Humanen den Rücken kehren. Denn diese beginne erst da, wo dem Guten, Wahren, Schönen nur um seiner selbst willen und unter Fernhaltung aller Nützlichkeitserwägungen gedient werde. Was ist mit dieser Behauptung geschehen? Die Neutralität der Welt der Mittel ist aufgehoben. Es ist ihre Solidarität mit einer bestimmten Klasse von Zwecken, nämlich den sog. „utilitarischen“, proklamiert. Sie ist mit diesen Zwecken so gekoppelt, als ob sie nur in Relation auf sie die Mittelfunktion ausüben, zu allen anders gearteten Zwecken aber überhaupt nicht in Beziehung treten könne. An dieser Meinung ist so viel richtig, daß man mit „äußeren“ Mitteln nur solche Zwecke realisieren kann, die selbst wieder die Gestalt von Vorgängen in der Außenwelt haben. Es trifft ferner zu, daß unter diesen Vorgängen diejenigen, die man aus Gründen der „Utilität“ verwirklicht zu sehen wünscht, einen breiten Raum einnehmen. Allein ist es eigentlich in Ordnung, Zwecksetzungen schon aus dem Grunde über die Achsel anzusehen, weil sie sich nicht als unmittelbar dem Kultus des Guten, Wahren, Schönen zugehörig legitimieren können? Ist es sinnvoll, solche Zweckhandlungen zu disqualifizieren, die unweigerlich stattfinden müssen, damit der Mensch im elementaren Sinne des Wortes existieren könne? Der Satz „primum vivere, deinde philosophari“ behält doch wohl deshalb sein gutes Recht, weil man nur dann dem Wahren, Guten, Schönen dienen kann, wenn diejenigen „äußeren“ Zwecke gesetzt und Mittel eingesetzt werden, mit deren Ausfall die Möglichkeit der Selbsterhaltung aufgehoben wäre. Nur zu leicht vergißt der Diener des „reinen“ Geistes, wie groß die Zahl, wie schwer die Mühsal derjenigen ist, die auf die Entzückungen dieses Geistes Verzicht leisten müssen, auf daß er selbst, entbunden von der Plackerei der Arbeitsfron, seines priesterlichen Amtes walten könne. Ist es billig, diejenigen aus dem Tempel der
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Humanität zu verweisen, ohne deren Arbeitsschweiß es diesen Tempeldienst nicht geben würde? Aber es heißt die Disqualifikation der in der äußeren Welt sich realisierenden Zweckhandlungen in einer noch grundsätzlicheren Form überwinden. Der Fehler der zu prüfenden Denkweise liegt ja schon darin, daß sie überhaupt die äußeren Mittel mit einer bestimmten Klasse der durch sie zu realisierenden Zwecke koppelt, statt sich klar zu machen, daß sie überhaupt nicht „Mittel“ sein würden, wenn sie als solche so einseitig festgelegt wären. In Wahrheit kann davon keine Rede sein, daß alle durch „äußere“ Mittel zu realisierenden Zwecke um dieses ihres Zustandekommens willen solche von utilitarischer Art sein müßten. Es können durch Einsatz äußerer Mittel Zwecke verwirklicht werden, die, durch den selbstlosesten Edelmut eingegeben und mit entsagungsvollster Opferwilligkeit verfolgt, jeden Verdacht utilitarischer Berechnung zum Schweigen bringen. Natürlich kann es geschehen, daß, wer an der „äußeren“ Welt das Feld seiner Tätigkeit hat, auch in den Zwecken, denen seine Tätigkeit sich unterstellt, so im „Äußerlichen“ hängenbleibt, wie es ihm mit der Beilegung des Prädikats „utilitarisch“ nachgesagt werden soll. Aber dafür ist dann nicht die Äußerlichkeit der Materie, mit der er umgeht, verantwortlich zu machen, sondern gerade sein „Inneres“, das heißt die Motivationen, die in ihm die Herrschaft führen und die sich in den von ihm bevorzugten Zwecksetzungen ausprägen. Daß die Befangenheit in äußerlich-utilitarischen Zwecksetzungen von der Beschäftigung mit äußeren Mitteln durch einen scharfen Schnitt getrennt werden muß – diese Notwendigkeit wird dann erst recht einleuchten, wenn man sich überzeugt, daß der analoge Schnitt auch im Bereich des „Inneren“ geführt werden muß, wenn fehlgehende Ineinssetzungen vermieden werden sollen. Es ist durchaus nicht an dem, daß, wer den Kern seiner Lebenstätigkeit ausschließlich an Angelegenheiten und Wertgehalten der „inneren“ Welt hat, durch den Umgang mit dem Wahren, Guten, Schönen wider das Verfallen an äußerlich-utilitarische Zwecksetzungen immunisiert würde. Die Beweise des Gegenteils stehen in beschämender Fülle zu Gebote. Nicht das Was der den Menschen für sich fordernden Tätigkeit, das Wie der sie beseelenden Gesinnung entscheidet darüber, ob er in ihrer Ausübung sich selbst gewinnt oder verliert.
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Sechstes Kapitel Die Antinomie der Menschenbildung Rehabilitierung unserer Lebensordnung Aber haben wir nicht, indem wir dem Versuch entgegentraten, das Ganze der auf die Sachwelt, bezogenen Tätigkeiten aus dem Reich der „Bildung“ zu verbannen, im Grunde nur dasselbe getan wie die oben kritisierten pädagogischen Reformer – wie jene Vorkämpfer einer „realistischen“ Erziehung, die alles in beste Ordnung gebracht zu haben glaubten, wenn sie die einschlägigen Materien auf Grund des ihnen angeblich eignenden „Bildungswertes“ den anerkannten humanistischen Bildungsgütern als Vervollständigung anreihten? Haben wir nicht – was im Kern dasselbe wäre – die Bedenken, durch welche die klassischen Humanitätsdenker bewogen wurden, jene Materien fernzuhalten, als gegenstandslos abgewiesen14? Die Antwort auf diese Frage ist nicht in einem Satze zu geben. Sie will in mehrere Teilantworten zerlegt sein. In einer Hinsicht sind die Apostel der Humanität in der Tat widerlegt und die „realistischen“ Bildungstheoretiker gerechtfertigt worden. Als unhaltbar hat sich die Meinung und Vorstellung erwiesen, die in dem Heraufsteigen der technisierten Arbeitswelt die Folge eines Fehltritts erblicken will, durch die der Mensch seinem Auftrag untreu geworden sei. Als Fehltritt kann nicht verurteilt werden, was nur Erfüllung einer den Menschen an die Welt und sie an ihn verweisenden Beziehung ist. Was Goethe als ein zu beklagendes Übel sich in die Menschheit meint „einschleichen“ zu sehen, das ist in Wahrheit die Einlösung eines Versprechens, das dem Menschen als dem Pflegling und Partner der Welt in die Wiege gelegt wurde. Alles, was zur Verwirklichung dieses Versprechens geschieht, ist über den Verdacht erhaben, Abirrung von der Bahn des Menschlichen zu sein. In dem Reich des „Humanen“ hat es volles Bürgerrecht. Daß diese Wahrheit eingeschärft werde, das tut heute mehr not denn je – und zwar nicht zum wenigsten aus pädagogischen Gründen. Denn das, was die Generation Goethes wider die Maschinenwelt auf dem Herzen hatte, hat sich in den seitdem verstrichenen Menschenaltern zu einer Klageweise verdichtet, die immer wieder von Poeten, Literaten, Philosophen, auch von einzelnen Theologen den Zeitgenossen in die Ohren gesungen 14 Zu Kapitel 6: H. Nohl, Die zweifache deutsche Geistigkeit und ihre pädagogische Bedeutung, in: Pädagogik aus dreißig Jahren, Frankfurt 1949, S. 190 ff. H. Weinstock, Die Tragödie des Humanismus, Heidelberg 1957.
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wird. Diese Klageweise aber kann, wo immer sie Gehör findet, zwischen den ihr Verfallenden und dem sie umfangenden Lebenszustand nur unversöhnliche Feindschaft stiften. Diese Verfeindung wäre dann allenfalls zu ertragen, wenn die Bußprediger der Moderne uns zu sagen wüßten, was wir zu tun haben, um uns der von ihnen verdammten Daseinsverfassung zu entledigen und zu einer ihnen wohlgefälligeren Lebensform aufzusteigen. Da aber kein Einsichtiger daran zweifelt, daß schon der Versuch, die Arbeitsordung der industriellen Gesellschaft abzubauen, von Millionen mit dem Leben bezahlt werden müßte, daß also der an der Sache sich orientierende „Fortschritt“ durch keinerlei Deklamationen, sondern höchstens durch verheerende Katastrophen gebremst oder gar stillgestellt werden kann, so kann jene Verfeindung, wo immer sie ernst gemeint und nicht bloß wichtigtuerisches Gehabe ist, nur in der Finsternis der absoluten Daseinsverzweiflung ihren Abschluß finden. Gegen diesen Nihilismus hilft nur die Einsicht, daß der Lebenszustand, der sich in der Kooperation von Naturwissenschaft, Technik und industrieller Produktion seine Gestalt gegeben hat, nicht ein als Sündenstrafe zu ertragendes Schicksal, sondern ein gigantisches Werk ist, auf das trotz allem stolz zu sein der für seine Entstehung verantwortliche Mensch allen Grund hat. Nur so kann ihm das gute Gewissen erhalten bleiben, dessen Zuspruch er in seiner werkenden Mühsal wahrlich nötig hat. Und da Erziehung nicht dasjenige sein würde, als was sie sich mit diesem Namen bezeichnet, wenn sie nicht allem entgegenwirkte, was darnach angetan ist, dem Menschen seine Lebensaufgabe hoffnungslos zu verleiden, so muß und wird auch sie das Ihrige tun, dem allerwärts grassierenden Mißtrauen gegen Recht und Wert des uns verpflichtenden Lebenszustandes mit der Bejahung sowohl seiner Notwendigkeit als auch seiner Erhaltungswürdigkeit zu begegnen. Nichts kann unser Geschlecht weniger vertragen als ein Verschweben in Hölderlin-Stimmungen, in denen der Wille, es mit unserer Welt und Gegenwart aufzunehmen, in nichts zergehen müßte.
Die Versachlichung des Menschen Allein mit dieser Wiederherstellung ist noch nicht alles gesagt. Mit ihr verbindet sich ein Vorbehalt, der einem Widerruf bedenklich ähnlich sieht. Es ist durchaus nicht an dem, daß mit dem Nein, das wir dem allzu liebevoll gehätschelten Weltschmerz und Kulturüberdruß unserer Tage entgegensetzen, auch den Bedenken und Sorgen, von denen schon unsere Klassiker sich gepeinigt fühlten, das Recht abgesprochen wäre. Daß durch eine Lebens- und Arbeitsordnung, deren Bau von der Sache her bestimmt ist, der innerhalb ihrer tätige und durch sie beschlagnahmte
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Mensch in seinem Menschsein bedroht wird – um so kräftiger bedroht wird, je allseitiger und folgerichtiger sie sich zur Perfektion durchbildet: das ist eine Wahrheit, die zu bestreiten ein Zeitgenosse W. von Humboldts vielleicht noch den Mut gehabt hätte, ein Zeitgenosse Henry Fords absurd finden müßte. Ist er doch Zeuge und Opfer einer geschichtlichen Gesamtbewegung, die das an der Sache sich orientierende Denken in der Theorie des menschlichen Seins, das an die Sache sich bindende Handeln in der Praxis des menschlichen Wirkens in beängstigendem Vordringen zeigt. Was das Erstgenannte angeht, so genügt die Erinnerung an jenen Expansionsvorgang, in dessen Verlauf die Formen des methodisch geregelten Denkens, die in der Bearbeitung der äußeren Natur so glänzend die Probe bestanden hatten, von der bewundernden Mitwelt zu allumfassenden Prinzipien der Daseinserfassung erhöht und in Konsequenz davon allen Wirklichkeitsbereichen, darunter vor allem der Menschenwelt, aufgenötigt wurden. Auch die aus dem menschlichen Treiben sich ergebenden Fragen, Aufgaben und Forderungen konnten, so meinte man, nur dadurch ihrer vollkommenen Lösung zugeführt werden, daß auch diese Daseinssphäre zur Sache umgedacht und in den der Sache angemessenen Verfahrensweisen angegangen würde. Die elementarste Äußerung dieser Wucherung lernten wir in dem Eroberungszug kennen, dem das Begriffspaar „Mittel– Zweck“ seine weitreichende Herrschaft zu verdanken hat. Ihren wissenschaftlichen Ausdruck fand sie in jener der mathematischen Naturwissenschaft auf dem Fuße folgenden Forderung, daß der Gesetzeswissenschaft von der Natur eine ebenso gebaute Gesetzeswissenschaft von der Seele, der Gesellschaft, der Geschichte zur Seite zu treten habe. Und zur Vollendung gelangte der Parallelismus durch die Folgerichtigkeit, mit der die Naturwissenschaft vom Menschen sich in eine Technologie der Seelenbearbeitung, der Gesellschaftsregelung, der Geschichtslenkung hinein fortsetzte. Den an zweiter Stelle genannten Ausbreitungsvorgang haben wir in millionenfacher Wiederholung in Gestalt des Arbeitsschicksals vor Augen, dem das Arbeitsgefüge der industriellen Gesellschaft – wie auch der ihm nachgebildeten Leistungssysteme – den Menschen überantwortet. Von ihm ist hier zur Genüge die Rede gewesen. Worauf hier noch besonders der Blick gelenkt werden muß, das ist die Tatsache, daß diese Sachdienstbarkeit des Menschen überall da und nur da bis zur letzten Vollkommenheit durchgebildet wird, wo die oben erörterte Theorie vom menschlichen Sein von den Gemütern der Maßgeblichen Besitz ergriffen hat. Denn durch sie wird das Streben, den Menschen zum bloßen Sachvollstrecker, zum „Funktionär“ zu entselbsten, ausdrücklich legitimiert, ja heilig gesprochen. Tragende Ideologie und ausführende Organisation des Sowjet-
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staates bringen dieses Zusammenspiel von Theorie und Praxis zu erschütternder Darstellung.
Der Konflikt als Symptom des Fehltritts Aber haben wir nicht mit dieser Zeitdiagnose in das Klagelied derer eingestimmt, denen wir soeben noch die Demoralisierung der Zeitgenossen schuld gegeben haben? Das ist zunächst insofern nicht der Fall, als es natürlich ein anderes ist, eine Gefahr sehen und signalisieren, ein anderes, vor ihr die Waffen strecken. Noch tiefer aber greift eine weitere Abweichung. Daß die Betätigungen, in denen die „Sache“ gebietet, zu einer Lebensgestaltung geführt haben, durch die das Menschentum des Menschen gefährdet wird, daß wir mithin durch sie in eine Konfliktsituation geraten sind: das ist die Feststellung, in der wir den angezogenen Richtern der Kultur und ihren klassischen Vorgängern recht geben müssen. Wir trennen uns von ihnen in den Folgerungen, die wir aus der Anerkennung dieser Tatsache ziehen. Für sie ist der aufgewiesene Konflikt der hinreichende Grund, das Ganze der Betätigungen, die ihn hervorgerufen haben, auf einen Fehltritt des Menschen zurückzuführen, also auf eine Handlung, die von Rechts wegen nicht hätte stattfinden dürfen. Der Mensch hat gleichsam widermenschlich gehandelt, als er den Weg dieser Entwicklung betrat. Er hat seine „Humanität“ verraten, als er sich der „Sache“ verschrieb. Und mit jedem Schritt, den er auf diesem Weg vorwärts tut, macht er den Verlust seiner selbst unheilbarer. Dieses Verdikt kann nur verstanden werden als negative Kehrseite einer ganz bestimmten Auffassung von dem, was der Mensch sein soll und was er auch sein würde, wenn er den besagten Fehltritt unterlassen hätte. Wer in dem Auftreten von Konflikten grundsätzlicher Art die Aufforderung findet, den Fehltritt aufzuspüren, der für sie verantwortlich zu machen sei, der gibt dadurch zu erkennen, daß er als durch das Wesen des Menschen nicht nur ermöglicht, sondern gefordert eine Seelenverfassung ansieht, die der Konflikte entbehrt, die also in sich einstimmig ist. In einem Geschöpf, das eine Mehrzahl von Funktionen in sich vereinigt, kann diese Einstimmigkeit nur die Gestalt einer sie alle ins rechte Verhältnis setzenden Abgestimmtheit haben. Genau dies aber ist es gerade, worin die Humanitätsbewegung Zeugnis und Gewähr echter Menschlichkeit findet. Es ist die „proportionierliche“ Ausgewogenheit der Gemütskräfte, durch die sich der Mensch als zur Humanität durchgedrungen ausweist. Wieder ist es der Begriff der „Totalität“, in dem sich die hier waltende Grundvorstellung
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am deutlichsten ausspricht. Denn in diesem Begriff ist nicht nur die Forderung enthalten, daß der Mensch alle als menschlich zu qualifizierenden Tätigkeitsformen in lückenloser Vollständigkeit zur Entwicklung bringe, sondern auch, daß er sie zueinander ins rechte Verhältnis zu setzen wisse. Im Begriff der Totalität ist die Harmonie der im Menschen vereinigten Funktionen mitgedacht. Humanität ist Zusammenklang der Stimmen, die in Herz und Hirn des Menschen laut werden. Von solchen Voraussetzungen aus kann als „menschlich“, als Beitrag zur Verwirklichung der Humanität nur anerkannt werden, was sich dem Ganzen des menschlichen Seins reibungslos einfügt. Was sich wider diese Einfügung sperrt oder gar durch seinen Eintritt bestehendes Einvernehmen stört, ist schon dadurch als inhuman erwiesen. Und jeder innere Konflikt muß als Symptom einer Gleichgewichtsstörung verstanden werden, die durch eine Abirrung ins Inhumane verschuldet ist. Nun gibt es im Leben des modernen Menschen wenige Konflikte von allgemeiner Art, die so sehr mit dieser harmoniegläubigen Anthropologie konfrontiert zu werden verlangten, wie derjenige, um dessen Analyse wir uns hier bemüht haben. Der Gegensatz zwischen der Diktatur der Sachforderungen und dem Selbstbehauptungsdrang des Menschen gehört zu den inneren Entzweiungen der modernen Welt, die in sich durchzukämpfen kaum einem vollsinnigen Menschen erspart bleibt. Kein Wunder also, daß eine Anthropologie, der die innere Harmonie des Menschen als Ausweis seiner humanen Selbstvollendung gilt, in einer so peinlich empfundenen, so schwer zu bestehenden Disharmonie den Hinweis auf einen Fehltritt findet, durch den er sich an seinem Menschentum versündigt habe. Und da es nicht wohl angeht, den Ursprung dieser Versündigung in dem Streben nach Wahrung des Selbst zu suchen – ist doch gerade dieses Streben der Ausfluß humanen Verantwortungsbewußtseins –, so bleibt nichts anderes übrig, als die für den Konflikt haftbar zu machende Irrung in jenen Gedanken und Taten des Menschen zu suchen, denen die sachgebundene Arbeitswelt ihre Entstehung und ihre unaufhaltsame Ausbreitung verdankt.
Humanität als Harmonie Man sieht, mit welch unablenkbarer Folgerichtigkeit es von einem Humanitätsevangelium, das den wohlgearteten Menschen dem in sich harmonischen Menschen gleichsetzt, weitergeht zu dem vernichtenden Urteil, das über den Menschen als den Urheber der versachlichten Arbeitswelt gefällt wird. Daraus ergibt sich mit der gleichen Folgerichtigkeit: eine Versöhnung mit dem Lebenszustande, der mit dem Ausbau dieser Arbeitswelt Wirklichkeit geworden ist, kann nur unter der Voraussetzung stattfinden,
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daß wir von der Vorstellung ablassen, der Wert des Menschen sei von dem Maß seiner Annäherung an das Ideal der vollendeten Harmonie abzulesen und alles, was an dieser Harmonie fehle, komme auf Rechnung eines Erlahmens der Menschlichkeit oder eines Verstoßes wider die Menschlichkeit. Ganz im Gegenteil: gerade dies heißt es sich zum vollen Bewußtsein bringen, daß ein Lebenszustand nicht schon deshalb inhuman zu schelten ist, weil er von Konflikten grundsätzlicher Art heimgesucht wird, daß ein Tun nicht schon deshalb als Verfehlung wider die Menschlichkeit zu verdammen ist, weil aus ihm schwer zu bestehende Gegensätze entspringen. Es könnte sein, daß der Mensch von sich selbst, seinem Wesen und seiner Bestimmung, gerade dann am meisten erführe, wenn er sich nicht im Wohlgefühl ungestörter Harmonie wiegt, sondern von dem Widerstreit nicht zu versöhnender Daseinsmächte aufgestört und umgetrieben wird. Daß der Mensch das nicht auf Harmonie angelegte, sondern in Gegensätze verfangene und gerade an Gegensätzen wachsende Wesen ist – dies ist es, was sich einzugestehen den Kritikern der modernen Kultur widerstrebt. Weil sie vor dieser allerdings beunruhigenden Möglichkeit ihre Augen verschließen, darum müssen sie, steht der Wert dieser Kultur zur Verhandlung, zu einem Verdammungsurteil gelangen, das, wird es ganz ernst genommen, nur den Sturz in den Abgrund der Verzweiflung übrigläßt. Denn einer harmonischen Lebensverfassung ist die Menschheit nie ferner gewesen als in unseren Tagen. Den Mut, in diesem Dasein auszuharren, kann nur aufbringen, wer einer Daseinslage nicht schon deshalb die Erhaltungswürdigkeit abspricht, weil sie Spannungen und Widersprüche in ihrem Schoße trägt. Allerdings ist der, der es mit Widersprüchen aufzunehmen bereit ist, nur dann wohlberaten, wenn er sich über die unterscheidende Eigenart derjenigen Gegensätze im klaren ist, die es auch wirklich verdienen, als konstruktive Momente im Bau des sich entfaltenden Geistes anerkannt zu werden. Daß diesen die ihnen gebührende Achtung versagt werde – diese Gefahr ist deshalb nicht klein, weil die Verwechslung mit Unstimmigkeiten minderen Ranges bedenklich naheliegt. Unser Dasein ist allenthalben durchzogen von jenen in unabschätzbarer Vielzahl und unausschöpfbarer Vielgestalt sich ausbreitenden Mißhelligkeiten, Entfremdungen, Verfeindungen, die nicht in der Struktur des seinen Auftrag verwirklichenden Geistes, sondern lediglich in psychologisch oder soziologisch verstehbaren Verwicklungen ihren Grund haben. Unmöglich kann seine Daseinslage recht verstehen, wer keinen Unterschied zu machen weiß zwischen diesen in unaufhörlichem Wechsel sich drängenden Wellenschlägen des Lebens und den dauernden, weil wesensbedingten Spannungen der geistigen Welt. Nur von den letzteren gilt es,
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daß sie im ursprünglichen Wesen des Menschen angelegt sind und deshalb nicht nur nicht unterdrückt, sondern ausgetragen sein wollen. Man mache sich klar, daß der hier hervorgehobene Unterschied für den verschwimmen muß, der nur durch Wahrung der inneren Harmonie sein Menschentum meint retten zu können. Für ihn ist alles ein Angriff auf seine Menschlichkeit, wodurch das Gleichgewicht seiner Seele erschüttert und das Einvernehmen seiner Welt gestört wird. Was uns von diesen allzu Empfindlichen scheidet, das ist die Bereitschaft, die wesensgegründeten Widersprüche des menschlichen Seins in ihrer Unumgehbarkeit zu sehen und ohne Abschwächung in die Bilanz dieses Seins einzustellen. Nur weil so gut wie alles darauf ankommt, diese urgegebenen und insofern recht eigentlich „humanen“ Gegensätze von den zeit- und lagebedingten und insofern behebbaren Mißhelligkeiten zu scheiden, wurde hier so viel Sorgfalt darauf verwandt, einleuchtend zu machen: es ist möglich, daß eine Entwicklung, in die das Menschengeschlecht sich einbezogen findet, in bitter empfundene und schwer zu lösende Zwiespältigkeiten einmündet und daß trotzdem die Tendenzen, denen diese Entwicklung gehorcht, über jede Anzweiflung erhaben sind, weil in ihnen nicht Eigensinn, Selbstsucht, Ehrgeiz ihre Befriedigung suchen, sondern eine in der Sache selbst liegende Notwendigkeit zum Durchbruch gelangt.
Humanität und Antinomie Die Welt der philosophischen termini stellt uns einen Begriff zur Verfügung, der wie geschaffen ist, dasjenige wiederzugeben, was wir der humanistischen Forderung der „Harmonie“ entgegenstellen. Es ist der Begriff der „Antinomie“. Als Antinomie bezeichnen wir seit Kant diejenigen im Leben des Menschen auftretenden Widersprüche, die sich nicht etwa aus den Besonderheiten der jeweiligen seelischen, gesellschaftlichen, geschichtlichen Lage ergeben, sondern in der Grundstruktur seines geistigen Wesens als unabänderliche Konstanten vorgezeichnet sind – die infolgedessen auch dann, wenn sie entdeckt und ausgesprochen sind, nicht beseitigt werden können. Nun, unter den Widersprüchen, durch die unser Wesen entzweit wird, befinden sich wenige, auf die der so gefaßte Begriff der Antinomie so genau zuträfe wie auf den Widerspruch zwischen Mensch und Sache. Denn hier ist es wirklich so, daß der Gegensatz um so unfehlbarer zutage tritt, um so durchgreifender sich dem Dasein aufprägt, je angelegentlicher der Mensch darauf bedacht ist, das ihm als geistige Mitgift Anvertraute in die Wirklichkeit überzuführen. Von uns aber, den heute Lebenden, wird gesagt werden dürfen, daß wir die in Rede stehende Antinomie bis zu einem Punkte vorgetrieben haben,
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der ein unüberschreitbares Extrem ihrer Darstellung markiert. Wir haben die Welt der sachlich fixierten Mittel zu dem Grade von Perfektion durchgebildet, daß sie die totale Ausrottung des Geschlechts bewirken kann, dem sie diese ihre Perfektion verdankt. Undenkbar, den Selbstwiderspruch über den Punkt hinaus fortzuentwickeln, an dem er die Vernichtung des ihn hervortreibenden Subjekts als Möglichkeit sichtbar werden läßt. Daß wir uns hier an einer keinen Fortgang zulassenden Grenze befinden, macht sich auch darin bemerkbar, daß die Verantwortung, die der über die Verwendung der Mittel Entscheidende zu tragen hat, ihr unüberschreitbares Maximum dann erreicht, wenn die fällige Entscheidung zur Entscheidung wird über Sein oder Nichtsein desjenigen, in dem diese Verantwortung einzig ihren Ort hat. Stellen wir der „Harmonie“ des mit den Augen der Humanitätsbewegung gesehenen Menschen die „Antinomie“ des im Sinne unseres Realismus verstandenen Menschen gegenüber, dann leuchtet es auch ein, weshalb es Bedenken hervorrufen muß, wenn die Grundbegriffe der klassischen Humanitätsbewegung auch heute noch weithin das pädagogische Gespräch beherrschen. Sie müssen, wo immer sie auch nur halbwegs ernst genommen werden, den Blick auf die Antinomik verstellen, die unverkürzt und unbeschönigt gesehen werden muß, wenn die Erziehung auch nur das Grundsätzliche an der ihr gestellten Aufgabe erfassen soll. Wer seine pädagogischen Gedanken noch immer unter den Leitbegriffen „Bildungsgut“, „Bildungswert“, „Bildungsziel“ meint ordnen zu sollen, der beweist dadurch, daß sein Sehnsuchtsblick auch heute noch an dem Kunstwerk der zur Harmonie durchgedrungenen Persönlichkeit haftet und daß er es versäumt hat, sich von den strukturellen Grundmotiven menschlichen Seins Rechenschaft zu geben, die das Durchdringen zu solcher Harmonie selbst demjenigen verwehren, in dem die individuellen Voraussetzungen der Selbstvollendung ungewöhnlich günstig gelagert sind. Es bleibt die Eigenart, ja, es bleibt das Privileg unseres Zeitalters, daß es allenthalben bis zu den Grenzen menschlicher Möglichkeiten vorgestoßen ist und so die Unvollendbarkeit alles dessen, was „Mensch“ zu heißen verdient, ins grellste Licht rückt.
Siebtes Kapitel Doppelleben Zweiteilung der Existenz Es würde unserer Abrechnung mit den Nachklängen des klassischen Bildungsideals ein Wesentliches fehlen, wollten wir es versäumen, uns mit einer Auffassung auseinanderzusetzen, die auch unter den Bedingungen
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des modernen Arbeitslebens, die als bestehend und unverdrängbar anerkannt werden, dem Gedanken der „Bildung“ eine bestimmte Wirkungssphäre und damit ein sei es auch beschränktes Recht meint retten zu können15. Ihr liegt eine Argumentation zugrunde, deren Inhalt sich in folgenden Sätzen wiedergeben ließe. Es sei zuzugeben, daß das Leben des modernen Menschen in weitestem Umfang durch Mächte beschlagnahmt und durch Einrichtungen überbaut sei, denen er nicht dienen könne, ohne seine „Persönlichkeit“ hinter den Zwang von sachlichen Forderungen zurücktreten zu lassen. Aber da dem nun einmal so sei, so komme eben alles darauf an, den Kreis der nicht zu umgehenden Sachansprüche nach Möglichkeit einzuschränken und besonders darüber zu wachen, daß man nicht diesen persönlichkeitsfremden Gewalten mehr von seiner Seele überlasse, als zur Ausführung des unweigerlich zu Entrichtenden nötig sei. Je besser es gelinge, das Ganze des in ihrem Dienste zu Leistenden an die Peripherie des Daseins zu verbannen und den Kern des Menschen von diesem subalternen Treiben freizuhalten, um so eher werde es möglich sein, dem Selbst eine innere Zone zu reservieren, in der es, unabgelenkt durch das Hineinreden des ihm Fremden und Äußerlichen, zu jener Vollkommenheit heranreifen könne, die erst dem Wort „Persönlichkeit“ die rechte Erfüllung gebe. Die „pädagogische Provinz“ erlebt als abgesonderter Bezirk der seelischen Wirklichkeit ihre Auferstehung. Wie man sieht, soll hier der „Bildung“ der ihr drohende Untergang dadurch erspart werden, daß der Vorgang, in dem sie sich vollzieht, in einen dem Zugriff der Zeitgewalten verschlossenen Bereich verlegt und so allen ablenkenden Einflüssen entrückt wird. Es ist die radikale Scheidung der Gebiete, die das ermöglichen soll, was das Leben in seiner ungeteilten Ganzheit nicht mehr herzugeben vermag. Und nachdem diese Scheidung einmal vorgenommen ist, hat man auch keine Mühe, Abstand und Rangunterschied dessen, was diesseits und jenseits der Scheidelinie geschieht, ins hellste Licht zu rücken. Der Außenbezirk ist die Domäne der banalen Nützlichkeit und äußeren Zweckhaftigkeit; in ihm regieren die Mächte der Selbstsucht, der Erwerbsgier, des Erfolgs- und Herrschaftsstrebens. Der Innenbezirk ist das heilige Land, in dem alle niedrigen Begehrungen verstummen, alle untergeordneten Zwecke zergehen und nur, in Umgang und Austausch erlesener Seelen, die hehren Werke des Geistes gehütet, verehrt und durch neue Schöpfungen bereichert werden. Hierhin, in diesen Burgfrieden der Innerlichkeit, hat sich die Persönlichkeit retten müssen in einem Zeitalter, dessen öffentliche Gewalten ihr offenkundig den UnterZu Kapitel 7: P. de Mendelssohn, Der Geist in der Despotie, Berlin-Grunewald 1953. Daselbst reichliche Proben der im folgenden zu behandelnden Denkweise. 15
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gang geschworen haben. Hier, in der Stille dieses geweihten Bezirks, kann aber auch alles das in verklärter Gestalt Wirklichkeit werden, was im Getümmel des öffentlichen Treibens ohne Gnade untergehen müßte. Wo der hier wiedergegebenen Auffassung beigepflichtet wird, da wird „Bildung“ zu einem Prädikat, das nur demjenigen Teil des menschlichen Lebens zukommt, in welchen die ihr zugewandten Bestrebungen geflissentlich zurückgenommen werden. Was außerhalb dieses bevorzugten Teils liegt, das wird, nicht mit resignierendem Bedauern, sondern im Gefühl gönnerhafter Überlegenheit, dem Spiel der bildungsfremden oder bildungsfeindlichen Mächte überlassen. Der Mensch ist „Persönlichkeit“, wenn und solange er sich mit diesem Teil seiner Gesamtexistenz in eins setzt; er suspendiert dieses sein Selbstsein, wenn und solange er den Gewalten des organisierten Gemeinlebens den nicht zu verweigernden Zoll entrichtet. Er entschließt sich zu einer Daseinsform, die einer ihrer Verfechter nicht übel als „Doppelleben“ bezeichnet hat. Ja, eine noch weitergehende Hoffnung scheint sich an die Stiftung dieses „inneren Reichs“ anschließen zu dürfen. Sollte nicht die Erwartung begründet sein, daß eines Tages der Orden der in diesem Doppelleben geübten Ritter des Geistes von seiner Gralsburg aus die Welt der entselbsteten Sachlichkeit überrennen und zu einer würdigeren Daseinsform emporreißen wird? Unschwer erkennen wir in der sich dergestalt der modernen Welt anpassenden „Bildungs“-Theorie die zeitgemäße Erneuerung jenes Dualismus vom „Inneren“ und „Äußeren“, auf den sich Lebensentwurf und Bildungsphilosophie eines Humboldt, Gymnasialprogrammatik und Unterrichtsplan eines Niethammer gründeten. Die Anpassung an die gewandelte Zeit liegt darin, daß auch der Freund und Anwalt der abgesonderten Bildungsprovinz sich nicht der Notwendigkeit verschließen kann, dem „Äußeren“ von der eigenen Existenz so viel zu überlassen, wie im Interesse der Lebensfristung ratsam erscheinen muß. Die Reihe derer ist außerordentlich dünn geworden, denen ihre soziale und ökonomische Lage es noch anheimstellt, ob und wieweit sie dem Leviathan des gemeinsamen Lebens an ihrer Daseinsenergie einen Anteil gönnen wollen. So ist aus dem humboldtischen „Leben und Weben in sich“ das „Doppelleben“ geworden.
