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German Pages 258 Year 2021
Theodor Fontane und das Erbe der Aufklärung
Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft Herausgegeben von der
Theodor Fontane Gesellschaft e. V. Wissenschaftlicher Beirat
Hugo Aust Helen Chambers
Band 14
De Gruyter
Theodor Fontane und das Erbe der Aufklärung
Herausgegeben von
Matthias Grüne Jana Kittelmann
De Gruyter
ISBN 978-3-11-066453-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066698-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-066712-7 ISSN 1861-4396 Library of Congress Control Number: 2020950697 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Porträt von Theodor Fontane, Deutsches Historisches Museum Bildarchiv Druck: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Vorwort ………………………………………………………. VII Matthias Grüne und Jana Kittelmann
Zur Einführung …………………………………………………. 1 Iwan-Michelangelo D’Aprile
»Was kann preußischer sein als Nathan«. Dimensionen der Aufklärungsrezeption bei Theodor Fontane …. 13 Roland Berbig
Hinter alles ein Fragezeichen. Theodor Fontane ‒ Aufklärer, Verklärer, Erklärer ……………... 31 Hubertus Fischer
»… und spielt sich trotzdem auf Aufklärung und Liberalismus aus«. Politisches und Polemisches bei Theodor Fontane ……….. 47 Dirk Oschmann
Freiheit bei Fontane …………………………………………… 67 Monika Ritzer
Naturen und Normen. Fontanes Wahrheitsdiskurs im Kontext des Spätrealismus…….... 85
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Inhalt
Leonhard Herrmann
»› … und sie wird die letzte nicht sein‹«. Fontanes realistisches Erzählen und Lessings bürgerliches Trauerspiel ……………….. 105 Baptiste Baumann und Jana Kittelmann
»Ich will ein Lied Euch singen«. Fontane und die patriotische Liedkultur der Aufklärung ……….. 123 Jana Kittelmann
Aufklärerisch-empfindsame Geselligkeit bei Theodor Fontane? Eine Spurensuche. ……………………………………………. 147 Sophia Wege
Das Maß der Dinge. Zur Funktion der Homöopathie in Unwiederbringlich …………... 171 Anett Lütteken
»Und möchten wir von der entkirchlichten Zeit / Auch nicht das Gute missen…«. Glaubensdinge des 18. und 19. Jahrhunderts im Werk Theodor Fontanes …………………………………... 189 Mike Rottmann
Doppeltes Erbe. Erzählte Aufklärungsskepsis und ›erlebte Judenfrage‹ bei und nach Fontane ..………………………….... 211 Siglenverzeichnis …………………………………………….... 243 Personenregister……………………………………………...... 247
Vorwort Der vorliegende Band geht auf die Tagung »Ach die Wahrheit.« Theodor Fontane und das Erbe der Aufklärung zurück, die vom 12. bis 13. April 2019 in der Bibliotheca Albertina in Leipzig stattfand. Für die großzügige Förderung und Unterstützung der Tagung danken wir der Theodor Fontane Gesellschaft e. V. und dem Fontane-Kreis Leipzig sehr herzlich. Ebenso herzlich möchten wir den Referentinnen und Referenten danken, die uns ihre Beiträge für die Publikation zur Verfügung gestellt und das Wissens- und Themenspektrum sowohl zum Werk Theodor Fontanes als auch zur Epoche der Europäischen Aufklärung und deren Rezeption und Nachwirkung nachhaltig erweitert und bereichert haben. Dem wissenschaftlichen Beirat der Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft sind wir für die Aufnahme der Beiträge in die Reihe zum Dank verpflichtet. Hugo Aust und Helen Chambers haben wir für wertvolle Hinweise und Anregungen zu danken. Für die Unterstützung bei der redaktionellen Bearbeitung des Manuskripts geht unser herzlicher Dank an Baptiste Baumann. Matthias Grüne und Jana Kittelmann
Zur Einführung Matthias Grüne und Jana Kittelmann »Was einmal Fortschritt war, ist längst Rückschritt geworden.«1 Pastor Lorenzens Wort aus dem 29. Kapitel des Stechlin nimmt in doppelter Weise Bezug auf das 18. Jahrhundert. Einmal, weil der Fortschritt, von dem hier gesprochen wird, mit der innenpolitischen Konsolidierung und dem außenpolitischen Aufstieg Preußens in den Regierungsjahren Friedrich Wilhelms I. (1713–1740) und seines Sohnes, Friedrichs II. (1740–1786), zusammenfällt. Sodann, weil der Begriff selbst, den Lorenzen wählt, ein Produkt dieser Zeit ist. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts wird ein Reden über ›Fortschritt‹ möglich, es setzt, nach Reinhart Kosellecks bekannter These, die Entgrenzung des Erwartungshorizonts, die Annahme einer offenen, nicht schon providentiell festgelegten Zukunft voraus.2 Für Koselleck gehört der Begriff zur Basissemantik der Aufklärung, genauer gesagt der Spätaufklärung. Freilich wirft seine Verwendungsweise im Kontext des Romans die Frage auf, ob Lorenzen die begriffliche Kontinuität nur nutzt, um sich in der Sache abzugrenzen. Schließlich legt seine Formulierung nahe, dass über Fortschritt und Rückschritt nicht der objektive Gang der Geschichte, sondern die Perspektive des Betrachters entscheidet.3 Nicht umsonst fordert ihn seine Gesprächspartnerin, die Gräfin Melusine, im Anschluss dazu auf, Farbe zu bekennen und zu sagen, »gegen wen« sich seine Rede richtet.4 Wohl eher aus Taktgefühl und aus Rücksicht auf seinen adeligen Gast spekuliert Lorenzen zunächst über die mögliche Wiederkehr »aristokratische[r] Tage« in ferner Zukunft, um dann jedoch seiner Überzeugung unmissverständlich Ausdruck zu verleihen, dass die »neue Zeit«, die »im Zeichen einer –––––––––––– 1 2
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GBA, Das erzählerische Werk 17, S. 323. Vgl. Reinhart Koselleck, Fortschritt. In: Otto Brunner und Werner Conze et al. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 351–423; Reinhart Koselleck, ›Fortschritt‹ und ›Niedergang‹ – Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe. In: Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main 2010, S. 159–181. Wenn Lorenzen zudem kritisiert, die Zeit strebe nur danach, »Abgestorbenes« neu erblühen zu lassen (GBA, Das erzählerische Werk 17, S. 323), bedient er sich einer biologischen Semantik von Wachstum und Verfall, die eher einem zyklischen Modell als dem linearen, offenen und nach Koselleck genuin aufklärerischen Geschichtsdenken verpflichtet ist. Ebd.
https://doi.org/10.1515/9783110666984-001
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demokratischen Weltanschauung« steht, »eine bessere und eine glücklichere« sein wird: »[E]ine Zeit, in der wir besser atmen können. Und je freier man atmet, je mehr lebt man.«5 Dieses Vertrauen weist ihn dann doch als ›Aufklärer‹ aus, zumindest knüpft er mit seinem Glauben an die Fähigkeit des Menschen, die ihn umfassenden sozialen Einrichtungen zu vervollkommnen und sich dabei vom Ziel größtmöglicher Freiheit und allgemeiner Glückseligkeit leiten zu lassen, an Gedanken an, die man gewöhnlich mit dem Zeitalter der Aufklärung in Verbindung bringt. In seinem letzten veröffentlichten Roman gibt Fontane damit dem affirmativen Bezug auf die Aufklärung eine starke Stimme. Und doch ist es nur eine unter vielen, allein in diesem Text. Bereits Lorenzen sieht sich mit seinem Vertrauen auf die ›neue Zeit‹ im Widerspruch zum Zeitgeist. In diesem erkennt er jedenfalls eine »rückläufige Bewegung«, die zwar auch zum 18. Jahrhundert zurückführt, dabei aber nicht die Epoche der Aufklärung, sondern die militärische und machtpolitische Glanzzeit Preußens vor Augen hat. Man orientiert sich wieder am autoritären Führungsstil und militaristischen Habitus der großen preußischen Epoche, obwohl doch – nach Lorenzens Ansicht – die »Bataillen und die Bataillone« in der »modernen Geschichte« im Anbetracht des industriellen und sozialen Wandels immer mehr an Bedeutung verlieren.6 Der reaktionäre Trend führt also weg von dem, was der Stechliner Pastor für das eigentlich bewahrenswürdige, ›fortschrittliche‹ Erbe des 18. Jahrhunderts ansieht; er führt weg von der Aufklärung. Lorenzen vertraut der Zukunft und misstraut seiner Gegenwart. Er glaubt an den Fortschritt in der Geschichte und erkennt doch gleichzeitig die mächtigen Widerstände und rückläufigen Bewegungen, die das gesellschaftliche und politische Leben seiner Zeit bestimmen. Möglicherweise kommentiert die Romanfigur damit sogar Widersprüche, in die auch der Romanautor verstrickt ist. Jedenfalls ist es keineswegs ausgemacht, welcher der von Lorenzen hier gegenübergestellten Bewegungen Fontane selbst sich verpflichtet sehen würde. Ist nicht ›sein‹ 18. Jahrhundert auch eher durch den Blick auf ›Bataillen und Bataillone‹ oder den »Krückstock von Sanssouci«7 bestimmt? Lässt er nicht in seiner ersten Buchveröffentlichung, dem Gedichtband Männer und Helden, die von Gleim geprägte Tradition der preußisch-patriotischen Dichtung wieder aufleben? Dass auch in der Auseinandersetzung mit dem 18. Jahrhundert bei Fontane »viel unter einen Hut«8 geht, hat schon Thomas Mann festgehalten. Mit Bezug auf Fontanes –––––––––––– 5 6 7 8
Ebd., S. 324. Ebd., S. 323. Ebd. Mit dieser Formulierung versucht Fontane in Von Zwanzig bis Dreißig die widersprüchlichen politischen Anschauungen von Tunnel-Mitglied Louis Schneider – »im wesentlichen liberal
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Bismarck-Bild spricht er über den Gegensatz von Mythos und Psychologie, erwähnt das mythologisierend-deutschtümelnde Gedicht Wo Bismarck liegen soll, in dem sich der »Dichter […] als Schützer des Mythus« präsentiert, und stellt dem Fontanes Hang zur psychologisch-kritischen Relativierung alles Heldischen und seine Sympathien für demokratische und pazifistische Ideen gegenüber: Psychologie aber ist das schärfste Minierwerkzeug demokratischer Aufklärung. In den späten Briefen Fontanes, des Verherrlichers kriegerischen Preußenadels […], findet man Kundgebungen stark revolutionären und demokratischen Gepräges, pazifistisch-antimilitaristische Äußerungen, die nicht nur als wohlwollende und verjüngungsbereite Anpassung an die literarisch-revolutionäre Zeitstimmung von 1880 zu verstehen sind, sondern durchaus auch seinem eigenen Wesen, dem, was rationalistisch-humanitäres achtzehntes Jahrhundert (und zwanzigstes Jahrhundert?) in ihm war, zugehörten […].9
Die widersprüchlichen Seiten in Fontanes Werk und seiner Biographie finden ihren Widerhall in den gegensätzlichen Forschungsmeinungen über sein Verhältnis zur Aufklärung. Es fehlt nicht an Stimmen, die Fontanes Romane gerade im Hinblick auf ihre dialogische Struktur in eine Traditionslinie mit dem Roman und der Erzähltheorie des späten 18. Jahrhunderts stellen, da sie, »ganz im Sinne der Aufklärung, das Miteinanderreden zu[lassen] als verbindliches Ausdrucksmedium ›in good company‹ und als Mittel zur Aufklärung des Menschen über sich selbst und sein Verhältnis zum Mitmenschen.«10 Auch in Bezug auf sein Geschichtsverständnis wurde Fontane schon als »Kind der Aufklärung« bezeichnet.11 Zu ganz anderen Einschätzungen kommt man freilich, wenn man sich mit den antisemitischen Ressentiments des Autors beschäftigt und seine mit Bezug auf Lessings Nathan wiederholt geäußerte Kritik am aufklärerischen Toleranzideal in Betracht zieht.12 Peter Goldammer verortet Fontanes diesbezügliche Ansichten in einer breiten aufklärungsfeindlichen Tendenz der wilhelminischen Epoche:
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mit Anlehnung an Rußland« – zu erklären. GBA, Das autobiographische Werk 3, S. 262 (Hervorh. im Orig.). Thomas Mann, Der alte Fontane. In: Wolfgang Preisendanz (Hrsg.), Theodor Fontane, Darmstadt 1973, S. 1–24, hier: S. 23. Ingrid Mittenzwei, Die Sprache als Thema. Untersuchungen zu Fontanes Gesellschaftsromanen, Bad Homburg vor der Höhe/Berlin et al. 1970, S. 18. Birger Solheim, Zum Geschichtsdenken Theodor Fontanes und Thomas Manns oder Geschichtskritik in ›Der Stechlin‹ und ›Doktor Faustus‹, Würzburg 2004, S. 41. Peter Goldammer, Nietzsche-Kult – Antisemitismus – und eine späte Rezension des Romans ›Vor dem Sturm‹. Zu Fontanes Briefen an Friedrich Paulsen. In: FBl 56 (1993), S. 48–62.
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Im Unterschied zu Hans-Heinrich Reuter […] halte ich dafür, daß die eigentliche Ursache für Fontanes Juden-Gegnerschaft - genauer: für die Ablehnung der Emanzipation und der Gleichstellung - die Absage an die Ideen und Ideale der Aufklärung ist - eine Auffassung, die er mit sehr vielen seiner Zeitgenossen teilte und die ganz gewiß etwas zu tun hat mit deren Ratlosigkeit angesichts der wachsenden ökonomischen, sozialen und geistigen Widersprüche in der Wilhelminischen Periode der preußisch-deutschen Geschichte.13
Goldammers Erklärung findet ihre Bestätigung in der These, wonach sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts weite Teile des Bildungsbürgertums von der Aufklärung als verbindlichem Programm abwenden und die Vorstellung einer geistesgeschichtlichen Kontinuität zu der nun immer stärker historisierten Epoche in Frage stellen.14 Kultur- und sozialgeschichtlich ließe sich diese Entwicklung mit jener ›großen Wende‹ der Jahre 1878/79 in Verbindung bringen, mit der die sogenannte liberale Ära des jungen Kaiserreiches endet.15 Die Auswirkungen der seit 1873 andauernden Wirtschaftskrise, aber auch der durch die Attentate auf Kaiser Wilhelm I. verstärkten und durch Bismarck geförderten Sozialisten- und Revolutionsfurcht begünstigen in diesen Jahren das Entstehen eines anti-liberalen, teilweise autoritären Klimas, das sich politisch im Übergang von der Freihandels- zur Schutzzollpolitik, in der Verabschiedung des Sozialistengesetzes, im Auseinanderbrechen der nationalliberalen Partei und allgemein in der Schwächung der Parteien und der parlamentarischen Strukturen zugunsten eines obrigkeitsstaatlichen Regierungsstils manifestiert. Doch so nahe es liegt, mit dem Ende der liberalen Ära den Abschied des Bürgertums von der Aufklärung beginnen zu lassen: Im Einzelnen stellen sich die Dinge, wie immer, komplexer dar. Die These, dass vor dieser Wende die Berufung auf die Aufklärung eine bildungsbürgerliche Selbstverständlichkeit war, muss allein mit Rücksicht auf die uneinheitliche Verwendungsweise des Begriffs relativiert werden. Zu unterschiedlich sind die Vorstellungen von dem, was gemeint ist, wenn man von ›Aufklärung‹ spricht.16 Im Sprachgebrauch dominiert bis weit in das 19. Jahrhundert ein Allgemeinbegriff von Aufklärung, der sich im Wesentlichen auf die Aspekte der (Volks-)Bildung und der Bekämpfung von Aberglauben reduziert. Ein –––––––––––– 13 14
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Ebd., S. 59. Vgl. Georg Bollenbeck, Die Abwendung des Bildungsbürgertums von der Aufklärung. Versuch einer Annäherung an die semantische Lage um 1800. In: Wolfgang Klein und Waltraud Naumann-Beyer (Hrsg.), Nach der Aufklärung? Beiträge zum Diskurs der Kulturwissenschaften, Berlin 1995, S. 151– 162. Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, München 1998, S. 382 und Heinrich August Winkler, Vom linken zum rechten Nationalismus. Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878/79. In: Geschichte und Gesellschaft 4/1 (1978), S. 5–28. Zum Folgenden vgl. grundlegend: Horst Stuke, Aufklärung. In: Otto Brunner und Werner Conze et al. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 243–342, besonders S. 318–342.
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solch allgemeines Begriffsverständnis liegt beispielsweise dem Eintrag in der 9. Auflage vom Brockhaus Conversations-Lexikon von 1843 zugrunde, in dem ›Aufklärung‹ über die Abgrenzung zum Begriff der Bildung erläutert wird. 17 Der begriffliche Unterschied liegt demnach darin, dass ›Aufklärung‹ auf die Gesamtheit des Volkes zu beziehen ist und statt reiner Unterweisung die Anleitung zum Selbstdenken zum Ziel hat. Vor diesem Hintergrund erscheint dem Verfasser des Eintrags die Unterscheidung zwischen ›wahrer‹ und ›falscher Aufklärung‹ ebenso wie zwischen ›Aufklärung‹ und ›Aufklärerei‹ überflüssig, da der Mensch doch »für Wahrheit und Licht bestimmt« sei und Aufklärung darum immer nur eine wahre sein könne.18 Betont der Verfasser zwar die transhistorische Verbindlichkeit des Aufklärungsgedankens, weist er doch mit der Bemerkung, der Begriff sei seit der Mitte des 18. Jahrhunderts »in üblen Ruf« gekommen, zumindest indirekt auf Gegenpositionen und die Tradition der Aufklärungskritik hin.19 Ein ähnlicher Verweis findet sich in Meyers Conversations-Lexicon von 1844, nur dass in diesem Eintrag auch die Gründe für den schlechten Ruf der Aufklärung expliziert werden. Daraus geht hervor, gegen welche Folgeaspekte der Aufklärung sich der Verfasser abgrenzen möchte: »Atheismus und Pantheismus, Freigeisterei und politischer Unverstand haben abwechselnd am Werke der Aufkl. gearbeitet, wodurch die Gesinnung verdorben, Sittlichkeit und Glaube, Staat und Kirche gefährdet wurden.«20 Momente der Distanznahme gehen dann auch in der Neubearbeitung des Eintrags im Brockhaus für die 1851 publizierte 10. Auflage ein. In dieser Fassung des Artikels ist die Rede von einem »Vulgärrationalismus«, der auch »die tiefsten göttlichen Wahrheiten und geheimsten Gemütsbewegungen« in trockene Verstandesbegriffe »zerlegt« und eine »Aufklärerei ohne Gehalt und Lebenskern« hervorgebracht hat.21 In diesen Vorbehalten Zeichen einer generellen Abwendung des Bürgertums von der Aufklärung auszumachen, wäre gleichwohl übereilt. Schließlich reicht die Diskussion um die ›wahre‹ und die ›falsche Aufklärung‹ selbst ins 18. Jahrhundert zurück.22 Die Lexika der Jahrhundertmitte knüpfen in dieser Hinsicht also mehr oder weniger ungebrochen an die »Streitgeschichte der Aufklärung«23 an. –––––––––––– 17 18 19 20 21 22 23
[Art.] Aufklärung. In: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. ConversationsLexikon, 9. Aufl., Bd. 1, Leipzig 1843, S. 622. Ebd. Ebd. [Art.] Aufklärung. In: Joseph Meyer (Hrsg.), Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände, Bd. 4, Hildburghausen 1844, S. 375. [Art.] Aufklärung. In: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. ConversationsLexikon, 10. verb. u. verm. Aufl., Bd. 2, Leipzig 1851, S. 37–38, hier S. 38. Vgl. Stuke (wie Anm. 16), S. 283–286. Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, Reinbek bei Hamburg 2018, S. 17.
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Demgegenüber machen sich im ausgehenden 19. Jahrhundert deutliche begriffsgeschichtliche Verschiebungen bemerkbar. Zunächst treten neben die tradierte Kritik am ›Vulgärrationalismus‹ und an der politischen Aufklärung mit der Zeit neue Bezugs- und Angriffspunkte, wie aus der 4. Auflage des Meyer’schen Lexikons von 1885 hervorgeht. Aufklärung wird darin verstanden als eine Kritik »bisherige[n] Fürwahrhalten[s]«24. Die semantische Verschiebung im Vergleich zum zitierten Brockhaus-Artikel von 1843, der vorbehaltlos ›Wahrheit und Licht‹ als Zielpunkte des Aufklärungsprozesses benennt, ist offensichtlich: Betont wird nicht mehr das Streben nach Wahrheit, sondern die Relativierung von Wahrheitsansprüchen. Auch zählt der Artikel von 1885 auf, mit welchen »Gegnern« die Aufklärung durch ihren Angriff auf »bisher Fürwahrgehaltenes« zu rechnen hat: Es sind »diejenigen, welche daran festhalten (Konservative), und zwar sowohl die Gläubigen (aus Überzeugung) als die Gewohnheitsmenschen (aus Trägheit) und die Stabilitätsmenschen (aus Achtung für den Verstand)«.25 Für diese Typologie von Aufklärungsgegnern dürften sich unschwer Beispiele in Fontanes Romanen finden lassen, was allerdings auch für die darauffolgende Liste der »gefährlichen Bundesgenossen« der Aufklärung gilt. Dazu zählt der Lexikonartikel diejenigen, die das Fürwahrgehaltene »verneinen, ohne ein andres an dessen Stelle zu setzen (Radikale), also sowohl die Skeptiker (aus Überzeugung von der Unmöglichkeit der Erkenntnis der Wahrheit) als die Indifferentisten (aus Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit) und die Nihilisten (aus Überzeugung vom Nichtbestand einer Wahrheit)«.26 Von solchen Bundesgenossen der Aufklärung gibt es einige unter Fontanes Figuren, nicht nur den alten Stechlin, der bekanntlich dazu übergegangen ist, hinter alles ein Fragezeichen zu setzen.27 Folgt man der Argumentation des Lexikonartikels, müsste man auch Fontanes eigenen »stilvolle[n] Indifferentismus«28 als Zeichen einer ›gefährlichen Genossenschaft‹ mit dem kritischen Geist der Aufklärungsepoche werten. Die Wahrheitsskepsis, die sich im späten 19. Jahrhundert diskursübergreifend abzeichnet – im Bereich der Wissenschaften etwa im IgnorabimusStreit und der daran anknüpfenden Diskussion um die Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis29 –, verändert jedenfalls die Perspektive, unter –––––––––––– 24 25 26 27 28
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[Art.] Aufklärung. In: Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. 4. gänzl. umgearb. Aufl., Bd. 2, Leipzig 1885, S. 59–60, hier S. 59. Ebd. Ebd., S. 59–60. GBA, Das erzählerische Werk 17, S. 8. Hans-Martin Gauger, Sprachbewußtsein im ›Stechlin‹. In: Günter Schnitzler (Hrsg.), Bild und Gedanke. Festschrift für Gerhart Baumann zum 60. Geburtstag. München 1980, S. 311–323, hier S. 322. Vgl. dazu Kurt Bayertz (Hrsg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Bd. 3, Hamburg 2007.
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der über Aufklärung gesprochen wird. Damit geht die zweite wichtige begriffsgeschichtliche Verschiebung einher, die sich in dieser Zeit beobachten lässt. Denn erst jetzt setzt sich auf breiter Basis eine historisierende Wahrnehmung durch, wonach ›Aufklärung‹ primär als »Zeitalter«30 erfasst wird. Dabei kann die Historisierung mit einer inhaltlichen Distanzierung einhergehen. Fontane selbst liefert Belege für diesen Prozess, etwa im Aufsatz Die Märker und die Berliner und wie sich das Berlinertum entwickelte von 1889, in dem er Lessings Nathan als »epochemachendes Buch« würdigt, damit aber zugleich zu verstehen gibt, dass aus seiner Sicht die mit dem Werk eingeleitete »Aufklärungs-« und »Gleichberechtigungsepoche« längst vergangen, wenn nicht sogar überwunden ist.31 Doch der historisierende Zugriff auf die Aufklärung muss nicht zwangsläufig mit dem Abschied von den programmatischen Zielen und Inhalten aufklärerischen Denkens zusammenfallen. In seinem begriffsgeschichtlich einflussreichen Artikel für die Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche von 1897 betont der Theologe Ernst Troeltsch gleichermaßen die Historizität der Aufklärung wie ihre anhaltende Relevanz für die Gegenwart: Sie ist für ihn »Beginn und Grundlage der eigentlich modernen Periode der europäischen Kultur und Geschichte«, eine »Gesamtumwälzung der Kultur auf allen Lebensgebieten«.32 Troeltsch setzt der Vorstellung, die Aufklärung sei eine quasi naturnotwendige Folge der Entwicklung des menschlichen Geistes, eine konsequent historisierende Auffassung entgegen: Aufklärung ist für ihn »keineswegs […] die natürliche und normale Form des menschlichen, frei sich selbst überlassenen Denkens, sondern ein durch und durch historisch bestimmtes Erzeugnis bestimmter Verhältnisse und Lagen.«33 Gerade weil er sie nicht als allgemeine Stufe der Geistesentwicklung deutet, sondern als Produkt einer bestimmten historischen Situation, wird Troeltsch ein Urteil über die langfristigen geschichtlichen Wirkungen dieser vergangenen Epoche möglich. »[B]is heute« sei sie vor allem in Frankreich und England »eine bedeutende Macht«, und auch in Deutschland bleibe immerhin die Frontstellung der Wissenschaft gegen den Supranaturalismus, d. h. den Glauben an übernatürliche Prinzipien, als ein »Erbe der Aufklärung«.34 Erst vor dem Hintergrund der temporalen Distanzierung ist die Frage nach dem, was als ›Erbe‹ dieser gesamtkulturell bedeutsamen Epoche bleibt, überhaupt möglich. Erst jetzt nimmt man Aufklärung als ein Ensemble von –––––––––––– 30 31 32 33 34
[Art. Aufklärung] (wie Anm. 24), S. 60. HFA II/3, S. 658. Ernst Troeltsch, Aufklärung. In: Albert Hauck (Hrsg.), Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. verb. u. verm. Aufl., Bd. 2, Leipzig 1897, S. 225–241, hier S. 225. Ebd. Ebd., S. 241.
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Gegebenheiten wahr, deren Bedeutung für die Gegenwart sich nicht von selbst ergibt, sondern zur Verhandlungssache wird. Die historische Perspektive auf die Aufklärung, die sich im späten 19. Jahrhundert durchsetzt, widerspricht zwar der Vorstellung einer ungebrochenen Gültigkeit der Ideen oder des ›Projekts‹ der Aufklärung, schließt aber die Behauptung von Kontinuitäten nicht kategorisch aus. Wenn Fontane um die Jahrhundertmitte in seinem Aufsatz Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 noch vorbehaltlos davon ausgehet, dass seine Zeit ihre charakteristischen Züge »mit den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts« teile, während er 1873 in Notizen zu Sternes Yorick zu bedenken gibt, dass das 18. Jahrhundert »sehr wahrscheinlich anders« empfinde als die Gegenwart (wobei der moderne Standpunkt in ästhetischer wie moralischer Sicht der »richtigere« sei), dann lässt sich dieser Wandel zwar durchaus in den skizzierten Prozess einer Historisierung der Aufklärung einordnen – er sollte aber nicht auf den Gegensatz von bedingungsloser Zustimmung und ablehnendem Unverständnis reduziert werden.35 Dafür sind allein die Bezugspunkte, unter denen dieses ›Erbe‹ verhandelt werden kann, zu unterschiedlich. Fontanes Wahrnehmung der Aufklärungsepoche ist nicht nur einem zeitlichen, sondern auch einem gegenstandspezifischen Wandel unterworfen. Zu differenzieren wäre hier zunächst zwischen Rezeptionsvorgängen auf semantischer und solchen auf ereignis-, werk- oder persönlichkeitsbezogener Ebene. Die Frage nach dem Erbe der Aufklärung lässt sich anhand begrifflicher Orientierungspunkte wie ›Fortschritt‹, ›Freiheit‹ oder ›Natur‹ diskutieren; mit gleichem Recht aber beispielsweise auch entlang der Kommentare Fontanes über die Französische Revolution, am Gegenstand seines Lessing- oder Gleim-Bildes oder mit Bezug auf die Bedeutung des englischen Aufklärungsromans von Goldsmith bis Sterne für sein Werk. Erfassen kann man die Frage sodann unter dem Gesichtspunkt größerer diskursiver Zusammenhänge, strukturgeschichtlicher Voraussetzungen oder tradierter »Kulturmuster«.36 Wie die von der Aufklärung beschleunigten Säkularisierungsprozesse und überhaupt die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung von Religion in Fontanes Textwelten reflektiert werden, hat die Forschung schon mehrfach beschäftigt.37 Fragen ließe sich aber ebenso –––––––––––– 35 36
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HFA III/1, S. 238 und S. 480. Daniel Fulda, Kultur, Kulturwissenschaft, Kulturmuster – Wege zu einem neuen Forschungskonzept aus dem Blickwinkel der Aufklärungsforschung. In: Ders. (Hrsg.), Kulturmuster der Aufklärung, Halle (Saale) 2010, S. 7–33. Für Fulda entstehen Kulturmuster aus der Verdichtung von Konzepten und Deutungsmustern zu Formen »gesellschaftlich organisierten und individuell aktualisierten« Handelns (ebd., S. 17). Es sind, kurz gesagt, zur Praxis gewordene Ideen. Vgl. Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), Religion als Relikt? Christliche Traditionen im Werk Fontanes, Würzburg 2006 oder Beutel, Eckart, Fontane und die Religion. Neuzeitliches Christentum im Beziehungsfeld von Tradition und Individuation, Gütersloh 2003.
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auch nach seinem Verhältnis zu den pädagogischen Konzepten der Aufklärung oder nach Formen der Teilhabe an Praktiken und Kulturmustern, die wesentlich von der Aufklärungsepoche geprägt wurde, wie das Reisen zum individuellen Genuss, der bürgerliche Konzert- und Theaterbesuch oder die in Klubs und Vereinen institutionalisierte Geselligkeit. Fontanes heterogene, facettenreiche und vielfältige Bezugnahmen auf die Epoche der Aufklärung spiegeln sich in der Zusammenstellung der hier versammelten Beiträge wider. In gattungs- und themenübergreifender Perspektive werden sowohl das erzählerische und lyrische als auch das journalistische und autobiographische Werk Fontanes mit Blick auf politische, gesellschaftliche, theologische, kulturelle und poetologische Bezüge zur Aufklärung diskutiert. Die beiden ersten Beiträge des Bandes beleuchten Dimensionen und Kontexte der Aufklärungsrezeption bei Fontane in einer das Gesamtwerk umfassenden Perspektive. Die Diskussion eröffnet Iwan-Michelangelo D’Aprile, der Fontanes Positionierung zu den sich im Zuge der Aufklärung neu herausbildenden literarischen Medien, Praktiken und Autorrollen vorstellt und auf deren Bedeutung für Fontanes eigene literarische Programmatik und Praxis eingeht. Zudem fokussiert der Aufsatz Fontanes Beiträge zur Inanspruchnahme von ›Aufklärung‹ für den erinnerungspolitischen Diskurs im Zuge der preußisch-deutschen Nationalstaatsbildung. Mit ausdrücklichem Fragezeichen versehen, zeigt Roland Berbig in seinen Ausführungen (nicht nur) biographische Bezüge zwischen Fontane und dem Zeitalter der Aufklärung, das für den Dichter durchaus in Erklärungsnöte geraten ist, auf. Er weist darauf hin, dass dem jungen Fontane eine akademische Bildung und eine damit verbundene intensive Auseinandersetzung mit den philosophischen Diskursen der Aufklärung verwehrt blieb, und schlägt vor, in einem dreistufigen Modell der werkbiographischen Entwicklung dem jungen ›Aufklärer‹ Fontane den mittleren ›Verklärer‹ und den alten ›Erklärer‹ zur Seite zu stellen. Im zweiten Abschnitt des Sammelbandes rücken dann begriffs- und diskursgeschichtliche Anknüpfungspunkte an die Aufklärung in den Vordergrund. Hubertus Fischer geht dabei auf das schwierige und komplexe Verhältnis Fontanes zum (politischen) Liberalismus ein. An Beispielen aus dem erzählerischen und journalistischen Werk spürt er Fontanes diskursiver und zugleich erzählerischer Auseinandersetzung mit dem 18. Jahrhundert nach. Mit seinem Beitrag zum Thema Freiheit bei Fontane widmet sich Dirk Oschmann im Anschluss einem der zentralen Begriffe der Aufklärung und skizziert die stete Konstanz von Freiheitsdiskursen in Fontanes Werk. Dabei werden auch die Unterschiede deutlich, die jenseits der begrifflichen Kontinuität Fontanes Freiheitsverständnis von dem der Aufklärung trennen. Der dritte Beitrag zu diesem Abschnitt fokussiert mit ›Natur‹ und
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›Wahrheit‹ ebenfalls zwei Schlagworte des Aufklärungsdiskurses: Monika Ritzer zeichnet in ihrem Beitrag Naturen und Normen die Reflexe einer zunehmenden Destabilisierung von Wahrheitsansprüchen in Fontanes Texten nach und diskutiert daran die Position des Autors im Epochenkontext des Spätrealismus. Die folgenden drei Beiträge richten die Aufmerksamkeit auf literaturgeschichtliche Verbindungslinien und Traditionen. Leonhard Herrmann zeigt am Beispiel von Effi Briest Bezüge in Fontanes Romanwerk zur aufklärerischen Tradition des bürgerlichen Trauerspiels auf. Im Zentrum steht dabei die Dramenpoetik Lessings, für die Fontane nicht zuletzt in seiner Rolle als langjähriger Theaterkritiker besonderes Interesse entwickelte und die in seinen Texten eine ebenso beachtliche als bislang kaum bemerkte Nachwirkung fand. Die in Fontanes Preußenliedern greifbaren Parallelen zur patriotischen Liedkultur und Bardentradition der Aufklärung und hier insbesondere zu den Kriegsliedern von Johann Wilhelm Ludwig Gleim werden im Beitrag von Baptiste Baumann und Jana Kittelmann näher verortet und diskutiert. Eine andere Form der Bezugnahme auf Gleim und weitere Protagonisten der Berliner Aufklärung hingegen untersucht Jana Kittelmann in dem Beitrag Aufklärerisch-empfindsame Geselligkeit bei Theodor Fontane? Eine Spurensuche. Der Aufsatz fokussiert die Praktiken, Topographien und Akteure der aufklärerisch-empfindsamen Geselligkeit und ihre Spuren im erzählerischen Werk Fontanes. Im Spannungsfeld von Glauben und Wissen, umgestürzten und bestehenden Dogmen bewegen sich die Beiträge im letzten Abschnitt des Bandes. Mit einer Glaubensfrage ganz eigener Art beschäftigt sich zunächst Sophia Wege in ihrem Beitrag zur Homöopathie bei Fontane. Die Homöopathie, die gleichermaßen als medizinhistorische Gegenbewegung zur Aufklärung wie als eine Fortführung ihrer naturwissenschaftlichen Methoden begriffen werden kann, fasziniert Fontane vielleicht gerade wegen dieser inneren Widersprüchlichkeit. Am Beispiel des Romans Unwiederbringlich spürt Wege Hinweisen auf homöopathisches Wissen im Text nach und dokumentiert darauf aufbauend die Wechselwirkung zwischen Ehegeschichte und Homöopathienarrativ. Schlägt Weges Beitrag bereits eine Brücke vom Wissen zum Glauben, so rückt die religiöse Dimension der Aufklärungsrezeption bei Fontane in den abschließenden Beiträgen ganz in den Mittelpunkt. Anett Lütteken geht Glaubensdingen des 18. und 19. Jahrhunderts nach und zeigt unter anderem, wie Fontane auf zeitgenössische Tendenzen der ›Entkirchlichung‹ und einem damit verbundenen aufklärerischen Optimismus, aber auch auf fest etablierte religiöse Rituale und Praktiken reagiert und diese zugleich ironisch hinterfragt. Auf den wichtigen Aspekt der jüdischen Aufklärung geht abschließend Mike Rottmann ein. Sein Beitrag Erzählte Aufklärungsskepsis und ›erlebte Judenfrage‹ richtet den Blick nicht nur auf
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das erzählerische Spätwerk Fontanes, sondern auch auf aufklärerische Momente in der Rezeption Fontanes durch jüdische Leserinnen und Leser und spannt so den Bogen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.
»Was kann preußischer sein als Nathan« Dimensionen der Aufklärungsrezeption bei Theodor Fontane Iwan-Michelangelo D’Aprile Wie vergleichbare »Fontane und«-Fragen der Art »Fontane und die Politik«, »Fontane und Preußen« oder »Fontane und der Antisemitismus« fand und findet auch die Frage »Fontane und die Aufklärung« sehr unterschiedliche, oft gegensätzliche Antworten, die von Fontane als irgendwie konservativem Aufklärungskritiker bis zu Fontane als Aufklärer reichen mögen.1 Um nicht einfach nur vermeintliche Belegzitate für oder gegen die je vertretene These ins Feld zu führen und im Zweifelsfall deren Widersprüchlichkeit zu konstatieren, sind neben dem bei Fontane immer angezeigten möglichst genauen quellenkritischen Ausweis der medialen Feldkontexte, Entstehungszusammenhänge und entsprechenden Adressatenbezüge mindestens zwei Aspekte zu berücksichtigen. Erstens sind Fontanes Bezugnahmen auf die Aufklärung vor dem Hintergrund des Aufklärungsdiskurses seiner eigenen Gegenwart im 19. Jahrhundert zu kontextualisieren, um von hier aus seine Positionierungen zu profilieren. Wie schon Reinhart Koselleck festgestellt hat, war der Aufklärungsbegriff bis nach der Jahrhundertmitte in historischen Werken weitgehend außer Gebrauch gekommen.2 Auch in der Literaturgeschichtsschreibung war »Aufklärung« lange kein etablierter Epochenbegriff, sondern wurde wahlweise als »Literatur unter Friedrich dem Großen« oder »LessingZeit« gefasst.3 Auch für Fontane – ohnehin weniger an akademischer Begriffssystematik als an der Brauchbarkeit für die eigene literarische Praxis interessiert – gilt, dass er den Begriff »Aufklärung« weder als historische noch systematische Kategorie verwendet und dass man für die Frage nach seiner Aufklärungsrezeption weitestgehend auf die Untersuchung von –––––––––––– 1 2
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So im Untertitel bei Günther Rüther, Theodor Fontane. Aufklärer – Kritiker – Schriftsteller, Weimar 2019. Vgl. Georg Neugebauer, Einleitung. In: Ders., Paolo Panizzo, Christoph Schmitt-Maass (Hrsg.), Aufklärung um 1900. Die klassische Moderne streitet um ihre Herkunftsgeschichte, München 2014, S. 9–17, hier S. 9f. Rainer Rosenberg, »Aufklärung« in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. In: Holger Dainat und Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Aufklärungsforschung in Deutschland, Heidelberg 1999, S. 7–20.
https://doi.org/10.1515/9783110666984-002
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Platzhaltern (seien es Autorennamen, seien es mit der Aufklärung verbundene Begriffsfelder oder Argumentationsmuster) angewiesen ist. Schließlich ist der bürgerliche Nationaldiskurs stark von Stereotypen der Aufklärungskritik beziehungsweise der Gegenaufklärung geprägt. Die spezifisch »deutsche« Kultur wurde als Gegensatz und Überbietung der vermeintlich westeuropäischen, französischen oder britischen Aufklärung konstruiert; Lessing, Herder, Schiller oder der frühe Goethe wurden dem deutschen Erbe dementsprechend eingemeindet, indem man sie zu »Überwindern« der Aufklärung erklärte.4 Diese weit bis ins 20. Jahrhundert fortwirkenden gegenaufklärerischen Stereotype des deutschen Nationaldiskurses hat noch Thomas Mann internalisiert, als er dekretierte: »Die Deutschen sind das Volk der romantischen Gegenrevolution gegen den philosophischen Intellektualismus und Rationalismus der Aufklärung.«5 Fontane als »nüchternem« und »rationalem«, »französischem Preußen« wurde zumeist eine Sonderrolle innerhalb dieser Kulturstereotype zugebilligt.6 Zweitens sind mit der Frage unsere eigenen Vorannahmen als LiteraturhistorikerInnen über die Aufklärung verbunden. Operiert man mit einem engen Epochenbegriff der Aufklärung, wie er in der Nationalgeschichtsschreibung lange vorherrschte, aber auch in neueren Darstellungen zu finden ist, oder versteht man Aufklärung eher als ‚langes 18. Jahrhundert‘, inklusive Sturm und Drang und Spätaufklärung?7 In welchem Verhältnis stehen dazu Fontanes – meist eigenwillige – literaturhistorischen Epochenkategorien? Wird »Aufklärung« ideengeschichtlich definiert und mit einem Ensemble von verwandten Leitbegriffen wie »Toleranz«, »Liberalismus«, »Kosmopolitismus«, »Humanität«, »Moderne« oder »Fortschritt« gleichgesetzt? Wie werden wiederum diese Begriffe in ihrem historischen Bedeutungswandel reflektiert und ihrem diskursiven Kontext lokalisiert, um zu anachronistische Rückprojektionen zu vermeiden? Und inwiefern werden methodische Einsichten der neueren wissens- und kulturgeschichtlichen Aufklärungsforschung berücksichtigt, nach der sich solche anachronistischen Fehlschlüsse am besten vermeiden lassen, wenn man Aufklärung als ein institutionell-mediales-diskursives Ensemble versteht?8 Bezieht man
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Neugebauer, Einleitung, S. 15; Rosenberg, Aufklärung, S. 7. Zitiert nach Paolo Panizzo, Aufklärung und Nation in der Germanistik um 1900. In: Neugebauer et al., Aufklärung um 1900, S. 125–146, hier S. 144. Thomas Mann, Max Liebermann zum 80. Geburtstag 1927. In: Kunst und Künstler 25 (1927), S. 327f. Iwan-Michelangelo D’Aprile, Winfried Siebers, Das 18. Jahrhundert. Zeitalter der Aufklärung, Berlin 2008, S. 9–20. Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg 2015.
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sich auf »Aufklärung« als historische Epoche oder als transepochalen Prozess?9 Schließlich: wird der zugrunde gelegte Aufklärungsbegriff regional und zeitlich differenziert, um unterschiedlichen phasenverschobenen und pluralen Ausprägungen der Aufklärung – ein besonders für die Situation in Preußen entscheidender Aspekt – gerecht zu werden?10 Je weniger solche Fragen methodisch reflektiert werden, das zeigt nicht zuletzt die Rezeptionsgeschichte Fontanes, desto größer ist das Risiko, dass man zwar viel über die Position des jeweiligen Fontane-Forschers zur Aufklärung lernen kann, aber weniger über Fontanes Aufklärungsrezeption. Vor dem Hintergrund dieser Vorüberlegungen sollen im folgenden drei funktional unterscheidbare Dimensionen oder Arten der Bezugnahmen Fontanes auf die Aufklärung diskutiert werden: (1) seine Positionierung zum sich mit der Aufklärung herausbildenden neuen Autorenverständnis und den damit verbundenen Medien, Institutionen und Autorrollen; (2) seine Stellungnahmen zu literarischen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts und deren Bedeutung für seine eigene literarische Programmatik und Praxis; (3) seine Beiträge und Kommentare zur Inanspruchnahme von »Aufklärung« im erinnerungskulturellen und erinnerungspolitischen Diskurs im Zuge der preußisch-deutschen Nationalstaatsbildung. Bei allen Überschneidungen und Querbezügen zwischen diesen drei Frageperspektiven soll durch eine solche Typologie funktionaler Verwendungsweisen zum einen die inzwischen zum Gemeinplatz gewordene Widersprüchlichkeit Fontanes differenzierter beschrieben werden, indem sich Widersprüche in der Sache (etwa zwischen der literaturhistorischen Bedeutung Lessings oder Schillers für Fontane und seinen Stellungnahmen zu deren Inanspruchnahme für die offizielle Erinnerungspolitik des Kaiserreichs) von bloßen Inkonsistenzen oder Positionswechseln Fontanes unterscheiden lassen. Zweitens lassen sich dadurch – so zumindest die These – einige Momente von Fontanes Aufklärungsrezeption ausmachen, die durch alle Brüche, Tätigkeitswechsel und Phasen (meist: »früher«, »mittlerer«, »alter« Fontane) relativ konsistent beobachtbar sind und bei allen Veränderungen im Einzelnen sozusagen den »ganzen« Autor Fontane kennzeichnen.
1. Autortypus und Autorenrolle Für eine historisch kontextualisierende Analyse von Fontanes Stellung zur Aufklärung ist es sinnvoll, nicht von einem heutigen, wie immer gearteten Aufklärungsverständnis auszugehen, sondern gleichsam aus der anderen –––––––––––– 9 10
Stefanie Stockhorst (Hrsg.), Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung, Göttingen 2013. Engelhard Weigl, Schauplätze der deutschen Aufklärung, Reinbek bei Hamburg 1997.
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Richtung vom 18. Jahrhundert her nach deren Fortwirken und Rezeption zu Fontanes Zeiten zu fragen: nach den Kontinuitäten und Diskontinuitäten des literarischen Feldes, innerhalb dessen die unterschiedlichen Positionierungen unter den veränderten Literatur-bedingungen des 19. Jahrhunderts zu differenzieren sind. Zumindest in politischer Hinsicht liegen diese noch weitestgehend vordemokratischen Verhältnisse dem aufklärerischen (Reform-)Absolutismus des 18. Jahrhunderts näher als den Verhältnissen unserer eigenen Gegenwart – oder in den nüchternen Worten Hans-Ulrich Wehlers: »Unstreitig blieb bis 1914 in Preußen-Deutschland von der adlighöfischen Welt des Fürstenstaats im 17. und 18. Jahrhundert noch viel erhalten.«11 Für Preußen gilt darüber hinaus, dass der Aufklärung als Regierungsideologie seit dem Großen Kurfürsten und besonders seit Friedrich II. eine ambivalente Doppelrolle zukommt, die seit Lessings Diktum vom in Religionsfragen womöglich aufgeklärtesten deutschen Fürstentum und zugleich hinsichtlich politischer Freiheiten »sklavischste[m] Land in Europa« thematisiert wurde.12 Zudem wirkte die Aufklärung in Literatur, Bürokratie und Verwaltung und im Breitendiskurs etwa der sogenannten »Volksaufklärung« weit bis ins 19. Jahrhundert fort.13 Für das Selbstverständnis der Aufklärung in ihrer norddeutsch-preußischen Spielart sind die Debatten in der Berliner Mittwochsgesellschaft ein geeignetes Quellenmaterial.14 Hier wurde nicht nur über die Frage »Was ist Aufklärung?« reflektiert und die entsprechenden Definitionen formuliert, sondern auch über das Verständnis des neuen Intellektuellen- und Autorentypus des Aufklärers in Abgrenzung zum frühneuzeitlichen Gelehrten diskutiert. So machte in der 1795 in der Mittwochsgesellschaft geführten Debatte zur Reform des höheren Bildungs- und Universitätswesens der Pastor an der Jerusalems-Kirche, Johann George Gebhard, darauf aufmerksam, dass mit den seit den 1750er Jahren erscheinenden beiden wichtigsten Berliner Aufklärungsperiodika, der Allgemeinen Deutschen Bibliothek und den Briefen die neueste Litteratur betreffend, und deren Herausgebern Gotthold
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Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1849–1914, München 1995, S. 824. Gotthold Ephraim Lessing an Friedrich Nicolai, 25. August 1769. In: ders., Werke und Briefe in 12 Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Conrad Wiedemann et al., Bd. 11/1: Briefe von und an Lessing 1743–1770, Frankfurt am Main 1987, S. 622f. Holger Böning (Hrsg.), Volksaufklärung ohne Ende? Vom Fortwirken der Aufklärung im 19. Jahrhundert, Bremen 2018. Ernst Haberkern, Limitierte Aufklärung. Die protestantische Spätaufklärung in Preußen am Beispiel der Berliner Mittwochsgesellschaft, Marburg 2005.
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Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai ein neuer Typus des Intellektuellen hervorgetreten sei.15 Alle drei hätten seither als die hervorragendsten Schriftsteller gegolten, obwohl sie nicht auf Universitäten unterrichtet worden waren. Auf derselben Linie brachte Friedrich Nicolai gegen das alte ständische Gelehrtenverständnis andere aufklärerische Öffentlichkeitsformen ins Spiel, die in den 1750er Jahren entstanden seien. Dem Akademiker und Professor als Aufklärer stellt er den außeruniversitären Publizisten und Journalisten zur Seite, zu dessen erstem bedeutenden Vertreter Lessing geworden sei. Drei Aspekte dieser Debatte sind hinsichtlich der Fragestellung bedeutsam für das veränderte Intellektuellenverständnis und die neuen Literaturformen der Aufklärung. Erstens wird im Anschluss an die westeuropäische Aufklärung der Autodidakt zum Prototypen und Modellfall des Aufklärungsautoren erklärt.16 An die Stelle des Schulgelehrten tritt der Selbstdenker, der wesentlich ein Selbstlerner oder Autodidakt ist, wie er etwa in JeanJacques Rousseaus Emile oder in Denis Diderots Encyclopédie programmatisch beschrieben wird: als jemand, »der das Vorurteil, die Überlieferung, alles Althergebrachte, die allgemeine Zustimmung, die Autorität, ja alles, was die meisten Köpfe unterjocht, mit Füßen tritt und daher wagt, selbständig zu denken […]«, »dessen Bestreben dahin geht, weniger der Erzieher der Menschheit zu sein als ihr Schüler, weniger die anderen zu bessern als sich selbst, weniger die Wahrheit zu lehren als sie zu erkennen. Er ist kein Mensch, der pflanzt und sät; er ist ein Mensch, der sammelt und sieht.«17 Autodidakten und Aufklärer erkennen nach Diderot »keinen Lehrer als sich selbst an« und hätten wenn überhaupt nur ein einziges Prinzip, »nämlich das, ihre Erkenntnisse von niemandem abhängig zu machen, alles mit ihren eigenen Augen zu sehen und lieber an der richtigen Sache zu zweifeln, als sich der Gefahr auszusetzen, in Ermangelung der Prüfung eine falsche Sache anzuerkennen.«18 Zweitens und damit zusammenhängend werden die Zirkel der Gelehrsamkeit durch die neuen Öffentlichkeitsformen und Medien der Aufklä–––––––––––– 15
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Die Akten sind abgedruckt bei: A. Stölzel, Die Berliner Mittwochsgesellschaft über Aufhebung oder Reform der Universitäten (1795). In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 2, Leipzig 1889, S. 201–222. Iwan-Michelangelo D’Aprile, Holger Böning, Hanno Schmitt, Reinhart Siegert (Hrsg.), Selbstlesen - Selbstdenken - Selbstschreiben. Prozesse der Selbstbildung von »Autodidakten« unter dem Einfluss von Aufklärung und Volksaufklärung vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, Bremen 2015. Denis Diderot, Eklektizismus. In: Die Welt der Encyclopédie. Hrsg. von Anette Selg und Rainer Wieland, Frankfurt am Main 2001, S. 53–57, S. 53; Hans-Jürgen Lüsebrink, Autodidaxe. In: Iwan-Michelangelo D’Aprile und Stefanie Stockhorst (Hrsg.), Rousseaus kleine Enzyklopädie der Moderne, Göttingen 2013. Ebd.
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rung erweitert. Zeitschriften und Zeitungen werden zu den wichtigsten Medien der Aufklärung, wie es etwa Karl Philipp Moritz in seinem für die Vossische Zeitung entworfenen Ideal einer vollkommnen Zeitung von 1784 formuliert: »Die Zeitung ist vielleicht das beste Vehikel, wodurch nützliche Wahrheiten unter das Volk gebracht werden könnten.«19 Komplementär wird der Autorentypus des Journalisten-Literaten, für den Lessing als Theater-Kritiker der Vossischen Zeitung zu einem der ersten Exempel wird, zum neuen »Helden der Aufklärung«.20 Tatsächlich ließ der Herausgeber der Vossischen Zeitung Carl Robert Lessing in den Jahren von Fontanes Anstellung keine Gelegenheit ungenutzt, auf seinen berühmten Großonkel Gotthold Ephraim Lessing gleichsam als Stammvater und leuchtendes Vorbild der Zeitung hinzuweisen. »Lessing hat den Journalismus, die literarische Kritik, das Feuilleton in Berlin auf festen Boden gestellt«, schreibt denn auch Arend Buchholtz in seinem 1904 im Auftrag der Zeitung erschienenen Jubiläumsband zum 300-jährigen Bestehen und stellt zugleich den Theaterkritiker Fontane in diese Traditionslinie.21 Drittens werden zum Forum für solche Debatten die neuen aufklärerischen Geselligkeitsformen wie Lesegesellschaften, städtische Salons oder Literaturvereine – die Mittwochsgesellschaft ist hierfür nur ein Beispiel unter vielen.22 Auch wenn man die Literaturvereine des 19. Jahrhunderts, in denen Fontane sich bewegte, nicht per se in diese Aufklärungstradition einreihen kann, sind die Parallelen auffällig und auch von deren Akteuren explizit betont worden. Wie die Mittwochsgesellschaft, in der Minister und Staatsbeamte wie Karl August von Struensee, Carl Gottlieb Svarez und Ernst Ferdinand Klein mit Schuldirektoren wie Friedrich Gedicke, Verlegern wie Friedrich Nicolai und preußisch-jüdischen Philosophen wie Moses Mendelssohn (als Ehrenmitglied) zusammenkamen, war etwa auch die Mitgliederstruktur des Tunnel über der Spree durch die Mischung aus zivilgesellschaftlichen und regierungsamtlichen Akteuren und damit eine – spezifisch preußische – Staatsnähe gekennzeichnet.23 Nicht nur knüpfte das im Tunnel propagierte Literaturmodell direkt an die ersten Programme einer »vaterländischen« preußischen Literatur während der friderizianischen Regierungszeit –––––––––––– 19 20 21 22 23
Karl Philipp Moritz, Ideal einer vollkommnen Zeitung, Berlin 1784, S. 10. Volker Lilienthal, Helden der Aufklärung? Auskunft über Journalisten in der neueren Literatur, Teil 1. In: medium 14/5 (1984), S. 27–32. Arend Buchholtz, Die Vossische Zeitung. Geschichtliche Rückblicke auf drei Jahrhunderte, Berlin 1904, S. 36. Uta Motschmann, Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften 1786–1815, Berlin/Boston 2015. Wulf Wülfing, Karin Bruns, Rolf Parr (Hrsg.), Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933, Stuttgart, Weimar 1998; Roland Berbig unter Mitarbeit von Bettina Hartz, Theodor Fontane im literarischen Leben. Zeitungen und Zeitschriften, Verlage und Vereine, Berlin/New York 2000.
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an, als Autoren wie Abbt, Gleim, Ramler oder auch Lessing im Anschluss an Rousseau erstmals eine patriotische Nationalliteratur propagierten.24 Nicht zufällig trat der halbe Tunnel in der Maskerade der Aufklärung auf. Dessen Mitglieder begegneten sich hier Woche für Woche als Lessing (Franz Kugler), Campe (Louis Schneider), Leibniz (Moritz Lazarus), Spinoza (Rudolf Löwenstein), James Cook (Christian Friedrich Scherenberg), Descartes (Werner Hahn) oder William Hogarth (Theodor Hosemann). Fontanes Tunnel-Pseudonym bezog sich wahlweise auf den französischen Frühaufklärer und Fabeldichter Jean de La Fontaine oder den deutschen Erfolgsschriftsteller der Spätaufklärung August Lafontaine.25 Alle drei Aspekte sind nicht nur insofern konstitutiv für den Autoren Fontane, als er in diesen Aufklärungstraditionen steht, sondern auch im Sinne eines affirmativ vertretenen Selbstverständnisses. Als offensiver Autodidakt kritisierte Fontane zeit seines Lebens ein immer noch herrschendes, ständisch geprägtes Akademiker- und Gelehrtenverständnis: […] ich bekämpfe den Satz und werde ihn bis zum letzten Lebenshauche bekämpfen, daß der Normalabiturient oder der durch sieben Examina gegangene Patentpreuße die Blüte der Menschheit repräsentiere. Das Beste, was wir haben, ist ohne diese vorgängigen Proben geleistet worden.26
Mit Diderots Beschreibung des Aufklärers als Beobachter, Sammler und Zweifler, der lieber auf sein eigenes und notfalls eigenwilliges Urteil vertraut als auf überliefertes und theoretisches Schablonenwissen, hätte sich wohl auch Fontane identifizieren können. Vergleichbares gilt für die aufgeklärten Geselligkeitsformen. Nicht nur erfuhr Fontane seine literarische Sozialisation in Lesegesellschaften und Literaturvereinen, sondern er schätzte deren Bedeutung für sein eigenes Autorenprofil und überhaupt sein berufliches Fortkommen als so hoch ein, dass seine im Alter verfasste autobiographische Schrift Von Zwanzig bis Dreißig mindestens ebenso sehr eine Geschichte der Literaturvereine vom Leipziger Herwegh-Klub bis zum Tunnel über der Spree wie eine Reflexion des eigenen Lebensweges ist.27
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Immer noch grundlegend: Werner Krauss, Über die Konstellation der deutschen Aufklärung. In: ders., Studien zur deutschen und französischen Aufklärung, Berlin 1963, S. 309–400. Siehe auch den Beitrag von Baptiste Baumann und Jana Kittelmann in diesem Band. Vgl. das Mitgliederverzeichnis in: Zur Geschichte des Literarischen Sonntags-Vereins (Tunnel über der Spree) in Berlin. 1827 bis 1877, Berlin 1877. Die Grafschaft Ruppin, GBA, Wanderungen durch die Mark Brandenburg 1, S. 191. Vergleiche die mustergültig kommentierte Edition von Wolfgang Rasch in der Großen Brandenburger Ausgabe, GBA, Das autobiographische Werk 3 sowie Kerstin Wilhelms, My Way. Der Chronotopos des Lebenswegs in der Autobiographie (Moritz, Fontane, Dürrenmatt und Facebook), Heidelberg 2017, S. 145–214.
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Schließlich hat sich Fontane selbst als Journalisten-Literat und »Zeitungsmensch« verstanden.28 Die Zeitung war sein wichtigstes Bildungs- und Arbeitsmedium überhaupt, von seiner frühesten »zeitgeschichtlichen Belehrung« in der väterlichen Apotheke bis zu seinen Altersromanen, für die Zeitungen eine grundlegende Quelle waren, ist Fontanes Bildung und Literaturpraxis nicht ohne die Zeitung verständlich.29 Zeitungsnachrichten, Zeitungsformate und Zeitungsstile sind gleichermaßen konstitutiv für das Balladen-, Reise-, Kriegshistoriker- oder Romanwerk Theodor Fontanes.30 Auch wenn etwa Fontanes 20 Jahre währende Tätigkeit als Regierungs- und Kreuzzeitungs-Journalist nichts mit einem kritischen Aufklärungs-Journalismus im heutigen Verständnis zu tun hatte, hat er selbst hier am Aufklärungswert des Mediums Zeitung festgehalten: etwa wenn er in seiner Funktion als preußischer Regierungskorrespondent in London und für die Regierungszeitungen Die Zeit und die Allgemeine Preußische Zeitung die Vorzüge eines unabhängigen Pressemarktes in Großbritannien schildert und insbesondere die moralischen Wochenschriften der britischen Aufklärung und Revolutionszeit als einen von dessen historischen Höhepunkten herausstellt oder wenn er der Londoner Times in unverhohlener kritischer Abgrenzung gegen den in Deutschland noch vorherrschenden akademisch-gelehrten Journalismus den »völligen Sieg des Feuilleton-Styls über die letzten Reste des Kanzlei-Styls und ähnlicher mißgestalteter Söhne und Töchter lateinischer Klassicität« attestiert.31 Als historisch denkendem Menschen waren Fontane Nostalgie und Vergangenheitsidealisierung in Bezug auf das 18. Jahrhundert fremd und er hatte zugleich ein Sensorium für das Fortwirken geschichtlicher Kräfte in seiner eigenen Gegenwart. Insbesondere die Ambivalenzen aus Aufklärungstraditionen und anachronistischen Verhältnissen auf dem literarischen Feld hat er als spezifisches preußisches Erbe reflektiert. So lässt Fontane in seiner Besprechung von Heinrich Pröhles Literaturgeschichte des Aufklärungszeitalters unter dem Titel Friedrich der Große und die deutsche Literatur (Berlin 1872) für die Vossische Zeitung keinen Zweifel an der Historizität des 18. Jahrhunderts, wo sich unter dem selbsternannten Philosophen auf dem Thron und erstem Aufklärer im Staate Literaten zwischen der Scylla und Charybdis aus adliger Militärhegemonie und fehlender Subsistenzgrundlage –––––––––––– 28 29
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Theodor Fontane, Meine Kinderjahre, NFA XIV, S. 163; Theodor Fontane an Emilie Fontane, 18. März 1857, 30. Oktober 1868, GBA, Ehebriefwechsel 2, S. 35, S. 382. Grundlegend: Wolfgang Rasch, Zeitungstiger, Bücherfresser. Die Bibliothek Theodor Fontanes als Fragment und Aufgabe betrachtet. In: Imprimatur, NF XIX (2005), S. 103–144; Berbig, Fontane im literarischen Leben (wie Anm. 23) Iwan-Michelangelo D’Aprile, Mimesis ans Medium. Zeitungspoetik und journalistischer Realismus bei Theodor Fontane. In: Peer Trilcke (Hrsg.), Theodor Fontane. Sonderband Text+Kritik, München 2019, S. 7–23. Theodor Fontane, Die Londoner Presse, NFA XIX/1, S. 129–248, hier S. 237.
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kaum über Wasser halten konnten, wie es Fontane an der demütigenden Behandlung der Aufklärungsdichterin Anna Louisa Karsch durch den preußischen König illustriert: »Es war eine unfreie und, was noch viel bedrückender hervortritt, eine karge, kümmerliche Zeit. Überall sieht man den Genius zwischen ein Schilderhaus und den Schuldturm gestellt. Der Unteroffizier herrscht, und die Karschin erhält – königliche zwei Taler.«32 In der erstmals 1891 in Fritz Mauthners Magazin für Literatur veröffentlichten Abhandlung über Die gesellschaftliche Stellung der Schriftsteller unterstrich er noch einmal, dass sich daran auch im Kaiserreich noch wenig geändert habe. Weiterhin gelte, dass »die Stellung eines Schriftstellers […] miserabel« sei und »[d]as ganze Metier […] einen Knacks weg« habe. »PreußenDeutschland« habe in der nach oben offenen Verachtungsskala von Schriftstellern »immer mit in erster Reihe figuriert« und sei weiterhin »erfolgreich bemüht […], sich auf dieser alten Höhe zu halten.«33 Halb-sarkastisch und vom offensiven Autodidakten und habituellen Kritiker staatlicher Patentierung nur mit Schamesröte im Gesicht formulierbar (»ich erröte fast, es auszusprechen«), gelte unverändert auch an der Wende zum 20. Jahrhundert weiterhin wie im 18. Jahrhundert die königliche Anerkennung als einzig gangbarer Weg höherer sozialer Anerkennung der Schriftsteller: »Verstaatlichung, Eichung, aufgeklebter Zettel, […] Examen, Zeugnis, Approbation, Amt, Titel, Orden, kurzum alles das, wohinter der Staat steht.«34 Zugleich aber – und daran hält Fontane ebenso durchgehend in allen seinen verschiedenen Lebensetappen und Autorenrollen vom »vaterländischen Schriftsteller« bis zum »Großstadtromancier« fest – sei Preußen das einzige Fürstentum im Alten Reich gewesen, das trotz dieser weitgehend miserablen Verhältnisse, aber eben wegen seiner Aufklärungstraditionen überhaupt moderne Dichtung und Dichter hervorgebracht habe: an erster Stelle Gotthold Ephraim Lessing, der wie kein anderer ein anderes, »wahre[s]« Preußen repräsentiere, das Fontane scharf vom im Kaiserreich grassierenden offiziellen und Hohenzollern-fixierten »Borussismus« abgrenzt. Zur selben Zeit, in der die Mahnschrift zur gesellschaftlichen Stellung der Schriftsteller entsteht, bekennt Fontane gegenüber dem Publizisten und Zeitschriftenherausgeber Leo Berg: Vieles in diesem ewigen Drill, in diesem staatlich aufgeklebten Zettel, der einem dann die Lebensstellung giebt, ist mir ein Greul, aber andrerseits […] ist doch das vom Borussismus sich stark unterscheidende wahre Preußenthum recht eigentlich das, was der deutschen Literatur seit hundert Jahren den geschichtlichen und dichterischen Stoff und zugleich auch die Dichter gegeben hat. Es bleibt freilich ein außer- oder anti-preußischer Rest, aber er bedeutet mit Ausnahme der Lyrik, nicht
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NFA XXI/2, S. 389, Hervorhebungen im Original. NFA XXI/1, S. 491. Ebd., S. 494.
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viel. Natürlich nehme ich auch Lessing als Preußen; was kann preußischer sein, als Minna v. Barnhelm und Nathan?35
2. Literarische Programmatik und Fortschreibung Auch wenn Fontane »Aufklärung« nicht als literaturhistorische Kategorie verwendet oder reflektiert, ist sie doch implizit in seinem literarischen Programm eines populären und poetischen Realismus enthalten. Dies beginnt bereits in seiner frühen Programmschrift zum »Realismus« Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848, die 1853 anonym und außerhalb Preußens in den Deutschen Annalen zur Kenntniß der Gegenwart und Erinnerung an die Vergangenheit erschienen ist und in der bei allen Einschränkungen bereits Kernelemente seiner literarischen Praxis wie das Empiriegebot, die Forderung nach Wirklichkeitsbezogenheit statt Spekulation und Ästhetizismus, der Anspruch einer gegenwartsadäquaten Literatur auf der Höhe der Zeit oder die Norm der Popularität statt elitärer Einkapselung formuliert werden. Das Programm eines solchen populären Realismus wird explizit als eine Wiederaufnahme und Fortführung der Aufklärungs- und Sturm und Drang-Literatur der 1760er und 1770er Jahre ausgewiesen: »Unsere moderne Richtung ist nichts als eine Rückkehr auf den einzig richtigen Weg« und eine notwendige Gegenreaktion auf die Spätromantik seit den 1830er Jahren »der blühende Unsinn […] verlogener Sentimentalität und gedankenlosem Bilderwust«. Zum Modell wird »der schöne, noch unerreicht gebliebene Realismus Lessings« erklärt und Fontane konstatiert eine »nahe Verwandtschaft zwischen der Kunstrichtung unserer Zeit und jener vor beinahe hundert Jahren«. Lessing, der »wie keiner, weder vor ihm noch nach ihm, wußte, worauf es ankommt«, habe mit dem Nathan als »reifste[r] Frucht« das Vorbild »natürlicher«, psychologisch realistischer literarischer Gestaltung geschaffen.36 Neben Lessing und neben den Vorbildern aus der britischen Literatur von Shakespeare über Percy und Scott bis zu Robert Burns wird in Fontanes Programm eines populären und poetischen Realismus mit Gottfried August Bürger ein weiterer Held aus der deutschen Aufklärungsliteratur auserkoren – wobei Lessing mehr für die »realistischen« und »modernen« Aspekte, Bürger mehr für die »populären« und »poetischen« (bei Fontane auch »romantisch« genannten) Momente dieses Programms stehen mag, ohne dass beides trennbar wäre. Bürger, der mit Übersetzungen der auch von Fontane genutzten Percy’schen Balladensammlung begonnen hatte, während Walter Scott seine literarischen Anfänge in den 1790er Jahren mit –––––––––––– 35 36
Theodor Fontane an Leo Berg, 8. Juli 1888, HFA IV/3, S. 622. Theodor Fontane, Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848, NFA XXI/1, S. 7–33, hier S. 9, 11.