Elite und Masse Man würde irren, glaubte man in dem Bekenntnis zum Doppelleben nicht mehr vor sich zu haben als das persönliche Lebensprogramm eines Literatentums, das vor dem Angriff des Leviathan in den Naturschutzpark eines ästhetisierenden Kastalien ausweicht. Dieses Programm würde ja nicht in Gestalt von Schriftwerken vor die Öffentlichkeit treten, wollte es
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nicht für eine Lebensform werben, die nicht etwa bloß ihrem literarischen Verkünder, sondern jedem auf Wahrung seiner „Persönlichkeit“ bedachten Zeitgenossen anstehe. Und daß dieser Ruf nicht ungehört verhallt, dafür ist bei der Resonanz, deren die kulturkritische Schriftstellerei gewiß sein darf, aufs beste gesorgt. Wr haben also allen Grund, uns zu fragen, was wir zu gewärtigen haben, wenn diesem Rufe Folge geleistet wird. Zunächst ist es klar, daß die Botschaft der Geistesjünger nur bei der Minorität Widerhall finden kann, auf die sie berechnet ist und an die sie sich ausschließlich wendet: bei der „Elite“ derer, die sich zum Adel des Geistes meinen rechnen zu dürfen und aus dieser ihrer Wohlgeborenheit das Recht auf eine exzeptionelle Daseinsweise herleiten. Daß die weit überwiegende Mehrheit, die besteht aus den solcher Auszeichnung nicht Teilhaftigen, im Rahmen und nach Anweisung der herrschenden Arbeitsordnung ihr Tagewerk zu verrichten fortfahre, ist die stillschweigende Voraussetzung. Denn an ihrer Arbeitstreue hängt ja für die Gesamtheit die Möglichkeit des Existierens. Aber da ist doch die Frage am Platze, welche Wirkung es haben muß, wenn, wie es nicht ausbleiben kann, von der die Elite inspirierenden Geistesphilosophie eine Kunde in die Welt der Arbeit dringt. Das Mindeste, was dann eintreten wird, ist die Entmutigung dessen, der sich sagen lassen muß, daß er eine Arbeit von höchst untergeordnetem Range verrichte. Ist ihm aber erst einmal der Sinn und Wert dessen, wovon sein Leben erfüllt ist, fraglich geworden – wie soll ihm dann das gute Gewissen und die innere Freudigkeit erhalten bleiben, ohne die noch nie etwas Rechtes in der Welt vollbracht worden ist? Niemand hört es gerne, daß er zu schuften habe, damit eine kleine Minderheit von Auserlesenen die Weihehandlungen des Geistes zelebrieren könne. Immerhin wäre es denkbar, daß die Kundgebungen jenes Aristokratismus nicht tief genug in die Welt der Arbeit einstrahlten, um die ihr Angehörigen an sich und ihrem Tun irremachen zu können. Sehr viel ernster ist, wie mir scheint, ein anderes zu beurteilen. Daß die in der Menschenwelt zu vollbringenden Tätigkeiten nach Rang und Wertgehalt so abzustufen seien, wie die Botschaft der Geistgläubigen behauptet, das ist nicht eine Anschauung, die durch diese Botschaft erst hervorgebracht zu werden brauchte: in dieser These gelangt eine Denkweise zum Ausdruck, die, sei es auch unausgesprochen und uneingestanden, die Haltung weiter und einflußreicher Kreise nicht erst seit heute oder gestern bestimmt. Die Zweiteilung der menschlichen Welt, der Dualismus der hier und der dort zu übenden Praktiken und zu befolgenden Maximen, der Dualismus von Seele und Sache, Geist und Geschäft, Poesie und Politik: das sind Vorstellungen, die im Gemüt gerade der Maßgeblichen eine überaus folgenreiche Herrschaft nur zu lange ausgeübt haben. Daß die Welt jener Angelegenheiten, die nur durch gemeinsame Verabredung und planvolle Organisa-
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tion besorgt werden können, Verkehrsregeln unterstehe, Entschließungen fordere, Handlungen gestatte, von denen der Mann von Geschmack sich zu distanzieren nicht umhin könne, daß infolgedessen der Mensch als solcher erst jenseits dieses zwielichtigen Bezirks zum Vorschein kommen könne: war das nicht die Überzeugung, von der sich nur zu viele gute Bürger in ihrem Verhältnis zu den öffentlichen Dingen bestimmen ließen? Es lohnt sich, darüber nachzudenken, in welchem Umfange die deutsche Katastrophe durch die Verbreitung dieser das „äußere“ Leben aushöhlenden Denkweise mitverschuldet worden ist. Es zeugt wie weniges für die Verbreitung der hier kritisierten Bildungsprogrammatik, daß wir ihren Spuren selbst bei Menschen begegnen, an denen der Verdacht eines ästhetisierenden Bildungsegoismus abprallt, ja, die gerade und nur durch die ernste Sorge um die Zukunft der Menschenbildung zu Konzeptionen geführt werden, die dem Anschluß an jene Programmatik gefährlich nahekommen. Es ist vor allem ein immer wieder begegnender Begriff, in dem sich dieser Anschluß verräterisch ausprägt. Er heißt: „Gegengewicht“. Man meint die menschliche Bildung als „Gegengewicht“ gegen diejenigen neuzeitlichen Entwicklungstendenzen verstehen und einsetzen zu sollen, durch welche der Mensch in seinem Menschsein so verhängnisvoll bedroht werde. Man mache sich klar, daß dieser Begriff nicht in unseren Problemkreis eingeführt werden kann, ohne daß die genannten Tendenzen nicht nur aus dem Bereich der Bildung ausgeschlossen, sondern auch zu ihr in das Verhältnis der Gegenmacht gesetzt würden! Denn was immer die Funktion des „Gegengewichts“ ausüben soll, das hat dasjenige außerhalb seiner selbst, dem die Waage zu halten seine Bestimmung ist. Man muß sich die Unausweichlichkeit dieser Folgerung eingestehen, um zu ermessen, was es bedeutet, wenn ein den Forderungen der sich wandelnden Welt so aufgeschlossener Mensch, wie es C. H. Becker (der Stifter der preußischen Bildnerhochschulen) gewesen ist, folgenden Satz niederschreiben kann: „Die Pädagogischen Akademien sollen uns den neuen Menschen bringen, der in seiner geschlossenen harmonischen Einheitlichkeit ein Gegengewicht darstellen soll gegen die unaufhaltsam fortschreitende Differenzierung, Spezialisierung und Technisierung unseres Lebens … Dieses neue Ideal ist das schlechthin Menschliche in seiner vollkommensten Prägung.“ Selbst er glaubt es der Treue zu dem mit Bewußtsein festgehaltenen Bildungsideal der Klassik schuldig zu sein, die fraglichen Tendenzen des modernen Lebens zu Hindernissen wahrer Menschenbildung zu stempeln. Aber kann es dem künftigen Volkserzieher zuträglich sein, wenn er sich durch die ihm zuteil werdende Berufsbildung in eine Protesthaltung gegen diejenigen Mächte der Zeit hineintreiben läßt, in deren Bann seine Zöglinge dereinst ihren Lebenstag werden verbringen müssen?
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Wenn irgendwo, dann zeigt es sich in diesem Widerspruch, daß die Diskrepanz zwischen Bildungsideal und gesellschaftlichem Prozeß nicht ein beiläufiger Schönheitsfehler ist, über den man sich durch den Blick in die imponierende Wirtschaftsbilanz trösten lassen dürfte, sondern ein Gebrechen der Lebensverfassung, das die Seelen verwirrt und die Entschlüsse verdirbt. Der Versuch, der „Bildung“ durch eine Zweiteilung der menschlichen Existenz ein Reservat im Inneren zu retten, könnte nicht gründlicher ad absurdum geführt werden, als es durch die Schicksale geschieht, die der Mensch gerade dadurch über sich heraufbeschwört, daß er das sorglich abgesonderte „Äußere“ jenen fragwürdigen Mächten überläßt, die er aus seinem „Inneren“ meint aussperren zu können. Es steht nicht in seiner Macht, durch einen Willensentschluß sein Leben in zwei Provinzen zu zerlegen, die so voneinander abgetrennt und gegeneinander abgedichtet wären, daß sie nach völlig entgegengesetzten Prinzipien verwaltet werden könnten. Das der Verwahrlosung anheimgegebene „Äußere“ und das für die Bildung reservierte „Innere“: beide verharren nicht in der verordneten Isolierung, sondern durchdringen sich zu einem Gesamtgeschehen, in dessen trübem Strudel die Bildung am sichersten untergeht.
Humanität und Antinomie Allein gewichtiger noch als die Frage nach der Realisierbarkeit des im Programm des „Doppellebens“ Vorgesehenen ist die andere, ob denn, gesetzt den Fall, diese Selbstzerteilung des Menschen wäre möglich, die Lebensverfassung desjenigen, der sie praktiziert, auf das Prädikat „Bildung“ Anspruch haben würde. Das würde ganz sicher dann nicht der Fall sein, wenn wir daran festhalten, daß dieses Wort die Wesensgestalt des ganzen Menschen und nicht bloß die Beschaffenheit eines künstlich ausgegrenzten Teilstücks seines Innenlebens bezeichnen soll. Wenn die Antinomie nun einmal zum Wesen des vollentwickelten Menschen hinzugehört, dann muß sie auch in den Lebenshorizont dieses Menschen ohne jeden Versuch der Verharmlosung oder gar Verleugnung Aufnahme finden. Was wäre das für eine „Bildung“, die sich nur durch Abblendung eines bestimmenden Grundzugs menschlicher Existenz zu konstituieren und zu behaupten vermöchte! Ein ganzer Mensch darf deshalb nur derjenige heißen, der nicht den Versuch macht, dem ihm anstößigen, weil sein Harmonieverlangen störenden Widerspruch durch eine Sezession in die Innerlichkeit aus dem Wege zu gehen, sondern den Mut hat, ihn ungemildert und unbeschönigt in seine Lebensrechnung einzustellen. Und wenn man dem Begriff „Bildung“ auch bei der Einbeziehung dieses Zwiespalts nicht entsagen will, dann muß das Verhältnis dieses abgewandelten Bildungsbegriffs zu dem von unseren
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Klassikern kanonisierten dahin bestimmt werden, daß er den lediglich auf die „Persönlichkeit“ gerichteten Vollendungsdrang durch Einfügung in ein übergeordnetes Ganzes relativiert, das ihm die Gegenbewegung einer auf ihre Sachforderungen bestehenden Welt zuordnet. Als „gebildet“ darf darnach nur gelten, wer diese Spannung sieht, anerkennt und als unaufhebbares Grundmotiv in seinen Lebensplan einbaut. In diesem Sinne interpretiert, könnte sogar Goethes Aufforderung, „mit der Welt verbunden ein Ganzes zu bilden“, als Hindeutung auf den gewandelten Humanitätsbegriff gelten – wenn nicht der Begriff des „Ganzen“ noch zu viel von der die Antinomie verschleiernden Harmonisierungstendenz anklingen ließe. Der einzige, der auch im Angesicht der aufgedeckten Spannung recht behält, ist doch schließlich Pestalozzi. Indem er den zwischen den „Erfordernissen der kollektiven Existenz“ und den „Ansprüchen des Individuums“ aufklaffenden Gegensatz als „ewigen Widerspruch“ bezeichnet, erkennt er ausdrücklich den antinomischen Charakter dieses Gegensatzes an.
Achtes Kapitel Antinomie und Reflexion Seelenleben und Reflexion Auch wer das Bestehen und die Lebensbedeutung der Antinomie einzuräumen bereit wäre, könnte gleichwohl den Überlegungen, die wir ihr gewidmet haben, mit dem Einwand begegnen: Zugegeben, daß die Antinomie zum Wesen des Menschen gehöre, sei doch zu fragen, warum Theorie und Praxis der Menschenbildung es nötig hätten, ihr in den maßgebenden Untersuchungen einen so breiten Raum zuzubilligen, wie es hier gefordert sei. Was der „Harmonie“ recht sei, sei darum der „Antinomie“ noch lange nicht billig. „Harmonie“ sei eine Verfassung des menschlichen Wesens, die nicht von selbst da sei, sondern nur als Ergebnis eines auf sie sich richtenden Bestrebens zustande kommen könne. Es habe also einen guten Sinn, wenn man den Blick des Menschen und zumal des zu erziehenden Menschen auf sie als auf ein anzustrebendes Ziel hinlenke. Die Antinomie aber sei ein Zug an der menschlichen Lebensverfassung, auf den willentlich hinzuarbeiten nicht bloß ungereimt sei, weil er kaum zur Verwirklichung reizen könne, sondern auch und vor allem deshalb sich erübrige, weil er schon von selbst Wirklichkeit geworden sei und immerfort werde. Die Antinomie ziehe den Blick auf sich nicht als den Willen lockendes Strebensziel, sondern als das Gemüt bedrückender Tatbestand. Wozu einem
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Sachverhalt, der sich ohne menschliches Zutun ganz von selbst herstelle, an dem überdies das Herz schwerlich Gefallen finden könne, ein solches Maß von Aufmerksamkeit zuwenden? Im Hintergrunde dieses Gedankengangs steht eine Vorstellung, die ans Licht gezogen werden muß, wenn über sein Recht geurteilt werden soll16. Es ist die Vorstellung: mit dem, was ohnehin schon da ist, sich abzugeben hat höchstens theoretisches Interesse. Es ist, was es ist, gleichgültig, ob von seinem Daß, seinem Wie, seinem Warum Notiz genommen wird oder nicht. Es wird von dem ihm geltenden Erkenntnisbemühen so wenig berührt wie das Ding von der Belichtung, durch die es sichtbar gemacht wird. Es würde sein, was es ist, auch wenn die Erkenntnisbelichtung unterbliebe. Wird diese allgemeine Vorstellung auf das Verhältnis zwischen der Antinomie und dem auf ihre Erhellung ausgehenden Denken übertragen, so kann in der Tat die Beschäftigung mit ihr als ein Bemühen erscheinen, an dessen Ergebnis der reinen Theorie gelegen sein mag, an dem aber ein auf Menschenbildung, also auf praktische Wirkung gerichtetes Streben kaum interessiert sein kann. Es bleibe dahingestellt, ob die wiedergegebene Vorstellung sich halten läßt, wenn sie das Verhältnis zwischen dem menschlichen Erkennen und einem außermenschlichen Erkenntnisgegenstand bestimmen will. Als völlig in die Irre führend erweist sie sich, wenn sie das Verhältnis zwischen dem menschlichen Denken und einem Gegenstand zu treffen beabsichtigt, welcher seinerseits wieder im Raume der mit dem Worte „Mensch“ bezeichneten Gesamtwirklichkeit seinen Platz hat. Hier muß sie unweigerlich Schiffbruch leiden, weil sie außer acht läßt, daß in diesem Falle denkendes Subjekt und zu denkender Gegenstand miteinander eins sind. Der Mensch, der Menschliches überdenkt, ist mit der Menschheit und dadurch unweigerlich mit sich selbst, der er doch auch der Menschheit angehört, beschäftigt. Indem er denkend ein anderer wird, als er bei Ausfall dieses Denkens sein würde, wird auch das von ihm Gedachte ein anderes, als es bei Ausfall dieses Denkens sein würde. Daraus folgt: es gibt keinen inneren Vorgang, keinen inneren Zustand, der nicht dadurch, daß er zum „Gegenstand“ wird, genauer: dadurch, daß das Denken des ihn vollziehenden bzw. erlebenden Subjekts sich ihm zuwendet, ein anderer würde, als er beim Unterbleiben dieser Zuwendung sein würde. Die Selbstbesinnung, die „Reflexion“, verwandelt alles, worauf sie sich richtet, und zwar schon dadurch, daß sie sich darauf richtet. Sie ruft weiterhin dadurch umgestaltende Wirkungen hervor, daß sie, wie es die Regel ist, innere Bewegungen in Gang bringt, die einem bewußten Eingriff in das seelische Geschehen gleichkommen. Der Mensch schaut 16
Die Selbsterkenntnis des Menschen, S. 11ff. Denken und Sein, S. 147ff.
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seinem inneren Leben nicht untätig zu wie einem Verlauf, auf den er keinen Einfluß hätte. Er holt hervor und bringt zur Entfaltung, was seinen Beifall findet, er drängt zurück und schafft sich aus den Augen, was ihm Mißbehagen bereitet. In alledem wird der seelische Prozeß bedeutsam abgewandelt. Es ist eben ein ungeheurer Unterschied, ob der Mensch in vorbehaltloser Hingegebenheit in einem Erlebnis aufgeht oder es obendrein in das Licht reflektierender Selbsterforschung rückt. Es wird, dergestalt der Naivität des unbefangenen Vollzuges enthoben, ein anderes, als es in unbelichtetem Zustande sein würde, und es zieht seelische Umlagerungen nach sich, die bei Wegfall der Belichtung ausgeblieben wären. Die Funktion, die es im Zusammenhang des Seelenlebens ausübt, wird dadurch modifiziert, daß die Selbsterforschung nach einer Stellung und Verrichtung innerhalb dieses Ganzen fragt und ihm, je nach dem Ergebnis dieser Befragung, einen anderen Platz anweist. Abhängigkeit und Freiheit sind in diesem Geschehen wunderlich verschlungen. Weder vermag das Selbst etwas von dem zum Verschwinden zu bringen, was es in sich vorfindet, noch ist es ihm als einem unabänderlich Hinzunehmenden ausgeliefert.
Segen der Reflexion Alles, was im Vorstehenden ausgeführt wurde, gilt auch von dem Verhältnis, das zwischen der Antinomie und der auf sie sich richtenden Reflexion obwaltet. Die Antinomie wird zunächst in den Unstimmigkeiten erfahren, in denen sie sich dem geradehin lebenden Menschen fühlbar macht. Je drückender sie werden, um so unfehlbarer rufen sie die Reflexion auf den Plan, die nach dem Wie und dem Woher des Unbehagens fragt. Der so erweckten Reflexion ist es nicht gegeben, die Antinomie zum Verschwinden zu bringen – sie wäre nicht Antinomie in kantischem Sinne, wenn diese Möglichkeit bestände –, aber ebensowenig ist sie dazu verurteilt, es bei der Konstatierung des Konflikts als eines Faktums bewenden zu lassen, das unter Ausschluß abwandelnden Eingreifens untätig hinzunehmen wäre. Er kann in der Ordnung des inneren Haushalts auf sehr verschiedenartige Weise einkalkuliert und untergebracht werden. Verkennen wir nicht, wie glücklich wir uns schätzen dürfen, daß wir als auf die Antinomie Reflektierende nicht in die Passivität des einflußlosen Zuschauers gebannt sind! Wir müßten ja die Gabe der Reflexion als einen Fluch beklagen, hätten wir sie nur zu dem Zweck mitbekommen, damit wir einen uns mit äußerer und innerer Vernichtung bedrohenden Prozeß in ohnmächtiger Verzweiflung seinen Gang nehmen sähen. Statt dessen dürfen wir uns sagen, daß schon die bloße Einsicht in Wesen, Herkunft
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und Wirkung der Antinomie mehr ist als ein Wissen, das den gewußten Dingen ihren Lauf lassen müßte. Weil unser eigenes Sinnen, Planen und Tun es ist, das durch seine Hervorbringungen die Antinomie heraufbeschwört, so wird der von ihr ausgehende Druck schon dadurch gemildert, daß wir für den Sinn der Vorgänge und das Recht der Handlungen sehend werden, in denen der antinomische Lebenszustand sich herangebildet hat. Wir hören auf, uns mit unbegründeten Vorwürfen zu verfolgen und als Opfer einer irreparablen Verirrung zu beklagen. Das ist mehr als eine Erlösung des von Skrupeln heimgesuchten Gemüts. Wir, die sich dergestalt Entlastenden, sind doch zugleich diejenigen, die durch Entschluß und Tat den fraglichen Prozeß in die Zukunft hinein fortzuführen haben, und für diese Obliegenheit ist es wahrhaftig eine nichts weniger als nebensächliche Frage, ob sie mit gutem Gewissen oder mit zweifelnder Seele verrichtet wird. Aber wie stets, so hat auch hier die Diagnose ihren vollen Sinn erst als Vorbereitung der Therapie. Die moderne Arbeitsordnung hat ihr Leben nicht nur in dem Denken und Wirken der Menschen, die sie in ihren Dienst stellt, sondern auch in den Einrichtungen, durch die sie ihren Dienst regelt. Diese Einrichtungen aber sind zwar in ihren Grundzügen durch das Gebot der Sache unabänderlich vorgezeichnet. Aber das heißt doch nicht, daß sie bis in die letzten Einzelheiten hinein der menschlichen Verfügung entzogen und als unabwendbares Verhängnis festgelegt wären. Sie lassen an tausend und abertausend Stellen die Wahl zwischen Möglichkeiten, die sich gerade durch das Maß der Rücksicht, die sie dem Menschen erweisen, beträchtlich voneinander unterscheiden. In diesem Spielraum sich sowohl sach- als auch menschenkundig zu bewegen vermag nur der, der die aus dem Zusammenstoß von Sache und Mensch entspringende Antinomie durchschaut und deshalb die Ansprüche beider Seiten richtig abzuschätzen versteht. Der ihrer Unkundige weiß entweder nur von sachlichen Notwendigkeiten oder nur von menschlichen Rechtstiteln.
Fehlgehende Reflexion Wesen und Lebensbedeutung der Reflexion zu erhellen, ist die Geschichte der Humanitätsidee wie wenige geeignet. Denn diese Idee ist ganz und gar Schöpfung des reflektierenden Geistes. Hat sie doch, wie wir sahen, zum unablösbaren Hintergrund eine Kritik der modernen Kultur, die in ihrem Kern nichts anderes ist als die Aufdeckung der Antinomie. So läßt sich denn an der Geschichte dieser Idee ablesen, daß Reflexion mehr ist, etwas anderes ist als die Betrachtung einer Reihe von Begebenheiten, die, gleichgültig gegen die ihr gewidmete Aufmerksamkeit, ihren in sich
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geschlossenen Gang nähme. Diese Geschichte zeigt uns, wie tief der Mensch durch das Nachdenken über sich selbst, durch die Belichtung der in ihm arbeitenden Gegensätze, in seine Daseinsgestaltung eingreift. Aber noch ein Weiteres kann die Entwicklung dieser Idee uns lehren. Nicht bloß darauf kommt es an, daß die Reflexion überhaupt dem auf gefährliche Wege geratenen Kulturgeschehen ihre Aufmerksamkeit zuwendet. Entscheidend ist, daß sie sich in der Deutung dieses Geschehens von Irrtümern und Mißverständnissen freihält – daß sie erleuchtende Reflexion ist. Denn es ist durchaus nicht an dem, daß der Einfluß, den die Reflexion auf das durch sie belichtete Geschehen ausübt, in eben dem Maße zurückginge, wie ihre Deutung sich auf Irrwege verliert. Durch die fehlgehende Deutung wird der der Deutung unterliegende Ablauf von Ereignissen nicht weniger in Mitleidenschaft gezogen als durch die ihm vollkommen angemessene. Nur daß dann eben die falsch verstandene und ausgelegte Bewegung, weil über sich selbst im Irrtume, auch in ihrem faktischen Fortgang von der Richtung abweicht, die einzuhalten ihr zum Heile dienen würde. Wer sich falsch sieht, handelt auch falsch. So kann es auch geschehen, daß die der Antinomie sich zuwendende Reflexion durch die Mißverständnisse, die in ihrer Auslegung unterlaufen, Abwehrhandlungen nahegelegt und Gegenwirkungen in Gang bringt, die zwar darauf berechnet sind, dem Notstand zu steuern, ihn aber in Wahrheit verschlimmern. In dieser Fehlentwicklung zeigt sich, daß die Reflexion mit allen Betätigungen des Geistes die Möglichkeit der Verkehrung, die Versuchung zum Abgleiten teilt. Es gehört zu den dunkelsten Verhängnissen der Kultur, daß sie, sich selbst mißverstehend und deshalb mißleitend, den eigenen Untergang betreiben kann. Zwei Formen sind es besonders, in denen die fehlgehende Reflexion der Menschheit von heute zum Irrlicht zu werden droht. Die eine liegt da vor, wo die Antinomie zwar gesehen, aber nach Wesen und Herkunft mißdeutet wird. Die andere besteht in dem Versuch, die Antinomie im Selbstverständnis der Menschheit zu tilgen. Dort kommt der Mensch in Versuchung, durch falsch angelegte Gegenzüge das Übel zu steigern, dem er steuern möchte. Hier wird er blind für die Bedrohungen, die er sehen müßte, um ihnen nicht zum Opfer zu fallen. Beides Fehlentwicklungen, die uns bereits ausgiebig beschäftigt haben! Wer in dem Bemühen, mit der Antinomie fertig zu werden, die organisierte Arbeitswelt als Frucht eines Fehltritts in Acht und Bann tut und als einzige Möglichkeit, sich vor den Folgen dieses Fehltritts zu salvieren, den Rückzug in die Innerlichkeit empfiehlt, der liefert jene Welt einer Verwahrlosung aus, die früher oder später auch sein künstlich ausgegrenztes Geisterreich ergreifen wird. Wer in dem Wunsche, die Erde in einen Schauplatz diesseitiger Glückseligkeit zu verwandeln, den an der Sache
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sich orientierenden Fortschritt zum universalen Bewegungsgesetz erhöht und diesem Gesetz zuliebe die Menschheit in einen einzigen Mechanismus umbildet, der setzt einen Seelenmord in Szene, der das Konsortium seiner Veranstalter so wenig verschonen wird wie das Millionenheer der ihm Ausgelieferten. Hier wie dort wird die Menschheit das Opfer einer die eigenen Daseinsbedingungen verkennenden Fehldeutung – dort einer zu bereitwillig vor den Widrigkeiten der Kultur kapitulierenden, hier einer zu hoffnungsfroh auf den Aufstieg der Zivilisation vertrauenden. Aber der Mensch braucht so wenig der Leidtragende seines eigenen Sündenfalls zu sein, wie er der Wegbereiter der irdischen Vollkommenheit ist.
Lehren der Reflexion Die Schädigungen, die das Menschsein erleidet, wenn die Reflexion in die Irre geht, lassen uns von der negativen Seite her, an Fehlbildungen des menschlichen Seins, ermessen, was die irrtumfreie Reflexion für die Selbstgestaltung dieses Seins bedeutet. In dem, was zur Abwehr dieser Fehlformen gesagt wurde, war auch schon mit ausgesprochen, was anerkannt und beherzigt werden will, damit der Mensch weder von der übersehenen Antinomie verschlungen noch von der mißdeuteten verbildet werde. Folgendes ist es, was die erleuchtende Reflexion an Aufschlüssen zu bieten hat: Der Mensch lernt mit der Arbeitswelt, in der sich sein Tagewerk vollzieht, in Frieden leben, weil sie freigesprochen ist von der Anklage, in einem fluchwürdigen Fehltritt ihren Ursprung zu haben und den ihr Hingegebenen durch die Fortwirkungen dieses Fluchs zu erdrücken. Er lernt darüber hinaus die Größe der Geistestat ermessen, die sich im Aufbau dieser Arbeitswelt ein Denkmal gesetzt hat. Der Mensch wird wider die Versuchung gewappnet, sich so an die der Arbeitswelt entspringenden Sachforderungen zu verlieren, daß er seiner selbst als des sich selbst bestimmenden und die Arbeitswelt regierenden Subjekts vergißt. Er wird fähig, den Widerspruch zu sehen und zu bestehen, der darin liegt, daß die Bemühung um die Sache ihn gleichzeitig als Menschen bildet und doch auch in seinem Menschsein bedroht. Der Mensch wird wider die Versuchung gewappnet, sich der bei Hingabe an die Arbeitswelt nicht vermeidbaren Spannung dadurch zu entziehen, daß er sein Menschentum in ein Inneres flüchtet, das die Arbeitswelt als das Wider-menschliche außer sich hält und so den Widerspruch durch äußere Teilung auflöst. Er wird fähig, er selbst zu sein, ohne sich darum der Welt zu versagen.
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Der Mensch lernt in sich das Wesen kennen, dem es nicht beschieden ist, in bruchlosem Wachstum zur Harmonie heranzureifen, sondern dem es obliegt, in stetem Ringen mit immer von neuem aufbrechenden Gegensätzen Selbst zu werden und Welt zu gestalten.
Neuntes Kapitel Die Unverdrängbarkeit des Umgangs Umgang und Sachbeherrschung Wir haben damit die Prinzipien einer „Bildung“ entwickelt, wie sie sich unter den Lebensbedingungen und angesichts der Forderungen zu gestalten hätte, die sich aus dem Aufbau einer nach Maßgabe der „Sache“ organisierten Arbeitswelt ergeben. Ein anderes Antlitz müßte natürlich die Erziehung innerhalb einer Gemeinschaft zeigen, die noch nicht die Schwelle der sich organisierenden Arbeitswelt überschritten hätte, deren Verhältnis zur Welt sich also ausschließlich in der Form des „Umgangs“ regelte. Oberflächlicher Betrachtung könnte es nun so scheinen, als ob die beiden hier unterschiedenen Systeme der Erziehung zueinander im Verhältnis der Ablösung stünden, als ob also, wenn die Erziehung zur Sachbemeisterung einsetze, die aus dem Umgang erwachsene und auf den Umgang berechnete Erziehung einfach deshalb das Feld zu räumen habe, weil ihr alle Ansatzpunkte und Bewährungsmöglichkeiten im Leben der Gemeinschaft genommen seien. Im Hintergrunde dieser Meinung steht natürlich die Überzeugung, daß auch zwischen den hier unterschiedenen Lebenssystemen das Verhältnis der Ablösung obwalte. Die Herrschaft über die Sache übernehme die Funktion, die vor ihr der Umgang ausgeübt habe. Wir kennen die Gründe, die es nicht wenigen selbstverständlich erscheinen lassen, daß, wenn die Sache sichtbar und verfügbar geworden sei, der Umgang abzudanken habe. Die Ergebnisse der neuen Wissenschaft von der Natur sind so viel exakter und umfassender als alle dem Umgang abzugewinnenden Erfahrungen, die Verfahrensweisen der neuen Technik der Natur so viel zuverlässiger und ausgreifender als alle im Umgang sich bildenden Praktiken, die Produkte der neuen Bearbeitung der Natur so viel zweckmäßiger und vielfältiger verwendbar als alle im Umgang herzustellenden Gebrauchsgüter, daß schon der unbefangene Beobachter hier nichts anderes vor sich zu haben glaubt als die Ablösung eines Anfangsund Vorbereitungsstadiums kindlich unbeholfener Versuche durch die Phase der vollendeten Meisterschaft.