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Übersetzungen von Bürger-Balladen nahm, repräsentiert eine populäre deutsch-britische Balladentradition, an die – vermittelt über Ferdinand Freiligrath – Fontane die moderne realistische Literatur anschließen lässt.37 Freiligrath, als »›Bürger‹ unsere[r] Epoche«, habe auf dieser Linie mit seinem Revolutionsgedicht »Die Todten an die Lebenden« das Modell und Muster einer kommenden realistischen Literatur, einen »Apostel des Realismus« geschaffen: »Inhalt und Form decken hier einander: der Stoff aus dem vollsten Leben herausgerissen, die Behandlung einfach und doch schwungvoll, wahr und doch voll Phantasie.«38 Tatsächlich schätzte Fontane Bürger zeitlebens als wichtiger für sein eigenes Literaturmodell eines populären Realismus ein als den ebenfalls als Vorläufer genannten Schiller. Während Bürger in den großen Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts ganz auf der Linie von Schillers Verriss zum bloßen Übergangsphänomen zu den klassischen Balladen Schillers und Goethes degradiert wurde und ihm – etwa in Hermann Hettners großer Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert – »Verzerrung des Volkstümlichen in das Pöbelhafte« und »bänkelsängerische Verwilderung des Volksliedes« gegenüber den reinen Schöpfungen Herders, Schillers und Goethes vorgeworfen wurde, kehrt Fontane die literarhistorische Bedeutung um.39 Noch im hohen Alter hielt er fest: »[...] ich kann mir nämlich kaum einen ordentlichen Deutschen vorstellen, der nicht Bürger-Schwärmer wäre. Als Balladier steckt er doch den ganzen Rest in die Tasche; der Ruhm Bürgers hat mir immer als ein Ideal vorgeschwebt: ein Gedicht und unsterblich«40 Nicht zufällig setzt Fontanes frühe Programmschrift mit einem Seitenhieb auf die seinerzeit gängige zeitlose Verabsolutierung eines Klassikers wie Goethe ein. Bei allen Einschränkungen hinsichtlich Fontanes eigensinnigen Programmschriften und literarhistorischen Wertungen ist das an Lessing und Bürger gewonnene Leitbild des populären Realismus sowohl für seine Literaturkritik als auch seine literarische Praxis maßgebend. Schon die frühen Vormärz-Balladen Männer und Helden über Generäle und Schlachtenbummler der friderizianischen Epoche stellen sich mit ihrer Gassenhauer-Form, der an Freiligrath geschulten »britischen« Rhythmik und Reimbildung und ihrem humoristischen, unheroischen und vor allem unaristokratischen »volkstümlichen Duktus« in diese Tradition. Unabhängig davon, dass sie –––––––––––– 37
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Evelyn Jolles-Neugebauer: Ein Bestseller auf dem englischen Literaturmarkt. Bürgers (Wiedergänger-) Ballade ‚Lenore‘. In: Sigrid Rieuwerts und Helga Stein (Hrsg.), Bridging the Cultural Divide. Our Common Ballad Heritage, Hildesheim/ Zürich/ New York 2000, S. 195–220. Fontane, Lyrische und epische Poesie (wie Anm. 36), S. 17f. Hermann Hettner, Geschichte der deutschen Literatur im Achtzehnten Jahrhundert, 2 Bände [Braunschweig 1872]. Neu hrsg. von Gotthard Erler, Berlin/Weimar 1979, Bd. 2, S. 261f. Theodor Fontane an August von Heyden, 10. März 1894, HFA IV/4, S. 337.
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nach der gescheiterten Revolution auch für »borussistisch«-militaristische Rezeptionsformen auf der Linie Strachwitz und Scherenberg offen waren, sind sie mindestens ebenso sehr der liberalen Aufklärungsrenaissance und der allgegenwärtigen Verbürgerlichung der friderizianischen Epoche seit Friedrich Nicolais Anekdoten über Friedrich den Großen und deren vormärzlicher Fortschreibung in Franz Kuglers und Adolph Menzels Volksbuch über Friedrich den Großen verpflichtet – immer ergänzt um ihre europäischen Pendants wie Pierre Jean Bérangers Volkslieder, Horace Vernets Illustrierter Geschichte Napoleons in Frankreich oder Londoner Straßenballaden und Broadsides.41 Aber auch Fontanes Romane sind ohne die Lessing-Bürger’sche Orientierung nicht erklärbar. Balladeskes prägt ihre Leitmotivik und narrativen Verfahren, Populäres und »Volkstümlichkeit« ihre Sprache. Und hinsichtlich ihrer Plotstruktur, der Empathie-Ästhetik, der Figurenzeichnung der gemischten Charaktere und ihrer tragischen Heldinnen, ihrer wesentlich dialogischen Erzählverfahren, der Ständekritik und dem dagegen propagierten ständeübergreifenden Humanitätsideal bis hin zur psychologischen Kausalität und ihrer Fokussierung auf die Sphäre der bürgerlich-adligen Geselligkeitsformen lassen sie sich durchaus auch als Transformation und Fortschreibung des Lessing’schen »Bürgerlichen Trauerspiels« in der Gattung des realistischen Romans lesen.42
3. Erinnerungskultur und Erinnerungspolitik Eine dritte Frageperspektive und Analysedimension, innerhalb derer sich Fontanes Bezugnahmen auf die Aufklärung situieren lassen, sind seine Stellungnahmen zur Rolle der Aufklärung für eine nationale Erinnerungskultur und -politik seiner eigenen Gegenwart. Hierbei handelt es sich mithin nicht vorrangig um Aussagen über das 18. Jahrhundert, sondern vor allem Aussagen zum erinnerungspolitischen Diskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Insbesondere nach dem Regierungswechsel in Preußen im Jahr 1858 und der damit einhergehenden Rückkehr aus England beteiligte sich Fontane mit den Wanderungen durch die Mark Brandenburg, aber auch mit seinen Zeitungskorrespondenzen und als Historiker der Einigungskriege aktiv an dem die Nationalstaatsbildung begleitenden erinnerungspolitischen Diskurs. In diesem Sinn lässt er etwa die Wanderungen, die ursprünglich im aufklärerischen Medienformat der populären Enzyklopädie geplant waren und –––––––––––– 41
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Zu den »borussistischen« Rezeptionsformen: Hubertus Fischer: Theodor Fontane, der »Tunnel«, die Revolution, Berlin 1848/49, Berlin 2009; zum vormärzlichen Kontext: Iwan-Michelangelo D’Aprile, Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung, Reinbek bei Hamburg 2018, S. 150–153. Vgl. die Beiträge von Leonhard Herrmann und Dirk Oschmann in diesem Band.
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dann in der in Schottland eingeübten Form des Reisefeuilletons erschienen sind, gegenüber dem preußischen Cultusministerium als »[…] das Verständnis der Gegenwart aufklärende Beiträge zur Culturgeschichte« anpreisen.43 Ebenfalls in seinem schottischen Reisebericht Jenseit des Tweed, der parallel zu den ersten Wanderungen-Feuilletons entstanden ist, setzt sich Fontane mit der dort erfahrenen aufklärerischen Denkmalspolitik auseinander und vergleicht sie mit den Verhältnissen in der preußischen Heimat. Das im deutschen Sprachraum vorherrschende Bild Schottlands als Land der Romantik wird dabei durch einen Verweis auf die schottischen Aufklärungstraditionen ergänzt, wie sie Fontane an der Beobachtung, dass sich auf einem zentralen Platz in Edinburgh keine Feldherrenstatuen, sondern drei Monumente für den Dichter Robert Burns, den Philosophen Dugald Stewart und den Naturwissenschaftler John Playfair befinden, festmacht: Die Sache ist die, daß wir im Ausland nur die romantische Hälfte Schottlands kennen. Dichtung und Romane lesend, sind wir mit unseren Sympathien in der Vergangenheit Schottlands stecken geblieben, während die Schotten selbst nichts ernstlicheres zu tun hatten, als mit dieser Vergangenheit zu brechen und völlig neue, völlig abweichende Berühmtheiten zu etabliren. Sie haben, um einen Vergleich mit unserer eigenen Geschichte zu nehmen, den Alten-Dessauers die ausschließliche Denkmals-Berechtigung längst genommen und einen gleichen Anspruch, oder einen größeren noch, auf die Lessing’s und Winckelmann’s, auf die Kant’s und Beuth’s [also den Steuer- und Gewerbereformer während Hardenbergs Staatskanzlerschaft, Anm. ID] ihres Landes übertragen.44
In gleicher Stoßrichtung bemerkt der Reisende, dass Aufklärer und Reformer zu den Helden der schottischen Nation gezählt würden, nicht aber Herrscher und Schlachtenführer: »In Oban (an der Westküste) fand ich ein Buch im Gastzimmer, das den Titel führte: ›Die Würdigsten unseres Volks‹. Ich blätterte eine halbe Stunde darin und suchte nach mir bekannten Namen, aber vergeblich. Wer waren die Würdigsten? Märtyrer und Reformatoren, Entdecker und Philanthropen, Dichter, Künstler, Gelehrte, aber kein Archibald Bell the Cat mit ›langem Schwert und kurzer Geduld‹, kein Douglas mit der Devise ›stolz und treu‹, am wenigsten jener Hamilton’s einer, die eine Locke Maria Stuarts bis diesen Augenblick wie eine Reliquie aufbewahren.«45 Diese Beobachtungen überträgt Fontane unmittelbar nach seiner Rückkehr auf den Denkmals- und Gedenk-Diskurs in Preußen. Eines der aus–––––––––––– 43
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Gutachten Karl Schnaase, abgedruckt in: Henrik Karge, Theodor Fontane und Karl Schnaase. Ein neugefundenes Gutachten beleuchtet die Anfänge der »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«. In: FBl 67 (1999), S. 10–34, hier S. 27. Theodor Fontane, Jenseit des Tweed, GBA, Das reiseliterarische Werk 2, S. 83. Ebd.
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führlichsten Zeugnisse für Fontanes aus Schottland übernommenes Programm einer aufklärerischen Denkmalskultur ist das Begleitbuch zur Errichtung einer Statue von Albrecht Thaer vor der Berliner Bauakademie im Jahr 1860, für das Fontane die Texte beisteuerte, die er 1863 auch in den Oderland-Band der Wanderungen durch die Mark Brandenburg in erweiterter Fassung aufnahm.46 Bei dem vom Schadow-Schüler Christian Daniel Rauch entworfenen Thaer-Denkmal handelte es sich um eines der ersten Denkmäler für Zivilpersonen in Preußen überhaupt, mehr als 30 Jahre hatte es gedauert, bis einem Mediziner, Wissenschaftler und Landwirt in Preußen die »Denkmalswürdigkeit« zugesprochen werden konnte und die »Schwierigkeiten, auf welche die öffentliche Aufstellung von Standbildern von Civilpersonen stieß«, überwunden waren.47 Später kamen – ganz auf der Linie von Fontanes schottischem Reisebericht – die Statuen des Gewerbereformers Beuth (1861) und des Architekten Schinkel (1869), beide ebenfalls vor der Berliner Bauakademie, Kants in Königsberg (1862), Schillers (1871) oder Lessings (1890) in Berlin hinzu. Neben einer Schilderung der Denkmalseinweihung – bezeichnenderweise ohne Beteiligung von Angehörigen des Königshauses und des Kriegsministers, dafür mit »Vorbeimarsch der Maschinenarbeiter«48 – enthält Fontanes Begleittext eine Beschreibung des Denkmals und seines Schöpfers Christian Daniel Rauch, dessen berühmteste Arbeit, das Denkmal für Friedrich den Großen von 1851, Fontane bereits in seiner Abhandlung über die Lyrische und epische Poesie seit 1848 als Vorläufer realistischer Darstellungsweisen auf dem Gebiet der Bildhauerei gefeiert hatte, sowie ein biographisches Porträt Thaers. In diesem wird Thaer als bürgerlicher Held der Aufklärung gefeiert, der bereits als Arzt literarisch interessiert war und in den Zirkeln des Göttinger Dichterbunds um Johann Anton Leisewitz ebenso wie in den Kreisen der Berliner Aufklärung um Spalding, Mendelssohn, Engel und Nicolai verkehrte. Im Anschluss an eine zeitgenössische Thaer-Biographie schreibt Fontane diesem sogar die Urheberschaft von Lessings Schrift über Die Erziehung des Menschengeschlechts zu – eine These, die von der LessingForschung allerdings nicht verifiziert wurde.49 Schließlich habe Thaer als Agrarreformer, der umfassend in »Naturkunde, Chemie und Botanik« bewandert war, die »Kenntniss der englischen Landwirthschaft« sowie die »Grundzüge einer rationellen Landwirthschaft« (so die Titel von Thaers Hauptwerken) in Theorie und Praxis in Preußen heimisch gemacht und als –––––––––––– 46 47
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Oderland, GBA, Wanderungen durch die Mark Brandenburg 2, S. 116–140. Peter Bloch, Der dreifache Thaer. In: Theodor Fontane, Denkmal Albrecht Thaers [Berlin 1862]. Neu hrsg. in der Schriftenreihe Domäne Dahlem, Berlin 1992, S. 83–91, S. 83. Vgl. auch Angelika Friederici, Fontanes Thaer-Denkmal. In: Ebd., S. 66–82. Fontane, Denkmal (wie Anm. 47), S. 4. Ebd., S. 8.
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Leibarzt des britischen Königs und Gründer der ersten landwirtschaftlichen Lehranstalt in Deutschland, Mitglied der Akademien der Wissenschaften oder Ökonomisch-praktischen Gesellschaften in praktisch allen Fürstentümern Europas als empirischer Forscher und praktischer Reformer gewirkt. In diesem Sinn scheine die lyrische Apotheose des Selbstdenkers des Aufklärungsdichters Friedrich von Hagedorn, »wie an ihn gerichtet« zu sein: »Der ist beglückt, der sein darf, was er ist, / Der Bahn und Ziel mit eignem Auge misst; / Nie sklavisch folgt, oft selbst die Wege weiset, / Ununtersucht nichts tadelt und nichts preiset.«50 Noch 30 Jahre später zählte Fontane Thaer in einem Brief an Georg Friedlaender zu jenen Industriellen, Ingenieuren, Naturwissenschaftlern, Medizinern, Pharmakologen, Architekten und Bildungsreformern, die als »Erfinder und Entdecker« an die Stelle des Militärs und der alten Standesaristokratie als neue Elite treten, als Beispiel für einen »neue[n] Adel, wenn auch ohne ›von‹ […], von dem die Welt wirklich was hat, neuzeitliche Vorbilder (denn dies ist die eigentliche Adelsaufgabe), die, moralisch und intellektuell, die Welt fördern und ihre Lebensaufgabe nicht in egoistischer Einpöklung abgestorbener Dinge suchen.«51 In diese Linie einer aufklärerischen Erinnerungspolitik im Kontext der ›Erfindung der Nation‹ gehören auch Fontanes anlassbezogene Gelegenheitsdichtungen etwa zu den Schiller-Feiern 1859 oder zum Koloniefest 1885 der Berliner hugenottischen Gemeinde anlässlich des 200. Jahrestages des Edikts von Potsdam von 1685, einem der Gründungsdaten der brandenburgisch-preußischen Aufklärung. In aller Licht- und Aufbruchsmetaphorik werden hier Schiller als Vordenker der Nation (»Und siehe da, anbrach die Morgenröte […] Geboren war die Welt der Ideale; / Hell schien das Licht […]«52) und Henri IV als Stammvater von religiöser Toleranz und Aufklärung gefeiert (»Ein Lichtstrahl schon sein Name: Henri quatre / Nicht nur des Landes, auch des einzeln Wohl / Liegt ihm am Herzen, weg mit der Bedrückung, / Mit Glaubenszwang, mit Kerker, Schwert und Feuer, / Er will die Freiheit, Glück und Recht für alle, / Wes Glaubens auch […]«).53 Nicht zuletzt wird man auch Fontanes Äußerungen zur Aufklärung in seinen Theaterkritiken für die Vossische Zeitung als Kommentare zur Erinnerungskultur des Kaiserreichs verstehen. Die von Fontane besprochenen –––––––––––– 50 51
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Ebd., S. 18. Theodor Fontane an Georg Friedlaender, 8. Juli 1895. In: Theodor Fontane, Briefe an Georg Friedlaender, aufgrund der Edition von Kurt Schreinert und den Handschriften neu hrsg. von. Walter Hettche, Frankfurt am Main/Leipzig 1994, S. 383. GBA, Gedichte2, S. 85. GBA, Gedichte 2, S. 87.
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Aufführungen am Königlichen Schauspielhaus waren wesentlicher Bestandteil von dessen kultureller Selbstinszenierung. Besprechungen von Dramen Lessings, Schillers und Goethes machen zwar den Hauptanteil in Fontanes Kritiken aus, allerdings sagt er in ihnen fast nichts über die literarischen Vorlagen des 18. Jahrhunderts, sondern legt den Fokus beinahe ausschließlich auf die Inszenierungspraxis und Publikumserwartungen der offiziellen Schaubühne der neuen Reichshauptstadt. Die bildungsbürgerliche Idealisierung der kanonischen Autoren des 18. Jahrhunderts als bloßen »Kultus« zum Zweck der nationalen Selbstbeweihräucherung kritisiert Fontane hier im Mai 1874 anlässlich einer Aufführung von Goethes Iphigenie. Und in seiner Besprechung der Aufführung zum hundertjährigen NathanJubiläum am 14. Februar 1880 distanziert sich der Rezensent von der Sakralisierung des Stückes zu einem »Evangelium der Toleranz«.54 Gegenüber dem Redakteur der Vossischen Zeitung, Friedrich Stephany, bringt Fontane diese Art der Beweihräucherung von Lessing, Schiller und Goethe auf den Begriff des »Klassicitäts-Popanz«.55 Fontanes Distanzierung von solcher als nationalem Kult betriebenen Klassiker-Verehrung findet sich auch in Briefen an die Familie, wenn er etwa gegenüber Emilie über die unhistorische Verklärung von Lessings »Geschichte von den drei Ringen« oder Schillers »seid umschlungen Millionen« aus dessen Ode An die Freude als zur Schablone gewordenen »Afterweisheit des vorigen Jahrhunderts« spottet oder in einer vielzitierten Briefstelle an seinen Sohn Theodor das heuchlerische bourgeoise Bildungsverständnis entlarvt, in dem die Klassiker lediglich als ästhetische Bemäntelung für Finanzinteressen dienten: »das Hohle, Phrasenhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeoisstandpunkts […], der von Schiller spricht und Gerson meint.«56 Seit der völkischen Germanistik Adolph Bartels’ bis hin zu aktuelleren Auseinandersetzungen um das Antisemitismus-Problem oder die Frage nach der politischen Positionierung Fontanes im Kaiserreich werden solche – ausschließlich im Medium des Privatbriefs geäußerten polemischen Bemerkungen – als vermeintlicher Beleg für eine vaterländisch-nationalistischreaktionäre und damit gegenaufklärerische, anti-liberale und antisemitische ‚Gesinnung‘ Fontanes angeführt und er so in die Nähe der zahlreichen antisemitisch motivierten Nathan-Polemiken von klerikal-altständischen bis zu säkular-rassistischen Ausformungen gerückt: von Sebastian Brunners –––––––––––– 54 55
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NFA XXII, 1, S. 350, S. 866f. Theodor Fontane an Friedrich Stephany, 8. Juni 1893, HFA IV/4, S. 260. Vgl. a. Bernhard Zand (Hrsg.), Fontane und Friedrich Stephany Vierzehn unveröffentlichte Briefe Fontanes aus den Jahren 1883 bis 1898. In: FBl. 59 (1995), S. 16–37. Theodor Fontane an Emilie Fontane, 12. August 1883, HFA IV/3, S. 280; Theodor Fontane an Theodor jun., 9. Mai 1888, HFA IV/3, S. 601.
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Lessingiasis und Nathanologie. Eine Religionsstörung im Lessing- und Nathan-Cultus bis zu Eugen Dührings Die Ueberschätzung Lessing’s und dessen Anwaltschaft für die Juden.57 Gegen einen solchen Kurzschluss sprechen nicht nur gleichzeitige gegenteilige briefliche Äußerungen Fontanes, wie die oben angeführte literarische Selbstidentifikation mit dem Nathan als dem (alt-)preußischsten aller Stücke: »Was kann preußischer sein als […] Nathan«.58 Vor allem reflektiert Fontane das ideologisch motivierte Nathan-Bashing im Kaiserreich in seinen Romanen, dem wichtigsten Format öffentlicher Reflexion und Kritik gesellschaftlicher Prozesse des alten Fontane. Antiaufklärerische und antisemitische Polemiken gegen den Nathan werden hier ausschließlich satirisch-distanziert gezeichneten Figuren in den Mund gelegt und somit kritisch hinterfragt: in Effi Briest ereifert sich der bornierte hinterpommersche Standesvertreter Baron Güldenklee über die Geschichte von den ›drei Ringen‹ »als einer bloßen »Judengeschichte, die, wie der ganze liberale Krimskrams, nichts wie Verwirrung und Unheil gestiftet hat und noch stiftet. […] Ich bin nicht für diese drei Ringe.« Er selbst kenne dagegen nur einen Ring: den hinterpommerschen Kreis aus Standesvertretern und deren Wahlspruch »mit Gott für König und Vaterland«.59 Und in Mathilde Möhring schneiden der adlig-konservative Landrat und dessen Frau, »die sich die Festigung des christlich Germanischen zur Lebensaufgabe gestellt hatte«, das Bürgermeister-Paar Möhring/Großmann, weil sie »von Hugos Nathanschaft und seiner Gleichberechtigung der drei Konfessionen« nicht erbaut sind.60 Neben solchen kritischen Referenzen auf den gegenaufklärerischen Zeitdiskurs in Fontanes Romanen lässt sich die Anknüpfung an die Aufklärung und ihren prominentesten literarischen Vertreter Lessing, aber auch in deren Form des dialogischen Zeitpanoramas ausmachen. In seinem letzten Roman und literarischem Testament Der Stechlin wird dieses dialogische Grundprinzip in Extremform ausgereizt und in einem der bekanntesten Zitate Dubslavs von Stechlin auf die Sentenz gebracht: »Unanfechtbare Wahrheiten giebt es überhaupt nicht, und wenn es welche giebt, so sind sie langweilig.«61 Nicht zufällig handelt es sich hierbei um eine Variation über ein Lessing-Thema, nämlich dessen im Zuge des Fragmenten-Streits vertretene –––––––––––– 57
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In dieser Richtung argumentiert, wenn auch differenziert, Norbert Mecklenburg, Theodor Fontane. Realismus, Redevielfalt, Ressentiment, Stuttgart 2018. Vgl. zu den antisemitisch motivierten Nathan-Polemiken: Wolfgang Albrecht, Christenfeind und Judenfreund. Lessing in der Sicht deutschsprachiger Gegenaufklärer bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. In: Dieter Fratzke und Wolfgang Albrecht (Hrsg.): Lessing zur Jahrtausendwende. Rückblicke und Ausblicke, Kamenz 2001, S. 191–210. Vgl. o. Theodor Fontane an Leo Berg, 8. Juli 1888, HFA IV/3, S. 622. GBA, Effi Briest, Das erzählerische Werk 15, S. 181. GBA, Mathilde Möhring, Das erzählerische Werk 20, S. 95. GBA, Der Stechlin, Das erzählerische Werk 17, S. 8.
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Bestimmung von Aufklärung als Absage an vermeintlich ewige Wahrheiten zugunsten von je erneuerter kritischer Forschung und Prüfung: »Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: ›Wähle!‹ ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke und sagte: ›Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!‹«62 Nicht als Besitz und Bildungsgut des 18. Jahrhunderts, so ließe sich mit Dubslavs Sentenz Fontanes Lessing-Reminiszenz nicht nur im Stechlin zusammenfassen, ist Aufklärung zu haben, sondern nur als ein sich seiner Historizität bewusster Prozess, der weder im 18. Jahrhundert noch in Fontanes eigener Gegenwart eines sich zum Telos der Geschichte gerierenden Kaiserreichs zum Abschluss gekommen ist.
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Gotthold Ephraim Lessing, Eine Duplik [1778]. In: Lessing, Werke und Briefe, Bd. 8: Werke 1774–1778, Frankfurt am Main 1993, S. 510.
Hinter alles ein Fragezeichen Theodor Fontane ‒ Aufklärer, Verklärer, Erklärer Roland Berbig – in Erinnerung an Peter Wruck Unsre großen Dichter, Philosophen, Feldherrn und Staatsmänner waren arme Leute. Was bleibt vom alten Zieten, von Kant und Schiller übrig, wenn man sie mit der Geld-Elle mißt? Ohne Freiheit kann sich der Mensch nirgends zu was Schönem entwickeln, hat er aber Freiheit […] so hat er alles. Theodor Fontane an Emilie Fontane, 25. Juni 18841
Prolog Im Nachlass Heinrich Heines fanden sich Aufzeichnungen aller Art, Blätter, meist nicht datierbar. Auf einem dieser Zettel hatte er sich notiert: »Um meine Wiege spielten die letzten Mondlichter des achtzehnten und das erste Morgenrot des neunzehnten Jahrhunderts.«2 Das ist viel zitiert und noch häufiger interpretiert worden. Im Mondlicht glaubte man das abgeschlagene blutige Haupt Ludwigs XVI., Todessymbol des Ancien Régime, zu sehen und die Stimme jenes Mannes zu hören, »dessen Name schon eine exorzierende Macht« ausübte: Immanuel Kant. Konnte Heine noch das Bild eines »in seinem grauen Leibrock, das spanische Röhrchen in der Hand« alltäglich achtmal die Königsberger Lindenallee auf- und abschreitenden »mechanisch geordnete[n], fast abstrakte[n] Hagestolzleben[s]«3 zeichnen, so kam Theodor Fontane in seiner »Kantkenntniß über ein paar Anekdoten und
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GBA – Ehebriefwechsel 3, S. 425. Heinrich Heine, [Aufzeichnungen]. In: Ders., Sämtliche Schriften, hrsg. von Klaus Briegleb, 6. Bd. – 1. Teilbd., hrsg. von Walter Klaar, 2. Auflage, München 1985, S. 641. Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Drittes Buch. In: Ders., Sämtliche Schriften, hrsg. von Klaus Briegleb, 3. Bd., hrsg. von Karl Pörnbacher, 3., durchgesehene und ergänzte Ausgabe, München 1995, S. 595 u. 594.
https://doi.org/10.1515/9783110666984-003
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eine gleiche Zahl landläufiger Redewendungen nicht hinaus«4. Da stand er im 79. Jahr, und viel Zeit zum Aufbessern blieb nicht. Über Fontanes eigener Wiege war jener Mond schon untergegangen, dessen letztes Licht noch auf Heines Lebensbeginn gefallen war, vielleicht. Jedenfalls tummelten sich da bereits die Gespenstergestalten E. T. A. Hoffmanns, und Schuberts »Ansichten von der Nachtseite«5 allen Daseins weckten ein Misstrauen der Sinne. Das »Zeitalter der Aufklärung«, von dem Kant gesprochen hatte, schien nicht in ein »aufgeklärtes«6 übergegangen zu sein, sondern zunehmend in Erklärungsnöte zu geraten. Die Fee, die in Fontanes Kindheitserinnerungen »lächelnd zu Füßen einer Wiege steht und entweder vor Gefahr bewahrt oder wenn sie schon da ist, aus ihr hilft«, musste für den »derbe[n] Junge[n]«7, der er gewesen war, zu einem Erzengel mutieren, um »das Gefühl eines beständigen Gerettetwordenseins«8 zu verankern. Von einigen Gefahren, die der Rettung bedurften, hat Fontane erzählt. In ihnen ging es nicht um die Menschheit, bestenfalls um ein Menschenkind, über dessen Lebensweg ein Unmaß an Ungewissheit lag. Fontanes Neuruppin trennten von der Königsberger Welt 647 Kilometer, Napoleons Aufstieg und Untergang, Preußens Untergang und Aufstieg – und eine Bildungswelt, die den Brückenschlag – selbst den provisorischen ‒ ausschloss. Daran konnte der Umzug nach Swinemünde nichts ändern, und nichts Fontanes Bildungsgang. Der war nicht auf Ideen, sondern auf Geschichte hin ausgelegt, »zu Gunsten der geordneten Gewalten«9, so will es die Rückschau, und initiiert durch die sogenannte sokratische Lehrmethode des Vaters.10 Der Traum von der Aufklärung, wie sollte er unterkommen in einer Apothekenkindheit und verstolperten Schulzeit? Aber schleicht sich da nicht ein Schema ein, ein Beschreibungsschema für Fontanes Leben, das schon in der Aufzählung »Aufklärer, Verklärer, Erklärer« durchscheint? Ein Raster, einzurichten, um den Fontane-200-Biographien von Dieterle11 bis Zimmermann12 zur Seite, wenn nicht entgegenzutreten? Der junge Fontane als der Aufklärer, der mittlere als der Verklärer
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Theodor Fontane an Friedrich Paulsen, 1. April 1898, HFA IV/4, S. 710. Vgl. Gotthilf Heinrich Schubert, Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften, Dresden 1808. Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? [1783] In: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, hrsg. von Ehrhard Bahr, Stuttgart 1974/1996, S. 15. Theodor Fontane, Meine Kinderjahre, Berlin 1894, S. 254. Ebd., S. 255. Ebd., S. 195. Ebd., S. 215. Im Zusammenhang mit dieser väterlichen Wissensvermittlung heißt es zuvor: »So verliefen die Geographiestunden, immer mit geschichtlichen Anekdoten abschließend. Am liebsten jedoch fing er gleich mit dem Historischen an oder doch mit dem, was ihm Historie schien.« (S. 211). Regina Dieterle, Theodor Fontane. Biografie, München 2018. Hans Dieter Zimmermann, Theodor Fontane. Der Romancier Preußens, München 2019.
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und der alte Fontane als der Erklärer? So etwas zu wagen gleicht, gewiss, dem Wagnis lebensgeschichtlicher Erzählungen. Ohne Übermut geht es nicht ab, und gut ausgehen kann es nicht. Das Spielerische muss entschädigen für die Angreifbarkeit und das Fahrlässige.
Fontane, der Aufklärer Warum löst diese Zuschreibung Zögern aus? Passt nicht zusammen, was hier zueinander gefügt wird? Der an sein Lebensende angelangte Fontane, der sich durch zwei Memoiren-Bände wieder bis ins Unmittelbare hinein der eigenen Vergangenheit angenähert hatte, erinnerte sich: Wir standen bis 48 […] unter den Anschauungen des vorigen Jahrhunderts, hatten uns ganz ehrlich in etwas Menschenrechtliches verliebt und schwelgten in Emanzipation, auf die wir noch nicht Zeit und Gelegenheit gehabt hatten, die Probe zu machen.13
Waren mit diesen Anschauungen aufklärerische gemeint, oder nicht doch jene der großen französischen Revolution mit ihrer Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 (Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen)? Die Freiheitsliebe, die den 11-Jährigen beseelt hatte, als er vom polnischen Insurrektionskrieg erstmals aus den Zeitungen gelesen hatte, war aus dem Freiheitstheorem des erleuchteten 18. Jahrhunderts geboren. Doch ihren Geburtsort in angeeigneter Philosophie hatte sie wohl kaum. Das war auch gar nicht nötig. Wulf Wülfing hat in seiner Studie über die Schlagworte der Jungdeutschen materialgesättigt vorgeführt, wie »Aufklärung« um 1830 längst zum Bestandteil für das geworden war, was mit »Zeitgeist« so ungenau wie treffsicher seinen Begriff gefunden hatte. Als Fontane dabei war, intellektuell laufen zu lernen, war das Junge Deutschland, schreibt Wülfing, »eine Station auf jenem Wege, der sich als der der Aufklärung bezeichnen ließe.«14 1835 koppelte die Zeitschrift Eremit unter der Überschrift »Die Aufklärung des 19. Jahrhunderts« jenes Schlagwort mit dem der »Freiheit«15, und Karl Gutzkow zog begriffsgeschichtlich nach, wenn er 1836 in Zur Philosophie der Geschichte »die Fortschritte der neuen Aufklärung«16 rühmte. Freiheit und Fortschritt aus dem Geiste einer neuen Aufklärung unter »dem leitenden Monde ‒ Kritik«, wie Heinrich
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Theodor Fontane an Friedrich Paulsen, 12. Mai 1898, HFA IV/4, S. 714. Wulf Wülfing, Schlagworte des Jungen Deutschland. Mit einer Einführung in die Schlagwortforschung, Berlin 1982, S. 288. In: Eremit 10 (1835), Sp. 449. Zitiert nach: Wülfing (wie Anm. 14), S. 239–240. Ebd., S. 220.
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Roland Berbig
Laube drei Jahre zuvor bereits »in seinem programmatischen Eröffnungsartikel«17 der Zeitung für die elegante Welt deklariert hatte. Dass sich diese Zeitbewegung »der armseligsten Aufklärerei«18 beschuldigen lassen musste, spiegelt die begriffliche Ankerung symptomatisch. Das war der ›Zeitgeist‹, der sich hinter Fontanes Wendung, man habe »unter den Anschauungen des vorigen Jahrhunderts« gestanden, verbarg, die »jugendliche Substanz einer Zeit«19, in der er selbst jung und unterwegs mit seinen ersten lyrischen Versuchen gewesen war. Etwas von jenem Lebensgefühl, das Heine, die Julirevolution 1830 vor Augen, in seiner Einleitung zu Kahldorf über den Adel in Briefen an den Grafen M. von Moltke auf so wundersame Weise gebannt hatte: In entlegene Klöster, Schlösser, Hansestädte und dergleichen letzte Schlupfwinkel des Mittelalters flüchten sich die unheimlichen Schatten und Gespenster, die Sonnenstrahlen blitzen, wir reiben uns die Augen, das holde Licht dringt uns ins Herz, das wache Leben umrauscht uns, wir sind erstaunt, wir befragen einander: ‒ Was taten wir in der vergangenen Nacht?20
Etwas also von diesem Daseinsempfinden lag auf Fontanes Anfängen. Nur fehlte bei ihm, anders als bei Heine, anders als bei den Jungdeutschen jener philosophische Vorlauf – und es fehlte jene bürgerliche Verankerung, zu der ein städtischer Kulturraum und akademische Bildung gehörten. In seinem »Burg«-Zyklus, der 1840 entstand und erst 1924 aus dem Nachlass veröffentlicht wurde, lädt »der liberale Trupp« ein Ich als vermuteten Gesinnungsgenossen (»Freiheitsjünger«) zu seiner nächsten Versammlung ein. Endlich schlug die Freiheitsstunde; hastig trat ich in das Zimmer; Tiefe Nacht war rings verbreitet, nirgends eines Lichtes Schimmer; Leise Stimme hört ich flüstern, düstre Schatten sah ich wallen; Vor der heil’gen Feme glaubt ich mich in diesen graus’gen Hallen.
Es ist das Ich, das durch ein kräftiges Niesen die Runde weckt, es ist das Ich, das »klar« sieht, und es ist das Ich, das »mutig, ob es gleich schon Nacht geworden«, mit einem »Guten Morgen«21 den Kreis und einen zu erhoffenden preußischen Frühling begrüßt. Der aufgeklärte Zeitgeist hat leibhaftige
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Ebd., S. 195. So in einer Streitschrift, die 1836 unter dem Titel »Votum über das junge Deutschland« erschien. Vgl. ebd., S. 170. In diesem Sinne hatte Hegel den Sachverhalt in seiner Vorlesung über die Geschichte der Philosophie im Wintersemester 1825/26 entwickelt und fortwirkend zu fassen gesucht. Vgl. ebd., S. 143. Heinrich Heine, Einleitung zu: [Robert Wesselhöft]: Kahldorf über den Adel in Briefen an den Grafen M. von Moltke, hrsg. von Heinrich Heine, Nürnberg 1831. Zitiert nach: Ders., Sämtliche Schriften, hrsg. von Klaus Briegleb, 2. Bd., hrsg. von Günter Häntzschel, 3., durchgesehene und ergänzte Ausgabe, München 1995, S. 655. Theodor Fontane, Burg. VI Die Liberalen, GBA, Gedichte 2, S. 235.
Fontane – Aufklärer, Verklärer, Erklärer
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Gestalt, zehn Jahre nach 1830 und acht vor 1848, aufgefrischt und wandlungsfähig: unwandelbar in der Metaphorik. »Mit Immanuel Kant«, so Hugo Aust, »verbindet Fontane vornehmlich die rigorose Ethik des Preußentums.«22 Der Satz, erhellend und dunkel zugleich, wirft ein Schlaglicht auf eine Verbindungsstelle zwischen dem Philosophen und Poeten und bleibt Schlagloch, sucht man nach der Zufahrt zu Kant-Erlesenem bei Fontane. Wie geflügelt war dessen Sentenz von der Aufklärung als dem »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«? Wie gängig dessen Definition von Unmündigkeit als dem »Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen«?23 Kant habe sich »als begnadeter Werbetexter«24 erwiesen, schreibt Steffen Martus lächelnd, er habe den »Slogan für die Aufklärung gefunden« ‒ und das durchaus in Opposition zum gängigen aufklärerischen Diskurs der Zeit. Der nämlich habe Sinnlichkeit und Erfahrung »philosophisch geadelt«, wo Kant, gekoppelt mit einem »gnadenlosen Willen zum System«25, auf den »Eigensinn der Verstandeskräfte« gesetzt habe. Was schrieb Fontane 1838 »Einem Freunde ins Stammbuch«? […] Mein Sentiment erkrankte und verschwand, Ich lernte ihm ein Schwanenlied zu singen, Und mit der Zeit beglückt mich noch ‒ Verstand.26
Nein, hier soll und darf Fontane nicht zu einem Nachkantianer gebogen werden. Aber wo der Gang seines Schreibens kleine Kurzschlüsse erzeugte, gehören sie vermerkt. So ist eben auch zu vermerken, dass Fontane mit seinen ›Preußenliedern‹, die in den vierziger Jahren entstanden und ihm ein Markenzeichen sicherten, eine latente Kant-Korrespondenz unterhielt. Der hatte immerhin das »Zeitalter der Aufklärung« und das »Jahrhundert Friedrichs« in einem Federzuge genannt und nicht angestanden, den preußischen König als denjenigen zu preisen, »der zuerst das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit […] entschlug und jedem frei ließ, sich in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen.«27 Der frühe Fontane ein Aufklärer? Im Geiste der Zeit gewiss, nicht minder im Gestus seiner veränderungswilligen Rhetorik, im Unbewussten erster Denk- und Schreibanläufe vielleicht auch, im Wissen und Bewussten
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Hugo Aust, Fontane und die Philosophie. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 394. Kant (wie Anm. 6), S. 9. Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert ‒ ein Epochenbild, Berlin 2018, S. 13. Ebd., S. 14. GBA, Gedichte 2, S. 195. Kant (wie Anm. 6), S. 16.
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gewiss nicht. Der späte Fontane gab sich noch einmal Mühe, Höflichkeitsmühe gegenüber dem Verfasser eines Kant-Buches. Und ›verlas‹ sich geradezu offenbarend, als er glaubte, in der »Erkenntniß des Intelligiblen gestützt auf eine vorher gewonnene Erkenntnistheorie des Sensiblen« Kants Methode begriffen zu haben, doch sich bald überzeugen musste, »daß es so ziemlich gerad’ umgekehrt läge […]«. Dass er dabei die historische Differenz zwischen Kant und seinen aufklärerischen Antipoden markierte,28 war ihm nicht bewusst – und es war im Grunde genommen auch egal. Es blieb die »aufrichtige Trauer […], in dieser höheren und feineren Welt nicht mitzukönnen.«29 Der war nur zu kontern mit jenem gesunden, aber ganz und gar unkantischen Menschenverstand, »daß bei Kritik und Aufklärung und auf den Grund gehen, gar nichts heraus kommt […]«, und der Verweigerung, Dinge mitzumachen, »von deren Hohlheit und Lüge ich durchdrungen bin.«30
Fontane, der Verklärer Regte sich bei dem Versuch, Fontane als Aufklärer zu bestimmen, leiser Widerstand ‒ als passte der eine zum Anderen nicht, bei allem allgemeinen Geltenlassen ‒, so muss die Kopplung an Verklärung kaum mit Einspruch rechnen. Es ist gar nicht nötig, die einschlägigen Studien zu seinem Erzählwerk aufzulisten, um über einen argumentativen Fundus zu verfügen. »Alle Realisten«, schreibt Aust, »stehen im Bann des Verklärungsgebots.« Verklärung, an sich religiös bzw. biblisch geprägt, scheide Kunst von Wirklichkeit schlechthin, verteidige deren »Autonomie« und hebe sie ab von »modernen Welterklärungen […] und technisch ausgefeilter Darstellungsmethoden«31. Statt »Abbildung einer nüchternen Wirklichkeit inklusive ihrer hässlichen Seiten stifte Verklärung durch die imaginative Kraft der Sprache eine andere, eine ›wahre Wirklichkeit‹32. Der Begriff »poetischer Realismus« sei un-
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Vgl. Martus (wie Anm. 24), S. 14–16. Theodor Fontane an Friedrich Paulsen, 1. Juni 1898. HFA IV/4, S. 722. Theodor Fontane an Martha Fontane, 13. März 1888. In: Theodor Fontane und Martha Fontane, Ein Familienbriefnetz. Hrsg. von Regina Dieterle, Berlin/New York 2002, S. 308. Diese Aussage hat dennoch Gewicht, weil sie erstens in einem bedeutsamen historischen Moment (Tod Wilhelms I.) getroffen wurde, und zweitens, weil sie existentiell bezogen war auf religiöse und konfessionelle Fragen. Hugo Aust, Realismus. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart/Weimar 2006, S. 75. Vgl. ebd., S. 76.
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ter diesem Blick geradezu ein Synonym für das, was Verklären und Wirklichkeitsbezug eine.33 In der diskursprägenden Zeitschrift Grenzboten las sich 1860 »Verklärung als Programm«34 auf diese Weise und mit diesen Worten: Der Zweck der Kunst, namentlich der Dichtkunst, ist, Ideale aufzustellen, d. h. Gestalten und Geschichten, deren Realität man wünschen muß, weil sie uns erheben, begeistern, ergötzen, belustigen usw.; das Mittel der Kunst ist der Realismus, d. h. eine der Natur abgelauschte Wahrheit, die uns überzeugt, so daß wir an die künstlerischen Ideale glauben.35
Dabei wurde Humor als eine Handhabe etabliert, die ihn zu einer ästhetischen Kraft werden ließ, und zwar als eine reflexionsbegabte, wirklichkeitsstiftende und versöhnende. Wolfgang Preisendanz’ Buch Humor als dichterische Einbildungskraft hat dafür die Formel geliefert und eine weit führende Spur gelegt.36 Und so weiter, ein vertrautes Feld. Die Realismuslinie, die von hier ausgeht und, formalisiert und funktionalisiert, Schülergenerationen auch noch die letzte Freude an Fontane verdorben hat, läuft fort und hat gegen allen Überdruss sein intellektuelles und Fachinteresse zu verteidigen gewusst.37 Aber wie merkwürdig: Die Hinwendung zum Verklärer Fontane hat umgehend zum Realismus geführt, als sei das eine ohne das andere nicht zu haben. Und wirklich, es scheint jener Text Fontanes aus dem Jahr 1853 zu sein, in dem er an das Charakteristikum der Zeit ‒ eben den Realismus ‒ das Verklären knüpfte: buchstäblich, als er Daniel Rauchs Denkmal Friedrichs II. noch jenem Entwicklungsstadium des nackten, prosaischen Realismus zuwies, »dem noch durchaus die poetische Verklärung«38 fehle, und übertragen, als er dem »echten Realismus« ‒ in Abwehr gegen die vormärzliche Tendenzkunst ‒ »Läuterung«39 als Qualitätssignum abverlangte. Dieser Aufsatz, dem das Schicksal nicht günstig war und auf den Fontane nicht mehr zurückkam, ist ein textuelles Sammelsurium. In ihm vereinen sich definitorische Klimmzüge, literaturhistorische Behelfskonstruktionen, Abstoßungsreflexe gegen die gerade hinter sich gelassene – wie zu sehen war –
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Darin eingeschlossen ist auch der sogenannte programmatische Realismus. Zu Recht charakterisiert Aust deren argumentative Verklärungs-Poetik als »brüchig, wenn nicht widersprüchlich, so daß der Wert der Verklärung in Theorie und Praxis fraglich bleibt.« Hugo Aust: Verklärung. In: Grawe, Nürnberger (wie Anm. 23), S. 427–429, hier S. 427. Hans-Joachim Ruckhäberle und Helmuth Widhammer, Roman und Romantheorie des deutschen Realismus. Darstellung und Dokumente, Kronberg 1977, S. 48. Julian Schmidt, Neue Romane. In: Die Grenzboten 19/4 (1860), S. 481–492, hier S. 481. Studien zur Erzählkunst des poetischen Realismus, München 1963. Das Buch erschien im selben Jahr bei Wilhelm Fink (München), der 1976 eine weitere Auflage besorgte. Vgl. etwa Peter Uwe Hohendahl und Ulrike Vedder (Hrsg.), Herausforderungen des Realismus. Theodor Fontanes Gesellschaftsromane, Freiburg 2018. [ungez.], Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848, NFA XXI/1, S. 8 Ebd., S. 12.
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dumpf aufklärerische, unterlegte Vormärzpoesie und -poetik mit literaturkritischen Freundschaftsdiensten für Lepel, Roquette und Storm. Beinahe ist man verführt, dieses Textkonglomerat selbst als einen schillernden Verklärungsakt zu lesen: nach außen mit Blick auf die zeitgenössische Kunst, nach innen mit Blick auf den vollzogenen poetologischen Bruch. Man hat immer wieder versucht, Brücken zwischen dieser zeit- und pflichtgebundenen Skizze und späteren Äußerungen Fontanes zu schlagen – etwa seiner in die Besprechung von Paul Lindaus Roman Der Zug nach dem Westen. Dort plädierte er dafür, »[…] daß zwischen dem erlebten und erdichteten Leben kein Unterschied ist, als der jener Intensität, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung und infolge davon jener Gefühlsintensität, die die verklärende Aufgabe der Kunst ist.«40 Aber der Boden, auf dem Aussagen wie diese gestellt wurden, war wechselvoll, und stabil genug, um aus dem Formulierten eine haltbare Formel zu destillieren, war er nicht. Dass Fontane sie der privaten Notiz oder dem persönlichen Brief vorenthielt, hatte seinen guten Grund. Das vereinfachende Experimentieren, wie in einem späten Brief an Spielhagen, das Realismus erst dann als »echt« begriff, wenn er sich statt mit der Hässlichkeit »umgekehrt mit der Schönheit vermählt und das nebenherlaufende Häßliche, das nun mal zum Leben gehört«41, verkläre, fällt unter diese Kategorie. Ein letztes Mal Aust: »Wahrscheinlich hat Fontanes Verständnis von Verklärung mehrere Bedeutungen.«42 Verklärung bei Fontane, das ist die eine Seite, die andere: Fontane als Verklärer. Das ästhetische Grundstrickmuster, das hier nur kurz in Erinnerung gebracht wurde, ist so simpel wie das seiner Schreibpraxis unter wandelnden Prämissen komplex. Um dem Verklärer wenigstens ansatzweise näher zu kommen, ist ebenfalls Erinnern nötig. Auf dem später ins Legendäre überhöhten Symposium »Theodor Fontane im literarischen Leben seiner Zeit« 1986 sorgte Peter Wruck mit seinem Beitrag über Fontane »in der Rolle des vaterländischen Schriftstellers«43 für einige Irritation. Das hätte man ihm gerne ausgeredet, zum Verbieten war es, historisch gesehen, zu spät. Neben die bewusste Entscheidung Fontanes für ein schriftstellerisches Sozialverhalten, das sich am Vaterländischen orientierte, lenkte Wruck den Blick auf die damit unmittelbar verbundene »patriotische Dichtung«44.
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Theodor Fontane, Der Zug nach dem Westen [Fassung aus dem Nachlaß], HFA III/1, S. 568–569. Theodor Fontane an Friedrich Spielhagen, 10. Oktober 1889, HFA IV/3, S. 729. Aust (wie Anm. 34), S. 428. Zuerst abgedruckt in: Peter Wruck, Theodor Fontane in der Rolle des vaterländischen Schriftstellers. Bemerkungen zum schriftstellerischen Sozialverhalten. In: FBl 44 (1987), S. 644–667. Weitere Abdrucke vgl. Wolfgang Rasch, Theodor Fontane Bibliographie. Werk und Forschung, 3 Bde., Berlin/New York et al. 2006. Ebd., S. 649.
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Nicht leicht widerlegbar, wies er auf die umfangreiche und vielgestaltige literarische Produktion Fontanes hin, »mit der er sich lange Jahre der schwarzweißen Preußenfahne unterstellte.«45 Im Zuge seiner aus den Londoner Jahren mitgebrachten Absicht, nunmehr »vaterländisches Leben künstlerisch […] gestalten«46 zu wollen, und deren Verwirklichung sei aus ihm der Schriftsteller geworden, noch einmal Wruck, »der sein öffentliches Gepräge von der preußisch-patriotischen Richtung seines Schaffens empfing.«47 Mit diesem Schritt, dem eine bewusste, willentliche Entscheidung den Grund gab, harmonierte ein dezidiertes Interesse für literarische Verklärungsverfahren: in bestem Gewissen und einer staatsbürgerlichen Souveränität, die erlaubte, über tagespolitische Niederungen und Niedrigkeiten, für die er den scharfen Blick behielt, hinwegzusehen und notfalls hinwegzuschreiben. Den Grad der Virtuosität, zu dem er es bei der Ausformung verklärender Schreibweisen brachte, dokumentieren die märkischen Bilder, die sich zu den Wanderungen durch die Mark Brandenburg mauserten und die flexibelste und umschreibungsreichste Textur bilden, die Fontane erzeugt hat. Sie sind ein Verklärungsgeniestreich sondersgleichen, dessen Wirkungskraft bis in unsere Tage anhält und noch am fontane.200-Jubiläumsgewand mitgeschneidert hat. Man hat ihnen eine »Ausnahmeerscheinung«48 attestiert, und Hubertus Fischer, ebenfalls schon 1986, hat unaufgeregt festgestellt, dass die Wanderungen »weder mit der Elle der historischen Kritik noch mit dem Maßstab des Wirklichen« gemessen werden wollen. Die Scholle ist für Fontane der Ort sedimentierter Geschichte, umweht vom Duft der Erinnerungen, Chiffre für gewünschte Dauer, erhoffte Stabilität, ersehnte Stille und in allem historisch-ästhetischer Fluchtpunkt in der sich zur breitesten Prosa entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft.49
Brandenburg erscheine als eine »›künstlich‹ stillgestellte Welt des poetischen Gegenscheins«. Wo Wruck das Politische aus Fontanes Schreibstrategien dieser mittleren Phase präzisierte, akzentuierte Fischer das »Programm einer […] preußisch-konservativen Pädagogik«.50 Durch demonstrative Konkretheit und unanfechtbare Realien, durch persönliche Anschauung vor Ort inszenierte und poetisierte, ästhetisierte und romantisierte Fontane – mit
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Ebd., S. 649. Theodor Fontane an Wilhelm von Merckel, 20. September 1858. Zitiert nach: Die Fontanes und die Merckels. Ein Familienbriefwechsel 1850‒1871. In zwei Bänden, hrsg. von Gotthard Erler, Bd. 2: 18. März 1858‒15. Juli 1870, Berlin/Weimar 1987, S. 120. Wruck (wie Anm. 43), S. 651. Peter Wruck, Wie Fontane die Mark entdeckte. In: FBl 74 (2002), S. 60. Hubertus Fischer, Gegen-Wanderungen. Streifzüge durch die Landschaft Fontanes, Frankfurt am Main/Berlin 1986, S. 8. Ebd., S. 18.
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einem Wort: verklärte er. Dass er daraus keinen Hehl machte, ist bezeugt und vielzitiert. Dennoch, noch einmal auch hier. Er habe, schrieb er siebzigjährig, das alte Preußen »durch mehr als 40 Jahre hin, in Kriegsbüchern, Biographien, Land- und Leute-Schilderungen und volkstümlichen Gedichten verherrlicht […]«51. Und es gab, da ließ sein Erzählwerk, das bis 1890 schon vorlag (von L’Adultera über Schach von Wuthenow bis zu Irrungen, Wirrungen), keinerlei Zweifel, genügend Gründe, die einer Verherrlichung bedurften … Brechen wir an dieser Stelle ab – aber mit der Zusicherung, dass zu Fontane dem Verklärer hier noch nicht das letzte Wort gesprochen ist ‒ und kommen wir zum dritten Akt:
Fontane, der Erklärer Wenn Fontane eins war und das so unbedingt wie mit Freuden, dann ‒ ein Erklärer. In diesem Habitus ging er auf und fand sich, wie er sich vorfinden wollte. Dass sich dahinter der Bedenkenträger, der Zweifler, der auch das Gegenteil Verstehende verbarg, tut hier nichts zur Sache. Wenn Fontane erklärte, suchte er nach Klärung: für sein Gegenüber wie für sich. Etwas plausibel zu machen, stabilisierte, und er bedurfte der Stabilisierung und wusste ein stabiles Umfeld zu schätzen. Dieser Wesenszug lässt sich früh ausmachen, im Alter hat er seine Höchstform erreicht. In der familiären Korrespondenz mit Frau und Tochter schmiedete er, gewissermaßen, seine Waffen. Fast beliebig kann man seine Briefe an Mete aufschlagen und stößt auf Sentenzen wie diese: Die Mecklenburger haben vor dem Märker mehr Wohlhabenheit und mehr breites Behagen voraus, alle Pfennigfuchserei fehlt, aber sie sind, trotz ihrer beßren Lebenslage, ledern und philiströs, während die Vorpommern das heiter und unterhaltlich Lebemännische bis zur Kunst ausgebildet haben. Die See thut nur das Halbe dazu […].52
Oder, eine Nummer größer: All den großen Sätzen in der Bergpredigt haftet zwar etwas Philiströses an, aber wenn ihre Weisheit richtig geübt wird, d. h. nicht in Feigheit sondern in stillem Muth, so sind sie doch das einzig Wahre und die ganze Größe des Christenthums
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Theodor Fontane an Heinrich Jacobi, 23. Januar 1890, HFA IV/4, S. 18. Theodor Fontane an Martha Fontane, 13. Juni 1891. In: Fontane, Familienbriefnetz (wie Anm. 30), S. 407 f.
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steckt in den paar Aussprüchen. […] Es ist auch recht gut so; nur für einen Schriftsteller, der vom Sätzebau lebt, hat es etwas Niederdrückendes.53
Fontane warf sich zum Ratgeber in allen Lebenslagen auf, der um keine Erklärung selbst unerklärlicher Phänomene verlegen war. Es mag dahingestellt bleiben, ob Frau, Sohn oder Tochter daran gesundeten oder in schwere, wenn nicht unheilbare Lebenskrankheiten verfielen. Ich bilde mir ein, in solchen Stücken auch ein Stück Doktor zu sein. […] Mit Pillen und Mixturen ist gar nichts zu machen und mit dem Genfer See womöglich noch weniger. […] Könntest Du Dienstag und Freitag eine Kegelpartie mit drei sehr klugen, sehr witzigen und sehr liebenswürdigen Menschen haben, so wärst Du in drei Monaten so gesund wie der Fisch im Wasser.54
Und so fort und so weiter. Wer eine Erklärung hat, hat in der Regel auch Rat, Fontane war dafür ein Musterbeispiel. Freilich, es konnte gefährlich werden, wenn der medizinischen Erklärung eine Heilungsrezeptur auf den Fuß folgte, bei der Kognak, Rot- und Weißwein zu medikamentösen Allheilmitteln reüssierten.55 Ins Erklären geriet Fontane, je älter er wurde, um so ausgiebiger, wenn es um Politik ging. Gesprächspartner, die ihm hier entgegenkamen, kamen auf ihre Kosten: in den Altersbriefen etwa James Morris, sein langjähriger Bekannter aus alten Londoner Tagen, der ihn mit britischen Presseschnipseln versorgte. Ihm erläuterte Fontane ›sein‹ England, das er in die europäische und weltgeschichtliche Gegenwart platzierte, analysierend, prognostizierend und stammtischelnd. Verführerisch an dieser Korrespondenz war, dass sie dem Erklärungsfreudigen ein Gesprächsthema von ganz anderem Kaliber als den familiären anbot ‒ die politische Weltlage mit England als Dreh- und Angelpunkt, obwohl: Nur Eines bitte ich sagen zu dürfen. Es scheint mir, daß die Engländer denselben Fehler machen wie die Franzosen ‒ sie ziehen nicht genugsam in Erwägung, daß Deutschland nicht mehr blos ein Begriff sondern eine starke Thatsache ist. […] Die Welt will sich nicht daran gewöhnen, mit der Thatsache zu rechnen, aber die Thatsache ist da.56
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Theodor Fontane an Martha Fontane, 24. August 1893. In: Ebd., S. 447. Theodor Fontane an Theodor Fontane jun., 25. Dezember 1895, HFA IV/4, S. 515. Vgl. etwa Theodor Fontane an Martha Fontane, 13. Juni 1896: »[…] gurgelt nur was das Zeug halten will und nehmt alle paar Stunden von 11 oder 12 Uhr an einen tüchtigen Schluck Rothwein. Und ein Glas guten Thee […] ohne Milch nur mit etwas Cognak. […]«. Zitiert nach: Fontane, Ein Familienbriefnetz (wie Anm. 30), S. 486. Theodor Fontane an James Morris, 18. Oktober 1896, HFA IV/4, S. 603–604.
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Wer hoffte, ihn hier im Alterserklärungsduktus und -diskurs auf einen Erklärungsnenner zu bringen, muss sich enttäuscht sehen. Der einerseits erklärte, dass die »neue, bessere Welt […] erst beim vierten Stand«57 anfange und das Genie Bismarck erledigt sei, erklärte im gleichen Atemzuge, dass »das preußische Königthum […] in geradezu überraschender Weise seine Festgewurzeltheit bewiesen«58 und eine Zukunft habe. Fontane war Erklärer aus Passion. Seiner Frau die Welt und ihr Wohl zu erklären und ihr Weh zu beheben, war ihm so sehr Bedürfnis, wie seiner Tochter die Neurosen ins verständige Wort zu übersetzen und einem Freund wie Wilhelm von Merckel den Freundeskreis – oder dem Georg Friedlaender seinen Schmiedeberger Lebenskreis vor Augen zu führen. Unterrichtet zu sein war ihm Lebensbedürfnis: vielleicht, weil ihm Wissen zu dürftig vermittelt worden war. Wer ein Bildungsmanko verspürt und um irreparable Lücken weiß, schult sich, sie auf eigene Faust zu schließen oder doch kunstreich zu kaschieren. Sich von Theodor Mommsen die Ehrendoktorurkunde übersetzen zu lassen, liest sich lustiger, als es war. Und Sohn Theodor 1881 zu bitten, seine »Latinität« zu aktivieren, um eine lateinische Sentenz für einen Wanderungen-Aufsatz zu prüfen, hatte sein Missliches: »Ich finde mich in diesen Ablativen und Dativen nicht zurecht.«59 Gleichzeitig verfügte Fontane über ausreichend Selbstbewusstsein, sich gute, wenn nicht beste Wissensnoten auszustellen: auch dies – zu Recht. Was er zu wissen begehrte und wusste, war ihm wissenswert, ja – notwendig auch für andere. Die Felder und die Medien, die sich mit ihr erreichen ließen, ermöglichten das. Mit der Mehrung und Qualifizierung medialer Möglichkeiten, die sich Fontane zu eigen machen wusste, verloren Akademie und Universität ihre privilegierte Stellung. Die neuen Medien, in denen sich Fontane bewegte, führten in Gesprächsräume, deren Ausgestaltung in seiner klärenden Hand lag und die ihm zur Bestimmung wurden: als Erklärender, als Popularisierender, als Medium. Eine »gutbesoldete Stellung an einer großen und einflußreichen Zeitung«, sei etwas »höchst Begehrenswertes«: Jeden Tag in wichtigen Fragen sich aussprechen und Tausende belehren und herüberziehn oder in ihren Anschauungen kräftigen zu können, Zustimmung finden,
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Theodor Fontane an James Morris, 22. Februar 1896, HFA IV/4, S. 539. Theodor Fontane an Georg Friedlaender, 1. Februar 1894. In: Theodor Fontane, Briefe an Georg Friedlaender, aufgrund der Edition von Kurt Schreinert und der Handschriften neu hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Walter Hettche, mit einem Essay von Thomas Mann, Frankfurt am Main/Leipzig 1994, S. 338. Theodor Fontane an Theodor Fontane jun., 26. Juli 1881. Zitiert nach: Theodor Fontane, Der Dichter über sein Werk. Hrsg. von Richard Brinkmann in Zusammenarbeit mit Waldtraud Wiethölter, durchgesehene und erweiterte Fassung, München 1977, S. 691.
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beleben, erheitern, ‒ das alles ist eine sehr schöne, herzerquickende Sache, viel mehr als Vorlesungen halten, die von den Kollegen bekrittelt […] werden.60
Der Erklärer erscheint in der Pose des seines Amtes verklärenden Aufklärers, ein modernes Zeitbild, in dem sich ein Selbstsinn spiegelte. Klarheit über einen Sachverhalt zu haben, konfigurierten Fontanes Schreibamt, dessen Vermittlungsrahmen sowie den Adressatenkreis, der sich in ihm platzieren ließ: von der Leserschaft der Zeitungen bis zum Freundes- und Bekanntenkreis. Fontanes Status blieb davon nicht unberührt, etwa »wenn aus meinem Sprechen mitunter ein Ton der Besserwisserei herausklingen mag […]«61 oder, wie ihm seine Frau vorhielt, wehe »der Unglücklichen die eine leichte Frage hinwirft, sie muß die eingehendste Abhandlung aushalten.«62 Fontane konterte, und er konterte auf charakteristische Weise. »Du weißt recht gut«, so sein Gegenwort, das mit einem Selbstbild replizierte, »daß ich […] den anderen an Wissen, Esprit und Gedanken überlegen bin, und ich verlange, daß man mir dies zugesteht«63. Die Erinnerung an eine Warteszene im Vorraum des Kultusministers, neben ihm ein Theologieprofessor, und der Bote, der gefragt hatte, ob man zusammengehöre, worauf der Professor sogleich »Nein« geantwortet habe: »indigniert und mit einem Ton, mit einem Ton … O daß ich diesen Ton vor Gericht stellen könnte!«64 ‒ diese Erinnerung, sie wollte sich nicht verlieren.
Epilog Ein Bogen ist zu schlagen, und die drei Zuschreibungen zu bündeln. Indem Fontane erklärte, verwandelte er, worüber er sprach, in Literarisches. Personen wurden zu Figuren, Lebendiges zu Literatur – die ungebärdige wirkliche Welt wurde überführt in eine gebändigte Kunstwelt. Und der dies betrieb, wurde dabei selbst zu einer Kunstfigur: Theodor Fontane und »Th: Fontane«. Hier der Mensch, unerreichbar, hier die Schrift, reich und reichlich. Der Akt des Erklärens veränderte den, der ihn betrieb. Das ist, vielleicht, eines der verblüffendsten Phänomene, das sich an Fontane beobachten lässt. Fontanes Maß als Erklärer seiner selbst ist unmäßig, wenn nicht maßlos. Eine Kompilation seiner Selbstäußerungen füllte einen dickleibigen
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Theodor Fontane an Georg Friedlaender, 9. Dezember 1890. In: Fontane (wie Anm. 59), S. 191. Theodor Fontane an Emilie Fontane, 10. Juni 1878, GBA – Ehebriefwechsel 3, S. 110. Emilie Fontane an Theodor Fontane, 11. Juni 1878, ebd., S. 112. Theodor Fontane an Emilie Fontane, 12. Juni 1878, ebd., S. 116. Theodor Fontane, Die gesellschaftliche Stellung des Schriftstellers in Deutschland. [1881]. In: Ders., Aufzeichnungen zur Literatur. Ungedrucktes und Unbekanntes. Hrsg. von Hans-Heinrich Reuter, Berlin/Weimar 1969, S. 183.
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Band, mindestens. Und nirgends gewann es so verzaubernde Gestalt wie in dem altgewordenen Briefschreiber, eine schriftstellerische Erfindung.65 Aufklärend und erklärend brachte der Schreibende ein Ich hervor, das reich an Verklärungspotential war. Ein Zauber, dem die Zeitgenossen und, fast scheint es noch entschiedener, die Nachwelt erlag und erliegt. Wer über genügend Übermut verfügt, der wird unerschrocken von einer sich verklärenden Existenz sprechen wollen, ohne das Säkularisierende in Abrede zu stellen. Trotz solcher verbalen Brachialitäten wie das »Unheil, das Lessing mit seiner Geschichte von den drei Ringen angerichtet« habe, sei kolossal und Schillers »seid umschlungen Millionen« ein »Unsinn«,66 wurzelte Fontanes philosophischer Haushalt im »Age of Enlightment«, im »Siècle des lumières«, im Jahrhundert der Aufklärung. Und obwohl dieser Haushalt eher einer Hausapotheke glich, erwies sich Fontane mit ihm als passabel ausgerüstet. Er hielt Wirkstoffe bereit, die eine individuelle, intellektuelle und künstlerische Geisteshaltung aktivierten, die den entfesselten epochalen Umbrüchen begegnete, ohne vor ihnen zu kapitulieren. Dass in ihr der Aufklärer, der Verklärer und der Erklärer untrennbar vermischt wurden, dimensioniert die Übermacht des Gegenübers, dessen Gewalt und Gewaltsamkeit ein Euphemismus wie ›Moderne‹ verklärt. »Nur der Irrthum ist das Leben und die Wahrheit ist der Tod« ‒ diese Sentenz zitierte Fontane seiner Tochter wiederholt, 1888 und 1893. Sie sei, schrieb er, »das Tiefste, was je über Mensch und Menschendinge gesagt worden« sei. Und er fügte hinzu: »zugleich auch das Traurigste.«67 Allein, in Schillers »Kassandra« heißt es »Und das Wissen ist der Tod«.68 Statt Wissen Wahrheit: Fontane verschob den Schiller’schen Sinn, ohne ihn aufzuheben, über den Abgrund, der alles Dasein dunkelt. Wo Schillers Kassandra über ihr Wissen verzweifelt klagt, das jeder Stunde das »fröhlich Leben« nahm, und sich ihre »Blindheit« zurückwünscht, vermochte Fontanes »Wissen« nichts gegen die Wahrheit Tod, die das Lebensrätsel ungelöst hinterlässt. Anfang der neunziger Jahre hielt er den Gedanken in Versen fest,
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Das ist früh bemerkt, wenn auch nicht immer ausgesprochen worden. Helmuth Nürnberger hat in seinem nach wie vor mit Gewinn zu lesenden Aufsatz »Fontanes Briefstil« sowohl ein historisches als auch ein systematisches Porträt des Epistolographen Fontane skizziert. Zuerst in: Hugo Aust (Hrsg.), Fontane aus heutiger Sicht. Analysen und Interpretationen seines Werks. Zehn Beiträge, München 1980, S. 56–80. Wiederabgedruckt in: HFA IV/1, S. 723–744. Theodor Fontane an Emilie Fontane, 12. August 1883, GBA – Ehebriefwechsel, Bd. 3, S. 363. Theodor Fontane an Martha Fontane, 13. März 1888, Fontane, Ein Familienbriefnetz (wie Anm. 30), S. 308. Die selbe Wendung, da nicht als Zitat ausgewiesen, findet sich in seinem Brief an die Tochter vom 24. August 1893 (S. 448). Zitiert nach: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, 1. Bd.: Gedichte / Dramen I, 8., durchgesehene Auflage, München 1987, S. 358. Meine Hervorhebung.
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die zu Lebzeiten unveröffentlicht blieben und unter dem Titel standen: »Umsonst«: Immer rascher fliegt der Funke, Jede Dschunke und Spelunke Wird auf Wissenschaft bereist, Jede Sonne wird gewogen, Und in Rechnung selbst gezogen, Was noch sonnenjenseits kreist. Immer höhre Wissenstempel, Immer richt’ger die Exempel, Wie Natur es draußen treibt, Immer klüger und gescheiter, Und wir kommen doch nicht weiter, Und das Lebensrätsel bleibt.69
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GBA, Gedichte 2, S. 487.
»... und spielt sich trotzdem auf Aufklärung und Liberalismus aus« Politisches und Polemisches bei Theodor Fontane Hubertus Fischer I. In Unwiederbringlich spricht Ebba von Rosenberg über Holks »Halbheit« und lässt dabei die Bemerkung fallen: »[...] er ist der leibhafte genealogische Kalender, der alle Rosenberge, den Filehner Zweig abgerechnet, am Schnürchen herzuzählen weiß und spielt sich trotzdem auf Aufklärung und Liberalismus aus«.1 Die kleine Szene bietet willkommenen Anlass, auf das Verhältnis des Erfinders dieser Szene zu Liberalismus und Aufklärung einzugehen. Dabei zeigt sich, dass er sich einmal an prominenter Stelle gleichermaßen ›auf Liberalismus ausspielt‹, und dies mit ähnlich fragwürdigem Recht wie seine Romanfigur. Was der Zweck dieses Ausspielens ist, wird zu klären sein, um dann seiner tatsächlichen Beziehung zum Liberalismus nachzugehen. Seine Haltung gegenüber der Aufklärung wird in diesem Zusammenhang ebenfalls anzusprechen sein. In dem hier herangezogenen Fall kann man die These wagen, dass diese Haltung sich zu einem Komplex verdichtet, in dem die Antipathien gegen Aufklärung, Liberalismus und die sogenannte »Judenherrschaft« nah beieinander stehen. Es wird also um »Politisches und Polemisches« gehen; einige allgemeine Bemerkungen werden den Abschluss bilden. Das Literarische kommt dabei notwendigerweise zu kurz. Immerhin klingt in dem Eingangszitat die entscheidende Trias an: Aufklärung, Liberalismus und der »Filehner Zweig«, der im Verständnis der damaligen Zeit auf meist aus ärmlichen Verhältnissen aufgestiegene Juden verweist. 2 »Filehne« funktioniert dabei als toponymisches Signal für das »Großherzogthum Posen«, später Provinz Posen, die im 19. Jahrhundert eine größere Anzahl »naturalisierter Israeliten« aufweist, darunter 1836 einen Isaac Lewin
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Theodor Fontane, Unwiederbringlich, GBA, Das erzählerische Werk 13, S. 154. Der Aufstieg von Juden nach ihren östlichen Herkunftsorten »Rogasen«, »Krotoschin«, »Podolien« etc. wird in dem 1892–1898 entstandenen Gedicht Haus- und Gartenfronten in Berlin W. thematisiert; vgl. Theodor Fontane, GBA, Gedichte 2, S. 483.