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Dieser Eindruck würde selbst dann aufgekommen sein und die Oberhand gewonnen haben, wenn er nicht schon in den Frühzeiten der neuen Weltbemächtigung durch alsbald auftretende Doktrinen bestätigt worden wäre, die ihn zum Rang einer wissenschaftlich erhärteten Wahrheit zu erheben bestimmt waren. Die Bahnbrecher des Neuen zögerten nicht, zugunsten des von ihnen entworfenen neuen Weltbildes jede von ihm abweichende Weltansicht für illusionär und daher reif zur Verabschiedung zu erklären. Daß von diesem Verdikt gerade und vor allem der im Umgang sich bildende Weltaspekt getroffen werden sollte, lehrt schlagend das Schicksal der Desavouierung, das über die von der Welt uns dargebotenen Sinneseindrücke hereinbricht. Denn es ist, wie wir sahen, gerade die Welt in ihrer sinnlich-anschaulichen Gegenwärtigkeit, mit der der Mensch sich im Umgang findet und partnerschaftlich verbündet. An die Dementierung der im Umgang sich bildenden Welterfahrung schließt sich folgerichtig die Abwertung jener Formen des Schaffens an, deren Paradigma wir in der handwerklichen Praxis kennenlernten. Sie ist die notwendige Kehrseite zu der bedingungslosen Apotheose, die der technischen „Erfindungskunst“ und ihren menschheitsbeglückenden Errungenschaften widerfährt. Aber am grellsten treten die in der Disqualifizierung des Umgangs beschlossenen Folgerungen dann hervor, wenn sie sich auf dasjenige Lebensverhältnis erstrecken, in dem das mit dem Begriff „Umgang“ Gemeinte seine vollkommenste Erfüllung findet: auf dasjenige Lebensverhältnis, welches den Menschen mit seinesgleichen verbindet. An keiner anderen Stelle begegnet das Ansinnen, dem Umgang das Vertrauen zu kündigen, so heftigen Widerständen wie hier. Deshalb könnte es kein besseres Zeugnis geben für die Macht, mit der die neue Form der Weltbemeisterung vom Menschengeist Besitz ergreift, als die Tatsache, daß selbst diese Sphäre des Umgangs sich die Disqualifizierung mußte gefallen lassen, von der zunächst der Umgang mit der außermenschlichen Natur betroffen worden war. Man wird fragen, wo und in welcher Form dies geschah. Die Antwort ist einfach genug. Es geschah in dem Augenblick, in dem die adäquate Erkenntnis der Menschenwelt einer angeblichen Naturwissenschaft von der Seele, der Gesellschaft, der Geschichte, die angemessene Behandlung der Menschenwelt einer angeblichen Technologie der Seele, der Gesellschaft, der Geschichte überwiesen wurde. Denn genau so, wie Wissenschaft und Technik der äußeren Natur mit der Prätention auftreten, die aus dem Umgang mit der Natur erwachsenen Erfahrungen und Fertigkeiten durch das Angebot eines weit Vollkommeneren überflüssig zu machen – genau so ist in dieser neuen Wissenschaft vom Menschen der Anspruch enthalten, die flüchtigen, unzuverlässigen und zusammenhanglosen Beobachtungen, an
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denen der Umgang von Mensch zu Mensch seine einzige Richtschnur hat, durch ein geordnetes und methodisch gesichertes Wissen zu ersetzen, in dem Theorie und Praxis gleich zuverlässige Wegweisung finden. Wie sollte, wer sich in seinem Verhalten zur menschlichen Mitwelt durch ein ganzes Konsortium wissenschaftlicher Disziplinen beraten weiß, in den dem Umgang abzugewinnenden Erfahrungen von Menschenart und -unart mehr erblicken können als rudimentäre Überbleibsel einer primitiven Menschenkunde, die durch den Fortschritt des Geistes längst überholt ist!
Umgang als Lebensgrund Wer in der Wissenschaft die vollständige Rezeptensammlung für alle zu bewältigenden Lebensprobleme zu besitzen überzeugt ist, der kann natürlich auch der Erziehungs- und Bildungsarbeit nur den radikalen Abschied von jeder auf den Umgang bezogenen pädagogischen Bemühung und den vorbehaltlosen Übergang zu einer auf die Sachwissenschaft schwörenden Erziehung anempfehlen. Die „neue“ Erziehung hat einfach an die Stelle der alten zu treten. Allein ob der Sachverhalt getroffen wird, wenn wir hier nicht mehr zu sehen glauben als die Ablösung des Mangelhaften durch das Vortreffliche, des Schlechteren durch das Bessere, das muß uns schon dann zweifelhaft werden, wenn wir uns erinnern, daß die Polarität von „Mensch“ und „Sache“, die Korrelation von „Subjekt“ und „Objekt“ an jenem Lebensverhältnis, das wir als „Umgang“ bezeichneten, nicht einen der Verdrängung würdigen und der Ablösung bedürftigen Vorgänger hat, sondern den Mutterboden, aus dem sich beide, Glied und Gegenglied, in wechselseitiger Abhebung herausdifferenzieren. Schon dieser Umstand genügt, um der Vorstellung von einem „Ablösungs“vorgang den Boden zu entziehen. Wenn das Hinterherkommende dem Vorausgegangenen so verpflichtet ist, wie es sich in dieser Abhängigkeit verrät, dann tut es nicht wohl daran, sich ihm gegenüber als Überwinder aufzuspielen. Noch schwerer aber wiegt ein Zweites. Es wäre ein Irrtum, zu meinen, der Vorgang, der aus dem Grunde der im Umgang erlebten Weltverbundenheit die Parteien „Mensch“ und „Sache“ hervortreibt, sei ein einmaliges geschichtliches Ereignis, dessen Ergebnis auf die nachkommenden Geschlechter als fertig zu übernehmendes Erbe, als endgültig eingebrachte „Errungenschaft“ ohne weiteres übergehe. Es ist durchaus nicht so, daß den Nachwachsenden die Phase des Umgangs erlassen wäre und gleich mit der „Sache“ anzufangen gestattet würde. Vielmehr ist jene Differenzierung ein Vorgang, der in jedem neu heraufkommenden Geschlecht, ja, in jedem einzelnen ins Dasein hineinwachsenden Individuum von Anbe-
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ginn an wiederholt werden muß, wenn es in der Sphäre der Sachbemeisterung Fuß fassen soll. Gewiß wird dieser Vorgang erleichtert und beschleunigt, wenn er in der lernenden Berührung mit dem sich vollzieht, was die dahingegangenen Geschlechter an Sacherschließung bereits hinter sich gebracht haben. Aber abgenommen wird er keinem, der an diese Sphäre den Anschluß sucht. Jedes Kind, das in einem vor unseren Augen ablaufenden Prozeß die Dinge als „Objekte“ sehen und behandeln lernt, vollzieht damit von neuem den Umschlag, der die im Umgang als Lebenspartner begegnende Welt in die theoretisch und praktisch zur Sache neutralisierte Welt verwandelt. Und endlich drittens: auch der, der es in der theoretisch-praktischen Bewältigung der Welt zu hoher Könnerschaft, ja, zu wirklicher Meisterschaft gebracht hat, hört darum nicht auf, mit ihr die Beziehungen zu unterhalten, die in Gestalt des Umgangs erlebt werden. „Sache“ ist die Welt für ihn genau so lange und nur so lange, wie er ihr denkend und handelnd in der Einstellung des auf Sachbeherrschung ausgehenden Subjekts gegenübersteht. In eben dem Maße, wie die dazu erforderliche Anspannung des Geistes nachläßt, treten an der Welt wieder die Züge hervor, die der Versachlichung weichen mußten, und das heißt: die Situation des Umgangs ist wiederhergestellt – eine Rückbildung, in der sich die polare Zusammengehörigkeit von Objektbildung und Subjekthaltung von der negativen Seite offenbart. Ja, tiefer gesehen ist der Sachforscher sogar mit seinem sachbezogenen Tun selbst auf den Umgang angewiesen. Erinnern wir uns, daß der Mensch niemals die mit der Sachhingabe einhergehende Zurückdrängung seiner Person auf sich nehmen würde, es sei denn, daß ein in der Tiefe eben dieser Person verwurzeltes Motiv ihm diese Entselbstung ratsam erscheinen ließe! Wenn das Stück Natur, dem sein forschender Eifer gilt, ihm nicht zunächst ein Antlitz zukehrte, durch das es sein Interesse auf sich zieht, wenn es ihm nicht in seiner sinnlichen Erscheinung Anreize zur Untersuchung und Ansatzpunkte zur methodischen Bearbeitung darböte – was sollte ihn dahin bringen, ihm so viel Teilnahme zu schenken, was ihn dazu vermögen, ihm so viel Anstrengung zuzuwenden! So läßt uns gerade die Lebenshaltung des Sachforschers erkennen, wie wenig davon die Rede sein kann, daß vor der vordringenden Sachwissenschaft der Umgang den Rückzug anzutreten hätte.
Die Wahrheit des Umgangs Es wäre mit dem Gesagten nicht viel gewonnen, hätten wir nicht mehr nachgewiesen als dies, wie unverdrängbar die Eindrücke sind, in denen der Umgang sich je und je seinen Inhalt gibt. Der Vorwurf, daß der Mensch
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durch sie über das Wirkliche getäuscht werde, wäre durch diesen Nachweis nicht widerlegt. Worauf es uns ankommt, das ist die Rehabilitierung desjenigen, was man die „Wahrheit“, d. h. die welterschließende Kraft dieser Eindrücke nennen könnte. Diese Wahrheit ist es, für die Goethe mit seinem Kampf gegen den Absolutheitsanspruch von Newtons rechnender Wissenschaft eine Lanze gebrochen hat. Man kann das, was Goethe in seinen hierher gehörigen Darlegungen unternimmt, als einen einzigen großen Rettungsversuch verstehen, durch den er die dem Umgang vorbehaltene und nur im Umgang zu gewinnende „Wahrheit“ vor der Überwältigung durch den mathematisch-technischen Denkimperialismus bewahren möchte. Und wenn er Newton gegenüber ohne Frage den kürzeren zieht in dem Bemühen, der mathematischen Naturwissenschaft unter Berufung auf die dem Umgang aufgesparte „Wahrheit“ die Glaubwürdigkeit zu entziehen, so behält er tausendmal recht mit dem leidenschaftlichen Aufstand wider die Zumutung, die besagte „Wahrheit“ dem Herrschaftsanspruch einer dogmatisch verabsolutierten Wissenschaft zum Opfer zu bringen. Und als der diesen Aufstand Erregende ist Goethe heute so aktuell wie nur je. Denn je großartiger die Triumphe sind, durch die die rechnende Naturwissenschaft in den seit Newton verflossenen zwei Jahrhunderten die Welt in Erstaunen gesetzt hat, um so mehr ist auch die Neigung zur Erneuerung jenes Denkimperialismus gestiegen, der von keiner anderen Wahrheit wissen will als von der sich in Gestalt von Maß und Zahl darbietenden. Indem wir beides ablehnen: sowohl mit Goethe die mathematische Wissenschaft von der Natur als auch mit Newton den Umgang mit der Natur einer Täuschung des Menschen schuldig zu sprechen, stehen wir wieder vor einem Sachverhalt von antinomischem Charakter. Denn es ist doch schließlich dieselbe Natur, die uns im Umgang dies konkret-beseelte Antlitz zukehrt und in der Wissenschaft als dies abstrakt-formale Relationsgefüge entgegentritt. Muß denn nicht entweder jener oder dieser Aspekt als der „eigentlich“ gültige ausgezeichnet werden? Und doch soll der eine so gut wie der andere recht behalten! Indessen glaube man nicht, daß die hier sichtbar werdende Antinomie eine andere sei als diejenige, die uns bereits beschäfligt hat. Wenn uns bis hierher die Antinomie als der zwischen „Mensch“ und „Sache“ aufbrechende Gegensatz zu denken gegeben hat, so heißt es jetzt einsehen, daß die Schärfe dieses Gegensatzes nicht verstanden werden kann, es sei denn, daß man die in Form des Umgangs erfolgende Begegnung mit der Natur in die Betrachtung einbeziehe. Denn warum wird die Spannung zwischen der zur Sache formalisierten Natur und dem zum Selbstsein strebenden Menschen so schmerzhaft verspürt, wenn nicht aus dem Grunde, weil dieselbe Natur, die der Mensch jetzt in die Ferne des zu kühler Indifferenz
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herabgestimmten Objekts zurückweichen sieht, ihm zuvor in einer Gestalt begegnet ist, die das genaue Gegenteil ist von reservierter Abstandnahme und teilnahmsloser Sachlichkeit: nämlich in der Gestalt des ihn beanspruchenden und seine Antwort herausfordernden Lebenspartners? Das will wahrlich nicht besagen, daß sie ihm bis zum Eintritt der Objektivierung nur als huldvolle Gönnerin begegnet wäre; sie mag ihm ebensooft das grauenerregende Antlitz der Verderberin zugekehrt haben. In keinem Falle aber beobachtete sie ihm gegenüber die Zurückhaltung des gegen sein Dasein gleichgültigen Unbeteiligten. Er wußte sich von ihr angesprochen und durch sie in die Schranken gefordert. Es war ein echtes Lebensverhältnis, das ihn mit ihr verbündete. Solange dies Lebensverhältnis dauert, kann sich der Mensch durch die Natur anerkannt, in seinem Sein bestätigt, in seinem Wert geachtet fühlen. Sie rechnet mit ihm, selbst wenn sie ihn zermalmt; denn sie verschmäht es nicht, sich mit ihm zu messen. Nicht so die Natur, die sich zur Sache neutralisiert hat. Für sie ist er als Mensch, als dieser bestimmte Mensch nicht vorhanden. Sie fragt nach ihm sowenig wie nach einem verächtlichen Stück Holz. Sie wäre ja nicht „Sache“, wenn sie Unterschiede machen wollte. Die kalte Gleichgültigkeit, in der die zur Sache reduzierte Natur dem Menschen entgegenstarrt, muß ihn in seinem Menschsein gerade deshalb so empfindlich treffen, weil dieselbe Natur ihn zuvor in seinem Menschsein respektiert und der Zuwendung für würdig erachtet hat. So bildet jenes Lebensverhältnis den Hintergrund, vor dem sich der Gegensatz von Mensch und Sache in seiner fühllosen Härte ungemildert abzeichnet. Kein Wunder, daß Goethe, indem er den Menschen vor den Übergriffen des sachgebundenen Denkens in Schutz nimmt, vor allem der im Umgang begegnenden Natur ihr Recht zu wahren sucht und sie, die allgegenwärtige Gefährtin des Menschen, nicht scharf genug von der zur Sache neutralisierten und damit dem Menschen entfremdeten Natur trennen kann.
Zehntes Kapitel Umgang und Menschenbildung Pflegebedürftigkeit des Umgangs? Obwohl es indessen nur die uns vertraute Antinomie ist, die uns im Widerspruch der Naturaspekte begegnet, sehen wir doch an unserem Problem eine neue Seite heraustreten, sobald wir diesen Widerspruch in die Beleuchtung der „Bildungs“-Frage rücken. Wenn zum rechten Menschentum der Kreis von Erfahrungen hinzugehört, die nur der Umgang spenden
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kann, muß dann nicht die Arbeit der Bildung diesen Kreis unter ihre Obhut und Pflege nehmen? Diesem Vorschlag tritt ein Einwand entgegen, vollkommen analog demjenigen, der wider die Beschäftigung mit der Antinomie überhaupt ins Feld geführt wurde. Auch hier heißt es: wozu sich die Pflege von etwas angelegen sein lassen, was ohnehin seines Daseins und Wirkens gewiß sein darf? Daß der Mensch jemals aufhöre, mit der Welt diejenigen Beziehungen zu unterhalten, die wir unter dem Namen „Umgang“ zusammenfaßten, kann kein klar Denkender besorgen. Selbst wenn er auf die Wahrheit jener Doktrinen schwört, die ihn anhalten, den dem Umgang entfließenden Gewißheiten jedes Zutrauen zu verweigern, braucht er nur aus dem Äther der Theorie auf den festen Boden der Realität zurückzukehren, um alsbald wieder im Bann der Eindrücke zu stehen, die als Täuschung zu verabschieden ihm sein Dogma zuredete. Die farbige, tönende, lockende, erschreckende Welt, jenem Dogma zufolge eine trügerische Phantasmagorie, nimmt ihn genau so in Beschlag wie den von solchen Doktrinen gänzlich Unangekränkelten. Selbst wenn er von der Überlegenheit aller naturwissenschaftlich-technischen Veranstaltungen durchdrungen ist, hört er darum nicht auf, mit der ihm in sinnlicher Gegenwärtigkeit begegnenden Natur in derselben Weise „umzugehen“ wie der solchen Wissens Unteilhaftige. Selbst wenn er sich im Besitz einer unfehlbaren Naturwissenschaft von der Menschenwelt und einer den Erfolg garantierenden Technologie der Menschenbearbeitung glaubt, fällt es ihm nicht ein, den im Umgang mit seinen Mitgeschöpfen sich bildenden konkreten Erfahrungen den Glauben zu kündigen und sein Handeln statt an ihnen an allgemeinen Regeln zu orientieren, die das vollsaftige Leben blutleeren Abstraktionen zum Opfer bringen. Was sich so unverdrängbar zu behaupten weiß – wozu dem auch noch erzieherische Obsorge zuwenden? Wozu dem ohnehin Vorhandenen eine Pflege angedeihen lassen, auf die das keineswegs fertig vorgefundene Vermögen der Sacherschließung vollen Anspruch hat?
Verkümmerung des Umgangs Allein diesen Einwand zu widerlegen genügt der Hinweis auf die Überlegungen, durch die er hervorgerufen wird. Ob der Umgang einer besonderen pädagogischen Fürsorge bedürfe – diese Frage konnte überhaupt nur laut werden auf Grund der Tatsache, daß der Umgang eine Form des Lebens ist, die auf der von uns erreichten Entwicklungsstufe nicht bloß in unbefangener Selbstverständlichkeit getätigt wird, sondern auch die Besinnung auf sich gezogen hat. Solange dies nicht der Fall war, konnte sie nicht zum pädagogischen Problem werden. Daß sie es werden konnte und
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geworden ist, darin bezeugt sich der Verlust der Naivität, die ihrem ursprünglichen Vollzuge zu eigen war. Daß aber die Reflexion auf sie hingelenkt wurde, das hatte hinwiederum nicht zum wenigsten seinen Grund in den Exzessen des Eroberungsdranges, den die Bahnbrecher der Sachwissenschaften dadurch entfesselten, daß sie den von ihnen erprobten Denk- und Handlungsformen universale Geltung beilegten. Indem dieser Drang der Lebensform des Umgangs das Daseinsrecht bestritt, machte er die Rettungsaktion notwendig, durch die dem Umgang die ihm zugemutete Abdankung erspart werden sollte – eine Aktion, die einer höherstufigen Betätigung der Reflexion gleichkam. Wiederum zeigt es sich, daß die Reflexion niemals bloß eine Betrachtung ist, die den durch sie belichteten Gegenstand ungewandelt ließe. Sie greift so oder so in seine Gestaltung ein. Und wenn sie bei diesem Eingreifen von Voraussetzungen ausgeht, durch die das Wesen ihres Gegenstandes verkannt wird, so ruft sie durch ihr Fehlgehen diejenige Reflexion auf den Plan, durch welche der ihr unterlaufene Irrtum berichtigt und die durch sie verschuldete Entstellung behoben wird. Aber die Wiederherstellung des Gegenstandes ist nicht einfach eine Rückkehr zu der Lage, die dem ersten Eintritt der Reflexion vorausging. Das Wiedergewonnene ist vom Licht einer Bewußtheit durchstrahlt, deren es vorher ermangelte. Es ist die Aufgabe der Wiederherstellung, vor die wir uns gestellt fanden, als wir im Gefolge Goethes den Umgang wider die ihm drohende Verkümmerung in Schutz nahmen. Es ist die nämliche Aufgabe, auf die die pädagogische Besinnung sich zubewegt, wenn sie sich fragt, ob der Umgang einer ihm eigens zugewandten erzieherischen Pflege bedürftig sei oder auch ohne sie seines ungeschmälerten Gedeihens sicher sein könne. Muß sie sich überzeugen, daß er in Gefahr ist, unter dem Druck unangemessener Denkformen zu verkümmern, so hat sie die Gegenwirkungen einzusetzen, die ungehörigen Übergriffen Einhalt gebieten. Kein Zweifel, daß dies die Situation ist, in die sich die Erziehung von heute versetzt findet. Vieles wirkt zusammen, um den Menschen in seiner Empfänglichkeit für die Gesichte der ihm begegnenden Natur, in seiner Aufnahmebereitschaft für die Anrufe der ihm begegnenden Menschenwelt zu erschüttern. Von allen Seiten dringen Beschwörungen und Verwahrungen auf ihn ein, die ihn dahin bringen möchten, sein Vertrauen zur Welt durch das Vertrauen zu pseudowissenschaftlichen Dogmen zu ersetzen. Sollte es da nicht angezeigt sein, in ihm das Unterscheidungsvermögen großzuziehen, das ihn befähigt, Vertrauen so zu gewähren und zu versagen, wie nicht das Vorurteil eigensinniger Doktrinen, sondern die einsichtige Würdigung der zwischen Mensch und Welt obwaltenden Beziehungen es anrät? Mag also auch der Mensch sich den Eindrücken der Welt nicht so ganz
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zu entziehen imstande sein, wie die kritisierte Lehre es ihm vorschreibt, so gibt das den für die Bildung des Menschen Verantwortlichen noch nicht das Recht, sich in dieser Hinsicht jeder Verpflichtung ledig zu fühlen. Der Mensch von heute hat es nötig, wider die Machtsprüche immunisiert zu werden, die im Namen einer fälschlich absolut gesetzten Wissenschaft über das Ganze des Lebens ergehen, und in dem Vertrauen gefestigt zu werden, auf das bestimmte dieser Wissenschaft inkommensurable Erfahrungen, bestimmte ihr verschlossene Formen des Wirkens Anspruch haben. Um seine „Bildung“ wird es um so besser bestellt sein, je klarer und bewußter er den zwischen jenen und diesen obwaltenden Gegensatz zu sehen und, wenn es handeln heißt, in Rechnung zu stellen vermag.
Verkümmerung des zwischenmenschlichen Umgangs Wir suchen die erörterte Antinomie zunächst an der Stelle auf, an der sie sich zu unüberbietbarer Schärfe herausarbeitet und daher auch die schwersten Kollisionen heraufbeschwört. Diese Stelle ist gegeben – nach allem Vorausgegangenen versteht es sich von selber – in dem Bereich der zwischenmenschlichen Bezüge. Es ist die Welt des Menschen, die wie in der Theorie so auch und erst recht in der Praxis unter den Übergriffen einer ihre Kompetenzen überschätzenden Denk- und Handlungsform zu leiden hat – es ist die Welt des Menschen, die nur durch den Einspruch und Widerstand der einzig im Umgang zu erwerbenden Erfahrungen, der einzig im Umgang einzusetzenden Gegenwirkungen aus den durch jene Übergriffe verschuldeten Entstellungen wiederhergestellt werden kann. Wir sahen, wie die moderne Welt eine ständig wachsende Zahl von Menschen in ein Arbeitsgefüge hineinzwingt, dessen Bau in seinen Grundzügen durch das Gebot der Sache bestimmt ist und das daher dem einzelnen eine Arbeitsleistung abfordert, die nur von der Sache her und nicht durch die Rücksicht auf seine Person bestimmt ist. Auf diese Weise kommt es dahin, daß Menschen von prinzipiell unbegrenzter Zahl dadurch, daß sie an ein und demselben arbeitsteilig organisierten Produktionsprozeß beteiligt sind, aufs engste miteinander verbunden werden. Aber was sie aneinander bindet, das ist nicht eine unmittelbar, d. h. im Verkehr von Mensch zu Mensch sich herstellende Beziehung, sondern die mittelbar, d. h. durch Verpflichtung auf dieselbe Sache, zustande kommende Einordnung in ein und denselben Arbeitszusammenhang. Sie blicken, im Bilde gesprochen, nicht einander ins Angesicht, sondern auf die den einen wie den anderen für sich einspannende Sache. Soweit der Zusammenhang der Menschen in dieser Sachgebundenheit begründet ist, entbehrt er aller
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Züge, die den Umgang als solchen kennzeichnen. Und es fehlt nicht an Sozialtheorien, die die Vollkommenheit einer gesellschaftlichen Ordnung daran meinen messen zu sollen, wie weit sie es fertiggebracht habe, das Verhalten der in ihr vereinten Menschen so gänzlich dem Gebot der Sache konform zu machen, daß die Bindung im Umgang als überflüssig, wo nicht störend empfunden werde. Zumal jene Doktrinen, die die „Technik der Gesellschaft“ der Verwirklichung näherzubringen bestimmt sind, können gar nicht anders als in einer so total durch die Sache bestimmten Gesellschaftsverfassung das Ideal menschlicher Ordnung erblicken. Denn jene Technik wird das Getriebe des menschlichen Lebens um so sicherer in ihren Griff bekommen, je gründlicher die durch den Umgang verschuldeten Schwankungen des Zusammenlebens ausgemerzt sind. Und daß die „Technik der Gesellschaft“ mehr ist als ein Hirngespinst politischer Utopisten, das beweist die Praxis der politisch-gesellschaftlichen Systeme, deren Ehrgeiz es ist, sich dem Ideal der vollkommen in der Sache aufgehenden Gesellschaft nach Möglichkeit anzunähern. Nun versteht es sich von selbst, daß dieses Ideal der zum reinen Funktionszusammenhang entleerten Gesellschaft aus dem einfachen Grunde von der Möglichkeit der Verwirklichung ausgeschlossen ist, weil die Menschen, sie mögen, sei es aus freiem Entschluß, sei es unter dem Druck des Systems, noch so sehr darauf bedacht sein, sich zu Mandataren der Sache zu entselbsten, Menschen zu sein nicht aufhören. Und das bedeutet: es steht nicht in ihrer Macht, den Kreis von Erlebnissen, Erfahrungen, Bedürfnissen, Begehrungen, den das Wort „Umgang“ bezeichnet, so völlig aus ihrem Daseinshorizont zu verbannen, wie das Aufgehen in der Sache es erfordern würde. Der Arbeitsgenosse, mit dessen Leistung sich die eigene sachgemäß zusammenfügt, bleibt auch dann noch der Mitmensch, wenn man in ihm nicht mehr als den Mitfunktionär sehen möchte. Was in der Macht des Menschen steht, das ist nur dies: den Umgang mit dem denkbaren Mindestmaß von innerer Teilnahme abzuspeisen und ihn auf diese Weise an den Rand des Lebens abzudrängen. Es entsteht so der Typus des dem Menschlichen abgestorbenen Sachfanatikers. In seinem Verfahren waltet eine Daseinsökonomie, genau entgegengesetzt derjenigen, deren sich der aus dem Sachdienst in die Innerlichkeit flüchtende Anwalt der Menschlichkeit befleißigt, und doch mit ihr einig in dem Bestreben, die Antinomie durch äußere Aufteilung der Gebiete und Depotenzierung des einen von ihnen zum Verschwinden zu bringen.
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Wiederherstellung des zwischenmenschlichen Umgangs Daß die durch den Sachzusammenhang der Produktion verbundenen Menschen zugleich im Verhältnis des Umgangs stehen, das ist ein Umstand, der von dem nur auf den Sachertrag Erpichten als Hemmung und Nachteil gebucht und nach Möglichkeit außer Wirksamkeit gesetzt wird. Er bringt ein Moment der Unsicherheit und Unbeherrschbarkeit in den Produktionsprozeß hinein, durch das, so scheint es, das Aufgehen der Rechnung gefährdet wird. Ganz anders die Reflexion, die die Antinomie unabgeschwächt und unbeschönigt in die Lebensbilanz einzusetzen bereit ist! Sie hat vor den Herolden der Sachdienstbarkeit zunächst einmal dies voraus, daß sie sich gegen einen Sachverhalt zu sträuben unterläßt, der durch keine Kunstgriffe der Daseinsgestaltung zum Verschwinden gebracht werden kann. Aber sie begnügt sich nicht damit, diesen Sachverhalt als ein Faktum anzuerkennen, das, ein unabänderliches Verhängnis, so wie es ist hinzunehmen wäre. Zwar kann er nicht beseitigt werden, aber er sperrt sich auch nicht dagegen, durch Einsicht erleuchtet und auf Grund dieser Einsicht so gemodelt zu werden, wie es im Interesse des durch ihn beschlagnahmten Menschen liegt. Daß zwischen der Sachverpflichtung des Menschen und der Bindung an seinesgleichen ein Verhältnis der Spannung besteht, das ist eine Voraussetzung, an der rütteln zu wollen dieser Reflexion absurd erscheint. Sie weiß: es wird immer so bleiben, daß die in der Sache liegenden Forderungen mit den durch menschliches Empfinden nahegelegten Rücksichten zusammenstoßen. Aber die Situationen, die solche Zusammenstöße hervorrufen, sind nicht in sich so unabänderlich festgelegt, daß sie abwägende Voraussicht, besonnene Überprüfung und besserndes Eingreifen ausschlössen. Sie gestatten nicht nur, sie fordern verantwortungsvolle Gestaltung. Wir wissen, daß die Bedingungen solcher Gestaltung auf beiden Seiten nicht gleich günstig liegen. Die Sache läßt zwar, wie sich zeigte, der Modifikation des Einzelnen einen gewissen Spielraum. Aber in der Gesamtanlage weist sie abwandelnde Eingriffe ab. Viel beweglicher, wandlungsfähiger, beeinflußbarer ist das, was in der Sphäre des Umgangs zwischen Mensch und Mensch vor sich geht. Mehr als dies: es gewinnt überhaupt erst dadurch seine Gestalt, daß die partnerschaftlich Verbundenen sich für ein bestimmtes Verhalten und gegen ein anderes mögliches Verhalten entscheiden. Hier findet der Wille zu bewußter Lebensgestaltung ein weites und dankbares Feld. Gilt es also, dem Widerspruch zwischen Sachforderung und menschlichem Anspruch etwas von seiner Härte zu nehmen, so wird das Entscheidende auf der Seite des Umgangs und nicht auf der Seite der Sachordnung geschehen müssen. Wenn die Sache durch die Unerbittlichkeit der Forderung den Menschen sich selbst zu entfremden nur zu
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sehr geeignet ist, so kommt alles darauf an, daß diejenigen, die durch die Bindung an die nämliche Sache aneinander verwiesen und beieinander festgehalten werden, ihrem personalen Verhältnis einen Inhalt zu geben wissen, der durch seine menschliche Erfüllheit ihnen hilft, dem Druck der Sache standzuhalten. Es können durch die Weise des Miteinanderlebens und -wirkens die Motive, aus denen die Bereitschaft zur Sachleistung entspringt, erweckt und niedergehalten, veredelt und vergröbert werden. Was hier in einer abstrakten Gedankenführung entwickelt wurde, das deckt sich mit dem Inhalt der Erfahrungen, die etwa seit einem halben Jahrhundert das Leben der industriellen Gesellschaft denjenigen beschert hat, die erkannten, daß das zentrale Problem dieser Gesellschaft sich stellt nicht in der Frage nach der Sache, die durch den Menschen zu produzieren ist, sondern in der Frage nach dem Menschen, durch den die Sache zu produzieren ist. Daß der Schwerpunkt der Fragestellung sich dergestalt verlagerte, das konnte nicht ausbleiben in einem Zeitalter, das nicht nur mit der gigantischen Ausweitung und technischen Vervollkommnung seiner Produktionsformen die Überwältigung des Menschen durch die Sache mit atemraubender Beschleunigung an den Tag brachte, sondern auch politische Systeme auf den Plan treten sah, die den zur Sachhörigkeit entmündigten Menschen durch ihre Ideologie zur Norm erhoben – ja, die ihn sogar durch ihre Methode der Menschenbearbeitung heranzuzüchten mit beängstigendem Erfolge bestrebt waren. An dem Gegenbilde dieses menschenmörderischen Treibens zeichnet sich alles dasjenige ab, was anderwärts gedacht und geplant, versucht und vollbracht worden ist in dem inständigen Bemühen, das menschliche Verhältnis zwischen den durch den Produktionsprozeß Zusammengebrachten, seien sie nun Führende oder Geführte, Erdenkende oder Vollstreckende, auf diejenige Form zu bringen, die geeignet wäre, den Druck der Sache zu mildern und den Menschen im Glauben an sich selbst zu bestärken. Man erkannte, daß selbst eintönige und ermüdende Arbeit da am ehesten ertragen, am willigsten geleistet wird, wo der rechte Geist das Ganze durchwaltet, wo Verständnis, Rücksicht, Hilfsbereitschaft, kurz, ein im Bewußtsein der Solidarität gegründetes Einvernehmen die Werkenden aller Stufen und Grade zusammenhält. So kam es, daß die Zone des Umgangs, die so lange im Schatten der Sachnotwendigkeit gelegen hatte, in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückte. Das Ganze der Überlegungen, Versuche, Erfolge, auf die hier andeutend hingewiesen wurde, ist ein schlagender Beleg dafür, wie weit der grundlegende Sachverhalt, den wir im Begriff der „Antinomie“ zu fassen versuchten, sich bereits in das Bewußtsein der Verantwortlichen vorgearbeitet hat. Denn alle die Sorgen, die jenen Bemühungen zugrunde liegen, können nur den beschweren, der sowohl die Unausweichlichkeit der For-
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derungen erkennt, mit denen die durchorganisierte Arbeitswelt den ihr Verhafteten in Beschlag nimmt, als auch um die Bedrohung weiß, der die Person kraft dieser Beanspruchung ausgesetzt ist. Nur der hier klar Sehende kann der Notwendigkeit inne werden, dem bedrohten Selbstsein des Werkenden durch jene Kräfte menschlicher Vergemeinschaftung zur Hilfe zu kommen, die nur da ihre Segenswirkungen entfalten können, wo dem Umgang sein Recht gewahrt bleibt.
Die Erziehungsaufgabe Wer einmal erkannt hat, wie sehr unsere Zukunft davon abhängt, daß der den Menschen mit dem Menschen verbindende Umgang davor geschützt wird, durch das Schwergewicht der Sachforderungen erdrückt zu werden, der wird der Meinung Valet sagen, die Welt des Umgangs sei aus dem Grunde keiner erzieherischen Pflege bedürftig, weil sie sich schon ohne unser Zutun gestalte und erhalte. Gewiß: daß sie der Diktatur der Sache gänzlich das Feld räume, ist nicht zu besorgen. Aber ob sie in kümmerlichen Andeutungen vegetiert oder in vollkräftigem Leben gedeiht, das hängt einzig von der Gesinnung und Haltung derjenigen ab, in deren Tun und Lassen der Umgang sein Profil gewinnt. Gesinnung und Haltung aber sind Daseinsmächte, die heranbilden zu helfen nun einmal eine der wesentlichsten unter den Aufgaben ist, die der erzieherischen Bemühung als solcher gesetzt sind. Und wenn die Entwicklung der gesellschaftlichwirtschaftlichen Zustände nur zu sehr darnach angetan ist, dem Umgang seine Rechte zu verkürzen, dann gehört die Erziehung zu den Kräften, die sich in allererster Linie aufgerufen fühlen müssen, der hier drohenden Verkümmerung zu wehren. Um aber dieser Verkümmerung erfolgreich begegnen zu können, muß der Mensch sehend geworden sein für die Verwicklungen, durch die sie bewirkt wird. Das bedeutet: es muß sich ihm die Antinomie enthüllt haben, deren Bedrohlichkeit sich in diesen Ausfallserscheinungen verrät. Wenn er von ihr nichts wüßte, würde er auch keine Veranlassung verspüren, vor den ihr innewohnenden Bedrohungen auf der Hut zu sein. Deshalb wird die Erziehung, die den auf sie entfallenden Anteil an der Verantwortung für das Werdende recht begreift, eine Erziehung zur Wachsamkeit sein – zu der Wachsamkeit, deren es bedarf, damit nicht der Mensch, ohne es zu wissen und zu wollen, der Entseelung des im Umgang pulsierenden Lebens Vorschub leistet. Nur wenn die Erziehung das Ihre tut, die Einsicht in Art und Umfang dieser Selbstgefährdung zum Gemeinbesitz zu machen, dürfen wir hoffen, dem uns bedrohenden Schicksal der Selbstzerstörung zu entgehen. Wenn man die Bedingungen mustert, unter denen heute „Bildung“,
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„Menschlichkeit“ errungen und gewahrt werden muß, dann ermißt man die Größe des Abstandes, der eine diese Bedingungen einrechnende Pädagogik von der Pädagogik des humanistischen „Persönlichkeits“-kultes trennt. Und ich stehe nicht an, zu behaupten, daß heute das pädagogische Leben am kräftigsten in den Kreisen derjenigen pulsiert, die, weil an der Berührungsstelle von Erziehung und Wirtschaft postiert, am wenigsten in Versuchung kommen, in ihren pädagogischen Planungen den Bedingungen des modernen Arbeitslebens die ihnen gebührende Rücksicht zu versagen und einer Bildung unter der Glasglocke der Innerlichkeit das Wort zu reden. Die Antinomie muß sich ihnen aufdrängen, wenn anders sie den Menschen nicht über der Sache vergessen.
Elftes Kapitel Umgang mit Außermenschlichem Begegnende Natur Welche Aufgaben der Erziehung mit dem Problem des rechten Umgangs gestellt sind, das haben wir uns an derjenigen Lebenssphäre verdeutlicht, in der der Umgang das Höchstmaß von seelenbannender Eindringlichkeit erreicht: an der Sphäre der zwischenmenschlichen Beziehungen. Vergessen wir aber nicht, daß das Lebensverhältnis, welches wir in dem terminus „Umgang“ zu fassen versuchten, sich auch in den Beziehungen realisiert, die den Menschen mit der Wirklichkeit des Außer- und Untermenschlichen, der belebten und der unbelebten Natur, verknüpfen! Konnte doch Goethe die Eigenart dieses Verhältnisses an einem so neutralen, d. h. alle Lebensgebiete übergreifenden Phänomen, wie die Farbe es darstellt, zur Anschauung bringen. Wie sehr auch in diesen Bereichen der Umgang Gefahr läuft, durch die Wucht der Sachbezüge erdrückt zu werden, kann niemandem entgehen, der bemerkt, wie stark die Seele des modernen Menschen sich durch die der Sachsphäre entstammenden Formen der Wirklichkeitserfassung und Wirklichkeitsbehandlung hat in Beschlag nehmen lassen. Um so unübersehbarer die Verpflichtung, die der Bildungsarbeit aus der auch hier drohenden Verkümmerung der nur im Umgang zu gewinnenden Erfahrungen erwächst! Goethes Bemühen, dem Menschen für die „Sprache der Natur“ die Ohren zu öffnen, hat wahrlich an Aktualität unerhört zugenommen in einem Zeitalter, das alles tut, um die den Menschen durch ihre Anrede suchende Natur, die Natur der Farben, Formen, Klänge, Stimmungen, hinter der wissenschaftlich rubrizierten und technisch disziplinierten Natur
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verschwinden zu machen. Der Mensch von heute muß daran erinnert werden, daß die Natur mehr ist als ein gigantisches Rechenexempel und ein unerschöpfliches Kräftereservoir. Er muß wieder den Zugang zu den Erschütterungen und Erhebungen gewinnen, die nur der Umgang mit ihr dem aufnahmebereiten Gemüt gewährt. Und wenn er ihn gewinnt, dann wird sich das bestätigen, was oben in allgemeiner Form festgestellt wurde: daß der aus der Entfremdung wiederhergestellte Umgang nicht dasselbe ist, was er vor Eintritt der Entfremdung war. Er ist, weil auf einem Umweg wiedererworben, der naiven Selbstverständlichkeit enthoben, wird mit gesteigerter Bewußtheit genossen und mit verstärkter Beflissenheit durchgebildet.
Kunst Daß die neue Naturverbundenheit diesen Zug von Reflektiertheit an sich hat – daß sie sich in diesem Sinne zu „vergeistigen“ vermochte: dies ist es, was uns begreifen läßt, daß der Umgang mit der Natur einer bestimmten Richtung des Schaffens zum Ursprungsort und Nährboden werden konnte. Wiederum ist es schon Goethe gewesen, der den hier vorliegenden Zusammenhang in voller Klarheit gesehen hat. Denn es ist kein Zufall, daß die Problematik der dem Umgang investierten Farbe ihm aufgegangen ist nicht in der Beschäftigung mit der Farbe der noch unberührten Natur, sondern im Nachdenken über die Funktion, die die Farbe in der Malerei ausübt. Er fragt nach ihrem Beitrag zur Gestaltwerdung der Kunst. Es ist eine in die Tiefe dringende Einsicht, durch die Goethe dazu vermocht wird, die dem Kunstwerk einverleibte Farbe so eng mit der im Umgang sich darbietenden zu verknüpfen, ja geradezu die Eigenart dieser sich durch jene erhellen zu lassen. Es ist die Einsicht, daß die Kunst mit der im Umgang begegnenden Natur in einem Verhältnis steht, dessen Innigkeit gerade dann am schlagendsten hervortritt, wenn es mit dem Verhältnis verglichen wird, das zwischen derselben Natur und der objektivierenden Wissenschaft obwaltet. Ohne Übertreibung darf man sagen, daß die Wissenschaft einerseits, die Kunst andererseits von der im Umgang begegnenden Natur her, die für die eine so gut wie für die andere die Ausgangslage bildet, den entgegengesetzten Weg einschlagen. Die Wissenschaft bringt, je strenger sie das Verfahren der Objektivierung und Formalisierung durchführt, um so gründlicher die im Umgang erfahrenen und als Ansprache der Natur vernommenen Qualitäten der Welt zum Verschwinden. Die ausdrückliche Desavouierung dieser Qualitäten, zu der sich ihre Wegbahner verpflichtet glaubten, ist das Siegel auf diesen Bruch mit der Welt des Umgangs. Genau umgekehrt die Kunst! Sie ist in jeg-
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licher Gestalt so ferne davon, sich der im Umgang, und das heißt: der im ganzen Reichtum ihrer Qualitäten begegnenden Welt versagen zu wollen, daß sie die ihr zu dankenden Eindrücke liebend aufgreift, mit der Kraft der Gestaltung zu höchster Beredsamkeit emporsteigert und so den Umgang mit der Welt durch die Segnung des Genius rechtfertigt und verklärt. Wer es dem Respekt vor der objektivierenden Wissenschaft schuldig zu sein glaubt, dem Umgang jede daseinserhellende Kraft und damit seine „Wahrheit“ abzusprechen, der sollte bedenken, daß er damit zugleich die Kunst, diese sublimste Verdichtung des im Umgang mit der Welt Erfahrenen, zum müßigen Gaukelspiel herabwürdigt! Die Erziehung zur Kunst und in der Kunst hat also nicht bloß die Aufgabe, den werdenden Menschen mit einer der großen Grundformen menschlichen Schaffens vertraut zu machen, sie hat, darüber hinaus, einer Entwicklung entgegenzuarbeiten, die dahin tendiert, durch Überwuchern der Sachbindungen die sich als Umgang realisierende Beziehung von Mensch und Welt dem Schicksal der Auszehrung zu überantworten. Von den Gestalten der Kunst in den Bann geschlagen, soll der Mensch in dem Weltvertrauen bestärkt werden, das ihm unter den Suggestionen einer der Sache verfallenden Kultur mehr und mehr verlorenzugehen droht. In dem Gegensatz, der die Gestalten bildende Kunst von der die Sache nutzenden Zivilisation trennt, tritt uns noch einmal die Antinomie entgegen, von der das Leben des modernen Menschen beherrscht wird. Und vielleicht kommt der Abstand, der das „Bildungs“bemühen des Menschen von heute von dem im Zeitalter der Klassik möglichen und üblichen trennt, in nichts so klar zum Ausdruck wie in dem Wandel der Deutung, durch welche der Kunst ihr Anteil an der Gestaltung des Lebens gesichert werden soll. Damals konnte die Kunst als die segnende Göttin gefeiert werden, in deren Himmel sich der Mensch von den Befleckungen neuzeitlicher Zivilisation reinigen dürfe. Heute gilt dieselbe Kunst uns als der eine Pol eines übergreifenden Verhältnisses, das als unverdrängbaren Gegenpol die Macht der die Welt entgötternden Zivilisation in sich befaßt. Im Zeichen dieser Polarität leben zu müssen ist das Schicksal, dem nicht sowohl auszuweichen als vielmehr standzuhalten der Mensch durch seine „Bildung“ befähigt werden soll.
Sprache Eine Erziehung, die ihre Zeit versteht, kann heute gar nicht anders als, je folgerichtiger in Theorie und Praxis die Sache die menschlichen Energien in ihren Dienst zwingt, um so angelegentlicher darauf hinarbeiten, daß die dem Umgang vorbehaltenen Eindrücke, Erfahrungen, Erhebungen in ihrer unverkürzten Eigenheit, und das heißt: in ihrem polaren
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Gegensatz gegen die Formen der Sachdienstbarkeit durchlebt, verstanden, ausgeschöpft werden. Wir können heute wissen, daß das eine dem anderen aufopfern oder in das andere auflösen zu wollen einer Selbstzerstörung unserer Existenz gleichkäme. Wir fassen zum Abschluß ein Phänomen ins Auge, das deshalb unsere besondere Aufmerksamkeit verdient, weil es sowohl die innere Zusammengehörigkeit als auch die unauflösbare Gegensätzlichkeit des einen und des anderen mit unvergleichlicher Prägnanz zur Darstellung bringt. Dieses Phänomen ist die Sprache17. Von der „Sache“ ist nicht abzutrennen die Sprache, in der sie niedergelegt und fixiert ist. Die Wortbezeichnung ist nicht die nachträgliche Etikettierung einer Sache, die bereits in wortloser Form in Besitz genommen wäre. Vielmehr sind Profilierung der Sache und Präzisierung des sie bezeichnenden Wortes nur zwei Seiten eines und desselben Vorgangs. Es würde keine mathematische Naturwissenschaft geben ohne die Ausdrücke, in denen ihre Entdeckungen sich gestalten. Es würde keine Technologie geben ohne die Ausdrücke, in denen ihre Anweisungen ergehen. Es würde keine Organisation der Arbeit geben ohne die Ausdrücke, in denen ihre Ordnungen vorgeschrieben werden. In jeder dieser Formen des Gebrauchs ist die Sprache gekennzeichnet durch die Eigentümlichkeiten, die auch dem durch sie Bezeichneten zukommen. Sie ist die Sprache der vollendeten „Sachlichkeit“. Aus ihr ist mit unerbittlicher Folgerichtigkeit alles ausgeschieden, was die Reinheit der Sache durch Beimischung von außersachlichen, d.i. „menschlichen“ Motiven trüben könnte. Zu letzter Vollkommenheit dringt diese „entmenschte“ Sprache durch in jener Geistesschöpfung, in der die Sache gleichsam Leib geworden ist: in der Formel. Daß die Formel sich sogar der Bindung zwar nicht an die Sprache überhaupt, wohl aber an eine bestimmte Sprache entziehen und zu einer für alle Sprachgemeinschaften ohne Unterschied verständlichen und verbindlichen Gestalt sublimieren kann: das ist das klarste Zeugnis dafür, wie sehr sich die der Sache zugeordnete Sprache von aller Inhaltlichkeit des konkreten Lebens emanzipiert. Allein wenn wir oben feststellten, daß die Sache von Menschen nicht als ein bloß Hinzunehmendes und Aufzugreifendes vorgefunden wird, daß sie nicht am Anfang steht, sondern durch eine unerhörte Anspannung des Denkens aus dem Grunde einer vor-sachlichen Weltverbundenheit herausdifferenziert werden muß, so gilt von der Sprache, in der die Sache sich ausdrückt, genau das gleiche. Auch sie ist nicht ein Anfängliches, sondern herausentwickelt aus dem Grunde einer anfänglichen Sprache, die deshalb jeder sachlichen Präzision entbehren mußte, weil sie nur im 17
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Durchleben ursprünglicher Weltverbundenheit, nur im Erfahren der durch sie heraufbeschworenen Gesichte, ins Dasein treten und Gestalt gewinnen konnte. Diese im Angesicht und unter dem Anruf der Welt gewordene und immerfort werdende Sprache – sie führt herkömmlicherweise einen Namen, in dem wir eine nachträgliche Rechtfertigung der von uns gewählten Terminologie finden können. Sie heißt: die „Umgangs“-Sprache. Sie ist mit all ihren Eigentümlichkeiten ein unüberbietbar eindrucksvolles Dokument jener Beziehung von Mensch und Welt, für die wir keinen besseren terminus zu finden wußten als eben „Umgang“. In ihr gewinnt ein Lebenszustand Zunge, der alle dem Spätling geläufigen Scheidungen und Unterscheidungen: Theorie und Praxis, Wirklichkeit und Wert, Sein und Sollen, Mittel und Zweck, Zweckmäßigkeit und Schönheit, Schönheit und Heiligkeit, noch vor sich hat. Diese Sprache muß im Umgang mit der Welt ihr Wunderreich von Formen begründet haben, damit aus ihr kraft derselben Anspannung, die aus der Welt die Sache herauspräpariert, auch die zur Sache gehörige Sprache, zuhöchst die Sprache der Formel, herausdestilliert werden könne. Es ist ein und derselbe Prozeß, in dessen Vollzug die Sache selbst und die Sachsprache sich aus dem im Umgang webenden Lebensgeschehen herauslösen. Und endlich sehen wir auch insofern das uns von der Sache her vertraute Grundverhältnis wiederkehren, als, auch wenn die Sachsprache den höchsten Grad von Vollendung erreicht hat, die Sprache des Umgangs nicht etwa, weil durch Vollkommeneres entbehrlich gemacht, das Feld räumt, sondern in voller Wirksamkeit bleibt, ja, weil vom Gegenextrem der Sachsprache sich absetzend, sich ihrer Eigenart und ihres Eigenrechts erst recht bewußt wird. Wie sehr ihr solches Selbstbewußtsein ansteht, lehrt die Überlegung, daß nur aus dem Mutterboden der Umgangssprache diejenige Kunst erwachsen kann, die an der Sprache ihr Medium und ihr Organ hat: die Dichtung. Wollte die Umgangssprache abdanken, so müßte mit ihr die Dichtung von der Bildfläche verschwinden. Wie denn umgekehrt die der Sache dienstbare Sprache ihre Abkehr von der Welt des Umgangs in nichts so deutlich bezeugt wie in der systematischen Ausscheidung jedes Wesenszuges, an den das dichterische Gestaltungsvermögen anknüpfen könnte. Die Sachsprache ist die ex professo amusische Sprache. So findet in dem Gegeneinander von Sachsprache und dichterischer Sprache, von denen die eine so gut wie die andere in unserem Leben ihren Platz beanspruchen darf, die Antinomie des Menschlichen ihren schärfsten Ausdruck. Und zum letzten Male enthüllt sich uns die Abwegigkeit jener sublimierten Selbstsucht, die durch die Sezession in das Reich des „reinen“ Geistes den Widerspruch zum Verstummen bringen möchte. Denn
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unter den geistigen Mächten, die, wie man meint, nur in dem Abseits dieses geistgeweihten Bezirks ihre menschenerlösende Sendung erfüllen können, steht natürlich die Kunst und mit ihr die Dichtung in vorderster Linie. Aber eine Dichtung, die sich durch ihr ästhetisches Gewissen zur Absage an die Welt der sachgebundenen Arbeit verpflichtet glaubt, sucht sich damit aus einer Spannung zu lösen, deren Unaufhebbarkeit sie durch ihre eigene im gleichen Spannungsfelde stehende Sprache bezeugt. Sie trägt, sich dergestalt absondernd, an ihrem Teil dazu bei, den Menschen der Wirklichkeit zu entfremden, deren Gegensätze er sehen und bestehen muß, um nicht von ihnen verschlungen zu werden.
Abschluß Wir fanden uns genötigt, die unserem Zeitalter gemäße Auffassung von Menschlichkeit und Menschenbildung in aller Klarheit von derjenigen abzuheben, die als Vermächtnis unseres klassischen Zeitalters auf uns gekommen ist. Wenn wir uns erinnern, mit welcher Zähigkeit die einmal eingebürgerten Bildungsideen auch dann in den Gemütern zu haften pflegen, wenn die geschichtliche Gesamtbewegung zusehends von ihnen wegführt, dann wundern wir uns nicht über die Kraft der Widerstände, denen jeder Versuch einer den Umständen Rechnung tragenden Berichtigung begegnet. Wer einer solchen Richtigstellung das Wort redet, der darf gewiß sein, daß er der pietätslosen Neuerungssucht, der frevelnden Erhebung wider die heiligsten Überlieferungen, der schmählichen Kapitulation vor den Gewalten der Stunde schuldig gesprochen wird. Es kann ihm passieren, daß er kurzerhand den Anbetern des Götzen „Fortschritt“ eingereiht wird. Und ganz sicher würde ihm dies Schicksal dann widerfahren, wenn er sich nicht gescheut hat, die mit diesem Worte bezeichnete Bewegungsform als Lebensgesetz bestimmter Kulturgebiete ausdrücklich anzuerkennen. Allen möglichen Anklagen dieses Inhalts gegenüber stellen wir die Frage, ob die Auseinandersetzung mit dem Bildungsideal der Klassik, die hier vorgenommen worden ist, richtig verstanden wird, wenn man sie als Bruch mit diesem Ideal, als Heraustreten aus der von ihm herkommenden Überlieferung verurteilt. Das Recht dieser Auslegung muß schon dann zweifelhaft werden, wenn man sich erinnert, daß wir uns doch nicht deshalb so eingehend mit den Gestaltungen jenes Ideals beschäftigt haben, um zu der unserem Zeitalter gemäßen Ansicht des Menschlichen ein negatives, ein in jedem Zuge zu verwerfendes Gegenbild zu gewinnen. Im Gegenteil: den Hintergrund dieser Auseinandersetzung bildete die Gewißheit, daß wir auch mit dem, was wir gegen das Festhalten an jenem Ideal
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einzuwenden haben, im Zuge der von ihm ausgehenden Überlieferung zu stehen nicht aufhören. Dies eben ist doch das von Hegel aufgedeckte Geheimnis des Geistes, daß er seinen Reichtum ausbreitet, indem er sich gegen die bereits zurückgelegten Stadien seines Werdens kehrt, nicht um sich von ihnen loszureißen und wieder von vorne anzufangen, sondern um aus ihnen hervorzuholen, was an nicht bewältigten, aber nach Bewältigung verlangenden Widersprüchen in ihnen enthalten war. Und von unserer Darlegung werden wir doch wahrlich behaupten dürfen, daß sie alles getan hat, um das ins Licht zu rücken, was in der ldeenwelt unserer Klassik an Ahnungen kommender Entzweiung und Weisungen zu ihrer Bemeisterung enthalten ist. So ist unser Bestreiten zugleich ein Bewahren. Und es darf vielleicht gefragt werden, wer Überliefertes besser zu hüten weiß: wer es, und sei es auch in schneidendem Widerspruch zu der ihr Antlitz wandelnden Zeit, ohne Abstrich zu konservieren sich verpflichtet glaubt, oder wer es mit den Forderungen der kein Ausweichen duldenden Lage in eins zu bilden sich bemüht. Wenn ein Geschlecht in eine Entwicklung hineingeworfen ist, die mit einem so atemberaubenden, so alle Voranschläge überrennenden Ungestüm vorwärts stürmt wie die uns mit sich reißende, dann kann es sich nicht den Luxus leisten, seine Jugend im Zeichen eines Ideals heranzubilden, das die als Triebkraft wirkenden Mächte entweder ignoriert oder diskreditiert, statt sie einer neuen Gesamtansicht sinnvoll einzuordnen. Ob und wie „Menschlichkeit“ auch unter den Bedingungen des modernen Arbeitslebens erhalten werden kann, das vermag nur zu entscheiden, wer diese Bedingungen zu erkennen imstande und anzuerkennen bereit ist.
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Wider den „Simplicissimus des Zeitgeistes“. Der Philosoph und Pädagoge Theodor Litt Theodor Litts Denken als Philosoph und Pädagoge des 20. Jahrhunderts schlagwortartig in eine synchrone oder diachrone, systematische oder historisch-systematische Programmatik des Zeitgeistes einzupassen, verbietet sich aus drei wissenschaftsbiographischen Gründen: es wäre (erstens) seinem umfangreichen und breit gefächerten Werk unangemessen; es stünde (zweitens) in unmittelbarem Widerspruch zu seinem philosophisch motivierten, dialektisch-sinnoffenen, diskursiven Denken; es hätte (drittens) eine doppelte Verkürzung zu verantworten: nämlich des philosophischen Pädagogen Litt, der zentral im theoretischen Diskurs der Grundlegungsfragen der Pädagogik im 20. Jahrhundert stand, und des pädagogischen Philosophen Litt, der inmitten des öffentlichen Diskurses – zumal nach dem Zweiten Weltkrieg – zu Fragen der Staatsverantwortung, der Demokratiewirklichkeit und der Gefahrenzivilisation engagiert Stellung bezog. Inmitten der so genannten Reformpädagogik1, inmitten der neukantianischen Streitigkeiten, inmitten – und doch in dieser Zeit völlig außen vor – des Nationalsozialismus, inmitten eines Wechsels von einer Kulturgesellschaft zu einer Technik-, Wirtschafts- und Risikogesellschaft, steht und stellt sich mit gesellschafts- und wissenschaftskritischem Blick Theodor Litt. Seine Reflexionen zu Philosophie und Pädagogik sind systematisch und von seinem fachlichen Selbstverständnis her von der Idee getragen, dass beide in einem unauflösbar dialektischen Spannungsverhältnis zueinander stehen. Dies prägt nicht nur die Orientierung im Bereich von Theorie und Praxis, sondern vielmehr stehen Pädagogik und Philosophie in einem systematischen Verweisungszusammenhang: Pädagogik ist niemals nur angewandte Philosophie, schon weil Pädagogik nicht Anwendung im Sinne von Technik, sondern selbst sittlich ist. Pädagogik ist genuin philosophisch. Der Philosophie obliegt es, die Sinn- und Geltungsbedingungen der Elemente als auch des Prinzips des pädagogischen Prozesses und seiner Beteiligten zu entfalten. Philosophie reflektiert und entfaltet die Bausteine methodischer und inhaltlicher Art des Selbstverständnisses des Menschen; sie reflektiert und entfaltet die prozeduralen und inhaltlichen Formen des Vgl. dazu Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Dritte Auflage, Weinheim und München. 1993. 1
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Wissens (Epistemologie), reflektiert und entfaltet die prozeduralen und inhaltlichen Ziele und Methoden pädagogischen Handelns – wie gesellschaftlichen Handelns überhaupt. Der Pädagogik obliegt es, unser Verständnis und unseren Vollzug von Bildung kritisch zu rekonstruieren und unter kriteriologisch-methodischen, anthropologischen und sozialkulturellen Perspektiven wissenschaftlich für die Praxis aufzuarbeiten, kantisch gesprochen: das ‘Wie’ und ‘Was’ von Bildung überhaupt zu thematisieren. Diese Aufgabe versteht Litt aber nicht als Appendix einer Praktischen Philosophie, sondern als eine grundsätzlich philosophische Frage. Es ist von daher nicht verwunderlich, dass er sich an Hegel und Dilthey anlehnend mit den philosophischen Themen seiner Zeit stets aktuell auseinandersetzte. ›Führen und Wachsenlassen‹ – seine pädagogische Frühschrift (1927), ›Individuum und Gemeinschaft‹ – seine kulturanthropologische Frühschrift (1919), und ›Ethik der Neuzeit‹ (1926) legen Zeugnis der pädagogischen und philosophischen Konzeption des Theodor Litt ab.2 Die Sache in ihren Eigenwert zu stellen und zu ihrem Eigenwert zu verhelfen, heißt jeweils nicht, sie fest-zu-stellen, sondern sie sich sinnhaft anzueignen, um sich mit ihrer Genesis und Geltung auseinander zu setzen, um sich an ihr abzureiben und somit beide weiter zu treiben. Das Ich in seine Individualität zu stellen, bedeutet also nicht, es fest-zu-machen an diesem oder jenem, sondern es sich an sich und an der Sache (in und als seine Welt) im Sinne des Hegel’schen Bildungsbegriffes ‘abreiben’ zu lassen. Dieses Prinzip gilt für naturwissenschaftliches, geisteswissenschaftliches, staatspolitisches Denken, Wissen und Wirken gleichermaßen. Die inneren und äußeren Antinomien aller Sphären geistiger Objektivationen müssen in ihrer Unaufhebbarkeit bewahrt bleiben. Dies ist die Synthesis des Nichtsynthetisierbaren im Rahmen der Litt’schen sinnkritischen Dialektik. Sie ist das methodische Moment der Litt’schen Reflexionen zu Pädagogik und Philosophie. Der Aufweis eines dialektischen Spannungsverhältnisses von „Mensch und Welt“, „Denken und Sein“, „Mensch und Individuum“, „Führen und Wachsenlassen“, ja von Philosophie und Pädagogik überhaupt ist das Kernanliegen Theodor Litts. Wir werden diesem systematischen Grundinteresse allerorten im Litt’schen Denken begegnen. Dass die Synthesis hierbei unendlich offen bleibt, scheidet Litts Verständnis von Dialektik von dem seiner Vorbilder Hegel und Cohn. Litt ist ein Denker wider den Zeitgeist, insbesondere gegen die Simplizität der Entwürfe seiner Zeit. In den großen Entwürfen ›Denken und Sein‹ (1948), ›Mensch und Welt‹ (1948), ›Das Allgemeine im Aufbau geis2 Auf die diversen Schriften gehe ich im Folgenden ein. Eine aktuelle Werkbibliographie legt der Band: Theodor-Litt-Jahrbuch 1999/1. Leipzig 1999 vor.
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teswissenschaftlicher Erkenntnis‹ (1941), ›Der deutsche Geist und das Christentum‹ (1938) sowie in der abschließenden philosophisch-pädagogischen, zivilisationskritischen Schrift, die hier wieder gegeben ist: ›Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt‹ (1955), bleibt Litt stets seinem Prinzip der infiniten Dialektik treu. Jede Synthesis bedeutet für ihn die Gefahr von Dogmatik und nicht zuletzt von Terror des Geistes. Hier erscheint Litt als Vorläufer der Postmoderne. Dies gilt, auch wenn er an einem Apriori der Geisteswissenschaften ebenso wie an einer Idee von Bildung jenseits pluraler und prozeduraler Offenheit festhält. Wie dies alles zusammengeht und schließlich in das hier vorgelegte Werk Theodor Litts einfließt, werde ich in den folgenden beiden großen Teilen zunächst bezogen auf das Gesamtwerk (Teil A), dann auf das hier wiedergegebene Werk (Teil B) interpretierend und einführend darzulegen mich bemühen.
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Teil A: Pädagogik und Philosophie im Dialog Unterwegs zum „Apriori der Geisteswissenschaften“ als Grundlage von Philosophie und Pädagogik Wissen von Welt, Verständnis seiner selbst und seines Selbst, kompetentes erzieherisches Handeln im Bewusstsein des Eigenwertes der Sache und der Verantwortung gegenüber dem Educandus sind die Pfeiler des auf strengstes methodisch-wissenschaftliches Denken achtenden Philosophen und Pädagogen Litt. Individuelles wie gemeinschaftliches Leben zeigt und stellt sich in den geistigen Objektivationen des tätigen Subjektes. Sie sind Gegenstand und Medium unserer Erfahrung, unseres Wissens, unseres Wirkens. An ihnen reiben wir uns ab. In unserem Verhältnis zu ihnen gestalten wir uns und Welt: Philosophische Fragen nach Welt und unser methodisch gesichertes Wissen-Können sind in diesem Sinne unmittelbar auch pädagogisch relevant. In der Frühphase seiner wissenschaftlich-akademischen Tätigkeit, als Mitglied der Universität Leipzig (1919–1937) beschäftigt sich der 1880 in Düsseldorf geborene, in Bonn sein Studium absolvierende (1899–1904) und promovierte Altphilologe (1904) spätestens seit seinem Antritt als Nachfolger von Eduard Spranger (1920 in Leipzig) mit den Grundlagenfragen der Pädagogik. Seine zwischenzeitliche Tätigkeit als Lehrer in Köln und Bonn sowie seine Ernennung zum außerordentlichen Professor für Pädagogik in Bonn (1919) haben sich positiv auf diese Ausgangsfigur ausgewirkt. Aber bereits die Nachfolge Sprangers signalisiert den späten Weg: Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik. Diesen verlässt Litt 1937–1945 freiwillig, um ihn dann zunächst wieder in Leipzig und dann ab 1947 bis zu seinem Tode 1962 in Bonn lehrend und forschend wieder wahrzunehmen. Sein Nachfolger in Bonn wird Josef Derbolav. Die Grundlagenreflexion pädagogischen Handelns führt Theodor Litt schon früh auf zwei seinen Denkweg fortan prägende Perspektiven: Formen, Strukturen und sozialpsychologische wie gesellschaftsrelevante Aspekte pädagogischen Handelns einerseits, philosophisch-anthropologische und philosophisch-erkenntniskritische Fragen andererseits. War seine Frühphase noch wesentlich geprägt von seiner Ausrichtung auf Philosophie durch den reflektierenden Pädagogen, so kehrte sich dieses Verhältnis im Denken Litts nach dem Zweiten Weltkrieg um.