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Rosenberg, Kantor und Schächter, und einen Moses Jacob Rosenberg, Handelsmann.3 Dass es die alten Familien von Rosenberg-Lipinsky und von RosenbergGruszczynski, beide polnischen Ursprungs (Stamm »Herb Poray«), in Preußen gab,4 bietet hingegen Holk Gelegenheit, als Kenner des genealogischen Kalenders zu brillieren – um sich in Gegenwart Ebba von Rosenbergs gründlich zu blamieren, als er ihren, den »Filehner Zweig«, schlichtweg übergeht, obwohl er sich frei und vorurteilslos gibt. Der Erzähler beeilt sich denn auch hinzuzufügen: »Holk war krasser Aristokrat, der nie zögerte, den Fortbestand seiner Familie mit dem Fortbestand der göttlichen Weltordnung in den innigsten Zusammenhang zu bringen«.5 Mit »Aufklärung und Liberalismus« war das jedoch schwerlich in Einklang zu bringen. Die Szene wird hier zur Sprache gebracht, weil unter dem Leitmotto und Leitthema »Ach, die Wahrheit«. Theodor Fontane und das Erbe der Aufklärung6 der Wahrheit die Ehre zu geben ist, dass Fontane, zwar auf anderer Ebene und auf andere Weise, ein zeitweilig ebenso zweideutiges wie auch schwieriges Verhältnis zu »Aufklärung und Liberalismus« unterhalten hat. An eine systematische Analyse ist dabei nicht gedacht; dafür bleibt die Untersuchung dem Wort und der Sache auf der Spur und weicht nicht vorschnell in ›Ambivalenzen‹ aus. Nehmen wir die Eingangsbemerkung wieder auf: An welcher Stelle spielte sich Fontane auf »Liberalismus« aus, und zu welchem Zweck tat er das? Im Unterschied zu seiner Romanfigur wusste er jedenfalls seine Worte zu wägen. Außerdem kannte er sich in den politischen Verhältnissen aus.7 Das ergab sich bereits aus seiner jahrzehntelangen Arbeit für Zeitungen unterschiedlicher politischer Richtungen. Umso mehr fallen die Fehlurteile ins Auge, die er in Von Zwanzig bis Dreißig über die politische Einstellung ihm vertrauter Personen fällte. Das gilt für Wilhelm von Merckel und Louis Schneider, berührt aber auch andere ihm näher bekannte Zeitgenossen. Doch das geschah nicht ohne Grund, denn es waren Gönner und Förderer, denen gegenüber er seine Position bestimmen musste. Je weniger ihr royalistisches bis antidemokratisches Profil – »Gegen Demokraten / Helfen nur Soldaten«8 – sichtbar wurde, desto leichter konnte Fontane über Brüche
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Isidor Hirschberg, Verzeichniß sämmtlicher naturalisierten Israeliten im Großherzogthum Posen, Bromberg 1836, S. 109, 121. Vgl. H. A. A. von Rosenberg-Lipinsky, Genealogische Nachrichten über die Familie von RosenbergLipinsky, Berlin 1859; zu den von Rosenberg-Gruszczynski vgl. Genealogisches Taschenbuch der Ritter- und Adelsgeschlechter, Bd. 2, Brünn 1877, S. 621–623; Bd. 3, 1878, S. 646–648. Fontane, Unwiederbringlich, S. 115. So lautete der Titel des Symposiums, aus dem der Sammelband hervorgegangen ist. Das Folgende teilweise nach: Hubertus Fischer, Konservativismus. In: Rolf Parr/Gabriele Radecke et al., Theodor-Fontane-Handbuch, Berlin/Boston [in Vorbereitung]. Wilhelm von Merckel, Die fünfte Zunft. In: Ders., Zwanzig Gedichte, Berlin 1850, S. 58–60, hier
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und Widersprüche in der eigenen Biografie hinwegerzählen. Die Camouflage folgte der Formel »liberal«. Der royalistische Hofvorleser Schneider sollte »im wesentlichen liberal mit Anlehnung an Rußland«9, der beamtenkonservative Merckel, »wenn auch freilich auf etwas altmodische Weise, für ›Freiheit‹«10 gewesen sein.11 Allgemein heißt es von den hier in Rede stehenden Mitgliedern des Tunnels: »Die Tunnelleute waren, wie die meisten gebildeten Preußen, von einer im wesentlichen auf das nationalliberale Programm hinauslaufenden Gesinnung.«12 Der Generalnenner war gefunden, auf den der Autobiograf einschwenken konnte: »Meine politischen Anschauungen – allerdings zu allen Zeiten etwas wackliger Natur – haben sich meist mit dem Nationalliberalismus gedeckt, trotzdem ich zu demselben […] niemals in rechte Beziehungen getreten bin. Also eigentlich nationalliberal.« 13 So wenig wie im Tunnel der »Nationalliberalismus« jemals den Ton angab, so wenig war Fontane »eigentlich nationalliberal«. Er hat sich, mal stärker, mal schwächer, am Liberalismus gerieben und in entscheidenden Situationen gegen ihn gestellt. Die Passage über seine »politischen Anschauungen« sendet bei näherem Hinsehen Unbestimmtheitssignale – »etwas wackliger Natur«, »niemals in rechte Beziehungen«, »eigentlich« – aus, die die Camouflage wenigstens ahnen lassen. Sie mochte schon deswegen geboten sein, weil es anders geartete öffentliche Bekundungen und Lebenszeugnisse gab. Aber wer kannte sie noch oder erinnerte sich daran? 1898, beim Erscheinen der Autobiografie, werden es nicht mehr viele gewesen sein.
II. Aus einer innenpolitisch äußerst kritischen Situation rührt der Handzettel her (Abb. 1), der Fontane als konservativen Wahlmannskandidaten für die Urwahl am 28. April 1862 empfahl. Der Höhepunkt des preußischen Verfassungskonflikts bahnte sich an, nachdem die Heeresreform die Frage der Machtverteilung zwischen Krone und Parlament auf die Tagesordnung gesetzt hatte und die preußische Monarchie in ihre schwerste Krise seit der Märzrevolution von 1848 trieb. König Wilhelm I. hatte das Parlament am 11. März 1862 aufgelöst, weil dieses ihm mit seiner liberalen Mehrheit das
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S. 60. Theodor Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches, GBA, Autobiographisches Werk 3, S. 262 (Hervorh. im Orig.). Ebd., S. 340. Vgl. Hubertus Fischer, Theodor Fontane, der »Tunnel«, die Revolution: Berlin 1848/49, Berlin 2009, S. 161–171, 231–253. GBA, Autobiographisches Werk 3, S. 283. Ebd., S. 303–304.
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für die Heeresreform benötigte Budget verweigert hatte. Fontane trat daraufhin in dieser verfassungspolitisch zugespitzten Situation gegen die liberale Deutsche Fortschrittspartei, die erste moderne Partei in Deutschland, unter dem alten Kampfruf der Befreiungskriege an: »Mit Gott für König und Vaterland! / Dies ist der Wahlspruch der Conservativen, welche im Sinne des Königlichen Erlasses vom 19. März in dem zeitgemäßen und organischen Ausbau der Verfassung, nicht im Umsturz des Bestehenden, die Wohlfahrt des Vaterlandes suchen.«14 An einen »Umsturz« hatten die Liberalen nicht gedacht, wohl aber an das, was die Verfassung dem Parlament an Rechten gab.
Abb. 1: Handzettel für die Urwahl zum Preußischen Abgeordnetenhaus am 28. April 1862 (Teilnachlass Leopold von Ledebur; im Besitz des Verf.).
Abb. 2: »Die Vereinigten Wappen der deutschen Fortschrittspartei und des National=Vereins», Karikatur aus: Der kleine Reaktionär, Nr. 8, 22. November 1862 (im Besitz des Verf.).
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Heide Streiter-Buscher, Zur Einführung. In: Dies. (Hrsg.), Theodor Fontane: Unechte Korrespondenzen, 2 Bde. Berlin/New York 1996, S. 1–66, hier S. 16.
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Abb. 3: Leopold Freiherr von Ledebur (1799–1877), 1844, möglicherweise eine Arbeit des Berliner Malers Franz Krüger (1797–1857) (Aufbewahrungsort unbekannt).
Verbunden war mit Fontanes Kandidatur eine Kampagne, die in Flugblättern des antiliberalen und antisemitischen Preußischen Volks-Vereins 15 zum Ausdruck kam. Hier eine Karikatur (Abb. 2) aus seinem publizistischen Umfeld, dem Kleinen Reaktionär – Illustrirtes humoristisch-satyrisches Wochenblatt für die conservative Partei16, die die Deutsche Fortschrittspartei und den liberalen Deutschen Nationalverein als Werkzeuge des jüdischen Wuchers und Börsenkapitals darstellt. Den Flugblättern des Preußischen Volks-Vereins war ein Schreiben beigelegt, wonach es allein noch darum gehen sollte, »alle Konservativen, d. h. Alle, welche die destruktiven und zersetzenden Tendenzen
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Vgl. Henning Albrecht, Antiliberalismus und Antisemitismus. Hermann Wagener und die preußischen Sozialkonservativen 1855–1873, Paderborn 2010, S. 331–359 (»Der Preußische Volksverein [1861–1867]«). Vgl. ebd., S. 360–407; siehe schon: Hubertus Fischer, ›Der kleine Reaktionär. Illustrirtes humoristisch-satyrisches Wochenblatt für die conservative Partei‹ – Antisemitische Agitation im preußischen Verfassungskonflikt 1862/63. In: Ders. und Florian Vaßen (Hrsg.), Politik, Porträt, Physiologie. Facetten der europäischen Karikatur im Vor- und Nachmärz, Bielefeld 2010, S. 319–378; ders., Berthold Auerbach und das Uhlandfest im Spiegel des ›Kleinen Reactionär‹. Liberales Gedenken und antisemitische Polemik. In: Euphorion 103/1 (2009), S. 51–61; ders., »Vom polnischen Kriegsschauplatze«. Der Januaraufstand 1863 im ›Münchener Punsch‹ und im ›Kleinen Reaktionär‹. In: Eward Bialek/Manfred Durzak et al. (Hrsg), Literatur im Zeugenstand. Beiträge zur deutschsprachigen Literatur und Kulturgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Hubert Orłowski, Frankfurt am Main 2002, S. 227–255.
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der Demokratie verwerfen, um eine Allen gemeinschaftliche Fahne zu sammeln«.17 Das Schreiben unterzeichnet hatten neben »Fontane, Schriftsteller« Mitkandidaten bei der Urwahl am 28. April 1862, darunter sein Mitbwohner in der Tempelhofer Straße 51, Freiherr Leopold von Ledebur (Abb. 3), Direktor der Königlichen Kunstkammer und Mitglied des Central-Comités für conservative Wahlen in Berlin.18 Nicht nur die liberale National-Zeitung berichtete über die Wahlkampagne der Gruppe um den seit 1848 in konservativen Vereinen aktiven Kunstkammerdirektor, auch der Kladderadatsch, mit einer Auflage von 37.000 eine öffentliche Macht, reagierte mit einer Karikatur (Abb. 4). Sie zeigte Fontane (vierte Figur von rechts) und seine Mitstreiter bei dem angestrengten Bemühen, einen Wahlmann der Konservativen aus der Urne zu ziehen.19 So viel öffentliche Aufmerksamkeit hatte Fontanes demokratische Wahlmannskandidatur im Jahr 1848 für die Deutsche Nationalversammlung nicht auf sich gezogen. Umso mehr Grund hatte er, die 1862 bezogene Gegenposition in Von Zwanzig bis Dreißig zu verschweigen.
Abb. 4: »Nur mit der größten Anstrengung gehen aus der Wahlurne einige feudale Wahlmänner hervor«, Karikatur aus: Kladderadatsch, Nr. 19, 27. April 1862.
Als Fontane an seiner Autobiografie schrieb, stand die Kreuz-Zeitung wegen der »Hammerstein-Affäre« (1895/96) in denkbar schlechtem Ruf. Eine zu
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Zitiert nach: Streiter-Buscher (wie Anm. 14), S. 17. Vgl. Hubertus Fischer, »Mit Gott für König und Vaterland!« Zum politischen Fontane der Jahre 1861 bis 1863. 1. Teil. In: Fontane Blätter 58 (1994), S. 62–88; 2. Teil. In: FBl 59 (1995), S. 59–84; ders., Leopold Freiherr von Ledebur (1799–1877). Landeshistoriker, Archäologe, Genealoge und Museologe. In: Friedrich Beck und Klaus Neitmann (Hrsg.), Lebensbilder brandenburgischer Archivare und Landeshistoriker, Berlin 2013, S. 31–39. Vgl. Streiter-Buscher (wie Anm. 14), S. 18.
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enge Beziehung zu ihrem politischen Umfeld, auch wenn sie Jahrzehnte zurücklag, konnte da nur störend wirken. Auf das »Nationalliberale« – so ganz im Ungefähren bleibend, eben »etwas wackliger Natur« – ließ sich die gebildete bürgerliche Leserschaft sicherlich lieber ein. Aber wie konnte Fontane den »Tunnelleute[n] […] eine im wesentlichen auf das nationalliberale Programm hinauslaufende Gesinnung« attestieren, wenn dieses Programm erst 1868 verabschiedet wurde, als Fontane an den Sitzungen des Tunnels schon seit Jahren nicht mehr teilnahm? Doch nur, wenn er damit eine Absicht verband, und diese Absicht des Camouflierens gibt sich noch deutlicher zu erkennen, wenn man die soeben genannten Zeitumstände in Rechnung stellt.
Abb. 5: Deutsches Montags=Blatt, Nr. 23, 9. Juni 1884.
III. Die 1860er Jahre sahen Fontane von seinem Eintritt in die Kreuz-Zeitung bis zu seiner Kündigung, ohne neuerliches politisches Hervortreten, im konservativen Lager. Dazu musste er weder orthodox noch fromm sein, sondern nur der Generallinie des Blattes folgen. Für die Blattmacher war jedoch
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immer klar, wenn es um Herz und Kopf der Kreuz-Zeitung ging: »Die Bibel, nicht die Aufklärung bildete das Fundament ihrer politischen Weltanschauung«.20 Gesicherte Existenz und ein gesicherter politisch-gesellschaftlicher Rahmen des journalistischen und literarischen Schreibens schufen die Voraussetzungen für die «Rolle des vaterländischen Schriftstellers«21 und des erfolgreichen Wanderungen-Autors des nächsten Jahrzehnts. Mit den Wanderungen bildete sich eine Grundschicht konservativen Denkens heraus, die ein lebensgeschichtliches Kontinuum darstellt, denn sie wanderte bis an das Lebensende mit. Hätte er als sein letztes Buch Das Ländchen Friesack und die Bredows hinterlassen – das Fontane-Bild sähe heute wohl anders aus. Gegenüber »Fortschritt« und »Freisinn«, dem Linksliberalismus, blieb es bei den »verdammten politischen Unterschiede[n]«22, wie Fontane 1889 in einem Brief an den Chefredakteur der Vossischen hervorhob. Aber auch zum rechten Liberalismus, den Nationalliberalen, hatte er trotz der Freundschaft mit dem Reichstagsabgeordneten Friedrich Witte keine engere Beziehung, obwohl er sie als ›staatstragende‹ Partei respektierte. Sie war es indes nur ein Jahrzehnt, von 1868 bis 1878, in welchem Jahr es zum Bruch mit Bismarck kam, als dieser mit seinen innenpolitischen und protektionistischen Maßnahmen eine konservative Wende einleitete. Zwar wissen wir nicht, wie Fontane gewählt hat, aber die Wichtigkeit der Wahl zum 4. Reichstag Ende Juni 1878 war ihm bewusst: »Diesmal gilt es.«23 Wo seine Sympathien lagen, hat er klar bekannt: »Wenn er [Bismarck] niest oder Prosit sagt, finde ich es interessanter als die Redeweisheit von 6 Fortschrittlern.«24 Den im Liberalismus beheimateten Börsen- und Bankenkreisen stand Fontane ohnehin fern und zugleich reserviert gegenüber, von seiner früheren »tiefen Abneigung gegen […] Professorenliberalismus«25 zu schweigen. Was über die Finanzwelt im Kaiserreich gesagt worden ist, zeigt, wie eng an dieser Stelle der Liberalismus wiederum mit der »Judenfrage« verbunden ist. »Ihre politische Heimat fand die Finanzwelt in ihrer großen Mehrheit beim Liberalismus, der für die starke jüdische Minderheit im Bankwesen eng mit dem Kampf um die Emanzipation und mit der Abwehr des Antisemitismus
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Dagmar Bussiek, »Mit Gott für König und Vaterland!« Die Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung) 1848–1892, Münster 2002, S. 295. Peter Wruck, Theodor Fontane in der Rolle des vaterländischen Schriftstellers. In: Friedhilde Krause (Hrsg), Theodor Fontane im literarischen Leben seiner Zeit. Beiträge zur Fontane-Konferenz vom 17. bis 20. Juni 1986 in Potsdam. Mit einem Vorwort von Otfried Keiler, Berlin 1987, S. 1–39. Theodor Fontane an Friedrich Stephany, 24. Juni 1884, HFA IV/3, S. 701. Theodor Fontane an Emilie Fontane, 24. Juni 1878, GBA, Ehebriefwechsel 3, S. 138–139, hier S. 139. Theodor Fontane an Martha Fontane, 16. März 1884, HFA IV/3, S. 301–304, hier S. 303. Theodor Fontane an Martha Fontane, 18. April 1884, HFA IV/3, S. 314–316, hier S. 314.
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verbunden war.«26 Gebunden fühlte sich Fontane nach wie vor an die »conservative Partei». Als er 1884 dem im Mosse-Verlag erscheinenden freisinnigen Deutschen Montags=Blatt (Abb. 5) journalistische Qualität attestierte, bemerkte er gegenüber seiner Frau Emilie: Ich schreibe dies alles im Hinblick auf die Kreuz-Ztng. und die conservative Partei. Schließlich gehör‘ ich doch diesen Leuten zu und trotz ihrer enormen Fehler bleiben märkische Junker und Landpastoren meine Ideale, meine stille Liebe. Aber wie wenig geschieht, um diese wundervollen Elemente geistig standesgemäß zu vertreten. Es ist mir das immer ein wirklicher Schmerz. Das conservative Fühlen unsrer alten Provinzen wäre von unwiderstehlicher Kraft, wenn die Leute da wären, diesem Gefühl zu einem richtigen Ausdruck zu verhelfen.27
Im vertrauten Verkehr geäußerte Bekenntnisse sind im Zweifelsfall höher zu bewerten als politische Selbsteinschätzungen mit gelegentlich taktischer Adressatenorientierung. Fontane sah und fühlte sich – nach Vor dem Sturm, Grete Minde und Ellernklipp, nach L'Adultera, Schach von Wuthenow und Graf Petöfy – politisch noch immer der »conservative[n] Partei« zugehörig – auch wenn er für die Vossische Theaterkritiken, Gedichte, Kriegsberichte und Rezensionen schrieb. Er wünschte sich, als er bereits mit der Arbeit an Irrungen, Wirrungen befasst war, dass dem »conservative[n] Fühlen« profilierte Journalisten erwachsen würden, um diesem »Gefühl« eine wirksame Stimme zu verleihen. Zuletzt fanden Fontanes politische Anschauungen immer weniger Rückhalt in den gewandelten politischen Verhältnissen. Was blieb, war die Kritik am Liberalismus und seinem Gesetzesformalismus: »Die Junker-, die Zentrums-, und die sozialdemokratische Opposition lasse ich mir gefallen; da ist Muck drin; die fortschrittliche Opposition, die alles von der Existenz eines ›Paragraphen‹, des Entsetzlichsten, was es gibt, abhängig macht, ist einfach ridikül.«28 Fontane bezog dies wohl auf die Haltung der Vossischen, die am Tag zuvor, dem 5. Dezember 1894, in ihrem Leitartikel »Die Eröffnung des Reichstages« hatte verlauten lassen: »[...] Graf Eulenburg will nur eine Gewaltthat der Fürsten, einen Verfassungsbruch, um die Volksvertretung auf neue Grundlagen zu stellen. Wäre das noch eine Volksvertretung, die nicht auf dem Recht und Gesetz, sondern auf der Willkür und Gewalt
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Morten Reitmayer, Die politische Einflussnahme der Banken im Kaiserreich. In: Bankhistorisches Archiv. Zeitschrift für Banken- und Finanzgeschichte, Beih. 44: Bankenlobbyismus, Stuttgart 2004, S. 19–30, hier S. 22. Theodor Fontane an Emilie Fontane, 10. Juni 1884, GBA, Ehebriefwechsel 3, S. 387–388, hier S. 388. Theodor Fontane an Paul und Paula Schlenther, 6. Dezember 1894, HFA IV/4, S. 404–406, hier S. 404.
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beruhte?« 29 Was Fontane das »Entsetzlichste« nannte, die »Existenz eines ›Paragraphen‹«, und als »einfach ridikül« abtat, war der »liberale Gedanke, daß der Gesetzesformalismus eine Beschränkung von Staatstätigkeit bedeutet«.30 Berücksichtigt man diesen Kontext, so begreift man, dass die Wendung gegen die »fortschrittliche Opposition« auf der Anschauung beruhte, dass dem staatlichen Handeln keine ›unnötigen‹ Fesseln durch »Recht und Gesetz« angelegt werden sollten.
IV. Liegen die Wurzeln des Liberalismus auch in der Aufklärung, so kommt ihr im vorliegenden Zusammenhang doch nur subsidiäre Bedeutung zu. Fontanes Polemik gegen die »Afterweisheit« bedarf gleichwohl einer näheren Betrachtung: »Zu diesen Herrlichkeiten, an denen meine Seele lutscht wie an einem Bonbon, gehört auch der immer mehr zu Tage tretende Bankrutt der Afterweisheit des vorigen Jahrhunderts.«31 Das reiht sich auf den ersten Blick in die Tradition der Aufklärungskritik ein, spricht der Aufklärung aber genau besehen ein Urteil: »Bankrutt«. Um den Unterschied deutlich zu machen, sei hier auf Hegels frühes Fragment Aufklärung – Wirkenwollen durch Verstand verwiesen. Trotz seiner Invektiven gegen die (spät)aufklärerische Pädagogik gibt er sich darin nicht als Aufklärungsgegner, sondern als ihr Verteidiger gegen ihre Degenerationsformen und deren Wortführer zu erkennen: »Wenn Aufklärung das leisten soll, was ihre großen Lobredner von ihr ausgeben, wenn sie ihre Lobsprüche verdienen soll, so ist es wahre Weisheit, sonst bleibt sie gemeinhin Afterweisheit«. 32 Er erhebt wie Fontane Einspruch, aber Einspruch im Namen einer ›wahren‹ Aufklärung, die in Rousseau ihren Vordenker hat: [...] wer dabei mit den Worten, als da sind Aufklärung, Menschenkenntnis, Geschichte der Menschheit, Glückseligkeit, Vollkommenheit, immer um sich wirft, ist weiter nichts als ein Schwätzer der Aufklärung, ein Marktschreier, der schale Universalmedizin feilbietet – sie speisen einander mit kahlen Worten und übersehen das heilige, das zarte Gebilde der menschlichen Empfindung.33
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[Ungez.], Die Eröffnung des Reichstages. In: Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, Nr. 568, Morgen-Ausgabe, Mittwoch, den 5. Dezember 1894. Sybille Tönnies, Fair trial oder Kann die Flucht in die Generalklausel gegen Kabinettsjustiz helfen? In: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP), 23. Jg. (1990), H. 8, S. 292–295, hier S. 294–295. Theodor Fontane an Emilie Fontane, 12. August 1883, GBA, Ehebriefwechsel 3, S. 362–364, hier S. 363. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Frühe Schriften, Frankfurt am Main 1971, S. 26. Ebd., S. 27.
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Fontanes Ausfall gegen die »Afterweisheit des vorigen Jahrhunderts« ist dagegen weniger als intellektuelle denn als politische Auseinandersetzung mit der Aufklärung und ihren Folgen zu verstehen. Berücksichtigt man den Kontext, dann spricht sich darin nämlich die Ablehnung des aus religiöser Toleranz gespeisten säkularen, allgemeinen Staatsbürgerbegriffs aus, der keine Scheidungen und Unterscheidungen nach Religionen kennt. 34 Lessings Nathan muss es ihm büßen, da die Gewährung gleicher Rechte an alle Bürger einschließlich der Juden in der Konsequenz eben des Toleranzgebotes lag: »Das Unheil, das Lessing mit seiner Geschichte von den drei Ringen angerichtet hat, um nur einen Punkt herauszugreifen, ist kolossal«.35 Entgegengesetzt fällt das Urteil Hegels im Fragment über die Aufklärung aus: »Der Verstand […] hat herrliche Früchte, [z. B.] Lessings Nathan hervorgebracht und verdient die Elogen, mit denen man ihn immer erhebt«.36 Der säkulare Staatsbürgerbegriff implizierte allgemeine Rechtsgleichheit und wurde vom politischen Liberalismus mit Nachdruck vertreten. Deshalb hatten sich jüdische Journalisten und Politiker dieser Parteirichtung verschrieben37 und im Nathan mehr als ein Theaterstück gesehen. Als ›magna charta‹ des deutschen Judentums hat George Mosse bekanntlich Lessings Nathan der Weise bezeichnet. Nimmt man die Metapher beim Wort, d. h. in ihrem juridisch-politischen Sinn, als ›magna charta libertatum‹, so besagt sie, daß Nathan für die Juden die rechtdenkende, rechtschaffende und damit Rechtssicherheit verbürgende Qualität des deutschen Geistes ausdrückt.38
Nicht aus ethischen oder ästhetischen, sondern erklärtermaßen aus politischen Gründen lehnte Fontane das Verfassen eines Prologs für eine NathanAufführung und mutmaßliche Lessing-Ehrung an seinem 100. Todestag ab: Es giebt wenige Literaturgrössen, zu denen ich ehrfurchtsvoller emporblickte; alles was wir von ihm haben, ist bedeutend, edel, vorbildlich, ächt-künstlerisch. Aber politisch steh ich ganz und gar gegen ihn. […] Nathan war im Jahrhundert der Aufklärung eine wundervolle Dichtung, Nathan im Jahrhundert der offenbarsten
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Theodor Fontane an Emilie Fontane, 12. August 1883, GBA, Ehebriefwechsel 3, S. 362, wo Fontane von »reinlichen Scheidungen« spricht: »Jude zu Jude, Christ zu Christ, und natürlich auch Protestant zu Protestant«; solche Scheidungen wirken sich hemmend auf einen säkularen Staat aus, der Unterpfand der Rechtsgleichheit ist. Ebd., S. 363 (Hervorh. im Orig.). Hegel (wie Anm. 32), S. 21. Vgl. Peter Pulzer, Rechtliche Gleichstellung und öffentliches Leben: In: Steven M. Lowenstein/Paul Mendes-Flohr et al., Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3, 1871–1918: Umstrittene Integration, München 1997, S. 151–192; siehe auch ders., Wiederkehr des alten Hasses. In: Ebd., S. 193–248. Hans-Peter Bayerndörfer, Nathan am Broadway. Ferdinand Bruckners Lessing-Inszenierung am Broadway – Gastgeschenk eines deutschen Juden an sein Immigrationsland. In: Itta Shedletzky und Hans-Otto Horch (Hrsg.), Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert, Tübingen 1993, S. 165–183, hier S. 165 (Hervorh. im Orig.).
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Judenherrschaft, die sonderbarerweise ›Judenhetze‹ genannt wird, widersteht mir. Ich bin nicht für Stoecker, aber doch schliesslich noch weniger für Davidsohn.39
Gemeint ist der gelernte Bankier und Journalist George Davidsohn, von 1868 bis 1897 Chefredakteur des Berliner Börsen-Couriers (Abb. 6).40 Fontane sah das linksliberale Blatt noch Ende der 1880er Jahre »in feindlicher Stellung gegen mich«.41 So fiel seine Distanzierung von Davidsohn entschiedener aus als die von dem christlich-sozialen Prediger und Agitator Adolf Stoecker, der einen radikalisierten Antisemitismus mit antikapitalistischer Phraseologie verband und sowohl die Demokratisierung wie die Säkularisierung heftig bekämpfte. Wie nahe Fontane Stoecker in diesem Augenblick kam, sieht man daran, dass er in dem zitierten Brief Stoeckers jüngste Volte aufgriff. Nach Stoecker hätte sich nämlich infolge der durch die »jüdisch=liberalen Zeitungen«42 verbreiteten »Lügen« die «Welt […] die alberne Meinung [gebildet], in den christlich-socialen Versammlungen werde eine Judenhetze veranstaltet«. 43 Und weiter heißt es: »Bei diesem Zustand der Dinge von Judenhetze, Judenverfolgung zu reden, ist baarer Unsinn.« 44 Fontane hatte von »offenbarster Judenherrschaft, die sonderbarerweise Judenhetze genannt wird« gesprochen. Die Entschiedenheit, mit der Fontane den Prologauftrag ablehnte, wird dadurch befördert worden sein, dass im Jahr zuvor, 1879, der liberale Deutsch-Israelitische Gemeindebund aus Anlass des hundertfünfzigjährigen Doppeljubiläums von Lessings und Mendelssohns Geburt sowie der Säkularfeier des Nathan ein Gedenkbuch (Abb. 7) herausgegeben hatte.45
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Theodor Fontane an Arthur Deetz, Berlin, 18. November 1880, in: Peter Goldammer, Nietzsche-Kult – Antisemitismus – und eine späte Rezension zu dem Roman ›Vor dem Sturm‹. Zu Fontanes Briefen an Friedrich Paulsen. In: FBl 56 (1993), S. 48–62, hier S. 57. Vgl. Robert Radu, Auguren des Geldes. Eine Kulturgeschichte des Finanzjournalismus in Deutschland 1850–1914, Göttingen 2017, S. 87f. Theodor Fontane an Emilie Fontane, 2. Oktober 1888, GBA, Ehebriefwechsel 3, S. 515– 518, hier S. 517. Adolf Stöcker [sic!], Das moderne Judenthum in Deutschland, besonders in Berlin. Zwei Reden in der christlich=socialen Arbeiterpartei gehalten von Adolf Stöcker, Hof- und Domprediger zu Berlin, Berlin 1880, S. 32. Ebd., S. 22. Ebd., S. 32. Deutsch-Israelitischer Gemeindebund (Hrsg.), Lessing-Mendelssohn-Gedenkbuch: Zur hundertfünfzigjährigen Geburtsfeier von Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn sowie zur Säcularfeier von Lessing's ›Nathan‹, Leipzig 1879.
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Abb. 6: Berliner Börsen-Courier, Montags-Ausgabe, Morgen-Ausgabe, Nr. 270, 1. Juni 1885. Abb. 7: Lessing=Mendelssohn=Gedenkbuch, Leipzig 1879, Titel.
Die reichsweite Vereinigung betrachtete seit ihrer Gründung 1869 den Kampf für die rechtliche Gleichstellung der Juden als ihre Hauptaufgabe und nahm dafür Lessing und Mendelssohn als »flammende Zeichen«46 in Anspruch. Um keinen Preis wollte sich Fontane in diese Nachfolge begeben, sei es mit einem Prolog zum Nathan oder zu Lessings 100. Todestag am 15. Februar 1881. Der Kontext war der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879 bis 1881, in dem Lessing zur politischen Referenz-Gestalt wurde.47 Die Trias von Aufklärung, Liberalismus und »Judenfrage«48 hat sich als ein brisanter Komplex erwiesen. Ihre Verarbeitung in den Romanen – es geht dabei nicht nur um Unwiederbringlich – steht auf einem anderen Blatt und wird am Ende noch einmal kurz zu berühren sein. Auch ist daran zu
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Ebd., S. 24. Vgl. Karsten Krieger (Bearb.), Der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition, 2 Teile, München 2003. Sie löste bei Fontane einen hohen Grad der Emotionalisierung aus: »Außer der Judenfrage hat mich seit vielen Jahren nichts so sehr aufgeregt, als die Eulenburgfrage«; Theodor Fontane an Philipp zu Eulenburg, 25. Februar 1881, HFA IV/3, S. 119.
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erinnern, dass sich Fontane in dem im Herbst 1878 entstandenen Prosaentwurf Adel und Judentum in der Berliner Gesellschaft von dem durch die »Jüdische[n]» bewirkten kulturellen Fortschritt überzeugt zeigte. »Der Staat mag dadurch verloren haben, die Welt hat gewonnen.« 49 Nach einem Abstand von einem Vierteljahrhundert, 1893, fügte er in Die Juden in unsrer Gesellschaft der Kultur das Kultivierte hinzu: »Dann (auch wenn wir von allen Berühmtheiten absehen) die Juden als Träger feiner Bildung und Sitte. Natürlich vielfach nicht. Aber vielfach doch.«50 Die Sphäre der Politik und des Staates ist eine andere als die der Kultur; sie sind nicht auf derselben Ebene zu verhandeln. Und selbst in der Politik ist zu unterscheiden: Fontanes Vorbehalt galt der »fortschrittlichen Judenschaft; denn es giebt bekanntlich auch sehr viel andre Juden«.51
V. In einem Punkt begegneten sich Fontane und Hegel in ihrer Aufklärungskritik. Wenn Hegel nach seinem Lob des Nathan den einschränkenden Satz einschob: »Aber durch den Verstand werden Grundsätze nie praktisch gemacht«,52 so schloss Fontane an »ganz allgemein aufgestellte Sätze« aufklärerischer Provenienz die ähnlich lautende Bemerkung an: »Aber so wie das praktische Leben für den Alltagsgebrauch danach eingerichtet werden soll, gerathen wir in die Nesseln und schreien au.«53 Mangelnde Praxistauglichkeit hielt Fontane denn auch dem Liberalismus als Erben der Aufklärung vor, und als er eine entsprechende Figur für einen kleinen Roman entwerfen wollte, notierte er, dass dieser Professor von Holzenbeck »in Leben und Politik Idealist ist, Theoretiker, feiner Doktrinär, der alles im Leben in Einklang mit Freiheits- und Fortschrittsprinzipien gestalten will«.54 Sieht man von gelegentlichen Zuspitzungen ab, so bleibt die Reserve gegenüber dem Liberalismus als einer wirklichkeitsresistenten, der Praxis und dem Konkreten wenig zugeneigten Politik und Haltung. Letzteres aber eignet dem Konservatismus, wie der Konservative für Fontane denn auch der »Praktiker«55 ist (der gleichwohl ein wenig Theorie vertragen kann). Um
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Theodor Fontane, Adel und Judentum in der Berliner Gesellschaft, GBA, Wanderungen durch die Mark Brandenburg 7, S. 33–34, hier S. 34. Theodor Fontane, Die Juden in unsrer Gesellschaft, GBA, Wanderungen durch die Mark Brandenburg 7, S. 299. Theodor Fontane an Emilie Fontane, 2. Oktober 1888, HFA IV/3, S. 642–645, hier S. 645. Hegel, Frühe Schriften, S. 21. Theodor Fontane an Emilie Fontane, 12. August 1883, GBA, Ehebriefwechsel 3, S. 362–364, hier S. 363. Theodor Fontane, Die Bekehrten, HFA I/7, S. 313–314, hier S. 314 (Hervorh. im Orig.). Ebd., S. 314 (Hervorh. im Orig.).
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gleich noch einen zweiten Punkt zu nennen: Basiert Aufklärung auf dem optimistischen Glauben an die Macht der menschlichen Vernunft, so geht der Konservatismus umgekehrt von deren Unzulänglichkeit aus. Dass es Fragen gibt, zu deren Lösung die menschliche Vernunft nicht ausreicht, lässt sich Fontanes Werk an vielen Stellen entnehmen; er hat diese Einsicht den besten seiner Romanfiguren mitgegeben.56 Die Bevorzugung konkreter Anschauung und Erfahrung gegenüber abstrakter Systematik und Freiheit, um einen dritten Grundzug konservativer Einstellung anzuführen, teilt sich dem Leser Fontanes nicht zuletzt in seinen brieflichen Äußerungen mit. Häufig wird bei diesem Thema an einen auf den Staat konzentrierten Konservatismus gedacht, der den Staat als Ordnungsmacht erhalten und nur behutsam fortentwickeln will. Auch dazu gäbe es bei Fontane einiges zu sagen. Indessen ist der Konservatismus breiter angelegt und rückt auch andere Aspekte in den Blick. So betont er Individualität und Geschichte und spricht sich – wie Fontane – gegen »Menschheitsbeglücker« aus. Wie immer Autor- und Erzähler-Ich in Onkel Dodo zueinanderstehen: Die folgende Stelle aus dem Fragment gehört zu den prägnantesten Zurückweisungen liberaler Zumutungen: [...] es ist damit wie mit dem Liberalismus: er ist immer gut, schon um seiner selbst willen, ob er nun passen mag oder nicht. Und wer da widerspricht oder auch nur leise zweifelt, ist ein schlechter Mensch. Es gibt nichts Schrecklicheres als die Menschheitsbeglücker par force, die gewaltsam heilen, helfen oder gar selig machen wollen.57
Zu diesen Zurückweisungen gehört auch der Satz: »[I]ch habe einen ganz freien Sinn, bin aber freilich nicht ›freisinnig‹«.58 Fontane reklamiert für sich die individuelle Freiheit im Fühlen und Denken, philosophisch ausgedrückt, die Freiheit »als die nicht behinderte Spontaneität seines eigenen Selbst«59, und grenzt sie strikt ab von dem in der Deutsch-Freisinnigen Partei mehr oder weniger konfektionierten »Freisinn«, der nach dem Parteiprogramm in die
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Vgl. z. B. Theodor Fontane, Vor dem Sturm, GBA, Das erzählerische Werk 2, S. 497–498 (für Renate von Vitzewitz); Theodor Fontane, Cécile, HFA I/2, S. 314–317 (für Cécile von St. Arnaud). Theodor Fontane, Onkel Dodo, HFA I/7, 46–71, hier S. 67 (Hervorh. im Orig.). – Was gelegentlich vergessen wird: Die Polemik gegen die »Menschheitsbeglücker« hatte eine ihrer Wurzeln im theologisch-religiösen Bereich; vgl. etwa Der katholische Hausfreund, ein Sonntagsblatt zur Belehrung, Unterhaltung und Erbauung. Unter Mitwirkung mehrerer katholischen Geistlichen redigirt von Anton Westermayer, ehemaligem Domprediger in Regensburg, 4. Jg., Regensburg 1849, S. 198. Theodor Fontane an Friedrich Stephany, 24. Juni 1889, HFA IV/3, S. 701 Volker Gerhard, Leben ist das größere Problem. Philosophische Annäherungen an eine Naturgeschichte der Freiheit. In: Jan-Christoph Heilinger (Hrsg.), Naturgeschichte der Freiheit, Berlin/New York 2007, S. 457–472, hier S. 468.
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Paragraphen I bis V zerfällt.60 Als er den Satz an den Chefredakteur der Vossischen schrieb, unterstützte die Zeitung den aus der früheren Deutschen Fortschrittspartei gebildeten Flügel der Freisinnigen Partei. 61 Fontane erfasste also in dem Wortspiel die »verdammten politischen Unterschiede«, weshalb er »als Leitartikelschreiber« für die Vossische nicht zu verwenden sei. Dass er sich nicht bei den Liberalen sah, wollte er doch noch einmal betont haben. Inzwischen, Mitte 1889, waren Unterm Birnbaum, Cécile und Irrungen, Wirrungen erschienen, Stine im Manuskript abgeschlossen, die Arbeit an Frau Jenny Treibel aufgenommen, und Quitt lag auch bereits vor. Fontanes Konservatismus, das sei hier unabhängig von gelegentlichen politischen Optionen festgehalten, ist ein Konservatismus ohne Programm, der von Haltungen und Erzählungen lebt und durch einen skeptischen Pragmatismus getragen wird. Theorie, Programm, »Fortschritt« und »Freisinn« – schon aus ästhetischen Gründen konnte sich ein in Abstraktionen ergehender, womöglich ins Doktrinäre steigernder Liberalismus seine Sache nicht sein.62 Und die »schale Universalmedizin« einer (degenerierten) Aufklärung behagte ihm ebenso wenig wie Hegel. Das »Wollen des Konkreten« 63 , das Karl Mannheim als ein herausragendes Charakteristikum des »konservativen Denkens« bezeichnet hat, bestimmte den Ton. Überhaupt bietet Mannheims »Morphologie des konservativen Denkens« einen Ansatz, um Fontanes Gedankenwelt Schritt für Schritt näherzukommen – bis hin zum »raumhaften Erleben der Geschichte«, jenem »Auflösen eines jeden Nacheinander in ein Nebeneinander bzw. Ineinander«,64 das sich geradezu musterhaft in den Wanderungen vor den Augen des Lesers entfaltet. Mit Blick auf dieses Denken ist noch viel zu tun.
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Gustav Seeber, Deutsche Freisinnige Partei (DfsP) 1884–1893. In: Dieter Fricke (Hrsg.): Die bürgerlichen Parteien in Deutschland. Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Parteien und anderer bürgerlicher Interessenorganisationen vom Vormärz bis zum Jahre 1945, 2 Bde., Berlin 1968, Bd. 1, S. 355–363. »Parteipolitisch blieb sie [die Vossische] unabhängig, vertrat aber im großen und ganzen das liberale Programm der 1861 gegründeten Deutschen Fortschrittspartei«; Klaus Bender, Die Vossische Zeitung. In: Heinz-Dietrich Fischer (Hrsg.), Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts. Dokumentation, Pullach 1972, S. 25–40, hier S. 37. Auch spießte Fontane bei Gelegenheit die »Halbheit« bei Schriftstellern dieser Richtung auf: »[...] Die Natur adelt; alles andre ist Unsinn, und eine der mir degoutantesten Erscheinungen ist es immer gewesen, gerade in den Romanen liberaler und allerliberalster Schriftsteller, den Hauslehrer oder die Gouvernante, wenn sie heldisch-siegreich auftreten, sich schließlich immer als Graf oder Gräfin entpuppen zu sehn. Wenn auch nur von der Bank gefallen«; Theodor Fontane an Ludwig Pietsch, 22. November 1878, HFA IV/2, S. 634–635, hier S. 634. Karl Mannheim, Das konservative Denken. Soziologische Beiträge zum Werden des politisch-historischen Denkens in Deutschland. In: Hans Gerd Schumann (Hrsg.), Konservativismus, Köln 1974, S. 24– 75, hier S. 41. Ebd., S. 39.
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VI. Eine andere Aufgabe wäre es, Fontanes diskursiver Auseinandersetzung mit dem »vorigen Jahrhundert« in den Wanderungen nachzugehen: »Es ist bei Beurteilung dieser Dinge durchaus nötig, sich in das Wesen des vorigen Jahrhunderts, insonderheit des letzten Viertels, zurückzuversetzen. Die Welt hatte vielfach die Aufklärung satt. Man sehnte sich wieder nach dem Dunkel, dem Rätselhaften, dem Wunder.« 65 In dem Kapitel »Geheime Gesellschaften im 18. Jahrhundert« werden nicht nur Aufklärer wie Nicolai zitiert, sondern auch Richtungen wie der »Voltairianismus« berührt, so dass in diesem Fall Philosophisches wenigstens ansatzweise in den Blick kommt. In dem Wanderungen-Kapitel »Buch« wirkt dagegen das »Licht der Aufklärung« nicht sehr erhellend, wenn es, in »eine[r] weibliche[n] Figur mit einer weit geöffneten Leuchte« verkörpert, zum »unerläßliche[n] Requisit eines preußischen Kultusministers«66 erklärt wird. Wie Fontane »Aufklärung« in Preußen erzählt und darstellt, kann man am besten im Kapitel »Rheinsberg« studieren, wo es einmal heißt: »Es zeigt sich deutlich, daß die Kirche der gemiedene Platz der Voltairianer war«,67 und ein andermal: »Aus dieser Welt der Freiheitsphrase sind wir heraus, aber, Gott sei Dank, dem Wesen der Freiheit sind wir nähergekommen.«68 Auch hier läuft es auf die Abwertung der ›abstrakten‹ gegenüber der ›konkreten‹ Freiheit hinaus.69 Was ihm gar nicht lag und schon in den Bemerkungen über das »vorige Jahrhundert« angedeutet war, umschrieb er in »Rheinsberg« mit den Worten: »Mit besonderer Vorliebe wurden metaphysische Sätze beleuchtet und diskutiert, und alle jene wohlbekannten Fragen auf deren Lösung die Welt seitdem verzichtet hat, wurden unter Aufwand von Geist und Gelehrsamkeit und mit Zitaten pro und contra immer wieder und wieder durchgekämpft.«70 Solche Gedankenturnerei in Abstraktionen muss Fontane mehr als überflüssig erschienen sein. Tatsächlich ist es aber ein Denken, das einen anderen Ausgangspunkt hat, indem es »von der Norm aus das Daseiende sieht, der Konservative dagegen das Daseiende in seiner Bedingtheit erfassen will«.71 Wieder eine andere Aufgabe stellte es dar, der Nathan-Spur in den Romanen zu folgen, von Baron von Güldenklees Toast in Effi Briest – »viele Ringe gibt es, und es giebt sogar eine Geschichte, die wir alle kennen, die
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Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, HFA II/2, S. 281. Ebd., S. 616. Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, HFA II/1, S. 268 (Hervorh. im Orig.). Ebd., S. 283. Vgl. Mannheim (wie Anm. 63), S. 35–36. Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, HFA II/1, S. 296. Mannheim (wie Anm. 63), S. 38 (Hervorh. im Orig.).
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die Geschichte von den ›drei Ringen‹ heißt, eine Judengeschichte, die, wie der ganze liberale Krimskrams, nichts wie Verwirrung und Unheil gestiftet hat und noch stiftet«72 – bis zu Silbersteins Einrede in Mathilde Möhring: »Ist er nicht wie Nathan? Ist er nicht der Mann, der die drei Ringe hat? Ist er nicht gerecht und sieht doch aus wie ein Apostel?«73 Hier wie dort stößt man auf dieselbe Trias, die eingangs aus Unwiederbringlich zitiert worden ist: Aufklärung, Liberalismus und Judentum, denn auch Silberstein gehört der »fortschrittliche[n] Firma«74, d. h. der Deutschen Fortschrittspartei, an. In der Figurenrede nimmt diese Trias wechselnde Formen und Funktionen der Selbst- und Fremdcharakterisierung an. Ihre Wiederkehr in drei Romanen in engem zeitlichen Zusammenhang kann kein Zufall sein. Sie stellt sich aus dem Abstand von einem Jahrzehnt als dialogische Verarbeitung des umstrittenen »Nathan-und Lessing-Gedenkens« dar. Ein solcher Abstand erlaubte Literarisierungen, die man indes auch als mehr oder weniger gelungene emotionale Verkapselungen betrachten kann. Das »vorige Jahrhundert« scheint in den zitierten Romandialogen dank Nathan noch recht nahe zu sein. Und wahrscheinlich ist mehr und anderes, darunter Unabgegoltenes, im Spiel, wenn Fontane vom »letzten Viertel« des »vorigen Jahrhunderts« sagt: »Die Welt hatte vielfach die Aufklärung satt. Man sehnte sich wieder nach dem Dunkel, dem Rätselhaften, dem Wunder.« Das kleine, zwischen 1885 und Mitte 1889 entstandene Gedicht Die Frage bleibt endet mit den Worten: »Wie’s dich auch aufzuhorchen treibt, / Das Dunkel, das Rätsel, die Frage bleibt.«75 An dieser Stelle müsste eine tiefergreifende Analyse jenseits von Politik und Weltanschauung ansetzen. Sie würde ohne Fontanes Rekurs auf die »Altromantik« 76 , wie er sie nannte, nicht auskommen. »Rätsel umgeben uns«,77 sagt der alte Bernd von Vitzewitz. Von dieser »Rätsel«- und »Dunkel«-Seite her wäre die Frage nach Fontanes Verhältnis zur Aufklärung noch einmal neu aufzurollen. Vermutlich würde dann auch sichtbar werden, wie fruchtbar der Einspruch gegen bestimmte Erscheinungsformen der Auf-
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Theodor Fontane, Effi Briest. Roman, GBA, Das erzählerische Werk 15, S. 181. Theodor Fontane, Mathilde Möhring, HFA I/4, S. 651. Ebd., S. 646. Theodor Fontane, Gedichte, GBA, Gedichte 1, S. 42. Vgl. Rolf Zuberbühler, »Einmal / Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.« Fontanes Auseinandersetzung mit Hölderlin und der Romantik in ›Vor dem Sturm‹. In: Hugo Aust/Barbara Dölemeyer et al. (Hrsg.), Fontane, Kleist und Hölderlin. Literarisch-historische Begegnungen zwischen Hessen-Homburg und Preußen-Brandenburg, Würzburg 2005, S. 107–120; ders., Fontane und Hölderlin. Romantik-Auffassung und Hölderlin-Bild in ›Vor dem Sturm‹, Tübingen 1997, bes. S. 63– 78. Theodor Fontane, Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13, GBA, Das erzählerische Werk 2, S. 132.
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klärung und des Liberalismus in poetischer Hinsicht sein kann. Das liegt jedoch außerhalb dieses Versuchs und muss an Fontanes Gedichten und Romanen erprobt werden. Nur ein Zitat sei noch angefügt, das mit ›dunkel‹ und ›unaufgeklärt‹ ins menschliche Innere weist. In diesem Zitat ist der Schlüssel für die Kunst des diskreten Erzählens enthalten, durch die sich Fontanes Romane vor anderen auszeichnen: »›Ein Rest von Dunklem und Unaufgeklärtem bleibt, und in die letzten und geheimsten Triebfedern andrer oder auch nur unsrer eignen Handlungsweise hineinzublicken, ist uns versagt.‹«78
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Theodor Fontane, Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes, GBA, Das erzählerische Werk 6, S. 156.
Freiheit bei Fontane Dirk Oschmann Von Thomas Mann stammt die frühe Beobachtung, dass Fontane »in sich viel 18. Jahrhundert« hatte.1 Und tatsächlich fallen einem bei der Frage, ob und wie Fontane Konzepte der Aufklärung mobilisiert und womöglich modifiziert hat, gleich mehrere solcher Konzepte ins Auge. Das betrifft zum Beispiel die Emanzipation, namentlich der Frauen, den Fortschritt, die Revolution, also das, was Koselleck »Bewegungsbegriffe« nennt,2 aber auch die Kritik der ständischen Ordnung und des Ehrenkultus, die gesellschaftliche Liberalisierung, den Parlamentarismus, den Herzensdiskurs oder die Verschränkung von Anthropologie und Sprache. Abgesehen vom zuletzt genannten Punkt hängen all diese Aspekte auf die eine oder andere Weise mit der Freiheit als Leitkonzept zusammen. Das gilt insbesondere auch für den bei Fontane ubiquitären Herzensdiskurs. Denn im Herzen frei zu sein und es am rechten Fleck zu haben, ist im Werk des Autors fast stets das Höchste, was von einer Person gesagt werden kann. Damit folgt er einer der wesentlichen Vorstellungen der Aufklärung, die er freilich zugleich vereindeutigt. Denn während etwa Lessing und Schiller in ihren Dramen noch den Konflikt zwischen Herz und Verstand inszenieren und zuweilen offen lassen, welche der beiden Instanzen die bessere Orientierung im Leben bietet,3 scheint Fontane hier keine Zweifel zu haben: »[A]us dem Herzen« komme, wie eine durchaus verallgemeinerbare Figurenrede in Frau Jenny Treibel zu verstehen gibt, »die rechte Vernunft«.4 Eine »Kritik des Herzens« zu schreiben wie sein Zeitgenosse Wilhelm Busch,5 wäre ihm deshalb nie in den Sinn gekommen. –––––––––––– 1
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Thomas Mann, Der alte Fontane. In: Ders., Essays. Hrsg. v. Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Bd. 1: Frühlingssturm 1893–1918. Frankfurt am Main 1993, S. 124–149, hier S. 147. Reinhart Koselleck, Einleitung. In: Otto Brunner, Werner Conze et al. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1 A–D. Studienausgabe. Stuttgart 2004, S. XIII–XXVII, hier S. XVII. Vgl. etwa Lessings Der Freigeist, Miß Sara Sampson und Minna von Barnhelm sowie Schillers Wallenstein, Maria Stuart und Die Jungfrau von Orleans. Jenny Treibel, HFA I/4, S. 468 (meine Hervorhebung; D.O.). Wilhelm Busch, Kritik des Herzens. In: Ders., Sämtliche Werke. Hrsg. v. Rolf Hochhuth. Bd. 1: Und die Moral von der Geschicht. München 2006, S. 800–833. Vgl. dazu Gottfried Willems, Abschied vom Wahren-Schönen-Guten. Wilhelm Busch und die Anfänge der ästhetischen Moderne. Heidelberg 1998, S. 24–49 und S. 108–128.
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Richtet man den Fokus speziell auf die Freiheit bei Fontane, zeigt sich zunächst, dass diese Fragestellung mit Ausnahme einer Monographie von Stefan Neuhaus in der Forschung bislang wenig Aufmerksamkeit gefunden hat,6 während sich Studien zu den politischen Ansichten des Autors oder seiner Haltung beispielsweise zur Revolution regen Interesses erfreuen.7 Doch seine Verhandlungen von Freiheit lassen sich nicht nur in diesen Hinsichten auf mögliche Differenzierungen hin untersuchen, vielmehr bilden sie vor dem Hintergrund des generellen Freiheitsdiskurses einen Vorstellungskomplex aus eigenem Recht. Über die Jahrzehnte seines Lebens hinweg hat Fontane immer wieder die enorme Relevanz der Freiheit in ganz unterschiedlichen Perspektiven betont. Das gilt natürlich zuerst für den Anspruch auf persönliche Freiheit, der kurzerhand lautet: »Independenz über alles.«8 Es gilt aber beispielsweise auch für den Rezeptionsmodus, den seine Texte erfordern: »Meine Bücher verlangen ein freies Gemüth.«9 Und es gilt schließlich als grundlegendes Postulat im Bereich der Kunst: »Eh wir nicht volle Freiheit haben, haben wir nicht volle Kunst.«10 Dass all diese Forderungen die Freiheitsdiskurse der Aufklärung spiegeln, liegt auf der Hand. »Auch die Freiheit, wie alles im Leben, kocht schließlich nur mit Wasser.«11 – So heißt es in Fontanes Rezension von Ibsens Drama Die Frau vom Meere von 1889. Das ist ein typischer Fontane-Satz, sofern er eine Idee, einen Wert oder ein Ideal mit einem ebenso nüchternen wie skeptischen Blick beäugt und so auf Normalmaß schrumpft. In diesem konkreten Fall adressiert er zu Beginn des Satzes mit der Freiheit das zentrale aufklärerische Ideal überhaupt, um es am Ende nicht nur mit einer bekannten Redewendung, sondern im Zuge dessen auch mit einem schlichten Alltagsvorgang kurzzuschließen. Auf diese Weise wird das Ideal der Freiheit in seiner begrenzten lebensweltlichen Reichweite vor Augen gestellt, hierdurch profaniert und depotenziert – ohne freilich ganz außer Kraft gesetzt zu werden. Seinen grundsätzlich orientierenden Wert behält es bei, nur verliert es seine dominierende Stellung im Spektrum der Leitkriterien der Lebensführung, die es mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert endgültig erobert zu haben schien. Anders gesagt: Die Freiheit ist sicher etwas wert, aber sie ist –––––––––––– 6
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Vgl. Stefan Neuhaus, Freiheit, Ungleichheit, Selbstsucht? Fontane und Großbritannien. Frankfurt am Main/Berlin et al. 1996 sowie den exzellenten Beitrag von Monika Kloth-Manstetten, Die versäumte Freiheit. ›Fehltritte‹ in Theodor Fontanes ›Effi Briest‹. In: Euphorion 109 (2015), S. 57–88. Vgl. allein zum Stechlin etwa Jürgen Rothenberg, Gräfin Melusine. Fontanes ›Stechlin‹ als politischer Roman. In: Text & Kontext 4 (1976), S. 21–56; Eda Sagarra, Symbolik der Revolution im Roman ›Der Stechlin‹. In: FBl 43 (1987), S. 534 –543; Ulrich Fries und Hartmut Jaap, ›Der Stechlin‹. Politikum in unserer Zeit oder Liebesgeschichte aus einem vergangenen Jahrhundert? In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Theodor Fontane. Text + Kritik. München 1989, S. 185–202. Theodor Fontane an Emilie Fontane am 28. Mai 1870, HFA IV/2, S. 320. Theodor Fontane an Martha Fontane an 25. Juli 1891, HFA IV/4, S. 138. Theodor Fontane an Georg Friedlaender am 6. Mai 1895, HFA IV/4, S. 451. Theodor Fontane: Ibsen. Die Frau vom Meere, HFA III/2, S. 792–798, hier S. 798.
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nicht mehr wert als anderes im Leben. Verstärkt wird diese Einschätzung durch die Parenthese im Satz, mit welcher die Freiheit völlig unaufgeregt den anderen Üblichkeiten des Daseins zugeordnet erscheint. Auf der Ebene des Diskurses zitiert der Autor das aufklärerische Ideal, nimmt ihm aber im selben Moment jegliches Pathos und schränkt das Zutrauen in seine Macht ein. Auf der Ebene der sprachlichen Performanz zeigen sich allerdings gleich drei wichtige aufklärerische Tugenden, nämlich diejenige der Skepsis, der Besonnenheit und, damit einhergehend, die des Maßhaltens. Rund hundert Jahre vor der zitierten Äußerung Fontanes, als die Freiheit gemeinsam mit Leben und Bewegung im Rahmen moderner Selbstkonzeptualisierung zum absoluten Wert erklärt worden war,12 gehörte dagegen zur Rede von der Freiheit das Pathos noch unabdingbar dazu, man denke beispielsweise an Schiller, Moritz, Hölderlin oder den zur Berliner Spätaufklärung zählenden Kleist, der in seiner Herrmannsschlacht durchbuchstabiert, was es heißt, keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass der Freiheit tatsächlich alles zu opfern sei. Das jedenfalls macht Herrmann den anderen Germanenfürsten zur Bedingung im Kampf gegen die Römer: HERRMANN sich losmachend: Kurz, wollt Ihr, wie ich schon einmal Euch sagte, / Zusammenraffen Weib und Kind, / Und auf der Weser rechtes Ufer bringen, / Geschirre, goldn’ und silberne, die Ihr / Besitzet, schmelzen, Perlen und Juwelen / Verkaufen oder sie verpfänden, / Verheeren Eure Fluren, Eure Herden / Erschlagen, Eure Plätze niederbrennen, / So bin ich Euer Mann –: / WOLF Wie? Was? / HERRMANN Wo nicht –? / THUISKOMAR Die eignen Fluren sollen wir verheeren –? / DAGOBERT Die Herden töten –? / SELGAR Unsere Plätze niederbrennen –? / HERRMANN Nicht? Nicht? Ihr wollt es nicht? / THUISKOMAR Das eben Rasender, das ist es ja, / Was wir in diesem Krieg verteidigen wollen! / HERRMANN abbrechend: Nun denn, ich glaubte, Eure Freiheit wär’s.13
Ein solcher »Despotismus der Freiheit«, wie ihn Hans-Jürgen Schings insbesondere mit Blick auf die Phase der Terreur in der Französischen Revolution beschrieben hat14 und wie er sich hier auch bei Kleist zeigt, mag kritisch zu beurteilen sein, war aber historisch wohl zur Etablierung dieses Leitkonzepts unumgänglich. Den Punkt des Umschlags hat Fichte präzise markiert, wenn er in Die Bestimmung des Menschen von 1800 feststellt: »Mit der Erkenntnis der Freiheit geht uns zugleich der Sinn für eine andere Welt –––––––––––– 12 13
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Vgl. dazu Dirk Oschmann, Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist. München 2007, S. 53–106. Heinrich von Kleist, Die Herrmannsschlacht. In: Ders., Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Hrsg. v. Ilse-Marie Barth et al. Bd. 2: Dramen 1808–1811. Frankfurt am Main 1987, S. 447– 554, hier S. 461f. (1. Akt, 3. Auftritt). In diesem Zusammenhang Kleist als Beispiel angeführt zu sehen, mag überraschen, ist jedoch insofern gerechtfertigt, als der Autor vielfach Motive der Aufklärung aufgreift, radikalisiert und gleichsam experimentell zu Ende denkt. Hans-Jürgen Schings, Revolutionsetüden. Schiller – Goethe – Kleist. Würzburg 2012, S. 66 und 129.
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verloren.«15 Die Erkenntnis der Freiheit gilt ihm als Zäsur, hinter die man nicht zurückgehen möchte, vor allem aber nicht zurückgehen kann und die das Selbstverständnis der westlichen Moderne bis heute prägt. Inzwischen ist »uns« die Freiheit zum unhinterfragbaren Wert geworden, weil wir »uns« nicht einmal mehr vorstellen wollen, worin denn der Wert eines nicht an der Freiheit orientierten Lebens bestehen könnte. Das hat Fontane offenbar kaum anders gesehen, als er im Revolutionsjahr 1848 an Bernhard von Lepel schrieb: »Es kam die französische Revolution, und der Gottesodem der Freiheit wehte über die Welt. […] nur in der Freiheit wird man frei.«16 Von einem solchen Heroismus der Freiheit, wie er insbesondere für die revolutionären und postrevolutionären Dichter und Philosophen um 1800 prägend war, dann noch verstärkt in der Situation napoleonischer Fremdbestimmung, hat sich Fontane, vor allem in seinen späteren Jahren, erheblich entfernt, ohne jedoch die prinzipielle Geltung der Freiheit preiszugeben. Aber jenem Heroismus der Freiheit setzt er etwas entgegen, das man den Pragmatismus der Freiheit nennen darf – als Frage nach ihrem lebensweltlichen Ort einerseits, ihrer Realisierbarkeit andererseits. Das sei im Folgenden anhand eines kleinen Durchgangs durch einige Romane Fontanes kurz skizziert. Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg, die Zeitungsartikel, womöglich gar aus der Kreuzzeitung,17 oder die Kriegsbücher spielen hier keine Rolle, nur die Romane der 1880er Jahre sowie dann vor allem der Stechlin als einer seiner spätesten Texte, der bekanntlich eine Art Vermächtnis darstellt. In einer ganzen Reihe seiner Werke steht der Freiheitsdiskurs im Fokus und wird dabei von verschiedenen Seiten beleuchtet. Im Kontrast zu Kleist jedoch, der, wie gesehen, auf extreme rhetorische Steigerung setzt, verfährt Fontane in aller sprachlichen und sachlichen Beiläufigkeit, indem er seine Figuren wiederholt in Situationen führt, in denen es sich wie von selbst zu ergeben scheint, über Freiheit nachzudenken oder ihre Vorzüge und Nachteile gesprächsweise zu erörtern, und zwar in Texten so unterschiedlicher –––––––––––– 15
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Johann Gottlieb Fichte, Die Bestimmung des Menschen [1800]. Stuttgart 1997, S. 160. Ganz in diesem Sinne heißt es auch bei Schelling: »Nur wer Freiheit gekostet hat, kann das Verlangen empfinden, ihr alles analog zu machen, sie über das ganze Universum zu verbreiten.« Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit [1809]. Stuttgart 2011, S. 63. Theodor Fontane an Bernhard von Lepel am 12. Oktober 1848, HFA IV/1, S. 45f. Vgl. dazu Stefan Greif, »…dieses gleich sehr zu hassende und zu liebende Preußen!« Der Altpreuße Theodor Fontane zwischen bürgerlicher Revolution und Wilhelminismus. In: Helmut Scheuer (Hrsg.), Dichter und ihre Nation. Frankfurt am Main 1993, S. 290–310, hier S. 293f. Im Rückblick erschien Fontane seine Zeit bei der Kreuzzeitung als Zustand unwürdiger Knechtschaft. An seine Frau Emilie heißt es am 28. Mai 1870: »Glaube doch nicht, daß diese ganz gute, aber doch enfin ganz triviale Kreuzzeitungs-Stellung etwas Apartes war, glaube mir auf mein Wort, sie war es nicht, sie war das Freiheitsopfer nicht wert, das ich ihr so viele Jahre lang gebracht habe.« HFA IV/2, S. 320 (Hervorhebung Fontanes).
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Couleur wie dem Likedeeler-Fragment,18 Unterm Birnbaum, Graf Petöfy, Schach von Wuthenow, Stine, Irrungen, Wirrungen, Quitt oder auch Der Stechlin. Meist ist die Reflexion auf die unmittelbar subjektiven Handlungsspielräume, wie sie durch Charakter, Lebensalter, finanzielle Ausstattung, Standes- und Religionszugehörigkeit, also Faktoren des gesellschaftlichen Milieus, definiert sind, von existentiellem Ernst bestimmt, zuweilen aber begegnet der Leser auch bloßem Daherreden oder gar einem Schwadronieren, mit welchem sich die jeweiligen Figuren selbst entlarven, etwa wenn es in Unterm Birnbaum vom Protagonisten Hradscheck heißt: »Wenn so das Gespräch ging, ging unserm Hradscheck das Herz auf, trotzdem er eigentlich für Freiheit und Revolution war. Wenn es aber Revolution nicht sein konnte, so war er auch für Tyrannei. Bloß gepfeffert mußte sie sein. Aufregung, Blut, Totschießen, – wer ihm das leistete, war sein Freund […].«19 Hier soll weniger eine wie auch immer nivellierte Freiheitssehnsucht der Figur veranschaulicht werden als vielmehr ihre latente Neigung zur Gewalt, wie sie sich schließlich in einem Mord Bahn brechen wird. In Schach von Wuthenow wiederum weist Schachs gesellschaftlicher Gegenspieler von Bülow darauf hin, dass mit Luther nicht die »Freiheit« in die Welt gekommen sei, sondern »Unduldsamkeit und Hexenprozesse, Nüchternheit und Langeweile«.20 Die hier aufgeworfene Frage nach der Bedeutung Luthers und des Protestantismus allgemein für die moderne Freiheitsvorstellung hatte Fontane bereits in Graf Petöfy beschäftigt. Neben den Freiheitsideen der Aufklärung bildet sie die zweite wesentliche Säule seiner eigenen Freiheitskonzeption. In Graf Petöfy diskutieren die Figuren fast unablässig darüber, worin die rechte Freiheit bestehen könnte, im politischen oder sozialen Sinne, oder ob Protestantismus oder Katholizismus die größere »innerliche« Freiheit gewähren, dass mit der Freiheit notwendig der Aberglaube wachse, dass in einer Ehe »Anschauungsfreiheit«, ja überhaupt »vollkommene Freiheit« bestehen solle und dass mit dem Alter offenbar die Unfreiheit wachse.21 Zugleich aber lässt der Roman keinen Zweifel daran, dass sich die Figuren permanent über ihre Handlungsspielräume und Freiheitsgefühle täuschen. Keiner der Protagonisten hält die subjektiv postulierten Freiheiten wirklich aus: Petöfy nimmt sich nach dem Ehebruch
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Im Likedeeler-Fragment wird die Freiheit gleich auf der ersten Seite angesprochen. Likedeeler sind diejenigen, die alles gleich verteilen und frei sein wollen: »Freiheit wo kein Vergehn ist und wo Vergehn ist an die Rahe. Wenig Gesetze sind immer gut, viel Gesetze sind immer schlecht.« HFA I/7, S. 518 und S. 543. Unterm Birnbaum, HFA I/1, S. 518. Schach von Wuthenow, HFA I/1, S. 565. Vgl. Graf Petöfy, HFA I/1, S. 696, 723, 753, 751, 760.