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Zeitgeschichtlich aktuell nimmt der junge Forscher in seinen Fragen nach den Sinn- und Geltungsbedingungen pädagogischen Handelns unmittelbar seinen Ausgang von einer Auseinandersetzung mit Husserls früher Phänomenologie, der sich neu formierenden Sozialwissenschaft Max Webers und der zeitgenössischen Psychologie. All diese Auseinandersetzungen gipfeln in der grundlegenden Schrift ›Führen oder Wachsenlassen‹ und dem philosophischen Werk ›Individuum und Gemeinschaft‹.
„Kultur“ als Bindeglied von Philosophie und Pädagogik und als Grundlage einer dialektischen Metaphysik des Geistes Zunächst ist sein Bemühen zentriert um die Grundlegung der Geisteswissenschaften als apriorische Philosophie des Geistes überhaupt, die im Terminus „Kulturphilosophie“ ihren Ausdruck findet. „Kultur“ ist Ausdruck und Begriff der Verschränkung von Leben und Wirklichkeit. Sie bringt das Umfassende, die Gesamtheit aller Phänomene und zugleich die Schaffenskraft des Menschen auf den Punkt. Erkenntniskritisch lehnt sich Litt hier an Husserls Lehre der Ideation, Diltheys Methodik objektiver geistiger Erkenntnis und Hegels Dialektik an. Besonders Hegel wird prägend für Litt. Schon „Kultur“ ist nicht Synthese oder Versöhnung von Mensch und Welt, sondern bereits in ihr sucht Litt nach der Öffnung zwischen Mensch und Welt: Beide bedingen sich wechselseitig und sind – dialektisch gewendet – füreinander-gegeneinander unersetzbar: „Was aber ist der tiefste Grund dafür, daß der Geist einer Objektwelt, mit der fertig zu werden er scheinbar auf Grund seiner Selbstprüfung resignieren muß, in Wahrheit eben durch sie näher kommt? Kein anderer als der, daß dies Objekt – er selber, seine eigenste Welt ist, die Sphäre, mit der er gerade als ein denkender und erkennender solidarisch ist. Was immer er hier also tut, um die in seinem Wesen liegenden Unvollkommenheiten sich transparent zu machen – es dient doch eben zur Klärung seines Wesens und damit zur Durchleuchtung desjenigen Objekts, von dem abzulassen er scheinbar durch seine Selbsterforschung genötigt wurde. Ist einmal deutlich geworden, daß hier das Subjekt-Objekt-Verhältnis, in schärfstem Unterschiede von der Erkenntnis der räumlichen Wirklichkeit, von jedem Schatten jener Vorstellung freigehalten werden muß, die das Subjekt ein ihm ‘gegenüber’-stehendes, ihm fremdes Objekt von außen her bearbeiten sieht, ist die mit nichts vergleichbare Identität von Subjekt und Objekt als der Kern dieses Verhältnisses erkannt, so hat der Gedanke nichts Befremdliches mehr, daß hier die Reflexion auf das eigene Versagen zugleich die Überwindung dieses Versagens und die Eroberung des Objekts bedeutet. Deutlich zeichnet sich dieses Verhältnis an dem Gegenbilde dessen ab,
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was derselbe Geist erlebt, wenn er etwa auf die inneren Gründe eines Irrtums reflektiert, der ihm in der Bearbeitung des Objekts ‘Natur’ unterlaufen ist. Niemals könnte das Ergebnis dieser Reflexion sich nachträglich als ein positiver Beitrag zu der Erkenntnis dieser Objektwelt enthüllen; denn diese konstituiert sich ja gerade als die dem Geist entgegengesetzte Gegenständlichkeit: als Nicht-Geist!“3 Ist diese Identität aber nun eine solche der Versöhnung oder der Durchgang zu einer neuen dialektischen Entzweiung? Die Literatur zu Litt geht in der Regel von der Versöhnungsthese aus.4 Ich denke, dass dies nicht angemessen ist. Erstens geriete Litt damit in die Gefahr, idealistisch verkürzt zu werden, da er sich auf der Gegenstandsebene das Problem einer Ganzheit von Welt einhandeln würde, die allein noch holistisch zu konzipieren wäre und an der sich der Geist dann in dialektischer Selbstbesinnung abarbeitet („bildet“); zweitens verlöre Litt den Gedanken der Bewegung, Offenheit und Entwicklung – wie er für die Pädagogik von grundsätzlicher Bedeutung ist, denn in ‘Versöhnung’ käme Welt zum Stillstand; drittens fiele er hinter die Historismusdebatte seiner unmittelbar vor ihm liegenden Zeit zurück. All dies ist von einem so umsichtigen Denker nicht zu erwarten. Vielmehr bringt Litt schon in der Frühphase seines Denkens dies auch zum Ausdruck, wenn auch nicht systematisch auf den Punkt. Letzteres gelingt ihm erst in der Schrift ›Das Allgemeine in der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis‹. Wenden wir uns Litt selbst zu. In ›Individuum und Gemeinschaft‹ (1919) geht er ganz offensichtlich zunächst von ‘Einheit’ und Versöhnung aus: „Dieselbe ideierende Abstraktion, die dem Denken die Momente aus dem Ganzen zu isolieren möglich machte und damit dessen Einheit zu zerfällen drohte, schafft auch die Begriffe, in denen diese Einheit sich wiederherstellt, die Urteile, in denen der Widerspruch der Einzelaussagen gehoben wird. […] So erkennt die Reflexion das, was sie nicht unbestritten lassen kann, zugleich als notwendig, als berechtigt, als das an, was sie selbst und ihre eigenen Ergebnisse erst möglich macht. Damit nimmt der Geist den Weg des Gedankens, auf dem er, sich selbst überhöhend, zu diesem Standort emporgestiegen ist, den Weg, der von der Scheidung des Einen und Ganzen über die Entdeckung ihrer logischen Anfechtbarkeit zu seiner Wiederherstellung führte, in das Ergebnis selbst auf. Er rettet die Einheit und Eigenheit des Objekts, indem er das gedankliche Bild des Objekts in seinem Werden vorführt, dann aber dies Werden, seinen ‘Bild’charakter abstreifend, als dem Objekt selbst zugehörig und dies Objekt wiederum als mit sich selbst identisch erweist. 3 4
Th. Litt: Individuum und Gemeinschaft (1926), S. 16. Vgl. die Arbeiten von Ritzel, Löwisch u.v.a.
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So vollendet sich dasjenige Verfahren, das, dereinst mit unerhörter Meisterschaft vor allem von Hegel geübt, dann verspottet und vergessen, neuerdings an mehr als einer Stelle seine Auferstehung erlebt hat: das Verfahren des ‘dialektischen’ Denkens.“5 Eindeutig spricht Litt von der ‘Einheit des Objektes’, ebenso wie von Identität von Objekt und Subjekt im erkennenden Geist. Wäre diese dialektische Versöhnung aber nun gleichbedeutend mit Stillstand, dann wären Erziehung und Bildung im Ziel, wenn sich das Selbst dem Objekt dergestalt bemächtigt hätte, dass sie eins sind. Pädagogisches Handeln wäre zum Stillstand gekommen. Bildung wäre dann, ganz im Sinne Hegels, bloßes Abarbeiten, oder im Sinne Platons „Dihairesis“. Litt sieht diese Gefahr meines Erachtens, ohne in dieser Phase seines Denkens darauf angemessen reagieren zu können. An dieser Stelle betont er allerdings schon gegen einen einfachen Induktionismus des Gedankens, gegen die einfache Linearität des Denkens, dass diese – ungerechtfertigt – an einem Punkt des Bewusstseins- und Seinsstromes einsetze und stets nur die sie je umgebenden Gedankenglieder erfasse. Induktiv-lineares Denken verhindere sowohl eine Gleichordnung der möglichen Perspektiven auf eine Sache, wie es nicht in der Lage sei, das Geflecht der Bezüge und Beziehungen des Ganzen aufzuhellen. Dem induktiv-linearen Denken stellt Litt diskursives Denken gegenüber. Diskursiv-dialogisches Denken (Argumentieren, Erkennen) ist für ihn dialektisches Miteinander-Gegeneinander und vertikal wie horizontal reflektierendes Aufhellen des Gedankens (Gedachten, Behaupteten) in seinen sprachlichen (syntaktisch-semantischen) Strukturen und (pragmatischen) Bezügen. Diese Form des Denkens ist selbst Bewegung und bringt Bewegung in das Denken. Denken wird synchron und diachron verflüssigt, es wird „historisch“. Diese Offenheit ist aber (zunächst) nur zum Preis der steten Offenheit und einem Verzicht auf ein letztes „Ganzes“ zu haben. In einem solchen letzten Ganzen verschwänden alle Differenzen. Bis dahin, so Litt mit Hegel, kann man nur präsupponieren, dass die Wahrheit zwar das Ganze sei, dessen Darstellung aber an der Unzulänglichkeit unserer Darstellungs- und Erkenntniskompetenz scheitern muss.6 Über Litt hinaus würde ich sagen: Das Ganze darf ein wahrhafter Dialektiker immer nur präsupponieren! In dieser Phase seines Denkens ist aber das dialektische Prinzip bei ihm schon sehr differenziert ausgearbeitet. Es ist konzipiert als rekonstruktives Erschließen all jener Bezüge, die reflexiv jenseits der beobachtbaren Gegebenheit des Gedachten dieses selbst erst in das Feld seiner Bedeutung 5 6
Th. Litt: Individuum und Gemeinschaft (1926), S. 17f. Th. Litt: Individuum und Gemeinschaft (1926), S. 19f.
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stellen. Die dialektische Erhellung stellt das Gedachte damit in das Feld seiner eigenen Strukturiertheit und in die Strukturen seiner (syntaktischsemantischen) Aussprechbarkeit. Litt erweist sich als Sprachphilosoph, der weder einer linguistic pragmatic noch einer pragmatisch belehrten ordinary language verfällt. Die dialektische Grundsituation erlaubt es ihm vielmehr, Denken, Welt und Mensch in einem offenen Prozess zusammenzubringen, der aber selbst wiederum nicht zu Beliebigkeiten oder einem freien Spiel der Kräfte führen kann, da das je andere Korrektiv für die übrigen Sphären und ihre Ausdifferenzierungen ist.7 Diese Grundkonstellation ist für Litts methodologisches Verfahren in allen Bereichen seines Wirkens in Philosophie und Pädagogik sowie für die Bestimmung des Verhältnisses beider zueinander von grundsätzlicher und für sein gesamtes Œuvre entscheidender Bedeutung. Und die Disziplin, die das Gefüge als Ganzes zum Ausdruck bringt, das heißt, die die geistige Welt in ihren Aufbauprinzipien erhellt, ist die Geisteswissenschaft. Sie ist für Litt damit die Grundlage aller Wissenschaften.8 Rekonstruktion als methodisches Mittel, Dialektik als Prinzip des Werdens, Einheit als Telos – an dieser Stelle fällt Litt wieder hinter sich selbst zurück, da er meines Erachtens das methodische Mittel der Rekonstruktion philosophisch noch nicht ausgeschöpft hat. Dies gelingt ihm aber in der späteren Schrift ›Das Allgemeine im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis‹. Der Grund der zumindest scheinbaren Selbstwidersprüchlichkeit in der ersten Schaffensphase liegt meines Erachtens im Festhalten an der Idee des Sinnkreises – wie der Kreismetapher überhaupt. Die Kreismetapher soll uns wohl die dialektische Bewegung des Geistes aus seiner ursprünglichen Versöhntheit mit der Natur, über die Entzweiung hin zu einer neuen Versöhnung versinnbildlichen. Im Erziehungsprozess ist dies das Wieder-eins-Werden mit den zuvor anthropologisch (philosophisch- wie kulturanthropologisch) ausgezeichneten Momenten des Educandus ‘Mensch’, d.i. dessen Sinnen- und Geisteswelt. Die Kreismetapher ist aber ein irreführendes Bild, da die dialektische Selbstbewegung ein ‘Aufwärts’ ist und die Versöhnung eine solche der höheren – nämlich dialektisch aufgehobenen – Art ist. Dies sieht Litt auch selbst, wann immer er auf Hegel zu sprechen kommt.9 Ja, er geht selbst stets den entscheidenden Schritt weiter, dass er mit Hegel betont: „Die Wahrheit ist das Ganze.“10 Die Metapher des Kreises vermittelt dann, hier Ebd., S. 22f. Ebd., S. 37. 9 Th. Litt: Individuum und Gemeinschaft (1919); ders.: Mensch und Welt (1948) et pass. 10 Th. Litt: Individuum und Gemeinschaft (1923/25), S. 20. 7 8
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muss ich D.-J. Löwisch – stellvertretend für die klassischen Interpreten Litts – Recht geben, die Idee, dass die „Sache des Geistes“ zur Ruhe, zur Versöhnung kommt. Ich glaube aber, dass Litt eher ein iterierendes Selbstaufstufen im Sinne einer spiralförmigen Bewegung des Geistes vorschwebte. Schon angesichts der Unabschließbarkeit menschlicher Erkenntnis, angesichts der Unabschließbarkeit menschlicher Sozialisation ist dies unter Integration einer diese Prozesse leitenden Idee des Ganzen ein der dialektischen Grundstruktur alles geistigen und sozialen Werdens des Menschen adäquates Bild. Am Ende der frühen Schrift ›Individuum und Gemeinschaft‹ sieht Litt dies wohl schon deutlich, aber das Festhalten an der phänomenologischen Methode blockiert den endgültigen Durchbruch: Der „schauende“ Geist sieht zwar die Differenz zwischen sich und Welt, aber er „sieht“ zugleich, dass das Andere nur ist, weil es mit ihm eins ist, und er es (oder Welt) weiter baut. Der Prozess des Bauens ist aber der Prozess der Geschichte und der Geist selbst. Erkenntnis ist in Geschichte und ist diese selbst. Geschichte ist eingebettet in eine Vico’sche poietische Metaphysik des Geistes.. Litt schließt dieses frühe Werk, indem er es als Fundament einer „Metaphysik der Geisteswissenschaften“ bezeichnet.
›Das Allgemeine im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis‹: Der Paradigmenwechsel im Denken Theodor Litts Diesen ‘Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit geisteswissenschaftlichen Erkennens, Denkens und Handelns’ stellt sich Litt in seiner prägnanten Schrift ‘Das Allgemeine im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis’ erneut.11 Diese Schrift markiert einen Paradigmenwechsel seines Denkens; Litt entfaltet nunmehr eine ‘Struktur des Denkens’, die nicht mehr auf der Husserl’schen Phänomenologie basiert, sondern die Reflexionsfigur Hegels noch einmal radikalisiert. Er gewinnt mit dieser Reflexionsfigur Medium und Kriterium auch für pädagogische Reflexion von Bildung und Erziehung wie für deren Praxis. Es ist die Figur dialektisch-rekonstruktiver Selbstexplikation der Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit des sich, andere und anderes begreifenden ‘Geistes’ durch Reflexion auf die Bedingungen seines Vollzugs. Diese Reflexion hat zugleich transzendentalen Status, da sie nicht wie die zeitnahen Entwürfe von Piaget und Kohlberg auf die Genesis von phylo- und ontogene11 Ebd., S. 44: „Die Geisteswissenschaft steht und fällt mit einer bestimmten Metaphysik – mit derjenigen Metaphysik, in deren Sätzen dies ausgesprochen ist, was sie unausgesprochen voraussetzt.“
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tischen Besonderungen des Menschen diesbezüglich schaut, sondern weil Litt sie auf Genesis und Geltung bezieht. Möglich ist ihm diese Figur, wie wir sehen werden, durch Reflexion der Sprache. Durch sie wird es Theodor Litt möglich, das Problem der Pädagogik (insbesondere der Bildung) von allen materialen Gehalten zugunsten eines prozeduralen Prinzips zu befreien. Pädagogik gewinnt damit qualitativ erneut Terrain im Dialog mit Philosophie zurück, als sie die Menschvollzüge (pragmata) in ihrem Begriffs- und Reflexionsrepertoire ausbuchstabieren und so der Philosophie zur Seite treten kann. Kommen wir zunächst zur Weiterentwicklung der Methodik, um dann mit einigen Reflexionen zur Pädagogik abzuschließen. Die Weiterentwicklung der Methodik ist wesentlich eine Radikalisierung der bisherigen Reflexionsfigur. Galt es doch bislang, die innere Konsistenz der philosophischen Grundaussagen zu Denken, Sein und Mensch zu prüfen, Konsistenz bezüglich logischer Widerspruchsfreiheit, aber auch und insbesondere bezüglich des philosophischen Geltungsrahmens pädagogischen Handelns, den Litt bislang wesentlich in den Hegel-Dilthey’schen Kategorien von „Erkenntnis“, „Ausdruck“ und „Verstehen“ gesehen hat, hin zu einer Radikalisierung auf ein letztgültiges Apriori.12 Um in seiner Argumentation einen regressus ad infinitum zu vermeiden, fasst Litt seine Denkfigur – in Vorwegnahme der radikalen, strikten Reflexion der heute aktuellen Transzendentalpragmatik13 – als Selbstreflexion des „tätigen Geistes“. Der tätige Geist richtet sich auf sich selbst; er reflektiert die Präsuppositionen seines Tätigsein-Könnens im Vollzug seiner selbst. Diese Figur erlaubt es Litt, von einem abschließenden oder letzten Apriori zu sprechen. Ganz in Analogie zu Immanuel Kants Amphiboliekapitel zu den Differenzen der Reflexionsfiguren scheidet Litt vier Stufen der Reflexion und stellt deren innere Verhältnisse und Selbstaufstufung vor.14 Dem empirischen Forschungswissen der Geisteswissenschaften folgt eine erste Stufe der Besinnung, die nach den objektiven Bedingungen der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis fragt (das ist für Litt die von Dilthey erreichte Stufe), welche nunmehr von einer zweiten Stufe der Reflexion überschritten wird, auf der die (geltungs-)logischen Bedingungen des Systems der vorigen Stufe geprüft werden. Dies sind zum Beispiel begriffslogische, anthropologische, empirisch-metaphysische PräsuppositioEbd., S. 45. Vgl. W. Kuhlmann: Reflexive Letztbegründung (1985), und K.-O. Apels Schriften insgesamt. Siehe auch: H. Burckhart (Hrsg.): Zur Idee des Diskurses. Markt Schwaben 2000; D.-J. Löwisch: Kompetentes Handeln. Darmstadt 2000. Ich komme darauf zurück. 14 Th. Litt, a.a.O., S. 45. 12
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nen der vorigen Stufe. Auf einer dritten Stufe werden die Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit der Prüfung selbst thematisiert, d. h. die Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit, überhaupt etwas Sinn- und Geltungswürdiges auszusagen (diskursiv gesprochen: überhaupt etwas zu behaupten, zu verlangen, zu versprechen, zu erklären etc.). Das Verhältnis ist damit das der zunehmenden Erhellung und Rekonstruktion der Bedingungen der Möglichkeit der vorigen Stufen.15 Mit dieser Figur befindet sich Litt auf einem philosophischen Begründungsniveau. Und die Tiefe seines Denkens zeigt sich, wenn er genuin die Sprache als jenes Moment menschlichen Vollzuges (neben der Kunst) auszeichnet, welches die von ihm entwickelte Reflexionsfigur in evidenter Weise veranschaulicht – und deren Forderungen erfüllt.16 Im Vollzug der Sprache setzen wir ihre Vollzugs- und Strukturbedingungen immer schon voraus, das sind ihre syntaktischen, semantischen und pragmatischen Bedingungen in gleicher Weise. Erschließen können wir diese nur, indem wir sie kontrafaktisch als vollkommen gegebene voraussetzen und mit ihr und in ihr – zwecks Vermeidung eines abstraktiven Fehlschlusses oder einer Metasprachenproblematik – rekonstruieren.17 Theodor Litt ist damit auf dem Niveau der transzendental- oder universalpragmatischen Sprachreflexion von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas. Ohne weiter auf die einzelnen Stufen einzugehen, drängt sich natürlich die Frage nach Status und Verständnis der von Litt als vierte und höchste Stufe reflexiver Begründung auf. Es ist die Stufe transzendentaler Letztbegründung von Wissen, Erkenntnis, Handeln überhaupt. Erfolgt auf ihr ein dogmatischer Abbruch der Begründung, impliziert sie ein Apriori zweiten Grades, wie Litt selbst ironisierend fragt,18 oder erfolgt der Schritt in eine Rehabilitierung klassischer Metaphysik?19 All dies würde sich Ebd., S. 47–49. Ebd., S. 50–53. 17 Ebd., besonders S. 55. 18 Ebd., S. 47–50. 19 Zum Apriorischen meint er noch in ›Individuum und Gemeinschaft‹ (S. 25 f.): „Da meint man also einmal, von den empirisch-induktiven Grundlagen der gesellschaftswissenschaftlichen und seelenwissenschaftlichen Forschung abgehen heiße nichts anderes als sich den Konstruktionen einer die Erfahrung überfliegenden, einer apriorischen Begriffsbedingung ausliefern. Was gegen diesen Verdacht zu sagen ist, kann nach unseren Darlegungen nicht zweifelhaft sein. Wenn der Begriff der ‘Erfahrung’ sich deckt mit demjenigen der induktiv gewonnenen Erfahrung – dann allerdings ist die Phänomenologie eine der Erfahrung vorausgehende, eine die Erfahrung auf den fraglichen Gebieten erst begründende Wissenschaft; dann hat auch der Begriff ‘apriorisch’, auf sie angewandt, einen guten Sinn, insofern er nämlich prägnant zum Ausdruck bringt, daß alles, was die Phänomenologie über 15 16
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unter Beibehaltung der Idee eines versöhnenden Ganzen aufdrängen. Genau dies aber negiert Litt nun meines Erachtens deutlichst. Es ist die Antizipation, die kontrafaktische Antizipation eines Sinn- und Geltungsganzen, in welchem wir immer schon stehen und Akte des Behauptens, Versprechens, Erklärens, Beteuerns, Liebens und Hassens etc. erst hervorbringen.20 Das paradigmatische Beispiel eines Kandidaten dieser letzten Stufe ist für Litt, wie für die ihm hier nachfolgende transzendentale Sprachpragmatik, die Sprache. „Ist die Frage nach den ‘Bedingungen der Möglichkeit’ des nicht-apriorischen Wissens erledigt, und es wird dann doch noch in derselben Richtung weiter gefragt, dann kann nichts weiter herauskommen als eine eintönige und leere Wiederholung: auf die Bedingungen der Möglichkeit folgen die Bedingungen dieser Bedingungen usf. bis ins Unendliche. Und das ist dann wahrlich eine ‘schlechte’ Unendlichkeit. … Im Gegenteil: die der vierten Stufe obliegende Rückbesinnung ist nicht zum wenigsten aus dem Grunde so heilsam wie unerläßlich, weil sie diesem progressus einen Riegel vorschiebt. Sie tut es, indem sie uns überzeugt, daß wir in dem auf der dritten Stufe enthüllten Apriori – an dem die Verschränkung mit dem Nicht-apriori zutage liegt – das Apriori schlechthin und nicht lediglich seinen ersten Einsatz und Anlauf vor uns haben. … Sondern auf der vierten Stufe geschieht nur dies, daß das apriorische Wissen, wie es zuvor – Leistung der dritten Stufe – die Struktur des auf die Voraussetzungen der Empirie bezüglichen Wissens durchleuchtet, so nunmehr sich seine eigene Struktur bis auf den Grund durchsichtig macht. Kurz gesagt: das Wissen um das Apriori ist selbst apriorisches Wissen. Es ist Wissen nicht den in Frage stehenden Wirklichkeitsbereich zu sagen hat, alle auf denselben Bereich bezüglichen induktiven Ermittlungen erst ‘möglich macht’. … Keinesfalls darf, wenn man von jener engeren Bestimmung des Begriffs ‘Erfahrung’ nicht ablassen will, diese terminologische Festlegung dazu ausgenutzt werden, die Ergebnisse der Wesensanalyse in den Bereich der freien, von allen konkreten Erlebnisgrundlagen sich lösenden Konstruktion zu verweisen. Überhaupt hat der logische Charakter, mit Rücksicht auf welchen wir dem Inbegriff der fraglichen Erkenntnisse das Attribut ‘apriorisch’ zugebilligt haben, nichts gemein mit der ‘transzendentalen’ Bedeutung, die Kants Philosophie diesem Begriff beigelegt hat. Was die Phänomenologie der geistigen Wirklichkeit enthält, das ist nicht eine Kategorienlehre in dem ursprünglichen kantischen Sinne, nicht eine Theorie der logischen Formen, in die das Leben des Geistes als ein erkanntes eingeht, sondern eine Theorie von den Aufbauprinzipien dieses Lebens selbst.“ 20 Ebd. Dieser Wechsel auf das Sinn- und Geltungsganze als kontrafaktische Antizipation oder mit Kant: regulative Idee erfordert meines Erachtens auch den Wechsel von Kulturphilosophie der Frühphase zur „Welt“ in der späteren, jetzt thematischen Phase. Leider kann ich hierauf nicht näher eingehen.
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nur um das von ihm nicht unterscheidende Wissen, sondern auch um sich selbst“ (S. 49f.). Litts Idee der strikt reflexiven Selbstaufstufung eines (des) Geistes, der selbstreflexiv zu sich Stellung nehmend sich auf Äußeres bezieht und nicht nur – wie Litt noch in seiner Frühphase konstatierte – sich in und als Kulturgeistiges niederschlägt und an ihm (bildend) abarbeitet, sollte deutlich geworden sein. Der Wechsel von Kultur- zu Weltphilosophie ist also nicht zufällig, sondern systematisch notwendig. Hätte Litt an dieser Stelle nun Sprache nicht nur, wie es unmittelbar folgt, in exakt dieser reflexiven Figur eingeführt, sondern sie darüber hinaus intersubjektiv-pragmatisch gedacht, hätte er die aktuellen Varianten einer Diskursphilosophie bereits grundgelegt.21 Bleiben wir bei Litt. Durch die Radikalisierung der philosophischen Begründungsfigur gewinnt Litt unmittelbar Medium und Maßstab – auch und gerade – für pädagogisches Handeln, wie er zugleich die Verschränkung von Philosophie und Pädagogik aufweist, die ihn noch immer als einen aktuellen Denker auszeichnet. Der doppelte Aspekt von Begründung der Pädagogik durch Philosophie einerseits, aber unmittelbarem – ja dialektischem – Verschränktseins mit Philosophie andererseits wird besonders deutlich, wenn man unter der Perspektive sittlichen Handelns – mithin genuin auch pädagogischen Handelns – noch einmal auf das Vorige in wissenschaftstheoretischer wie epistemischer Hinsicht zurückblickt. Der Philosoph Litt, so zeigte sich, reflektiert auf wissenschaftstheoretisch-methodologische, philosophischanthropologische wie moralisch-ethische Implikate der Pädagogik als wissenschaftlicher Disziplin und handlungsgebundener gesellschaftlicher Praxis. In Auseinandersetzung mit Diltheys ›Theorie des objektiven Verstehens‹, Hegels ›Philosophie des Geistes‹ und Rickerts neukantianischen Konzepten sowie unter Integration einer Weiterführung des dialektischen Prinzips – auch und gerade in der Radikalisierung der Reflexionsfigur – bemüht sich Litt einerseits um einen Ausweis eines Aprioris allen Wissens – ohne Dogmatik – sowie andererseits um ein Moment des Ganzen, welches alle dialektische Disparatheit in sich birgt, ohne sie zu binden: dies leistet die Sprache – nicht als Medium der Verständigung, sondern als jenes Moment menschlicher Vernunft, das die methodologisch notwendige Reflexivität und die von Litt ausgewiesene Dialektik prinzipiell in sich birgt. Die Selbstreflexivität der Sprache ermöglicht ihre Selbstunterscheidung, ohne sich in Idealität zu verlieren; sie bleibt stets indifferente Differenz. Das Verhältnis von ‘Besonderem und Allgemeinem’, ‘Mensch und Vgl. dazu u. a. Holger Burckhart (Hrsg.): Zur Idee des Diskurses. Markt Schwaben 2000; D.-J. Löwisch: Kompetentes Handeln. Darmstadt 2000. 21
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Welt’, ‘Individuum und Gemeinschaft’, ‘Denken und Sein’ fällt in ihr in eins und doch bewahrt sie die Differenz. Sie korrespondiert damit einem auf der höchsten Stufe des Erkennens in sich entzweiten Geist – sie ist dieser selbst oder dialektische Vernunft. Mit Litt stellt sie das Apriori der Geisteswissenschaften dar und vor. Litt überwindet hier Diltheys bloßes Nebeneinander der Kategorien geisteswissenschaftlicher Erkenntnis ebenso wie Hegels Vereinseitigung des Allgemeinen. Erkenntniskritisch liefert Litt hier ein doppeltes Apriori, nämlich im Sinne eines genitivus subjectivus und genitivus objectivus. Der Stufengang des Geistigen – das sind die Objektivationen des Menschen – führt zu einem Apriori des Ganzen des Geistes und seiner Wissenschaften. Zwischen beiden besteht ein ebensolcher Zusammenhang wie zwischen dem „Allgemeinen [Herv. v. H. B.] der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und dem Apriorisch-Allgemeinen …, der begründet ist in dem Umstand, daß auch das Naturwissen auf Leistungsmöglichkeiten des Geistes beruht, von denen das Apriori Rechenschaft gibt“ (S. 66). Und mit einem Verweis, der aktueller nicht sein könnte, mit dem er auch das Denken eines Verantwortungsethikers wie Hans Jonas vorwegnimmt, beschließt Litt hier seine wissenschaftstheoretische Reflexion, denn die Ethik scheint auf, „sobald wir daran denken, daß der Mensch an der Welt des Geistes nicht bloß einen Gegenstand der Betrachtung, sondern auch die Stätte und den Stoff seines Wirkens hat. … Wäre es dem Menschen gegeben, sich in der Ausrichtung seines Handelns sei es an ein autonomes Allgemeines [gemeint ist hier wohl die Kant’sche Ethik], sei es an ein autochthones Besonderes zu halten, so würde es für ihn in der Bestimmung dessen, was jeweils zu tun wäre, kein Schwanken geben. Er hätte entweder in dem Allgemeinen das strenge Gesetz, das sein Handeln regierte, oder in dem Besonderen die lebendige Form, die sein Handeln beseelte. Er würde, so oder so, mit einer Sicherheit seinen Weg gehen, an die keine Anfechtung heranreichte. … Für den handelnden Geist aber ist diese Durchdringung [des Allgemeinen und des Besonderen als des Erkennbaren und Wissbaren überhaupt] ein immer von neuem erst zu Bewirkendes und damit eine offene Frage, die mancherlei Antworten zuläßt; erst der Spruch [!] der Entscheidung setzt an die Stelle des Vielen, das möglich wäre, das Eine, das wirklich wird, und schafft so eine eindeutige Lage. Ob aber das Eine, für welches der Wille [!] den Ausschlag gab, gerade dasjenige ist, das so vorgezogen zu werden verdiente – das ist die große Ungewißheit, mit der jedes verantwortliche [!] Handeln belastet ist, und in den Selbstvorwürfen, denen diese Ungewißheit zum Nährboden dient, gelangt die Labilität jenes Gleichgewichts zu erschütterndem Ausdruck“ (S. 67f.). Deutlichst treten verantwortungsethische wie fallibilistische Grundzüge im Rahmen einer transzendentalen Erkenntniskritik bei Litt zu Tage.
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Auch wenn Litt das Moment der Intersubjektivität in dessen fundierender (transzendentaler), philosophischer Begründung aller nur möglichen Sinnund Geltungsansprüche nicht erkennt, so erfasst er jedoch klar, dass mit jedem Sinn- und Geltungsanspruch – so auch des pädagogischen Handelns, Begründens und Entscheidens – pragmatische (Selbst-)Verpflichtungen verbunden sind. Wissen ist gebunden an Handeln und Entscheiden, es ist stets fallibel, es ist stets gebunden an Verantwortung, es ist stets eingebunden in ein transzendentales Konzept des Wissen-Könnens, ohne dass es aus der Perspektive der Begründung in einen regressus ad infinitum fallen würde. Der Grundgedanke und die architektonischen Bausteine seiner philosophisch-pädagogischen Perspektive auf eine nicht-spekulative Dialektik dürften deutlich sein. Ich werde mich im Folgenden diesem zentralen Aspekt des Litt’schen Gesamtwerkes aus der Perspektive der Pädagogik ausführlich zuwenden, denn in der Dialektik ist nicht nur der Nadir seiner Systematik, sondern auch das Zenit pädagogischen Bestrebens grundgelegt. Zudem treffen sich im Kriterium der Dialektik, als Kriterium für Prozess und Inhalt gleichermaßen, Philosophie und Pädagogik in prägnanter Weise. Hierzu kehren wir zunächst noch einmal zu Litts Frühphase, nunmehr aber unter besonderer Berücksichtigung der pädagogischen Fragestellung, zurück.