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Franziskas das Leben, diese selbst konvertiert am Schluss zum Katholizismus. In der Strukturlogik des Romans erscheint dies als Scheitern auf ganzer Linie. Doch auf welche literarhistorischen und ideengeschichtlichen Voraussetzungen rekurriert Fontane über Protestantismus und Aufklärung hinaus? Autoren des mittleren, also des literaturgeschichtlich »kurzen« 19. Jahrhunderts haben mit Blick auf die Freiheit, vereinfacht gesagt, zunächst zwei Dinge getan. Zum einen waren sie bestrebt, dazu beizutragen, die aus Aufklärung und Idealismus herrührenden abstrakten Freiheitskonzepte konkrete Wirklichkeit werden zu lassen, in erster Linie politische Wirklichkeit und presserechtliche Wirklichkeit,22 gemäß der Kantischen Einsicht, dass Gerechtigkeit allein auf dem Fundament von »Publizität«, nämlich von Öffentlichkeit und Freiheit entstehen kann.23 Diese Forderungen nach »Institutionalisierung der bürgerlichen Freiheitsrechte«24 sind vor allem in dem für Fontane selbst so eminent wichtigen Vormärz25 virulent, also einer literarischen und politischen Bewegung, welche gezielt auf Gedankengut der Aufklärung zurückgreift und dann förmlich in die Moderne weitervermittelt,26 im bewussten Kontrast etwa zur Romantik, die jemand wie Carl Gustav Jochmann als bloßen »Gedankenfasching«27 ironisiert und disqualifiziert hat. Zum anderen aber haben diese Autoren dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also nach der bürgerlichen Revolution von 1848, sich stärker mit den Mühen der Ebene auseinandergesetzt, das heißt mit den Folgen –––––––––––– 22
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Axel Honneth referiert die Zugewinne an Freiheit, wie sie von Thomas H. Marshall für die Moderne beschrieben worden sind, wie folgt: »Marshall gibt dieser Dreiteilung eine historische Wendung, deren gröbste Fassung lautet, daß die Herausbildung der liberalen Freiheitsrechte in das achtzehnte, die Etablierung der politischen Teilnahmerechte in das neunzehnte und die Schaffung von sozialen Wohlfahrtsrechten schließlich in das zwanzigste Jahrhundert gefallen sind; wichtig an seiner suggestiven […] Periodisierung ist für unsere Zwecke freilich nur der Nachweis, daß die Durchsetzung jeder neuen Klasse von Grundrechten historisch stets mit Argumenten erzwungen worden ist, die implizit auf die Forderung nach vollwertiger Mitgliedschaft im politischen Gemeinwesen bezogen waren.« Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Mit einem neuen Nachwort. Frankfurt am Main 82014, S. 188. Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden. In: Ders., Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 9: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Darmstadt 1983, S. 191–251, hier S. 244: »[…] so bleibt mir noch die Form der Publizität übrig, deren Möglichkeit ein jeder Rechtsanspruch in sich enthält, weil ohne jene es keine Gerechtigkeit (die nur als öffentlich kundbar gedacht werden kann), mit hin auch kein Recht, das nur von ihr erteilt wird, geben würde.« (Kants Hervorhebungen). Honneth, Kampf um Anerkennung (wie Anm. 22), S. 189. Vgl. hierzu neuerdings vor allem Iwan-Michelangelo D’Aprile, Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung. Reinbek 2018, S. 75–127. Siehe Wolfgang Bunzel, Norbert Otto Eke, Florian Vaßen (Hrsg.), Der nahe Spiegel. Vormärz und Aufklärung. Vormärz-Studien, Band XIV. Bielefeld 2008. Carl Gustav Jochmann, Die Rückschritte der Poesie. In: Ders., Über die Sprache. Hrsg. v. Peter König. Heidelberg 1998, S. 151–193, hier S. 189.
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und Kehrseiten der bis dahin erkämpften Freiheiten. Im Zuge dessen stellt sich eine wachsende Skepsis ein, sobald nämlich der Preis sichtbar wird, den man für die Freiheit womöglich zu bezahlen hat. Dazu gehören Verluste an sozialer, ästhetischer und moralischer Form und Ordnung, die Entwertung von Traditionen, der Geltungsverlust der Autoritäten, ja dazu gehört natürlich auch der Missbrauch der Freiheit selbst und anderes mehr. Ein anschauliches Beispiel für diese Entwicklungen liefert früh schon Ferdinand Kürnbergers Roman Der Amerikamüde aus dem Jahr 1855, dem die Amerika-Erfahrungen Nikolaus Lenaus zugrunde liegen. Kürnberger führt hier auf paradigmatische Weise ein Aus-dem-Ruder-Laufen der Freiheit vor. Entsprechend lässt er seinen bildungsbürgerlichen Protagonisten Dr. Moorfeld am Ende verstört und entsetzt nach Deutschland zurück fliehen, obwohl dessen ursprüngliches Ziel doch die Auswanderung in »the land of the free and the home of the brave«, wie es in der amerikanischen Nationalhymne heißt, gewesen war. Moorfeld ist nicht nur amerikamüde, sondern in erster Linie müde einer Freiheit, auf deren Radikalität er nicht gefasst war.28 Der Soziologe Georg Simmel wird ein halbes Jahrhundert später dieses Problem dahingehend pointieren, dass Freiheit ganz unbestritten ein hoher Wert sei, trotzdem aber anstrengend, weil man sie aushalten können muss.29 Damit zurück zu Fontane, für den wie für Kürnberger auch der Vorstellungskomplex Freiheit und Amerika topisch und geographisch längst selbstverständlich war. Das zeigen beispielsweise die Kurzromane Irrungen, Wirrungen (1888) und Stine (1889), mehr aber noch Quitt (1890), sein eigentlicher Amerika-Roman. In Stine redet der zwar kriegsverletzte, im Grunde aber existentiell lebensunfähige Waldemar von Haldern, einer der typischen schwachen Männer in Fontanes Spätwerk, davon, Stine erst aus ihrer sozialen Armut befreien,30 sodann heiraten und anschließend mit ihr nach Amerika auswandern zu wollen, um auf diese Weise der vorurteilsbeladenen ständischen deutschen Ordnung zu entgehen und »frei« zu sein. Doch Stine lässt sich von dem Versprechen auf Ausstieg als gesellschaftlichen Aufstieg nicht beirren und weist Waldemar, den sie zweifellos liebt, darauf hin, dass er sich von seinen eigenen Vorurteilen letztlich nicht würde freimachen können: »Du willst nach Amerika, weil es hier nicht geht. Aber glaube mir, es geht auch drüben nicht. Eine Zeitlang könnt’ es gehn, vielleicht ein Jahr oder –––––––––––– 28
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Das zeigt sich in erster Linie daran, dass Moorfeld die Freiheit immer wieder als Fremdheit erfährt. Zunehmend verdichtet sich der zunächst vereinzelt begegnende »Schrecken der Fremde« zu einem »bodenlosen Gefühl der Fremde«. Ferdinand Kürnberger, Der Amerikamüde. Berlin 1985, S. 95 und S. 393. Georg Simmel, Das Individuum und die Freiheit. In: Ders., Das Individuum und die Freiheit. Essais. Hrsg. v. Michael Landmann und Margarete Susman. Frankfurt am Main 1993, S. 212-219. Stine, HFA I/2, S. 508f.
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zwei, aber dann wär’ es auch drüben vorbei. Glaube nicht, daß ich den Unterschied nicht sähe.«31 Während er seinen Plan durch »das Trug- und Zauberglas [einer] erhitzten Phantasie« betrachtet, sieht sie die Dinge »durch die Fensterscheibe der Alltäglichkeit«.32 Wie schon am Eingangszitat zu sehen, verfährt Fontane auch hier in der für ihn charakteristischen Weise, hochfliegende Vorstellungen, Konzepte, Ideen oder eben Pläne an konkret lebensweltlichen Umständen zu messen, ja sie damit zu konfrontieren, und dergestalt auf ihre pragmatische Relevanz hin zu prüfen. So erweist sich der vermeintlich profane Alltag als oberste Gerichtsbarkeit, vor welcher alles Ideelle zu bestehen hat oder eben durchfällt. Und das gilt mit Nachdruck für die Freiheit. In seinen Illusionen zurückgewiesen, wählt Waldemar dann statt der Freiheit, der er sich von vornherein nicht gewachsen fühlte, lieber den Freitod – als die ihm verbliebene trostlos-pragmatische Variante der Selbstbestimmung in einer Lage, in welcher es keinen Platz für ihn auf der Welt zu geben scheint, seine Handlungsspielräume demnach auf diesen einen Ausweg verengt zu sein scheinen. Er scheitert an mangelnder innerer Freiheit, mehr aber noch an mangelnder äußerer Freiheit, an den gesellschaftlichen Normen und Normierungen, mithin an dem, was in L’Adultera als »Götzenschaffen und Götzenstürzen«,33 in Schach von Wuthenow als »Gesellschaftsgötze«34 und in Effi Briest als »tyrannisierende[s] Gesellschafts-Etwas«35 explizit kritisiert wird. In der Bekehrungsgeschichte Quitt wandert der Protagonist Lehnert Menz tatsächlich nach Amerika aus, allerdings notgedrungen, weil er den ihn permanent quälenden Förster Opitz ermordet hat und sich der Obrigkeit entziehen will. Doch bei näherem Hinsehen bringt das Verbrechen nur einen länger schon währenden Reflexionsgang zu unwiderruflicher Entscheidung. Denn Lehnert Menz verachtet nicht nur »Kriecherei« und »Gehorsam«,36 steht Begriffen wie »Dienst«, »Gesetz« und »Pflicht« kritisch gegenüber (Q, S. 238) und nennt Deutschland ein »Sklavenland« (Q, S. 278),37 –––––––––––– 31 32 33 34 35 36 37
Ebd., S. 550 (Hervorhebung Fontanes). Ebd., S. 539. L’Adultera, HFA I/2, S. 138. Schach von Wuthenow, HFA I/1, S. 680. Effi Briest, HFA I/4, S. 236. Quitt, HFA I/1, S. 214 und 219. Alle weiteren Angaben im Fließtext, Sigle Q. Vgl. dazu die konzisen Ausführungen von Grawe: »Quitt ist Fontanes einziger Roman, dessen Protagonist ein politischer Rebell ist, ein junger, vitaler, selbstbewußter Handwerker, der sich nicht wie die jungen Aristokraten in anderen Fontaneschen Romanen […] in ohnmächtigem Protest, Selbstmord oder stiller Ergebung den gesellschaftlichen Zuständen oder Zwängen fügt, ohne eine Alternative zum beklagten gegenwärtigen Leben zu sehen oder ergreifen zu können, sondern in dessen politischem Horizont mit ›Freiheit und Republik‹ und ›Amerika, wo’s anders aussieht‹ eine durch negative menschliche und politische Erfahrungen gespeiste, positiv besetzte Gegenwelt existiert. Scheitern allerdings tut auch er.«
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sondern er hat sich bereits vor dem Mord38 ausführlich mit Amerika als Ort der Freiheit und des Glücks beschäftigt. Im Unterschied zu anderen Bewohnern seines Dorfes kann er lesen und hat sich durch Lektüre von »viel Zeitungen und Freiheitsbüchern« (Q, S. 320) zu Amerika verführen lassen (Q, S. 245–248). Der Titel eines Buches lautet »Die Neue Welt oder Wo liegt das Glück?« (Q, S. 248). Darin wird das Freiheitsversprechen durchweg an das Glücksversprechen gekoppelt, ganz wie es die United States Declaration of Independence von 1776 ausdrücklich vorsieht, wenn sie den Nexus zwischen »Life, Liberty and the Pursuit of Happiness« betont. Folglich erscheint dem Protagonisten Amerika als gelobtes Land (Q, S. 261), wo er das erfahren zu können hofft, was ihm am wichtigsten ist: Freiheit, Lebendigkeit und Intensität – Formen des Selbsterlebens, die ihm in Deutschland bislang nur in negativer Ausprägung, nämlich in »Wut und Haß« (Q, S. 261) zugänglich sind. Da er jedoch »nur frei sein [will]« (Q, S. 328), wäre die Auswanderung auch ohne den Anlass des Mordes, der nur den letzten Impuls gibt, naheliegend. Nach einem Zeitsprung von sechs Jahren, in denen Lehnert Menz, der sich jetzt beziehungsreich »Lionheart Menz« nennt (Q, S. 321), an verschiedenen Orten in den USA gelebt hat, spielen dann weitere Lektüren eine Rolle. Inzwischen arbeitet er auf einer Farm deutscher Mennoniten, die für ihre Freizeit planen, Flauberts Madame Bovary zu lesen sowie Zolas Nana (Q, S. 385). Beides wird jedoch sogleich wegen des Verdachts der Sittenwidrigkeit verworfen. Man einigt sich stattdessen auf Geschichten von Bret Harte sowie auf Johann Heinrich Pestalozzis utopischen Aufklärungsroman Gertrud und Lienhardt (Q, S. 385ff.). Ein Grund dafür ist die Namensähnlichkeit von Lehnert und Lienhardt (Q, S. 334), ein anderer besteht darin, dass diese »Schweizergeschichte« von Obadja, dem Patriarchen der Farm, besonders wegen ihres »republikanischen Geistes« (Q, S. 387) gelobt wird. Überdies begreift Lehnert den Text als Parallelgeschichte zu seiner eigenen: »Lienhardt, das war er selbst, und der böse Vogt, der den armen Lienhardt gequält und zum Schlechten verführt, das war Opitz.« (Q, S. 388) Den Gegensatz zu diesem offensichtlich mustergültigen Buch bilden »deutsch[e]« und insbesondere »preußisch[e] Bücher«, da diese nie »von der Gleichheit der Menschen oder auch nur von der Erziehung des Menschen –––––––––––– 38
Christian Grawe, ›Quitt‹. Roman. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch. Stuttgart 2000, S. 584–594, hier S. 588. Dass die Grundkonstellation des Textes an Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre erinnert, ist verschiedentlich bemerkt worden. Vgl. etwa Grawe, ›Quitt‹ (wie Anm. 37), S. 591. Indem Lehnert den Plan zum Mord an Opitz fasst, beginnt seine Verwandlung: »Er war derselbe nicht mehr.« (Q, S. 283) Im Nachhinein glaubt er, diesen Mord als »Notwehr« (Q, S. 289) rechtfertigen zu dürfen, weil Opitz zuerst geschossen hat.
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zum Freiheitsideal« sprechen würden, also von den Leitbildern der Aufklärung, sondern eher »zum Untertan und Soldaten«, selbst »in den besten und freiesten« dieser Bücher (Q, S. 387f.). Obwohl Obadja auf Formen großen Wert legt, weil »Formen entscheiden« (Q, S. 315), stellt die Freiheit auch für ihn das Leitprinzip seines Denkens und Handelns dar: »Er hat es gern, wenn man frei spricht und eine Meinung hat. Aber eine Form muß es haben, darauf hält er.« (Q, S. 328) Auf ihre grundlegende Ambivalenz weist er Lehnert jedoch eigens hin, übrigens mit einer Formulierung, die sich identisch schon in Irrungen, Wirrungen findet, nämlich mit der Metapher von der Freiheit als einem »zweischneidig Schwert«: »Denn die Freiheit, deren wir uns hier rühmen und freuen, ist ein zweischneidig Schwert, und die Despotie der Massen und das ewige Schwanken in dem, was gilt, erfüllen uns, so sehr ich die Freiheit liebe, mit einer Unruhe, die man da nicht kennt, wo stabile Gewalten zu Hause sind.« (Q, S. 338)39 Obadjas Mitarbeiter Kaulbars, ein dünkelhafter Preuße, geht darüber weit hinaus, wenn er das Fehlen einer Ständegesellschaft in Amerika kritisiert und obendrein behauptet, hier sei alles bloß »Geld« und »Geschäft«, also »alles Schwindel« (Q, S. 350), eine Argumentation, die unverkennbar auf Nikolaus Lenaus böses Wort von den Amerikanern als »Krämerseelen« rekurriert und später in der konservativen Kulturkritik Anfang des 20. Jahrhunderts wiederkehren wird.40 Allerdings tritt im Laufe des Textes das Freiheitsmoment vor den Forderungen des Alltags deutlich zurück. Zu diesem Alltag gehört für Lehnert das Gefühl der Vereinsamung, welche die Freiheit mit sich bringt, und der er auf doppelte Weise zu begegnen sucht, zum ersten indem er sich zum Glauben der Mennoniten bekennt und Teil ihrer Gemeinde wird (Q, S. 378ff.), zum zweiten indem er um die Hand von Obadjas Tochter anhält. Auf Dauer zieht er vorsichtshalber die Bindung der radikalen Freiheit vor, was zweifellos als ›erpreßte Versöhnung‹ (Adorno) erscheinen würde. Doch das verhindert Fontane gerade noch, da er Lehnert rechtzeitig vor einer möglichen Hochzeit sterben lässt. Ganz offensichtlich passt zu einem Verfechter der Freiheit der Tod besser als die Ehe.41 Während in Irrungen, Wirrungen, Stine und Quitt Amerika als Ort der Freiheit thematisiert wird, richtet Fontane im Stechlin, der abschließend näher –––––––––––– 39
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»›Ich sehne mich nach einfachen Formen, nach einer stillen, natürlichen Lebensweise, wo Herz zum Herzen spricht und wo man das Beste hat, was man haben kann, Ehrlichkeit, Liebe, Freiheit.‹ ›Freiheit‹, wiederholte Botho. ›Ja, Rienäcker. Aber weil ich wohl weiß, daß auch Gefahren dahinter lauern und dies Glück der Freiheit, vielleicht aller Freiheit, ein zweischneidig Schwert ist, das verletzen kann, man weiß nicht wie, so hab’ ich Sie fragen wollen.‹« Irrungen, Wirrungen, HFA I/2, S. 461f. Vgl. dazu v.a. Dan Diner, Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments. München 22003. Lehnert, Waldemar und Schach sterben alle vor der Ehe – auch wenn Schach noch heiratet.
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betrachtet sei, sein Augenmerk auf das übergreifende Modernisierungsgeschehen am Ende des 19. Jahrhunderts, also auf Technisierung, Urbanisierung und soziale Mobilisierung des gesamten Daseins. Die damit einhergehenden gesellschaftlichen Emanzipations- und generell Transformationsprozesse stehen auf der Ebene des Erzählten, das sich im Wesentlichen als »wertende Verständigung über Werte« darbietet,42 im Zentrum des Interesses. Zu den »Zeichen der Zeit«, so die im Text wiederkehrende Formulierung43 für das sogenannte »Neue«, gehören unter anderem die Macht der Zeitungen, die Telegraphie, die Sozialdemokratie und folglich das »[V]erbebeln« der Gesellschaft (St, S. 22), der Fortschritt, die »Krittikk« (St, S.132), die Revolution, die Stärke Englands, die allgemeine lokale und soziale Mobilität, Agnes’ »rote Strümpfe« (St, S. 352f.)44 und natürlich die »dumme Freiheit« (St, S. 353), wie Adelheid von Stechlin, die älteste Person im Text, dies nennt. Selbstverständlich kommt man auch hier auf Amerika als Inbegriff der Freiheit zu sprechen, nicht zuletzt weil Dr. Pusch, ein zum Kreis der Barbys zählender Freund, dort länger gelebt hat, allerdings »das Freie dort freier [fand], als ihm lieb war« (St, S. 297), fast so wie einst Kürnbergers Dr. Moorfeld, und deshalb wieder nach Europa, genauer: nach Berlin zurückgekehrt ist. Während Dr. Pusch tatsächliche Freiheit nicht aushalten konnte, wird sie vom neureichen Mühlenbesitzer Gundermann schlicht als »Unsinn« abgekanzelt (St, S. 194). Er begrüßt zwar die ökonomische Liberalisierung, weil sie ihn, den »Parvenu« (St, S. 25), zu Vermögen kommen lässt, lehnt aber die politische Liberalisierung strikt ab. Und Adelheid, die »Mißtrauen gegen alles, was die Welt der Schönheit oder gar der Freiheit auch nur streifte« (St, S. 82), hegt, spricht folgerichtig nur geringschätzig von der Freiheit und sucht sie ins Lächerliche zu ziehen, wenn sie zu ihrem Bruder Dubslav über die Repräsentanten der Modernisierung sagt: »Laß sie doch mit ihrer ganzen dummen Freiheit machen, was sie wollen. Was heißt Freiheit? Freiheit ist gar nichts; Freiheit ist, wenn sie sich versammeln und –––––––––––– 42
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Zu diesem wesentlichen Kriterium literarischer Rede vgl. Gottfried Willems, Literatur. In: Ulfert Ricklefs (Hrsg.), Fischer Lexikon Literatur. Bd. 2: G–M. Frankfurt am Main 1996, S. 1006–1029, hier S. 1012. In überzeugender Weise hat erst unlängst Norbert Mecklenburg die »ethische Dimension« des Fontaneschen Erzählens herausgestellt und hier den Zusammenhang von »Diagnostik und Ethik« betont: »Generell aber darf über der diagnostischen die ethische Dimension des Erzählens nicht ignoriert werden, das nachdrückliche erzählerische Interesse daran, wie und in welcher Richtung das Individuum seine begrenzten Spielräume wahrnehmen könnte und sollte, um das ihm mögliche Maß an Autonomie und Integrität zu erreichen.« Norbert Mecklenburg, Theodor Fontane. Realismus, Redevielfalt, Ressentiment. Stuttgart 2018, S. 4f., 30 und 31. Der Stechlin, HFA I/5, S. 26 und 69. Alle weiteren Angaben im Fließtext, Sigle St. Vgl. hierzu Joachim Müller, Das Alte und das Neue. Historische und poetische Realität in Theodor Fontanes Roman ›Der Stechlin‹. Berlin 1984, S. 4 sowie Eric Miller, Die roten Fäden des roten Hahns. Zu einem Motivkomplex im ›Stechlin‹. In: FBl 67 (1999), S. 91–105.
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Bier trinken und ein Blatt gründen.« (St, S. 353) – An diesen Beispielen zeigt sich eindrücklich, wie stark die im Text artikulierten Wertungen an die individuellen Perspektiven geknüpft, also redend vermittelt und perspektivisch verkürzt sind, und wie der Autor dies als Differenzierungs- und Objektivierungsverfahren im übergreifenden textuellen Wertungsgeschehen nutzt. Denn gerade Gundermann und Adelheid von Stechlin sind die am negativsten gezeichneten Figuren im Text. Was sie über die Freiheit sagen, besitzt nur eingeschränkte Geltung, weil sie es sind, die es sagen. Der eigentliche Schauplatz der Verhandlung und Bewertung von Freiheit im Licht diverser Anschauungen und Lebensbedingungen sowie den Möglichkeiten ihrer Lebbarkeit ist denn auch ein anderer, auf dem zugleich deutlicher zum Vorschein kommt, was Pragmatismus der Freiheit bei Fontane heißen kann.45 Dieser Pragmatismus hat im Roman seine ganz unmittelbare Dimension in der permanenten Rede von der »Wahl«. Was ist damit gemeint? Gewiss nicht das, was Kierkegaard im existenzphilosophischen Sinne unter »Selbstwahl« versteht.46 Vielmehr ist damit der Umstand bezeichnet, dass die Figuren im Text immer wieder in Situationen der Wahl gebracht werden, unablässig wählen und hierdurch ihrer Freiheit als subjektivem Handlungsspielraum Ausdruck verleihen müssen. Das wird sowohl über die tatsächlich anstehende Wahl, bei der Dubslav von Stechlin als Kandidat antritt, konkret motiviert, als auch über die hiermit verbundenen Kontroversen über das moderne »Wahlrecht« (St, S. 194), das als Institutionalisierung der Freiheit ebenfalls zu den »Zeichen der Zeit« gerechnet wird und ein Sinnbild demokratischer Willensbildung darstellt. Die auch quantitativ umfangreiche Schilderung des Wahltags und seiner Folgen über mehrere Kapitel hinweg unterstreicht die enorme Relevanz dieses Vorgangs für das Verständnis des Romans insgesamt als Problematisierung von Freiheit –––––––––––– 45
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Ähnlich sieht dies Mecklenburg, wenn er konstatiert, dass bei Fontane »an die Stelle der großen Ethik mit Schillerkragen eine kleine Ethik und Ästhetik des Alltagslebens diesseits von Gut und Böse zwischen Überleben und richtigem Leben [rückt].« Mecklenburg, Theodor Fontane (wie Anm. 42), S. 31. Nicht vergessen sei aber, dass sich diese Ethik vielfach im Resonanzraum Schillers bewegt. Soweit ich sehe, liegt eine systematische Untersuchung der intertextuellen Bezüge zwischen Fontane und Schiller noch nicht vor, obwohl sich in einer Fülle an Texten Fontanes direkte und indirekte Zitate Schillers finden sowie Verweise und Anspielungen auf seine Werke, was natürlich auch mit der allgemeinen Schiller-Begeisterung im 19. Jahrhundert zusammenhängt. Wichtige Hinweise gibt Hans-Heinrich Reuter, Fontane. München 1968, S. 425–434; siehe außerdem Ehrhard Bahr, Fontanes Verhältnis zu den Klassikern. In: Pacific Coast Philology 11 (1976), S. 15–22 sowie Hugo Aust, Kulturelle Traditionen und Poetik. In: Fontane-Handbuch (wie Anm. 37), S. 306–465, hier S. 310–313. Ein überzeugendes Beispiel für die enorme interpretative Reichweite der Schiller-Bezüge Fontanes bietet neuerdings Florian Krobb mit seiner Analyse von Cécile. Florian Krobb, »Das ist ja der reine Wallensteins Tod.« Die Wallenstein-Namen in Fontanes ›Cécile‹ als hermeneutische Indikatoren. In: Weimarer Beiträge 65/3 (2019), S. 363–379. Vgl. Sören Kierkegaard, Entweder–Oder. Hrsg. v. Hermann Diem und Walter Rest. München 21993, S. 728.
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im Zeichen der Wahl (St, S. 179–202).47 Dubslav stellt sich dabei mehr oder minder freiwillig zu einer Wahl, die den Adligen hauptsächlich als »Komödie« erscheint (St, S. 185), wird aber nicht gewählt, was er »ganz von der heiteren Seite« nimmt (St, S. 191). Einerseits wird er nicht gewählt, weil man, so die Unterstellung, gegen ihn intrigiert habe (St, S. 185), andererseits bescheinigt man ihm, zwar »das richtige Herz« zu haben, allerdings »das falsche Prinzip« – dies zumindest ist Isidor Hirschfelds Begründung, »den guten alten Herrn von Stechlin« nicht zu wählen (St, S. 164). Die Wahl als konkret politisches Ereignis ist das eine, das andere sind die Wahlmöglichkeiten der Figuren im Rahmen ihrer individuellen Lebensführung. Obwohl der kollektiven Wahl im Erzählprozess relativ viel Raum zugestanden wird, erscheint sie doch durchweg in ironisch-kritischem Licht, zumal niemand sie recht ernst zu nehmen scheint und sich alle aufs Essen freuen: »Siegen ist gut, aber Zu-Tische-Gehen ist noch besser. Und in der Tat, gegessen mußte werden. Alles sehnte sich danach, bei Forellen und einem guten Chablis die langweilige Prozedur zu vergessen.« (St, S. 191) Hier zeigen sich natürlich Unverständnis und Naivität der Adligen gegenüber den sozialen Modernisierungsprozessen, zugleich aber teilt sich hier eine grundlegende, vom Autor geteilte Skepsis mit, der an seinen Sohn Friedrich Fontane am 16. Juni 1898 schrieb: »Dieser ganze Wahlkrempel kann unmöglich der Weisheit letzter Schluß sein. In England oder Amerika vielleicht oder auch gewiß, aber bei uns, wo hinter jedem Wähler erst ein Schutzmann, dann ein Bataillon und dann eine Batterie steht, wirkt alles auf mich wie Zeitvergeudung. Hinter einer Volkswahl muß eine Volksmacht stehn, fehlt die, so ist alles Wurscht.«48 Diesem augenscheinlich lächerlichen kollektiven »Wahlkrempel« wird im Roman die Sinnfälligkeit des kontinuierlichen individuellen WählenMüssens gegenübergestellt. Aufgrund ihres adligen Standes, ihrer Vermögenslage sowie ihres Sozialprestiges befinden sich die Figuren zumindest äußerlich in der Position maximaler lebensweltlicher Freiheit, ohne die –––––––––––– 47
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Die Forschung hat darauf mehrfach hingewiesen, insbesondere dort, wo sie, Fontanes Wort vom »politischen Roman« folgend, die politische Dimension des Textes herausstellt. Vgl. etwa Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. Zweite, durchgesehene Auflage. Stuttgart 1980, S. 430f.; für Eda Sagarra bildet die Wahlkampagne im Stechlin eher ein »komisches Intermezzo«. Eda Sagarra, Geschichte als Prozess. Von der Honoratiorenpartei zur Massendemokratie: Wahlen und Wähler beim späten Fontane. In: FBl 76 (2003), S. 44– 61, hier S. 54; Gerhard Neumann dagegen sieht die Wahl »im Mittelpunkt des Romans«; sie sei »sein einziges weitreichendes ›Ereignis‹«, nämlich »als ein Distinktionsritual im Feld individuellen wie öffentlichen Ordnungsgeschehens«. Gerhard Neumann, Theodor Fontane. Romankunst als Gespräch. Freiburg/Berlin et al. 2011, S. 151. Fontane hat sich in seinem politischen Leben bekanntlich selbst mehrfach zur Wahl gestellt. Vgl. D’Aprile, Fontane (wie Anm. 25), S. 136. HFA IV/4, S. 728 (Hervorhebungen Fontanes).
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Zwänge und Zumutungen existentieller Notlagen. Diese weitgehende soziale Unabhängigkeit ist deshalb wichtig, weil Fontane auf diese Weise förmlich wie in einem Sozialexperiment den pragmatischen als den entscheidenden Wert der Freiheit ermitteln und vorführen kann. Die Figuren müssen sich, mit anderen Worten, immer wieder neu in Situationen der Freiheit bewähren. Und wirklich muss im Text immerzu mit lebensentscheidenden Konsequenzen gewählt werden. Das betrifft zuerst die Namen, die man den Kindern gibt. Dubslav hadert mit seinem eigenen, glaubt aber bei Woldemar das Richtige getan, nämlich »Namensmanscherei« (St, S. 11) vermieden zu haben: »Was ein Märkischer ist, der muß Joachim heißen oder Woldemar. Bleib im Lande und taufe dich redlich. Wer aus Friesack is, darf nicht Raoul heißen.« (St, S. 11) So wie hier Ort und Name eine kulturelle, in gewissem Sinne auch lautliche und semantische Einheit bilden sollen, so ist als zweites die Wahl des Ortes, an dem zu leben man sich entscheidet, selbst von herausragendem Belang, sei es England, Amerika oder Deutschland, sei es Berlin oder die Provinz, denn »die Platzfrage geht über die Stilfrage« (St, S. 78). Diese Frage wird gleich an mehreren Figuren durchgespielt, die sich entweder richtig oder falsch platziert haben.49 Freilich ist die Wahl des rechten Ortes nicht nur lokal zu verstehen, sondern auch sozial; die von Julius Petersen mitgeteilten Vorarbeiten Fontanes zum Roman zeigen die Zentralität dieses Aspektes: »Mich beschäftigt nur ob die richtigen Menschen an der richtigen Stelle sind.«50 Dazu gehört, dass nicht nur sämtliche Hauptfiguren, sondern auch etliche Nebenfiguren einen ausgeprägten »Platzierungssinn« aufweisen.51 Freilich hat ein Adliger erneut mehr als andere die Wahl, die »richtige Stelle« zu finden, und vorläufig liegt Woldemar, zumindest nach Einschätzung Czakos, noch falsch. Er »paßt doch nicht recht an seine Stelle« (St, S. 21), weil er sich mit Prinzen abgebe und folglich in zu »feinen« Kreisen verkehre –––––––––––– 49
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Vgl. Dirk Oschmann, »Wo soll man am Ende leben?« Zur Verschränkung von Raum- und Zeitsemantik in Raabes ›Stopfkuchen‹ und Fontanes ›Stechlin‹. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hrsg.), Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Berlin/Boston 2013, S. 213–236, hier S. 226–236. Zitiert nach HFA I/5, S. 451. Unter »Platzierungssinn« versteht Bourdieu den »Sinn für den eigenen sozialen Standort und für die richtige (Kapital-)Anlage, der untrennbar damit Sinn für die Realitäten und für die sogenannten vernünftigen Möglichkeiten ist«. Pierre Bourdieu, Homo academicus. Frankfurt am Main 32002, S. 286f. (Hervorhebung Bourdieus). Ein besonders amüsantes Beispiel bildet dafür im Text die durch den Lottogewinn ihres verstorbenen Ehemannes zu unverhofftem Reichtum gekommene Frau Schickedanz: »Hinter einem Dachfenster in der Georgenkirchstraße geboren, an welchem Dachfenster sie später für ein Weißzeuggeschäft genäht hatte, kam ihr ihr Leben, wenn sie rückblickte, wie ein Märchen vor, drin sie die Rolle der Prinzessin spielte. Dementsprechend durchdrang sie sich, still aber stark, mit einem Hochgefühl, das sowohl Geld- wie Geburtsgrößen gegenüber auf Ebenbürtigkeit lossteuerte. Sie rangierte sich ein und wies sich, soweit ihre historische Kenntnis das zuließ, einen ganz bestimmten Platz an: Fürst Dolgorucki, Herzog von Devonshire, Schickedanz.« (St, S. 121f.)
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(St, S. 21), statt einfach nur Mensch zu sein, was ihm besser anstünde. So aber müsse er »Gefühlsluxusse, Gesinnungsluxusse und […] Freiheitsluxusse« (St, S. 22) mitmachen und über seine Verhältnisse leben. Den umgekehrten Fall sozialer Mobilität als gesellschaftlichen Abstiegs kann man in Prinzessin Ermyntrud von Ippe-Büchsenstein beobachten, die Oberförster Katzler, also einen Bürgerlichen, geheiratet und somit falsch gewählt hat, wie Dubslav konstatiert: »Es ist doch nicht gut, wenn Prinzessinnen in Oberförsterhäuser einziehn. Sie sind dann aus ihrem Fahrwasser heraus und greifen nach allem möglichen, um in der selbstgeschaffenen Alltäglichkeit nicht unterzugehn.« (St, S. 330) Und natürlich lassen sich schon gegen die Klangkombination der Namen »Katzler« und »Ippe-Büchsenstein« ästhetische Einwände geltend machen, die Fontane, als Spezialist für sprechende Namen und deren lautlich-semantische Nuancierungen, mit hintergründigem Witz präsentiert. Woldemar immerhin kann seine Wahl noch korrigieren, nämlich, das ist der dritte Punkt, bei der Wahl der richtigen Frau.52 Er hat die Wahl, genauer: die »Qual der Wahl: Melusine oder Armgard?«53 Wider Erwarten entscheidet er sich allerdings für Armgard statt für Gräfin Melusine, nach Meinung aller anderen, insbesondere Czakos, die eigentliche Attraktion: »Ich habe nämlich immer nur die Gräfin angesehn und begreife nach wie vor unsren Stechlin nicht. Nimmt da die Schwester! Er hatte doch am Ende die Wahl. Der kleine Finger der Gräfin (und ihr kleiner Zeh nun schon ganz gewiß) ist mir lieber als die ganze Komtesse.« (St, S. 297)54 Letztlich gesteht jedoch auch Dubslav, trotz einer ebenfalls vorhandenen Vorliebe für Melusine, seinem Sohn zu, dass er »richtig gewählt« habe (St, S. 247). Denn Armgard passt nicht nur »besser, weil sie jung ist« (St, S. 115), sondern weil sie sich, was zunächst kontraintuitiv erscheint, im Unterschied zu der doch im Banne mythischer Gewalten stehenden Melusine gleich auf mehreren Ebenen im Zeichen der Freiheit bewegt. Denn erstens kommt sie aus der Schweiz, die als zwar »wildes«, vor allem aber »freies Land« bezeichnet wird (St, S. 160).55 Zweitens trägt sie einen nicht weniger anspielungsreichen, –––––––––––– 52
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Um Missverständnisse zu vermeiden: in diesem Text sind es die Männer, deren Wahlmöglichkeiten vorgeführt werden, politisch ebenso wie privat – wie es Ende des 19. Jahrhunderts auch kaum anders sein konnte. Vgl. den entsprechenden Abschnitt bei Stefan Neuhaus, Still ruht der See. Revolutionäre Symbolik und evolutionärer Wandel in Theodor Fontanes Roman ›Der Stechlin‹. In: FBl 57 (1994), S. 48–77, hier S. 58–61. Sich für die richtige Frau zu entscheiden, ist hier von existentieller Relevanz und gelingt in Fontanes Werk bekanntlich nicht immer, wie man sowohl an Graf Petöfy als auch an Schach von Wuthenow sehen kann, die in den Augen der Gesellschaft falsch wählen – Franziska ist zu jung, Victoire durch Blatternarben entstellt – und dies beide mit dem Freitod bezahlen. In einer ganzen Reihe von Texten etabliert Fontane solche klar mit der Freiheit korrelierten Orte. Im Stechlin gehören dazu neben der Schweiz natürlich Amerika und England, in Graf Petöfy ist es Ungarn, in Unwiederbringlich Kopenhagen, in Effi Briest zumindest zeitweise Berlin.
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sprechenden Namen als ihre Schwester, allerdings wird der ihre nirgends Gegenstand der Reflexion im Text. Doch in Schillers Freiheitsdrama Wilhelm Tell ist Armgart bekanntlich jene Figur, die sich, um ihren Mann aus dem Gefängnis zu befreien, in der »hohlen Gasse« dem Tyrannen Gessler todesmutig mit ihren Kindern in den Weg stellt, zu dessen Unmut also noch den »kecken Geist der Freiheit« zeigt,56 weshalb er sie niederreiten will und auf diese Weise Tell den letzten Anstoß gibt, ihn zu töten. Drittens zeichnet sich Armgard durch ein völlig unabhängiges Urteilsvermögen aus. Als sie erklären soll, ob sie eher Elisabeth I. oder Maria Stuart den Vorzug geben würde, entscheidet sie sich für eine dritte Option. Ihre Wahl fällt zur Überraschung der anderen auf »Elisabeth von Thüringen […] Andern leben und der Armut das Brot geben – darin allein ruht das Glück.« (St, S. 244) Viertens schließlich wird sie Woldemar selbst in die Freiheit führen und ihm helfen, sozial und lokal die angemessene Position zu finden, indem sie am Ende der Handlung mit ihm auf das Gut Stechlin zieht. Der rechte Ort, das Gefühl, am rechten Platz zu sein, steht in engster Verbindung mit der Verwirklichung individueller Freiheit: »Die Scholle daheim«, sagt Woldemar in diesem Sinne, »die dir Freiheit gibt, ist doch das Beste.« (St, S. 387) Armgard wählen, heißt richtig wählen, weil es heißt, die Freiheit zu wählen.57 – Über Namen, Orte und Frauen hinaus sollen immer wieder auch die richtigen Worte und, damit verbunden, die richtigen Werte in der Spannung von Altem und Neuem gewählt werden,58 wobei sich Adorno zufolge wirkliche Freiheit darin bezeugen würde, gar nicht erst wählen zu müssen.59 Woldemar, der den richtigen Namen hat, den richtigen Platz im Leben und die richtige Frau an seiner Seite,60 darf am Schluss, gleichsam zur Belohnung, auf die Freiheit hoffen. Ihr eigentlicher Repräsentant im Alltag –––––––––––– 56
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Vgl. Friedrich Schiller, Wilhelm Tell. In: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. v. Otto Dann et al. Band 5: Dramen IV. Hrsg. v. Matthias Luserke. Frankfurt am Main 1996, S. 385– 505, hier S. 485 (4. Aufzug, 3. Szene). Vgl. in dem Zusammenhang auch Rolf Zuberbühler, »Ich habe einen ganz freien Sinn, bin aber freilich nicht ›freisinnig‹«. Fontanes politischer Altersroman ›Der Stechlin‹. In: FBl 102 (2016), S. 74– 114, hier S. 95. Die Fähigkeit, gut sprechen zu können und dabei die »richtigen Worte« zu finden, zieht sich als Thema durch den gesamten Text (St, S. 98, 192, 329f. u.ö.) und wird wie in den Aufklärungsdiskursen als wesentliches Kennzeichen der Menschlichkeit immer wieder anthropologisch aufgeladen – natürlich auch in ironischer Form: »Und dann sollen wir uns ja auch durch die Sprache vom Tier unterscheiden. Also wer am meisten red’t, ist der reinste Mensch.« (St, S. 23) Gelobt wird vor allem Bismarck, denn der »hat immer das rechte Wort gefunden« (St, S. 186). »Freiheit wäre, nicht zwischen schwarz und weiß zu wählen, sondern aus solcher vorgeschriebenen Wahl herauszutreten.« Theodor W. Adorno, Minimal Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main 221994, S. 172. In Unwiederbringlich hatte Fontane bereits das Gegenmodell durchgespielt, wo der Protagonist Holk gleich doppelt falsch wählt: mit Kopenhagen den falschen Ort und mit Ebba die fal-
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aber ist sein Vater Dubslav, ein Mann ohne alle Prätention, der nicht nur »eine freie Meinung« liebt, »je drastischer und extremer, desto besser« (St, S. 10), sondern auch »innerlich so frei« agiert wie niemand sonst (St, S. 117) und über den Pastor Lorenzen am Grab zu sagen vermag: »Er war recht eigentlich frei« (St, S. 377), insbesondere deshalb, weil er »ein Herz« hatte: »Er hatte vielmehr das, was über alles Zeitliche hinaus liegt, was immer gilt und immer gelten wird: ein Herz.« (St, S. 377) Mit Dubslavs »Lauterkeit des Herzens« (St, S. 378) greift Lorenzen, dem selbst ausdrücklich ein »reines Herz« bescheinigt wird,61 das zentrale und über den Text hinweg zunehmend objektivierte Wertungsmoment auf, welches der Erzähler auf der Ebene der Darstellung gleich zu Beginn mit der Rede von Dubslavs charakteristischer »Herzlichkeit« einführt (St, S. 25) und das dann auf der Ebene des Dargestellten von so unterschiedlichen Figuren wie Woldemar und den Hirschfelds bekräftigt wird, wo sie das »gute Herz« bzw. »richtige Herz« Dubslavs loben (St, S. 49 und 164). In Freiheit ist es das Herz, das einem Lebendigkeit und Selbstgefühl gewährt und das obendrein zur Orientierung dient, indem es stets das Augenmaß bewahrt und die rechte Wahl treffen lässt.62 Kein Zufall also, dass Dubslavs bestimmende Lebensmaxime ––––––––––––
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sche Frau. Er wird dadurch zum »Heimatlosen« und verliert sein gesamtes Lebensglück. Unwiederbringlich, HFA I/2, S. 791. Dass umgekehrt auch die Frauen falsch wählen können, steht außer Frage. Corinna in Frau Jenny Treibel wird gerade noch daran gehindert, Leopold Treibel zu ehelichen, aber Effi begeht einen fatalen Fehler, indem sie aus einer Mischung von jugendlicher Naivität und gesellschaftlichem »Ehrgeiz« Innstetten heiratet, also einen Mann ohne »jede Herzensgüte«. Effi Briest, HFA I/4, S. 82 und S. 134. Innstetten erweist sich in der Folge als kapitaler »Mißgriff«. Daragh Downes, Effi Briest. In: Fontane-Handbuch (wie Anm. 37), S. 633–651, hier S. 641. Kloth-Manstetten beschreibt die Ausgangssituation hier sehr genau: »Aus alledem kann man den Schluss ziehen, dass schon in der Einwilligung in die Ehe mit Innstetten ein Versäumnis Effis besteht, es ist ein Fehltritt lange vor dem der Untreue, insofern sie eine Ehe eingeht, die gebrochen werden muss.« Kloth-Manstetten, Die versäumte Freiheit (wie Anm. 6), S. 80 (Hervorhebung Kloth-Manstettens). – Auch Franziska in Graf Petöfy geht eine Ehe ein, die – diesmal aufgrund des großen Altersunterschieds – gebrochen werden muss, denn »junges Blut will junges Blut«. Am Ende »war nur geschehen, was geschehen mußte […] dieser natürliche Gang der Dinge«. Graf Petöfy, HFA I/1, S. 751 und 854. Im Gespräch zwischen Woldemar und Melusine heißt es über Lorenzen: »›Aber soviel bleibt: ich liebe ihn sehr, weil ich ihm alles verdanke, was ich bin, und weil er reinen Herzens ist.‹ ›Reinen Herzens‹, sagte Melusine. ›Das ist viel. Und Sie sind dessen sicher?‹ ›Ganz sicher.‹« (St, S. 153f.) Dass der protestantische Geistliche Lorenzen mit dieser Würdigung auch Luthers Verschränkung von Herz und Freiheit anklingen lässt, steht angesichts seiner »kleinen Lutherneigung« (St, S. 53) wohl außer Frage. Allerdings kehrt er die Relation um, indem er das rechte Herz zur Bedingung der Freiheit macht, während es bei Luther gegenteilig heißt: »Siehe, das ist die rechte, geistliche, christliche Freiheit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, welche alle andere Freiheit übertrifft, wie der Himmel die Erde.« Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen. In: Ders., An den christlichen Adel deutscher Nation. Von der Freiheit eines Christenmenschen. Sendbrief vom Dolmetschen. Hrsg. v. Ernst Kähler. Stuttgart 2004, S. 110–150, hier S. 150. Zum Wert der »Herzensbildung« bei Fontane vgl. auch Mecklenburg, Theodor Fontane (wie Anm. 42), S. 35.
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einem berühmten Drama der Aufklärung entstammt, nämlich Schillers Wallenstein. Sie lautet: »leben und leben lassen.« (St, S. 322)63 In ihm deshalb eine Art »aufgeklärten Fürsten« zu erblicken, dürfte einleuchten. Und nichts wiederum entspricht als Wendung ins Pragmatische, als Übersetzung des philosophischen Toleranzgebots in tagtägliches Verhalten genauer dem aufklärerischen, in Schillers Kallias-Briefen doppelt motivierten Postulat, fremde Freiheit zu schonen und zugleich selbst Freiheit zu zeigen.64
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In Wallensteins Lager heißt es vom Feldherrn Tilly: »Dem eigenen Körper war er strenge; / Dem Soldaten ließ er vieles passieren, / Und ging’s nur nicht aus seiner Kassen, / Sein Spruch war: leben und leben lassen.« Friedrich Schiller, Wallenstein. Ein dramatisches Gedicht. Hrsg. v. Frithjof Stock. Frankfurt am Main 2005, S. 28. »Es ist auffallend, wie sich der gute Ton (Schönheit des Umgangs) aus meinem Begriff der Schönheit entwickeln läßt. Das erste Gesetz des guten Tones ists: Schone fremde Freiheit. Das zweite: zeige selbst Freiheit.« Friedrich Schiller, Kallias, oder über die Schönheit. In: Ders., Theoretische Schriften. Hrsg. v. Rolf-Peter Janz. Frankfurt am Main 2008, S. 276–329, hier S. 316 (Hervorhebungen Schillers).
Naturen und Normen Fontanes Wahrheitsdiskurs im Kontext des Spätrealismus Monika Ritzer
I Theodor Fontane war so ziemlich der einzige Autor von Rang, der sich rückhaltlos und einigermaßen just in time zum Realismus bekannte. Sein 1853 in Karl Biedermanns Deutsche Annalen zur Kenntniß der Gegenwart und Erinnerung an die Vergangenheit veröffentlichter Essay, Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848, verortet die Literatur im Kontext einer Zeit, die nach den ideologischen Exzessen von 1848 des Spekulierens müde ist und in der Politik wie in den Wissenschaften nach Praxis und Pragmatik verlangt. »Wir haben, ebenso wie den philosophischen, den politischen Idealismus satt«, schreibt Ludwig Feuerbach zeitgleich im Vorwort seiner Heidelberger Vorlesungen.1 Das gebildete Deutschland erteilte »der Theorie den Absagebrief« und ging zum Tagesgeschäft über, lästert Friedrich Engels später.2 Doch lag es an der Erfahrung der Vormärzjahre, dass sich der nun Breitenwirkung erlangende Realismus auf die Objektivität der Fakten berief. »Nichts ist so unwiderleglich, als ein Gegenstand«, notierte Hebbel im Tagebuch.3 Diese geradezu euphorische Hoffnung auf die Evidenz und Effektivität der Realität finden wir auch bei Fontane. Nicht nur der Weltschmerz der 1830er Jahre wurde »unter Hohn und Spott« zu Grabe getragen, so Fontane 1853, sondern auch »jene Tollheit« der 1840er, »die ›dem Felde kein golden Korn wünschte, bevor nicht Freiheit im Lande herrsche‹«, habe ihren Urteilsspruch gefunden. Nach der Befreiung vom ideologischen Ballast sei der Realismus »eingezogen wie der Frühling, frisch, lachend und voller Kraft, ein Sieger ohne Kampf«.4 –––––––––––– 1 2 3 4
Ludwig Feuerbach, Gesammelte Werke, 21 Bde., hrsg. von Werner Schuffenauer, Berlin 1967– 2004, Bd. 6, S. 7. Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1886). In: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, 44 Bde., Berlin 1956ff., Bd. 21, S. 306. Friedrich Hebbel, Tagebücher, 2 Bde., hrsg. von Monika Ritzer, Berlin/Boston 2017, Bd. 1, T 4868, 5271. HFA III/1, S. 241.
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Die Worte bezeugen allerdings eine gewisse Ignoranz seitens Fontanes, dessen Schriftstellerei sich zu dieser Zeit noch weitgehend auf die Journalistik beschränkt. Denn in der Literatur ging die erste Generation der Realisten bereits seit Anfang der 1840er Jahre kritisch, seit 1848 gezielt ›bildend‹ gegen die restaurativen (Romantik) wie progressiven (Vormärz) Ideologismen an – Stifter etwa, oder Keller und Hebbel –, in der Philosophie begleitet von Feuerbach, bei dem wir die entsprechenden Manifeste finden. Geradezu hymnisch verkündete er 1844 die Formel, die den Realismus der ersten Stunde komprimiert, nämlich »Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch«.5 Diese Gleichsetzung ist nichts weniger als naiv. Sie rekurriert vielmehr auf die Qualität einer empirischen Erkenntnis, die erstmals der Wirklichkeit Raum gibt, ohne sie – à la Christentum, Idealismus, Romantik und Politik – als das per se ›Unwahre‹ (Hegel) zu suspendieren oder ideell zu vereinnahmen. Welch ein jahrhundertealter Widerspruch, so Feuerbach, »die Wahrheit von der Wirklichkeit, die Wirklichkeit von der Wahrheit abzutrennen!«6 Wie der wahre Mensch vitales Individuum sei, so werde ihm das »Wirkliche in seiner Wirklichkeit« zum Objekt sinnlicher Erkenntnis. »Nur durch die Sinne wird ein Gegenstand im wahren Sinn gegeben – nicht durch das Denken«.7 Das hat mit der Objektivität, d. h. Neutralität und Sachlichkeit sinnlicher Wahrnehmung zu tun, in der das Sehen nicht das einzige, aber das primäre Medium bildet. Der Realismus beginnt ja, in Philosophie wie Literatur, mit der Kritik an der subjektiven Befangenheit ideeller Weltbilder. Es gilt, die Vorstellungen und ›Mythen‹ (so Stifter im Hochwald) aufzubrechen, um zu unterscheiden, so Feuerbach, »zwischen dem, was der Natur, und dem, was dem Menschen angehört«.8 Die dem Realismus gern unterschobene »Identität von Denken und Sein« bildet, wie Feuerbach klarstellt, gerade dessen Kritikpunkt gegenüber dem Idealismus. Mit den anthropomorphen Vorstellungen von Ordnung, Zweck und Gesetz hat das derart freigelegte System der Natur daher nichts mehr zu tun, das bald eine wissenschaftlich intensivierte Naturforschung erschließt.9 Die Wirklichkeit
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Feuerbach, Gesammelte Werke (wie Anm. 1), Bd. 9, S. 316. Ebd., S. 299. Ebd., S. 316. Ebd., Bd. 10, S. 345. »Die Menschen sehen zuerst die Dinge nur so, wie sie ihnen erscheinen, nicht, wie sie sind, sehen in den Dingen nicht sie selbst, sondern nur ihre Einbildungen von ihnen«. Die Vorstellung liegt dem »subjectiven Menschen« daher näher, »denn in der Anschauung wird er aus sich herausgerissen« (Bd. 9, S. 326). Ebd., Bd. 10, S. 345.
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kann sich vielmehr ziemlich ›ungemütlich‹ (Feuerbach) gebärden – wie Stifters spektakuläre Naturkatastrophen veranschaulichen –, ohne ihre fundamentale Systematik in Frage zu stellen.10 Das unverstellte und unvoreingenommene Sehen dessen, was ist, gilt daher keineswegs als Selbstverständlichkeit, sondern als eine Leistung, die die erste Generation der Realisten in ihren Werken exemplifiziert und mit Nachdruck einfordert. Kellers Diktum von der »Freiheit und Unbescholtenheit unserer Augen«11 meint eine ethische Läuterung des Blicks, die physiologische ebenso wie mentale Funktionen umfasst. Die Dinge sehen, wie sie für sich sind, also in der Wahrheit ihrer Natur, wird zu einem Lernprozess, den Stifter in den Arbeitsphasen seiner Studien bei Figuren und Lesern einübt. »Ich hatte Gelegenheit, als wir weiter gingen, die Wahrheit dessen zu beobachten, was der Großvater gesagt hatte«, heißt es in Granit, und so ergeht sich der Enkel in Akten einer engagierten Wahrnehmung, deren sinnliche Präzision das iterativ benannte »ich sah« und »ich hörte« verbürgen.12 In »Sachen der Natur muss auf Wahrheit geachtet werden«, lernt der junge Protagonist, ein »Freund der Wirklichkeit der Dinge«, im Nachsommer von seinem Mentor, und das verlangt sowohl angespannte Aufmerksamkeit als auch eine vertiefte Kenntnis der realen Verhältnisse.13 Beobachtung, Verständnis und Wissen sind ganz wesentlich korreliert. Im Bildungskapitel des Grünen Heinrich erläutert Keller in Bildern, die das Essenzielle der Vorgänge gleich poetischen ›Fettaugen‹ komprimieren, wie Lichtreiz und Rezeptionsstruktur des Auges im Sehen zusammenwirken und so die mentalen Prozesse steuern, in denen sich die Wahrnehmung aufbaut. Sehen und Begreifen seitens des Menschen entsprechen Gestalt und Wesen seitens der Dinge. Flankiert werden die literarischen Modelle von ersten naturwissenschaftlichen Analysen, etwa bei Hermann Helmholtz, dessen Kritik des Sehens sich explizit gegen die Extreme der Restaurationszeit positioniert: einerseits den Idealismus Hegels und Schellings, der die Gesetze des Geistes zu denen der Wirklichkeit macht, andererseits den Empirismus, der sich mit der Requirierung von Fakten begnügt. Die literarische Entsprechung dieser Frühphase finden wir im sogenannten Detailrealismus der ›Bilder‹ und ›Skizzen‹, der seit Mitte der 1830er Jahre in den Feuilletons das wachsende Interesse der Leserschaft an ›Lebenswahrheit‹ befriedigt. Demgegenüber –––––––––––– 10
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Monika Ritzer, Die Ordnung der Wirklichkeit. Zur Bedeutung der Naturwissenschaften für Stifters Realitätsbegriff. In: Alfred Doppler und Johannes John et al. (Hrsg.), Stifter und Stifterforschung im 21. Jahrhundert. Biographie – Wissenschaft – Poetik, Tübingen 2007, S. 137–163. Gottfried Keller, Der grüne Heinrich. Erste Fassung, hrsg. von Thomas Böning und Gerhard Kaiser, Frankfurt am Main 1985, S. 459. Adalbert Stifter, Werke und Briefe, hist.-krit. Gesamtausgabe, hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald, Stuttgart 1978ff., Bd. 2.2, S. 33. Ebd., Bd. 4.1, S. 29, 51.
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propagieren die Realisten Eigenständigkeit und Kreativität der Kunst, ohne den Maßstab der Naturwahrheit aus den Augen zu verlieren. »Manchmal gingen wir dann hinaus, und sahen die Wolken und andere Dinge an«, heißt es in der Studienfassung von Stifters Mappe meines Urgroßvaters (1841), »und erkannten und freuten uns, daß sie auf den Bildern so gemacht waren, wie sie sind«.14 Diese komplexe Relation finden wir in Fontanes Aufsatz von 1853 zwar ansatzweise reflektiert, wenn er von der Überwindung »nackte[r]« Wirklichkeitsdarstellung, naturalistischer Elendsmalerei und poetischer Unmittelbarkeit spricht. Das Leben, heißt es in jenem bekannt schönen Vergleich, sei der bloße Steinbruch, aus dem sich der Künstler das Material für seine ›verklärende‹ Darstellung hole.15 Im Übrigen aber zeigt sich der Essayist ziemlich unbekümmert. Realismus reduziert sich für ihn auf das Diktum, »daß es zunächst des Stoffes, oder sagen wir lieber des Wirklichen, zu allem künstlerischen Schaffen bedarf.«16 Aktuell sei das ein »Fortschritt«17, aufs Ganze gesehen aber die Rückkehr zu einer alten Wahrheit, handle es sich beim Realismus doch schlicht um »die Kunst«.18 Der Überschwang ist nachvollziehbar, verkürzt aber rund drei Jahrtausende Literatur- und Mentalitätsgeschichte. Der Begriff ›Verklärung‹ ist in der Zeit nicht ungewöhnlich und erhält seine interdisziplinäre Relevanz in einem alle Künste durchziehenden Diskurs über die ›Idealität‹ eines künstlerischen Realismus, der seit Schiller mit dem Verdikt des ›Naturalistischen‹ und seit Daguerre mit dem Vorwurf der Abbildung zu kämpfen hat.19 Man kann daher aus heutiger Sicht alles darunter subsumieren, was das Stoffliche übersteigt: Organisation, Form, Sinn, Zusammenhang, Symbolik und Poetisierung. Prinzipiell geht es, wie Fontane gegen die Bilderflut der Restaurationszeit einwendet, um die Abgrenzung gegen die Mimesis der »Sinnenwelt« und die Verwechslung des Wesentlichen mit dem »Handgreifliche[n]« evozierter Tatsächlichkeit. Gefordert wäre »die Widerspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen«.20 Deren Wahrheit bleibt allerdings ein so weites Feld wie die nähere Bestimmung. Trotz Fontanes Reputation dürfte sein wenig ambitioniertes Programm zur nachhaltigen Deklassierung des Realismus beigetragen ha–––––––––––– 14 15 16 17 18 19 20
Ebd., Bd. 1.5, S. 173. HFA III/1, S. 240f. Ebd., S. 241. Ebd. Ebd., S. 238. Zum Diskurs in der Malerei am Beispiel von Louis Gurlitt vgl. Monika Ritzer, Friedrich Hebbel. Der Individualist und seine Epoche. Eine Biographie, Göttingen 2018, S. 357–360. HFA III/1, S. 242.
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ben. Was er wohl meint, sind die ›eigentlichen‹, weil die Lebenswelt organisierenden Kräfte. Nur steht zu befürchten, dass er sie kurzerhand mit jener Bürgerwelt identifiziert, die auch Julian Schmidt und Gustav Freytag ihrem seit 1848 in den Grenzboten ausgearbeiteten Programm zugrunde legen; nicht zufällig würdigt er Freytags Soll und Haben 1855 in einer langen Rezension als Krone realistischer Schöpfung.21 Im gleichen Tenor stutzt Kompagnon Schmidt den Realismus auf eine behagliche Bürgerlichkeit zurecht, die von der Kunst gesellschaftlich Passendes und beruflich Nützliches, kurz, die Widerspiegelung bürgerlicher Interessen erwartet. Nicht nur Hebbel macht Schmidts indoktrinativ reduktionistischer Realismusbegriff über Jahre zu schaffen.22 So finden wir noch in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg, deren erste Folgen ab 1859 unter dem bezeichnenden Titel Märkische Bilder in der Kreuzzeitung erscheinen, einen ziemlich undifferenzierten Wirklichkeits- und Realismusbegriff, obgleich Fontane damit einen persönlichen Neubeginn verbindet. Erst die Fremde habe ihn die Heimat gelehrt, schreibt er zu seinen »Schilderungen«, die das ›vaterländische Leben‹ der Mark wiedergeben wollen. Sorglos habe er es gesammelt, schreibt er in der Vorrede von 1861, »nicht wie einer, der mit der Sichel zur Ernte geht, sondern wie ein Spaziergänger«. Es sei daher »ein Buntes, Mannigfaches, das ich zusammengestellt habe: Landschaftliches und Historisches, Sitten- und Charakterschilderung, − und verschieden wie die Dinge, so verschieden ist auch die Behandlung, die sie gefunden«.23 Prinzip der heterogenen Mischung ist noch immer der Detailrealismus in der Unmittelbarkeit situativ präsentischer Schilderung und die Reihung von Episoden im launigen Wechsel von Bericht, Kommentar und Fiktion, garniert mit einer Prise Gemütlichkeit. »Detailschilderung behufs bessrer Erkenntniß und größrer Liebgewinnung historischer Personen, Belebung des Lokalen und schließlich Charakterisirung märkischer Landschaft und Natur«, kommentiert Fontane 1861.24 Es galt, Wesen und Wert einer alten Kulturlandschaft sichtbar werden zu lassen, wie er später rückblickend zusammenfasst: »Mein stolzes Beginnen lief nun darauf hinaus: Allerkleinstes − auch Prosaisches nicht ausgeschlossen − exakt und minutiös zu schildern«, und durch »Simplizität, Durchsichtigkeit im einzelnen und Übersichtlichkeit […] auf eine gewisse künstlerische Höhe zu heben«, oder zumindest lesbar zu machen.25 –––––––––––– 21 22 23 24
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Ebd., S. 293–308. Ritzer, Friedrich Hebbel (wie Anm. 19), S. 542–549. HFA II/1, S. 11. Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, zitiert nach: Theodor Fontane, Der Dichter über sein Werk, 2 Bde., hrsg. von Richard Brinkmann und Waltraud Wiethölter, München 1973, Bd. 1, S. 514. Theodor Fontane an Heinrich Jacobi, HFA IV/4, S. 415.
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Der literarische Duktus wirkt in Vor dem Sturm nach, dessen erste Kapitel nach früheren Vorarbeiten 1862 bis 1865 entstehen. Noch herrscht der gemüthafte Ton der Schilderung, noch herrscht Konsens über die erzählte Wirklichkeit: In gemessener Haltung steigt der alte Kutscher am Weihnachstabend 1812 vom Sitz, um seinen jungen Herrn Lewin abzuholen. Zwar evoziert Fontane bereits die Beschränkung der Wahrnehmungssituation: Wer ihm in den dunklen Flur des Hauses, in dem wir ihn verschwinden sehen, gefolgt wäre, »hätte notwendig das stufenweise Stapfen […] hören müssen«.26 Aber noch arrangiert der Erzähler das Ambiente für die Gesprächsrunde, der er sich zugehörig weiß: »In der Halle schwelen noch einige Brände; schütten wir Tannäpfel auf und plaudern wir, ein paar Sessel an den Kamin rückend, von Hohen-Vietz«.27 Den in der Unterhaltung aufkommenden Problemen begegnen die Figuren trotz zunehmender Streitlust mit einem konsensfähigen, weil allgemeingültigen Wertekanon, nämlich Gott, Preußen und der »einfachen Wahrheit«, dass es in solcher Gesellschaft »ein Glück« bedeute, »aus einem guten Hause zu sein«.28 Damit ist der Roman schon zur Zeit der ersten Niederschrift nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Denn mit Beginn der 1860er Jahre verändern sich die Voraussetzungen für die Wahrnehmung von Wirklichkeit – die ich verschiedentlich andernorts dargestellt habe und hier nur resümieren kann – und das hat Folgen für die Wahrheit der Realität.
II Wie ein Fanal erscheint 1861 in der populären Gartenlaube eine der ersten Reaktionen auf Darwins Entstehung der Arten, nämlich Ludwig Büchners Aufsatz Das Schlachtfeld der Natur oder der Kampf um’s Dasein. Ungeachtet seines martialischen Titels wirbt der überzeugte Darwinist um das Interesse der Leser an einer Natur, die nun ›nachweislich‹ den ›Sohn der Natur‹ integriert, den Menschen, auch wenn sie sich dabei als so brutal erweist, wie sie sich in seinem populären Buch Kraft und Stoff (1855) bereits materialisiert darstellte.29 Nach dem Materialismus bildet der Darwinismus den nächsten mentalitätsgeschichtlichen Schock. Drohte der ausgewogene Wirklichkeitsbegriff der Realisten bereits ins Stoffliche zu kippen – wie Keller im Bil–––––––––––– 26 27 28 29
HFA I/3, S. 7. Ebd., S. 14. Ebd., S. 119. Monika Ritzer, Darwin und Darwinismus in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Kurt Bayertz und Myriam Gerhard et al. (Hrsg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Bd. 2, Der Darwinismus-Streit, Hamburg 2007, S. 154–186.
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dungskapitel des Grünen Heinrich an jenem Dozenten demonstriert, der unwillkürlich vom Realismus in den Materialismus driftet30 –, so verschärfen die nur-natürlichen Erklärungen des Lebens die Spannung zwischen Natur und Kultur, die für Keller noch spiegelbildlich sind. Ein halbes Jahr später finden wir in der gleichen Gartenlaube, nämlich in Storms Erzählung Im Schloss, das Entsetzen über die Brutalität des Lebens und ein paar Jahre später, im Umfeld der Reichsgründung, bei Storm wie C. F. Meyer die Verzweiflung über den Darwinismus der Politik. Storms und Raabes mitunter krude Überzeichnung tierisch-menschlicher Attitüden finden wir zwar bei Fontane nicht, und im Gegensatz zu Meyers Skepsis gegenüber den animalischen Trieben favorisiert er die Natürlichkeit seiner Figuren. Aber in der Problematisierung der Lebensphänomene, sei es Naturbedingtheit oder Vitalität, steht er den Kollegen in nichts nach. Verflochten mit Materialismus und Darwinismus und doch gegenläufig finden wir zeitgleich in den Wissenschaften wie in der Philosophie eine Neubewertung sensueller und mentaler Kategorien. In den Naturwissenschaften entwickelt sich die aufstrebende Sinnesphysiologie zur Grundlagenwissenschaften für die organischen Strukturen des menschlichen Weltverhältnisses, wie sie etwa Meyer in seinen optischen Konstellationen reflektiert.31 In der Philosophie plädiert der Heidelberger Vortrag von Eduard Zeller 1862 für eine Neubesinnung auf die formallogischen ›Denkoperationen‹, mittels derer wir erkennen, und etabliert damit die Erkenntnistheorie, die mit der Jugendschrift von Otto Liebmann, Kant und die Epigonen (1865), den Neukantianismus einleitet. Ein Jahr später folgt die zweibändige Untersuchung Friedrich Albert Langes, Geschichte des Materialismus, der den kognitiven Ansatz der Naturwissenschaften aufgreift und als Ausgangspunkt nimmt für seine kulturhistorisch umfassende »Aufklärung über die Prinzipien« sinnlich-geistiger Organisation von Welt. Für die Gegenwart empfiehlt Lange im Schlussteil den Übergang von den vorgängigen Wertungen zu einer Welt der Werte, in der sich Kultur verwirklicht.32 –––––––––––– 30
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Monika Ritzer, Physiologische Anthropologien. Zur Relation von Philosophie und Naturwissenschaft um 1850, In: Andreas Arndt und Walter Jaeschke (Hrsg.), Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg 2000, S. 113–140. Monika Ritzer, Die Tatsachen der Wahrnehmung. Zur Relation von Naturwissenschaft und Literatur im Realismus am Beispiel von Hermann Helmholtz und Conrad Ferdinand Meyer. In: Alfonso de Toro und Stefan Welz (Hrsg.), Rhetorische Seh-Reisen. Fallstudien zu Wahrnehmungsformen in Literatur, Kunst und Kultur, Frankfurt am Main 1999, S. 203–225. Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, 2 Bde., hrsg. von Alfred Schmidt, Frankfurt am Main 1974. »Wenn es erst erwiesen ist, daß die Qualität unsrer Sinneswahrnehmungen […] von der Beschaffenheit unsrer Organe bedingt ist«, so wäre zu folgern, »daß selbst der ganze Zusammenhang, in welchen wir die Sinneswahrnehmungen bringen, […] unsre ganze Erfahrung, von einer geistigen Organisation bedingt ist, die uns nötigt, so zu erfahren.« (Bd. 2, S. 456)
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»Das bedeutendste philosophische Werk, was in den letzten Jahrzehnten erschienen ist«, schwärmt der junge Nietzsche 1866. Kant, Schopenhauer und Lange, mehr brauche er nicht für seine nun anstehende Kritik der Wirklichkeit.33 Da die Sinnenwelt »das Produkt unserer Organisation« ist und wir selbst unsere Organe nur in Bildern haben, bleibt uns unsere »wirkliche Organisation« so unbekannt wie die »wirklichen Außendinge«. Wir haben nur »das Produkt von beiden vor uns.« ›Nervenreize‹ heißt es dann 1873 physiologisch korrekt in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, die Bilder, Begriffe, Illusionen evozieren. Nur das »Uebersehen des Individuellen und Wirklichen« konnte uns je an etwas wie Formen glauben lassen. »Was also ist die Wahrheit?« Eine Summe von »menschlichen Relationen«.34 Damit entfällt jeder Gedanke an »das wahre Wesen der Dinge«. Wir sollten uns vielmehr einlassen auf unsere Vorstellungen und, zumindest in Kunst und Kultur, unsere Fiktionen freigeben.35 In Hinsicht auf die doppelte Undurchdringlichkeit der Voraussetzungen, die Irreduzibilität unseres Bewusstseins wie die Undefinierbarkeit der Materie, verkündet der führende Naturwissenschaftler und einst glühende Materialist Emil du Bois-Reymond 1872 sein publikumswirksames ›Ignorabismus‹, das in der Kulturszene vernehmlich und für Jahrzehnte nachhallt. »Immer höhre Wissenstempel, / Immer richt’ger die Exempel / Wie Natur es draußen treibt«, reimt Fontane nonchalant im Nachlassgedicht Umsonst. »Und wir kommen doch nicht weiter, / Und das Lebensrätsel bleibt.«36 Diese Verrätselung der Wirklichkeit, deren Wahrheit sich im Für-wahr-Halten partikularer Individuen verflüchtigt, führt dazu, dass die Realisten der zweiten Generation – Raabe, Meyer, Storm, Fontane – anders über Realität schreiben. Bei Fontane finden wir keine ausdrückliche Revision seines Realismusbegriffs. Doch erkennen wir die veränderten Voraussetzungen wie in einem Brennspiegel in den Notizen, mit denen er seinen neuen Roman einkreist. Allerlei Glück lautet der Arbeitstitel des Werks, mit dem er Ende der 1870er Jahre zu experimentieren beginnt. Denn nun gibt es, statt der ständisch allgemeinen, vielerlei Vorstellungen, aber auch Realisierungen von Glück. Das hat mit der Unterschiedlichkeit der Individuen zu tun, die ihre Natur – ihr »Gesetz«, wie es im Blick auf die Unabdingbarkeit der Veranlagung heißt – in autogen eigenständiger »freier Bewegung« verwirklichen. »Nichts schrecklicher als der vorgeschriebene Weg.«37 Viele Wege führten nach –––––––––––– 33 34 35 36 37
Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bdn., hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1986, Bd. 2, S. 184. Ebd., Bd. 1, S. 880. Ebd., Bd. 2, S. 160. HFA I/6, S. 391. HFA I/7, S. 283.