Dialektik als methodisches, prozedurales und inhaltliches Prinzip philosophischer und pädagogischer Reflexion und Praxis Am Ende seiner Frühschrift ›Führen oder Wachsenlassen‹ (1927 ff.) formuliert Theodor Litt die ihn prägende Auffassung praktizierter wie reflektierter Pädagogik. Diese möchte ich einmal ausführlich zitieren, da sie nicht nur den systematischen Gedanken präzise fasst, sondern auch einen Einblick in die sprachliche Kraft des noch jungen Litt gibt: „Wenn die hier vorgetragene Gedankenreihe dem Erzieher wieder und wieder die Erkenntnis seiner Grenzen, die willige Selbstbescheidung ans Herz legt, ist der Sinn und die tiefere Absicht des Dargelegten damit getroffen, daß man, wie es mir wiederholt begegnet ist, aus ihm den Müden der Resignation, ja der Skepsis heraushört? Es gibt weniges, was die Eigenart der unsere Zeit beherrschenden pädagogischen Stimmungen so schlagend charakterisierte wie diese Auslegung. Denn sie verrät, daß die Wortführer dieser Zukunftspädagogik sich um das Beste ihres Lebensberufs betrogen fühlen, wenn man sie bedeutet, das zu treiben, an dem es sich genügen zu lassen, was – der Sinn dieses Berufs ist! Nur wenn man von vornherein den Anspruch des pädagogischen Tuns so weit spannt, daß es eine
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ganze Reihe von autonomen Funktionen des Geistes sich einverleibt, nur wenn man sich an die Stimmungen innerer Gehobenheit gewöhnt hat, mit denen das Gefühl, souveräner Gestalter des Menschentums zu sein, das Herz beglückt – nur dann kann man in einer Darlegung, die nichts weiter will als den ewigen Sinn der Erziehung aus dem Nebel der Übertreibungen und Mißverständnisse hervorholen, die grämliche Weisheit des an jedem Ideal irre gewordenen Skeptikers finden wollen. Ja, mir scheint, daß eine psychologische Deutung jenes Übergreifen der pädagogischen Aspirationen in einen weiterreichenden Zusammenhang einstellen muß. So laut und überschwenglich die revolutionäre Pädagogik den Lobpreis des ‘Lebens’ und seiner ‘irrationalen’ Kräfte verkündet, in ihrem Innersten bohrt und treibt der uneingestandene Wunsch, diesem Leben mit vorbedachtem Plan und klug angelegter Zurüstung Gestalt und Bewegung vorzuschreiben, das eigenkräftig Wachsende in den Griff zu bekommen, das Werdende dem eigenen Wunsch und Willen zu unterwerfen. Hinter allem ‘irrationalen’ Gebaren wirkt also ein Verlangen, wie es nur der zuversichtlichste Rationalismus eingeben kann. Die ‘Technik der Gesellschaft’, dieses Prunkstück positivistischer Geschichtsauffassung, feiert im Gewande einer Pädagogik, die den Menschen, das Leben, die Zukunft „machen“ will, ihre Auferstehung. Wer diese positivistische Irrung aus den Bezirken des pädagogischen Lebens verscheucht, der nimmt nicht, sondern der gibt der Erziehung – er gibt ihr nämlich das zurück, was jener Irrwahn vermeintlich durch Besseres ersetzt, tatsächlich aber durch Illusionen zudeckt: die dankbare Freude an einer lebendigen Bewegung, der in Ehrfurcht dienen zu können dem Erzieher die stolzeste Genugtuung ist. Wenn ein Erzieher sich zu Resignation und Skepsis aufgefordert fühlt, sobald man ihn den Sinn seiner Lebensaufgabe innerhalb der erörterten Grenzen suchen heißt, so beweist er damit, daß die tiefsten Verantwortungen und Beglückungen des Erziehertums ihm noch nicht aufgegangen sind, daß er hinter dem Namen ‘Erziehung’ etwas sucht, was in der Sache außerhalb der pädagogischen Provinz liegt.“22 Deutlicher kann eine Zurückweisung der zeitgenössischen Pädagogik nicht sein, die sich in ihren Reflexionen und Zielformulierungen „um das Beste ihres Lehrerberufes betrogen fühlen muß“, wenn sie denn das eigentlich Pädagogische, das „Leben“ und seine „irrationalen Kräfte“ lobpreist, statt sich auf das Wesen und den Sachgehalt von Pädagogik und pädagogischem Bemühen zu konzentrieren. In dieser Preisgabe an das „Leben“ lauert unvermittelt die Korrumpierung des Wissens und der Bildung durch Idee und Wirklichkeit der Technik als Stellen und VerfügFühren oder Wachsenlassen. Zitiert aus: Theodor Litt: Pädagogische Schriften. Eine Auswahl, besorgt von Albert Reble. Bad Heilbrunn 1995, S. 65. 22
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barmachen von Wissen und Gesellschaft im Sinne bloßer Zweck-MittelNutzung. Dieser Verdinglichung von Bildung will der Pädagoge Litt mit Philosophie und Pädagogik entgegenwirken: in der Frühphase aus der Perspektive einer phänomenologischen von Hegel, Dilthey und Jonas Cohn geprägten Dialektik des Geistes, in der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg vermittels einer zivilisationskritischen – er nutzt hier auch den Terminus „Welt“ statt „Kultur“ – wesentlich philosophischen Reflexion der Situation seiner Zeit, sowie einer Vertiefung seiner methodischen, anthropologischen und epistemologischen Reflexion zu Philosophie und Pädagogik.
Dialektik als Kennzeichen des Verhältnisses und als zugrunde liegendes Prinzip von Philosophie und Pädagogik Man lese die obigen Zeilen aus Theodor Litts Frühschrift aber auch als systematische Essenz erster intensiver Bemühungen – hier wesentlich Bemühungen um Pädagogik und ihre Grundlegung –, Philosophie und Pädagogik wieder sich gegenseitig durchdringen zu lassen. Kritische Rückbesinnung auf methodische, anthropologische und epistemologische Implikate der Pädagogik verstärkt und vermittelt durch ideologiekritische Reflexion auf die Grundlagen von Theorie und Praxis des eigenen Faches sind Litts zentrale Anliegen. Der Weg, dies zu tun, wird von ihm zugleich als Methode des Denkens überhaupt und diese als normativ-kritisches Instrument der Auseinandersetzung mit Ideen und Wirklichkeiten, Theorie und Praxis von Pädagogik (und Gesellschaft) ausgezeichnet: Weg, Methode, Inhalt der normativ-kritischen Reflexion ist eine an Hegel orientierte, aber um Gedanken von Fichte und Dilthey modifizierte Dialektik, die allerdings selbst noch einmal von Litt aufgebrochen wird. Sie findet nicht mehr eine Versöhnung im Leben oder Geist, sondern muss ständig offen bleiben. Unabschließbar ist das Geschäft des Denkens, könnte man mit Litt konstatieren. Welt wird dekonstruiert in ihrer Allmacht über den Menschen und der Mensch gewinnt einen Weltzugang, der zugleich pädagogisch und philosophisch in seiner Architektur rekonstruiert und für die Praxis konstruktiv entwickelt wird. Hierbei stellen Diltheys hermeneutische Trias des Erlebens – Verstehens – Auslegens und Hegels Prinzip der durch das Erfahren von Widersprüchen intrinsisch motivierten dialektischen Bewegung die Medien der De-, Re- und Konstruktion bereit. Dies allerdings mit einer entscheidenden Differenz: die in dialektischer Spannung erlebten Widersprüche, zum Beispiel zwischen „Ich und Welt“, „Denken und Sein“, „Mensch und Natur“, „Individuum und Gemeinschaft“, „Bildung und Technik“ (Orientierungs- und Verfügungswissen), drängen zur Synthesis nicht aus sich selbst heraus, sondern auf Grund
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eines sittlichen Anspruchs an den Menschen. Das Sollen ist das Vermittelnde, das Sollen zur Synthese und das (Sein-)Sollen der Synthese. Anders formuliert: Die dialektischen Widersprüche tragen das Sollen ihrer Aufhebung in sich als Ansprüche gegen den Menschen. Pädagogik und Philosophie haben genau hier ihr gemeinsames Moment. In der Sittlichkeit findet sich die unabschließbare Totalität des Wirklichen, die beide suchen und thematisieren. Hierbei versuchen beide, „die Totalität des Wirklichen und zumal der geistigen Existenz mit der Kraft des Gedankens und der gestaltenden Tätigkeit zu umfangen“, so ist Pädagogik eben nicht angewandte Philosophie – wie Technik angewandte Wissenschaft ist –, „sondern Pädagogik ist genuin philosophisch.“23 Beide müssen nach Litt den Prozess der Versöhnung wieder öffnen (und zu öffnen lehren): so wie Philosophie immer wieder neu ihre Wissensbestände befragen muss, so muss Pädagogik in der Praxis wieder und wieder den jeweils erneuten „Abschluss“ aufbrechen und in schonender Überleitung stufenweise ausbauen. Für beide Disziplinen gleichermaßen ist die Dialektik also das sondernde und normative Prinzip ihrer geistigen und gestaltenden Tätigkeiten. Das Movens der Dialektik hierbei im Sittlichen zu verorten und zu verankern, bedeutet zugleich die Einführung einer „humanisierenden Funktion“ derselben. Die streitende Versöhnung und die versöhnende Strittigkeit lassen den Geist – und damit den Menschen – sich selbst gleichsam durchsichtig werden.24 Litt stellt sich hier gegen die Tradition der Aufklärung und denkt zukunftsweisend die postmoderne Unabschließbarkeit des Denkens an. Konzentriert auf Dilthey ist es dann konsequent, dass Litt sich keineswegs auf Reflexionen zu Erziehung oder Pädagogik als (Geistes-)Wissenschaft beschränkt, dass er vielmehr seine Reflexion stets als Triplett philosophisch-anthropologischer, kulturphilosophischer (später: weltbezogener) und epistemischer Fragestellung philosophisch und pädagogisch vorantreibt. War dies in der Phase zwischen den beiden Weltkriegen wesentlich eine Auseinandersetzung mit Scheler und Plessner, Cassirer und Husserl sowie einer durch Jonas Cohn geschulten Theodor Litt: Individuum und Gemeinschaft (1919), hier zitiert nach: Wolfgang Ritzel: Philosophie und Pädagogik im 20. Jahrhundert. Darmstadt 1980, S. 116; Th. Litt: Die Philosophie der Gegenwart und ihr Einfluß auf das Bildungsideal (1927, S. 68); ders.: Ethik der Neuzeit (1926); ders.: Die Bedeutung der pädagogischen Theorie für die Ausbildung des Lehrers (1946). Wiederabgedruckt in: Th. Litt: Pädagogische Schriften. Besorgt von A. Reble. Bad Heilbrunn 1995, S. 74ff. 24 Th. Litt: Die Philosophie der Gegenwart und ihr Einfluß auf das Bildungsideal (1927), S. 69ff. 23
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hegelschen Dialektik25, die sich kritisch gegen logozentrische und positivistische Vereinseitigungen der Erkenntnistheorie wandte26 und die in die Dialektik das an Dilthey und dem Historismus belehrte Moment der Unabschließbarkeit der Geschichte eintrug, so baute Litt auf diesem Gedankengut nach dem Zweiten Weltkrieg seine eigene philosophische Position aus. Im Bereich der pädagogischen Reflexion halten sich diese Stränge ungebrochen durch.27 Wie im begrifflichen Denken so kommt auch in der Realität unserer Handlungswelten das Dialektische vor: Wir erfahren uns im antinomischen Spannungsraum von Individualität und Gemeinschaftlichkeit, von Geschichtlichkeit als Partikularität und Leben als Totalität, von Vernunft und Leben oder von subjektivem und objektivem Geist28, wobei das Dialektische sich nicht nur in den antinomischen Polen, sondern auch je intern findet und aufzuweisen ist.29 Ich erwähnte schon, dass das Dialektische nicht nur als Dynamisches, sondern erst im Kontext einer von Dilthey sowie dem Historismus inspirierten geschichtsphilosophischen Erweiterung bei Litt zu denken ist. Der Mensch ist für Litt immer eingeflochten in Geschichte. Geschichte meint geistig-soziale Welt; sie ist des Menschen „kulturelle Gesamtlage“ – Resultat von Vergangenheit und Entwurf auf die Zukunft, besonders auf die Be25 Zur gegenseitigen Befruchtung ihres Denkens vergleiche die Briefwechsel und Rezensionen, gesammelt und zugänglich im Jonas-Cohn-Archiv. 26 Dies gilt sowohl für die einschlägigen neukantianischen Ansätze von Lotze bis Hönigswald, als auch für die einschlägigen Konzepte der Lebensphilosophie. Beide verlieren in ihren jeweiligen Konzentrationen auf das geistig Tätige den Blick auf die Selbstständigkeit des Wirklichen, was letztlich Objektivität unmöglich macht und zur „Ausblendung“ der Welt als objektiv-objektivierender (ontisch-ontologischer) Instanz führt. 27 Zum Folgenden vergleiche: Dieter-Jürgen Löwisch: Theodor Litt. In: Wolfgang Fischer/Dieter-Jürgen Löwisch: Philosophen als Pädagogen. Darmstadt, 2., erg. Auflage 1998, S. 273–287. 28 Diese Termini übernimmt Litt von Hegel – strukturell – sowie von Dilthey und Cassirer – inhaltlich. Einen Bezug zu Cassirer stellt Litt allerdings niemals selbst explizit her, aber dem objektiven Geist korrespondieren durchaus beispielsweise Cassirers symbolische Formen (vgl. v. Verf.: Sprachreflexion und Transzendentalphilosophie. Würzburg 1981; ders. Ernst Cassirers ‘Philosophie der symbolischen Formen’ und Karl-Otto Apels transzendentale Pragmatik – eine Konfrontation. In: Böhler/Kettner/Skirbekk. Transzendentalpragmatische Diskurse (Arbeitstitel). Festschrift für Karl-Otto Apel. Suhrkamp 2002. Des Weiteren: Th. Litt: Individuum und Gemeinschaft (1919). 29 Hier greift Litt meines Erachtens auf die Idee von Jürgen Habermas’ ›Erkenntnis und Interesse‹ mit der dort im Rahmen der Frankfurter Schule erneut geführten Theorie-Praxis-Diskussion voraus.
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dingungen der geistig-sozialen Welt der Gegenwart. „Erziehung ist […] unter dieser Voraussetzung ein „Handeln, das seinem Wesen nach gerichtet ist auf den Zusammenhang der menschlich-gesellschaftlichen Welt, das heißt der geistigen Welt.“30 Erzieherisches Bemühen zielt auf exakt diese epistemisch ausgewiesene Versöhnung. Dies meint aber nicht den inhaltlichen Zielpunkt eines Wissens, sondern Hinführung zu ‘dialektischer Kompetenz’. Dialektische Kompetenz ist im Sinne Litts stetes Aufbrechen der Disparatheit der uns begegnenden und in uns wirkenden Wirklichkeiten. Pädagogik, die sich mit eben diesem Phänomen der Wirklichkeit und unseres Umgangs mit derselben beschäftigt, ist so Kulturphilosophie und weder zureichend oder erschöpfend getroffen als Experimental- oder Technikwissenschaft noch als bloße teleologische Anthropologie, also weder eine Wissenschaft des Führens noch des Wachsen-Lassens auf ein entropisches Ziel hin, sondern sie vollzieht sich im Spannungsverhältnis der jeweiligen Pole, allerdings unter der bei Litt unverkennbaren restidealistischen Konzeption einer Totalität des Geistes.31 Diese Totalität – und neuerlich zeigt sich ein sehr moderner Zug des Litt’schen Denkens – ist aber eine solche der unverzichtbaren und unhintergehbaren Art regulativer Ideen. Alle Dialektik würde ohne die Antizipation einer solchen Idee umschlagen in willkürliche Disparatheit. Wiederum anders als in Hegels Geschichtsteleologie bewegen wir uns jedoch nicht auf diese oder jene Idealität hin, sondern bleiben im Sinne der Peirce’schen Maxime ‘in the long run’ stets offen und unabschließbar im Handlungs- und Wissensfluss.32 Die ausgelobte Versöhnung ist also immer nur eine Versöhnung auf Zeit; die Versöhnung findet auch immer nur durch und im Denken als Zwischenstadium zu neuem dialektischem Infragestellen statt.33
30 D.-J. Löwisch, a. a. O., S. 275 f., eingeschoben ein Zitat von Th. Litt in: Führen oder Wachsenlassen (1967), S. 89. 31 Insofern, aber auch nur insofern kann er der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zugeordnet werden. Es folgen noch weitere wichtige Bemerkungen. 32 Im Übrigen nutzt Litt in der epistemologischen Reflexion an dieser Stelle die Figur einer strikt reflexiven – elenktischen –, d. i. selbstkritisch und selbstexplikativ erfahrenen Selbstaufstufung des Geistes. Er umgeht damit das Problem, einen quasi zweiten, alles versöhnenden Geist oder ein Apriori zweiten Grades einzuführen. Ich komme darauf zurück. Diese Figur jedenfalls nutzt bezeichnenderweise vielfach Karl-Otto Apel, vgl. ders. in: Zur Idee der Sprache, Bonn (1980 et pass.). 33 Wissenschaftliche Pädagogik kann hier den Prozess, genauer: das Prozessuale und Prozedurale von und in ‘Denken und Sein’, ‘Mensch und Welt’, ‘Individuum und Gemeinschaft’, ‘Bildungsideal und Arbeitswelt’ aufklären (helfen) und die philosophischen Perspektiven erweitern.
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Das Sittliche als immanenter Bewegungsgrund der Überwindung der dialektischen Spannungen: „Das Sein der Erziehung kann nur im Ausblick auf ihr Sollen erfaßt werden“ An dieser Stelle tritt erneut das Sittliche auf den Plan: „Der Mensch ist durch seinen Geist zum Harmonisieren gefordert; er ist aufgefordert, die Widersprüche, die ihm unerträglich zu werden scheinen, durch eigene gedankliche Anstrengung zur Aufhebung zu bringen. ‘Das Sein der Erziehung kann nur im Ausblick auf ihr Sollen erfaßt werden’ … Und das Sollen ist die herzustellende Vermittlung, die Aufhebung, das heißt die jeweils herzustellende Synthese aus den Widersprüchen, die Synthese aus den sich gegenüberstehenden Thesen. Also sind diese Widersprüche anzunehmen und bewußt (das heißt mit Geistesanstrengung) zu leben. Sie sind geistig zu leben in Form ihrer Anerkennung als Gegebenheiten und in Form ihrer Anerkennung als Aufgegebenheit für den Geist. … Sie tragen als geistig produzierte, das heißt als Kulturmomente, in sich das Sollen ihrer Aufhebung, das ebenfalls geistgestiftet ist. Sie sind Ansprüche an den Menschen […] sich – und damit den Geist – an ihnen abzuarbeiten.“34 Löwisch bringt Litts Intention hier meines Erachtens in vollem Umfang zutreffend auf den Punkt: dialektisches Prinzip – Movens und Ursache im Geistigen, das Geistige als Ganzes – als Versöhnendes, aber auch wieder aufbrechendes Prinzip. In seiner Totalität aber ist das Geistige als – transzendental-kritische, regulative – Idee, an der das Partikulare sich im Sinne Hegel’scher Pädagogik „abarbeitet“, damit sich selbst befestigt und selbst findet. Dies alles angesichts einer an den Menschen Ansprüche stellenden Welt, als Kultur-Welt im Sinne geistiger Objektivationen. Und so ist schließlich das Geistige das Ganze der Bildung, nicht ein Ideal der Bildung, und „Welt“ und „Mensch“ haben gleichermaßen Bildungsbedeutung: Der Mensch hat „Weltbildungsbedeutung“, indem er Welt schafft, erarbeitet, bildet. Die geistigen Objektivationen ihrerseits haben als Gehalte des als Welt Bezeichneten (begrifflich Bestimmten) „Menschenbildungsbedeutung“.35 Neben diesen geistigen Gehalten tritt in der Erziehung gleichrangig, gleichursprünglich und wiederum unablösbar in dialektischer Spannung der Anspruch des Educandi an „Welt“ und „Mitmensch“. Der Erzieher tritt auf, wie es D.-J. Löwisch auf den Punkt bringt, als Advokat beider – des „Sachanspruchs wie dem Anspruch des Heranwachsenden als Geistwesen“36 und genau „insofern ist für Litt“, wie Lö34 Vgl. D.-J. Löwisch, ebd., S. 278f., eingearbeitet ein Zitat aus Th. Litt: Das Wesen des pädagogischen Denkens, S. 103, in: Führen und Wachsenlassen (1927). 35 Vgl. Th. Litt: Mensch und Welt (1948), S. 24; dazu D.-J. Löwisch, ebd. 36 D.-J. Löwisch (1998), S. 279.
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wisch betont, „der Erzieher ‘Anwalt und Vertreter des objektiven Geistes’, indem er dessen Konkretionen zur Bearbeitung durch die Geistseele des Heranwachsenden verpflichtend macht. Zugleich ist er Anwalt des Zögling-Subjekts, das heißt er ist Anwalt der zu bildenden, an geistigen Gehalten abzuarbeitenden Geistigkeit des Heranwachsenden. Auch hier hat eine Versöhnung, eine Vermittlung stattzufinden: Der Erzieher hat Kind und Sache, Zögling und geistige Gehalte in Auseinandersetzung zu bringen und dafür Sorge zu tragen, daß auf Seiten des Zöglings eine Selbsterkenntnis seines Geistes (eine Selbstbestimmung) derart stattfindet, daß die ärgerliche Differenz, die Auseinandersetzung, zu einem beide Seiten befriedigenden Ende, das heißt zu einer Synthese geführt wird. Das bedeutet: die geistigen Gehalte der Kultur sind aufgehoben im Subjekt und das Subjekt weiß sich aufgehoben in den geistigen Gehalten.“37 Im Unterschied zu D.-J. Löwisch bin ich – wie oben bereits dargelegt – allerdings der Meinung, dass diese Versöhnung im Sinne der Litt’schen Dialektik nur eine Zwischenstufe auf dem Weg in eine neue dialektische Phase des Auseinandertretens von subjektivem und objektivem Geist derart ist, dass nun – sozusagen mit Erreichen eines Bildungsstandes oder besser vielleicht: Bildungsstandortes – eine qualitativ andere Auseinandersetzung subjektiven und objektiven Geistes statthat. Andernfalls käme die Bewegung zur Ruhe, was wiederum die Idee eines Telos voraussetzen würde, eines abschließend versöhnenden Ganzen. Dies wäre philosophisch ein Rückfall in Hegels Ontologie, die Litt doch gerade mit Historismus und Geisteswissenschaften überwinden will. Pädagogisch würde es ein (sublimes) Telos menschlichen Selbstverständnisses und gesamtmenschlicher Praxis suggerieren. Auf einer inhaltlichen Ebene würde diese die Freiheit negieren, Wachsenlassen ein Primat einräumen und Pädagogik auf Technik reduzieren.38 Aus eben diesem Grunde ist Bildung bei Litt auch wesentlich ein prozeduraler Begriff. Dies sieht Löwisch auch, wenn er betont: „Es gibt für Litt kein Bildungsideal; es gibt wohl Formprinzipien der Bildung als ‘ewige Objektgestaltungen des lebendigen Geistes’, so Wissenschaft und Kunst, Religion und Sittlichkeit, die einen unangreifbaren Selbstwert tragen als sogenannte Bildungskategorien.“39 Dieser Selbstwert der „Sachen“, der uns auch noch bei der Beschäftigung mit der in diesem Band wiedergegebenen Schrift begegnen wird, ist und wird von Litt nicht 37 Ebd. Die hier thematisierte Aneignung via Auseinandersetzung korrespondiert der oben bereits erwähnten Hegel’schen Bildungsidee des Abarbeitens. 38 Gegen eine solche ‘Starre’ sind alle Schriften der späten Phasen Litt’schen Denkens inhaltlich und in der Entfaltung der Dialektik gerichtet. Ich komme darauf zurück. 39 Ebd., S. 282.
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konfundiert mit einem Bildungsinhalt, vielmehr fordert er uns, ganz in der Tradition kantischer kritischer Aufklärung zum Selberdenken auf: „Suchen wir den Geist in der Zeitlosigkeit seiner Werke, damit wir, mit ihm ringend, selbsteigenes Wesen gewinnen, statt daß wir den zeitgebundenen Formen seines Lebens nachspüren, um sie uns selbst aufzupressen!“40
Statt inhaltliches „Bildungsideal“ unendlicher Progress des Sich-Bildens: Vom Stufenbau des Geistes Zieht man seine philosophischen Reflexionen zu Anthropologie, Epistemologie und Ethik nun hinzu, so ergibt sich schlüssig: es kann kein Bildungsideal geben, dies wäre entgegen dem dialektischen Prinzip; der Mensch formt sich und Welt – als seine geistige Objektivation zwar in Auseinandersetzung mit den „Sachen der Welt“, ohne dass aber diesem oder jenem Priorität zukommt oder gar zeitloses Sein – vielmehr offenbart sich die Sache in und als Geschichtlichkeit wie der Mensch sich in und als Geschichtlichkeit vollzieht und in ihr „formt“. Schließlich korrespondiert dies dem Selbstentfaltungsprinzip, dem wir in der grundlegenden Schrift ›Das Allgemeine im Aufbau des wissenschaftlichen Erkennens‹ (1941) schon begegnet sind. Nicht ein „Apriori zweiten Grades“, wie Litt es dort bezeichnet, ist die Möglichkeit des Wissen-Könnens, vielmehr entfaltet sich „wirkliches“ Wissen in strikter Selbstentfaltung der Stufen des Wissenkönnens und des Wissens aus dem Wissen heraus. Dieses Prinzip strikter Selbstentfaltung findet sich unmittelbar auch in Litts Pädagogik. Es beschreibt den Prozess des Sich-Bildens unter Anleitung. Noch einmal sei Dieter-Jürgen Löwisch zitiert: „So wie der Geist sich nichts ableiten läßt (Litt sagt: ‘Entweder der Geist ist er selbst, aus sich selbst und durch sich selbst oder – er ist überhaupt nicht’), so läßt sich Bildung des Menschen aus keinem Bildungsideal ableiten, machen, herstellen: Bilden zum Selbst, zum sich seines Selbst bewußten Ich ist immer gebunden an die strenge geistige Durcharbeitung der Welt (oder Kultur) durch den einzelnen. Erziehung und Bildung sind nicht einem Ideal verpflichtet, sie sind auch nicht festgefügten Weltanschauungen verpflichtet, sie sind keinen religiösen Lehrmeinungen und Leitbildern verpflichtet und auch keinen politischen Ideologien. Allein dem frei denkenden Geist, der zu sich selber kommen soll, sind Erziehung und Bildung verpflichtet.“41 40 Th. Litt: Führen oder Wachsenlassen. Stuttgart 1967, 18. Aufl., S. 53 f. Eben dieser Gesichtspunkt zur Bildung begegnet uns in der nahezu dreißig Jahre später erschienenen und im Vorigen wiedergegebenen Schrift wieder. 41 D.-J. Löwisch (1998), S. 283f.
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Der Dialog von Philosophie und Pädagogik eröffnet hier den Weg zu einem grundsätzlichen Begriff von Geisteswissenschaften, die Vereinseitigungen und Verabsolutierungen – wie sie bei Dilthey und Hegel vorliegen – überwinden, wie sie den Weg in eine Pädagogik öffnen, die mehr ist als Erziehungslehre oder Erziehungswissenschaft, als sie vielmehr Grundverständnis und Grundvollzug des Menschen als sinnerschließendes und sinnerzeugendes Gemeinschaftswesen ausbuchstabieren. Die zweite Schaffens-, besser: Publikationsphase Theodor Litts, nach dem Ende seiner selbst vorgenommenen Zur-Ruhe-Stellung während des nationalsozialistischen Regimes, setzt diesen Dialog mit den gleichen Eckpfeilern ungebrochen fort. Parallel zu dem paradigmatischen Wechsel seiner philosophischen Grundlagenreflexion, die ich oben entfaltet habe, transformiert er allerdings einige Bausteine dieser theoretischen Reflexionen. So ersetzt er den Kulturbegriff durch den allgemeinen Begriff „Welt“42, so fasst er Gemeinschaft jetzt wesentlich in ihrem Formationsbestand „Gesellschaft“.43 Schließlich radikalisiert er seine Technikkritik, indem er sie von epistemologischen und kulturanthropologischen Fragen um moralisch-ethische Perspektiven erweitert, bei denen er lange vor Hans Jonas auf ein Prinzip Verantwortung hindeutet.44 Hier schließt er – bis an das Ende seines Wirkens in Wissenschaft und Öffentlichkeit – Reflexionen zu Risiken der modernen Gefahrenzivilisation und Risikogesellschaft, wie eine grundsätzlich positive aber kritische Begleitung der Demokratiebewegung und -entwicklung in Deutschland an. Der Wechsel oder präziser die Transformation seines Denkens ändert aber nichts an der Grundlegung seiner dialektischen Konzeption von „Sein“ und „Denken“, „Mensch“ und „Welt“. Sie stehen für ihn im Spannungsverhältnis dialektischer Verwobenheit. Prägnant kommt dies im Wechsel zum Terminus „Welt“ zum Ausdruck, der den Terminus „Kultur“ transformiert. Aber nach der großen „Katastrophe“ (Litt) des Zweiten Weltkrieges scheint es kaum noch angemessen, einen ideologieneutralen Mensch und Welt (1948). Vgl. die entsprechenden Werke: ›Denken und Sein‹ (1948), ›Mensch und Welt‹ (1948) sowie ›Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt‹ (1955). Zu den Aufsätzen und Vorträgen vgl. die Bibliographie in Litt: Jahrbuch 1999/1. Leipzig 1999. 44 Technisches Denken und menschliche Bildung. Heidelberg 1957. – Die Philosophie und die Geisteswissenschaften. Bonn 1958. – Freiheit und Lebensordnung. Zur Philosophie und Pädagogik der Demokratie (1962). – Geschichte und Verantwortung (1947); dann aber fortlaufend Aufsätze und Vorträge zu konkreten Fragen der Verantwortungsübernahme. 42
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Begriff von Kultur in philosophischen und pädagogischen Reflexionen zu verwenden. Zudem ist die Komplexität, die im Terminus „Welt“ zum Ausdruck kommt, der Komplexität der Erscheinungsformen von „Mensch und Welt“ wohl eher angemessen. Nicht mehr ist der Blick beschränkt auf Kulturobjektivationen des objektiven Geistes, sondern es geht nun auch und gerade um die vom Menschen und seiner (vermeintlichen) Kultur geschaffenen Bedrohungssituationen im Mikro-, Meso- und Makrobereich. Es geht um Folgen absehbarer und nicht absehbarer Art menschlichen Verhaltens (Wissens, Forschens, Experimentierens etc.). Der Kulturpädagoge wird zum Weltpädagogen. ›Mensch und Welt‹, ›Denken und Sein‹ markieren nun aus einer rückblickenden Perspektive sicherlich jene Weiterentwicklung und Variation seiner ursprünglichen philosophischen Position, die Litt zwar in die meines Erachtens notwendige Distanzierung der phänomenologischen Methodik und Systematik bringt, die aber andererseits den sich selbst ernannten „deutschen Philosophen“ philosophiegeschichtlich im Rahmen der Forschergemeinde der Philosophen an den Rand drängt, was unverständlich angesichts der Tiefe und Aktualität seiner Gedanken ist. ›Mensch und Welt‹, seine Antwort auf die philosophischen Anthropologien des 20. Jahrhunderts, bemüht sich noch einmal, die dialektische Struktur von Mensch und Welt oder besser im Sinne Litts auch treffender: die Dialektik von Welt und Welt-Wissen aufzuweisen. Litt verwirft hier jede einseitige Vorgeordnetheit oder Ver-Objektivierung von Welt oder Mensch, von Denken oder Sein. Auf einer künstlichen Trennung dieser Sphären basieren Naturwissenschaften, entfremden sich Menschen sowohl voneinander als auch von „ihrer“ Welt, verdinglichen Menschen Welt in und als Technik (Instrument). Wie im Stufengang des Geistes (›Das Allgemeine im Aufbau geisteswissenschaftlicher Erkenntnis‹) aufgezeigt, ist es vielmehr dem Menschen aufgegeben, sich die Frage nach dem Allgemeinen oder dem Sinn des ‘Ganzen’ – so auch dem Sinn der Wissenschaft – zu ‘stellen’. „Zwar hat der Mensch die Naturwissenschaften geschaffen und ‘stellt’ er in Anwendung dieses Instruments der Erscheinungen Flucht ‘fest’.45 Doch nach wie vor geht die Welt ihn in einer Weise an, der all seine exakte Feststellung nicht entspricht. Der Sinnfrage kann er nicht ausweichen; selbst nach dem Sinn der Wissenschaft muss er fragen; wie er aber mit diesen Fragen nie zu Rande kommt, so über sich selbst nicht zu letzter Klarheit. Doch indem ihm die doppelte Problematik bewusst wird, wird ihm die Dialektik seiner selbst und der Welt bestätigt. Ihr zu Folge geht 45 Vgl. in diesem Kontext Martin Heideggers Konzeption des „Gestells“ (Anm. v. H. B.).
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wiederum der Mensch die Welt an, so dass sie überhaupt erst Welt wird.“46 Wolfgang Ritzel bringt Ausgangs- und Wendepunkt der Litt’schen Epistemologie und Anthropologie hier exakt auf den Punkt. An die Stelle der ursprünglich phänomenologisch-intentionalen Perzeption von Welt treten nunmehr die Gestaltungsmomente Sprache und Kunst.47 Sprache entfaltet Litt sowohl in ihrer weltschaffenden Funktion als auch in ihrer selbstreflexiven Struktur. Hinsichtlich der produktiven Kraft, die der Kunst eignet, kritisiert er, dass ihre weltschaffende Funktion verkannt werde, wenn sie lediglich als „eine Welt des schönen Scheins“48 aufgefasst würde, vielmehr bedarf es auch für sie „einer Berichtigung analog derjenigen, die der Sprache ihren Anteil am Werden der Welt zurückgibt“.49 In ›Denken und Sein‹ geht es ihm um das „methodische Denken“ des Menschen und den „Eigenwert“ des Objektes der Erkenntnis. Zentral ist hierbei, dass Litt ausgehend vom Hegel’schen Diktum, das Wahre sei das Ganze, beiden Teilbereichen ihr Recht zuspricht und ihre dialektische Verschränktheit und strukturelle Komponiertheit reflektiert: „Das Wahre ist das gedankliche Ganze“50: Darum ist an jeder der Konstruktionen insofern „etwas Wahres“, als sie ihm insgesamt integriert sind. Daraufhin ist es verwehrt, die Physik gegen die Theologie oder die Geschichte auszuspielen, und es sind darüber hinaus Übergänge von einer Wissenschaft (Konstruktion, Methode) zur anderen möglich; mit Bezug darauf kann ein continuum formatum angenommen werden. „Das Subjekt gelangt methodisch zu allgemeingültigen Urteilen; sie gelten vom Gegenstand qua Gegenstand der Erkenntnis (des Erkenntnissubjektes) … Indem der Mensch sich in Befolgung einer (von mehreren) Methode oder ‘Grundrichtung des welterkennenden Denkens’ mit der Welt vermittelt [Hervorh. v. H. B.], vermittelt er sich selbst und vermittelt zugleich 46 W. Ritzel: Theodor Litt, in ders.: Philosophie und Pädagogik im 20. Jahrhundert. Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980. Darmstadt, S. 139. 47 Wesentliche Momente, die Litts Anliegen und dessen Umsetzung thematisieren, sind nachzulesen in: Mensch und Welt, S. 36–41, Sprache und Ich, S. 193–198, Die Natur als gestaltete Wirklichkeit, S. 214–217, Rückblick auf seine Überlegungen zum „Geist“, S. 217–223, Selbstaufstufung der Sprache, S. 223–231, Selbstaufstufung des Geistes, S. 242–249, Die Methode der Selbstbegründung. 48 Th. Litt: Mensch und Welt, S. 198. 49 Ebd., S. 198f. 50 Dies verweist unmittelbar auf die Idee des Diskursuniversums, wie sie innerhalb der universal- und transzendentalpragmatischen Variante der gegenwärtigen Diskursphilosophie antizipiert wird (vgl. v. Verf. mit Horst Gronke [Hrsg.]: Zur Idee des Diskurses. Markt Schwaben 2000 sowie D.-J. Löwisch: Kompetentes Handeln. Darmstadt 2000).
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die Welt.“51 Mit Wolfgang Ritzel schließe ich hier meine Betrachtungen zum Gesamtwerk Theodor Litts ab. Ich denke, die wesentlichen strukturellen und architektonischen Bausteine des methodisch-strengen Denkens nachgezeichnet zu haben. Sie fließen in seinem hier wiedergegebenen Spätwerk noch einmal eindrucksvoll zusammen.
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W. Ritzel: Th. Litt …, S. 139f.
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Teil B: Bildungsdiskurs. „Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt“52 Historischer Teil In Teil A bemühte ich mich, einige grundsätzliche Linien der Reflexion Theodor Litts zum Verhältnis und zum jeweiligen Selbstverständnis von Pädagogik und Philosophie nachzuzeichnen. Für die in diesem Band nun auszugsweise wiedergegebene Schrift, die wohl neben ›Führen oder Wachsenlassen‹ zu den meistgelesenen Publikationen Theodor Litts zählt, verweist er in einer Vorbemerkung darauf, dass die Früchte seiner zweiten Schaffensphase – namentlich die ›Einführung in die Philosophie‹, ›Die Selbsterkenntnis des Menschen‹, ›Mensch und Welt‹, ›Denken und Sein‹ „die Grundlage des im folgenden Vorzutragenden“ bilden, als in ihnen der Philosoph und Pädagoge sich und seinen Lesern Klarheit über die philosophische Anthropologie verschaffe, denn „jeder Bildungslehre liegt, bewußt oder unbewußt, ausgesprochen oder unausgesprochen, eine bestimmte Auffassung vom Wesen des Menschen zu Grunde. In begrifflicher Form entwickelt heißt sie: philosophische Anthropologie.“53 Für ihn terminiert philosophische Anthropologie in der Geschichtlichkeit des Menschen und seiner Situation, der Mediatisierung von Natur und Welt durch den Menschen, der kulturschaffenden Realisierung des Menschen als Realisierung seiner selbst und der Welt, und dies in und vermittels der poietischen Medien von Sprache und Kunst. Alles wird aber wieder überragt und grundgelegt in der in allem zur Erscheinung kommenden, in allem zur Erscheinung gebrachten und alles zum Erscheinen bringenden Dialektik als Grundform der Intra- und Interbezüge von ‘Denken und Sein’, ‘Mensch und Welt’, ‘Individuum und Gemeinschaft´. All dies versuchte ich, in Teil A ein wenig zu erhellen. Unmittelbar in den Blick kommt durch den Verweis auf diese Grundlagen, dass die Themen52 Ich werde im Folgenden doppelt zitieren. Im laufenden Text verweise ich auf die entsprechenden Seitenzahlen im vorliegenden Band, als Fußnote erfasse ich die korrespondierende Seitenzahl der Ausgabe der Bundeszentrale für Heimatdienst, Bonn 1955, also der Ausgabe von 1959, deren Wortlaut hier wiedergegeben wird. Der interessierte Leser hat somit die Möglichkeit zum textkritischen Vergleich. 53 Th. Litt: Das Bildungsideal … Vorbemerkung (S. 7).
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stellung des Beitrages von einem dialektischen Miteinander-Gegeneinander klassischer Bildung und moderner Arbeitswelt ebenso auszugehen hat wie von einer internen historisch-dialektischen Entfaltung. Ebenso werden wir unmittelbar darauf verwiesen, dass der Mensch, eingebettet in Kultur, Kulturerbe, Kulturentwicklung – sic: Bildung – in einem näher zu bestimmenden, aber für Litt sicherlich dialektischem Verhältnis zur modernen Arbeitswelt steht, die komponiert ist aus Wissenschaft, Technik und Produktion. Dies stellt ihn als Weltbildner und die Welt als Menschenbildner in ein neues Licht. Notwendig hat dies Konsequenzen für einen Begriff von Humanität und Welt; eine Perspektive, die auch zwangsläufig Aspekte wie Freiheit, Selbstbestimmung, Zweck einer neuen Bestimmung zuführt und heute in Kontexten wie Technisierung, Mediatisierung und Zweck-Mittel-Relation steht. Schließlich wird sich das doppelte Moment der Prozeduralität und der Inhaltlichkeit von Bildung vergleichen lassen müssen mit der modernen Arbeitswelt, die sich ebenfalls in dem doppelten Sinne von Produkt und Prozess, von Herstellen, Basteln, Erzeugen und Sache, Sachverhalte, Gefahren- oder Risikowelt vollzieht und bestimmt. Es wird sich letztlich die Frage nach der Verantwortlichkeit des Tuns und Unterlassens ethisch-moralisch wie anthropologisch von selbst stellen. So überraschend der Titel, den Litt seinen Überlegungen gab, zunächst klingen mag, er betrifft meines Erachtens exakt diesen Fragekreis. Zu verstehen sind seine Überlegungen auch ohne die philosophisch-anthropologische Grundlegung, zu würdigen allerdings nur unzureichend ohne dieselbe.
Das Bildungsideal der deutschen Klassik. „Anthropozentrik“ versus „Sachzentrik“ Das zweigeteilte – in eine historische und systematische Abteilung getrennte – Werk beginnt mit einer grundsätzlichen Reflexion der uns schon vielfach begegneten Dichotomie von ‘Mensch’ versus ‘Welt’, ‘Denken versus Sein’, hier nun: ‘Humanität und Bildung’ versus ‘Technik und Sache’ (…).54 Humanität bringt Litt entlang der Humboldt’schen Bildungsidee ein und konterkariert sie mit „Technik“ als der zweiten Errungenschaft des menschlichen Geistes. Beide verbindet, dass sie vom Menschen initiierte, auf seine Persönlichkeit als geistiges Wesen zurückführbare Leistungen sind, die für Litt zudem zeitgleich „an der Wiege der Moderne“55 standen.
54 55
Ebd., Teil I, 1. und 2. Kapitel. W. Ritzel, S. 146.
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Ausgrenzungen. Menschenwelt contra Sachwelt ›Die Sorge um den Menschen‹, ein Titel, der unmittelbar moralisch-ethisches Besorgtsein, anthropologische Selbstverständniskrise, zivilisatorischgesellschaftliche Gefährdung signalisiert, wird von Litt am Beginn seiner Abhandlung virtuos als Tableau der dialektisch-historischen Selbstinszenierung des tätigen Menschen eingebracht. Die „Sorge“ ist Selbstsorge um die Bewahrung seiner (Be-)Sonderheit. Am Wendepunkt zur Moderne steht der Mensch im Spannungsverhältnis von Goethes ›Werther‹ und Watts „Dampfmaschine“. In Ausgrenzungs- und Abwehrverhalten gegenüber dieser Herausforderung zentriert der Mensch Welt zunächst noch erfolgreich auf sich, er erhebt sich zum Wert an sich, zum einzigen Wesen, was nur „Zweck an sich selbst“ ist, und zur Norm, auf die alles Werden hin orientiert ist und seine Orientierung findet. Seinen philosophisch-anthropologischen Ausdruck findet diese Selbstinszenierung des Menschen im Humanitätsideal der deutschen Klassik. Sie markiert nicht nur den dialektischen Gegenpol zum Technikideal des aufbrechenden industriellen Zeitalters – und markiert mit diesem zusammen den Aufbruch in die Moderne –, sondern sie bildet auch einen historischen Gegenpol zur Ichvergessenheit des vorgängigen hellenistisch-römisch geprägten Humanitätsideals des hohen Mittelalters und der frühen Neuzeit. Humanität ist nicht nur Bildung, Menschenbildung, ist nicht nur Ausbildung und Pflege von Staat, Recht, Wissenschaften, Kunst, Religion und vielem mehr, sondern ist auch und unleugbar Ausdruck extremer Anthropozentrik, und das ist – negativ formuliert – Verfügbar- und Untertan-Machen von allem Nicht-Menschlichen als Mittel zur Erreichung des Zwecks „Humanität“. Der Mensch ist sich selbst normatives und moralisches Kriterium für Humanität: „Es ist der Mensch, dem es [das Bildungsideal als Humanitätsideal] als Norm und Vorbild vor Augen steht. … [Aber] nicht nur dies will die genannte Idee besagen, daß es dem Menschen überhaupt aufgegeben sei, sich im Hinblick auf eine als Ideal vorschwebende Gestalt zu modeln – eine Aufgabe, deren Bejahung die Hingabe an weitere, als gleich gewichtig anzuerkennende Ziele nicht ausschließen würde – sondern die Meinung ist die, daß in der Idee der Humanität sich alles das zusammenfasse, was seinem Dasein einen höheren, ja den eigentlich ‘menschlichen’ Sinn verleihe. Es ist die Bestimmung des Menschen, sich zum Menschen zu ‘bilden’.“56 (11f.) 56 Ebd., S. 14. In die Linie dieser durchaus als kritisch zu lesenden Interpretation des Humanitätsideals ließe sich die von P. Sloterdijk entfachte Diskussion um die Selbstkreierung des Menschen und das Bild des Gendesigners problemlos aktuell einfügen.
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Und kritisch fährt Litt fort, dass dann alles, was dem Menschen „widerfährt“, seine Geschichte, die seiner Gattung, die seines Kultur- und Lebenskreises, dass all dieses normativ bewertet und utilitätsbezogen verwertet wird unter Bezug auf die Vervollkommnung des Menschseins: „Hier ist nun wirklich der Mensch zum ‘Maß aller Dinge’ geworden.“57 (12) Und an eben dieser Stelle der Entwicklung des Geistigen, der Entwicklung der Welt offenbart sich das dialektisch korrespondierende Andere – die Sache – in unverstellter Eigenmächtigkeit. Der ausschließend-ausschließlichen Zuwendung zum „Menschen“ korrespondiert „[…] jene mit gleicher Ausschließlichkeit kanonisierte Leitkraft […] der Sache“.58 (12) „Sache“, dies ist nicht einfach Gegenstand oder Sachverhalt, sondern „Sache“ meint die vom Menschen unter den Gesichtspunkten Funktionalität, Utilität und Perfektion – schlicht Vollkommenheit – auf der Basis mathematisch-naturwissenschaftlichen Gesetzeswissens vom Menschen geschaffene Technik. In Technik wird „Welt“, wird die „Kausalität aus Notwendigkeit der erscheinenden Dinge“ gestellt, in die und in der sich der Mensch verliert. Er „entselbstet“ sich, insofern nicht mehr er den Fortgang der Sache bestimmt, sondern der „Fortgang der denkenden Bemühungen […] [bestimmt sich] nach der unausweislichen Logik der Sache“.59 (13) Diese Logik der Sache60 offenbart sich an der Ersetzbarkeit des jeweiligen Forschers, dessen Stelle – lediglich unter Inkaufnahme einer Zeit- oder geringen Perspektivenverschiebung – jederzeit von anderen eingenommen werden kann. Dies sei eine grundsätzliche Differenz zum geistigen Artefakt zum Beispiel in den Bereichen Kunst, Literatur und Sprache. Die „Technik“ wiederholt hierbei auf dem Boden der Praxis lediglich, was die Naturwissenschaft auf dem Boden der Theorie vollzieht. Der Mensch – der Forscher und Techniker – ist in diesen analogen Prozessen und Strukturen entselbstet, er ist „gleichgültig“ (Litt) in diesem und für diesen Prozess. Aber hiermit ist der eigentliche Exzess noch nicht erreicht. Unter Rückgriff auf seine frühen Überlegungen zu ‘Theorie und Praxis’ – tritt die „‘Unmenschlichkeit’ der genannten Bewegung in ihrer ganzen Schärfe [erst] hervor“.61 (14) War in der Natureingelassenheit des Menschen die ‘Theorie’ stets in die Praxis verwoben, also dieser entnommen Ebd. Ebd., S. 15. 59 Ebd., S. 16. 60 Auch hier sei wieder auf die in der gegenwärtigen Gendebatte in Anspruch genommene und sich gegen moralisch-ethische Bedenken wie anthropologische Fragen immunisierende ‘Logik des Heilens’ seitens hippokratischer (dogmatisierter) Medizin verwiesen. 61 Th. Litt: Das Bildungsideal …, S. 17. 57 58
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und auf diese bezogen, so brach diese ursprüngliche Differenz in der Indifferenz zu einer grundständigen Differenz auseinander. Litt markiert dies am Wechsel vom „Umgang“ des Menschen mit Natur. Ursprünglich sei der Umgang des Menschen mit der Natur analog des Umgangs des Menschen mit Mitmenschen gewesen: „Dem Menschen tritt in der Natur der Partner gegenüber, von dem man nur etwas erfahren kann, wenn man sich mit ihm einläßt.“62 (16) „Es ist ein Lebensverhältnis, das Mensch und Natur in dieser Begegnung eingehen … Der ‘Umgang’ stiftet zwischen dem Menschen und seinem Gegenüber eine Beziehung, die, wie sie auch im Einzelnen geartet sei, ihn keinesfalls der Gefahr aussetzt, durch dieses Gegenüber in seinem personalen Sein überwältigt, erdrückt, ausgelöscht zu werden.“63 (16) Nicht nur eine der zwischenmenschlichen Situation analoge Beziehung, sondern eine ethische Dimension des Menschen in seinem Verhältnis zur Natur wird unmittelbar deutlich. Der in Natur Eingelassene, der mit Natur Umgehende wird diese weder zerstören, noch sich von ihr bedroht fühlen. Die eigentliche Bedrohung, die eigentliche Entfremdung vollzog und vollzieht sich stets neu durch die Trennung von Theorie und Praxis. An die Stelle des Umgangs mit Natur tritt „hypothetisch vorausberechnende Konstruktion und experimentelle Nachprüfung […] Es entsteht, geboren aus dem Geist der nämlichen Methode, eine Praxis, die wirklich nicht mehr ist als Praxis, nämlich reine ‘Anwendung’ der durch die reine Theorie eingebrachten und zum Gebrauch bereitgestellten Ergebnisse.“64 Theorie und Praxis des Menschen verselbstständigen sich. Übernahm der Mensch im Umgang mit Natur Verantwortung, so ist er als Anwender von Theorie nur noch „Arbeitender“, er ist nicht mehr „Handwerker“65 (17 ff., 78 ff.), er muss sich um Natur nicht mehr sorgen, er vollzieht sich und Welt in Beziehung zu sich durch und in Technik.66 Der „Siegeszug der Sache“ ist perfekt, der Mensch steht nun in ihrem Dienst. Humanitätsideal und Sachpriorität führen so in seltsamer, aber doch offenbarer Symbiose zu einem Verlust des Menschen aus „Sorge“ um den Menschen: Besorgt um sich und seine Sittlichkeit erwächst ein Postulat 62 Ebd., S. 19. Es sei an die obigen Ausführungen zum Apriori der Geisteswissenschaften und deren epistemischer Grundlage erinnert. 63 Ebd. Eine Position, die auch Hans Jonas in seinem verantwortungsethischen Werk entfalten wird. Vgl. dazu: J. Sikora: Mit-Verantwortung. Hans Jonas, Vittorio Hösle und die Grundlagen normativer Pädagogik. Eitorf 1999. Ders.: Zukunftsverantwortliche Bildung. Bausteine einer dialogisch-sinnkritischen Pädagogik. Würzburg, im Erscheinen. 64 Th. Litt: Das Bildungsideal …, S. 22. 65 Ebd., S. 19, 125ff. 66 Ebd., S. 28–32.
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der Humanität, besorgt um sich und seine Geborgenheit erwächst ein Postulat der Sache – und in beiden verliert der Mensch sich: in der Humanität verliert er im Kampf gegen die Arbeitswelt, gegen die Mechanisierung67 oder Mittel-Zweck-Rationalisierung von Welt, die Perspektive auf die Welt und verabsolutiert sich selbst zur Totalität: „Es ist die Sehnsucht nach dem ganzen Menschen, dem Vollmenschen, die sich gerade an dem Anblick von so viel fragmentarischem Menschentum zur Leidenschaft entzündet.“68 (21) Der Mensch wird zum „Maß aller Dinge“ und ist zugleich isoliert. In der Sachpriorität verliert der Mensch sein kreativ schaffendes Sichselbstverwirklichen und wird zum Vollstrecker des Systems der Sache. Theodor Litt bemüht sich in sorgfältigster Rekonstruktion, den hier aufgewiesenen Hiat in seiner Struktur, nämlich als Hiat, der sich zwischen geistiger Menschenidee und außergeistiger, aber vom Menschen bewirkter Welt auftut, auch und gerade als Movens der Kritik auch bereits für die deutsche Klassik namhaft zu machen. Die Auseinandersetzungen Herders, Goethes, Humboldts bis zu deren Umkehrung bei Niethammer und Kerschensteiner bieten ihm hierzu die Folie. Die Kritik, die von der deutschen Klassik ausgeht, speist sich im Kern aus einer scharfen Kulturkritik: „Von dem Evangelium der Humanität ist nicht abzutrennen die Kritik der modernen Kultur. In ihr hat das sie beseelende missionierende Pathos seine Wurzel.“69 (20) Die gegenwärtige Kultur, so der Vorwurf, führe zur Verkümmerung des Menschen auf Grund der Abkehr von einem ganzheitlich-totalen Menschen zu einem in Funktionskreisen sich spezialisierenden und so verkümmernden Menschen. Die Arbeitsordnung der Gegenwart verstümmelt die Ganzheit des Menschen und verbietet den Anspruch, eine Ganzheit sein zu dürfen – so das Pathos der klassischen Humanitätsidee: „Dies eben ist doch das in der Tiefe bohrende Verlangen desjenigen, dem die sein Zeitalter beherrschende Arbeitsordnung zumutet, in einer vom Ganzen abgespaltenen Teilverrichtung von beschämender Geringfügigkeit seinen Lebensinhalt zu finden.“70 (21) Diese Kulturkritik nimmt in den Augen Litts seine Kritik am Hiat zwischen Sache und Menschenbildung, Denken und Sein, Mensch und Welt vorweg.
Dies ist der Kern des Gedankens in Herders Maschinenmetapher. Th. Litt: Das Bildungsideal …, S. 35. 69 Ebd. 70 Ebd., S. 36. 67 68
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Entfremdung von Wirklichkeit. Pädagogische Provinz und Technikfeindlichkeit Gekoppelt an das von der deutschen Klassik postulierte Ideal ist fraglos ein normatives Menschenbild, ein Telos für Bildung und Sich-Bilden, gerichtet auf und gerichtet an den Menschen als Ganzes. Idealtypisch für diese Konstruktion ist in Litts Augen Goethes systematische Weiterentwicklung des Humanitätsideals71 (22–31), welche allerdings, dies sei vorweggenommen, letztlich nicht über das grundlegende Problem der anthropozentrischen Einseitigkeit der Humanitätsidee hinauskommt. Litt stellt ins Zentrum seiner Beschäftigung Goethes Utopie der pädagogischen Provinz aus den ›Wanderjahren‹. Erstens negiere Goethe hier das in sich unsinnige Postulat einer Universalbildung zu Gunsten eines Spezialistenwissens.72 Zweitens stelle er das Handwerken wieder ins Zentrum als Gegengewicht zur Einseitigkeit des Bildens des reinen Geistes: „Die Hand wird als Organ der Menschwerdung anerkannt, ja gepriesen. Humanität tritt aus den Bezirken des ‘reinen’ Geistes, der Innerlichkeit heraus […] und bezieht die ‘äußere’ Welt in ihre Kreise ein.“73 (23) Litt wehrt sich im Folgenden gegen eine pädagogische Interpretation, die hierhin ein Entdramatisieren der Unmenschlichkeit der Arbeits- oder Technikwelt nutzen zu können glaubt, als Goethe Arbeit (Handwerk) in den Bildungskanon des Gebildeten konstitutiv mit aufnehme. Litt erweist dies in seiner Interpretation von Goethes Vorbehalten gegenüber technischer Nutzbarmachung bei und zur sinnenbezogenen Wahrnehmung, beispielsweise durch Teleskop und Mikroskop. Die Sinnesorgane müssen in ihrer Ursprünglichkeit gebildet werden und nicht per Apparatur zu Leistungen emporsteigen, „die in der natürlichen Beschaffenheit der Organe gar nicht vorgesehen waren, weil durch ihre Zwischenschaltung die Proportion, die den der Natur sich zuwendenden Menschen und die ihm sich öffnende Natur in dasjenige Verhältnis setzen sollte, das in der allumfassenden Ordnung dieser Natur angelegt ist, zerstört und durch ein flagrantes Mißverhältnis ersetzt wird“.74 (24) Diese Integration des Künstlichen Ebd., S. 43–53. Litt zitiert: „Eines recht wissen und ausüben gibt höhere Bildung als Halbheit im Hundertfältigen“ (in: ebd., S. 44 [23]). 73 Ebd. 74 Ebd., S. 45. Litt zitiert dann Goethe: „Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann, und das ist eben das größte Unheil der neuen Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja, was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will.“ 71
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ist nicht nur aus der Perspektive des Eigenwerts der Sinnlichkeit, sondern geradezu aus der Perspektive der Sittlichkeit zu verwerfen. Der Mensch wird durch Technik sittlich gefährdet; diese Idee kann sich nur auswirken auf einen Verweis gegen jede Form von Aufgehen des Menschen in technische(n) Arbeitsprozesse(n) und künstliche mathematisch konstruierte Natur-Welten (Experiment) – erst recht gegen jede individuelle Einordnung des Menschen in einen Arbeitsprozess anstelle des hand-werklichen Umgangs mit Natur. Die pädagogische Provinz als poietische Utopie – aber auch und gerade als Verneinung des technischen (Fort-)Schritts. Ins Extreme gerät Goethes Position unter dem Blickwinkel der Farbenlehre. Hier verficht Goethe gegen die rationale Welt mathematisierter Naturwissenschaft, dass nicht diese, sondern gerade jene Wahrnehmung von Natur auf der Basis unserer Sinneseindrücke die „eigentliche“ und „wirkliche“ Natur sichtbar mache. Nicht via physikalischer Instrumente sichtbare, sondern unmittelbar den Sinnen zugängliche Begegnung von Natur und Mensch vermittelt die eigentliche Natur und (!) fördert seine Sittlichkeit. Litt formuliert Goethes Auffassung treffend: „Wer den Menschen in dem Vertrauen zu der Echtheit und Wahrheit seiner Sinneseindrücke wankend macht, der rührt an die Grundlagen seiner sittlichen Existenz. Denn zu dieser Existenz gehört das Insgesamt der in ihrem Vollgehalt unbeschnittenen, in ihrem Wahrheitswert unbestrittenen Sinneseindrücke als unabdingbares Moment hinzu.“75 (26) Gefordert ist also eine Unmittelbarkeit der Beziehung, die im zwischenmenschlichen Bereich in der pädagogischen Provinz ihren Ausdruck findet und im Mensch-Natur-Verhältnis im hand-werklichen Erfahren ins Ziel kommt. Eben dies meint: Umgang.76 (26 f.) Der Mensch kommt nur so zu sich selbst und ist in der Einmaligkeit seiner selbst zu fördern. Natur ist ihm dienend und alles, was der Mensch in und mit ihr produziert, soll etwas sein, was für ihn und für sich selbst ist. Es soll ein Ganzes als Sache und ein Vollzug seiner Talente und nicht Teil eines technischen Produktionsablaufs sein: es muss ein zweites Selbst des Menschen selbst sein.77 (29) So wird der scheinbare Vorkämpfer einer Transformation der Humanitätsidee, die gekennzeichnet sein sollte durch eine Versöhnung von Mensch und Welt, letztlich zu einem Apologeten des totalen Anthropozentrismus. Die Degeneration von Welt auf Natur blendet die menschenbildnerische und menschenbildende Kraft der Welt – als kulturobjektivierTh. Litt: Das Bildungsideal …, S. 47 f. Interessant ist hier eine methodische Parallele und argumentative Analogie zu Kants Verrohungsthese in der ›Metaphysik der Sitten‹. 76 Ebd. 77 Ebd., S. 50f. 75
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te Natur – bereits im Ansatz aus. Goethe schreckt hier weder vor Polemik noch vor sachlicher Verkürzung eines Natur-Welt-Begriffs zurück. Litt wendet sich in seiner kritischen Analyse nun noch den Theorien Humboldts, Niethammers und Kerschensteiners zu, um seine These, dass sich die klassische Humanitätsidee selbst angesichts fortschreitender technisch-industrieller und ökonomischer Prägung der Gesellschaft durchgehalten hat bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts, zu belegen. Dem Dogma einer Prävalenz der Innerlichkeit (des Inneren bei Humboldt), welches es zu formen gilt, bleibt uneingeholt ein Äußeres gegenübergestellt, um schließlich im Umkehrschluss bei Kerschensteiner dazu zu führen, dass das Äußere, die Arbeitswelt, die ‘Bildungswelt’, den Menschen unreflektiert einzieht und somit der Sieg der „Sache“ über den Menschen trotz oder gerade wegen des Verlustes der Sache in der Humanitätsidee der deutschen Klassik perfekt ist. Man könnte sagen: ein Sieg der List der Sachvernunft. An dieser Stelle schließt Litts historischer Gang und es erfolgt die programmatisch-systematische Entfaltung des Problems auf der Grundlage seiner dialektischen philosophisch-pädagogischen Position.
Systematischer Teil 78 Auch wenn Theodor Litt äußerlich den historischen Teil dem systematischen vorausstellt, so dürfen wir uns über die systematische innere Verzahnung beider Kapitel nicht hinwegtäuschen. Das Historische ist nicht lediglich einführender Problemaufriss, sondern vielmehr systematisch relevant. Die Vereinseitigung des Humanitätsideals auf der Basis einer anthropozentrischen Verkürzung der Erfahrung, Erfahrbarkeit und sozialen Wirklichkeit des Weltganzen immunisierte auf lange Zeit zugleich einen Bildungsbegriff gegenüber den Herausforderungen durch die aufkommende Technikwelt mit all ihren Schattierungen hinsichtlich Komfortabilitäts-, Sicherheits- und Risikosteigerung.79 Im Ausblenden der Realitäten – so auch der technisch-industriellen – des kommunikativ-sozialen (ökonomischen, politischen, ökologischen, so78 Im Folgenden verzichte ich auf umfängliche Zitate und bitte die Leserschaft, auf die in diesem Band wiedergegebenen Textabschnitte zurückzugreifen. 79 Diese Verkürzung nannte ich andernorts „Ent-Verantwortung“. Vgl. H. Burckhart: Diskursethik – Diskursanthropologie – Diskurspädagogik. Würzburg 1998; ders.: Erfahrung des Moralischen. Hamburg 2000; dazu: Jürgen Sikora. Mit-Verantwortung. Hans Jonas, Vittorio Hösle und die Grundlagen normativer Pädagogik. Eitorf 1999; ders.: Zukunftsverantwortliche Bildung. Bausteine einer dialogischsinnkritischen Pädagogik. Würzburg 2003.
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zialen) Lebensalltags der Menschen manifestierte sich eine trügerische Harmonietheorie des Menschen mit sich und seiner Welt. Dieses wirkte sich auch unmittelbar auf Erziehung und ihre Theorie aus. Die Ausblendung der technisch-industriellen Arbeitswelt verhindert konfliktuöse Situationen des Zöglings mit der Welt resp. ihren „Dingen“. Dieses Ausblenden rechtfertigt sich unter dem Vorbehalt der Menschenbildung.80 Reflektieren wir auf das in Teil A Erarbeitete, so markiert Litt hier die Pointe seiner Auseinandersetzung zum Verhältnis, genauer zur wechselseitigen Bezogenheit von „Mensch“ und „Welt“, was sich unter pädagogischer Perspektive als wechselseitige Bezogenheit von „Menschenbildungsbedeutung“ und „Weltbildungsbedeutung“ dechiffriert.81 Erneut steht im Fokus seiner Kritik nicht diese oder jene „Bedeutung“, sondern die Vereinseitigung auf diese oder jene „Seite“. Der Konflikt oder, besser im Text formuliert, das Missverhältnis von „Mensch“ und „Natur“, das uns in der philosophischen Erkenntniskritik ebenso wie in der pädagogisch-kulturalistischen Bildungs- und Humanitätsdebatte gleichermaßen begegnet ist, hält sich in Erziehung und gesellschaftlich-ideologischer Praxis ungebrochen durch. Dies will er am Beispiel der deutschen Arbeitsgesellschaft nachzeichnen, ohne eine detaillierte Gesellschaftskritik im Sinne der Frankfurter Schule zu intendieren. Zentriert sind seine Gedanken um den Aufweis einer Korrumpierung des Geistes, sowohl verursacht durch eine anthropozentrische als auch eine technizistische Verkürzung der Welt-Mensch-Bezogenheit. Im Ziel möchte Litt beide Vereinseitigungen systematisch „aufheben“. Wenden wir uns seiner Argumentation schrittweise zu.