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Rom, frohlockt Fontane 1879 im Duktus persönlicher Einsicht in einem Brief. »Das Glück besteht darin, daß man da steht, wo man seiner Natur nach hingehört« – wie auch die beiden charakterlich diametralen Antipoden in Raabes Stopfkuchen erfahren –, demgegenüber verblasse jede »Tugendund Moralfrage«.38 In seinem Faible für das Aparte und Freie überspielt er die aufkeimende Problematik individuell divergierender und mit anderen oder (im Fall von Ellernklipp) den ›regelrechten Verhältnissen‹ kollidierender ›Gesetze‹39, in der nicht nur Georg Simmel das Grundproblem der Moderne erkennt.40 Denn »allerlei Glück« bedeutet auch »allerlei Moral«, wie eine Figur zu Bedenken gibt, und in der Vielstimmigkeit des Werkplans erscheint diese Privatisierung der Moral abseits allgemeiner »Formeln« und »Pflichten« bald nicht mehr ganz so positiv.41 Obgleich sich das Individuelle mit innerem Recht jedem »Sittengesetz« entzieht, »darf es sich auch nicht zu sehr in Gegensatz dazu stellen«, heißt es vorsichtig in den Romanskizzen, diese »wichtige Stelle« wäre »sehr scharf zu präzisieren.«42 Hier, wie etwa auch in der Metaphorik des Blitzes, zeigen sich ›Größe und Gefahr‹ der Divergenz.43 Die Konsequenzen wären nämlich nicht zuletzt seelischer Art. Unsere Natur weise uns ja auf eine Befriedigung unseres Glücks innerhalb des Erlaubten oder zumindest Zulässigen hin, konstatiert eine Figur, so dass eine Verfehlung auf das Individuum selbst zurückwirke. »Der geringste Fehltritt […] oder auch nur Irrtum und das Glück ist hin.«44 Freilich wäre beides kaum zu vermeiden, solange »wir Erde sind«45, also Naturen, und gerade das interessiert den Dichter. Mag sein, dass Fontane das sich abzeichnende Dilemma von Natur und Norm unterschätzt, das der groß angelegte Gesellschaftsroman kühn »an einer Fülle von Erscheinungen« durchführen wollte;46 mag sein, dass er nur im Blick auf seine Finanzlage von dem langwierigen Projekt absieht. Jedenfalls finden wir zeitgleich eine erste Fokussierung auf den narrativen Nukleus einer Kollision in der ›Novelle‹ Grete Minde, die das Spätwerk eröffnet. Ein »brillanter Stoff«47, schreibt er über die Figur aus einer ›altmärkischen –––––––––––– 38 39 40
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Theodor Fontane an Gustav Karpeles, HFA IV/3, S. 19. Theodor Fontane an Gustav Karpeles, Ebd., S. 66. »Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft […] zu bewahren«. Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben. In: Ders., Brücke und Tür, hrsg. von Michael Landmann, Stuttgart 1957, S. 227–250, hier S. 227. HFA I/7, S. 268–270. Ebd., S. 260. So akklamiert man der »leidenschaftliche[n] Attraktion« des Blitzes, der sein Gesetz gerade dadurch erfülle, dass er »die gewöhnlichen Gesetze der Bewegung« vermeide. Ebd., S. 283. Ebd., S. 268. Ebd., S. 270. Theodor Fontane an Gustav Karpeles, HFA IV/3, S. 19. Theodor Fontane an Paul Lindau, HFA IV/2, S. 625.
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Chronik‹, die durch die Zumutungen ihrer Umwelt (»Habsucht, Vorurteil und Unbeugsamkeit«) und ihre interagierende Selbstgerechtigkeit (»Trotz des eigenen Herzens«) sich und die halbe Stadt vernichtet.48 Die Studie einer unter Stress egotrophierenden Individualität, die in der unruhigen Dynamik ihrer Natur (»Haß und Liebe«49) zu viele Blößen bietet, um nicht auszuscheren. Im Kern ein tragischer Stoff, Hebbels großes Thema. In der Breite und Nuancierung aber, deren es für Fontane in der Epik bedarf, ein »Sitten- und Charakterbild«50 als »psychologische Aufgabe«, die er nun erstmals »ohne Retardierung«, nämlich konzentriert auf das besondere Schicksal erzählen will.51 Er sammle jetzt geradezu Novellenstoffe, schrieb er am 15. Mai 1878 an Mathilde von Rohr, wenige Tage, nachdem er Paul Lindau erstmals von seiner Heldin berichtete; es kann alles ganz kurz sein, denn der eigentliche Keim zu einer Novelle kann in vier Zeilen stecken. Sogenannte ›interessante Geschichten‹, wenn es Einzelvorkommnisse sind, sind gar nicht zu brauchen; es kommt immer auf zweierlei an: auf die Charaktere und auf ein nachweisbares oder poetisch zu mutmaßendes Verhältniß von Schuld und Strafe. […] Die Nebendinge lassen sich erfinden, aber die Hauptsache muß gegeben sein[.]52
Diese ›Hauptsache‹, der fatale Konnex von Veranlagung, Herausforderung und Reaktion, qualifiziert bald alle Stoffe Fontanes, die, wie die Wirklichkeit selbst, ›gegeben‹ sind, in Chroniken, Kirchenbüchern oder Tageszeitungen. Die moralisch belasteten Begriffe, ›Schuld und Strafe‹, wird er gelegentlich neutralisieren. Denn es geht nicht um Bewertung oder Verurteilung, sondern um die Korrelation von Charakter und Schicksal, historisch nachweisbar oder poetisch zu konstruieren im System der Zeichen. Grete, die Fremde mit dem Mal der Außenseiterin, ist die erste der bald zahlreichen Figuren, in denen die Spannung der individuellen Natur zu Kulturformen der Gesellschaft akut wird. Denn es ist eine präkulturelle, ja im Fall von Ellernklipp manifest anti-kulturelle »Naturanlage«53 (wie es in Graf Petöfy heißt), die das Individuum prägt und bedingt. Das Spektrum reicht von weiblich konnotierter Elementarität über das ›Triebwerk‹ der seelischen Impulse, Egoismus und Erotik, bis zur Labilität männlicher Charaktere, wie Schach oder Holk. »[I]n die letzten [...] Triebfedern andrer oder auch nur unsrer eignen Handlungsweise hineinzublicken, ist uns versagt«, heißt es in –––––––––––– 48 49 50 51 52 53
Theodor Fontane an Paul Lindau, Ebd., S. 568. Theodor Fontane an Clara Stockhausen, Ebd., S. 619. Theodor Fontane an Paul Lindau, Ebd., S. 568. Theodor Fontane an Emilie Fontane, zitiert nach: Fontane, Der Dichter über sein Werk (wie Anm. 24), Bd. 2, S. 246. Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, HFA IV/2, S. 570. Graf Petöfy, HFA I/1, S. 698. Folgende Zitate im Fließtext unter der Sigle GP.
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Schach von Wuthenow.54 In ihrer Intrinsik bildet die individuelle Natur einen Schicksalsfaktor, der den Theaterkritiker Fontane 1873 angesichts von Sophokles’ Ödipus erschüttert. Dass und wie sie in Schuld verwickelt und wie diese wiederum zu Konsequenzen führt, die man als sittliche begreifen kann: dieser »tragische Gang von Ursach und Wirkung« bedeutet für Fontane nur einen Aspekt der Darstellung. Das »Größte und Gewaltigste« aber ist für ihn dieses »unerbittliche Gesetz«, das »von Uranfang an unsre Schicksale vorgezeichnet hat« – die »Schicksals-Tragödie« des Lebens also, die mit dem So-Sein der Individuen ihre Niederlage unter den Bedingungen der Realität, Zeit, Umwelt und Gesellschaft einleitet und damit ihr Unglück vorgibt.55 »Jeder verdient sein Schicksal«, notierte Hebbel 1847 im Kontext seiner innovativen ›Tragödie der Notwendigkeit‹, »es fragt sich nur, ob vorher oder nachher«.56 Ihr Naturell qualifiziert die Individuen ebenso, wie es sie einander entfremdet. Während Stifter im hyper-objektiven Erzählstil des späten Witiko noch das kleinste persönliche Moment zu nivellieren hofft, akzentuieren die Spätrealisten jene bei Nietzsche bezeichnete Interdependenz von Organisation und Weltbild, sei es in Gestalt variierender Wahrnehmungsbilder bei Meyer, durch die Staffelung narrativer Vermittlungsformen bei Storm oder durch das Spiel mit Subjektivität bei Raabe. Jeder »äußert seine Meinung in einer je nach dem Charakter, Alter und Geschlecht verschiedenen Weise«, heißt es in der Einleitungspassage von Raabes moralisch provozierender Erzählung Zum wilden Mann (1873), deren abschließende Beurteilung der Autor zur Disposition stellt, indem er die individuellen Prädispositionen seiner Leser auf ironische Weise vorwegnimmt.57 Auch Fontanes Figuren sind in ihrem Weltverhalten massiver naturalisiert, als es die Eleganz einer Erzählweise vermuten lässt, die die Differenzen durch die Codes der sozialen Kommunikation überdeckt.
III Mit der Relativität individueller bzw. durch das Naturell geprägter Weltbilder scheint sich die Wahrheitsfrage zu erübrigen. »Es giebt vielerlei Augen«, notiert Nietzsche 1885, »und folglich giebt es vielerlei ›Wahrheiten‹, und –––––––––––– 54 55 56 57
HFA I/1, S. 681. HFA III/2, 144. Hebbel, Tagebücher (wie Anm. 3), T 3982. Vgl. hierzu Ritzer, Friedrich Hebbel (wie Anm. 19), S. 542–549, S. 485–490. Wilhelm Raabe, Zum Wilden Mann. In: Ders., Krähenfelder Geschichten, hrsg. von Hans-Jürgen Schrader, Frankfurt am Main 1985, S. 9–108, hier S. 13.
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folglich giebt es keine Wahrheit«.58 Von der »Wandelbarkeit moralischer Anschauung« durch »Race, Bodenbeschaffenheit und Klima«, ist in Cécile mit indirekter Zitierung des Medientheoretikers Hippolyte Taine die Rede, der die Summe verschiedenartigster ›Einflüsse‹ in seiner Milieutheorie in Rechnung stellt.59 Im Blick darauf besäßen, so Taine, auch alle literarisch vertretenen Lebensmottos, statt des vormals dogmatischen Anspruchs, nur noch den »wahrscheinlicher Wahrheiten«.60 Zu Veranlagung und Umfeld kommt die situativ changierende Wirklichkeit der Person, die allen Ordnungsgesten eine nur vorläufige Geltung verleiht und jedes Urteil, so Fontane brieflich, ›wackelig‹ macht.61 »Wir kennen uns nie ganz aus«, sagt Petöfy, »und über Nacht sind wir andere geworden« (GP, S. 859). »Nur der Irrtum ist das Leben«, resultiert daraus für die Figur, wie bekanntlich für den Autor selbst. »Wahrheit« jenseits habitueller Ausdrucksformen gibt es nicht, und so bleibt die Welt wohl »ewig in der alten Pilatusfrage stecken« (GP, S. 846). Wo aber bleibt dann das Allgemeingültige? Die Dominanz der äußeren wie inneren Natur macht jedenfalls jedes moderne, also auf »Freiheit und Selbstbestimmung«62 gestützte Gesellschaftsmodell prekär. »Ich bin auch für Freiheit«, merkt Fontane zu Ibsens romantischem Ehebegriff in Die Frau vom Meere an, »aber so viel« sei von ihr nicht zu erwarten.63 Ibsen trage den »Naturmächte[n]« doch zu wenig Rechnung.64 »Denn so groß und stark das menschliche Herz ist«, notiert er anlässlich der Gespenster, »eins ist noch größer: seine Gebrechlichkeit und seine wetterwendische Schwäche«.65 Würde man die »alten, nur scheinbar prosaischen Ordnungsmächte« durch die »freie Herzensbestimmung« ersetzen«, so wäre es das Ende jedes sozialen Verbunds; die Souveränität »ewig wechselnder Neigungen über das Stabile der Pflicht, über das Dauernde des Vertrages, all das würde die Welt in ein unendliches Wirrsal stürzen«.66 Auch der Versuch selbstauferlegter Disziplin unterliegt ja der Möglichkeit ihrer Realisierung, und so täuscht sich die guten Willens antretende Protagonistin in Graf Petöfy hinsichtlich ihres »innersten Herzenszuge[s]«, der bei Gelegenheit mit der Spontaneität alles Natürlichen durchdringt (GP, S. 801). –––––––––––– 58 59 60 61 62 63 64 65 66
Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbdn., hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, Bd. 11, S. 498. HFA I/2, S. 267. Hippolyte Taine, Studien zur Kritik und Geschichte, Paris/Leipzig et al. 1898, S. XVII und 493. Theodor Fontane an die Redaktion der ›Gartenlaube‹, HFA IV/3, S. 737. HFA III/2, S. 793. Ebd., S. 798. Ebd., S. 793. Ebd., S. 714. Ebd., S. 713f.
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Die Freiheit ist daher, wie es in Quitt heißt, »ein zweischneidig Schwert«.67 Mit Georg Simmel kann man von der Prävalenz »empirischer« gegenüber der »ethischen Freiheit« sprechen.68 Denn die Natur verhält sich »indifferent« gegenüber den Ansprüchen der Individualität wie jeder intersubjektiven Verpflichtung. Als Kehrseite der Emanzipation offenbart sich vielmehr eine »Anarchie« der Stimmungen, Launen, Absichten.69 So wäre die Person dem inneren Ansturm einer Natur ausgeliefert, deren Wirken man nur noch klaren Blicks mit resignativ abgeklärter Haltung hinnehmen könnte. Fontane thematisiert dies erstmals an dem weltklugen van der Straaten aus L’Adultera, der – wie Ezzelin in C. F. Meyers Die Hochzeit des Mönchs – Pragmatismus und Fatalismus vereint.70 Mit dem Wissen, »es ist so Lauf der Welt« und »mußte so kommen«, verliere man das Recht, wie der betrogene Ehemann zugesteht, »Moral zu predigen«.71 Mit Emile Zola erscheint im Roman »eine neue Größe« am Horizont, die in dem, was wir das Seelische nennen, ausschließlich »natürliche Prozesse« sieht (GP, S. 734). »Die Sache ist gar nicht so dumm«, notiert Fontane zu Zola, »ich bestreite nicht, daß er in der Mehrzahl der Fälle Recht hat.«72 Blut, Nerven und Sinne regeln das Tun derart, dass minimalste Reize handlungsbestimmend werden können.73 Alle »Schönfärberei« wäre damit jedenfalls abgetan.74 Zu deutlich erkennt der Spätrealist die allzu menschlichen Motive, die selbst jede Berufung auf Pflicht oder Gewissen zur »Täuschung« machen: »Das meiste, was wir tun, tun wir doch aus unserer Natur heraus«, heißt es in Quitt.75 Dennoch widersetzt sich Fontane Zolas naturalistischem Persönlichkeitsbegriff, weil er auf eine »Negierung des freien Willens des Individuums« hinausliefe. Damit aber hätte der Mensch »keine Seele, die kraft ihrer selbst, aller Schwächlichkeit und aller Verführungen unerachtet, Großes, Schönes, Tugendhaftes«, also Zwecke setzen kann, die die –––––––––––– 67 68 69 70
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HFA I/1, S. 338. Georg Simmel, Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe, 2 Bde., Stuttgart/Berlin 1904, Bd. 2, S. 131ff. Ebd., S. 162f. Im Blick auf Tintorettos prognostisches Bild lächelte van der Straaten »in beinah heiterer Resignation. Er besaß eben ganz den fatalistischen Zug der Humoristen, der sich verdoppelt, wenn sie […] Lebemänner sind.« HFA I/2, S. 16. Ebd., S. 99. HFA III/1, S. 538. »Der Mensch handelt unter dem Einfluß 1. seiner besondren Blutmischung, 2. seiner Nerven, die das sogenannte Tun, und 3. seiner Sinne, die nun alle drei in ihrer Gesamtheit sein Tun bestimmen. Geschieht etwas Besondres, [...] so ist er den Eindrücken davon untertan, so daß sich sagen läßt: dieser oder jener Unglücksmoment [...] wäre unterblieben, aber der Geruch eines Seifkessels [...] gab den Ausschlag.« Ebd. »Der große Zola«, rühmt der Altkommunarde L’Hermite in Quitt, helfe diesem »Übelstande« endlich ab. Nur erliegt er in seiner Begeisterung für die neue »Herrschaft der ›Idee‹« jenem Reduktionismus, den Fontane an Zola als Ideologie kritisiert. HFA I/1, S. 386. Ebd., S. 258.
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Zweckmäßigkeit der Natur übergreifen.76 Mit dem Eigensinn des Dichters, der gegenüber der Naturwissenschaft die Wertperspektive der Kunst wahrt, hält Fontane an intentionalen Freiräumen fest. Sein Figurenspektrum lässt erkennen, dass und wie er diese individuellen Spielräume verteidigt. Nur bleibt er insofern Realist, als er die individuellen wie situativen Voraussetzungen in jedem Stadium der Handlung einkalkuliert und bei Bedarf dort konkret werden lässt, wo die Figuren den Bezug zur Realität zu verlieren drohen. Schließlich muss für das späte 19. Jahrhundert, wie Simmel schreibt, jeder Begriff von Freiheit »von vornherein auf einen Kompromiß mit der Determinierung gehen«.77 Gibt es diesen Kompromiss auch in der Frage von Natur und Norm? Wäre eine Form von Normativität denkbar, die nicht mehr auf anachronistischen ›Gewalten‹ basiert, sondern sich in ›Gesetzen‹ realisiert, die aus der individuellen Lebenswirklichkeit hervorgehen und daher mit dem Freiheitsverlangen der Individuen vermittelbar sind? Wo aber fände dieses gleichwohl verlässlich »feste Gesetz« – wie es Fontanes Gedicht Fester Befehl von 1888 mit leicht melancholischem Rückblick auf die politischen Freiheitsexzesse fordert78 – seinen Ort im Leben, das keine Wahrheit zulässt, weil die Konturen der Persönlichkeit in den Tiefen der Natur verfließen und die Fluktuation der Wirklichkeit jede Feststellung unter das Verdikt des ›ledern‹ Erstarrten, der ›Prinzipienreiterei‹ à la Innstetten stellt? Fontane entwickelt die Grundlinien seines Modells im Religionsdiskurs von Graf Petöfy. Demnach käme dem Protestantismus eigentlich die Idee eines »selbständig aus sich heraus« geführten Lebens zu, die im Rückblick auf die katholische Dogmatik »der einzige Weg« wäre (GP, S. 696). Nur veranschaulicht der Roman durch die Hermeneutik der Realität – die zeichenhafte Topographie der Hafenstadt mit dem im Meer auf- und ›untergehenden‹ Fluss (GP, S. 743) –, wie die Liberalisierung durch Entgrenzung zu einer Aufweichung und Auflösung aller Formen führte. So läge das Desiderat in einem neuen Ethos. Den »ersten Schritt« zur Emanzipation von Autoritäten hat der Protestantismus getan, das »Dienen aus bloßem Zwang heraus ist tot« (GP, S. 696). Nun aber müsste der entscheidende »zweite Schritt« zu bewusster Akzeptanz folgen, eine partielle »Rückkehr«, weil er den »Verzicht auf Freiheit« bedeutet, wenngleich »selbstgewollt, weil als unerläßlich erkannt«. Es wäre die Selbstbegrenzung des Individuellen durch die Anerkennung von Verbindlichkeit, eine »freiwillige Unterordnung unter das Gesetz«, in der »das Geheimnis einer höher potenzierten Welt« verborgen liegt (ebd.). Abstrahiert man von der Religion, so wird die ›Pietät‹ – wie es nicht nur Hebbel und Keller in ihren ethischen Überlegungen nennen – –––––––––––– 76 77 78
HFA III/1, S. 538. Simmel, Einleitung (wie Anm. 68), Bd. 2, S. 154. HFA I/6, S. 323.
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gegenüber dem Objektiven als einer Form von Transindividualität erkennbar; von »Demut« spricht Melusine.79 »Schwankend ist alles, und fest allein ist Gottes Gebot«, heißt es hintersinnig in Graf Petöfy. »Auch das unausgesprochene, das still und stumm in der Natur der Dinge liegt.« (GP, S. 753) Ein epochentypisches Modell. Denn kein Realist verkennt je diese in der ›Natur der Dinge‹ liegenden Bedingungen, die (faktische) ›Gesetze‹ sind und als solche (ethische) ›Gebote‹ werden können. Diese Konvergenz von deskriptivem und normativem Gesetz macht es in der Tat möglich, Freiheit und Verpflichtung auf eine natürliche Weise zu verbinden. Allerdings ist das Verständnis dessen, was die Wirklichkeit ist und fordert, so weiträumig wie die Haltung, die die Autoren ihr gegenüber einnehmen. »Aus allem kann alles werden«, grollt Fontane gegen Zolas Wissenschaftsgläubigkeit, »und so gewiß es ewige Naturgesetze gibt, so gewiß gibt es Wunder Gottes, die diesen ganzen Brast jeden Tag über den Haufen stoßen.«80 Darin äußert sich die Offenheit des spätrealistischen Künstlers gegenüber allen möglichen Sinndimensionen von Wirklichkeit, die sich jedenfalls dem Zugriff szientistischer Normierung entziehen. Zumindest in der Theorie erfasst Fontanes Misstrauen gelegentlich auch den Konnex von Ursache und Wirkung, den Keller in der puren ›Folgerichtigkeit‹ von Bedingung und Konsequenz – fern von Wirkursächlichkeit (causa efficiens) und Zwecksetzung (causa finales) – als Strukturprinzip der Wirklichkeit herausstellt.81 Während dieser Funktionszusammenhang allerdings in den Werken Stifters und Kellers noch klar vor Augen tritt, verliert die Wirklichkeit im Trend der Materialisierung an Sinntransparenz.82 Daher verschwimmen bei Fontane die Ausdrucksformen von Gesetzmäßigkeit – wenn er metaphorisch von der regenerativen »Erhaltungshand« spricht, die im Weltlauf individuelle Sünden ausgleiche83 –, und die Sinnstrukturen verlagern sich –––––––––––– 79
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Der Stechlin, HFA I/5, S. 270. »Demut« wäre das Korrektiv zum »Hochmut« der Selbstbezogenheit. Der Gesellschaft gegenüber wäre allerdings, wie es in Cécile heißt, der »Mut« als Drittes angemessen. HFA I/2, S. 259. HFA III/1, S. 542. Gerade »die Unerbittlichkeit, aber auch die Folgerichtigkeit, Notwendigkeit der tausend ineinandergreifenden Bedingungen in ihrer Klarheit müssen uns reizen, das Steuer nicht fahren zu lassen«, erkennt Heinrich in der Erstfassung des Grünen Heinrich. Keller, Der grüne Heinrich (wie Anm. 11), S. 586. Der Autor übernahm den Satz in der 1880 abgeschlossenen Zweitfassung, strich aber die »Klarheit«, weil sich die Sinntransparenz der Realität im Spätrealismus eingetrübt hatte. Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Zweite Fassung, hrsg. von Peter Villwock, Frankfurt am Main 1996, S. 630. – Zum diesbezüglichen Disput zwischen Keller und Meyer vgl. Monika Ritzer, Rätsel des Daseins und verborgene Linien. Zu C. F. Meyers literarischer Philosophie. In: Dies. (Hrsg.), Conrad Ferdinand Meyer: Die Wirklichkeit der Zeit und die Wahrheit der Kunst, Tübingen 2001, S. 9–35. Vgl. hierzu Ritzer, Rätsel des Daseins (wie Anm. 81). HFA III/2, S. 714.
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auf die Zeichenebene, ohne freilich ihre ontologische Fundierung einzubüßen. »Rätselhaft« trotz Darwin, sinniert Fontane, »aber Rätsel oder nicht, die Tatsachen zeugen«.84 Wenn wir daher meinen, Geschehnisse gingen »über die Natur« hinaus, so wäre mit Ellernklipp zu ergänzen, »über die Natur, soweit wir sie verstehen«.85 Eine vergleichbare Deutungsvielfalt zeichnet sich im Wirklichkeitsverhältnis der Figuren ab. Während sich der Pragmatiker Petöfy mit dem begnügt, »was er den natürlichen Gang der Dinge nannte« (GP, S. 854), gehen andere, wie er spottet, »an den einfachsten Erklärungen vorüber« (GP, S. 816), um sich »ihre Geschichten« zu machen (GP, S. 848), sei es, dass sie ganze »Wunder« erwarten oder doch zumindest ideelle Sinnzusammenhänge, wie »Schuld und Missetat«, aufspüren möchten (GP, S. 816). Im Vakuum der Wahrheit dominiert die »Wahrsagerei«, der »Hokuspokus« (GP, S. 723), wie es im Roman heißt, der den säkularen Individuen die Welt zugänglich machen soll.86 Von unserer »schwachen Natur« spricht Petöfy, die stärker sei als jeder lautstarke Unglaube, so was stecke in jeder noch so hartnäckigen »Ketzerseele« (GP, S. 767). Selbst L’Hermite, der atheistische Revolutionär aus Quitt, erweist dem religiösen »Hokuspokus« daher seine Referenz.87 Im Bedürfnis nach Zauberei zeigt sich noch einmal die Crux eines Freiheitsbegriffs, der die Individuen in ihrem Weltgefühl verunsichert. Leitmotivisch durchzieht Graf Petöfy daher ein Gedicht des Spätromantikers Nikolaus Lenau, das die moderne Verlassenheit zelebriert: In seiner transzendentalen »Einsamkeit« stellt das Ich sehnsüchtig, aber vergeblich eine »Frage« an die Natur, die mit dem Ausklang der Romantik ihre Sprache verlor (GP, S. 702f., 728).88 Ein historisches Pendant bilden die ›Welträtsel‹ betitelten Bücher (Du Bois-Reymond, Ernst Haeckel), die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zuhauf auf den Markt kommen. Fontanes fiktive Realitäten gehen indes ihren Gang. Mit mehr oder weniger epischer Wahrscheinlichkeit bricht sich das unterschwellig Wirkliche im Äußern wie im Innern Bahn (wie das Flüsschen Schloon als Parallele zur Leidenschaft in Effi Briest) und die Tatbestände verfugen sich zu Zusammenhängen, die die Pragmatiker wie die Illusionisten dort einholen, wo sie sich ihnen überhoben dünken. Dann signalisieren prognostische Zeichen –––––––––––– 84 85 86
87 88
HFA III/2, S. 775. HFA I/1, S. 148. Monika Ritzer, »Je freier der Menschen, desto nötiger der Hokuspokus«. Zum Dilemma von Natur und Norm bei Fontane. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts, 3 Bde., Würzburg 2000, Bd. 3, S. 29–46. HFA I/1, S. 400. Das Verstummen der in der Romantik noch sprechenden Natur gehört wie die Frage nach der ›Wahrheit‹ zu den zentralen Themen Lenaus wie der Restaurationsliteratur. Es findet sich allerdings in geringerem Maß in dem zitierten Gedicht Nach Süden. Nikolaus Lenau, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von Walter Dietze, 2 Bde., Leipzig 1970, Bd. 1, S. 527 und 10.
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(wie der Kuckucksruf in Cécile oder das Zerspringen der Glocke in Graf Petöfy) die unumgängliche Naturnotwendigkeit des jeweiligen Verlaufs. Der Autor gestaltet diese semantisch aufgeladenen Ereignisse leichthändig, mal mit psychischer Effizienz (Effis Gespenster), mal mit visueller Evidenz (Ellernklipp), aber nie im Bruch mit dem realiter Möglichen. In der »Naturwahrheit«89 liegt für jeden Realisten eine künstlerische Grenze, auch wenn deren kreative Auslegung sehr weit gehen kann und mit Tatsächlichkeit nichts zu tun hat. So »spukt« (GP, S. 768), wie es in Graf Petöfy heißt, selbst im Aberglauben die Sensibilität für die »Bedeutung« der Dinge (GP, S. 859). Die zeichenhafte Lesart hat überall dort ihre Berechtigung, wo der Sinn in den Strukturen der Wirklichkeit, also in Wirkungszusammenhängen liegt. Das macht den Wahrheitsgrad der in allen Texten Fontanes signifikanten Versuche zeichenhaften Weltverstehens recht genau klassifizierbar. Denn »Zeichen ist alles«, wie der alte Dubslav von Stechlin weiß, aber wovon, »[d]arauf kommt es an.«90 Wahr sind die Zeichen nur, wenn sie ein fundamentum in re haben, weil sie auf Ursachen zurück- oder auf Folgen vorausweisen. Auf jeden Fall »muß was vorausgegangen sein«, dessen Wirkungen nicht realisiert sind; »wo die Dinge so schlicht und alltäglich liegen, da fehlen die Vorbedingungen für den Spuk« (GP, S. 770). In der Unabdingbarkeit der Wirkungszusammenhänge liegt zugleich das Kriterium dafür, dass die realen Gesetzmäßigkeiten normative Bedeutung erhalten. Ihr ›Gebot‹ ergeht aus der Natur, der Dinge wie der Menschen, und begründet damit eine ›vernünftige‹ Form der Freiheit, wie Feuerbach formuliert. So kann sich in der Orientierung am Wirklichen eine individuelle Ethik herausbilden, die der Fluktuation des Lebens gerecht wird; Georg Simmel wird im Individuellen Gesetz (1913) eine solch vitale Synthese von Sein und Sollen vorstellen.91 Nur bleiben die Spätrealisten generell vorsichtig, und so ringt Fontane um die Vermittelbarkeit von Natur und Norm. Nach den fatalen Exzessen individueller Naturen in Grete Minde und Ellernklipp erprobt er mit seinem ersten Gesellschaftsroman eine optimistische, aber sichtlich bemühte Lösung: L’Adultera zeigt, wie die Heldin durch die (zur Bewährung anstehende) »Treue«92 zum Gewordenen das, was ursprünglich Natur, also Trieb und Zufall war, einem selbstbestimmten Leben integriert. Auch in Quitt versucht Lehnert in Amerika, dem Land der Freiheit, die Folgen seiner Gewalttat auf sich zu nehmen und findet in dieser –––––––––––– 89 90 91 92
L’Adultera, HFA I/2, S. 25. Der Stechlin, HFA I/5, S. 352. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hrsg. von Michael Landmann. Frankfurt am Main 1967, S. 174–230, hier S. 227–230. HFA I/2, S. 133.
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»Treue« zum Schicksal einen »Glanz von Glück«, während der agnostische Partner dem Nihilismus verfällt.93 Demgegenüber mögen uns Fontanes ›realistischere‹ Darstellungen mehr überzeugen, nur greift das Gesetz dort umso unerbittlicher. »Wir bleiben unsrer Natur getreu, das ist unsre einzige Treue«, sagt Céciles väterlicher Freund zur Unterschiedlichkeit der Individuen, »Sie gehören dem Augenblick an und wechseln mit ihm«.94 Der Autor schätzt diese elementar bewegten Figuren. Das Natürliche habe es ihm stets angetan, schreibt er 1895, denn »der natürliche Mensch will leben, will weder fromm noch keusch noch sittlich sein, lauter Kunstprodukte«, und so liebe er seine aparten Frauengestalten, Cécile wie Effi, »um ihrer Menschlichkeiten, d. h. um ihrer Schwächen und Sünden willen«.95 Aber als Erzähler legt er den Fokus auf diese Schwächen und liefert die Sünder unweigerlich den Reaktionen ihrer Umwelt aus. »Das Aparte ist selten wahr«, heißt es treffend an anderer Stelle, »und nur das Wahre wirkt.«96 So verdichten sich die Automatismen der Realität dort, wo die Figuren die Verantwortung für ihr Leben nicht übernehmen können oder wollen. Bei Cécile zeichnet sich schon im Plot ein »tragischer Ausgang«97 ab, den Fontane gleich nach der exemplarisch verlaufenden Erzählung Unterm Birnbaum in Angriff nimmt. Und wie im Fall des nur scheinbar davongekommenen Mörders will die elegante Geschichte geradezu ›tendenziös‹ den »Satz illustrieren, ›wer mal ›drinsitzt‹, gleichviel mit oder ohne Schuld, kommt nicht wieder heraus‹«.98 Diese Konsequenz wirkt im Fall der lethargischen Cécile krud, für unser Gefühl unmenschlich. Aufs Ganze des Lebens gesehen aber wirkt das Prinzip der Konsequenz konsolidierend, indem es alles Sein und Handeln der internen Norm seiner Folgerichtigkeit unterstellt. Es beseitigt damit auch die leidige »Schuldfrage«, die im Blick auf die »Complicirtheiten modernen Lebens« ohnehin müßig wäre. Soziale Normen, wie das Verbot des Ehebruchs, würden ja jeden Tag durchlöchert, gesteht Fontane 1888 Otto Brahm zu, der die Rigidität seines Ehebegriffs in der Gespenster-Rezension kritisiert, und sie müssten es auch. Zu erwarten wäre, dass sich die Vorstellungen von dem, was geboten bzw. verboten scheint, im Wandel der Gesellschaft so sehr verändern, dass spezielle Gesetze, wie dieses, irgendwann ganz zusammenbrechen. »Das zugleich ein Ideal verkörpernde Gesetz« –––––––––––– 93 94 95 96 97 98
HFA I/1, S. 435. Cécile, HFA I/2, S. 307. Theodor Fontane an Colmar Grünhagen, HFA IV/4, S. 487f. HFA III/1, S. 304. Theodor Fontane an Adolf Glaser, HFA I/2, S. 871. Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, Ebd., S. 873.
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aber, Inbegriff für die Transzendenz der individuellen Lebensformen, »es bleibt«.99 Gesetzesinhalte altern, das Gesetzliche aber dauert, weil es zu den Grundfesten menschlichen Zusammenlebens gehört. Auf drastische Weise veranschaulicht Fontane in Unterm Birnbaum, wie sich die Lebensimmanenz des biblischen Verbots, ›du sollst nicht töten‹, durch das organische ›Herauswachsen‹ verletzter Wirklichkeit bestätigt: ein »gepredigte[s] Evangelium von der Gerechtigkeit Gottes, von der Ordnung in seiner Welt.«100 Diese Solidität stehe für ihn so fest, bekräftigt Fontane privat, dass er sich mit dem ironischen Schluss eine humoristische Pointe gönnen dürfe.101 Freilich ist es leichter, »die Wahrheit zu predigen, als danach zu handeln«, heißt es in Cécile. »Aber wir sollten es wenigstens versuchen.«102 Fontane gibt seine Figuren wie seine Leser frei, ohne sie je aus der Wirklichkeit des gemeinsamen Lebens zu entlassen. Ihr Modernen, »die ihr den ›Zug des Herzens‹ als ein neues Evangelium predigt«, wettert er 1874 in seiner Rezension von Franz Grillparzers Des Meeres und der Liebe Wellen, lernt am Beispiel der an einem weltfremden Gesetz sterbenden Liebenden, wie sehr es zunächst »auf das Herz ankommt«, das stets und überall die »Berechtigung des Natürlichen auf Kosten des Gesetzes proklamiert«.103 Allerdings bedarf es dann hier wie überall jenes zweiten, in gleicher Freiheit erfolgenden Schritts, mit dem die Individuen das Gesetz, ohne es in seiner Funktion »anzuzweifeln und zu verhöhnen«, durch eine interne Norm kompensieren.104 Grillparzers Epoche fiel es schwer, den natürlichen Individuen soweit zu vertrauen. »Wär’ nicht die Wirklichkeit als Gränzstein hingesetzt, / Die freie Wahl ist schwacher Toren Spielzeug«, lässt der Dramatiker seinen in die Tragik des Lebens verstrickten Priester bekunden. »Der Tücht’ge sieht in jedem Soll ein Muß / Und Zwang, als erste Pflicht, ist ihm die Wahrheit«.105 Diese Wahrheit ist in Graf Petöfy ›tot‹, und so bleibt nichts als ihre Wahrung in der Kunst. Wer »die Konsequenzen seines ›ich tat nur, was ich mußte‹ willfährig auf sich nimmt«, schreibt Fontane weiter, der rettet beides, »das Ewige und das Menschliche«.106 Sagen wir, einen Vorschein von Wahrheit. ––––––––––––
99 Theodor Fontane an Otto Brahm, HFA IV/3, S. 599. 100 Theodor Fontane an Georg Friedlaender, HFA I/1, S. 946. 101 Der Mörder grub sich »in demselben Augenblicke sein Grab«, indem er sein Verbrechen aus
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der Welt geschafft glaubte. »Und bezeugte dadurch aufs neue die Spruchweisheit: ›Es ist nichts so fein gesponnen, ’s kommt doch alles an die Sonnen.‹« HFA I/1, S. 554. HFA I/2, S. 191. HFA III/2, S. 171. Ebd. Franz Grillparzer, Sämtliche Werke, hist.-krit. Ausgabe, hrsg. von August Sauer und Reinhold Backmann, 42 Bde., Wien 1909–1948, Bd. I.4, S. 103. HFA III/2, 171.
»› … und sie wird die letzte nicht sein‹« Fontanes realistisches Erzählen und Lessings bürgerliches Trauerspiel Leonhard Herrmann In seinen späten Gesellschaftsromanen setzt sich der ›Realist‹ Theodor Fontane – so hat es insbesondere die sozialgeschichtlich orientierte Forschung immer wieder betont –1 kritisch mit den sozialen Strukturen seiner Zeit auseinander, in der gesellschaftliche, technische und mediale Dynamiken auf die Traditionen und Lebensweisen einer ständischen Gesellschaft treffen und vielfältige Konflikte erzeugen. Die folgenden Ausführungen wollen an diese Annahmen anschließen und aufzeigen, dass Fontanes Romane in ihren kritischen Bezügen auf die eigene Gegenwart auf die aufklärerische Dramenpoetik Lessings – insbesondere auf dessen Konzept des bürgerlichen Trauerspiels – verweisen. Dies gilt in dreifacher Hinsicht: (1) in Bezug auf die Motiv- und Handlungsstrukturen, die Zuschauende bzw. Leserinnen und Leser als nah an der jeweils eigenen Wirklichkeit wahrnehmen sollen; (2) in Bezug auf die ästhetische Wirkung der Texte, die eine emotionale Identifikation mit literarischen Figuren bewirken sollen; und (3) in Bezug auf die jeweiligen weltanschaulichen Hintergründe: Wie Lessings Dramen messen Fontanes Romane die als starr empfundenen Konventionen ihrer je eigenen Zeit am Maßstab einer liberalen, humanen, den Menschen als Ganzen betrachtenden Anthropologie, dem die Normen, Strukturen und Gewohnheiten der eigenen Zeit nicht gerecht werden. Um diese Annahmen zu begründen, wird in einem ersten Schritt die ›bürgerliche‹ Dramenpoetik Lessings rekapituliert, bei der eine ›realistische‹ Affekterzeugung im Zentrum steht. Aufbauend darauf werden die grundlegenden Handlungsmuster von Fontanes Romanen zu dieser in Beziehung gesetzt. In einem letzten Schritt wird die Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Trauerspiel in Fontanes theaterkritischem Werk nachvollzogen. Dabei wird deutlich, dass Fontane den Dramen Lessings – zusammen mit weiteren bürgerlichen Trauerspielen, die Fontane intensiv rezipierte, – eine erhebliche Bedeutung für die eigene Gegenwart zumaß. Sie können als lite–––––––––––– 1
Vgl. Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, 2. Aufl., Stuttgart 1980.
https://doi.org/10.1515/9783110666984-007
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raturgeschichtliche Muster für viele realistische Erzählplots Fontanes gelten. Und womöglich hat das bürgerliche Trauerspiel der Aufklärung auch über Fontane hinaus Einfluss auf die Erzählliteratur des 19. Jahrhundert: Auch Erzählstoffe Gottfried Kellers oder Adalbert Stifters weisen bürgerlich-tragische Handlungsstrukturen auf oder lassen sich zumindest auf diese zurückführen.
Lessings Poetik des Mitleids Mit seinen später als Hamburgische Dramaturgie zusammengefassten Theaterkritiken schreibt Gotthold Ephraim Lessing 1766–67 nicht allein auftragsgemäß eine Reihe von Begleitschriften zu den Abendprogrammen des sog. ›Hamburgischen Nationaltheaters‹, sondern auch eine Dramenpoetik, die mit seinem eigenen dramatischen Schaffen in engstem Zusammenhang steht. Im 14. Stück der Hamburgischen Dramaturgie, datiert vom 16. Juni 1767, heißt es: Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicherweise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleid haben, so haben wir es mit ihnen als Menschen, und nicht als mit Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. […] [U]nsere Sympathie erfordert einen einzelnen Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen.2
Nicht Fürsten und Helden, sondern Menschen – im Sinne der aufgeklärten Anthropologie ließe sich ergänzen: ganze Menschen – stehen im Mittelpunkt einer Tragödie. Antrieb ihrer Handlungen ist keine politische Verwicklung, Staatskrise oder Verschwörung, sondern ein Entscheidungsdilemma, dessen Lösung entweder die Verletzung persönlicher Motivationen, Antriebe und Empfindungen oder aber die Übertretung sozialer Normen erfordert. Indem sich letztere als stärker erweisen, nimmt das Geschehen einen tragischen Ausgang – nicht in Bezug auf die Geschichte eines Staates oder Königshauses, sondern in Bezug auf das Schicksal einer einzelnen Person. Unabhängig vom sozialen Stand ihres Figurentableaus nennt Lessing eine solche Tragödie ein »bürgerliche[s] Trauerspiel« (LWB 6, S. 250). ›Bürgerlich‹ bedeutet dabei zunächst ›privat‹, ›allgemein-menschlich‹, ›auf den einzelnen Bürger bezogen‹ und damit ›persönlich‹ oder auch ›häuslich‹ und –––––––––––– 2
Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in 12 Bd., hrsg. von Winfried Barner, Klaus Bohnen et al., Frankfurt am Main 1985–2003, Bd. 6: Werke 1767–1769, hrsg. v. Klaus Bohnen, S. 251. Im Folgenden zitiert unter der Sigle: LWB [Bd.], [S.].
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ist nicht primär auf die historische Situation des Bürgertums als einer sozialen Klasse und den Bürger als ihren politischen Agenten bezogen.3 Protagonisten dieser Trauerspiele stammen meist aus mittleren sozialen Schichten, dem niederen Adel und dem gehobenen Bürgertum. Auch die primäre Wirkungsabsicht einer solchen Tragödie ist ›bürgerlich‹ weniger im politischen oder sozialen als vielmehr in einem ›menschlichen‹ Sinne: Es geht ihr als vordergründigem ästhetischen Effekt um das Erzeugen von Rührung. Dies gelingt durch das Mitleid, das bei Lessing »als Ausdruck einer sich fühlenden Menschlichkeit zum Selbstzweck«4 erhoben wird. Im 75. Stück der Hamburgischen Dramaturgie bestimmt Lessing – Moses Mendelssohn zitierend – das Mitleid als eine »vermischte Empfindung, die aus der Liebe zu einem Gegenstande, und aus der Unlust über dessen Unglück zusammengesetzt ist« (LWB 6, S. 554). Diese ›Liebe‹ zu einem – in seinem Fall: dramatischen – Gegenstand bestimmt Lessing im weiteren Verlauf seines Textes näher als Identifikation des Zuschauers mit den Dramenfiguren. Als wohl bekanntestem Schritt der Hamburgischen Dramaturgie unternimmt Lessing dabei eine Korrektur am herkömmlichen Verständnis des Aristotelischen Begriffspaars eleos und phobos: Man hat ihn [Aristoteles, L.H.] falsch verstanden, falsch übersetzt. Er spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Übel eines andern, für diesen andern, erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können. (LWB 6, S. 556)
Grundlage für die Identifikation des Zuschauers mit einer Dramenfigur ist für Lessing eine ästhetische Erfahrung, die sich strukturanalog zur Welterfahrung von Zuschauerinnen und Zuschauern verhält. Damit die Sache mit dem Mitleid funktioniert, so Lessing, Aristoteles wiedergebend, müsse das »Übel, welches der Gegenstand unsers Mitleidens werden solle, notwendig von der Beschaffenheit sein […], daß wir es auch für uns selbst, oder für eines von den Unsrigen, zu befürchten hätten« (LWB 6, S. 558). Auslöser für ein in diesem Sinne tragisches Geschehen ist kein schuldlos erfahrenes Leid, sondern eine »zu hart heimgesuchte Schuld« (LWB 6, S. 558). Kein mustergültiger Held steht also im Zentrum des Dramas, sondern eine Figur, die »mit uns von gleichem Schrot und Korne« (LWB 6, S. –––––––––––– 3 4
Vgl. Hugh Barr Nisbet, Lessing. Eine Biographie, übers. v. Karl S. Guthke, München 2008, S. 260–261. Peter Szondi, Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert, 6. Aufl., hrsg. v. Gert Mattenklott, Frankfurt am Main 1986, S. 157. Der Begriff der »sich fühlenden Menschlichkeit« stammt von Lessing selbst.
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559) geschildert sei – und deren Fehltritt menschlich und deshalb nachvollziehbar ist. Wenn der dramatische Text seinen Helden »vollkommen so denken und handeln lasse, als wir in seinen Umständen würden gedacht und gehandelt haben, oder wenigstens glauben, daß wir hätten denken und handeln müssen«, dann wäre Mitleid aufseiten der Zuschauenden »zu einer großen Wahrscheinlichkeit« (LWB 6, S. 558) die Folge, wobei ›Wahrscheinlichkeit‹ immer wieder als Kategorie der Mimesis bei Lessing genutzt wird. ›Bürgerlichkeit‹ als Privatheit des Dargestellten und die private Rührung als dessen Folge bedeutet jedoch nicht, dass das ›bürgerliche Trauerspiel‹ eine gänzlich unpolitische Angelegenheit wäre. Doch finden soziale Verwerfungen bei Lessing in erster Linie zwischen Menschen und erst nachgeordnet zwischen sozialen Gruppen statt. Dennoch wird jener Wertekonflikt, in dem sich Lessings Hauptfiguren befinden, als sozial induziert ausgewiesen: Jene Werte und Normen, an denen sie scheitern, sind internalisierte soziale Muster, die sich in Bezug auf den Einzelnen als schädlich erweisen können. Nicht nur die eigenen, von der eigenen Sinnlichkeit angeregten Verhaltensweisen, sondern auch die sozialen Normen, die zu ihrer Disziplinierung zwingen, könnten also falsch sein. Deutlich wird dies insbesondere an Lessings Emilia Galotti. Die Familie Galotti, deren Oberhaupt die einzige Tochter in den moralischen Untiefen des fürstlichen Hofs zugrunde gehen sieht, ist vermutlich nicht bürgerlich – dennoch besteht ein erheblicher sozialer Unterschied zwischen dem Hofstaat des Prinzen und dem Haus der Galottis, die als Vertreter des niederen Landadels hier die ›bürgerlichen Tugenden‹ – Sittsamkeit, Bescheidenheit, Einfachheit – vertreten, während der städtische Hof durch ein ausschweifendes Leben geprägt ist, von welchem Vater Galotti seine Tochter fernhalten möchte. Untugendhaft jedoch handelt nicht der Prinz Hettore Gonzaga, der in die schöne Emilia verliebt ist, sondern dessen Kammerherr Marinelli, der – gedeckt von einer weitgehenden Vollmacht des Prinzen, aber ohne expliziten Auftrag dazu – den Verlobten Emilias ermordet, Emilia selbst gefangen setzt und nun dem Hofleben zuführen möchte. Der Prinz erscheint als ein naiver, jugendlicher, zur Staatsführung ungeeigneter Schwärmer, dessen Gefühle für Emilia zwar leichtfertig, aber authentisch sind. Der Schlusssatz des Prinzen erhellt, dass die Sympathien des Stücks nicht etwa Vater Galotti, sondern ihm gelten, und nicht etwa er selbst, sondern sein Vertrauter Marinelli die Unmenschlichkeit verkörpert. Verzweifelt fragt der Prinz: »Ist es, zum Unglücke so mancher, nicht genug, daß Fürsten Menschen sind: müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen?« (LWB 7, S. 371) Indem er selbst sich auf die eigene Menschlichkeit beruft, gelten die Gefühle des Prinzen für Emilia als nachvollziehbar und gerechtfertigt. Zum Problem werden diese Gefühle dadurch, dass sie mit
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der eigenen, staatstragenden Rolle konfligieren; zur Tragödie werden sie durch den ›teuflischen‹ Charakter Marinellis. Doch nicht allein Marinellis Verhalten gilt die Kritik: Dass Vater Galotti auf dem Höhepunkt des dramatischen Geschehens seine Tochter auf ihr eigenes Bitten hin erdolcht, um sie – so Emilia – »von der Schande zu retten« (LWB 7, S. 370), lässt die Galottis als Anhänger eines überzogenen Tugendwahns erscheinen, der schließlich zum Mord am eigenen Kind als größter menschlicher Untat führt. Gänzlich ›unschuldig‹ ist jedoch auch Emilia nicht: Begleitet von ihrer Mutter hat sie den beschaulichen Landsitz der Familie verlassen, um bewusst die Nähe zum Hof zu suchen und – so lässt es sich rekonstruieren – behutsam in die höfische Galanterie eingeführt zu werden; dass sie im Angesicht des Prinzen um die Tötung durch die Vaterhand bittet, lässt sich als Einsicht in das Schwinden der eigenen ›Tugend‹ deuten, die das Stück selbst als unmenschlich deutet. Nicht allein Emilia, sondern auch der Prinz wird durch den tragischen Ausgang des Stücks im Sinne der Hamburgischen Dramaturgie ›zu hart‹ gestraft: Das sinnliche, ganzes Menschentum beider ist begrenzt von internalisiertem väterlichen Tugendwahn (Emilia) und intrigantem Hofstaat (Prinz) – beide können ihr natürliches Selbst weder sozial ausleben noch erfolgreich unterdrücken.
Bürgerlich-tragische Plotmuster in Fontanes Romanen Viele der Gesellschaftsromane Theodor Fontanes weisen in Bezug auf die zugrundeliegenden Konfliktmuster ganz ähnliche Strukturen auf: Sie zeigen, wie das Ausleben von natürlichen Empfindungen an gesellschaftlichem Druck scheitert und/oder sich sozial arrangierte Ehen als schädlich erweisen.5 Die Unterordnung des individuellen Empfindens unter soziale Zwänge führt ins persönliche Unglück oder nimmt gar einen tragischen Ausgang. Dazu nutzt Fontane erzählerische Verfahren, die wirkungsästhetische Ähnlichkeiten zur Dramenpoetik Lessings aufweisen: Durch ein ›realistisches‹ Setting, dessen Strukturen der Wirklichkeitserfahrung von Leserinnen und Lesern entsprechen, und durch Sympathielenkung legen sie eine Identifikation mit ihren Romanfiguren nahe, deren sinnliches Erleben mit sozialen Konventionen kollidiert und zu einem tragischen Ende führt. Wie im Falle von Lessings Emilia Galotti basieren Fontanes Romanstoffe auf Anleihen aus der Wirklichkeit. Unterschiedliche soziale Stellungen der be–––––––––––– 5
Zur Ehefrage als zentralem Motiv in Fontanes Gesellschaftsromanen vgl. ein- und weiterführend: Stefan Neuhaus, Effi und Cécile. Bezüge zu Figuren und Motiven in Fontanes Werk. In: Ders. (Hrsg.), Effi Briest Handbuch, Stuttgart 2019, S. 68–72.
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teiligten Figuren, die auch, aber nicht nur durch Standesunterschiede markiert sind, verleihen den Texten eine sozialkritische, aber keine im engeren Sinne politische Dimension. Denn die Tragik des Ausgangs ist grundlegend und nicht durch ein politisches Programm lösbar, wohl aber durch eine Ethik mit menschlichem Augenmaß, wie sie von Figuren gefordert wird, aber nicht realisiert werden kann. Ganz im Sinne von Lessings »zu hart heimgesuchte[r] Schuld« beklagt Effi Briest gegen Ende der Romanhandlung bitter ihr Schicksal. Geschieden von Geert von Innstetten, getrennt von der gemeinsamen Tochter und verstoßen von ihren Eltern, lebt sie allein in Berlin. Mühsam gelingt es ihr, die inzwischen zehnjährige Annie wiederzusehen. Doch statt der erhofften Wiedersehensfreude aufseiten ihrer Tochter hört sie auf ihre Vorschläge zukünftiger gemeinsamer Unternehmungen hin nur ein – offenbar durch von Innstetten eingebläutes – »O gewiß, wenn ich darf«.6 Nach der dritten Wiederholung der Phrase beendet sie entsetzt das Treffen. Verzweifelt versucht sie sich Luft zu verschaffen, reißt ihr Kleid auf, öffnet beide Fensterflügel und suchte nach etwas, das ihr beistehe. Und sie fand auch ’was in der Not ihres Herzens. Da neben dem Fenster war ein Bücherbrett, ein paar Bände von Schiller und Körner darauf, und auf den Gedichtbüchern, die alle gleiche Höhe hatten, lag eine Bibel und ein Gesangbuch. (EB, S. 326)
Dieses Arrangement auf Effis Bücherbrett ist hoch symbolisch und verkörpert das Einvernehmen zwischen christlicher Ethik und der Ethik kanonisch-klassischer Literatur in Bezug auf das erfahrene Leid. Beide bieten Effi eine geistige Stütze angesichts der durch ihre Umwelt erfahrenen, maßlosen Ablehnung. Und zugleich scheint der christliche Textkanon Effi im Moment ihrer Verzweiflung noch etwas näher zu stehen als der weltliche: Bücher, die auf anderen Büchern liegen, werden häufiger genutzt. Und so liest Effi nicht etwa eine der auf natürliche Gerechtigkeit hinauslaufenden Schiller-Balladen – Die Kraniche des Ibykus oder Die Bürgschaft wären zu empfehlen gewesen – sondern richtet, im Eingeständnis ihrer Schuld, ein empfindsames Gebet an »Gott im Himmel«, den sie um Vergebung bittet: »[I]ch will meine Schuld nicht kleiner machen, … aber das ist zuviel. Denn das hier, mit dem Kind, das bist nicht Du, Gott, der mich strafen will, das ist er, bloß er!« (EB, S. 325) Gegen die Großmütigkeit ihres empfindsamen Gottes stellt sie die Kleinmütigkeit Geert von Innstettens und die durch ihn repräsentierten Normen: Ehre, Ehre, Ehre ... und dann hat er den armen Kerl totgeschossen, den ich nicht einmal liebte und den ich vergessen hatte, weil ich ihn nicht liebte. Dummheit war
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GBA, Das erzählerische Werk 15, S. 324. Im Folgenden zitiert unter der Sigle EB, [S.].
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alles, und nun Blut und Mord. Und ich schuld. […] Mich ekelt, was ich gethan; aber was mich noch mehr ekelt, das ist Eure Tugend. Weg mit Euch. Ich muß leben, aber ewig wird es ja wohl nicht dauern. (EB, S. 325 f.)
Deutlich wird hier auf starre soziale Normen verwiesen, die Effi als zentralen Grund für ihr Leiden betrachtet und auf Geert von Innstetten projiziert. Doch auch dieser verweist in einem langen, verzweifelten Gespräch darüber, wie auf den Ehebruch Effis zu reagieren sei, auf jenes »uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas« (EB, S. 278), das nicht nach »Charme und nicht nach Liebe und nicht nach Verjährung« frage und ihm »keine Wahl« lasse, Crampas zum Duell aufzufordern. Dieser Entschluss fällt nicht aus persönlicher Überzeugung, sondern aus Anpassung an (tatsächliche oder vermeintliche) soziale Normen, an die er sich aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung gebunden sieht.7 Auch Effis Eltern sehen sich in der Verstoßung ihrer Tochter von sozialem Druck getrieben. Anders als Emilias Vater verkörpert Effis Vater nicht die ihrerseits ethisch unkontrollierbare Tugend, sondern Nachsicht und Milde, die er gegen die strikte Haltung seiner Frau ins Spiel bringt. Durch den Brief eines befreundeten Arztes über Effis Gesundheitszustand informiert, kann er seine Frau von der strikten Gangart gegenüber der Tochter abbringen und schließlich jenes berühmte »Effi, komm« (EB, S. 328) nach Berlin telegrafieren, das die verstoßene Tochter zurück in das heimische Gut holt. Gegenüber seiner Frau beklagt Briest den unnachgiebigen sozialen Druck, der auf überkommene soziale Konvention zurückzuführen sei und letztlich sehr einfach überwunden werden könne: »Ach, Luise, komme mir mit Katechismus so viel Du willst; aber komme mir nicht mit ›Gesellschaft‹«. Wenn sie nur wolle, dann könne jene ›Gesellschaft‹ – so Briest – »auch ein Auge zudrücken« (EB, S. 328). Die ›bürgerliche‹ Tragik Effis liegt damit in einer sozial tief verankerten Unbarmherzigkeit begründet, weniger in einem unüberbrückbaren Gegensatz von Bürgertum und Adel. Adelskritik spielt dennoch eine nicht unerhebliche Rolle für den Roman. Sie zeigt sich etwa in der Kritik an der Duellpraxis, wie sie sich in Effis Entsetzen, aber auch an den Zweifeln Innstettens artikuliert, insbesondere aber in Bezug auf die Standeshochzeit, die einem bürgerlich-liberalen, anthropologisch begründeten Verständnis von Liebe als sinnlichem Ereignis zwischen zwei Liebenden entgegensteht. Bevor er um die Tochter wirbt, hatte Innstetten eine Heirat mit Effis Mutter –––––––––––– 7
Zu der ausgreifenden Forschungsdebatte darüber, inwiefern Innstetten seinerseits als einseitig negativer Charakter gezeichnet ist oder ebenfalls als Opfer der sozialen Normen seiner Zeit vgl. Klaus Müller-Salget, Figuren. In: Neuhaus (Hrsg.), Effi Briest Handbuch (wie Anm. 5), S. 86–100, hier S. 90. In Effis Widerrufung ihrer Anklage gegen Innstetten auf dem Sterbebett mag sich eine späte Einsicht in die Zwangslage ihres Mannes verbergen.
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angestrebt, war aber an der Konkurrenz durch Effis späteren Vater gescheitert. Auch dabei spielen soziale Normen eine große Rolle: Obwohl kein Standesunterschied im engeren Sinne vorlag, hatte Effis Vater die überlegene soziale Stellung inne und bekam daher im Hause von Belling den Vorzug. »Ja, ja, so geht es. Natürlich. Wenn’s die Mutter nicht sein konnte, muß es die Tochter sein. Das kennt man. Alte Familien halten immer zusammen, und wo ’was is, kommt ’was dazu« (EB, S. 20), spöttelt der bei Fontane stets weise Volksmund, hier in Person der Gattin des Hohen-Cremmener Pastors Niemeyer. Privates, bürgerliches Empfinden spielt in dieser Heiratspolitik keinerlei Rolle, was sich auch an der Art der Verlobung zeigt: Nach vollzogener Werbung und Verlobung reist Innstetten umgehend wieder ab, um seinen Dienstgeschäften nachgehen zu können.8 Sinnlichkeit – zumindest in Anspielungen – erfährt Effi andernorts: Während der Hochzeitsvorbereitungen in Berlin stellt sich der stets um Effi bemühte Vetter Dagobert zur Verfügung, seiner Cousine noch vor ihrer Eheschließung, wie er explizit betont, die »Insel der Seligen« (EB, S. 26) zu zeigen – gemeint ist einerseits Arnold Böcklins inzwischen verschollenes Gemälde Die Gefilde der Seligen in der Berliner Nationalgalerie,9 zumindest andeutungsweise jedoch auch eine weitere Form der ›Glückseligkeit‹, die der Erzähler selbst zwar verschweigt, die aber in einer Aussage von Effis Vater zum Ausdruck kommt: Zurück in Hohen-Cremmen, berichtet Vater Briest auf Effis Bericht von den vetterlichen Aventüren hin, in punkto ›Insel der Seligen‹ habe man »hier, während Ihr fort wart, auch so ’was gehabt: unser Inspektor Pink und die Gärtnersfrau« (EB, S. 26). Das »auch« in der Aussage von Effis Vater deutet eine Parallelität zwischen dem ›Sündenfall‹ der Gärtnerfrau und Effis Beziehung zu Vetter Dagobert an, die durch die Erzählinstanz dezent ausgespart wird. Eine ebenso sinnlichkeitsbezogene wie dramengeschichtliche Anspielung verbirgt sich in den Feierlichkeiten zur Hochzeit zwischen Effi und Innstetten: Als Teil des Kulturprogramms spielt die Pfarrerstochter Hulda – gekleidet in ein »sehr eng anliegendes Sammetmieder« (EB, S. 28) – die Holunderbaumszene aus Kleists Käthchen von Heilbronn. Vater Briest ist entsetzt, weil er nicht will, dass eine »Polterabendfigur, in der jeder das Widerspiel unserer Effi erkennen muß, […] in einem fort von ›Hoher Herr‹ spricht« (EB, S. 28) – als Angehörige einer »historische[n] Familie« (EB, S. –––––––––––– 8
9
Vgl. dazu Michael Masanetz’ Deutung der Beziehung zwischen Innstetten und Effi als »politische Konventionsehe«, die letzterer vor allem deshalb eingehe, um gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen (Michael Masanetz, Vom Leben und Sterben des Königskindes. Effi Briest oder der Familienroman als analytisches Drama. In: FBl 72 (2001), S. 42-93, hier S. 46. Und auch Effi hält Innstetten – im Unterschied zu ihrem Vetter – für einen »Mann«, einen »schöne[n] Mann«, mit dem sie »Staat machen« könne und »aus dem was wird in der Welt« (EB, S. 37). Vgl. Christine Hehle, Anmerkungen. In: GBA, Das erzählerische Werk 15, S. 416 f.
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28) stünde Effis eigene Familienehre höher als die der von Innstetten. Von Kleists Käthchen, der Tochter eines Schmieds, die sich in einen Grafen verliebt und sich erst spät als uneheliche Tochter des Kaisers entpuppt, auf Effi zu schließen, verbietet sich ihm natürlich auch deshalb, weil dies Zweifel an seiner Vaterschaft wecken könnte.10 Was Effis Vater schließlich besänftigt, ist Huldas »Sammetmieder«. In Crampas findet Effi jene Leichtigkeit und kompromisslose Leidenschaftlichkeit, nach der sie sich sehnt und die Innstetten ihr nicht bietet. Eine versteckte Anspielung auf Lessing findet sich möglicherweise in Crampas verkürztem linken Arm, der auf jenen lahmen Arm des Majors Tellheim aus Lessings Komödie Minna von Barnhelm verweisen könnte; auch Waldemar Haldern in Stine hat einen verwundeten Arm. Die ironische Figur des Oberförsters Güldenklee, bei dem Innstetten und Effi einen Gesellschaftsabend verbringen, spielt explizit auf Lessings Nathan der Weise an, und zwar in deutlich antisemitischer Manier als jene »Geschichte von den ›drei Ringen‹«, eine »Judengeschichte, die, wie der ganze liberale Krimskrams, nichts wie Verwirrung und Unheil gestiftet hat und noch stiftet« (EB, S. 181).11 Die Haltung des ironisch gezeichneten Oberförsters gegenüber Lessings ›liberalem Krimskams‹ darf aber hier nicht mit derjenigen des Autors verwechselt werden, der sich zumindest öffentlich immer wieder sehr positiv zu Lessings Drama äußert: In seinen Theaterrezensionen bezeichnet Fontane den Nathan als »Evangelium der Toleranz«, das seit »hundert Jahren […] gelesen, dargestellt, citirt«12 werde, später als »das Hohelied der Humanitätslehre«.13 Steht in Effi Briest ein Konflikt zwischen individuell-sinnlichen Bedürfnissen und sozialen Normen im Zentrum, so kreist Irrungen, Wirrungen – ebenso wie Stine – um Standesunterschiede zwischen Liebenden, an denen eine dauerhafte Bindung scheitert. Insbesondere geht es dabei um Liebesverhältnisse zwischen adligen Männern und Frauen des ›vierten‹ Standes. In Irrungen, Wirrungen unterhält Botho von Rienäcker, preußischer Offizier und Vertreter des niederen Landadels, eine Liebesbeziehung zu Lene, die als Pflegetochter in einem kleinen »dreifenstrigen Häuschen[-]«14 einer alten –––––––––––– 10
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Zum Motiv der illegitimen Abkunft in der Holunderbaum-Szene vgl. auch Masanetz (wie Anm. 8), S. 58, der – unter anderem aufgrund dieses Indizes – eine illegitime Abkunft Effis aus dem Preußischen Königshaus folgert. Masanetz spricht von einer »durchgehenden Thematisierung zumeist die Standesgrenzen überschreitender Illegitimität« (S. 62) in Fontanes Roman. Zu einer detaillierten Deutung dieser Stelle vgl. Henry H. H. Remak, Politik und Gesellschaft als Kunst. Güldenklees Toast in Fontanes ›Effi Briest‹. In: Jörg Thunecke (Hrsg.), Formen realistischer Erzählkunst, Nottingham 1979, S. 550–562 GBA, Das kritische Werk 3, S. 243. GBA, Das kritische Werk 3, S. 584. GBA, Das erzählerische Werk 10, S. 107. Im Folgenden zitiert unter der Sigle IW, [S.].
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Berliner Gärtnerei aufwächst, das ihre Pflegemutter nur »miethweise« (IW, 6) bewohnt. Doch nicht erst durch diese Beziehung wird Botho zum Kritiker adliger Privilegien und Sitten, die sich als unüberwindbar erweisen. Analog zu Effi gilt ihm das Duell als Musterfall überkommener Praktiken, als eine »Standesmarotte […], die mächtiger war, als alle Vernunft, auch mächtiger als das Gesetz, dessen Hüter und Schützer zu sein, er recht eigentlich die Pflicht hatte.« (IW, 107) Das Denkmal Ludwig von Hinckeldeys, eines ehemaligen Berliner Polizeipräsidenten, der Opfer einer Adelsintrige geworden war und im Duell starb, weil er sich gegen adlige Netzwerke engagierte,15 predigt ihm »[j]edenfalls das Eine, daß das Herkommen unser Thun bestimmt. Wer ihm gehorcht, kann zu Grunde gehn, aber er geht besser zu Grunde als der, der ihm widerspricht« (IW, S. 108, die folgenden Zitate ebd.). Botho macht kehrt und reitet auf ein machtvolles Denkmal der neuen, bürgerlichen Zeit zu – ein »großes Etablissement, ein Walzwerk oder eine Maschinenwerkstatt […], draus, aus zahlreichen Essen, Qualm und Feuersäulen in die Luft stiegen«. Doch eigentlich fasziniert ist Botho weit weniger vom Bürgertum als vielmehr von der Arbeiterschaft: Mit einem »Anfluge von Neid« beobachtet er, wie vor der Fabrik einige Frauen mit Säuglingen auf dem Arm ihren Männern das Mittagessen bringen; beide Seiten »lachten sich untereinander an, wenn ein schelmisches oder anzügliches Wort gesprochen wurde.« Botho, der, wie die Erzählinstanz erläutert, »sich den Sinn für das Natürliche mit nur zu gutem Rechte zugeschrieben« hatte, nimmt die idyllische Szene des ungezwungenen Miteinanders von Mann und Frau als »schöne[n] Zug im Leben unseres Volks« und als positiven Kontrast zu seiner eigenen Lebenssituation wahr: »Wenn unsere märkischen Leute sich verheirathen, so reden sie nicht von Leidenschaft und Liebe, sie sagen nur: ›ich muß doch meine Ordnung haben‹«, zitiert die Erzählinstanz seine Gedanken. Trägt der verliebte Botho schwer an seinem Schicksal, so sieht die selbstbewusste, pragmatische Lene selbst die Lage der Dinge weitaus realistischer. Für sie ist das Schicksal der weiblichen Figuren aus bürgerlichen Trauerspielen nur noch, wie Klaus Müller-Salget nachweist, ein »abgenutze[s] Muster«16, in dessen Tradition sie sich nicht stellen möchte: »Ich bin nicht wie das Mädchen, das an den Ziehbrunnen lief und sich hineinstürzte, weil ihr Liebhaber mit einer andern tanzte« (IW, S. 110), erläutert sie unter Anspielung auf Hebbels Maria Magdalena, von der ihr Botho berichtet hatte; bereits in der Namensgebung der Protagonisten verbirgt sich eine Anspielung auf Hebbels Drama, zugleich auf den Konflikt zwischen –––––––––––– 15 16
Karen Bauer, Anmerkungen. In: GBA, Das erzählerische Werk 10, S. 264. Vgl. dazu Klaus Müller-Salget, Bezüge zu ›Irrungen, Wirrungen‹. In: Neuhaus (Hrsg.), Effi Briest Handbuch (wie Anm. 5), S. 73–75, hier S. 74.
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sinnlichem Bedürfnis und sozialer Norm.17 Doch auch Lene leidet an der Situation, die sie auf die unüberbrückbaren Standesgrenzen zurückführt. Botho, so klagt sie in einem Gespräch, ahne ja gar nicht, was sie darum geben würde, eine normale Ehe mit ihm führen zu können. Als sie später durch Zufall Botho mit seiner Frau Käthe auf der Straße begegnet, kann sie nur mit Mühe die Fassung bewahren. Den Grund für das Scheitern der Beziehung mit Botho sieht sie allein im adligen Standesdünkel: »Ihr kennt ja nur Euch und euren Klub und euer Leben. Ach, das arme bischen Leben« (IW, 37). Der letzte Satz Lenes ist eine deutliche Anspielung auf Schillers Kabale und Liebe, wo Luise Millerin eine fast wortgleiche Klage äußert.18 Und auch auf Kleists Käthchen von Heilbronn spielt der Roman an:19 Frau Dörr, die Lene aufnimmt, vermutet ironisch »vielleicht is es eine Prinzessin oder so was« (IW, S. 8). Wie Xiaoqiao Wu nachweist, ist in Preußen rein rechtlich eine Ehe zwischen einer adligen und einer bürgerlichen Person seit 1867 möglich; und schon zuvor gibt es die – bürgerliche Frauen massiv diskriminierende – Rechtsform der ›Ehe zur linken Hand‹, die die bürgerliche Seite sowie die aus der Ehe hervorgehenden Kinder von den Standesprivilegien der adligen Person ausschließt und auf die der Roman kontinuierlich anspielt.20 Nicht das Gesetz, sondern soziale Normen, insbesondere Vorstellungen aufseiten von Bothos Familie, verhindern also eine dauerhafte Verbindung, um deren Unwahrscheinlichkeit sie weiß. Sie wünscht Botho ein späteres, standesgemäßes Eheglück und hofft, dass sich »vielleicht« (IW, S. 111) auch ihr eigenes einstellen werde. Im Falle Bothos werden diese Hoffnungen aber enttäuscht. Aus Rücksicht auf die finanzielle Situation seiner Familie heiratet er die attraktive und wohlhabende, aber schwatzhafte und an »shopping« (IW, S. 133) interessierte Käthe von Sellenthin21 – eine Ehe, für die er von seinen Offizierskollegen bewundert wird, die ihn selbst aber nicht glücklich macht. In Lenes späterem Mann Gideon erkennt Botho ein Gegenmodell zu dem von ihm verhassten Standesdünkel und zum engstirnigen Moralismus seiner Zeit. Gideon sucht Botho vor der Hochzeit zu einer Art Herrengespräch über Lene auf, deren unbedingte Ehrenhaftigkeit, Selbstständigkeit und Ehrlichkeit Botho beteuert. Ohne dass Botho in dieser Frage explizit –––––––––––– 17 18 19 20 21
Karen Bauer, Anmerkungen. In: GBA, Das erzählerische Werk 10, S. 240. Karen Bauer, Anmerkungen. In: GBA, Das erzählerische Werk 10, S. 245. Vgl. Müller-Salget, Bezüge zu ›Irrungen, Wirrungen‹ (wie Anm. 16), S. 74. Xiaoqiao Wu, »... links muss es ja sein«. Zur Mesalliance in Fontanes Berliner Roman »Irrungen, Wirrungen«. In: FBl 78 (2004), S. 76–93. Vgl. dazu Christian Grawe, Käthe von Sellenthins ›Irrungen, Wirrungen‹. Anmerkungen zu einer Gestalt in Fontanes gleichnamigem Roman. In: FBl 5 (1982) 1, S. 84–100.
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werden muss, macht Gideon deutlich, dass für ihn das ›sechste Gebot‹, dessen Übertretung durch Botho und Lene er wohl zurecht ahnt, nicht von unbedingter Bedeutung ist: Wer »in seines Fleisches Schwäche« dagegen verstoße, dem könne aus seiner Sicht »verziehen werden, wenn er in gutem Wandel und in der Reue steht« (IW, S. 153).22 Botho bewundert Gideon für diese Haltung, die dieser als Prediger in den Vereinigten Staaten ausgeprägt hat – der Inbegriff für eine liberale Gesellschaft ohne die Atavismen einer ständischen Gesellschaft. Gemeinsam mit Rexin, einem adligen Offizierskollegen, der ebenfalls in einem Liebesverhältnis zu einer bürgerlichen Frau steht, sehnt Botho sich nach einem solchen Leben frei von Standesgrenzen. Doch nicht etwa völlige amouröse Unverbindlichkeit und Zügellosigkeit, sondern Freiheit, Entschluss und Verbindlichkeit23 – kurzum: bürgerliche Tugend – ist das, wonach sich beide sehnen.24 Als ihm – dies die Schlussszene des Romans – seine schwatzhafte Gattin voll Amüsement über die rätselhaften Namen der Brautleute jene Zeitungsannonce vorliest, mit der Gideon und Lene ihre Vermählung ankündigen, entgegnet er: »›Was hast Du nur gegen Gideon, Käthe? Gideon ist besser als Botho‹« (IW, S. 190). Deutlich dramatischer noch als Bothos Verleumdung der eigenen adligen Identität ist das Ende des Grafen Waldemar von Haldern in Stine: Als offenkundig wird, dass seine Beziehung zu der kleinbürgerlichen Ernestine Rehbein keine Zukunft hat, nicht zuletzt deshalb, weil nicht allein seine Familie, sondern auch seine Geliebte einer Ehe widersprechen, sieht er keinen anderen Ausweg als den Freitod. Und auch Stine »wird nich wieder«,25 wie die Vermieterin Emilie Polzin kommentiert, deren gnadenloses Urteil »Das kommt davon«26 den Roman beschließt. Auch Schach von Wuthenow zeigt auf, welche Folgen sozialer Druck in Bezug auf menschliche Bindungen haben kann: Grund für den Selbstmord Schachs ist weniger mangelndes Gefühl für Victoire de Carayon, die er heiraten soll, weil er sie verführt hatte und sie nun schwanger ist, als vielmehr die Schmach seiner elitären Offizierskollegen, in deren Kreis die Heirat mit der von Pockennarben gezeichneten jungen Frau als unwürdig gilt, obwohl sie standesgemäß wäre. Vor dem Sturm dagegen schließt mit einer vollzogenen Mesalliance: Die Ehe zwischen Lewin von Vitzewitz und Marie Kniehase, der verwaisten –––––––––––– 22 23
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Eine Anspielung auf die biblische Maria Magdalena, der genau das widerfährt. Vgl. Walter Hettche, ›Irrungen, Wirrungen‹. Sprachbewußtsein und Menschlichkeit: Die Sehnsucht nach den ›einfachen Formen‹. In: Christian Grawe (Hrsg.), Interpretationen. Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 1991, S. 136–156. Vgl. folgenden Dialog zwischen Botho und Rexin: »›Ich sehne mich nach einfachen Formen, nach einer stillen, natürlichen Lebensweise, wo Herz zum Herzen spricht und wo man das Beste hat, was man haben kann, Ehrlichkeit, Liebe, Freiheit.‹« / ›Freiheit,‹ wiederholte Botho. / ›Ja, Rienäcker‹ (IW, S. 175). GBA, Das erzählerische Werk 11, S. 111. Ebd., S. 111.
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Tochter eines Schauspielers von fraglicher Abkunft, ist durchweg positiv konnotiert. Die Figur der Marie verweist auf jene mystische ›Prinzessin‹, die, einem überlieferten Sinnspruch zufolge, einmal in das Haus der von Vitzewitz aufgenommen, einen magischen Fluch brechen würde, der auf der Familie lastet. Womöglich spielt auch Vor dem Sturm damit auf Kleists Käthchen von Heilbronn an.27
Lessings Dramen in Fontanes Theaterkritik Die bisher aufgezeigten Parallelen in den Handlungsstrukturen von Lessings Dramen und Fontanes Romanen belegen noch keinen Einfluss der ersteren auf die letzteren. Die Ähnlichkeiten könnten Zufälle sein oder aber auf einen gemeinsamen Ursprung von Liebestragödien verweisen, wie er etwa bei Shakespeare zu verorten wäre, dessen Name für Fontane »wie ein Schild« alle »nach dieser Seite hin zu unternehmende[n] [Klammer im Original, L.H.] Versuche«28 überragt. Doch in Fontanes Theaterkritiken lassen sich Spuren finden, die nahelegen, dass Fontane dem ›bürgerlichen Trauerspiel‹ und dabei insbesondere Lessings Dramatik eine bis in die eigene Zeit hineinreichende Vorbildfunktion beimisst. Von 1870 bis 1889 war Fontane für die Vossische Zeitung als Theaterkritiker tätig, hat in dieser Zeit 649 Aufführungen besprochen und viele weitere besucht.29 Allein 14 Besprechungen Fontanes widmen sich verschiedenen Inszenierungen der Emilia Galotti, sieben der Minna von Barnhelm und 20 Schillers Kabale und Liebe, das er, wie auch Emilia Galotti, jeweils über 30 Mal gesehen hat;30 drei Besprechungen gelten dem Drama Nathan der Weise.31 Als dem »deutschen Muster-Trauerspiel«32 misst Fontane vor allem Emilia –––––––––––– 27
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Dies insbesondere im Hinblick auf die ›Prinzessin‹-Anspielung der Frau Dörr in Irrungen, Wirrungen, s.o. »Und eine Prinzessin kommt ins Haus / Da löscht ein Feuer den Blutfleck aus« (GBA, Das erzählerische Werk 1, 25), beginnt der Sinnspruch, den »Jung und Alt« kennt und damit die Versöhnung des durch einen Brudermord entzweiten Hauses Vitzewitz erhofft. Durch den Brand eines Saalanbaus stellt sich ein solches ›Feuer‹ tatsächlich ein. Bernd von Vitzewitz stimmt der Hochzeit seines Sohnes mit den Worten zu: »Und eines weiß ich, sie wird uns freilich den Stammbaum, aber nicht die Profile verderben, nicht die Profile und nicht die Gesinnung. Und das Beides ist das Beste, was der Adel hat« (GBA, Das erzählerische Werk 2, 488). Das entsprechende Kapitel trägt den Titel »›Und eine Prinzessin kommt ins Haus‹« (ebd., 486–494). GBA, Das kritische Werk 2, S. 596. Zur Entstehung, Überlieferung und Edition von Fontanes Theaterkritiken vgl. Gabriele Radecke, »ihr werdet schmunzeln und lächeln blättern und lesen und immer weiterlesen«. Anmerkungen zur Entstehung und Edition von Theodor Fontanes Theaterkritiken. In: Peer Trilcke (Hrsg.), Theodor Fontane, München 2019 (= Text + Kritik. Sonderband 2019), S. 24–33, hier S. 24. GBA, Das kritische Werk 4, S. 543. GBA, Das kritische Werk 5, S. 777. GBA, Das kritische Werk 2, S. 177.
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Galotti kanonische Bedeutung zu. Vergleichbares gilt für Schillers Kabale und Liebe: Es gebe »Weniges, was von der Bühne her mächtiger wirkte«33; er selbst sei auch nach der 20. Aufführung immer wieder aufs Neue ergriffen. Gegenüber dieser Eindrücklichkeit wirkten Schillers spätere ›klassische‹ Dramen, die keine realistischen Szenarien mehr haben, bei all ihrer Eindrücklichkeit »kunstvoll angekränkelt«.34 Doch seine eigene Zeit könne dem Erbe Lessings weder auf dem Theater gerecht werden noch habe sie in lebenspraktischer Hinsicht die richtigen Schlüsse daraus gezogen, wie Fontane angesichts einer prunkvollen Aufführung von Emilia Galotti deutlich macht, die 1872 anlässlich des 100. Bühnenjubiläums des Stückes stattfindet. In ironischer Lakonie beschreibt Fontane ein »lebendes Bild«,35 das vor Beginn der Aufführung zu Ehren Lessings auf die Bühne gebracht wurde: »Lessings Büste, Muse, Lorbeerkranz; Nathan-Figuren, Minna von Barnhelm-Figuren; im Hintergrunde Landschaft, im Vordergrunde ein Grabstein (oder ähnliches) mit der Inschrift: Dramaturgie«.36 Hinter dem vermeintlichen Grabstein, der eine Ehrensäule gewesen sein dürfte, verbirgt sich eine deutliche Anspielung auf die gegenwärtige Relevanz von Lessings Hamburgischer Dramaturgie, deren mitleidszentrierte Dramenpoetik für Fontane durch die Theaterpraxis seiner Gegenwart eher zu Grabe getragen als lebendig gemacht werde. Dass der Stoff von ungebrochener lebenspraktischer Aktualität ist, erkennt Fontane vor allem angesichts des die Aufführung begleitenden gesellschaftlichen Schauspiels: Die Gäste kommen eben jetzt wie die Schwalben; unter ihnen werden auch ›Prinzen‹ und ›Emilias‹ sein. So entschlugen wir uns denn in dieser Aufführung in der schmerzlich-süßen Gewißheit. »sie war die erste nicht und sie wird die letzte nicht sein.«37
Das von Fontane verwendete Zitat ist eine Entlehnung aus Giustiniano Nellis Renaissance-Novelle Giulio und Aurelios Frau. Der Liebhaber Giulio tröstet die von ihm hinters Licht geführte, mit Aurelio verheiratete Geliebte hier mit den Worten: »Ach warum, Madonna, bekümmert Ihr Euch so? Ihr
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GBA, Das kritische Werk 3, S. 211. Ebd. GBA, Das kritische Werk 2, S. 177; bei diesem ›lebendigen‹ Bild handelt es sich um »die mimetisch-plastische Darstellung eines Gemäldes oder historischen Ereignisses durch lebendige Personen« (GBA, Das kritische Werk 5, S. 56). GBA, Das kritische Werk 2, S. 177. Ebd., S. 177.
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seid nicht die erste und werdet auch die letzte nicht sein.«38 Der Besprechung der Inszenierung schickt Fontane einige »historische Notizen«39 über die Entstehungsgeschichte, die Erstaufführung und die weiteren Aufführungen von Lessings Stück voraus, die er einer Aufführungsstatistik entnimmt, die an Lessings Ehrentag verteilt wurde; 234 Aufführungen seit der Uraufführung kann er zählen. Die eben gesehene Galotti-Inszenierung nimmt Fontane vom vielfach konstatierten »Verfall des Theaters« – eine Annahme, an der er selbst eine gewisse Schuld trage – aus.40 Noch häufiger als auf der Bühne findet Fontane bürgerliche Trauerspiele jedoch in der Wirklichkeit, wobei er die Ursachen nicht in der Fehlerhaftigkeit und Tugendlosigkeit des Menschen, sondern in den überkommenen und rigiden Vorstellungen von Tugend findet, wie in einer Kritik zu Otto Ludwigs Der Erbförster vom April 1879 deutlich wird: »Wer das Leben eine Zeitlang beobachtet hat, weiß, wie viele bürgerliche Tragödien sich aus der eigensinnigen ebenso beschränkten wie unerbittlichen Vorstellung vom sogenannten ›guten Recht‹ tagtäglich entwickeln«.41 Den Dramenstoff Ludwigs hält Fontane in Bezug auf seine Eindringlichkeit und Wirklichkeitsnähe durchaus für vergleichbar mit Emilia Galotti und Kabale und Liebe; doch spiele Ludwig etwas einseitig auf der »Weh-Saite«,42 während Schillers und Lessings Tragödien durch komische, aber auch reflexive Passagen dem Zuschauer gelegentliche Erleichterung von den tragischen Geschehnissen verschafften. Lessings Drama gewinnt für Fontane seine nachhaltige Wirkung nicht erst auf der Bühne durch die Macht des schauspielerischen Ausdrucks. Die Tragik ist für ihn vielmehr im Stoff selbst angelegt. Entsprechend verlangt Fontane von den Galotti-Inszenierungen einen realistischen, lebensnahen und ergreifenden Ausdruck43 und verzeichnet in jeder seiner Galotti-Besprechungen penibel die entsprechende Charakterzeichnung. Weniger der Emilia als vielmehr dem Fürsten und Marinelli gilt Fontanes Aufmerksamkeit, –––––––––––– 38
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Giustiniano Nelli, Giulio und Aurelio’s Frau. In: Adalbert Keller (Hrsg.), Italiänischer Novellenschatz, ausgewählt und übersetzt von Adalbert Keller, 6 Bd., Leipzig 1851, Bd. 1, S. 59. Fontane dürfte die Übersetzung bekannt gewesen sein. »Sie ist die erste nicht« ist ein kanonisches Diktum Mephistos aus Faust I über das Schicksal Gretchens. Fontane bezieht sich hier jedoch, deutlich erkennbar durch die Verwendung des ganzen Zitats, nicht auf Faust, sondern auf die italienische Originalquelle. GBA, Das kritische Werk 2, S. 177. Ebd., S. 180. GBA, Das kritische Werk 3, S. 229. Ebd., S. 231. Zu Fontanes Urteilskriterien der »Wirkung« und der »Wahrheit« vgl. Debora Helmer, »›Da sitzt das Scheusal wieder‹«. Der Theaterkritiker Theodor Fontane. In: GBA, Das kritische Werk 5, S. 9–53, hier S. 30–32, um »Realismus und Naturalismus« seiner Kritiken vgl. ebd., S. 39–44.
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wobei der Eindruck des Teuflischen allein bei Marinelli zu erzeugen sei.44 Jede Form des Eingriffs in die aus seiner Sicht gesicherte Deutung des Stücks ist für Fontane ein Frevel. Die Liebe des Prinzen zu Emilia deutet er nicht als übergriffigen Machtmissbrauch, sondern als gerechtfertigt und nachvollziehbar. Allein die statischen Tugendvorstellungen verhindern eine intakte, natürliche Beziehung zwischen dem Prinzen und Emilia, die – so Fontanes Deutung – die Gefühle des Prinzen voll und ganz erwidert. Das Erzeugen von Mitleid ist für Fontane der zentrale Maßstab für den Erfolg oder Misserfolg einer Inszenierung: »Sie traf unser Herz an keiner Stelle«,45 kritisiert Fontane etwa die Emilia-Darstellerin in der Aufführung vom 3.4.1871 oder, ganz ähnlich, den Darsteller des Prinzen in einer Inszenierung vom 27.3.1872, durch dessen leidenschaftslose, distanzierte Spielweise die gesamte Figur ›verloren‹ sei: »Emilia konnte noch gerettet werden, der Prinz nicht mehr«.46 Und über den Darsteller des Marinelli in einer Aufführung vom 22.11.1875 heißt es spöttisch, und unmittelbar auf die Hamburgische Dramaturgie anspielend: »Wie man aber auch über den Marinelli denken und sein Charakterbild gestalten mag, darüber wird man einig sein, daß er zweierlei: Mitleid und Langeweile nicht erwecken darf«.47 Spuren von Lessing zeigen sich auch im Tagebuch Fontanes. In sporadischen, kurzen Notaten wird deutlich, dass Fontane sehr bewusst Kontakte zu Nachfahren Lessings pflegt: Bei dem Bildhauer Otto Lessing, einem Urgroßneffen Gotthold Ephraims, ist er zu einer Soiree zu Gast – Anlass ist, dass dieser mit der Gestaltung des Berliner Lessing-Denkmals betraut worden ist.48 Bei der Einweihung des Denkmals im Jahr 1890 ist Fontane persönlich zugegen und lobt die Gestaltung.49 Carl Robert Lessing, Großneffe des Dichters, ist Haupteigentümer und Herausgeber der Vossischen Zeitung – ein Grund für das Lessing-Lob in Fontanes Kritiken könnte auch hier zu suchen sein. Zum 100. Todestag des Dichters erhält Fontane von Carl Robert Lessing eine Prachtausgabe des Nathan, für die er sich artig und postwendend bedankt.50
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Vgl. GBA, Das kritische Werk 2, S. 45. Fontane kritisiert, dass der Schauspieler in der Galotti-Inszenierung vom 2.3.1871 den Marinelli dagegen »entteufelt« dargestellt habe, einen Fehler, den er als typisch für die Theaterpraxis seiner Zeit betrachtet: »Anstatt das Alte lediglich nach dem Maß einer neu herantretenden Individualität zu modificiren, wird etwas absolut Neues und Abweichendes an die Stelle gesetzt.« GBA, Das kritische Werk 2, S. 61. Ebd., S. 169. Ebd., S. 565. Tagebucheintrag vom 15.03.1881, GBA, Tage- und Reisetagebücher 2, S. 100. Bericht vom Oktober 1890, GBA, Tage- und Reisetagebücher 2, S. 251 f. Tagebucheintrag vom 15.10.1881, GBA, Tage- und Reisetagebücher 2, S. 91.
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Vom Drama zum Roman? Hinter den Ähnlichkeiten zwischen den Dramen Lessings und den Romanen Fontanes, hinter der Lessing-Rezeption Fontanes und seiner Kritik am leer gewordenen Lessing-Kult seiner Zeit verbirgt sich womöglich eine kleine Gattungsgeschichte bürgerlich-tragischer Plotmuster, die hier nur andeutungsweise entfaltet werden kann. Ein Grund für den Wechsel von der dramatischen zur erzählenden Gattung könnte ein mediengeschichtlicher sein: Neue Herstellungstechniken machen es möglich, dass private, bürgerliche Tragödien als günstig produzierte Bücher verbreitet werden können und anstelle der öffentlichen Zur-Schau-Stellung auf der Bühne eine private, intime Lektüre erlauben, wobei der narrative Rezeptionsmodus der privaten Lektüre für die erhoffte private Wirkung (Rührung, Mitleid) besser geeignet ist als der theatral-öffentliche. Dass sich innerhalb der erzählten Welten Fontanes zahlreiche Bühnen-Ereignisse als dysfunktionale Staffage und leerer, rein habitueller Ritus erweisen, korreliert mit dessen Kritik an einer zum reinen Event gewordenen Theaterpraxis seiner Zeit. Fontane ist nicht der einzige Autor, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Theater-Krise wahrnimmt und zugleich bürgerlich-tragische Stoffmuster zu Erzähltexten formt: Gottfried Kellers intensiver Briefwechsel mit dem Literaturwissenschaftler Hermann Hettner hat den Zustand und die Zukunftsaussichten der deutschsprachigen Tragödie zum Zentrum, der sich Hettner in einer wissenschaftlichen Arbeit,51 Keller in seinen dramenpraktischen Versuchen widmet. Fast zeit seines Lebens ist Keller um verschiedene Dramenstoffe bemüht, die aber nie zu einem autorisierten Text führen. Zu dem frühen Dramenentwurf Der Freund ist Keller nach eigener autobiografischer Mitteilung durch Lessings Emilia Galotti angeregt worden; der Text selbst verweist unter anderem auf Schillers Kabale und Liebe.52 Und auch Kellers über etwa dreieinhalb Jahrzehnte immer wieder bearbeiteter Trauerspielstoff mit dem Titel Therese weist deutliche Spuren des bürgerlichen Trauerspiels auf, bleibt aber ebenfalls Fragment.53 Scheint es Keller nicht möglich zu sein, eine adäquate Dramenform für eine Liebestragödie zu finden, schafft er mit Romeo und Julia auf dem Dorfe aus einem hoch kanonischen Tragödienstoff eine ebenfalls klassisch gewordene Novelle. Werkgenetischer Nukleus von Adalbert Stifters Der Nachsommer ist –––––––––––– 51
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Vgl. Hermann Hettner, Das moderne Drama. Ästhetische Untersuchungen, Braunschweig 1852, S. V: »Wir haben die großen Muster Goethe’s und Schiller’s nicht einmal annähernd erreicht. Und doch können wir nicht mehr nach ihnen zurück: Alles drängt rüstig vorwärts nach einem unbekannten, nur dunkel geahntem Neuen.« Vgl. dazu Peter Villwock, Dramenfragmente. In: Ursula Amrein (Hg.): Gottfried-Keller-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart 2016, S. 184–190, hier S. 185. Vgl. Ebd., S. 187–188.
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ein für das bürgerliche Trauerspiel typischer Stoff, der zunächst als Novelle unter dem Titel Der alte Hofmeister umgesetzt wurde; in seinem Zentrum steht eine an äußerem Druck scheiternde Liebe zwischen einem Hofmeister und seiner Schülerin – eine Beziehung, die erst im Alter (und nach erfolgreichem sozialen Aufstieg des männlichen Protagonisten) in Form jenes titelgebenden ›Nachsommers‹ als platonische Liebe möglich wird. Und auch die Lebensgeschichte von Stifters Romanprotagonist Witiko ist als Streben nach sozialem Aufstieg deutbar; erst dieser macht eine auf wahrhafter Liebe gründende Ehe möglich. Beide Romane sind durch das zentrale Symbol der Rose verbunden, die für die wahrhafte, sinnliche und geistige Liebe steht, die sich gegen äußere Widerstände zur Wehr setzen muss. Fontanes Dramenentwurf Karl Stuart entzieht sich den ›bürgerlichen‹ Vorbildern Lessings durch die Versform und die Situierung der Handlung im Hochadel, kommt aber über die Exposition nicht wesentlich hinaus.54 Gerade im Zusammenhang mit dem Scheitern dieser Versuche stellt die vielfach konstatierte Dramenkrise der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zumindest einen Hintergrund dar für Fontanes persönlichen Weg vom Theaterkritiker zum Autor von bürgerlich-tragischen Gesellschaftsromanen:55 Auf der Bühne seiner Zeit sieht Fontane das bewunderte bürgerliche Trauerspiel in seiner klassischen Form zur Uneigentlichkeit verkommen und verleiht ihm vielleicht gerade deshalb im Zeit- und Gegenwartsroman eine neue, erzählende Form. Deren ›realistische‹ Gestaltung dürfte, so lassen insbesondere die Theaterkritiken Fontanes erkennen, eine Wirkung der mitleidszentrierten Dramenpoetik Lessings darstellen.
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Vgl. dazu Helmer, Der Theaterkritiker Theodor Fontane (wie Anm. 43), S. 29. Vgl. dazu auch Michael Scheffels Beobachtung, Fontanes Erzähltexte seien formal – durch die Dialogform und den Spannungsaufbau – an Theater und Drama orientiert und brächten auch vergleichbare »ideologische Folgen« mit sich; Michael Scheffel, Drama und Theater im Erzählwerk Theodor Fontanes. In: Horst Turk, Jean-Marie Valentin et al. (Hrsg.), Aspekte des politischen Theaters und Dramas von Calderón bis Georg Seidel. Deutsch-französische Perspektiven, Bern 1996, S. 201–227.
»Ich will ein Lied Euch singen« Fontane und die patriotische Liedkultur der Aufklärung Baptiste Baumann und Jana Kittelmann Prolog In Theodor Fontanes Die Grafschaft Ruppin sind den Ausführungen zum Regiment Prinz Ferdinand Nr. 34 folgende Verse vorangestellt: »Unüberwundenes Heer/ O Heer, bereit zum Siegen oder Sterben.«1 Die Zeilen stammen aus der Feder des Dichters und Militärs Ewald Christian von Kleist, der damit 1757 seine Ode an die preußische Armee eröffnet.2 Kleist findet wenige Jahre später selbst den von ihm geschilderten »Tod im rasenden Getümmel«: 3 Nach einer schweren Verwundung auf dem Schlachtfeld von Kunersdorf (heute Kunowicze) stirbt er am 24. August 1759 in Frankfurt an der Oder. Jahrzehnte danach lässt Fontane in Vor dem Sturm seinen Protagonisten Lewin von Vitzewitz über einen Besuch von »Kleists Grabmal« berichten. Trotz dessen »zopfigen« Stils mit »Schmetterling und Inschrift in drei Sprachen«4 ist der Eindruck auf Lewin ein tiefer und bleibender. Die Ode an die preußische Armee zählt freilich nicht zu den populärsten Gedichten Kleists, der vielmehr als empfindsamer Idyllendichter mit Schäferstücken und lyrischen Zyklen wie Der Frühling ab 1749 das literarische Parkett seiner Epoche erobert und europaweit Bekanntheit erlangt hat. Dass Fontane seinen Ausführungen gerade diese Verse Kleists als Motto bzw. Paratext voranstellt, mag einerseits in der Thematik begründet sein. Andererseits zeugt es von einer spezifischen Rezeption Kleists als empfindsamem preußischdeutschen Helden5, der als populärer Akteur und mobilisierender Sänger
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GBA, Wanderungen durch die Mark Brandenburg 1, S. 205. Die Verse stammen aus der ersten Strophe der Ode, vgl. Ewald Christian von Kleist, Ode an die preußische Armee. Im Merz 1757. In: Ders., Neue Gedichte vom Verfaßer des Frühlings, Berlin 1758, S. 11–15, hier S. 11: »Unüberwundnes Heer! mit dem Tod und Verderben/ In Legionen Feinde dringt,/ Um das der frohe Sieg die güldnen Flügel schwingt/ O Heer! bereit zum Siegen oder Sterben.« Ebd. S. 15. Vor dem Sturm, GBA, Das erzählerische Werk 2/IV, S. 385. Vgl. dazu auch Michael Gratzke, Blut und Feuer: Heldentum bei Lessing, Kleist, Fontane, Jünger und Heiner Müller, Würzburg 2011, S. 111.
https://doi.org/10.1515/9783110666984-008
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des militärischen Aufstiegs Preußens die Verbindung aus Dichtung und Nation, Lyrik und Krieg geradezu personifiziert und sowohl die Zeitgenossen als auch zukünftige Schriftstellergenerationen fasziniert. Kleists Zeit, Schicksal und Werk sowie sein von ihm und vielen anderen als Held gefeierter und verehrter König Friedrich II. – alles untrennbar miteinander verbunden – bewegt Fontane und dessen Zeit noch immer. Im 19. Jahrhundert haben historische Ereignisse wie der Siebenjährige Krieg und damit verbunden die Eroberungspolitik und die Regierungszeit Friedrichs des Großen sowie deren Akteure aus Wissenschaft, Militär und Kultur nichts an Brisanz und Faszination verloren. Im Gegenteil: Es ist die Zeit der Biographien, der Editionen, der historiographischen und künstlerischen Aufarbeitung dieser Epoche. Thomas Carlyles und Berthold Auerbachs (im Kern grundverschiedene) Friedrich II.-Biographien, Franz Kuglers von Adolph von Menzel illustrierte Geschichte Friedrichs des Großen, Christian Daniel Rauchs Reiterstandbild des Königs Unter den Linden oder die Ausgabe von dessen Schriften in der Hofbuchdruckerei von Rudolf von Decker, der 1871 auch Fontanes Kriegsgefangen verlegt, seien hier nur beispielhaft genannt. Und auch Fontane zeigt sich fasziniert von dieser Epoche, deren literarische Auf- und Bearbeitung ihn sein Leben lang begleitet. Noch im Alter bezeichnet er sich in einem Brief an Maximilian Harden neben anderen Schriftstellerrollen als »den Alten Fritz-, Zieten-, Kaiser Friedrich- und Bismarcksänger«.6 Fontanes schriftstellerische Karriere beginnt mit der Hinwendung zur friderizianischen Zeit, zur preußischen Aufklärung und deren »Männer[n] und Helden«, denen er in Balladen, Liedern, Romanpassagen und ganzen Kapiteln in den Wanderungen zeitlebens verbunden bleibt. Obgleich oft anekdotenhaft gefärbt und mit spielerischer Distanz erzählt, scheint in der Beschäftigung mit Generälen und Feldherren wie dem Prinzen Heinrich von Preußen, dem Grafen Kurt Christoph von Schwerin, dem Feldmarschall Jakob Keith oder dem Husarengeneral Hans Joachim von Ziethen doch stets ein Funken patriotischer Euphorie und Begeisterung durch. Fontanes produktiven und zugleich reflektierenden Umgang mit diesen Persönlichkeiten der Militärgeschichte führen auf eindrückliche Art und Weise seine zwischen 1846 und 1857 entstandenen vaterländischen Gedichte, hier vor allem die Anthologie Männer und Helden. Acht Preußen-Lieder7 vor Augen, mit der er zugleich auf dem literarischen Parkett reüssiert. In den zunächst im literarischen Sonntagsverein Tunnel über der Spree vorgetragenen und dort zum Teil mit großem Beifall aufgenommenen Feldherrenballaden liefert Fontane einen ganz eigenen Beitrag zur patriotischen Begeisterung für das alte Preußen der Generäle und Feldmarschälle. Indem er diese in Form des
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Theodor Fontane an Maximilian Harden, 7. November 1889, HFA IV/3, S. 733. Theodor Fontane, Männer und Helden. Acht Preußen-Lieder, Berlin 1850.
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Gassenhauers zum literarischen Gegenstand macht, knüpft er zugleich an ein geschichtsträchtiges und etabliertes Genre an, dessen Wurzeln bis ins Friderizianische Zeitalter zurückreichen: das profane vaterländische Lied. Die Thronbesteigung Friedrichs II. im Jahr 1740 und dessen jahrelangen militärischen Aktionen und Kriege sowie die damit verbundene heroische ›Erfindung‹ und mediale Vermittlung des noch jungen Königreichs Preußen findet eine Analogie in der Dichtung der Zeit.8 Obgleich Friedrich II. bekanntlich mit der deutschen Literatur kaum etwas anfangen kann und dieser sogar in seiner Schrift De la Littérature Allemande eine späte, aber nicht minder arge Abfuhr erteilt,9 löst er bei Poeten und Literaten grenzenund gattungsübergreifende Begeisterungsstürme aus, die sich zunächst vor allem in Oden und Liedern niederschlagen. Insbesondere junge Dichter und Dichterinnen wie Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Samuel Gotthold und Anna Dorothea Lange – die für den »göttlichen Vater Friedrich« ihr »Blut versprützen« will10 –, Karl Wilhelm Ramler, der eingangs erwähnte Ewald Christian von Kleist sowie in späterer Zeit Christian Felix Weiße, Friedrich Wilhelm Gerstenberg und Anna Louisa Karsch besetzen und modellieren eine noch nicht vollends ausgestaltete Gattung patriotischer Lyrik mit Elementen einer bis dato eher der Ependichtung vorbehaltenen nationalen Poesie, wie etwa dem Herrscherlob, der Besingung errungener Siege oder der Beschreibung nationaler Tugenden.11 Als populäre, rhythmische und musikalisch leicht umsetzbare Dichtung soll sie über die Gelehrtenkreise hinaus zur »Erwekung und Verstärkung edler Nationalempfindungen« dienen. So hat es ein Freund und Zeitgenosse Gleims und Ramlers, der Schweizer Philosoph und Friedrich II.-Bewunderer Johann Georg Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste formuliert.12 Nicht zuletzt sind die Oden
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Vgl. dazu u.a. ›Krieg ist mein Lied‹. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien. Hrsg. von Wolfgang Adam und Holger Dainat in Verb. mit Ute Pott, Göttingen 2007; Johannes Birgfeld, Krieg und Aufklärung. Studien zum Kriegsdiskurs in der deutschsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts, Hannover 2012. Friedrich II., De la Littérature Allemande; des défauts qu’on peut lui reprocher; quelles en sont les causes; et par quels moyens on peut les corriger, Berlin 1780. Darin erteilt der preußische König nur den wenigsten Literaten, namentlich Christian Fürchtegott Gellert, Salomon Geßner und Immanuel Kant, sein Lob. Eine deutsche Übersetzung der Schrift durch Christian Wilhelm von Dohm erschien im selben Jahr. Anna Dorothea Lange, Friedrichs Zurükkunft in sein Land. In: Samuel Gotthold Lange, Horatzische Oden, Halle an der Saale 1747, S. 166. Vgl. dazu grundlegend Annika Hildebrandt, Die Mobilisierung der Poesie. Literatur und Krieg um 1750, Berlin/Boston 2019, S. 217–232. Hildebrandt beschreibt die Entstehungsgeschichte der preußischen Kriegslieder als Transformationsprozess einer Form politischer Oden, deren Etablierung und Propagierung mit der Thronbesteigung Friedrichs II. und den Schlesischen Kriegen beginnt. Vgl. zur Gattungsbildung und Gattungstheorie dieser zwischen geistlichem Lied bzw. Ode (Preis- und Loblied) und niedrigeren lyrischen Gattungen (Volkspoesie) situierten Liedform ebd. S. 263–269. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, Leipzig 1774, S. 715.
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und Lieder dieser Zeit Bestandteil einer kulturellen und kollektiven Gedächtnis- und Identitätsstiftung sowie Ausdruck der Verehrung eines Königs, der für seine weitgehende Ablehnung ritualisierter und zeremonieller Selbstdarstellung bekannt und geschätzt wird. Die hier nur rasch konturierten Anfänge der preußisch-vaterländischen Lyrik münden jedoch keineswegs in einer einheitlichen Tradition oder in einem gefestigten Gattungsansatz, sondern bleiben über die Jahrhunderte (bis in den Zweiten Weltkrieg) hinweg eng mit den Liedern Gleims verknüpft, dessen Mitstreiter, Nachahmer und nicht selten fragwürdige Nachfolger häufig hinter seinem Vorbild zurückbleiben. Unter der Verfasserfiktion eines Grenadiers, eines einfachen Soldaten, erscheinen mitten im Siebenjährigen Krieg die erfolgreichen Preussischen Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757, eine Sammlung von Gleims anonymen, als »Schlachtlied«, »Siegeslied« oder »Eröffnung des Feldzuges« bezeichneten patriotischen Liedern.13 Damit soll der Sammelbegriff des Kriegsliedes, der auf Lessing als Herausgeber der Lieder zurückgeht, die Erscheinung und Etablierung einer neuen lyrischen Gattung vorantreiben, oder zumindest vortäuschen.14 Die Realität sieht im Laufe des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts anders aus: Die Kriegslyrik vereint sehr unterschiedliche Formen – z. B. den älteren militärischen Marsch, den melodisch-dynamischen Schlachtgesang, das enthusiastische Siegeslied, das reflektierende Soldatenlied, das Heldenlied bis hin zum Volkslied15 –, deren Ansätze und Ansprüche teils zusammenlaufen, teils divergieren und deren Grenzen transparent sind. Während im Soldatenlied der Dichter meist in der Ich- oder Wir-Form individuellen Gedanken und Empfindungen über den eigenen Soldatenstand und den Krieg nachgeht,16 wird mit dem Schlachtgesang den Soldaten und Kriegern zeitnah Mut für den bevorstehenden Kampf eingeflößt und zugleich Schrecken unter dem Feind verbreitet. Dass das oft mit entsprechender Bewegung, Brutalität und Proklamation erfolgt, zeigt unter anderem Karl Wilhelm Ramlers Schlachtgesang, im Chor [!] zu singen:
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Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Preussische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier. Mit Melodien, Berlin 1758. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Vorbericht. In: Gleim, Preussische Kriegslieder, unpag. Im 19. Jahrhundert werden die einstigen Kriegslieder nicht selten unter dem Begriff »Volkslied« zusammengefasst: Autoren und Herausgeber lösen damit nicht zuletzt den ständischen Unterschied zwischen Militär und Volk, der das 18. Jahrhundert charakterisierte, bewusst auf. Vgl. etwa Historische Volkslieder. Hrsg. von Franz Wilhelm von Ditfurt, 3 Bde., Berlin 1871. Die Form des Soldatenliedes wurde nicht zuletzt von Gleim beispielhaft eingeführt. Siehe seine Preussischen Soldatenlieder in den Jahren 1778 bis 1790, Berlin 1790.
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Auf! tapfre Krieger, auf! ins Feld! Gerecht ist unser Krieg; Uns führet Deutschlands größter Held, Uns folget Ehr und Sieg. Ihr Feinde, zittert! unser Heer Hat Kriegeskunst und Muth; Ist schneller mit dem Mordgewehr, Und trägt der Väter Blut. […] Die Kugel treffe, wer sich bückt, Und scheu zurückefährt! Und wer zur Flucht den Fuß nur rückt, Deß Nacken treff ein Schwerdt! Nein! eh ich fliehe, stürz ich hin, Mit Waffen in der Hand; Seyd Rächer, wenn ich treulos bin, Gott, König, Vaterland!17
Schließlich treten mit den Napoleonischen Kriegen zahlreiche weitere, einer neueren Kriegsführung und einem aufstrebenden Nationalgefühl angepasste Formen in Erscheinung, die eine einheitliche Beschreibung der Gattung erschweren.18 Innerhalb dieser facettenreichen Entwicklung der vaterländischen Lyrik in Preußen offenbaren sich außerdem Varianten und Tendenzen, die immer mit Blick auf die Perspektive des jeweiligen Verfassers oder der Verfasserin – auch Anna Louisa Karsch dichtet Kriegslieder – definiert und beschrieben werden müssen. Neben und nach Gleim haben unter anderem Johann Caspar Lavater mit seinen patriotischen, rückblickend auf historische Schlachten verfassten, doch nicht weniger gewaltvollen Schweizerliedern (1767), die Verfasser (darunter Ramler) der aus unterschiedlicher Perspektive doch mit derselben Intention entstandenen Kriegslieder für Josephs und Friedrichs Heere (1778), Theodor Körner mit der Gedichtsammlung Leyer und Schwert (1814) sowie Karl von Holtei, Willibald Alexis, Georg Hesekiel und die patriotischen Tunnel-Dichter Christian Friedrich Scherenberg oder eben Theodor Fontane19 diese Traditionslinie rezipiert, erweitert, weiterentwickelt und mehr oder weniger erfolgreich propagiert.
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Karl Wilhelm Ramler, Schlachtgesang, im Chor zu singen. In: Ders. et al., Kriegslieder für Josephs und Friedrichs Heere, o. O. 1778, unpag. Vgl. z.B. die Artikel »Lied« und »Soldatenlied« in Johann Georg Krünitz et al., Oeconomische Encyclopädie, oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- u. Landwirthschaft in alphabetischer Ordnung, Bd. 78, 1800, S. 581–586; Bd. 155, 1832, S. 434–438. Im Siegeslied Der Tag von Düppel verewigt Fontane 1864 den zeitgenössischen, von Wilhelm Piefke komponierten Düppeler-Schanzen-Marsch.
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Fontanes Feldherrenballaden erhalten erst infolge der Publikation im Jahr 1850 den Titelzusatz ›Preußen-Lieder‹ und lassen sich somit kaum unter eine eigentliche Kriegslyrik kategorisieren. Er selbst hat sie eher als »kleine vaterländische Sachen« oder »Charakterzeichnungen historischer Personen«20 bezeichnet. Im Folgenden soll dennoch einigen Überlegungen Raum gegeben werden, ob und wenn ja inwieweit sich die Balladen und Lieder, in denen Fontane die Schicksale von Feldherren der preußischen Armee schildert und pointiert in Szene setzt, als ein (entferntes) Erbe der patriotischen Liedkultur des 18. Jahrhunderts interpretieren lassen. Nicht zuletzt erscheinen Gleim, Ramler und Fontane bereits in den frühen 1850er Jahren gemeinsam als wichtige Vertreter einer historisch-vaterländischen Volksliedkultur in Preußen: So finden sich in der Sammlung Preußens Ehrenspiegel, die nach der historischen Chronologie angelegt ist, einige der Feldherrenballaden Fontanes unmittelbar neben diversen Sieges- und Kriegsliedern Gleims, Ramlers oder Uz’.21 Vor Helmuth Nürnberger, der in seiner Biographie Fontanes Welt diese von Gleim bis zu Fontane (und darüber hinaus) reichende Traditionslinie aufzeigt, vermerkt bereits Ernst Kohler in einer 1940 erschienenen Studie: »Gleim popularisiert das Literarische, Fontane literarisiert das Populäre.«22 Ob Fontane bei der Arbeit an Männer und Helden Gleims fast ein ganzes Jahrhundert vorher entstandene Preussische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 kannte, ist kaum mehr rekonstruierbar.23 Unwahrscheinlich ist es nicht. Werkausgaben Gleims, eine Neuauflage der Kriegslieder im Jahre 1819, ausgewählte Gedichte in Gedichtsammlungen sowie Lexikonartikel geben hinreichend Aufschluss über die große Beliebtheit und Signifikanz Gleims als Vorbild und ›Vater‹ der patriotischen Lyrik noch während des 19. Jahrhunderts. In später entstandenen Texten und Passagen ist Fontane durchaus auf Gleim eingegangen.24 Fontanes Feldherrenballaden sind bislang freilich und auch vollkommen zurecht meist im Kontext der patriotischen und politischen Dichtung
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Theodor Fontane an Wilhelm Wolfsohn, 10. November 1847. In: Hanna Delf von Wolzogen und Itta Shedletzky (Hrsg.), Theodor Fontane und Wilhelm Wolfsohn – eine interkulturelle Beziehung. Briefe, Dokumente, Reflexionen, Tübingen 2006, S. 30. Vgl. Adolf Müller und Hermann Kletke (Hrsg.), Preußens Ehrenspiegel. Eine Sammlung preußischvaterländischer Gedichte von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1840, Berlin 1851. Fontanes Ballade Keith folgt dort beispielsweise auf Johann Peter Uz’ Auf den Tod des Majors von Kleist. Beide Militärs verloren im Laufe nur weniger Monate ihr Leben auf dem Schlachtfeld. Ernst Kohler, Die Balladendichtung im »Berliner Tunnel über der Spree«, Berlin 1940, S. 227. Die Fontane-Chronik vermerkt allerdings unter dem Jahr 1878, dass Fontane bei seiner Arbeit am Regiment Prinz Ferdinand Gleims Kriegslieder herangezogen habe, aus denen er sogar eine Strophe zitiert. Vgl. Roland Berbig, Theodor-Fontane-Chronik, Berlin/Boston 2010, Bd. 3, S. 1837. Vgl. zum Beispiel Theodor Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, GBA, Das autobiographische Werk 3, S. 43.
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im literarischen Sonntagsverein Tunnel über der Spree diskutiert worden.25 Akteure und Literaten wie der von Fontane literarisch verewigte Christian Friedrich Scherenberg, Julius Minding oder Georg Hesekiel rückten dabei ins Blickfeld. Gleichwohl scheint die Frage, ob und wenn ja in welcher Form in Fontanes vaterländischen Balladen und Preußenliedern auch Spuren der Kriegslyrik und patriotischen Liedkultur der Aufklärung zu finden sind, durchaus reizvoll. Reminiszenzen und Überschneidungen sind in Inhalten, Akteuren und Motiven präsent. Zudem stellt sich die Frage, inwieweit sich auch gemeinsame oder voneinander abweichende Strategien, Intentionen und Wirkungsabsichten eröffnen. Bevor wir diese Frage anhand eines konkreten Vergleichs zwischen Gleim und Fontane näher erläutern wollen, seien einige Ausführungen zu den beiden und ihrer patriotischen Dichtung vorangestellt.
Fontanes lyrischer Patriotismus Als Fontane 1845 von seinem einjährigen Militärdienst entlassen wird, herrscht in Preußen seit dreißig Jahren Frieden. Das Trauma der napoleonischen Besatzung ist im kollektiven Bewusstsein zwar immer noch überaus präsent, eine akute Kriegsgefahr besteht allerdings nicht. Fontane hat noch keinen Krieg erlebt. Den Siebenjährigen Krieg oder die Befreiungskriege kennt er aus den zahlreichen Geschichtsbüchern, die er seit seiner Kindheit geradezu verschlingt. Erst Jahrzehnte später wird er als Kriegsreporter unterwegs sein und dem Schicksal Ewald Christian von Kleists nur knapp entgehen. Fontane droht zwar nicht der Tod auf dem Schlachtfeld, aber doch die Füsilierung durch die Franzosen. In Kriegsgefangen hat er die damit verbundenen Ängste sowie die Zeit seiner anschließenden französischen Gefangenschaft eindrücklich geschildert.26 Doch beim Verfassen seiner ersten Heldengedichte sind die Zeiten zwar politisch bewegt, aber weniger bedrohlich. Fontane steht noch ganz am Anfang seiner schriftstellerischen Karriere, die gerade durch diese Balladen einen erheblichen Auftrieb erfährt. Eine Handschrift Fontanes aus dem Jahr 1846 enthält Notizen zu den geplanten historischen Liedern, in denen neben den Protagonisten der später verfassten und gedruckten Gedichte Seidlitz, Schwerin und Der alte Derffling noch Friedrich II. und Ewald Christian von Kleist aufgeführt sind.27 Die beiden
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Vgl. u.a. Marc Thuret, Patriotische und politische Dichtung im Tunnel um 1848. In: FBl 51 (1991), S. 46–55; Hubertus Fischer, Fontane, der Tunnel und die Revolution, Berlin 2009. Vgl. Jana Kittelmann, Theodor Fontane. Kriegsgefangen. In: Sikandar Singh (Hrsg.), Übergänge, Brüche, Annäherungen. Beiträge zur Geschichte der Literatur im Saarland, in Lothringen, im Elsass, in Luxemburg und Belgien, Saarbrücken 2015, S. 235–247. Vgl. GBA, Gedichte 2, S. 626.
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letzteren Sujets bleiben Entwurf und werden nicht ausgeführt, auch wenn Friedrich II. und Kleist, wie schon erwähnt, Spuren im Werk Fontanes hinterlassen. Obgleich Fontane in derselben Zeit in Artikeln für die Zeitungshalle überaus preußenkritisch agiert und fragt, »Was gilt dem Schlesier die Schlacht bei Fehrbellin, was gilt ihm der Siebenjährige Krieg mit seinem zweifelhaften Recht«,28 arbeitet er intensiv an den Feldherrengedichten, wie der Briefwechsel mit seiner Braut Emilie zeigt.29 Dem dritten überlieferten Schreiben der Korrespondenz ist das Gedicht Der alte Ziethen beigelegt. Ob Verse wie »Sie stritten nie alleine/ Der Ziethen und der Fritz, / Der Donner war der Eine, / Der andre war der Blitz«, die junge Emilie beeindrucken, bleibt freilich ihr Geheimnis. Die Gegenantwort ist nicht überliefert. Die weitere Entstehungsgeschichte von Fontanes erster selbständiger Publikation ist bekannt.30 Sieben der acht in Männer und Helden erschienenen Lieder wurden zuvor parallel in zwei Zeitschriften veröffentlicht: Während das von Hermann Hauff herausgegebene Cotta’sche Morgenblatt für gebildete Leser in Stuttgart und Tübingen die Serie anonym unter der Überschrift Preußische Feldherrn publiziert, wird Fontane in dem von seinem Tunnel-Kollegen Louis Schneider herausgegebenen Berliner Journal Der Soldaten-Freund namentlich erwähnt. Die Serie trägt dort den Titel Leyer und Schwerdt und verweist so eindeutig auf Körners im Rahmen der Befreiungskriege verfasste patriotische Lieder. Aufgrund ihrer vaterländisch-militärischen Thematik sowie der Liedstruktur können zudem die aus meist reinen jambischen Dreihebern und achtzeiligen Strophen bestehenden Gedichte Ein letzter Wille31 (1847), Yorck32 (1850), Prinz Louis Ferdinand33 (1857) und Die Fahne Schwerins34 (1857) zur Gruppe der Preußenlieder gerechnet werden. Etwas abseits davon – wiewohl formal sehr ähnlich – steht das 1851 entstandene Gelegenheitsgedicht Der alte Fritz auf das von Christian Daniel Rauch geschaffene Berliner Denkmal auf Friedrich den Großen. 35 Schon die erste, am 26. Oktober 1846 im Tunnel vorgetragene Ballade mit dem – später noch leicht modifizierten – Titel Der alte Dörfling wird ein großer Erfolg. Im Mittelpunkt steht
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Berliner Zeitungs-Halle, Nr. 200, 31. August 1848. Zu Fontanes »janusköpfiger Preußenkritik«, siehe auch Helmuth Nürnberger, Fontanes Welt, München 2007, S. 200. GBA, Ehebriefwechsel 1, S. 4f. Vgl. dazu GBA, Gedichte 1, S. 383–391, sowie die ausführlichen Kommentare der GBA zu den einzelnen Liedern anhand ihrer ersten Lesung im Tunnel nebst Beurteilung, ihrer Überlieferung und ihrer Druckgeschichte. GBA, Gedichte 2, S. 387–389. Das Gedicht handelt von der Todesstunde Friedrich Wilhelms I. Ebd. S. 401f. GBA, Gedichte 1, S. 202–204. Ebd. S. 205f. Ebd. S. 237f.
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Georg von Derfflinger, der trotz oder gerade wegen seiner Schneidervergangenheit im Dreißigjährigen Krieg große Verdienste erlangt und den Fontane mit den Worten einführt: Es haben alle Stände So ihren Degenwerth, Und selbst in Schneiderhände Kam einst das Heldenschwert; Drum jeder, der da zünftig Mit Nadel und mit Scheer’, Der mache jetzt und künftig Vor Derffling sein Honneur.36
Der Umstand, dass Fontanes Lieder und Balladen gerade nicht vor dem Hintergrund eines konkreten Kriegsgeschehens oder eigener militärischer Erfahrungen entstanden sind, ist für deren Ausrichtung und Wesensart nicht unerheblich. So deutet sich bereits in dieser ersten Ballade an, was auch für alle anderen gilt: auf eine aggressive und brutale Rhetorik, wie sie etwa in Gleims oder Ramlers Gedichten, Liedern und Oden verstörend häufig zu finden ist, wird hier weitgehend verzichtet. Vielmehr »triumphiert«, wie es Helmuth Nürnberger formuliert hat, das »Heldische in der Anekdote«.37 Fontanes Perspektive ist die des historisch interessierten und bewanderten Poeten, der auf eine volkstümliche und anekdotenhafte Darstellung der heldenhaften Charakterzüge von historischen Akteuren vor allem des Siebenjährigen Krieges zielt. Im öffentlichen und literarischen Bewusstsein waren Militärs wie Kurt Christoph von Schwerin, Jakob Keith oder Leopold von Anhalt-Dessau ohnehin bekannt und in Form von Statuen auf dem Berliner Wilhelmsplatz sowie in historiographischen Abhandlungen wie Karl August Varnhagen von Enses Biographischen Denkmalen längst zu Denkmälern geworden. Varnhagen von Ense, mit dem Fontane 1852 in kurzem brieflichen Kontakt steht,38 arbeitet in den Jahren 1834 bis 1844, nachdem er im Rahmen seiner biographischen Denkmale 1825 bereits Georg von Derfflinger und Leopold von Anhalt-Dessau behandelt hatte, das Leben der Generäle Friedrich Wilhelm von Seydlitz, Hans Karl von Winterfeldt sowie der erwähnten Schwerin und Keith auf. Ob Fontane diese Biographien kannte, ist nicht belegt, aber doch nicht unwahrscheinlich. Zudem sind seine literarischen Porträts von Feldherren wohl kaum ohne den
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Fontane, Männer und Helden (wie Anm. 7), S. 5. Helmuth Nürnberger, Theodor Fontane mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 20. Aufl., Hamburg 1994, S. 60. Vgl. Christa Schulze, Ein Briefwechsel zwischen Th. Fontane und K.A. Varnhagen von Ense aus dem Jahr 1852. In: FBl 6/1 (1985), S. 3–5.
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Berliner Wilhelmsplatz denkbar: Hier finden seit dem späten 18. Jahrhundert die marmornen Standbilder von Schwerin (1769), Winterfeldt (1777), Seydlitz (1781), Keith (1786), Ziethen (1794) und Leopold von Anhalt-Dessau (1828) ihren Platz (Abb. 1 und 2). Wie die Denkmäler ist auch die ästhetisch-literarische Perspektive der Preußenlieder meist auf ein unverwechselbares Merkmal fokussiert: Der Zopf Leopolds von Dessau oder die legendäre Fahne Schwerins – die schon Gleim besingt – offenbaren sich als sichtbare Zeichen individueller Schicksale, die Fontanes Lieder prägen.39 Fontane scheint an die Berliner Standbilder anzuknüpfen, indem er literarisch-bewegte Standbilder und lyrische Biographien40 in Reim- und Versform schafft, die sich, wie die Denkmäler, durch Gleichmäßigkeit der Materie und metrische Regelmäßigkeit auszeichnen. Mit Blick auf seine Preußenlieder, die nicht nur im Kontext der patriotischen Tunnel-Dichtung, sondern auch im Zusammenhang mit einer in der Aufklärung wurzelnden Denkmal- und Liedkultur sowie der zeitgenössischen nationalbiographischen Praxis verstanden werden müssen, betont Fontane selbst in einem Brief an Hermann Hauff aus dem Jahr 1847, dass es ihm mit seinen Balladen vor allem um eine »volksthümliche«, das heißt im Kontext der Populärkultur angesiedelte Darstellung geht: Meine Aufgabe beim Niederschreiben aller dieser Gedichte war nur die, den poetischen Ausdruck für das zu finden, was bereits im Munde des Volkes lebt, und in diesem bescheidenen Sinne wag ich sie volksthümlich zu nennen.41
Dass Fontanes Rückgriff auf die Gattung der Ballade gleich in mehrfacher Hinsicht ein glücklicher und erfolgreicher ist, hat jüngst D’Aprile aufgezeigt. In ihrer erzählenden und Formen der Oralität aufgreifenden Grundstruktur bietet die Balladenform Fontane einerseits die Möglichkeit seine »früh ausgeprägten Leidenschaften« für Literatur, Geschichte und Anekdoten mit »genuin lyrischen Elementen« in ein Spannungsverhältnis zu bringen.42 Andererseits ließe sich einwendend ergänzen, dass bei aller anekdotenhaften und humorvollen Auseinandersetzung mit dem Sujet, doch eine klare politische Intention und Reaktion auf eine historische bzw. historisierende Tradition vaterländisch-preußischer Literatur erkennbar sind. Zwar hat Helmuth Nürnberger darauf verwiesen, dass die Balladen Fontane einen Spielraum »seiner patriotischen Begeisterung für das alte Preußen und das
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Vgl. dazu Peter Wruck, Der Zopf des Alten Dessauers. Bemerkungen zum Fontane der Preußenlieder. In: FBl 5/3 (1983), S. 347–360. Vgl. dazu auch Hugo Aust, Fontanes lyrische Biographie – ein Versuch. In: Roland Berbig (Hrsg.), Fontane als Biograph, Berlin/New York 2010, S. 9–18, hier 12f. Theodor Fontane an Hermann Hauff, 18. Mai 1847, HFA IV/1, S. 34. Iwan-Michelangelo D’Aprile, Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung, Reinbek bei Hamburg 2018, S. 144.
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Kriegswesen« lassen, ohne dass er dabei sein »republikanisches Herz« verstellen muss. 43 Gleichzeitig kann man fragen, ob Fontanes Helden als aus der Historie rekrutierte Verbündete nicht vielmehr gerade gegen vormärzliche und republikanische Tendenzen in Preußen präsentiert und eingesetzt werden. Schließlich setzt Fontane auf die poetische Mobilisierung einer in die Zeit der Aufklärung zurückreichenden literarischen bzw. lyrischen Tradition, in der Adelsstand, militärische Sprache und Offiziershabitus als Grundelemente des Kriegshelden konstituiert werden. Seine Lieder offenbaren das doppelte Bestreben, einerseits Vorbilder der Nation zu charakterisieren und andererseits bemerkenswerte Einzelschicksale, ausgezeichnete Tugenden und Persönlichkeiten wiederzugeben, mit anderen Worten also beides zu beschreiben: Helden – und Männer. Als patriotischer Sänger und Vermittler vaterländischer Geschichten und Gesinnungen steht er in einer Bardentradition, die – im preußischen Kontext – auf Gleim zurückgeht. Im Vorbericht zu dessen 1758 publizierten preussischen Kriegsliedern stellt der Herausgeber Gotthold Ephraim Lessing den namentlich nicht genannten Gleim als »neuen preußischen Barden«44 vor. Gleims Ode Bey Eröfnung des Feldzuges 1756 hebt mit den Worten an: »Krieg ist mein Lied«45. Fontanes Der alte Dessauer, bei dem Gleim als junger Mann als Sekretär in Diensten steht, beginnt bekanntlich mit: »Ich will ein Lied Euch singen!/ Mein Held ist eigner Art«.46 Die individuelle Perspektive des Sängers ist dabei auch Ausdruck einer patriotischen Kriegslyrik, in der nicht allein das Kriegsgeschehen und nationale Feindseligkeiten, sondern in erster Linie die persönliche Heldenverehrung in die lyrische Gestalt übergeht. Insbesondere in seinem Ansatz, historisch-biographische Darstellungen mit Anekdoten zu verknüpfen und damit in spielerischer und sinnlicher Art und Weise einen populären Zugang zur Welt des Krieges und des Militärs zu schaffen, erinnert Fontane an Gleim.
Der anakreontische Grenadier Johann Wilhelm Ludwig Gleim gehört zu den Hauptakteuren einer aufklärerischen Lyrik, die vornehmlich auf einer Poetik des sinnlichen Affekts und Strategien der Gemütsbewegung und Gemütserschütterung beruht. Ästhetik, Sinnlichkeit, Politik und Ideologie fließen in seinen Kriegsliedern ineinander: Aus einer patriotisch motivierten Vergewisserung heraus, dass
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Nürnberger, Fontane (wie Anm. 37), S. 60. Lessing, Vorbericht (wie Anm. 14), unpag. Gleim, Preussische Kriegslieder (wie Anm. 13), S. 1. Fontane, Männer und Helden (wie Anm. 7), S. 9.
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mit der Thronbesteigung Friedrichs II. das Zeitalter einer gerechten und philosophischen Regierung angebrochen sei, wirkt er an der Erfindung der preußischen Nation und der kollektiven Gedächtnisbildung tatkräftig mit. Im Grenadier steckte freilich zugleich ein sinnlicher, spielerischer Anakreon oder ein »Amor im Harnisch«, wie es David Lee formuliert hat.47 Gleims Dichterlaufbahn startet mit einem Versuch in Scherzhaften Liedern. Während der Schlesischen Kriege 1744/1745 setzt er nicht auf ergreifende Kriegsszenen oder epische Beschreibungen, sondern bemüht sich gemeinsam mit den Freunden Samuel Gotthold Lange, Johann Nicolaus Götz (Übersetzer der Lieder Anakreons) und Johann Peter Uz um eine Dichtung der Lebensnähe und des sinnlichen Vergnügens. Die Anakreontik als spezifische Form der geselligen und scherzhaften Rokokodichtung, deren Motive sich vor allem aus Liebe, Wein, Weib und Gesang rekrutieren, lässt sich dabei nur auf den ersten Blick schwerlich mit der patriotischen Kriegslyrik der Zeit vergleichen. Bei näherem Hinsehen teilt sie mit dieser durchaus die Festlichkeit des Ausdrucks, die Beweglichkeit und Wechselhaftigkeit der Gedanken sowie – auf wirkungstheoretischer Ebene – die Intentionalität der Dichtung, welche auf Ermunterung und Einladung zum sinnlichen Genuss, in diesem Fall Kriegsgenuss, abzielt.48 Die Kriegs- und Siegeslieder des preußischen Grenadiers, Gleims Alter Ego, werden sowohl aus seiner lebenslangen Verehrung für Friedrich II. als auch durch die Freundschaft mit Ewald Christian von Kleist beeinflusst. Als preußischer Offizier und Kompagniechef steht Kleist seit 1756 und bis zu seinem Tod nach der Niederlage bei Kunersdorf 1759 an vorderster Front. Kleist ist nicht nur ein talentierter Dichter, sondern auch ein begnadeter Briefschreiber, der Gleim und andere Freunde regelmäßig mit Beschreibungen, Erzählungen und Gedanken aus dem Krieg versorgt. Gleim, der wie Fontane kein Militär49 und somit auch nicht in kriegerische Handlungen involviert ist, giert geradezu nach Informationen.50 Der Krieg fand für ihn vornehmlich auf dem Papier statt. Gleim besucht Kleist nur einmal,
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David Lee, Amor im Harnisch. Gleim als Anakreontiker und Grenadier. In: Euphorion 105 (2011), S. 19–50. Vgl. zu aufschlussreichen Parallelen und Divergenzen von Anakreontik und Kriegslyrik ebenfalls Martin Disselkamp, Wein und Liebe, Stahl und Eisen – Anakreontisches und Kriegerisches bei Johann Wilhelm Ludwig Gleim. In: Manfred Beetz und Hans-Joachim Kertscher (Hrsg.), Anakreontische Aufklärung, Tübingen 2005, S. 201–221. Zwar kam Gleim in jungen Jahren durch seine Tätigkeit als Sekretär des Markgrafen von Brandenburg-Schwedt während des Zweiten Schlesischen Krieges sowie durch seine Anstellung beim Fürsten Leopold von Anhalt-Dessau mit dem Militär in Berührung. Seit 1747 war er allerdings als Sekretär des Domkapitels in Halberstadt sesshaft geworden und durch den 1756 erworbenen Besitz des Stifts Walbeck genoss er ein Leben, das ihm Zeit und Mittel zu seinen literarischen Beschäftigungen sicherte. Siehe dazu die zahlreichen Briefe zwischen Gleim und Kleist in: August Sauer (Hrsg.), Ewald von Kleist’s Werke, 3 Bde., 1881–1882 (Bd. 2 u. 3).
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als dieser 1757 mit der preußischen Armee vor Leipzig steht, und schreibt im Anschluss: »jetzt träume ich alle Nacht von meinem Aufenthalte bei Ihnen; ich fahre mit Ihnen spazieren, ich bin mit Ihnen in der Schlacht und fasse einen Panduren beim Bart und höre Sie sagen: ›Seht mir doch da, den Gleim!‹«51 Unmittelbar nach Beginn der Feldzüge im Jahr 1756 sowie im regen Austausch mit Kleist, Lessing und Ramler fasst Gleim den Vorsatz, eine Geschichte des Krieges zu verfassen. Am Anfang von Gleims Kriegslyrik steht demnach weniger eine patriotisch vorwärts- und siegesgerichtete Absicht, sondern eher eine historiographisch-dokumentierende Intention 52 und ein mit Fontanes Geschichtsbegeisterung durchaus vergleichbares Interesse an historischen Fakten, Akteuren und Ereignissen. Kleists regelmäßig eintreffende Berichte sind von zentraler Bedeutung, da sie ein hohes Maß an Authentizität suggerieren und so zugleich Gleims Dichtung im aktuellen Kriegsgeschehen verortbar machen. Schließlich ist Gleim nur wenige Male als Zivilist ins konkrete Kriegsgeschehen involviert. Während der Belagerung und Plünderung von Halberstadt durch die Franzosen im September bis November 1757 wird sein Garten verwüstet. Verstört und optimistisch zugleich bemerkt er in einem Brief an Kleist: »Nun raset Mars mit voller Wuth bei uns. Gottlob, daß die Unsrigen die Sieger sind!«53 Und zwei Wochen später: »Der Krieg mag mir Alles rauben, wenn er mir nur meinen Kleist läßt; mein Garten, der mein Paradies war, mein einziges Vergnügen, an dem ich den ganzen Sommer gearbeitet habe, ist in zwo abscheulichen Stunden zur Wüstenei gemacht […]«. 54 Das hier erkennbare Schwanken zwischen Kriegsverdruss und Ermutigung wandelt Gleim in den in unmittelbarer zeitlicher Nähe verfassten Kriegsliedern produktiv um. Während der drei ersten und für Preußen günstigen Kriegsjahre publiziert er mit erstaunlicher Regelmäßigkeit und Schnelligkeit Kriegs- und Siegeslieder jeweils unmittelbar vor und nach den Schlachten – bis zur Schlacht bei Zorndorf. Die 1758 erschienene Sammlung der Preussischen Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 umfasst schließlich elf Texte. Zwar werden Autor und Herausgeber nicht namentlich genannt, doch ist wohl davon auszugehen, dass ein breiter Freundeskreis um Gleim von der Identität des ›Grenadiers‹ weiß. Die Kriegslieder sind in ihrer Wirkungsintention nicht allein als Lob-
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Johann Wilhelm Ludwig Gleim an Ewald Christian von Kleist, 23. April 1757. In: ebd. Bd. 3, S. 194. Vgl. Reimar F. Lacher, ›Friedrich, unser Held‹ – Gleim und sein König, Göttingen 2017, hier S. 16– 19. Johann Wilhelm Ludwig Gleim an Ewald Christian von Kleist, 19. September 1757. In: Sauer (Hrsg.), Kleist’s Werke (wie Anm. 50), Bd. 3, S. 234f. Johann Wilhelm Ludwig Gleim an Ewald Christian von Kleist, 3. Oktober 1757. In: ebd. S. 239.