Bildung im Spannungsfeld von „Sache“, „Prozess“ und „Mensch“ Die Perspektive der Sache (Kapitel 1–4) Die ersten vier Kapitel des systematischen Teils widmet Litt ganz der Perspektive auf die „Sache“. Der Sachaspekt wird nun nicht einfach als Bildungsgut aufgewertet und damit in den Bildungsgang eingeschleust, nein, in einem dialektischen Problemaufriss zeigt Litt, dass und wie die „Sache“ Bildung erst möglich macht und trotzdem in ihr nicht aufgeht. Hierzu wird der Sachaspekt zunächst einmal dahingehend seiner Befremdlichkeit für den Menschen enthoben, als dass Litt aufzeigt, dass der Sachaspekt der Natürlichkeit des Menschen nicht zuwiderläuft; zwar Vgl.: Das Bildungsideal …, S. 71ff. (32ff.). Siehe oben Kapitel A. Litt beruft sich selbst immer wieder auf seine Werke ›Denken und Sein‹ sowie ›Mensch und Welt‹. 80
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schaltet sich der Mensch in der Erkenntnis der Sache selbst aus, insofern er die Sache an und für sich selbst vor-stellt und damit jedem beliebigen anderen vor-stell-bar macht, aber eben dieser Akt – so Litt – ist ein Akt des Willens, ein Akt der Handlungsfreiheit des Menschen: Konsequent enden die ersten vier Kapitel des systematischen Teils mit einer Aufwertung der „Sache“ und ihrer dialektischen Einbindung in Bildung, beides als dialektisches Aufheben der nicht aufgelösten Spannungen von ‘Theorie und Praxis’, ‘Subjekt und Objekt’, ‘Äußeres und Inneres’, wie sie uns bei Goethe und Humboldt gleichermaßen begegneten.
Menschenbildung versus Weltbildung (Kapitel 5) Das fünfte Kapitel stellt nun das Bindeglied auf dem Weg zum dialektischen Widerpart der „Menschenbildungsbedeutung der Sache“ zur „Weltbildungsbedeutung des Menschen“ dar. In Anspielung auf die im Dunstkreis Max Webers geführte Debatte um die Zweck-Mittel-Relation von Wissen und Verantwortung entlarvt Litt, dass die scheinbar hehre Verfolgung von Zwecken – und dies im Anschluss an Kants Auszeichnung des Menschen als das sich Zwecke setzende Wesen und das Wesen, welches als einziges Zweck an sich selbst ist – nichts anderes als eine Wiederholung der klassischen künstlichen Trennung von „Inneres“ und ‘Äußeres’ ist und entsprechende Zuordnungen vornimmt: „Die Stelle des „Äußeren“ nimmt jetzt das Insgesamt der Mittel ein, über deren Verwendung im ‘Inneren’ des zwecksetzenden Menschen die Entscheidung fällt. Für die ‘Bildung’ ist entscheidend, was im Inneren geschieht, nicht was mit dem Äußeren angefangen wird“82 (52 ff.), und eben diese Trennung ist selbst eine künstliche, eine vom Menschen konstruierte. Der Mensch blendet sich freiwillig aus der Sach-Welt aus, um die Sache in ihrem Selbst und Eigenwert aufscheinen und zur Geltung kommen zu lassen. Dieser Selbstverneinung des Menschen verdankt sich dann die Reinheit des Erscheinens der Sache, dies allerdings – konsequent dialektisch gewendet durch Litt – nicht als „Leistung“ der Sache, sondern vielmehr als Leistung des freiwilligen Selbstverzichts des Menschen. Der Mensch bejaht seinen Verzicht und feiert dies als Leistung. Unter dem Humanitätsaspekt wird der Siegeszug der Sache so unvermittelt zum Ausdruck von Freiheit schlechthin. Die Trennung von Sache und Mensch, von Subjekt und Objekt, korrespondiert der Steigerung der Freiheit, oder, wie Litt sagt, dem Werden.83 82 83
Th. Litt: Das Bildungsideal …, S. 95ff. Ebd. Interessant ist an dieser Verweisstelle auch Litts Argumentation zur
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Die Konzentration auf den Menschen ist für Litt eine Konzentration auf die Verfügung durch den Menschen. Nicht wie im ersten Schritt ist Rückstellung seiner selbst nun das probate Mittel in seinem Verhältnis zu Welt, sondern Welt gemäß selbstgesetzten Zwecken zu gestalten (sic: Technik und Arbeitswelt!). Dies Gestalten ist natürlich unmittelbar ein Aus- und Benutzen, ein Instrumentalisieren. Gewendet auf sich selbst und seine Gattung verfehlt sich der Mensch ebenso wie zuvor, als er sich der Sache unterwarf. Ganz anders erscheint dieses Zweckdenken, wenn es – in kantscher Tradition – darum geht, dass wir den „Menschen schlechthin“ unter der Perspektive sehen, dass er sich selbst Zwecke setzen kann und er Zweck an sich selbst ist. Dann erscheint der Mensch in einer Einzigartigkeit unter anthropomorphen und moralischen Bedingungen. Erst wenn dies klar ist, hebt sich, so Litt, die Verfügungsgewalt und damit der gestaltende Wille über Welt vom Mitmenschen ab. All dies aber erfahre der Mensch erst durch „stumme Fühllosigkeit“, nämlich durch den Abweischarakter der Welt, die dem Menschen in keiner Weise die Entscheidung abnimmt, sich in ihr zu verlieren oder sich dem Mitmenschen zuzuwenden. Humanitätsideal und Technik-Arbeitswelt sind nicht ineinander übersetzbar oder zugunsten einer Seite entscheidbar, sondern bedürfen einer noch näher zu erfassenden Verschränkung. Dieser wendet sich Litt nun in den abschließenden Kapiteln zu.84 (59ff.)
Synthesis von „klassischem Humanitätsideal“ und „moderner Arbeits- und Sachwelt“. Bausteine einer Bildung zu dialektisch-reflexiver Kompetenz Die Selbstüberlistung der Humanitätsidee (Kapitel 6–7) Der Mensch trägt Verantwortung, weil er kann, die Sache kann ihm diese nicht abnehmen, wohl aber ist sie Bestandteil seiner Humanität. Ich erinnere an meine obige Auszeichnung des Moralphilosophen Litt. Der Dialektiker Litt muss nunmehr die scheinbare Versöhnung von „Sache und Mensch“ zugunsten des Menschen wieder aufheben. Er leistet dies in einem zweiten dialektischen Problemaufriss, in dessen Zentrum jetzt der „Mensch“ steht. Die Harmonisierung von „Mensch und Welt“, wie sie sich Mensch-Tier-Differenz, in der er über Plessner, v. Uexküll und Scheler hinaus auf den Akt der willentlichen Subjekt-Objekt-Spaltung seitens des Menschen abhebt. Litt verweist zudem selbst auf seine Schrift: Die Sonderstellung des Menschen im Reich des Lebendigen. Wiesbaden 1948. 84 Th. Litt: Das Bildungsideal …, S. 95ff.
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oben in der Idee der Freiheit scheinbar vollendete, führt den Menschen in Wirklichkeit in eine antinomische Situation, die Litt aufzeigt und aufzulösen versucht. Die dialektische Spirale treibt Litt weiter, indem er aufzeigt, dass und wie auf dem Wege der List einer Idee – nämlich der Humanitätsidee als Harmonisierungspostulat – sich Mensch und Welt entfremdeten, der Mensch die Welt und zunehmend auch die Mitmenschen mediatisierte, das heißt zu den Mitteln seiner Selbstvollzüge machte. Der Gegner aber für Litt heißt nicht mathematisierte Naturwissenschaft oder technisierte Physik (Chemie, Biologie), sondern der Gegner ist – und hier kommt die „List“ zurück – die falsche Inszenierung der Humanitätsidee selbst. Der Siegeszug einer Technik-Arbeitswelt ist kein Zufall, sondern Resultat der Anforderung an sich selbst, nämlich seine Selbstverwirklichung zu fördern. Dem konstitutiven Moment der „Sache“, in unserem Kontext also der Arbeitswelt, der Technik, der Wissenschaft steht nunmehr aber die „Versachlichung des Menschen“ selbst gegenüber. Theodor Litt nimmt an dieser Stelle eine ideologiekritische Position ein: „Daß durch eine Lebens- und Arbeitsordnung, deren Bau von der Sache her bestimmt ist, der innerhalb ihrer tätige und durch sie beschlagnahmte Mensch in seinem Menschsein bedroht wird – um so kräftiger bedroht wird, je allseitiger und folgerichtiger sie sich zur Perfektion durchbildet: das ist eine Wahrheit, die zu bestreiten ein Zeitgenosse W. von Humboldts vielleicht noch den Mut gehabt hätte, ein Zeitgenosse Henry Fords absurd finden müßte. Ist er doch Zeuge und Opfer einer geschichtlichen Gesamtbewegung, die das an der Sache sich orientierende Denken in der Theorie des menschlichen Seins, das an die Sache sich bindende Handeln in der Praxis des menschlichen Wirkens in beängstigendem Vordringen zeigt.“85 (60f.) Die Technologie gewinnt die Oberhand. Der Siegeszug der technischen Rationalität und der technizistischen Welt- und Selbstauffassung des Menschen schlagen sich nieder in der Technisierung von Erziehung, Therapie und Selbstgestaltung.86 (61) Aber dies darf nur nicht zur Verurteilung der Sache als Ganzes führen, vielmehr zur selbstkritischen Reflexion unseres Selbstverrates, den wir begingen, als wir uns der Sache totaliter verschrieben: „[Der Mensch] hat seine ‘Humanität’ verraten, als er sich der ‘Sache’ verschrieb. Und mit jedem Schritt, den er auf diesem Weg vorwärts tut, macht er den Verlust seiner selbst unheilbar.“87 (62) Eine Harmonietheorie im Sinne der deutschen Klassik und ihrem Humanitätsideal fördert Ebd., S. 105f. Als Extrembeispiel benennt Litt hier den Funktionalismus des klassischen Sowjetstaates (ebd., S. 106). 87 Ebd., S. 107. 85
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eben diese Einseitigkeit und Negation des dem Menschen scheinbar Äußerlichen, fördert die Störfaktoren seiner Vollkommenheit. Dagegen wendet Litt das Konzept der Antinomie – die dialektisch unversöhnliche Versöhnung oder wie ich oben formulierte: das Konzept der beständigen Offenheit. Antinomie – oder das Konzept dialektischer Offenheit – widersprecht nicht nur einer vollkommenen Harmonisierung oder gar Identifizierung von Mensch mit Sache oder vice versa, sondern der Blick auf Antinomik und die Perspektive dialektischer Offenheit verbieten es, irgendwelche inhaltlichen Bildungsideale zu fixieren. Wer dies tut, so Litt, beweist, dass er noch stets an einem „Kunstwerk der zur Harmonie durchgedrungenen Persönlichkeit“ haftet und nichts von der Wirklichkeit begriffen hat.88 (65f.) Humanismus und technisch-technisierte Mit- und Umwelt sind nicht Gegner, sondern verdanken sich beide einer ursprünglichen Leistung des Menschen: „Ein neuer Humanismus, dem kein Szientismus bedrohlich werden kann, wird dessen eingedenk sein, daß die Wissenschaften Menschenwerk sind, und daß ihre – etwa psychologischen oder soziologischen – Aussagen über den Menschen nur bedingungsweise gelten, ihn also gerade als Urheber nicht betreffen […]“89 Dieser neue Humanismus offenbart sich in der Reflexion des Menschen auf sich im Vollzug seiner selbst. Hier werden jene Aspekte des Litt’schen Denkens virulent, die er aus erkenntnisanthropologischer Perspektive in seinen philosophischen Grundsatzüberlegungen zu Selbstreflexivität, Selbstaufstufung und schließlich zum Apriori des Geistes entwickelt hat, die ich in Teil A nachgezeichnet habe. Die dort methodisch-systematisch ausgewiesenen Elemente und deren Strukturen nimmt Litt nun in sein Konzept vom „Menschen“ und dessen Bildung auf.
Doppelleben, Reflexion und mitmenschlicher Umgang. Die dialektisch-antinomische Verfasstheit des Menschen (Kapitel 8–10) Die grundständig antinomische Situation des Menschen in und zu seiner ihn umgebenden Welt erkennt, bewahrt und schreibt der Mensch fort durch die Zweiteilung seiner Existenz, die Zweiteilung seines geistigen Vollzugs und die vermittelte Unmittelbarkeit des Bezuges zu Sachverhalten (Welt als Wissenspol), Menschen (Mitmenschen) und Außermenschlichem: Es sind die Attribute Doppelleben, Reflexion und Umgang, die für Ebd., S. 111. Wolfgang Ritzel: Theodor Litt. In: Philosophie und Pädagogik im 20. Jahrhundert. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt 1980, S. 148. 88
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Litt nun zentral werden, entfaltet unter stetem Bezug auf sein Konzept von Bildung. Die Zweiteilung der Existenz sieht Litt in der Tradition der ‘pädagogischen Provinz’ der Goethe’schen ›Wanderjahre‹ grundgelegt und in der Gegenwart seiner Zeit sich wiederholend. Litt greift hier nur auf P. de Mendelssohns ›Der Geist der Despotie‹ (1953) zurück, könnte aber in gewisser Weise auf einige Utopien der in diesen zeitlichen Kontext fallenden so genannten reformpädagogischen Versuche ebenso zugreifen wie auf die in der Tradition der Frankfurter Schule stehenden gesellschaftskritischen Überlegungen Horkheimers, Adornos, Marcuses. Litt geißelt die Reduktion der Perspektive auf eine bloße Dualität von Bildung hier und Lebenswelt dort: Bildung hier, „Zeitgewalten“ da, sagt Litt; dies sei nicht nur wider den Zeitgeist, sondern eine Apologie der Elite-Bildung, und zwar „der ‘Elite’ derer, die sich zum Adel des Geistes meinen rechnen zu dürfen und aus dieser ihrer Wohlgeborenheit das Recht auf exzeptionelle Daseinsweise herleiten“90. (69) Systematisch bedeutet das Konzept des Doppellebens nichts anderes als eine transformierende, dialektisch aufgestufte Zuwendung zur Harmoniethese der klassischen Humanitätsideale, welche die störende Außenwelt zwar nicht negieren, aber sich in Form eines Doppellebens schlechterdings von ihr – künstlich – scheiden kann: „Als „gebildet“ darf darnach nur gelten, wer diese Spannung sieht, anerkennt und als unaufhebbares Grundmotiv in seinen Lebensplan einbaut.“91 (72) Einen solch naiven Versuch kann Litt nur ablehnen. Er wendet sich der von ihm ausgezeichneten Antinomie deshalb erneut – nun auf der Ebene des Geistes, nicht also der Ebene der gesellschaftlichen Praxis – zu. Ins Zentrum tritt die Reflexionskompetenz des Menschen.92 „Antinomie und Reflexion“93 (72–78) ist das achte Kapitel überschrieben. In ihr vollzieht der Mensch sich selbst nicht nur in einer ausgezeichneten Weise als Lebewesen, sondern in ihrem Akt kommt jedweder Gegenstand als er selbst in eine vom Menschen geformte Bestimmtheit. Dies gilt insbesondere, wenn Gegenstand der „Mensch“ selbst ist. Erscheint die zuvor erörterte Antinomie von Mensch und Welt zunächst noch plausibel, so entlarvt sie sich als bloßer Vorschein empirischen Denkens. Welt ist kein Gegenüber, kein Äußeres zu einem Inneren, sondern die Reflexion auf das Verhältnis beider zeigt die unaufhebbare dialektische Verwobenheit von Mensch und Welt. Die scheinbare Trennung ist Resultat unserer okularen Beobachtung Th. Litt: Das Bildungsideal …, S. 114. Ebd., S. 117. 92 Ich verweise auf meine Ausführungen zu Litts Schrift: „Das Allgemeine im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis“ in Teil A. Dort wird die Reflexionsfigur, die Litt systematisch in Anschlag bringt, vorgestellt. 93 Th. Litt: Das Bildungsideal …, S. 118–125. 90 91
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von Welt. In dieser Einstellung blenden wir uns als Erkennende aus und konzentrieren uns auf die Konstituentien des Entwerfens von Welt. Es ist die Perspektive theoretischer Reflexion und theoretischer Erfassung von Welt. Dieser Vor-Schein bricht aber in sich zusammen, wenn die Reflexion sich auf den Gegenstand ‘Subjekt’ selbst richtet – und zwar genuin auf das sich vollziehende Subjekt und dessen nicht widerlegbare, unbedingt zu erfüllende Voraussetzungen, damit es sich auf so etwas wie Welt – auch auf sich selbst – beziehen kann. Jedwede naiv antizipierte, antinomische Doppelrealität von Welt und Mensch ist hier sinnlos. Dies ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass dieser Akt der Selbstreflexion alles, was reflektiert wird, verwandelt „und zwar schon dadurch, daß sie sich darauf richtet“. Die Reflexion hat demgemäß umgestaltende Wirkung, wie Litt sagt, und die Gebundenheit des Menschen an sich und die Welt, seine Abhängigkeit, verschränkt sich unmittelbar mit seiner Freiheit. Diese findet ihren Ausdruck in dem gestaltend Sich-zu-sich-in-BeziehungSetzen und gilt in ausgezeichneter Weise für seine Selbstbezüge. Einsicht, Verantwortung, Selbst- und Weltsicht erhalten ein neues Niveau. Der Mensch erreicht sich selbst als und im Vollzug des Wissens von und SichStellens in Welt, die Sach- und Mitwelt ist. Zugleich stellt er sich nicht mehr als Opfer oder Täter, sondern als Mit-Gestalter von Mit-und Sachwelt vor sich selbst.94 (74f.) Die hier genutzte Figur ist uns in Litts systematischen Überlegungen bereits deutlichst vorgeführt worden.95 Litt zieht nun die Konsequenzen für die Verortung des handelnden, sich zu und in Welt bestimmenden Menschen. In diesem Bestimmen und SichEntwerfen wird die Antinomie von „Mensch und Welt“ im Reflexionsakt wieder aufgehoben und stets neu aufgebrochen.96 (77 f.) Die „erleuchtende Reflexion“97 entbirgt, (erstens) dass das Verhältnis zur Arbeitswelt nicht bestimmbar ist als ein Äußeres, dass die Arbeitswelt also dem Menschen und der Menschlichkeit nichts Widernatürliches ist, sondern dass sie wie unser Verhältnis zu ihr gestaltete ‘Geistestat’98 (77) ist. Hierdurch wird der Mensch (zweitens) zum aktiven Gestalter der Arbeitswelt: „Er wird fähig, den Widerspruch zu sehen und zu bestehen, der darin liegt, daß die Bemühung um die Sache ihn gleichzeitig als Menschen bildet und doch auch in seinem Menschsein bedroht.“99 (77) Der Mensch erhält (drittens) die Möglichkeit, das Spannungsverhältnis zwischen sich und Arbeitswelt Ebd., S. 120f. Vgl. oben Teil A, besonders: Das Allgemeine … 96 Th. Litt: Das Bildungsideal …, S. 123f. 97 Ebd. 98 Ebd. 99 Ebd. 94 95
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nicht durch ein äußerliches Zwei-Welten-Leben, Arbeit hier, inneres Selbst da, künstlich miteinander in ein Nebeneinander zu bringen, sondern „er wird fähig, er selbst zu sein, ohne sich darum der Welt zu versagen“100 (77) und schließlich „lernt er in sich das Wesen kennen, dem es nicht beschieden ist, in bruchlosem Wachstum zur Harmonie heranzureifen, sondern dem es obliegt, in stetem Ringen mit immer von neuem aufbrechenden Gegensätzen Selbst zu werden und Welt zu gestalten“101 (78). Der Mensch tritt in eine verantwortungsdurchsetzte, gestaltende, dialektisch-antinomische Beziehung zu Welt und sich selbst – und dies aus philosophisch begründeter wie anthropologisch und pädagogisch entfalteter Perspektive. Diesen gestaltenden Zugang in, mit und gegenüber Welt diskutiert Litt nun einerseits unter dem Terminus „Umgang“ – Goethes „Handwerk“ –, andererseits an den Verhältnissen und Vollzügen des Menschen zu und gegenüber Sachwelt, Mitmenschen und außermenschlicher Natur. Grundsätzlich fragt Litt, ob uns die Welt – egal ob Sach- oder Mitwelt –, wie sie uns heute als technisch-(mathematisch-)naturwissenschaftlich konstruierte Welt begegnet, zuvor, das meint vor ihrer Verwissenschaftlichung, als Natur immer schon begegnet: Ist es nicht dieselbe Natur, „die uns im Umgang dies konkret-beseelte Antlitz zukehrt und in der Wissenschaft als dies abstrakt-formale Relationsgefüge entgegentritt?“. Ist nicht gar das Erleben des Verhältnisses zur Sache, zum Beispiel der Gefahrenzivilisation – und damit der Gefährdung von Sache und Mensch – nur erwachsen aus einem ursprünglichen Vertrautsein mit der „Natur der Sache“ und damit der „Natur des Menschen?“. Theodor Litt bringt hier meines Erachtens auch für die Gegenwart moralisch-ethische und epistemologische Gesichtspunkte zugleich auf den Punkt. Der Mensch trägt Verantwortung für „Welt“ und „Mitwelt“ aus Wissen, das ist auch und gerade aus Bildung, die ihm möglich ist auf Grund seines (anthropologischen) Selbst und Welt.102 82f.)
Mitmenschlicher Umgang. Pädagogische Konsequenzen (Kapitel 11) Im zehnten Kapitel transferiert Litt seine Gedanken auf den Bereich Pädagogik und hier insbesondere den „mitmenschlichen Umgang“. Die von Litt gezogenen Konsequenzen sind nach dem in Teil A entwickelten 100 Ebd. Interessant wäre hier eine kritische Gegenanalyse mit Herbert Marcuses Theorem vom eindimensionalen Menschen. 101 Ebd., S. 124. 102 Ebd., S. 130f.
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Grundgerüst und seinen Transformationen auf Arbeitswelt und Humanitätsideal unmittelbar evident. „Umgang“, als Kompetenz verstanden, muss gepflegt, gefördert und sowohl gegenüber Sache, Natur und Mitmenschen gefordert werden. Umgang mit der Natur meint simpel pflegerischen, modern: nachhaltigen Umgang, oder mit Goethe: handwerklichen Umgang. Dies bedeutet auch die Mühsal des Wissens um ‘Welt’: Umgang mit Mitmenschen meint, sich keiner Doktrin, auch keiner Wissenschaft zu unterwerfen, sondern den Anspruch auf seine Individualität zu bewahren. Die Gegensätze zu sehen und in Rechnung zu stellen, nicht, sie zu verneinen oder zu verleugnen, ist Ausdruck und bewirkt Förderung von Bildung.103 (86) Und im Transfer auf den ‘arbeitenden Menschen’ glaubt Litt, Spuren der Sensibilisierung für die Rekultivierung des Umgangs mit der zu bearbeitenden Sache zu entdecken, Spuren, deren Linien sich zurückverfolgen lassen, zur (selbst-)reflexiven Erkenntnis einer ursprünglich versöhnten Antinomie von Mensch und Sache (Natur), die zu einem unversöhnlichen Nebeneinander mutierte. Die Sensibilisierung gibt Hoffnung auf eine friedliche Koexistenz von Mensch und Arbeits-Welt. Voraussetzung ist aber das gebildete Wissen um das antinomische – und damit wechselseitig unverzichtbare – Miteinander von Mensch und Welt.104 (89f.) Der Erziehung kommen hierbei zwei zentrale Aufgaben zu, die aktueller nicht formuliert werden könnten: die Vermittlung von Wissen und die internen Verflechtungen von Natur, Mensch und Sache sowie die Vermittlung des Postulats zur Pflege von Mensch, Natur und Sache. Beide Aspekte sind selbst wieder auf je anderen Reflexionsniveaus zu thematisieren. Erziehung soll nicht in Scheinwelten entführen oder für solche erziehen, nicht Utopien oder Einseitigkeiten fördern, nicht blind machen für Sachzwänge, sondern „sehend machen“ für die antinomischen Verwickeltheiten von Welt und Mensch(en), Denken und Sein, wie sie sich eben darstellten. Der Mensch muss sensibel gemacht werden für die Verrohung und Vereinseitigung, mit der er Mit-Mensch und Welt begegnet, wenn er ihre ursprünglich versöhnliche Antinomie negiert. Es ist eine Erziehung zur Wachsamkeit, „zu der Wachsamkeit, deren es bedarf, damit nicht der Mensch, ohne es zu wissen und zu wollen, der Entseelung des im Umgang pulsierenden Lebens Vorschub leistet. Nur wenn die Erziehung das Ihre tut, die Einsicht in Art und Umfang dieser Selbstgefährdung zum Gemeinbesitz zu machen, dürfen wir hoffen, dem uns bedrohenden Schicksal der Selbstzerstörung zu entgehen.“105 (90) Moderner und aktueller kann es meines Erachtens nicht formuliert werEbd., S. 134. Ebd., S. 138f. 105 Ebd., S. 140. 103 104
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den, und es ist wohl nur der Komplexität seines Ansatzes „zu verdanken“, dass die Litt’sche Pädagogik so vernachlässigt wird.106
Blicken wir zurück Theodor Litt ist an der höchsten Stufe seiner Theorie des Geistes, in dem dialektischen Miteinander-Gegeneinander-Prinzip der Organisation des Denkens und Handelns – und der Welt – angekommen. Die Versöhnung mathematischer und technisierter Natur mit einer Idee vom Menschen gelingt in dem Aufweis der dialektischen Spannung, in der beide zueinander stehen und aufeinander angewiesen sind und sich immer wieder voneinander dialektisch entfernen (müssen). Eine unendliche Bewegung, die schon deshalb sinnnotwendig ist, um Mensch und Welt nicht zum Stillstand zu verdammen und damit eine noch so diffuse Idee von Freiheit prinzipiell geben zu müssen. Theodor Litt exemplifiziert uns dies zum Abschluss an den poietischen Kräften von Sprache und Kunst. „Mensch und Welt – ein jedes ist nur durch das Andere, was es ist. Der Entwurf eines ‘wissenschaftlichen Weltbildes’ ist noch nicht die Erfüllung der menschlichen Möglichkeiten. Weltgestaltend ist auch die Kunst, ist die Sprache …, ist des weiteren die Sitte, das Recht, die Religion. In all diesen Leistungen und Schöpfungen verwirklicht der Mensch sich selbst an der Welt. Wie diese nicht auf ‘Welt formal’ reduziert werden kann, so der Mensch nicht auf die Intelligenz, die dieselbe konzipiert hat. Der Humanitätsgedanke, der Nerv des Bildungsideals der deutschen Klassik, ist nicht Lügen gestraft, sondern kritisch bestätigt, um auch zur Richtschnur eines Bildungswesens zu dienen, das den Gegebenheiten und Erfordernissen der modernen Arbeitswelt angemessen ist.“107 Mit ihnen, den gestaltend-gestalteten Kräften, die Litt hier unmittelbar an Ernst Cassirers symbolische Formen erinnern lassen, entwerfen wir uns je neu und je anders und dies unter konkretem reflexivem Bezug auf sie. Die Arbeitswelt ist eine von dieser dialektischen Spannung sekundär geschiedene, aber mittelbar normativ bewertbar, getragen, gefördert und kritisch durchdrungen vom gebildeten Ko-Subjekt „Mensch“. Sie ist die quasi personifizierte „Sachwelt“ – gehalten und getragen in dialektischer Spannung durch und zur „Menschwelt“. Die Kritik einer Reduktion auf geisteswissenschaftliche Pädagogik, der Verweis auf politisch-ideologische Blindheit etc., wie sie u.a. von Klafki gegen Litt vorgebracht wird, verkennt völlig die Tiefe des Litt’schen Ansatzes. Ich habe versucht, einiges diesbezüglich gerade zu rücken. 107 Wolfgang Ritzel (wie Anm. 89), S. 148f. 106
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Theodor Litt entlässt den Menschen folglich nicht in eine Bildungsutopie, sondern bindet ihn an die Welt, die er und in der er sich selbst konstituiert. Verantwortung hat der Mensch grundsätzlich für sich und diese Welt, und wir werden zurückgeworfen zu Litts abschließenden Sätzen der Schrift ›Das Allgemeine im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis‹: „Für den handelnden Geist aber ist diese Durchdringung ein immer von neuem erst zu Bewirkendes und damit eine offene Frage, die mancherlei Antwort zuläßt; erst der Spruch der Entscheidung setzt an die Stelle des Vielen, das möglich wäre, das Eine, das wirklich wird, und schafft so eine eindeutige Lage. Ob aber das Eine, für welches der Wille den Ausschlag gab, gerade dasjenige ist, das so vorgezogen zu werden verdiente – das ist die große Ungewißheit, mit der jedes verantwortliche Handeln belastet ist, und in den Selbstvorwürfen, denen diese Ungewißheit zum Nährboden dient, gelangt die Labilität jenes Gleichgewichts zu erschütterndem Ausdruck.“108 Dialektische Offenheit, Intersubjektivität, Verantwortung: Theodor Litt ist ein durchaus moderner Denker – trotz oder gerade wegen seiner normativ-kritischen geisteswissenschaftlichen Position zu Pädagogik und Philosophie.
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Ausgewählte Literatur Wichtige Schriften Theodor Litts EN PGB
Ethik der Neuzeit (1926) Die Philosophie der Gegenwart und ihr Einfluß auf das Bildungsideal (1927) BpT Die Bedeutung der pädagogischen Theorie für die Ausbildung des Lehrers (1946) GV Geschichte und Verantwortung (1947) DuS Denken und Sein (1948) MuW Mensch und Welt (1948) BdK Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt (1955) TD Technisches Denken und menschliche Bildung. Heidelberg (1957) PuG Die Philosophie und die Geisteswissenschaften. Bonn (1958) FuL Freiheit und Lebensordnung (1962) PPD Zur Philosophie und Pädagogik der Demokratie (1962)
Sekundärliteratur Apel, Karl-Otto (1980): Zur Idee der Sprache. Bonn. Burckhart, Holger (1991): Sprachreflexion und Transzendentalphilosophie. Würzburg. Ders. (1998): Diskursethik – Diskursanthropologie – Diskurspädagogik. Würzburg. Ders. (2000): Erfahrung des Moralischen. Hamburg. Ders./Gronke, Horst (Hrsg.) (2000): Zur Idee des Diskurses. Markt Schwaben. Ders. (2002): Ernst Cassirers ‘Philosophie der symbolischen Formen’ und KarlOtto Apels transzendentale Pragmatik – eine Konfrontation. In: Böhler/Kettner/Skirbekk: Transzendentalpragmatische Diskurse (Arbeitstitel). Festschrift für Karl-Otto Apel. Suhrkamp 2002. Löwisch, Dieter-Jürgen (1998): Theodor Litt. In: Wolfgang Fischer/Dieter-Jürgen Löwisch: Philosophen als Pädagogen. Darmstadt, 2., erg. Auflage, S. 273–287. Ders. (2000): Kompetentes Handeln. Darmstadt. Kuhlmann, Wolfgang (1985): Reflexive Letztbegründung. Freiburg/München. Oelkers, Jürgen (1993): Reformpädagogik. 3. Auflage, Weinheim und München. Reble, Albert (1995): Th. Litt. Pädagogische Schriften. Bad Heilbrunn, S. 74ff. Ritzel, Wolfgang (1980): Philosophie und Pädagogik im 20. Jahrhundert. Darmstadt.
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Ausgewählte Literatur
Sikora, Jürgen (1999): Mit-Verantwortung. Hans Jonas, Vittorio Hösle und die Grundlagen normativer Pädagogik. Eitorf. Ders. (2003): Zukunftsverantwortliche Bildung. Bausteine einer dialogisch-sinnkritischen Pädagogik. Würzburg. Theodor-Litt-Jahrbuch 1999/1. Hrsg. von Peter Gutjahr-Löser et alii. Leipzig.
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