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oder Singgedichte, sondern klar als publizistisches Werkzeug zur politischen Meinungsbildung und patriotischen Mobilisierung der Zeitgenossen konzipiert. Schließlich führt Friedrich II. sieben Jahre lang gegen einen zuweilen weit überlegenen Feind einen Krieg, der sein Land an den wirtschaftlichen und finanziellen Ruin bringt und einer halben Million preußischer Soldaten das Leben kostet. Durch angemietete und gepresste Soldaten sowie Versorgungsschwierigkeiten der Truppen ist es um die Kampfbereitschaft alles andere als gut bestellt. Zudem muss das kriegerische bedingungslose Vorgehen Friedrichs bei der Zivilbevölkerung und den einfachen Soldaten begründet und motiviert werden: auch und gerade durch einen literarisch entfachten Patriotismus ›von unten‹, an dessen Spitze Gleim stand, der als »gemeiner Soldat« 55 Friedrich zum idealen Herrscher, Menschenfreund und Liebling der Götter verklärt. Durchaus mit Erfolg: Gleims patriotische Lyrik steht im Zusammenhang mit der kollektiven Begeisterung für Friedrich II. und dessen militärische Aktionen, die nicht nur Preußen, sondern auch Teile der (literarischen) Öffentlichkeit in der Schweiz, England und Frankreich ergriff.56 Wie Gleims nicht ausgeführte Idee einer preußischen Kriegsgeschichte, stützen sich seine publizierten Kriegslieder im Wesentlichen auf eine Verherrlichung Friedrichs und seiner Armee.57 Als zentral erweist sich dabei die Schlüsselfigur des patriotischen ›Helden‹ 58 und dessen Gelassenheit und Tapferkeit, die oft der Feigheit und Hinterlist einer zahlreichen Übermacht von Feinden gegenübersteht. Die blutrünstige Begeisterung und Brutalität der Lieder ist häufig mit einer anakreontischen Bildsprache und Motiven wie dem Weintrinken vermischt: Aus deinem Schädel trinken wir Bald deinen süssen Wein Du Ungar! Unser Feldpanier Soll solche Flasche seyn. Dein starkes Heer ist unser Spott, Ist unsrer Waffen Spiel; Denn was kann wider unsern Gott, Theresia und Brühl?59
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Lessing, Vorbericht (wie Anm. 14), unpag. So wurde etwa 1761 Gleims Gedicht »Krieg ist mein Lied« in der französischen Übersetzung La guerre est ma chanson im französischen Journal Etranger publiziert. Dabei wird nicht zuletzt das Bild verbreitet, dass Preußen unter Friedrich II. einen reinen Verteidigungskrieg führt. Lacher, Gleim und sein König (wie Anm. 52), S. 36f. Gleim, Preussische Kriegslieder (wie Anm. 13), S. 30f.
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Diese Kombination aus anakreontisch-sinnlich-scherzhafter und archaischbrutal-naiver Darstellungsweise wirkt auf heutige Leser verstörend und hat Gleim häufig den Vorwurf der Kriegsverherrlichung und des Chauvinismus eingebracht. Wenngleich man relativieren kann, dass es ihm wohl eher um eine kultische Zelebrierung Friedrichs II. und weniger um eine Verherrlichung des Krieges geht, den Gleim auch in Frage stellt und an zahlreichen Stellen als »böse« bezeichnet,60 liefert er hier ein literarisches Modell, das in modifizierter Form durchaus in späteren Epochen Bestand hat. Wir kommen darauf zurück. Formal lehnen sich die meisten Kriegslieder Gleims an ein metrisches Modell an, das im Deutschen zum ersten Mal von Friedrich Gottlieb Klopstock in einer metrischen Übertragung der englischen volkstümlichen ›ChevyChase-Jagd‹ verwendet wird: eine Strophenform, die in vier Versen jeweils einen jambischen Dreiheber auf einen jambischen Vierheber folgen lässt. Bei dieser auch von Fontane rezipierten Strophenform61 handelt es sich um eine sehr gleichmäßige, aber in sich kadenzierte Strophe, die sich im Rhythmus allerdings von der festen Regelmäßigkeit der Heldenlieder Fontanes unterscheidet. Der fortdauernde Erfolg und die Rezeption der Lieder Gleims ergeben sich sowohl aus deren konkreter Bindung an das reale Kriegsgeschehen, an die Akteure und Aktionen der preußischen Armee und an eine historisch verbürgte Topographie – die Schlachten und Schlachtfelder sind keine Fiktion, sondern Wirklichkeit – als auch durch ihre singbare, liedhafte Form. Einer weiteren von Lessing besorgten Ausgabe der preussischen Kriegslieder sind Noten und Melodien des mit Gleim befreundeten Komponisten Christian Gottfried Krause beigegeben. Dass sie gesungen werden können, trägt erheblich zur Popularität und Verbreitung der Heldenlieder bei. Auch Fontanes Der alte Derffling und Der alten Ziethen erfahren eine zeitgenössische Vertonung.62 Obgleich der tatsächliche Verbreitungsgrad von Gleims Kriegsliedern nicht mehr genau rekonstruiert werden kann, scheinen sie doch viele Leser und Autoren in ihren Bann zu ziehen. Herder lobt sie ausgiebig: »Sie sind Nationalgesänge: voll des Preußischen Patriotismus […]: hier hat einmal ein Deutscher Dichter über sein Deutsches Vaterland ächt und brav Deutsch
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Vgl. Lacher, Gleim und sein König (wie Anm. 52), S. 38. Vgl. Theodor Fontane, Chevy-Chase oder die Jagd im Chevy-Forst [1851], GBA Gedichte 1, S. 279– 284. Zudem taucht Klopstock als Bardensänger mehrfach bei Fontane auf, so auch in Vor dem Sturm, wo berichtet wird, dass Turgany und Seidentopf während ihrer Studienzeit unter einer Eiche »Klopstocksche Bardengesänge recitierend sich dem Vaterland auf ewig geweiht hatten.« GBA, Das erzählerische Werk 2/I, S. 103. August Schäffer, Drei Heldenlieder für eine Singstimme und Piano. Nr. 3. Der alte Derfflinger, o. J.; Friedrich Wilhelm Sering, Der alte Ziethen. In: Ders., Hohenzollern-Lieder für Männerchor componirt und Sr. Excellenz dem Herrn Freiherrn von Manteuffel unterthänigst zugeeignet, Berlin 1855.
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gesungen: ohne an andre Nationen sein Genie zu verpachten.«63 Er unterstreicht dadurch sowohl ihre literaturhistorische als auch politische Bedeutung. Johann Georg Sulzer, der seit den 1740er Jahren mit Gleim befreundet ist, charakterisiert sie als entscheidenden Beitrag der Liedkultur und Literatur der Aufklärung: »Unser Gleim hat durch seine Kriegeslieder das seinige gethan, um in diesem Stük die Dichtkunst wieder zu ihrer ursprünglichen Bestimmung zurük zu führen. Durch sein Beyspiel ermuntert, hat Lavater ein warmer Republicaner, für seine Mitbürger patriotische Lieder gemacht, darin viel Schäzbares ist. Es ist zu wünschen, daß diese Beyspiele mehrere Dichter, die ausser dem poetischen Genie wahre Vernunft und Rechtschaffenheit besizen, zur Nachfolge reize.«64 Tatsächlich finden Gleim und seine zeitweilig überaus erfolgreichen, zwischen Sinnlichkeit und Brutalität, Scherz und Ernst, Anekdote und historischer Wahrheit changierenden patriotischen Lieder durchaus Nachfolger, zu denen man ansatzweise auch Fontane zählen kann.
Zwischen Spektakel, Anekdote und Melancholie: Krieg und Heldentum bei Gleim und Fontane Sowohl mit Blick auf die patriotische Thematik als auch auf Inhalte, Akteure, Orte, Handlungen und Schicksale weisen die Lieder Gleims und die Feldherrenballaden des nachgeborenen Fontane viele Gemeinsamkeiten auf. Neben den bevorzugten Protagonisten Friedrich II. (dieser freilich vor allem bei Gleim) und seinen Feldherren sowie den damit verbundenen Sujets an Schlachten, Aktionen und Schicksalen lassen Ton und Tenor der Schilderungen, die Charakterisierung des lyrischen Ichs als Sänger bzw. Barde Preußens und der den Liedern und Balladen inhärente Ansatz, Krieg und Kriegsführung mit ästhetischem und sinnlichem Wert auszustatten und diesen als eine Art Lebensmodell zu beschreiben, durchaus Vergleiche zu. Gleims anakreontischer Ansatz, der sich unter anderem in den aus den Schädeln der Feinde Wein trinkenden Kriegern oder in der Darstellung des Krieges als Spaziergang, als lustvolles, sinnliches und gemeinschaftsstiftendes Erlebnis offenbart, taucht in leicht modifizierter und mit Anekdoten angereicherter Form bei Fontane wieder auf: So etwa in der Ballade Seydlitz, wo der trink- und kampffreudige Protagonist zwischen Weingelage und Schlachtfeld, zwischen Feiern und Sterben, zwischen Frontlinie und Tanzboden, zwischen Flaschen- und Franzosenhälsen changiert:
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Johann Gottfried Herder, Ueber die neuere Deutsche Litteratur, Riga 1767, Bd. 2, S. 347. Sulzer, Allgemeine Theorie (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 715f.
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Herr Seidlitz, auf dem Falben, Sprengt an die Front heran, Sein Aug’ ist allenthalben, Er mustert Roß und Mann, Er reitet auf und nieder Und blickt so lustig drein, Da wissen’s alle Glieder: Heut wird ein Tanzen sein. […] Getrunken und gegessen Hat Jeder, was ihm scheint, Dann heißt es: »aufgesessen Und wieder nach dem Feind!« Der möchte sich verschnaufen, Und hält bei Roßbach an, Doch nur, um fortzulaufen Mit neuen Kräften dann. –65
Friedrich Wilhelm von Seydlitz, »Liebling des Königs«, der nach der Schlacht bei Roßbach zum General aufsteigt und sich unter anderem für patriotische Dichter(innen) wie Anna Louisa Karsch einsetzt, erinnert bei Fontane an einen gewalttätigen, durchaus persiflierten Anakreontiker, der sich scherzend, tanzend und lachend mit Bacchus »bis an des Weges Ende«, also dem nächsten Kampfplatz oder Schlachtfeld bewegt. Und auch Fontanes Held Ferdinand von Schill, der an der Spitze eines Husarenregiments steht und 1809 in Stralsund im Kampf gegen französische und dänische Truppen sein Leben verliert, führt einen Kampf, in dem Weinfass und Pulverfass, Trinksucht und Kriegslust nicht mehr zu unterscheiden sind: Wer jemals trinken mußte aus solchem Flaschenlauf, Der hat genug für immer und steht nicht wieder auf; Schill ist heut Schenk geworden und schärft’s den Seinen ein: »Bedient mir prompt die Gäste, und wollt nicht sparsam sein!« Hurra, die Feinde stürmen dem Schenken jetzt das Haus, Sie sind schon weit geritten und sehn verdurstet aus, Schill heißt sie laut willkommen; so herzlich war der Gruß, Daß mancher, wider Willen, sich tief verbeugen muß.66
Ebenso wird im Falle von Jakob Keith das Leben und der Krieg zu einem großen sinnlichen Spektakel stilisiert. Der Schauplatz avanciert zum Schauspiel, wo sich – um im Jargon Gleims zu bleiben – Mars und die Musen
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Fontane, Männer und Helden (wie Anm. 7), S. 17f. Ebd. S. 34.
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tummeln. Ironisch gefärbt wird die Truppe Friedrichs II. zur »KünstlerGruppe« und der Krieg zur Schaubühne, auf der der aus Schottland stammende Keith seine Rolle zu spielen hat: Es gab nur eine Truppe Damals, von gutem Ruf, Das war die Künstler-Gruppe, Die Friedrich um sich schuf; Es suchte sein Theater Talente weit und breit, Und sieh, anwerben that er Auch Dich, auf Lebenszeit.67
Keith, der auch in mehreren Liedern Gleims als tapferer Held und »mutiger Brite« besungen wird, darf bei Fontane schließlich bühnenreif mit den Worten abtreten: »Bestes Stück bleibt ehrenvoller Tod«. Das tödliche Kriegsgeschehen wird im Heldenlied traditionell als großes Männerabenteurer dargestellt. Ein Held fall ich; noch sterbend droht Mein Säbel in der Hand! Unsterblich macht der Helden Tod, Der Tod fürs Vaterland!68
Die Aneinanderreihung von biographischen und historischen Szenen und Anekdoten mündet meist im »ehrenvollen Tod« des Helden für das Vaterland Preußen. Die Darstellung der Todesstunde, ob gewaltsam oder ruhevoll, scheint dabei die einzige inhaltliche Konstante in Fontanes Heldenliedern zu sein. Umgekehrt weist in Gleims Kriegsliedern alles darauf hin, dass der Tod einzelner Offiziere gegenüber dem Leben des Königs und den Siegen Preußens schnell wieder in den Hintergrund tritt, ein Unterschied, der freilich eindeutig auf der Perspektive und Intention des Dichters beruht.
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Ebd. S. 24. Gleim, Preussische Kriegslieder (wie Anm. 13), S. 5.
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Abb. 1: Statue von Kurt Christoph von Schwerin auf dem Berliner Zietenplatz (früher Wilhelmplatz), Foto: C. Wernhard, 2011.
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Abb. 2: Statue von Jakob von Keith auf dem Berliner Zietenplatz (früher Wilhelmplatz), Foto: C. Wernhard, 2011.
Nichtsdestoweniger wird die Dialektik von Leben und Tod im Heldenlied zum sinn- und identitätsstiftenden Mobilisator patriotischer Gefühle und kollektiver Bewusstseinsbildung. Dichter wie Gleim und Fontane beschreiben, tradieren und kanonisieren zugleich. ›Heldentode‹, wie der des 72jährigen Grafen Kurt Christoph von Schwerin in der Schlacht bei Prag am 6. Mai 1757, gehören zum festen Bestandteil kollektiven Wissens und Bewusstseins. Dabei reizt gerade dieser Stoff, den Gleim in seinem Siegeslied nach der Schlacht bey Prag und Fontane in der Ballade Schwerin bearbeitet, zu einem Vergleich. Ein Blick auf die beiden Texte, zwischen denen knapp hundert Jahre liegen, zeigt wie ein aktueller bzw. historischer Stoff in seiner Grundintention und strategischen Ausrichtung der jeweiligen dichterischen Gegenwart angepasst und modifiziert wird. Dabei geht es in beiden Fällen um Identitätsstiftung, obgleich die Perspektive bei Gleim eine zeitnahe und bei Fontane eine historische ist. Diese unterschiedliche Perspektive wirkt sich auf die Gestaltung der Texte aus. Schwerin ist ein Zeitgenosse Gleims und Kleists, die in ihrem Briefwechsel regen Anteil an dessen Aktionen und
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Schicksal nehmen. Zwei Tage nach dessen Tod schreibt letzterer tief betrübt: »Es ist eine ungemein blutige Bataille gewesen; aber der König und sein ganzes Haus lebt und ist gesund, und der brave Schwerin – ach, ich möchte weinen! – der brave Feldmarschall Schwerin ist todt.«69 Für Fontane ist Schwerin hingegen eine historische und literarisch überaus interessante Figur. Zielt Gleim schon in den ersten Versen auf eine sakrale Verklärung Schwerins, so geht es Fontane um die historische individuelle Würdigung: Gleim, Siegeslied nach der Schlacht bey Prag, 1758
Fontane, Schwerin, 1850
Victoria! mit uns ist Gott, Der stolze Feind liegt da! Er liegt, gerecht ist unser Gott, Er liegt, Victoria!
Nun aber soll erschallen Dir Preis und Ruhm S ch we r i n , Der Du vor Prag gefallen, Beim Sturme der Batt’rien; Es lebt, in Eins verschlungen, »S ch we r i n « und »Schlacht bei Prag«, Drum sei Dein Lob gesungen Durch Deinen Ehrentag. –71
Zwar unser Vater ist nicht mehr, Jedoch er starb ein Held, Und sieht nun unser Siegesheer, Vom hohen Sternenzelt.70
Einen Schwerpunkt beider Texte bildet das legendäre Ergreifen der Fahne, mit der der greise Schwerin sein eigentlich schon vernichtetes und am Boden liegendes »Leib-Bataillon« an der Flucht hindert, es wieder in die Schlacht führt, motiviert und schließlich selbst den Tod findet: Er gieng voran, der edle Greiß! Voll Gott und Vaterland. Sein alter Kopf war kaum so weiß, Als tapfer seine Hand. Mit jugendlicher Heldenkraft Ergriff sie eine Fahn, Hielt sie empor an ihrem Schaft, Daß wir sie alle sahn;72
Sie fliehn. Die alte Erde Bebt selbst, als ob ihr’s graut, Da steigt S ch we r i n vom Pferde: »Mir nach!« so ruft er laut; Er faßt die alte Fahne, Noch nie zur Flucht gewandt, Daß er den Sieg erbahne, Mit seiner Greisenhand. –73
Bei Gleim fällt die Dominanz des gemeinschaftlichen Wir und der optimistische, dynamische Fortgang der Geschichte auf. Bei ihm ist Schwerins tragisches Schicksal in eine größere und umfassende Schlachtenszenerie inte-
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Ewald Christian von Kleist an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 8. Mai 1757. In: Sauer (Hrsg.), Kleist’s Werke (wie Anm. 50), Bd. 2, S. 403. Gleim, Preussische Kriegslieder (wie Anm. 13), S. 41–48, hier S. 41f. Fontane, Männer und Helden (wie Anm. 7), S. 29f., hier S. 29. Gleim, Preussische Kriegslieder (wie Anm. 13), S. 42f. Fontane, Männer und Helden (wie Anm. 7), S. 30.
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griert, an deren Ende der ausdrücklich von Gott gegebene Sieg der preußischen Armee steht. Vorab wird unendlich viel gestorben, Leichenberge säumen das Feld, ein Bild, das auch bei Fontane vorkommt: »Und vor den Hügeln thürmen/ Sich Leichenhügel auf.«74 Mit einer verstörend pathetischen und zugleich grausamen Geste geht Gleims Grenadier auf den Leichen der Feinde umher, betrachtet und beschreibt von hier aus weitere Aktionen, zum Beispiel des Prinzen Heinrich, der in der Schlacht durch eine geschickte Taktik die gegnerische Stellung umgehen und so entscheidend zum Sieg beitragen kann. Dafür wird Prinz Heinrich, der bekanntlich auch Fontane fasziniert und zu einem eigenen Kapitel in den Wanderungen anregt, von Offizieren und Soldaten bewundert und von Gleim lyrisch verewigt. Im Mittelpunkt und zugleich über allem steht jedoch der Ruhm des Königs. Auf ihn ist der Grenadier fokussiert, ihm gilt sein Lied: Dacht‘ in dem mörderischen Kampf Gott, Vaterland, und dich; Sah, tief in schwarzem Rauch und Dampf, Dich, seinen Friederich.75
Gerade hierin eröffnet sich ein erheblicher Unterschied zu Fontanes Ballade. Bei Fontane kommen weder Friedrich II. noch Gott vor. Beide werden ausgespart und seine Schilderung der Ereignisse ist allein auf das individuelle Schicksal und Sterben Schwerins ausgerichtet. Schon in diesem frühen Text deutet sich ein Verfahren an, was Fontane auch später, etwa in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg weiterverfolgen wird: Vaterländische Geschichte wird immer über die Taten und Schicksale Einzelner vermittelt. Preußen und das Preußische werden nicht direkt und allgemein gerühmt oder gar als von Gott besonders gesegnet beschrieben. Die Mobilisierung patriotischer Gefühle ist an individuelle Geschichten und Wahrnehmungen gebunden. Fontane schafft demnach in seiner Ballade eine atmosphärisch angereicherte Hintergrundszenerie. Der Morgen des 6. Mai 1757, die Landschaft, »Berg und Au« werden beschrieben. Die Grundstimmung ist und bleibt das ganze Lied über melancholisch, die Lage zunächst aussichtslos. Trotz der Wendung der Schlacht und dem anschließenden Sieg werden Sterben und Tod Schwerins als überaus grausam und letztendlich fragwürdig geschildert. Fontanes Schwerin ist kein verklärter Held, der am Ende als Sternbild auf die weiterhin militärisch siegreichen Preußen herabschaut – ein Bild das Gleim später auch im Siegeslied auf die Schlacht bei Roßbach verwendet.76 Der Tod, auch wenn er ein Heldentod ist, erscheint bei Fontane in diesem Falle in all seiner Drastik und Brutalität. Schwerins von der
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Ebd. S. 29. Ebd. S. 46. Siehe die Verse: »Vom Sternenvollen Himmel sahn/ Schwerin und Winterfeld,/ bewundernd
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Fahne bedeckte Leiche ist von Kugeln zerfetzt – ein Bild, das Gleims verklärende Schilderung nachhaltig kontrastiert: Und sagte: »Kinder, Berg hinan, Auf Schanzen und Geschütz!« Wir folgten alle, Mann vor Mann, Geschwinder wie der Blitz. Ach! aber unser Vater fiel, Die Fahne sank auf ihn. Ha! welch glorreiches Lebensziel, Glückseliger Schwerin!77
Die Hügel sind erstiegen, Die Kaiserlichen fliehn, Doch trauervolles Siegen, Im Sterben liegt – S c h w e r i n ; Vier Kugeln, erzgegossne, Sie haben ihn zerfetzt, Die Fahne, die zerschossne, Sein Bahrtuch ist sie jetzt.78
Der Tag des Sieges wird bei Fontane zum »Unglückstag«. Anders als bei Gleim, wo alles dynamisch, im Rhythmus des Liedes und mit göttlicher Vorsehung zielgerichtet auf den Sieg der Preußen und die Glorifizierung des Königs hinstrebt, halten bei Fontane der Krieg und die Soldaten inne. Fontane gesteht ihnen das zu, was Gleim nur im privaten Brief, aber nicht im Kriegslied zulässt: der Held darf beweint werden, Tränen dürfen fließen: Und als des Krieges Weise Zu feuern nun befiehlt. Von jeder Wange leise Sich eine Thräne stiehlt.79
Affekte, Gefühle und Emotionen erhalten einen Raum, den sie in dieser Form bei Gleim und in anderen Kriegsliedern der Aufklärung nicht haben. Bei aller anekdotenhaften Auskleidung und volkstümlichen Ausrichtung wird der Krieg von Fontane als hohe emotionale Belastung beschrieben. Trauer, Ruhe und Stille überwiegen am Ende des Liedes und zeugen zugleich von der historisch distanzierten Herangehensweise seines Verfassers. Zwar ist Schwerin auch bei Fontane ein Held, der im kollektiven Gedächtnis bewahrt und als identitätsstiftende historische Figur tradiert und verehrt werden soll: Doch in einer modern anmutenden und dem Zeitgeschehen angepassten, nicht aufschauenden, sondern reflektierenden Art und Weise. Obgleich es nicht wie bei Gleim um die kultische Zelebrierung der militärischen Macht und Größe Preußens und Friedrichs geht, spiegelt sich in Fontanes Preußenliedern auf subtile Art und Weise dennoch die militärische Macht als integrales und spezifisches Element der preußischen Nation wider. Indem hier die Lebenshingabe und Todesbereitschaft der Militärs als
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den gemachten Plan,/ Gedankenvoll den Held!« In: Gleim, Preussische Kriegslieder (wie Anm. 13), S. 70. Ebd. S. 43f. Fontane, Männer und Helden (wie Anm. 7), S. 30. Ebd.
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Schlüssel ihrer Persönlichkeit präsentiert wird, reihen sich die Lieder ganz bewusst in die Tradition heroischer Kriegslyrik ein, die ihren Ursprung im Siebenjährigen Krieg hat und die in der patriotischen Dichtung Fontanes individuell und künstlerisch weiterentwickelt, aber doch zugleich als historisch und vergangen gekennzeichnet wird.
Epilog Dass Friedrich II. von den erfolgreichen patriotischen Liedern, die zeitweilig zum literarischen Gemeingut avancieren, keinerlei Notiz nimmt, schmerzt und trifft Gleim nachhaltig.80 Nach dem Tode seines Freundes Ewald Christian von Kleist in der Schlacht von Kunersdorf verstummt der Grenadier. Eine gewisse Kriegsmüdigkeit, Beklemmung und Verzweiflung setzen sich immer mehr durch. Gleim sehnt sich wie viele andere nach Frieden und erkennt doch zugleich die begrenzte Wirksamkeit des Dichters und »klagt, daß noch die Feder nicht/ Das Schwerdt verdränget hat.«81 Am Ende seines Lebens distanziert er sich sogar nachdrücklich von seinem Alter Ego, dem alten Grenadier. Drei Jahre vor seinem Tod verschlägt es ihm Bei’m Lesen der Zeitung angesichts einer neuen und gesteigerten Bestialität und Unmenschlichkeit des Krieges die Sprache: Fort, fort aus aller Welt! Fort Krieg und Kriegesheer! Fort Krieg und Kriegesheld! Krieg ist mein Lied nicht mehr.82
Darin klingt zugleich die Ahnung an, dass der »alte Geist der Gleimschen Grenadiere« »unwiederbringlich verloren« ist – Worte, die Fontane dem im selben Jahr wie Gleim verstorbenen General und Vertrauten des Königshauses, Johann Heinrich von Günther, in den Mund legt.83 Diese Diagnose, die Fontane im Jahre 1862 für die Zeit seit der Französischen Revolution stellt, hindert ihn nicht daran, 1864 ein Siegeslied auf Düppel und auf den preußischen Sieg gegen Dänemark aufzusetzen und sich damit aktiv bzw. dichterisch an einem erfolgreichen Moment der militärischen Geschichte
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Vgl. die nach dem Kriegsende verfassten und Gleim zugeschriebenen Gespräche mit der deutschen Muse, o. O. 1764. Das Gedicht Der alte Grenadier erschien 1794 in: Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Kriegeslieder im Jahr 1793, o. O. 1794, S. 72. Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Ausgewählte Werke. Hrsg. von Walter Hettche, Göttingen 2003, S. 175. Vgl. denselben letzten Vers in Gleims Kritik an der ungerechten Gewaltausübung in Der preußische Grenadier an unsre Gewaltigen. In: Minerva, 1795, Bd. 3, S. 192f. GBA, Wanderungen durch die Mark Brandenburg 1, S. 103.
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Preußens zu beteiligen. In seiner sowohl faktischen als auch lebendigen Erzählung des Schlachtverlaufs mit musikalischem Marsch wie durch die enthusiastischen Bezüge auf König Wilhelm I. und den Tod fürs Vaterland84 lassen sich durchaus erneut Spuren Gleims entdecken. Gleichwohl kann der tatsächliche Einfluss Gleims bzw. der patriotischen aufklärerischen Liedkultur auf Fontane, der in seinem Gedicht Bei Torgau launig feststellt: »Auch die Grenadiere wollen nicht mehr«,85 nur angedeutet bleiben.
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GBA, Gedichte 1, S. 210–212. Ebd. S. 199.
Aufklärerisch-empfindsame Geselligkeit bei Theodor Fontane? Eine Spurensuche Jana Kittelmann Zur Einführung oder »Gleim ist [nicht] vergessen« Am 26. März 1874 lässt sich Theodor Fontane in einem Brief an seine Vertraute und Freundin, die Stiftsdame Mathilde von Rohr, zu folgenden Zeilen hinreißen: Weder meine Gesundheit, noch meine Neigungen, noch meine Verhältnisse konnten sich länger mit dieser täglichen Gesellschafts-Rennerei vertragen. Ich will nur bei den Verhältnissen »stehn« bleiben; die dicken Bücher wollen doch geschrieben sein und wenn man 14 Tage lang krank ist und dann 14 Tage lang täglich in Gesellschaft geht, so überkommt einen mit einem Male eine nur zu begründete Angst: »wohin soll das führen?«1
Wir treffen hier auf einen überaus strapazierten Fontane, der sich von den geselligen Unternehmungen, Ansprüchen und Herausforderungen seiner Epoche sichtlich überfordert und in seinem literarischen Schaffen eingeengt fühlt. Die Zeichen in dem Brief stehen auf Rückzug von der »täglichen Gesellschafts-Rennerei« oder zumindest auf Wohldosiertheit des steten geselligen Umganges miteinander. Einzig, so fährt Fontane fort, die Schopenhauer-Abende bei den befreundeten Wangenheims seien noch eine Option, auch weil sie, wie er lakonisch bemerkt, »maßvoll auftraten und nur alle 14 Tage stattfanden«. Briefliche Stellen, in denen Fontane seine Abneigungen gegen gesellschaftliche Verpflichtungen und gesellige Unternehmungen äußert, gibt es einige. In einem Brief an den Altersfreund Georg Friedlaender aus dem Jahr 1885 räumt Fontane gar einen »horror vor [dem] Eingeführtwerden« in Gesellschaften ein und gesteht, dass er nicht nur »redensartlich«, sondern in Wirklichkeit »gesellschaftsmüde« sei.2
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Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, 26. März 1874, HFA IV/2, S. 457. Theodor Fontane an Georg Friedlaender. In: Walter Hettche (Hrsg.), Theodor Fontane. Briefe an Georg Friedlaender, Frankfurt am Main 1994, S. 25.
https://doi.org/10.1515/9783110666984-009
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Dieser vornehmlich in Briefen herbeigesehnte Rückzug vom gesellschaftlichen und geselligen Terrain überrascht durch eine gewisse Dissonanz zum Werk Fontanes. Was die Figuren und Protagonisten seiner Erzählungen und Romane betrifft, ist der Dichter deutlich weniger zurückhaltend. Im Gegenteil: Ihnen mutet er so etwas wie eine permanente Geselligkeit zu. Der gesellige Dauerzustand, das stete Beisammensein und der Austausch in Form von Konversationen und Zusammenkünften ist oft maßgeblicher Katalysator der Handlung und besitzt eine zentrale und bedeutsame handlungsstrukturierende Funktion innerhalb der Texte. Theodor Fontane, der selbst einmal den Verlust des Einzelnen in einem Brief an Georg Friedlaender beklagte, verweigert seinen Figuren einen Zustand der Vereinzelung und lässt sie nur selten allein. Vielmehr liefert er sie einem dauerhaften Umgang miteinander sowohl im öffentlichen als auch im häuslichen Raum aus. Die Akteurinnen und Akteuren seiner Romane und Erzählungen treffen in Form von Tischgesprächen, Kutsch- und Schlittenfahrten, Spaziergängen, Landpartien, Picknicks, Ausritten, Bootstouren, Gartenbesuchen, Museumsaufenthalten, Theateraufführungen oder Tableaux Vivants aufeinander. Zudem spielen Fontanes Figuren gern: von den zahlreich geschilderten Gesellschaftsspielen seien hier nur Whist in Unwiederbringlich oder die Kegelabende in Irrungen, Wirrungen3 erwähnt. Dabei scheinen die Protagonisten zumindest auf den ersten Blick Friedrich Schleiermachers kurz vor Beginn von Fontanes Jahrhundert formulierter Theorie eines geselligen Betragens verpflichtet oder zumindest davon inspiriert zu sein. Das von Schleiermacher formulierte »edelste Bedürfnis aller gebildeten Menschen« nach einer freien und »an keinen äußeren Zweck gebundene[n] Geselligkeit«4 stellt demnach ein höheres Ziel des menschlichen Daseins dar und bestimmt auch das Handeln und Agieren der Fontaneschen Figuren. Selbst in den seltenen Phasen des Alleinseins oder der Einsamkeit versuchen sie einen Zustand der ungeselligen Geselligkeit durch gesellige Praktiken zu schaffen.5 Dazu gehört das Schreiben von Briefen, etwa in den Poggenpuhls oder im Schach von Wuthenow, wo die Briefe der Protagonistin Victoire an ihre Freundin Lisette von Perbandt die vorherigen geselligen Unternehmungen schriftlich fixieren, transferieren und reflektieren. In das Briefleben seiner Hauptfigur Victoire von Carayon, die angelehnt ist an die historische und für ihre Hässlichkeit berühmte Victoire von –––––––––––– 3
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Vgl. dazu Stefan Willer, Gesellschaftsspiele. Fontanes »Irrungen, Wirrungen«. In: Peter-Uwe Hohendahl und Ulrike Vedder (Hrsg.), Herausforderungen des Realismus: Theodor Fontanes Gesellschaftsromane, Freiburg i. Br. 2018, S. 123–141. Friedrich Daniel Schleiermacher, Theorie eines geselligen Betragens (1799). In: Schleiermachers Werke, Bd. 2, Leipzig 1927, S. 3–31, hier S. 3. Vgl. dazu: Lena Immer, Der ferne Freund. Ungesellige Geselligkeit in der empfindsamen Freundschaft. In: Andrea Heinz et al. (Hrsg.), Ungesellige Geselligkeit, Heidelberg 2005, S. 133–147.
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Crayen6, lässt Fontane all sein talent épistolaire einfließen und reiht sie quasi mit seiner Stimme in die Riege der großen Briefschreiberinnen um 1800 ein. Abseits der regulierten und konventionalisierten Geselligkeit des Salons oder der Spazierfahrt erhält Victoire bei Fontane in der ungeselligen Geselligkeit ihrer Briefe einen Raum, in dem sie über ihre Gefühle, ihre Ängste und ihre Hässlichkeit, die Schach, der sie verführt hat, bei Fontane schließlich in den Selbstmord treibt, schreiben kann. Das Schicksal von Schach zeigt dabei zugleich, was eine tatsächliche Einsamkeit und der gesellschaftliche Ausstoß bzw. der Abschied von der Geselligkeit bedeuten kann. Der Verlust einer vornehmlich über Geselligkeit definierten Identität mündet hier im Verlust des eigenen Lebens. Überspitzt formuliert hängt bei Fontane demnach die Existenzberechtigung seiner Figuren maßgeblich von ihrer Geselligkeit ab. Sogar bei Beobachtungen der Natur- und Tierwelt, die sich vor allem in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg finden, setzt Fontane auf die Darstellung von Geselligkeit. So etwa in einer reizenden Szenerie in den Müggelbergen, wo der Wanderer Reflexionen über das »Geschlecht der Spechte« einflicht und feststellt, dass diese dort fest »wohnen und auf den Müggelsbergkuppen in ähnlicher Weise heimisch sind wie die Raben und Dohlen auf den Kirchtürmen alter Städte. Sie zimmern sich mit geschäftigem Schnabel ihre soliden Nester in das harte Holz und machen, vielleicht aus Geselligkeitstrieb, jeden einzelnen Stamm zu einer Art Familienhaus.«7 Diese Passage ist eines der wenigen Beispiele, wo Geselligkeit als Lexum, als Begriff auftaucht. Ansonsten ist Geselligkeit immer an Praktiken und Handlungen, an Konversation und dialogischen Austausch gebunden.
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Victoire (geb. 1786) war die Tochter der Salonniere Henriette von Crayen. Vgl. dazu auch: Jana Kittelmann, »... in meinem eigensten Herzen bin ich geradezu Briefschwärmer« – Bemerkungen zu Theodor Fontanes Briefwerk. In: Françoise Knopper und Wolfgang Fink (Hrsg.), L'art épistolaire entre civilité et civisme: de Jean Paul à Günter Grass (In: Cahiers d‘Études Germaniques 71 (2016), S. 91–108, hier S. 105f.). GBA, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 4, S. 114.
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Abb. 1: Berliner Schriftsteller auf einer Landpartie am Schlachtensee, Stahlstich nach einer Originalzeichnung von Ludwig Löffler. In: Über Land und Meer, 1866, Bd. 15, Nr. 5, S. 73.
Die Temperierung der Verhältnisse in Fontanes Erzählwerk findet maßgeblich durch und über verschiedene Formen und Praktiken von Geselligkeit statt. Nicht zuletzt deshalb hat Hans Blumenberg Fontane eine »Geselligkeit mit intellektueller Ausstattung«8 attestiert. Obgleich man sich Fontane in einer Szene, wie die fingierte Spazierfahrt der Berliner Dichter in der Zeitschrift Über Land und Meer (Abb. 1) nicht recht vorstellen kann, ist er bei aller Skepsis und Müdigkeit der späteren Jahre doch ein geselliger Mensch, der nicht nur persönlich, sondern auch mit Blick auf seine schriftstellerische Karriere von seiner Mitgliedschaft in geselligen Zirkeln und Dichtervereinen wie dem Tunnel über der Spree, dem Rütli oder Ellora profitiert. Als begnadeter Briefschreiber und Netzwerker kultiviert er zudem sowohl in der Familie als auch mit Freunden, Kollegen und Verlegern eine überaus professionalisierte Geselligkeit auf dem Papier. In Arbeiten unter anderem von Roland Berbig und Iwan-Michelangelo D‘Aprile sind diese Formen der Geselligkeit und der gesellschaftlichen Interaktion als zentrale
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Hans Blumenberg, Gerade noch Klassiker. Glossen zu Fontane, München 1998, S. 27.
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Themen von Fontanes literarischem Leben und Wirken aufgezeigt worden.9 Auch in Bezug auf das Gespräch bei Fontane rückten Geselligkeit und gesellige Praktiken wiederholt ins Blickfeld, so etwa in einer Arbeit von Ingrid Mittenzwei zum Roman oder in einer Studie von Milena Bauer zur Landpartie bei Fontane.10 In Beiträgen von Willi Goetschel oder Eric Downing11 stand das Thema Geselligkeit in Bezug auf die Geselligkeitstheorie des Fontane 1858 nachgeborenen Soziologen Georg Simmel im Fokus. Simmel hält 1910 auf dem Soziologentag einen wenig später publizierten Vortrag über die Soziologie der Geselligkeit, in dem er die Bedeutung der Geselligkeit für das gesellschaftliche Leben neu justiert. Für Simmel stellt sie eine Spielform der Vergesellschaftung dar: »Die Geselligkeit in ihren reinen Gestaltungen hat« Simmel zufolge »keinen sachlichen Zweck, keinen Inhalt und kein Resultat, das sozusagen außerhalb des geselligen Augenblicks als solchen läge« und sie ist »gänzlich auf die Persönlichkeiten gestellt.«12 Dieser Kernansatz von Simmels Theorie ist durchaus auf Fontanes Erzählkonzepte übertragbar und insbesondere die Anmerkung, dass der »Inhalt kein Eigengewicht bekommen« dürfe, erinnert an Gespräche wie den legendären und in der Literaturgeschichte wohl einzigartigen Dialog über Morcheln zwischen Botho von Rienäcker und Frau Dörr in Irrungen, Wirrungen: [U]nd eigentlich ist es ganz gleich, wovon man spricht. Wenn es nicht Morcheln sind, sind es Champignons, und wenn es nicht das rote polnische Schloß ist, dann ist es Schlößchen Tegel oder Saatwinkel, oder Valentinswerder. Oder Italien oder Paris, oder die Stadtbahn, oder ob die Panke zugeschüttet werden soll. Es ist alles ganz gleich. über jedes kann man ja was sagen, und ob‘s einem gefällt oder nicht. Und ›ja‹ ist geradeso viel wie ›nein‹.13
Geselligkeit erscheint hier als ästhetische und in die Moderne weisende sprachliche Inszenierung. Doch bei aller unbezweifelbaren Modernität Fontanes lohnt es sich nicht rückwärts, aber doch einmal zurück zu schauen –––––––––––– 9
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Vgl. Roland Berbig, Theodor Fontane im literarischen Leben: Zeitungen und Zeitschriften, Verlage und Vereine, Berlin/Boston 2000; Iwan-Michelangelo D’Aprile, Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung, Reinbek bei Hamburg 2018, S. 352f. Ingrid Mittenzwei, Die Sprache als Thema. Untersuchungen zu Fontanes Gesellschaftsromanen, Bad Homburg 1970, hier vor allem das Kapitel Von der Geselligkeit des Romans, S. 9–16; Milena Bauer, Die Landpartie in Romanen Theodor Fontanes. Ritualisierte Grenzgänge, Berlin/Boston 2018. Willy Goetschel, Causerie: Zur Funktion des Gesprächs in Fontanes »Der Stechlin.« In: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory, 70/3 (1995), S. 116–122; Eric Downing, Sprachmagie, Stimmung und Geselligkeit: Überschreitungen des Realismus in Fontanes »Der Stechlin.« In: Peter-Uwe Hohendahl und Ulrike Vedder (Hrsg.), Herausforderungen des Realismus: Theodor Fontanes Gesellschaftsromane, Freiburg i. Br. 2018, S. 271–295. Georg Simmel, Soziologie der Geselligkeit. In: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.-22. Oktober 1910 in Frankfurt am Main, Tübingen 1911, S. 1–16, hier S. 4. Fontane, Irrungen, Wirrungen, GBA, Das erzählerische Werk 10, S. 28.
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und den Blick auf frühere Epochen und deren literarische Formen von Geselligkeit zu lenken. Dabei sollen in diesem Rahmen nicht die Salonkultur und Geselligkeitsformate der Romantik, von denen Fontane, wie bereits angedeutet, durchaus inspiriert war, sondern noch frühere Phasen im Fokus stehen. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Aufklärung als Zeitalter der Geselligkeit und mit ihr deren vielfältige geselligen Praktiken und Formen Spuren im Werk Fontanes hinterlassen hat. Steht Fontanes Konzeption, Präsentation und Transformation von Geselligkeit in einer aufklärerischempfindsamen Tradition? Inwiefern greift er von und in der Aufklärung entworfene, eingeführte und etablierte Themen, Konstellationen, Situationen, literarische Formen, Medien, Topographien und Räume auf und reagiert darauf oder – das kann man schon vorwegnehmen – bricht mit diesen? Direkte Hinweise im Werk oder in Lebenszeugnissen sind freilich rar gesät und eher versteckt zu finden. Die Ausführungen haben unweigerlich einen teils hypothetisch anmutenden Charakter. Zuweilen müssen Spekulation und die bewusst assoziative Aneinanderreihung von Ideen an die Stelle von konkreten Nachweisen treten und dies gibt dem Beitrag den Charakter einer Spurensuche. In Von Zwanzig bis Dreißig lässt Fontane Julius Faucher sagen: »Gleim ist vergessen. Volk, Volk; alles andre ist Unsinn.«14 Dieser Satz täuscht darüber hinweg, dass für ihre geselligen Zirkel und Briefwechsel bekannte Akteure wie Johann Wilhelm Ludwig Gleim durchaus im öffentlichen und literarischen Leben des 19. Jahrhunderts präsent waren. Fontane, der nicht zuletzt mit seiner frühen Gedichtanthologie Männer und Helden durchaus in einer Traditionslinie von Gleims patriotischer Kriegslyrik zu stehen scheint,15 verarbeitet Texte von »Vater Gleim«16 im Band Die Grafschaft Ruppin seiner Wanderungen durch die Mark Brandenburg.17 Hermann Klencke macht Gleim zur Titelfigur eines dreibändigen historischen Romans, dessen erster Teil mit dem Titel Die Freunde Gleims Freundschaften und gesellige Kreise zum Thema hat. Philologen wie Ludwig Hirzel, August Sauer, Carl Schüddekopf und Eduard Bodemann, allesamt Zeitgenossen Fontanes, geben die Briefwechsel der geselligen Kreise des 18. Jahrhundert heraus und schärfen das literaturhistorische Interesse an dieser Epoche. Heinrich Pröhle verfasst die Studie Friedrich der Große und die deutsche Literatur, die Fontane rezensiert. Die den Sound der Zeit widerspiegelnde Zeitschrift Die Gartenlaube bringt –––––––––––– 14 15 16
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Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, GBA, Das autobiographische Werk 3, S. 43. Vgl. dazu den Beitrag von Baptiste Baumann und Jana Kittelmann in diesem Band. Fontanes Bezeichnung »Vater Gleim« ist bereits zu Lebzeiten Gleims seit Ende des 18. Jahrhunderts gebräuchlich. Vgl. dazu auch den Beitrag von Baptiste Baumann und Jana Kittelmann in diesem Band. Vgl. im Wanderungen-Band Die Grafschaft Ruppin die Kapitel Regiment Prinz Ferdinand Nr. 34 und Friedrichs 11. Besuch im Rhin- und Dossebruch, wo Fontane auf Gleim und dessen Lyrik Bezug nimmt.
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regelmäßig Beiträge und Illustrationen zum geselligen Leben des 18. Jahrhunderts. Kupferstiche, etwa zu Klopstocks Aufenthalt in Zürich im Jahr 1750 (Abb. 2), finden Verbreitung. Fontanes Zeit ist die Zeit des Geniekultes, der Historisierung und Musealisierung von Dichtern wie Gleim und Klopstock, deren Wohn- und Geburtshäuser als Museen und nationale Erinnerungsorte eingerichtet werden.18 In Fontanes Roman Cécile entdeckt die von Gordon und der Malerin Rosa begleitete Titelfigur während eines Besuchs in Quedlinburg auf einem »von alten Nußbäumen überschatteten Platz« ein »grasgrün getünchtes Haus mit Säulenvorbau«,19 das sich als Klopstockhaus entpuppt. Obgleich oder gerade weil der Name Klopstock bei Cécile überhaupt keine Empfindungen20 mehr auslöst, scheint es lohnenswert, Fontanes Konzepte und Entwürfe von Geselligkeit im aufklärerischen Kontext zu diskutieren. Aufklärung markiert dabei freilich eher einen fließenden und durchlässigen Epochenbegriff, der hier nicht eingrenzt, sondern verschiedene dichterische, philosophische und anthropologische Strömungen, Denkansätze und Diskurse in sich vereint. Die ausgewählten Diskurse und Akteure sind facettenreich und ausdrücklich als Impuls zu verstehen.
Geselliges Zeitalter: Freundschaft, Konversation und Kollaboration Die Spurensuche soll also ins 18. Jahrhundert und damit in jene Epoche führen, für die die Geselligkeit namensgebend wirkt: schließlich wird dieses Säkulum auch das gesellige Zeitalter genannt. Geselligkeit im Sinne eines, wie es Wolfgang Adam formuliert hat, »ungezwungenen, nicht zweckorientierten Zusammensein von Menschen, die sich gerne zu Amusement und Unterhaltung treffen und einem gemeinsamen Wertehorizont verpflichtet sind«21, markiert dabei einen recht jungen Begriff, der sich seit den 1720er und 1730er Jahren auf Erfolgskurs befindet und schnell einen breiten Dis–––––––––––– 18 19 20 21
Das Gleimhaus in Halberstadt wird als Museum 1862 eröffnet und das Klopstockhaus ein Jahr nach Fontanes Tod im Jahr 1899. Fontane, Cécile, GBA, Das erzählerische Werk 9, S. 46. Vgl. dazu auch Stefan Neuhaus, Fontane-ABC, Leipzig 1998, S. 116. Wolfgang Adam, Freundschaft und Geselligkeit im 18. Jahrhundert. In: Katalog des Freundschaftstempels im Gleimhaus in Halberstadt. Hrsg. vom Gleimhaus Halberstadt, Leipzig 2000, S. 9–34, hier S. 9; Hans-Joachim Kertscher, » (…) damit einer des andern Glückseeligkeit befördern kan.« Philosophische und literarische Reflexionen zum Thema Geselligkeit. In: Ute Pott et al. (Hrsg.), Geselligkeiten im 18. Jahrhundert, Halle/Saale 2012, S. 81–92; Wolfram Mauser, Geselligkeit. In: Ders., Konzepte aufgeklärter Lebensführung, Würzburg 2001, S. 17–49; Emanuel Peter, Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 5–37; Markus Fauser, Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland, Stuttgart 1991, hier S. 21–41.
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kurs in verschiedenen, vornehmlich literarischen Medien wie Briefen, Traktaten, Erzählungen, Oden und Moralischen Wochenschriften in Gang setzt. Rückblickend zeigt sich, dass die Diskussion um die Geselligkeit des Menschen keine kurze historische Episode darstellt, sondern zu einer anthropologischen Konstante und zu einer Art ästhetischem Programm avanciert, die das Profil der Epoche nachhaltig schärfen und in nachfolgende Generationen ausstrahlen. Von Beginn an sind mit den öffentlich geführten Debatten um Geselligkeit »philosophische und sozialethische Leitvorstellungen« verbunden. Ein den Grundmaximen der Aufklärung verpflichtetes vernünftiges Handeln und Geselligkeit gehören zusammen und bedingen einander. In Zedlers Lexikon ist von der »Pflicht des Menschen« die Rede, »eine friedliche und dienstfertige Gesellschaft zu unterhalten«.22 Georg Friedrich Meier, Hallenser Professor für Ästhetik und Schüler Alexander Gottlieb Baumgartens, und der mit ihm befreundete Theologe Samuel Gotthold Lange, Pastor in Laublingen, geben zwischen 1748 und 1750 die Wochenschrift Der Gesellige heraus und erklären kurzum die »Erdkugel als einen Platz, der den vernünftigen Bewohnern desselben zu einer gesellschaftlichen Versammlung bestimmet ist.«23 Auf mehr als 1000 Seiten regen sie ihr Publikum zur Beschäftigung mit verschiedensten Aspekten rund um das Thema Geselligkeit an. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der erfolgreichen, 144 Stück umfassenden Wochenschrift, die 1764 noch einmal neu aufgelegt wird, eröffnet Themen wie Daß gute Ehegatten gute gesellige seyn können, Von der Geselligkeit im Winter, Die Ungeselligkeit im Vorwande der Religion, Von der Geselligkeit zwischen Hohen und Niedern, Vom geselligen Wohlstand in der Kleidung oder Von der Gelehrsamkeit des Frauenzimmers. Schließlich sind Frauen von Beginn an ausdrücklich in das gesellige Miteinander einbezogen. Auch wenn sie in anderen aufklärerischen Kommunikationsnetzen eine Ausgrenzung erfahren: in geselligen Praktiken wie dem Briefeschreiben oder der Odendichtung eröffnen sich ihnen Räume der literarischen Artikulation und Produktion.
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Johann Heinrich Zedlers Großes Vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 10, Leipzig 1736, S. 1260. Georg Friedrich Meier, Samuel Gotthold Lange, Der Gesellige, 1. Bd., 1. St., 1748, S. 1.
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Abb. 2: Klopstock in Bodmers Garten den Messias rezitierend, Holzstich von Richard Brend’amour nach einer Zeichnung von Heinrich Merté, ca. 1884, Privatbesitz.
Meier und Lange, von denen Letzterer in seinen Briefen, aber auch vor Ort im Laublinger Pfarrhaus gemeinsam mit seiner lyrisch begabten Frau Anna
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Dorothea und jungen Dichtern und Philosophen wie Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Karl Wilhelm Ramler oder Johann Georg Sulzer ein Lebensmodell von Freundschaft und Geselligkeit etabliert und praktiziert, knüpfen damit an Ideen vorheriger Gelehrten- und Dichtergenerationen an. Schon Gelehrte wie Christian Thomasius oder Christian Wolff erklärten die Geselligkeit als Pflicht »nebeneinander und miteinander zu leben, damit einer des andern Glückseeligkeit befördern kan«.24 Beide Philosophen wollten scholastisch-gelehrte Diskurse durch eine allgemeine, auf das bürgerliche Publikum ausgeweitete Geschmacksbildung und ästhetische Vermittlung von Poesie abgelöst sehen. So hatte Christian Thomasius in seiner innovativen Zeitschrift Monats=Gespräche am Ende des 17. Jahrhunderts für eine soziale Ausweitung von Gelehrsamkeit auf Privatpersonen plädiert. Wie Thomasius‘ auf dem literarischen und feuilletonistischen Gespräch basierende Geschmacksbildung fördert auch der Zusammenschluss von Dichtergruppen neue Formen kollektiver literarischer Praxis und Kritik sowie bürgerlicher Geselligkeit. Die empfindsamen Kreise um Gleim und Lange, aber auch die Kreise um Johann Christoph Gottsched in Leipzig oder Johann Jakob Bodmer in Zürich oder später um Lessing, Nicolai und Mendelssohn in Berlin, »literarische Größen«, auf die Fontane unter anderem im Wanderungen-Kapitel Friedrichsfelde zu sprechen kommt, entwickeln die aufklärerische Programmatik des geselligen Miteinanders in unterschiedlicher Art und Weise fort. Kann Geselligkeit zunächst als eine Art »Gegenbegriff« höfischer und absolutistischer Repräsentation wahrgenommen werden,25 so gehen die Vorstellungen und Ideen bald mit einer patriotischnationalen Ausrichtung konform. Gleim, Ramler, Lange und der auch von Fontane in den Wanderungen mehrfach erwähnte Ewald Christian von Kleist, der in der Schlacht von Kunersdorf 1759 den Tod findet, sind begeisterte Anhänger des preußischen Königs Friedrich II. und widmen ihm mehrere Oden, Lieder und Anthologien. Der sonst für seinen Republikanismus bekannte Bodmer zelebrierte in den von ihm initiierten geselligen Zirkeln in Zürich und in Trogen einen wahren Friedrich-Kult. Dabei ging es auch um eine standes- und zuweilen auch geschlechterübergreifende Geselligkeitsutopie, die Fontane rückblickend befremdlich erscheint und die er ausdrücklich als Spezifikum der »alten Zeit« und somit als vergangen charakterisiert. Im Kapitel zum Amalthea-Garten in Neuruppin phantasiert er sich selbst (kostümiert!) in eine gesellige Runde beim Kronprinzen Friedrich und bringt dabei historische Fakten gehörig durcheinander: –––––––––––– 24
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Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen: und insonderheit dem gemeinen Wesen: zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechtes, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, Frankfurt am Main, Leipzig 1736, S. 2. Vgl. dazu Mauser, Geselligkeit (wie Anm. 21), S. 28 f.
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Wir sind die glücklich Geladenen. Der Wein lacht in den Gläsern, die Girandolen brennen, und vom Garten her durch die offenstehende Tür treffen Mondlicht und Abendkühle den froh versammelten Kreis. Es ist, als wäre die alte Zeit wieder da, und ungesucht wird unser Beisammensein zu einer Darstellung aus: »Kronprinz Friedrich in Ruppin«. […] Die Spiegel mit ihren Rähmen in Barock, die Tische mit ihren ausgeschweiften Füßen, die Atlasgardinen, endlich das die »Geburt der Venus« darstellende Deckenbild – alles erinnert an jenes aus prosaischen und poetischen Elementen so reizvoll und so wunderlich gemischte Stück Zeit, das sein Kleid in den Schlössern der Ludwige, seinen historischen Gehalt aber in den Schlössern der Friedriche empfing. Und dort ist er selbst, der seinem Jahrhundert den Namen gab. Aus der Nische hervor leuchtet sein Auge, um ihn her aber, an den Wandpfeilem entlang, schließt sich ein bunter Kreis von Zeitgenossen: Prinz Heinrich und Voltaire, Zieten und Lessing, Gluck und Kant. Unsere Gläser klingen zusammen »Es lebe die alte Zeit.« Aber draußen schlugen die Nachtigallen, und ihr Schlagen klang wie ein Protest gegen die »alte Zeit« und wie ein Loblied auf Leben und Liebe.26
Lessing ist nie in Neuruppin gewesen und zur Zeit des Kronprinzen Friedrich steckt er ohnehin noch in den Kinderschuhen. Zudem übergeht Fontane diskret die Tatsache, dass Nachtigallen als Hintergrundgesang von Lobliedern auf das Leben und die Liebe eine Erfindung gerade jener »alten Zeit« sind. Vielleicht hat er Ewald Christian von Kleists seufzende Nachtigallen oder Gedichte wie Gleims Auf den Tod einer Nachtigall einfach nicht gekannt. Nachtigallen gehören unzweifelhaft zum Klang der Geselligkeit. Zu deren zentralen geselligen Praktiken zählen neben der Kritik in Zeitschriften, Wochenschriften und Korrespondenzen unter anderem das Tischgespräch, die Lesegesellschaft, der Spaziergang, das Picknick, das gemeinsame Gärtnern und Botanisieren sowie gesellige Zirkel oder Clubs, aus denen sich schließlich die literarischen Dichtervereine des 19. Jahrhunderts entwickeln.27 Vereine wie der Tunnel über der Spree berufen sich nicht zuletzt durch die Vereinsnamen seiner Mitglieder, die unter anderem Leibniz, Lessing, James Cook oder eben Lafontaine heißen, ausdrücklich auf diese Tradition.28 Die Praxis der Wahl von Pseudonymen geht auf die geselligen Zirkel zurück, wo man sich in Clubs, Briefen, Oden oder beim Spaziergang mit Horaz (Ramler), Tyrtaios oder Anakreon (Gleim), Damon (Johann Georg Sulzer) oder Daphnis (Salomon Gessner) anredete. Dass ausdrücklich Doris (z. B. als Pseudonym in Briefen und Oden verwendet von Anna Dorothea Lange und Sophie von La Roche), Fanny (Klopstocks Freundin Anna Sophia Schmidt) oder Sappho (Anna Louisa Karsch) zur Teilnahme –––––––––––– 26 27
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GBA, Wanderungen durch die Mark Brandenburg 1, S. 88 Siehe dazu auch die Ausführungen von Ernst Kohler, der bereits in einer 1940 erschienenen Studie den Tunnel über der Spree mit dem Göttinger Hain in Verbindung bringt: Ernst Kohler, Die Balladendichtung im »Berliner Tunnel über der Spree«, Berlin 1940, S. 9–13. Vgl. dazu auch den Beitrag von Iwan-Michelangelo D’Aprile in diesem Band.
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eingeladen waren, ist freilich eine Innovation des 18. Jahrhunderts, die von späteren Generationen größtenteils wieder aufgegeben wurde. In der literarischen Vereinskultur des 19. Jahrhunderts waren Frauen kaum präsent: In Fontanes Romanen und am Teetisch im Salon dagegen schon. Dabei stellt das Tischgespräch für Philosophen wie Immanuel Kant oder Christian Garve so etwas wie die Verwirklichung der Philosophie des Lebens und die unmittelbare Vorstufe der Ästhetik dar. Kant zählt das Tischgespräch ausdrücklich zu den angenehmen Künsten.29 Bei Fontane sieht die (literarische) Realität hingegen deutlich anders aus. So findet man in Fontanes Frau Jenny Treibel durchaus Reminiszenzen an die einstige Bedeutung des Tischgespräches als geselliger und bürgerlicher ›Urform‹. Allerdings sind die Gespräche über Kunst, Poesie oder Musik hier bis ins Groteske überzeichnet. Jenny Treibel versprüht alles andere als den Charme eines ›gelehrten empfindsamen Frauenzimmer‹ (den gesteht Fontane eher Corinna Schmidt zu), sondern thront auf einem Luftkissen über (!) der Tischgesellschaft, die sie mit plakativen und inhaltsleeren Phrasen wie der folgenden unterhält: Aber mir gilt die poetische Welt, und vor Allem gelten mir auch die Formen, in denen das Poetische herkömmlich seinen Ausdruck findet. Ihm allein verlohnt es sich zu leben. Alles ist nichtig; am nichtigsten aber ist das, wonach alle Welt so begehrlich drängt: äußerlicher Besitz, Vermögen, Gold. ›Gold ist nur Chimäre,‹ da haben Sie den Ausspruch eines großen Mannes und Künstlers, der, seinen Glücksgütern nach, ich spreche von Meyerbeer, wohl in der Lage war, zwischen dem Ewigen und Vergänglichen unterscheiden zu können. Ich für meine Person verbleibe dem Ideal und werde nie darauf verzichten.30
Hundertdreißig Jahre zuvor war mit gelehrten und empfindsamen Gesprächen, ob zu Zweit oder in der Gruppe, im Kabinett, am Tisch, im Brief, im Garten oder während eines Spaziergangs ein überaus innovatives Moment verbunden. Kollektivität und Individualität, Poesie und Freundschaft werden neu verhandelt. Emotionalität, Dynamik, Affekte, Empfindungen und Gefühle treten an die Stelle barocker, statischer Regelkonformität und befördern neue Lebensmodelle und Praktiken in der Dichtung und der Zusammenarbeit, deren Ziele nicht zuletzt eine verbindliche gemeinsame Dichtungstheorie und poetische Identitätsbildung sind. Kollaborative Arbeitsweisen, das gemeinsame Dichten, Herausgeben von Briefen oder Oden gewinnen an Bedeutung und bleiben präsent bis weit in Fontanes Jahrhundert hinein. So scheint die Zusammenarbeit von Fontane und seinem Jugendfreund Bernhard von Lepel, ihr gemeinsames Feilen an Texten, –––––––––––– 29 30
Vgl. dazu Fauser, Das Gespräch im 18. Jahrhundert (wie Anm. 21), S. 296 f. Frau Jenny Treibel, GBA, Das erzählerische Werk 14, S. 32.
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ihre Diskussionen über Balladen, die Kritik in Korrespondenzen, das gegenseitige Vorlesen dichterischer Entwürfe in dieser Tradition zu stehen, die ihren Ursprung im 18. Jahrhundert hat. In den geselligen Zirkeln der Aufklärung werden Dichter gemacht, Dichter verworfen oder, wie im Falle des von Gleim, Lange und vielen anderen jungen Schriftstelllern verachteten Gottsched, Dichter vernichtet. Dem stehen die literarischen Vereine des 19. Jahrhunderts mit ihrer Praxis einer zuweilen harschen und vernichtenden Kritik in nichts nach. Gemeinschaft und Geselligkeit wirken dabei als Vehikel von Kreativität, aber auch von poetischer Gruppenbildung. In Von Zwanzig bis Dreißig beschreibt Fontane, wie sehr er zunächst darunter litt, dass seinen freiheitlichen Gedichten im Stil Herweghs, die er »zum besten gab«, zunächst kein Erfolg beschieden war. Bezeichnenderweise findet er erst mit der Hinwendung zu historisch-militärischen Stoffen und Figuren wie dem Alten Derfflinger, dem Alten Dessauer oder den auch von Gleim in seinen Liedern eines Grenadiers besungenen Generälen Ziethen und Schwerin Beifall.31 Gemeinschaft und Freundschaften tangieren nicht nur die literarische Praxis empfindsamer geselliger Kreise enorm, sondern avancieren zu einem von deren zentralen Motiven. So schreibt etwa Karl Wilhelm Ramler an Gleim 1748: Wir sind zur Freude, zur Freundschaft, zur Liebe gebohren, und trincken unsern Wein nicht für den Magen, sondern zur Lust, und küßen unsere Mädchen nicht nach Kirchengesetzen, sondern nach Belieben. Warum sind wir heute nicht zusammen und werfen uns mit Rosen und kühlen uns mit Erdbeeren, so lange noch Erdbeeren und Rosen sind?32
Man feiert, besingt, vertextet sich und seine Freunde permanent selbst. Die zahlreichen empfindsamen Briefwechsel, von denen viele wie bereits erwähnt Ende des 19. Jahrhunderts erstmals ediert werden, aber auch Gleims Oden An Herrn Kleist und An die Frau Karschinn oder Samuel Gotthold Langes Ode Die Freunde legen davon beredtes Zeugnis ab. Freundschaft und Geselligkeit sind Quelle dichterischer Inspiration. Langes Ode beginnt mit den Zeilen »Ich will, ich will die Freunde besingen/ Mit reinen Thönen klinget die Laute/ Und Du erscheinst mir göttliche Dichtkunst/ In meiner Brust entbrennt mein Feuer«33 und stimmt damit in den Ton einer literarischen Epoche und Generation ein, die sich »Hütten der Freundschaft« bauen und ewig im geselligen »Elysium« wandeln wollte – zumindest in der –––––––––––– 31 32 33
Von Zwanzig bis Dreißig, GBA, Das autobiographische Werk 3, S. 180 f. Karl Wilhelm Ramler und Johann Ludwig Wilhelm Gleim, 19. Juni 1748. In: Carl Schüddekopf (Hrsg.), Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 1, Tübingen 1906, S. 133. Samuel Gotthold Lange, Die Freunde. In: Ders., Horatzische Oden, 1747, S. 142–150, hier S. 142.
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Dichtung. Klopstocks Jahrhundertode Der Zürchersee, aus der die letzten Zeilen stammen, bietet eine ganze Reihe an Motiven, Praktiken und Spielarten von Freundschaft und Geselligkeit. Verse wie »Lieblich winket der Wein, wenn er Empfindungen,/ Beßre sanftere Lust, wenn er Gedanken winkt,/ Im sokratischen Becher Von tauenden Ros‘ umkränzt;«34 oder Ramlers oben zitierte, mit Rosen und Erdbeeren angefüllte Briefpassage fordern den Vergleich mit dem hundert Jahre später geborenen Fontane geradezu heraus. Als weinseliger und empfindsamer Bukoliker ist der zwar nicht bekannt und gegenüber »Freundschaftscultus-Fanatikern«35 pflegt er eine erklärte Abneigung: Gleichwohl finden sich durchaus Reste dieser sinnlichen Bildlichkeit und Spuren dieser Motivik in Gedichten wie An Storm, wo »Wein, Freundschaft und Kosen« eine Symbiose eingehen (»Der Herbst ist da, und Storm ist da,/ Schenkt ein den Wein, den holden,/ Wir wollen diesen goldnen Tag/ Verschwenderisch noch vergolden«36) oder im erotisch konnotierten Im Garten: Die hohen Himbeerwände Trennten dich und mich, Doch im Laubwerk unsre Hände Fanden von selber sich. Die Hecke konnt‘ es nicht wehren, Wie hoch sie immer stund: Ich reichte dir die Beeren, Und du reichtest mir deinen Mund. Ach, schrittest du durch den Garten Noch einmal im raschen Gang, Wie gerne wollt‘ ich warten, Warten stundenlang.37
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Friedrich Gottlieb Klopstock, Der Zürchersee (1750). In: Ders., Oden. Hrsg. von Horst Gronemeyer und Klaus Hurlebusch. Bd. 1, Berlin. Boston 2010, S. 95f. Fontane an David Friedlaender, 29. Juni 1885. In: Briefe an Friedlaender (wie Anm. 2), S. 24. Theodor Fontane, An Storm. In: GBA, Gedichte 3, S. 458 f. Ders., Im Garten. In: GBA, Gedichte 1, S. 9.
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Topographien, Räume und Praktiken In Ein Sommer in London schildert Fontane ein Picknick in Hamptoncourt und entwickelt eine eigene erzählerische Form von Geselligkeit, die auf den Leser übergreifen und diesen in die Unternehmung miteinbeziehen soll: Es war im August; der Londonstaub ward immer dichter und die Sehnsucht nach einem Zuge frischer Luft immer größer, so kamen wir denn überein, zu Nutz und Frommen unsrer Lungen eine Themsefahrt zu machen und auf den Wiesen von Hampton-Court eine Picknick-Mahlzeit einzunehmen. Wir waren unsrer sieben, drei Herren und vier Damen, und zum Teil in entgegengesetzten Quartieren der Stadt zu Haus, hatten wir uns schon Tags vorher geeinigt, am Quai von Richmond zusammenzutreffen. Punkt zehn Uhr waren wir da; ein schmucker Gondelfahrer begrüßte uns am Ufer; eine Wagenburg von Körben kam in die Mitte seines Boots, wir lachend drum herum – und den blauen Himmel über uns ging es mit kräftigem Ruderschlage stroman, während der Quai mit seinen Böten allgemach hinter uns verschwand. Erlaube mir der Leser, ihm jenen Kreis von Personen vorzustellen, in deren Mitte er eine Viertelstunde lang wird zu verweilen haben. Ich mache bunte Reihe.38
Zu diesem Zeitpunkt ist das Picknick als literarisches Sujet und gesellige Praktik fest etabliert.39 Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts sind Picknicks elementarer Bestandteil im bürgerlichen ›Freizeitleben‹ und in der empfindsamen Dichtung. Über Wochenschriften aus England – auch Fontane bemerkt »Pickwicks und Picknicks kommen aus England«40 – kommt diese Art »der geselligen Vereinigung«, wie sie das Grimm‘sche Wörterbuch nennt, schnell im deutschsprachigen Raum in Mode. Eines der frühesten schriftlichen Zeugnisse findet sich in der Wochenschrift Der Gesellige. Hier sieht man im »Piquenique« eine »vortreffliche Erfindung« und »ein Vergnügen der Seele« frei von Zwang und Etikette.41 Dass man es nicht nur bei der Theorie belässt, sondern auch praktisch umsetzt, zeigt ein von Johann Josias Sucro, Gleim und Klopstock im September 1754 veranstaltetes Picknick an der Roßtrappe im Harz, die Klopstock später in einer Ode als Ort der Freundschaft besingen wird: Ein Barde weissagt‘s. O Zukunftwisser! Bach in dem Hain, Dess übriger Stamm Dem weihenden Hufe schüttet,
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40 41
Ein Sommer in London, HFA III/3, S. 118. Vgl. Gudrun M. König, Das Picknick, der Spaziergang und die Landpartie. Zu den Anfängen einer bürgerlichen Ausflugskultur. In: Thomas Brune (Hrsg.), Ins Grüne. Ausflug und Picknick um 1900, Stuttgart 1992, S. 17–26. Ebd. S. 118. Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier, Der Gesellige, 1. Bd., 1. St., 1748, S. 17.
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An dir, o du der schönen Öde Bach, Ging oft mein Cramer, wo du Entflohen ihr warest, nicht mehr bergunter rauschetest, Ging mein Giseke, ging mein Resewiz dem Haine zu. Geboren wurde nicht fern von dir mein Gleim; Ich ward an dir geboren. Die Tage nach mir Sollen entscheiden, ob aus dir, o mütterlicher Bach, Auch ich geweissagt habe.42
Die Natur erscheint hier als Ursprung von Freundschaft, Begegnung und dichterischer Inspiration. Und auch die Leser sollen, wie bei Fontane, mit ins Freie, auf die »Wiesen«. In Gleims Gedicht Amor im Garten etwa lässt sich der Dichter aus dem »Zimmer lokk[en] «43 und der Leser wird implizit dazu angeregt, ihm in die Natur zu folgen. Tatsächlich geht die Geselligkeit der Aufklärung aus den Innenräumen, aus Wohnungen, Bibliotheken und Kabinetten hinaus. Geselligkeit findet nicht mehr nur als Tisch- oder Hausgespräch statt, sondern vermehrt auch im Garten, in der freien Natur, während Spaziergängen und Picknicks. Äußerungen in Briefen zeigen, dass öffentlich zugängliche Gärten und Anlagen wie der Berliner Tiergarten, das Schloss Schönhausen, der Grunewald, aber auch Apels Garten in Leipzig, wo sich Gellert gern aufhielt, zu Orten eines Geselligkeits- und Gemeinschaftsideals avancieren, das allein im gestalteten Naturraum des Gartens und nicht im Bürgerhaus, in der Stube oder im Kabinett realisierbar war. So schreibt ein vollkommen euphorisierter Gleim während eines Besuchs in Berlin an seinen Freund Johann Peter Uz: Ramler, Leßing, Sulzer, Agricola, Krause (der Musicus, nicht der dumme Zeitungsschreiber für den behüte der Himmel!) Bach, Graun, Kurz alles, was zu den Musen und freyen Künsten gehört gesellte sich täglich zu einander, bald zu Lande, bald zu Waßer; was für Vergnügen war es in solcher Gesellschaft auf der Spree mit den Schwänen um die Wette zu schwimmen! Was für Lust, in dem ThierGarten. sich mit der gantzen Gesellschaft unter tausend Mädchen zu verirren? Könten sie doch nur einmahl das schöne Berlin sehn!44
Botho von Rienäcker wird in Fontanes Irrungen, Wirrungen einige Jahrzehnte später (und mit klarem Bezug auf Leibniz) in diesen Tenor einstimmen: Und nun erst trat er [Botho, Anm. JK] durch die Gitterthür auf die Straße. Hier sah er, unter der grünen Kastanienlaube hin, abwechselnd auf das Thor und dann wieder nach dem Thiergarten zu, wo sich, wie auf einem Camera-obscura-Glase,
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Friedrich Gottlieb Klopstock, Die Roßtrappe. In: Ders., Oden, S. 328 f. J. W. L. Gleim, Amor im Garten. In: Ders., Versuch in Scherzhaften Liedern, o. O. 1744, S. 21. Ders. an Johann Peter Uz. In: Carl Schüddekopf (Hrsg.), Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, Tübingen 1899, S. 291.
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die Menschen und Fuhrwerke geräuschlos hin und her bewegten. »Wie schön. Es ist doch wohl eine der besten Welten.«45
In der Mitte des 18. Jahrhunderts entstehen neue urbane Räume und damit verbunden die Idee eines geselligen Berlin, das noch bei Fontane existent ist, der 1846 an Wilhelm Wolfsohn schreibt: Führe Deinen Plan aus, komme nach Berlin. […] Berlin ist groß, und wimmelt zu allen Zeiten von Literaturfreunden, beiderlei Geschlecht’s: dilettierende Lieutenants, Studenten mit erster Liebe und poetischen Frühgeburten, sentimentale Jungfrauen im Schillerstadium, und emancipationssüchtige mit der George Sand auf der Lippe und der Hahn-Hahn in der Tasche – füllen hier bald den Hörsaal.46
Obwohl er später relativieren wird »Berlin ist vergnügungsreich aber ungemütlich«,47 spielt die Metropole als topographischer Hintergrund und (geselliger) Handlungsraum eine zentrale Rolle in Fontanes Erzählwerk. Berlin als geselliger und damit verbunden als poetischer Raum ist wiederum eine Erfindung der Aufklärung. Schon 1749 dichtet Karl Wilhelm Ramler seine Ode Auf einen Granatapfel, der in Berlin zur Reife gekommen und nimmt dieses Ereignis zum Anlass, Preußen und Berlin unter der Regentschaft Friedrichs des Großen als Ort der üppigen Blüte und des fruchtbaren Aufschwungs zu kennzeichnen. Ramler gehört zu den Dichtern, die eine Poetisierung, gesellige Erkundung und literarische Kartographierung der Stadt voranbringen. In Form von Spaziergängen, Ramler schreibt »FrühlingsGänge«, macht man sich auf den Weg aus den »Thoren und Thüren« Berlins hinaus. Erklärtes Ziel der Unternehmungen ist es, »schöne Gegenden auszukundschaften« und eine »Special Charte von Spaziergängen« anzulegen. Gemeinsam mit dem Schweizer Philosophen Johann Georg Sulzer und dem Maler Gottfried Hempel führen ihn seine Wege unter anderem an einem Sonntag nach Pankow. Die drei Spaziergänger gelangen »gegen Norden zu, eine Meile von Berlin, nach dem königlichen Schönhausen«, Wohnort der Königin Elisabeth Christine, wo Fontanes Großvater Pierre Barthelemy ab 1806 Kastellan ist. Das Lektüre- und Geselligkeitspotenzial der Orte und Gegenden, die man gemeinsam passiert, wird brieflich festgehalten und inszeniert: Endlich kamen wir an das erste Dorf Pancko, da zog ich meinen Horatz heraus und las an den Ufern des Flußes Pancke eine Frülings Ode, eine Sommerode und eine Herbstode vor. Ich that dieses auf deutsch, so gut ich konte. Der Fluß Pancke
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Irrungen, Wirrungen, GBA Das erzählerische Werk 10, S. 42. Theodor Fontane an Wilhelm Wolfsohn, Spätsommer 1846. In: Theodor Fontane und Wilhelm Wolfsohn. Eine interkulturelle Beziehung. Hrsg. v. Hanna Delf von Wolzogen und Itta Shedletzky. Tübingen 2006, S. 24 f. Theodor Fontane an Georg Friedlaender. In: Briefe an Friedlaender (wie Anm. 2), S. 85.
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ist so groß, daß ich ihn zuerst für eine Rinne hielte, bis uns Herr Hempel versicherte, es wäre ein Fluß. Vieleicht bin ich der erste Geographus der ihn beschreibt, und der erste Poet der an seinen Waßern gesungen hat.48
Diese Praxis des gemeinschaftlichen Erkundens der lokalen Umgebung sowie deren dichterische Vergegenwärtigung weist durchaus auf Fontanes poetische Verfahren etwa in den Wanderungen hin, wo in vergleichbarer Art und Weise Historie und Landschaft, Spazieren und Beschreiben, Dichtung und über lokale Orte vermittelte Identitätsbildung eine ästhetische Einheit bilden. In diesem Kontext erscheint Fontane weniger als romantischer Wanderer, sondern eher als aufklärerischer Spaziergänger. Bei seinem Vorgänger Ramler mündet der poetische Spaziergang und die Erkundung der Gegend um Berlin freilich in einer bukolischen Ritualisierung von Geselligkeit, bei der die Grenzen zwischen literarischer und lebensweltlicher Sphäre spielerisch verwischt werden. Am Ende des Spaziergangs trifft Ramler im Park von Schönhausen auf die lebendig gewordene Statue einer »Nimphe« und erklärt die Berliner Landschaft mit klarer Anspielung auf das antike Pygmalion-Motiv kurzum zu einer erotisch aufgeladenen Szenerie. Erotisch aufgeladen sind gesellige Unternehmungen auch bei Fontane:49 Bootsfahrten, Spaziergänge oder Aufenthalte im Garten und in Lauben erscheinen bei ihm oft als Spannungsräume der Geschlechter und werden ganz bewusst so inszeniert. Fontane greift darin durchaus auf tradierte gesellige Praktiken und Topographien zurück, bricht aber zugleich mit diesen. Die aufklärerische Geselligkeit ist in vielerlei Hinsicht fiktiv und realitätsfern. Und sie bleibt in ihrer spielerischen und erotischen Unbestimmtheit, ihrer Mischung aus Scherzen, Gefühlen, Freundschaftskult und bukolischer Naturwahrnehmung Ideal. Fontane legt in Der Stechlin Rex die Worte in den Mund: »Rokoko ist immer unsittlich«50 und spricht auch an anderer Stelle von der »großen Rokokoschaubühne«, von »Sentimentalität und Sinnlichkeit, Schäferspielen und kurzen Röckchen«51 als Charakteristikum der Epoche. Wenngleich das bewusst überzeichnet erscheint, so deutet sich darin ein wesentlicher Aspekt an: Die Geselligkeit des 18. Jahrhunderts ist oft verspielt und brisant, durchaus auch riskant, aber doch meist konsequenzlos. Fontane hingegen denkt Geselligkeit weiter, zeigt die damit verbundenen sozialen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten und Probleme auf und entlarvt sie als Utopie. Deutlich wird das etwa in einer Schlüsselszene im Roman Irrungen, Wirrungen: Im dritten Kapitel während einer Kahnpartie auf der Spree »scherzen und lachen« Lene Nimptsch, Lina und deren Bruder Rudolf und evozieren so Bilder, wie sie seit Klopstocks sowohl amouröser –––––––––––– 48 49 50 51
Ramler an Gleim, 12. Mai 1748. In: Schüddekopf (Hrsg.), Briefwechsel (wie Anm. 32), S. 122. Vgl. dazu auch Bauer, Landpartie bei Fontane (wie Anm. 10), S. 85–246. Der Stechlin, GBA, Das erzählerische Werk 17, S. 21. GBA, Wanderungen durch die Mark Brandenburg 3, S. 186 f.
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als auch legendärer Bootsfahrt auf dem Zürichsee in der Literaturgeschichte fest verankert sind. Obgleich die an einem sonnigen 30. Juli 1750 unternommene »Lustschiffahrt« und insbesondere die lockere Mischung »aus sechzehn Personen, halb Frauenzimmern«52 die Zeitgenossen provoziert und durchaus als Verletzung von Tugend- und Standesidealen wahrgenommen wird, avanciert sie zu einer Initiationsszene der Empfindsamkeit und zum poetischen Idealbild einer heiter-zwanglosen Geselligkeit: »Lachender Scherz umhüpfte uns«,53 wird Hans Caspar Hirzel, einer der Teilnehmer, kurze Zeit später an Ewald Christian von Kleist schreiben.
Abb. 3: Klopstocks Zürichseefahrt, Holzstich nach einer Zeichnung von Eugen Klimsch. In: Johannes Scherr, Germania, Zwei Jahrtausende deutschen Lebens, Stuttgart 1875.
Der heiteren Unbeschwertheit und Schönheit des Tages, dem Scherzen und Lachen geben sich zunächst auch Lene und ihre Begleiter hin, bevor die Idylle abrupt und gefährlich gestört wird: Freilich. Aber er meinte, daß er‘s verstünde, und sagte bloß immer: »Mächens, ihr müßt stillsitzen; ihr schunkelt so«, denn er spricht so furchtbar berlinsch. Aber wir dachten gar nicht dran, weil wir gleich sahen, daß es mit seiner ganzen Steuerei nicht weit her sei. Zuletzt aber vergaßen wir‘s wieder und ließen uns treiben und neckten uns mit denen, die vorbeikamen und uns mit Wasser bespritzten. Und in
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Friedrich Gottlieb Klopstock an Johann Christoph Schmidt, 1. August 1750. In: Ders., Werke und Briefe. Abt. Briefe, Bd. I. Hrsg. v. Horst Gronemeyer, Berlin/New York 1979, S. 130. Hans Caspar Hirzel an Ewald Christian von Kleist, 1. August 1750. In: August Sauer (Hrsg.), Briefe an Kleist, Berlin 1881, S. 128.
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dem einen Boote, das mit unsrem dieselbe Richtung hatte, saßen ein paar sehr feine Herren, die beständig grüßten, und in unsrem Übermute grüßten wir wieder, und Lina wehte sogar mit dem Taschentuch und tat, als ob sie die Herren kenne, was aber gar nicht der Fall war, und wollte sich bloß zeigen, weil sie noch so sehr jung ist. Und während wir noch so lachten und scherzten und mit dem Ruder bloß so spielten, sahen wir mit einem Male, daß von Treptow her das Dampfschiff auf uns zukam, und wie Sie sich denken können, liebe Frau Dörr, waren wir auf den Tod erschrocken und riefen in unserer Angst Rudolfen zu, daß er uns heraussteuern solle. Der Junge war aber aus Rand und Band und steuerte bloß so, daß wir uns beständig im Kreise drehten. Und nun schrieen wir und wären sicherlich überfahren worden, wenn nicht in eben diesem Augenblicke das andre Boot mit den zwei Herren sich unsrer Noth erbarmt hätte.54
In Form des bedrohlich nahen Dampfschiffes bricht die Technik in die fragile Geselligkeit und Idylle55 ein. Und auch die Rettung durch Botho von Rienäcker, einer der »zwei Herren«, mit dem Lene kurz darauf ein Liebesverhältnis eingeht, erweist sich als instabil. Lene wird gerettet und durch die nicht standesgemäße Liebesbeziehung doch zugleich wieder in Gefahr gebracht. Die idyllische Geselligkeit und deren Praktiken und Topographen sind unbeständig geworden und schon wenige Kapitel später verabschiedet sich Fontane endgültig davon: Der Ausflug von Lene, Botho und dessen Freunden, die in Begleitung von drei Damen erscheinen, die Namen aus Dramen Friedrich Schillers tragen, nach Hankel‘s Ablage kann als ironischer Abgesang auch auf empfindsam-gesellige Artikulations-muster, auf Spaziergang, Bootsfahrt und Wasser gelesen werden. Dabei beginnt der Tag vielversprechend, die »Welt« erscheint »in einem rosigen Lichte« und wieder steht eine gemeinsame Bootspartie auf dem Programm: Lene war es zufrieden, und schon wurden ein paar Decken in das rasch instand gesetzte Boot getragen, als man vom Garten her Stimmen und herzliches Lachen hörte, was auf Besuch zu deuten und eine Störung ihrer Einsamkeit in Aussicht zu stellen schien. »Ah, Segler und Ruderclubleute«, sagte Botho. »Gott sei Dank, daß wir ihnen entgehen, Lene. Laß uns eilen.« Und beide brachen auf, um so rasch wie möglich ins Boot zu kommen. Aber ehe sie noch den Wassersteg erreichen konnten, sahen sie sich bereits umstellt und eingefangen. Es waren Kameraden, und noch dazu die intimsten: Pitt, Serge, Balafré. Alle drei mit ihren Damen.56
Schon das »Genug Natur gehabt« aus dem Mund der Prostituierten Isabeau räumt jede idyllische Stimmung und darüber hinaus eine zentrale Idee des 18. Jahrhunderts beiseite. Es wird noch gesteigert, indem diese die Bootsfahrt als gesellige Praxis in Frage stellt: »Wasserkorso geht nicht, davon haben wir heute schon über und über gehabt. Erst Dampfschiff, dann Boot –––––––––––– 54 55 56
Irrungen, Wirrungen, GBA Das erzählerische Werk 10, S. 18. Vgl. dazu auch: Cordula Kahrmann, Idyll im Roman: Theodor Fontane, München 1973. Irrungen, Wirrungen, GBA, Das erzählerische Werk 10, S. 89.
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und nun wieder Boot, das ist zu viel. Ich bin dagegen. Ueberhaupt, ich begreife nicht, was dies ewige Pätscheln soll;«57 Der Ausflug, von dem sich Lene und Botho »so viel versprochen hatten«, mündet in einer »Mischung von Verstimmung, Müdigkeit und Abspannung«.58 Bei Klopstock endet der Tag im Elysium, bei Fontane in der Verstimmung und in einer nachhaltigen Störung der Harmonie. Geselligkeit ist hier zum Zwang und zur gesellschaftlichen Pflicht und die ganze Unternehmung zu einer Art Gegengeselligkeit geworden. Fontane spielt durchaus auf codierte und tradierte empfindsame Geselligkeitsszenerien und -topographien an. Er lässt seine Figuren darin agieren und setzt sie doch zugleich der damit verbundenen heiklen Unbestimmtheit und permanenten Gefährdung aus. Das zeigt auch das Motiv der Laube, das in der Idyllendichtung und in anderen literarischen Präsentationsformen von Geselligkeit häufig Verwendung findet. Der Schweizer Idyllendichter und Maler Salomon Gessner oder Karl Wilhelm Ramler seien hier beispielhaft für die Lauben-Euphorie der empfindsamen Geselligkeit angeführt. In Ramlers Einladung in den Garten deutet sich die erotisch-sexuelle Konnotation an, die meist mit der Laube in Verbindung steht: An Dorimenen. O wie schön ist alles hier! Dorimene, komm zu mir In der Laube Schatten, Wo die Geissblattranken blühn, Und mit düftendem Jasmin Sich begatten.59
Im Gegensatz zur biedermeierlichen Laube, die meist ein idyllischer Ort des ruhigen und gemütlichen Zusammenseins ist,60 sind die Lauben der Empfindsamkeit enorm spannungsgeladen, dynamisch und sowohl ästhetisch als auch sexuell codiert. Mit der Einstreuung von (erotisch konnotierten) Pflanzennamen wie Geißblatt, Rosen oder Jasmin und der Imagination akustischer Hintergründe wie singende Nachtigallen oder rauschende, fallende Blätter werden stimmungsvolle, intime Räume evoziert. In bukolischen, an Theokrit angelehnten Szenerien tummeln sich Schäferfiguren, Nymphen und Faune in lauschigen Lauben, die an begrünten Flussufern, im Schilf oder auf blumenreichen Wiesen stehen. Die Laube schirmt ab und eröffnet Liebespaaren – meist Schäferinnen und Schäfern oder Nymphen und Faunen – Freiräume einer erotischen Zweisamkeit. In der Laube sind Gesten, –––––––––––– 57 58 59 60
Ebd. S. 91. Ebd. S. 100. Karl Wilhelm Ramler, Lyrische Bluhmenlese, Leipzig 1774, S. 22. Vgl. dazu auch Fontanes zahlreiche Beschreibungen von Lauben, darunter »Fliederlauben«, in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg, etwa im Band Spreeland, Kapitel Werneuchen.
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Affekte und vermeintliche Liebeshandlungen möglich, die im Kabinett, im Alkoven oder auch im offenen Garten als unschicklich betrachtet werden: Weinen, Melancholie, Küsse, leidenschaftliche Umarmungen und andere Zärtlichkeits-bekundungen. Nicht selten erscheinen Lauben als mythologische Räume, die zugleich eine mögliche erotische Entgrenzung implizieren, die allerdings stets nur vage und angedeutet bleibt, wie folgende Szene aus Gessners populärem Schäfergedicht Daphnis zeigt: Sie fuhren singend an das andere Ufer, wo viele Nachen, auch mit Lauben und langen Bændern, auf die Mædchen und die Jynglinge vom andern Ufer warteten. Izt hypften sie wieder aus den Nachen, banden sie fest, und giengen mit lautem Gesang nach der Phillis Hytte, wo ein grosser Trupp von Mædchen und von Jynglingen gesammelt stuhnd. Freudig mischeten sie sich unter sie hin; aber Daphnis hypfte bald in die Hytte, wo ihn Phillis mit tausend Kyssen begryßte. Er stellte dieses Bild in seinem Baumgarten in eine Laube. Einmal sang der Jyngling beym Mond-Licht in der Laube, ein bezaubernd Lied von der Liebe, da hœrt‘ er ein Rauschen, sanft wie wenn Zephir im Laube spielt, oder wie wenn die Bienen schwermen, und ein Geruch, lieblicher als der Rosen, verbreitete sich in der Laube. Amor ließ sich auf einer silbernen Wolke, von vielen Liebes-Gœttern umflattert, vor der Laube nieder. Sie sassen theils auf die Aestchen, die um die Laube winkten, oder auf Blumen, wie Bienen auf die Blyte.61
Der Geselligkeitstrieb mündet hier in einem erotischen Trieb, der allerdings stets den spielerischen, von kleinen fliegenden Liebes-Göttern, Blumen und Bienen bevölkerten Rahmen wahrt. Der Schäfer Daphnis sondert sich von der Gesellschaft ab und sucht seine Phillis in einer Laube auf, wo tausend Küsse getauscht werden: mögliche gesellschaftliche Konsequenzen haben Gessners Schäferinnen und Schäfer freilich nicht zu fürchten. Im Gegenteil: Abgeschirmt von der Aggressivität und Brutalität der äußeren Welt kreiert Gessner hier eine intakt-erotische Welt, deren größte Gefahr darin besteht, sich an einem Rosenstrauch einen Dorn einzureißen oder von einem Faun erhascht zu werden. Bei Fontane ist die Laube ebenfalls Rückzugsort für Liebespaare und erotische Handlungen, die nun jedoch klar als Ehebruch oder Tabubruch und damit als gesellschaftliche Grenzübertretung mit allen damit verbundenen Konsequenzen beschrieben werden. So etwa in L’Adultera, wo es in einem Gewächshaus, das als eine »aus Blattkronen gebildete Laube« erscheint, zum ersten erotischen Kontakt zwischen Melanie van der Straaten und Rubehn kommt. Dabei beginnt der Tag zunächst ganz normal, die kleine Gesellschaft will sich nach dem Mittagessen bei einem Spaziergang im Obstgarten ein »Dessert von den Bäumen pflücken«.62 Die ganze gesellige Szenerie erscheint als ländliche Idylle, von der sich Melanie und Rubehn –––––––––––– 61 62
Salomon Gessner, Daphnis, Zürich 1754, S. 104. Fontane, L’Adultera, GBA, Das erzählerische Werk 4, S. 86 f.
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– wie Gessners Schäfer Daphnis – bald absondern, um ungestört zu sein. Das Gewächshaus, in das sie sich schließlich zurückziehen, ist kein botanischer Ort des 19. Jahrhunderts oder eine biedermeierliche Laube, sondern in seiner Grundidee eben eine jener erotisch und sexuell aufgeladenen Lauben, wie man sie in der Literatur des 18. Jahrhunderts findet, obgleich das Interieur und die Pflanzen – exotische Orchideen gibt es in empfindsamen Gärten und Lauben noch nicht – durchaus variiert: Wirklich, es war eine phantastisch aus Blattkronen gebildete Laube, fest geschlossen, und überall an den Gurten und Ribben der Wölbung hin rankten sich Orchideen, die die ganze Kuppel mit ihrem Duft erfüllten. Es athmete sich wonnig aber schwer in dieser dichten Laube; dabei war es, als ob hundert Geheimnisse sprächen, und Melanie fühlte, wie dieser berauschende Duft ihre Nerven hinschwinden machte. Sie zählte jenen von äußeren Eindrücken, von Luft und Licht abhängigen Naturen zu, die der Frische bedürfen, um selber frisch zu sein. Ueber ein Schneefeld hin, bei rascher Fahrt und scharfem Ost, – da wär‘ ihr der heitere Sinn, der tapfere Mut ihrer Seele wiedergekommen, aber diese weiche, schlaffe Luft machte sie selber weich und schlaff, und die Rüstung ihres Geistes lockerte sich und löste sich und fiel.63
Wenn auch poetisch verklärt, kommt es zwischen Melanie und Rubehn zu konkreten Liebeshandlungen und einer Hingabe, die in den empfindsamen Lauben der Aufklärung undenkbar sind. Die Grenzen tradierter geselliger Topographien werden hier ausdrücklich überschritten und deren Intaktheit wie auch die soziale und persönliche Sicherheit ihrer Akteurinnen und Akteure nachhaltig gestört: Die Grenzüberschreitung mündet nicht selten in der persönlichen Tragödie oder, wie in L’Adultera, in der zeitweiligen Verstörung, Verunsicherung und Neuorientierung der Figuren. Auf Melanies Frage »Wohin treiben wir?«64, wiederum gestellt auf einer Bootsfahrt, die in ihrer dunklen Grundstimmung und emotionalen Unsicherheit aber alles andere als eine empfindsam-scherzhafte Bootstour à la Klopstock ist, folgt schließlich ein glückliches Ende.
Epilog Wie so oft bei der Beschäftigung mit Fontane bleiben auch in diesem Fall eher Fragen als Antworten zurück. Spuren und Impulse aufklärerisch-empfindsamer Geselligkeit lassen sich in seinem Werk durchaus finden, in Form von Motiven, Praktiken, Topographien und Räumen, aber auch von Protagonisten wie Johann Wilhelm Ludwig Gleim oder Ewald Christian von Kleist, die Fontane allerdings eher für ihre patriotische Lyrik schätzt. Und –––––––––––– 63 64
Ebd. S. 93 f. Ebd. S. 77.
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doch muss vieles vage, unbestimmt und assoziativ bleiben. Was hat Fontane gelesen? Hat er überhaupt Einblick in die literarischen Geselligkeitsdiskurse der Aufklärung gehabt? Wollte er sie überhaupt haben? Welche Schriften, welche Bilder und Objekte, welche Akteurinnen und Akteure dieser Epoche hat er gekannt und nachhaltiger wahrgenommen? In Briefen und anderen Lebenszeugnissen schweigt er größtenteils dazu. Neben Spuren aufklärerischer Geselligkeit in einzelnen Szenen der Romane zeugen Passagen in den Wanderungen, etwa zum Schloss Belvedere, zu den Geheimgesellschaften im 18. Jahrhundert oder zum Prinzen Heinrich, sowohl von einer Kenntnis als auch von einer Faszination und einem Interesse an der Epoche, deren Wert für Fontane vornehmlich ein historischer ist. Es ist für ihn die »alte Zeit«, nicht selten eine »Rokokoschaubühne«, eine fragil gewordene Kulisse, die für die eigene erzählerische Gegenwart als ästhetisches Programm nicht mehr tauglich ist.
Das Maß der Dinge Zur Funktion der Homöopathie in »Unwiederbringlich« Sophia Wege Homöopathie ist der Gegenstand einer Unterhaltung zwischen Graf Helmuth Holk, seiner Frau Christine, deren Bruder Baron Arne von Arnewiek und Seminardirektor Schwarzkoppen im zweiten Kapitel des späten Ehebruchromans Unwiederbringlich (1891).1 Auf den ersten Blick scheint das Thema Homöopathie in der Veterinärmedizin als willkürlich gewählter tagesaktueller Konversationsgegenstand zu fungieren, mittels dessen Fontane die Meinungsverschiedenheiten der Eheleute zum Auftakt des Romans exemplarisch zu Tage treten lässt. Dementsprechend hat die Fontane-Forschung der Textstelle kaum Beachtung geschenkt. Ziel der folgenden Darstellung wird es sein zu zeigen, dass sich die Bedeutung der HomöopathieSzene nicht auf die Charakterisierungsfunktion beschränkt, sondern als konstitutiv für die Handlung des gesamten Romans erweist: Aus dem Narrativ der Homöopathie – insbesondere deren zentralem Wirkprinzip similia similibus – speisen sich Figurenkonstellation, Motive und Struktur. Vor dem Hintergrund der homöopathischen Heillehre lässt sich somit das zentrale Thema des Romans – Ursachen und Folgen des Ehebruchs – neu verstehen.
1. Homöopathie als Konversationsgegenstand Erstmals erwähnt wird die Homöopathie im Rahmen einer nachmittäglichen Plauderei, in der Arne seinen Schwager warnt, dass nicht nur der soeben gereichte Kaffee die durch den Umzug ins neue Schloss am Meer hinzugewonnene Lebenszeit reduzieren könnte – auch die »philiströse, wenn auch höchst bemerkenswerte Homöopathie« werde, so Arne, von Holks Lebensjahren »subtrahieren« (U, S. 13). Von hieraus kommt man auf den neuen, Homöopathie praktizierenden Tierarzt zu sprechen. Arnes beiläufige Bemerkung, die Homöopathie wirke ebenso lebensverkürzend wie
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Theodor Fontane, Unwiederbringlich, GBA, Das erzählerische Werk 7. Im Folgenden mit Sigle U abgekürzt.
https://doi.org/10.1515/9783110666984-010
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Kaffeegenuss, steht in bemerkenswertem Widerspruch zu seiner Begeisterung für dieses neue Heilverfahren, die er kurz darauf in größerem Kreis äußert (wie dies zu erklären ist, wird sich später zeigen). Da dieses Gespräch an der Kaffeetafel alle Informationen enthält, auf die sich meine weiteren Ausführungen beziehen werden, zitiere ich die Textstelle ausführlich: Das Gespräch Beider drehte sich sonderbarerweise noch immer um das Wunder von Thierarzt, was ziemlich unerklärlich gewesen wäre, wenn nicht Holk, außer seiner Bauleidenschaft, auch noch eine zweite Passion gehabt hätte: die für schönes Vieh. […]. Aus diesem Grunde war ihm der neue Veterinärarzt eine wirklich wichtige Persönlichkeit, und nur die homöopathische Heilmethode desselben ließ immer wieder einige Bedenken in ihm aufsteigen. Aber Arne schnitt diese Bedenken ab. Das sei ja gerade das Interessante an der Sache, daß der neue Doctor nicht bloß gute Kuren mache, das könnten andere auch, sondern wie er sie mache und wodurch. Die ganze Geschichte bedeute nicht mehr und nicht weniger als den endlichen Triumph eines neuen Princips, erst von der Viehpraxis her datire der nicht mehr anzuzweifelnde Sieg der Homöopathie. Bis dahin seien die Quacksalber alten Stils nicht müde geworden, von der Macht der Einbildung zu sprechen, was natürlich heißen sollte, daß die Streukügelchen nicht als solche heilten; eine schleswigsche Kuh aber sei, Gott sei Dank, frei von Einbildungen, und wenn sie gesund würde, so würde sie gesund durch das Mittel und nicht durch den Glauben. Arne verbreitete sich noch des Weiteren darüber, zugleich hervorhebend, daß es sich bei den Kuren des neuen, beiläufig aus dem Sächsischen stammenden Doktors allerdings auch noch um andere Dinge handele, die mit Allopathie oder Homöopathie nichts Directes zu schaffen hätten. Unter diesen Dingen stehe die durchgeführteste, schon den Luxus streifende Reinlichkeit obenan […]. Holk hörte das Alles mit Entzücken und empfand so große Lust, mit Christine darüber zu sprechen […]. »Ich höre da eben interessante Dinge, Christine. Dein Bruder erzählt mir von homöopathischen Kuren eines neuen sächsischen Veterinärdoctors […]. Wahre Wunderkuren! ... Sagen Sie, Schwarzkoppen, wie stehen Sie zu der Sache? Die Homöopathie hat so etwas Geheimnißvolles, Mystisches. Interessant genug, und in ihrer Mystik eigentlich ein Thema für Christine.« Schwarzkoppen lächelte. »Die Homöopathie verzichtet, soviel ich weiß, auf alles Geheimnisvolle oder gar Wunderbare. Es ist einfach eine Frage von Viel oder Wenig und ob man mit einem Gran so weit kommen kann wie mit einem halben Centner.« »Versteht sich«, sagte Holk. »Und dann gibt es noch einen Satz ›Similia similibus‹, worunter sich Jeder denken kann, was er will. Und Mancher denkt sich gar nichts dabei, wohin wohl auch unser thierärztlicher Pfiffikus und Mann der Aufklärung gehören wird. Er gibt seine Streukügelchen und ist im Uebrigen, als Hauptsache, für Stallreinlichkeit und Marmorkrippen, und ich möchte sagen, die Tröge müssen so blank sein wie ein Taufbecken.« (U, S. 16–17, Hervorhebungen SW)
Als sich die fromme Christine über diesen blasphemischen Vergleich empört, gesteht ihr Holk dies mit Verweis auf den Namen des Tierarztes zu – dieser heißt Lissauer und ist Konvertit. Christines Ressentiments hält Holk das aufgeklärte Weltbild des jüdischen Arztes entgegen:
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Aber ich rechne es ihm an, daß er selbständige Gedanken hat und den Mut der Aussprache. Das mit den Marmorkrippen ist natürlich mehr oder weniger Torheit […]. Aber mit der Forderung der Reinlichkeit so ganz im allgemeinen, damit hat er doch recht. (U, S. 18)
Christine und Schwarzkoppen können der Homöopathie demnach nur wenig abgewinnen; Arne sieht die klassische Schulmedizin durch die Homöopathie in Frage gestellt, und der skeptische Holk schätzt vor allem Lissauers Vorstellungen einer modernen, hygienischen Viehwirtschaft. Um die konstitutive Funktion des Homöopathie-Gesprächs für das Geschehen nachvollziehbar zu machen, bedarf es zunächst einer knappen Erörterung der im Roman erwähnten Details der homöopathischen Arzneimittellehre.
2. Prinzipien und Herstellungsverfahren der homöopathischen Heillehre An den Grundannahmen des im Roman erwähnten Wirkmechanismus homöopathischer Heilmittel und dem Herstellungsverfahren der erwähnten Streukügelchen (heute Globuli) hat sich seit der Begründung der Homöopathie durch Samuel Hahnemann (1755–1843) in den 1810er Jahren bis zum heutigen Tage nichts Grundlegendes geändert. Für die Herstellung der Kügelchen müssen laut Hahnemanns Anweisungen diverse pflanzliche Substrate, Mineralien oder auch Tierbestandteile verrieben, in Wasser hochverdünnt und kräftig geschüttelt werden, wobei die Anzahl der Schüttelungen den Wirkungsgrad erhöhen soll. Die so gewonnene Urtinktur wird auf die Zuckerkügelchen aufgebracht. Die Methode bezeichnete Hahnemann selbst als »dynamisierende Potenzierung«. Sein Hauptwerk mit dem Titel Organon der Heilkunst (erste Manuskriptfassung 1821), dem das aufklärerische Diktum aude sapere voran gestellt ist, findet bis heute als wichtigstes Lehrwerk der homöopathischen Heilpraxis weltweit Verwendung.2 Obgleich Substanzen bei einer typischen Hochverdünnung von 1 zu 1.000.000 (!) auf molekularer Ebene nicht mehr nachweisbar sind, lehrt die klassische Homöopathie, dass mittels dieser Methode eine ›geistartige Energie‹ im Wasser zurückbleibt und sich heilend auf eine immaterielle Lebenskraft von Mensch und Tier auswirkt. Als kausal ursächlich wird hierbei das im Roman erwähnte Prinzip similia similibus angenommen, welches besagt, dass Ähnliches durch Ähnliches geheilt werden kann: Eine Substanz, die an
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Samuel Hahnemann, Organon der Heilkunst, hrsg. von Josef M. Schmidt, Stuttgart 2003. (= Standardausgabe der 6. Auflage, Neuausgabe 1999 auf der Grundlage der 1992 vom Herausgeber bearbeiteten textkritischen Ausgabe des Manuskripts Hahnemanns von 1842).
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einem gesunden Menschen bestimmte Symptome hervorrufe, sei in hochverdünntem und geschütteltem Zustand geeignet, eine Krankheit zu heilen, die mit ähnlichen Symptomen einhergeht.3 Zur Veranschaulichung des Simile-Prinzips kann folgendes, auch im Hinblick auf den Roman interessante Beispiel dienen: Zur Behandlung der Symptome »Niedergeschlagenheit und Weinen; Trübsinn; Schwermuth; Tiefsinnigkeit«, oder auch »von Klavierspielen angegriffen« sowie zahlreicher weiterer körperlicher Krankheitszeichen sei eine hochpotenzierte Lösung aus pulverisiertem Tintenfisch (sepia officinales) indiziert.4 Hahnemann hatte beobachtet, wie ein depressiver Maler an einem Pinsel leckte und schloss daraus, dass die Farbe die Depressionen des Künstlers ausgelöst habe musste.5 Folglich sei potenziertes Sepia zur Behandlung düsterer Gemütszustände geeignet, und es gilt seither als Mittel der Wahl zur Verbesserung der Stimmungsschwankungen insbesondere von ›Sepia-Frauen‹. Die Homöopathie ihrerseits wurde bereits im 19. Jahrhundert von der Mehrzahl der Schulmediziner heftig kritisiert und als Produkt der Einbildungskraft abgetan.6 Mit der These vom Simile-Prinzip stellt sich die Homöopathie quer zur ebenfalls im Roman erwähnten, vehement angefeindeten Schulmedizin, der Allopathie. Diese geht vom umgekehrten Wirkmechanismus, dem Prinzip contraria contrariis curentur, aus, wonach materiell verursachte Krankheitssymptome durch ein Gegenmittel – ein alterans – zu bekämpfen seien. Der Wissensstand der Romanfiguren legt nahe, dass Fontane mit der zeitgenössischen Debatte um Allopathie kontra Homöopathie vertraut war. Ob er Hahnemanns Werke im Original gelesen hat, konnte ich bislang nicht recherchieren, es ist jedoch anzunehmen, dass er sich über sekundäre Quellen, Gespräche und Zeitungslektüre (Vossische Zeitung) Grundkenntnisse zum Thema erworben hat. Fontanes Hauptquelle war vermutlich Carl Ferdinand Wiesike (1798– 1880), ein begeisterter, praktizierender Homöopath, mit dem Fontane über viele Jahre freundschaftlich verbunden war und den er mehrfach in seiner
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»Wähle, um […] zu heilen, in jedem Krankheitsfalle eine Arznei, welche ein ähnliches Leiden […] für sich erregen kann, als sie heilen soll!« (Ebd., S. 75). Samuel Hahnemann, Die chronischen Krankheiten, 5 Bände, Bd. 5, Dresden/Leipzig 1839, S. 168. Die Liste umfasst 1655 (!) Symptome. Christine P. Krüger, Praxisleitfaden Homöopathie. Vom Arzneimittelbild zum Leitsymptom. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart/New York et al. 2017, S. 385. Das Grundprinzip der homöopathischen Lehre widerspricht den Naturgesetzen nach dem heutigen und auch dem Stand der Wissenschaften im 19. Jahrhundert. Zwar weisen Studien heute Placebo-Wirkungen nach, aber es gibt keine klinische Studie, die irgendeine pharmakologische Wirkung homöopathischer Verdünnungen belegt. Zur Homöopathie als Narrativ vgl. Sophia Wege, Potenzierte Fakten. Das Narrativ der Homöopathie. In: Diegesis 7/1 (2018), S. 51–69.
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Villa in Plaue an der Havel (Brandenburg) besuchte. Dem ersten Besuch bei Wiesike im Jahr 1874 hat Fontane in Fünf Schlösser ein eigenes Kapitel gewidmet.7 Möglicherweise dienten die anregenden Tischgespräche mit dem Gastgeber in seiner Villa am Wasser als Vorbilder für Unwiederbringlich: Wiesikes Wohnhaus mit Park liegt direkt am Ufer der Havel, und zwar dem Schloss Plaue direkt gegenüber. Hier lässt sich eine Ähnlichkeit zur Raumsituation der beiden ebenfalls an Gewässern liegenden Schlösser in Unwiederbringlich erkennen, zumal der Autor selbst von der »wundervollen Roman-Szenerie« von Plaue schwärmt und dessen »ewig blauem Himmel«.8 Wie Lissauer wird auch Wiesicke von Fontane als »Wunderdoktor« bezeichnet;9 auch Wiesike wird für sein »selbständiges Denken« geschätzt.10 In teils wortwörtlicher Übereinstimmung mit dem Homöopathie-Gespräch im Roman berichtet Fontane über ein Tischgespräch in Plaue: »Der Sieg der Wahrheit, der Sieg ›der guten Sache‹ wurde proklamiert, alles unter der Fahne ›Similia similibus‹, und nachdem schließlich der Kaffee von allen Seiten her als das Hauptgift der Menschheit festgestellt worden war, schritt man dazu, ihn einzunehmen«.11 Für ein über das Anekdotische hinausreichendes Interesse Fontanes am Thema Homöopathie spricht nicht zuletzt sein zeitlebens anhaltendes Interesse am Apothekerberuf, der im vorindustriellen 19. Jahrhundert vor allem in der manuellen Herstellung von Medikamenten bestand. Fontane verfügte nachweislich über fundierte Kenntnisse zu »pharmazeutische[n] Verfahren – von der Stoffsammlung über das botanisch-naturwissenschaftliche Wissen bis zur Misch- und Rezeptarskunst«, die auch in sein Romanwerk einflossen.12 Dass es im Roman vordergründig um die Behandlung von Holks Viehbeständen und nicht von menschlichen Patienten geht, ist vermutlich eine Ursache dafür, warum dem Thema Homöopathie bislang so
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Theodor Fontane, Fünf Schlösser, AFA Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 5, 1987. Notiz Fontanes von 1877 im Notizbuch A 16: Theodor Fontane: Notizbücher. Digitale genetisch-kritische und kommentierte Edition. Hrsg. von Gabriele Radecke. https://fontanenb.dariah.eu/index.html, abgerufen am 14.07.2020. Vgl. dazu den »stahlblauen Himmel« im Park von Schloss Frederiksborg (U, S. 116). AFA, Fünf Schlösser (wie Anm. 7), S. 139. Ebd. S. 149. Daneben beschreibt Fontane Wiesike als Schopenhauerverehrer. Ebd. S. 136. Iwan Michelangelo D’Aprile, Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung. Reinbek bei Hamburg 2018, S. 20. Für eine Übersicht der biographischen Quellen zu Fontanes Apothekerjahren vgl. Klaus-Peter Möller, ›Sehr gute Kenntnisse der Chemie Pharmacie Botanik und Latinität‹. Fontanes Zeugnisse aus seiner Ausbildungszeit zum Apotheker als biographische Quellen. In: FBl 73 (2002), S. 8– 41. Zur Bedeutung für das Romanwerk (nicht jedoch zu Unwiederbringlich) vgl. Barry Murnane, Fiktionale Pharmazie. Theodor Fontanes Apotheker und Apotheken vor dem Hintergrund pharmazeutischer Modernisierung im 19. Jahrhundert. In: Peer Trilcke (Hrsg.), Theodor Fontane, München 2019, S. 164–177 (= Edition Text + Kritik Bd. II/19).
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wenig Beachtung geschenkt wurde. Im Rückschluss von der Romanhandlung lässt sich spekulieren, dass Fontane auch von der homöopathischen Behandlung von Tieren Kenntnis hatte. Neben Wiesike verbirgt sich hinter der Figur Lissauer eventuell auch der berühmteste Schüler Hahnemanns, Clemens von Bönninghausen, der in den 1870er Jahren die Homöopathie in die Veterinärmedizin einführte.13 Im Hinblick auf das im Roman artikulierte Figurenwissen wird sich nun allerdings zeigen, dass vertiefte Kenntnisse über die homöopathische Lehre oder eindeutige Belege über Fontanes Lektüren zur Deutung der Handlung gar nicht vonnöten sind. Unwiederbringlich lässt sich auch vor dem Hintergrund der Grundannahmen der Homöopathie – des Simile-Prinzips und des Potenzierungsverfahren – neu interpretieren.
3. Homöopathie und Figurenkonstellation Zum Thema Homöopathie in Unwiederbringlich liegt meiner Kenntnis nach lediglich ein sechsseitiger populärwissenschaftlicher Artikel vor, der sich auf eine Inhaltszusammenfassung der oben zitierten Textstellen beschränkt und die Funktion des Homöopathiegesprächs ausdrücklich nicht in der Handlungsführung, sondern lediglich in der Veranschaulichung der ehelichen Differenzen sieht.14 Die folgenden Überlegungen widmen sich nun der Frage, welche Rolle die Homöopathie für Figurenkonstellation und Handlungsverlauf spielt. Die Antwort stellt der Roman dem Leser so offen vor Augen, dass sie in ihrer Verweisfunktion bislang übersehen wurde: »Es ist einfach eine Frage von Viel oder Wenig […]. Versteht sich«, sagte Holk. »Und dann gibt es noch einen Satz ›Similia similibus‹, worunter sich Jeder denken kann, was er will.« (U, S. 16; meine Hervorhebung.) Dann denken wir uns einmal, was wir wollen: Zwar findet das Thema Homöopathie in späteren Kapiteln keinerlei Erwähnung mehr, doch wird die Expositionsfunktion der Szene bereits durch ihre Positionierung an prominenter, einleitender Stelle im zweiten Kapitel deutlich. Und von hier aus wirkt sie sich gewissermaßen auf das gesamte Geschehen aus. Unwiederbringlich ist in erster Linie ein Roman über das Scheitern einer Ehe, doch worin genau liegen die tieferen Ursachen für Holks Seitensprung
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Jutta Backert-Isert, Clemens Maria Franz von Bönninghausen (1785–1864) und seine tierhomöopathische Praxis in ihrem therapiegeschichtlichen Kontext, Hannover 2006. Karl Otto Sauerbeck, Fontane und die Homöopathie. In: Allgemeine Homöopathische Zeitung, Heft 249 (2004), S. 273–279. Ebenso knapp fällt die Besprechung der Homöopathie-Szene in Der Stechlin aus.
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und den Freitod der Gräfin? Im Zentrum der Deutungsansätze standen bislang die Unterschiede in den charakterlichen Anlagen und den Weltbildern der beiden Hauptfiguren – Holks Vorliebe für Moderne (die sich auch in seiner Sympathie für den aufgeklärten Tierarzt äußert), sein Hang zum Eskapismus und weltlicher Pracht, materialisiert im neuen Schloss, seine Wankelmütigkeit in den Bereichen Politik, Religion und Gesellschaft. Dem gegenüber stehen Christines Charakterfestigkeit, Melancholie und Vergangenheitslastigkeit, ihr pietistischer Puritanismus, die moralische Absolutheit, mit der sie ihre höheren Neigungen vertritt, die intellektuelle und moralische Dominanz über ihren Ehemann – kurzum: Staat versus Kirche, Ratio versus Mystik, Laster und Leidenschaft versus Tugendterror, Stall versus Gruft. Christine selbst fasst die Lage pointiert zusammen: »Du bist leichtlebig und schwankend und wandelbar, und ich habe den melancholischen Zug und nehme das Leben schwer.« (U, S. 52) Bemerkenswerterweise führen Graf und Gräfin jedoch, und das ist entscheidend, trotz der explizit benannten »Verschiedenheit der Charaktere« (U, S. 11) und trotz der Unterschiedlichkeit ihrer Ansichten in nahezu allen Lebensbereichen, ausdrücklich siebzehn Jahre lang eine glückliche Ehe. So waren zum Beispiel die gravierenden Differenzen »namentlich in Erziehungs- und religiösen Fragen […] doch nicht angethan, den Frieden des Hauses ernstlich zu gefährden« – so der Erzähler in aller Eindeutigkeit (U, S. 11). Auch äußere Veränderungen und Schicksalsschläge konnten der Ehe nichts anhaben; so betont der Erzähler, dass der »Tod des jüngsten Kindes […] das schöne und jugendliche Paar einander nur noch näher geführt« habe (U, S. 6f.). Nach anfänglicher Skepsis bekennt sich Christine mit einem eindeutigen »ja« zum neuen Schloss am Meer (U, S. 10). Der Erzähler lässt uns wissen: »Die ›glücklichen‹ Tage, die man dort oben leben wollte, man hatte sie wirklich gelebt« (U, S. 11); und auch die »herzliche Neigung, die Beide vor einer Reihe von Jahren zusammengeführt hatte, bestand [im neuen Schloss, S. W.] fort.« (U, S. 11) Selbst von gegenseitiger Liebe ist noch explizit die Rede (U, S. 33). Die allzu offensichtlichen inneren und äußerlichen Ursachen der Ehekrise werden vom Erzähler demnach widerlegt. Was aber verursacht dann die midlife crisis, die zum Untergang der Ehe führt? Die folgende Argumentation soll zeigen, dass sich der Erfolg der Ehe der Einhaltung des allopathischen contraria contrariis Prinzips verdankt. Nicht trotz, sondern aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit hat diese rückblickend erzählte Ehe 17 Jahre lang funktioniert, solange nämlich, wie sich die Eigenschaften der Ehepartner gerade in ihrer Verschiedenheit ergänzten, in ihren Extremen und Unterschieden ausglichen und der Andere – als alterans – gewissermaßen als allopathisches Heilmittel auf den Partner wirkte. Die von An-
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beginn bestehenden charakterlichen Gegensätze waren somit nicht die Ursache für den Bruch, sondern geradezu die Erfolgsgarantie der Ehe. Aus diesem Grund bricht die Ehe auch erst in dem Augenblick (mit Einsetzen der Romanhandlung) auseinander, als sich beide Partner aus der heilsamen Contraria-Verbindung lösen und neue, diesmal homöopathische Verbindungen eingehen – solche, die auf dem Simile-Prinzip basieren. Holk und Christine wenden sich neuen Partnern zu, die ihnen ähnlich sind. Die Gräfin wendet sich von ihrem Mann ab und ihrer Gesellschafterin Julie von Dobschütz zu. In Reaktion darauf sucht Holk spiegelbildlich sein Heil bei Ebba von Rosenberg – mit unheilsamen Konsequenzen für beide, insofern nach dieser Lesart die fatalen Folgen des Ehebruchs nun als Wirkungen der homöopathischen Verbindungen zu begreifen sind. Dass diese neuen Beziehungen auf Ähnlichkeiten beruhen, dafür liefert der Text vielfältige Belege. Holk und Ebba Einerseits legt Holk hohen Wert auf seine aristokratische Herkunft, gleichzeitig spielt er sich »auf Liberalismus und Aufklärung aus« (U, S. 154); will gleichzeitig treuer Ehemann und »Lebemann« (ebd.) sein. Diese ausgeprägten »Halbheiten« (U, S. 154) verursachen die von Gattin und Geliebter gleichermaßen monierte Wankelmütigkeit Holks, die gleichzeitig repräsentativ ist für den schwankenden Charakter der Epoche. Im Verhältnis mit Ebba lebt Holk die in der Ehe mit Christine unterdrückte, sinnlich-leidenschaftliche Hälfte aus. In Ebba, deren »Übereinstimmung« (U, S. 246) er sich sicher ist, sieht er seine aufklärerischen Neigungen gespiegelt, sie verkörpert seine moderne, ironisch-unverbindliche Lebenshaltung.15 Die Ähnlichkeiten zwischen Holk und Ebba reichen jedoch weit über die offensichtlichen charakterlichen Übereinstimmungen hinaus, denn überraschenderweise erweist sich Lissauer als Bindeglied. Mit dem Arzt teilt die eloquente Ebba nicht nur den »Muth zu einer Meinung« (U, S. 152) und den Pragmatismus der Moderne, sondern vor allem die jüdischen Wurzeln: Sie sei, so Ebba stolz, »die Enkeltochter des in der schwedischen Geschichte wohl bekannten Meyer-Rosenberg, Lieblings- und Leibjuden Königs Gustavs III.« (U, S. 123). Holk stellt nun eine Verbindung zu seiner eigenen Familie fest, denn dieser Meyer-Rosenberg ist derjenige, »den König Gustav später unter dem Namen eines Baron Rosenberg nobilitierte, Baron Rosenberg von Fiehlene, welchem preußisch-polnischen Ort wir entstammen. Es war der Sitz unserer Familie durch mehrere Jahrhunderte.« (ebd.) Es stellt sich heraus, dass Holk selbst »eine Rosenberg« in der Familie hatte: »Die zweite Frau meines Großonkels war eine Rosenberg« (ebd.). So
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Holk hofft auf eine »Uebereinstimmung der Seelen«, also auf eine Ähnlichkeit (U, S. 240).
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lässt sich tatsächlich »vielleicht leicht eine Brücke« zwischen Holk und Ebbas Familie schlagen (ebd.), womit ein weiteres Indiz für die Konstruktion eines Ähnlichkeitsverhältnisses, wohlgemerkt jedoch keiner genealogischen Verwandtschaft, gegeben ist. Dass Fontane Holk als Hobby-Genealogen angelegt hat, schärft das aristokratische Profil der Figur, gleichzeitig jedoch motiviert diese Ausstattung die Entdeckung der familiären Verbindungen von Holk und Ebba. Die Doppelbedeutung der Ähnlichkeit von Holk und Ebba – als Funktion der Figurencharakterisierung und gleichzeitig als Referenz auf die homöopathische Natur der Affäre – wird dadurch zugleich enthüllt und versteckt. Auch hinsichtlich ihrer psychosomatischen Konstitution erweisen sich die Figuren als einander ähnlich. Der von Meeresluft verwöhnte Schleswiger wird von der dänischen Prinzessin für seine Gesichtsfarbe bewundert: »Welche frische Farbe Sie mitbringen, lieber Holk. Was ich hier um mich habe, sind immer Stadtgesichter […] Da freut mich Ihre gute schleswig’sche Farbe, roth und weiß, wie die Landesfarben.« (U, S. 99) Auch Ebbas Hautfarbe schwankt zwischen rot und weiß, wenn es heißt, dass sie aufgrund des schlechten Wetters in Kopenhagen wohl »bleichsüchtig wäre«, wenn sie »nicht so viel Eisen im Blut hätte« (U, S. 103).16 Zur Ballade Der König von Thule merkt Ebba in typisch mokanter Art an, nach dem Tode des Königs werde sich doch wohl ein Page finden, welcher die Witwe »bis dahin verehrt hat und nun wieder Farbe kriegt oder ›Eisen im Blut‹« (U, S. 113). Bei anderer Gelegenheit sinniert Holk, er sei noch nicht alt genug, um »auf Fleisch und Blut zu verzichten.« (U, S. 247) Rot ist in Unwiederbringlich demnach konventionell die Farbe sexueller Leidenschaft. Beide, Ebba und Holk, zeichnen sich also durch farbliche »Halbheit«, man könnte auch sagen moralische und körperliche Ambivalenz, aus; beide haben ›zu viel Eisen im Blut‹, und bei beiden dominiert schlussendlich die rote/sanguinische/feurige Seite, was für eine auf Ähnlichkeit beruhende Anziehungskraft spricht. Der »Eisberg« Christine (U, S. 247) dagegen wird über eine Symbolkette (Schnee, Meer) mit der Farbe weiß, also mit Kälte und Blutmangel (Leidenschaftslosigkeit, Todessehnsucht) assoziiert. Über die Farben wird die homöopathische Affäre mit den verschiedenen Dimensionen der Erzählung symbolisch verknüpft: körperlich (sanguinisch vs. blutarm), charakterlich/sexuell (leidenschaftlich vs. frigide), politisch (Landesfarben, auch Preußen, Dänemark etc.), genealogisch (Blut, jüdisch), elementar (Feuer vs. Wasser/Schnee; Hitze/Kälte; Winter/Sommer).17
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»Und dann sprach die Prinzessin huldvoll von meiner Bleichsucht […], und wenn eine Prinzessin die Gnade hat, noch etwas vom ‚Eisen im Blut’ hinzuzusetzen und dadurch anzudeuten, dass sie Darwin oder irgend einen anderen großen Forscher gelesen hat«. (U, S. 110) »Christine hat mich von sich weg erkältet.« (U, S. 247) »Und wenn es das klarste Eis hat, das klarste ist gerade das Kälteste, und ich will nicht erfrieren.« (ebd.)
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Christine und Julie von Dobschütz Julie ist der zweite Vorname der realgeschichtlichen Gräfin Holck.18 Fontane hat die Gesellschafterin als Echo und Spiegelbild der Gräfin entworfen. Die Ähnlichkeit der Freundinnen zeigt sich in Charakter, Verhalten und Einstellungen. Häufig treten die Frauen gemeinsam auf, sprechen wie mit einer Stimme; ihre Ansichten zu Erziehung und Bildung, Religion und Dichtung stimmen überein. Julie von Dobschütz wird mehrfach als »vorzüglich« (U, S. 36) oder »gut« (U, S. 247 u.a.) attribuiert, ebenso wie die Gräfin selbst von allen Seiten stets als die »Beste« bezeichnet wird, während sich Holk doch eine »weniger vorzügliche Frau« wünscht (U, S. 11). Kaum verwunderlich empfindet Holk sein Leben mit Christine, »als ob Unterweltsschatten neben mir herschwebten. Die gute Dobschütz war auch so ein Schatten.« (U, S. 247) Julie als Schatten der schwermütigen Sepiafrau (?) Christine charakterisiert diese als unabtrennbare Doppelgängerin der Gräfin. Eine Szene illustriert die Ähnlichkeitsbeziehung in exemplarischer Weise: Nachdem Holk der Gräfin die Scheidung angetragen hat, verlässt diese den Raum. Kurz darauf tritt Holk ans Fenster: Holk konnte nur wenig Schritte weit sehen, aber so dicht die Flocken fielen, sie ließen ihn doch zwei Frauengestalten erkennen, die jetzt […] hinunterschritten. Es waren die Gräfin und die Dobschütz. Niemand begleitete sie. (U, S. 256)
Aus der Entfernung im Schneetreiben sehen die Frauengestalten einander so ähnlich, dass Holk sie kaum noch unterscheiden kann. Julie von Dobschütz wird schließlich auch diejenige sein, die die Gräfin auf ihrem letzten Weg ans Meer begleitet.
4. Das Maß der Dinge Wenn Arne seine Schwester warnt, sie tue »des Guten zu viel« (U, S. 66), so meint er damit vordergründig Christines moralische Vorzüglichkeit. ›Des Guten zuviel‹ ist auch die notorisch gute Dobschütz, die Holk aus der Ehe drängt. »Kann man des Guten zu viel thun?« fragt Christine ihren Bruder. »Gewiß kann man das«, antwortet Arne, denn, »jedes Zuviel ist vom Übel. Es hat mir, solang ich den Satz kenne, den größten Eindruck gemacht, daß die Alten nichts so schätzten, wie das Maß der Dinge.« (ebd.) Doch gilt dies ebenso für Holk:
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Vgl. hierzu den Kommentar von Christine Hehle in Unwiederbringlich, GBA, Das erzählerische Werk 7, S. 373 und S. 378.
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Aber, mein lieber Schwager […]: est modus in rebus. Muß ich dich darauf aufmerksam machen, daß in all unserem Thun das Maß der Dinge entscheidet, und dass der klügste Rath, […] sicherlich in sein Gegentheil verkehrt wird, wenn der, der ihn befolgt, das richtige Maß nicht hält und den Bogen einfach überspannt. (U, S. 204)
Beide Partner verlieren im Lauf ihrer Ehe das richtige »Maß der Dinge« aus den Augen; das Heil einer Ehe steht hier in direkter Abhängigkeit von der Mäßigung der Neigungen, entsprechend spielt der Roman mehrfach mehr oder weniger beiläufig auf Maß und Menge an. Liest man diese Textstellen vor dem Hintergrund der Homöopathie, wird deutlich, dass es sich hierbei um Variationen der zentralen Frage nach der Dosierung/ Potenzierung von Arzneimitteln handelt, auf die Schwarzkoppen in seiner Erklärung der homöopathischen Herstellungsverfahren hingewiesen hatte: »Es ist einfach eine Frage von Viel oder Wenig«. Wie bei der Herstellung von Arzneimitteln sorgt auch ein Zuviel oder Zuwenig charakterlicher Stärken und Schwächen für ein unheilvolles Ungleichgewicht. Die Forderung, ein gesundes Maß einzuhalten, fungiert im Roman demnach nicht nur als Ratschlag für den Umgang mit dem Ehepartner, vielmehr verbirgt sich in der Redensart vom »Maß der Dinge« eine doppelte Referenz auf die Dosierung allopathischer und homöopathischer Heilmittel. Auch in der Medikation kommt es auf richtige Dosierung der Dinge an, um heilende Wirkung zu erzielen. Ein zu Wenig von einem Gegenmittel (alterans) beziehungsweise ein Zuviel des Ähnlichen (Zuviel des Guten) erweist sich als gesundheitsschädlich. Hieraus erklärt sich nun auch Arnes Prophezeiung, die Homöopathie subtrahiere von Holks Lebenszeit.
5. Wasser-Symbolik Für die Hypothese von der Homöopathie als strukturgebendem Prinzip des Romans spricht auch, dass diese Lesart mit anderen Deutungsaspekten von Unwiederbringlich vereinbar ist. Dies gilt insbesondere für die Wasser-Motive,19 denen im Hinblick darauf, dass Wasser das Medium homöopathischer Verdünnung ist, eine weitere Bedeutungsdimension hinzugefügt werden kann.
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Beispielsweise jüngst Eva Geulen, Frauen vom Meer. In: Trilcke (Hrsg.), Theodor Fontane (wie Anm. 12), S. 101–112. Holks Affinität zu Wasser und zu Wasserfrauen beschreibt u.a. Kathrin Bilgeri, Die Ehebruchromane Theodor Fontanes, Freiburg i. Br. 2007. – Dass Holk sich nicht mit der eindeutigen Brigitte einlässt, könnte darin begründet sein, dass sie eben jene Ähnlichkeit mit ihm selbst vermissen lässt, die die zweideutige Jüdin Ebba für Holk in seiner Halbheit so anziehend macht.
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Wasser spielt bei der Herstellung der homöopathischen (Ver-)Bindungen der Ehepartner eine entscheidende Rolle, und für beide Hauptfiguren wird Wasser zum Medium der Gefahr: Am Meer baut Holk das neue Schloss Holkenäs. Das von zwei großen Seen umgebene Schloss Frederiksborg gleicht einer Insel im Wasser; auf einem halb zugefrorenen See laufen Holk und seine nordische Venus Schlittschuh. Christine und die Dobschütz spazieren durch Schneetreiben; ihr letzter Gang führt sie zum Strand, wo sich die Gräfin dann den tödlichen Fluten überlässt. Insbesondere die todesmutige Schlittschuhfahrt, der ein wochenlanges gemeinsames Eingeschlossensein im Schloss vorausgeht,20 kann als wasserbasierter Prozess einer homöopathischen Verbindung gelesen werden, die den sich anschließenden Ehebruch verursacht und das Feuer im Schlossturm bewirkt: Der Brand bricht genau in jenem kurzen Zeitraum von einer Stunde aus, in dem Holk und das »Meerweib« Ebba den Geschlechtsakt vollziehen; er kann somit gewissermaßen als unmittelbare schädliche Wirkung der wasserbasierten homöopathischen ›Kur‹ der Sexualpartner gedeutet werden. Selbst diese scheinbar weit hergeholte Interpretation lässt sich durch die Lehre der Homöopathie lizensieren: Nach Ansicht Hahnemanns kann es in den ersten Stunden nach einer homöopathischen Behandlung zu einer so genannten »Erstverschlimmerung«, das heißt einer vorübergehenden Verstärkung der Symptome kommen.21 Die Krankheitssymptome sind in diesem Fall die mit der Farbe Rot (Blut etc.) assoziierten unheilsamen sinnlichen Neigungen Holks und seiner Melusine. Durch die sexuelle Vereinigung kommt es gewissermaßen zu einer Verschlimmerung oder Verstärkung ihrer hitzigen lasterhaften Hälften – symbolisiert durch die Feuersbrunst, aber auch Ebbas Schwindelanfälle und ihr mehrtägiges Fieber. Das, was Holks Mangel an Leidenschaft heilen soll, nämlich die Erfüllung der Leidenschaft durch das Eingehen einer Verbindung mit einer ähnlich sinnlichen Partnerin, stiftet Unheil und verschlimmert den Zustand. In diesem Sinne lässt sich auch Arnes Warnung deuten, dass etwas »in sein Gegentheil verkehrt« würde, wenn das richtige Maß nicht eingehalten sei (siehe Zitat oben; U, S. 204) – so kann Wasser ein Feuer entfachen, und Hitze (der Leidenschaften) entsteht in Reaktion auf Christines Kälte. »Was war es denn groß?«, fragt Ebba im Hinblick auf den Brand und antwortet ebenso doppeldeutig wohl auch auf ihre Affäre: »Erst etwas zu heiß und dann etwas zu kalt.« (U, S. 236)
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21
Das Eingeschlossensein in engstem Raum wurde als Ursache der »Schlossmalaria« ausgemacht (Karla Müller, Schlossgeschichten, München 1986, S. 89). Man kann das Schloss gewissermaßen als Reagenzglas sehen, in dem es zu einer homöopathischen Reaktion/Vermischung zwischen Ebba und Holk kommt. Hahnemann, Organon (wie Anm. 2), S. 215f.
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Zwar spart der Text den Geschlechtsverkehr aus, umso ausführlicher werden jedoch die Schlittschuhfahrt, das Tischgespräch und die baulichen Ursachen des Brandes geschildert. An jenem schicksalhaften Abend sprechen alle Beteiligten dem schwedischen Punsch reichlich zu; das von Wärme- und Kältemetaphern durchwobene Gespräch dreht sich unter anderem um den hohen Norden (Island), das Wetter, die Geliebte des Königs und um den Doppelofen, der für die angenehme Wärme im Esszimmer und im Turm sorgt, in dem Holk und Ebba untergebracht sind.22 Ebba selbst sorgt durch erneutes Auflegen von Kohlen dafür, dass das bereits im Erlöschen begriffene Feuer wieder angefacht wird (U, S. 226), obwohl die Kälte draußen bereits nachgelassen, der Wind jedoch zugenommen hat. Brandursache ist letztlich eine verstopfte Kaminesse. Der starke Wind bewirkt die den Brand schürende Zugluft und ein lautstarkes »Geklapper« (U, S. 164) der undichten Fenster und Türen, was bereits in Holks erster, ebenfalls stürmischer Nacht vernehmlich gewesen war: Damals hatte der Wind einen Blitzableiter »unter wüthendem Gerassel gepackt und hin und her geschüttelt« (U, S. 181). Bemerkenswert wird all dies erst, wenn man die Vorgänge im ›durchgeschüttelten‹ Schlossturm mit der Herstellung homöopathischer Tinkturen vergleicht. Hahnemann sieht neben der Verdünnung in Wasser auch einen »Zusatz von etwas Weingeist oder einem Stück Holzkohle« vor, die man an einem Faden »in die Flasche hängen« und nur herausnehmen solle, wenn die Flasche »stark geschüttelt« wird.23 So schafft erst die gemeinsame Unterbringung von Holk und Ebba im sozusagen flaschenhalsartigen Turm des »hohen turmreichen Schloss Frederikborg« (U, S. 168) ideale räumliche Bedingungen für homöopathische Vermischung. Die Raumsemantik legt zudem eine gestalthafte Ähnlichkeit zwischen Flasche und Schlussturm und somit zwischen homöopathischer und sexueller Reaktion nahe. Wem diese Schlüsse zu weit gehen, der sei daran erinnert, dass Effi Briests Gynäkologe Dr. Rummschüttel heißt; ihrem letzten Arzt in Hohen-Cremmen hat Fontane den Namen Wiesike gegeben.24 Zusammenfassend lässt sich zu diesem Aspekt festhalten, dass Wasser das Medium ist, in dem sich ähnlichkeitsbasierte homöopathische Wirkungen entfalten. Erst durch die hohe Verdünnung einer Substanz in Wasser wird das Simile-Prinzip in der Arznei wirksam. Wir haben es demnach bei diesem beiderseitigen Ehebruch – Holk mit Ebba, Christine mit Julie – mit einer homöopathischen Kur zu tun, die jedoch keine Heilung bewirkt, sondern eine unwiederbringliche Auflösung des Einzelnen im Wasser.
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Z. B.: »Wo das Eis beginnt, da hat das Herz seine höchste Flamme« (U, S. 227). Hahnemann, Organon (wie Anm. 2), S. 265. Theodor Fontane, Effi Briest, GBA, Das erzählerische Werk, 15, 1998. Die Herausgeberin Christine Hehle sieht hier »möglicherweise« eine Anspielung auf die Homöopathie (S. 484).
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6. Die Perlenkette der Geschichten – Narrative im Kampf um die Vorstellungswelt der Figuren Es findet sich nun im Roman noch ein weiterer durchgängiger Diskurs, der das Motiv der Homöopathie auf einer Metaebene aufnimmt und fortführt: Unwiederbringlich ist auch eine Erzählung über die Macht fiktionalen wie faktualen Erzählens, konkret über den Einfluss von Romanen und Gedichten, von alltäglichen, politischen, religiösen und journalistischen Texte, von Zeitungsmeldungen, Werbeanzeigen und Anekdoten auf die Vorstellungswelt und somit das Denken, Fühlen und Handeln der Figuren. Diese poetologischen Einsichten zur Handlungskonstruktion lassen sich nicht nur aus Qualität und Quantität der Lese- und Erzähl-Szenen im Roman ableiten, sondern werden von den Figuren selbst in eben diesem Sinne reflektiert: »Solche Vorstellungen«, so Arne, »sind nun einmal eine Macht.« Christine antwortet: »Ganz und gar aber muß ich Allem zustimmen, was Alfred eben über die Macht gewisser Vorstellungen gesagt hat. Die Welt wird durch solche Dinge regiert, zum Guten und zum Schlechten«. (U, S. 30 und 31) Die Vorstellungen der Figuren haben ihren Ursprung vor allem in der jeweiligen Roman- und Zeitungslektüre und in diversen realweltlichen Geschichten und Anekdoten, die ihnen zu Ohren gekommen sind. Ausführlich wird der Leser über diese Lektüren und Geschichten unterrichtet, die auf die Vorstellungswelten unmittelbar einwirken: Holk lässt sich von den Abenteuerromanen wie Die drei Musketiere (U, S. 37), Stadtklatsch- und Hofgeschichten (U, S. 205) und märchenhaften Reiseberichten der Damen Hansen (U, S. 97) beeinflussen, vor allem aber von Ebbas ironischer Konversationskunst und ihren »ossianischen Anwandlungen« (U, S. 165) verführen.25 »Durchschnittsgeschichte« (U, S. 146) und »alte Geschichten« (U, S. 228) lehnt Holk ab. Die Gräfin dagegen ist dem Einfluss »kleiner Liebesgeschichten aus dem Kreise der Irrgläubigen« (U, S. 36) und vor allem der Wirkung eines Gedichtes über ein »erdichtetes Schloß« von Uhland ausgesetzt (U, S. 8). Entscheidend ist, dass Fontane den Einfluss dieser Geschichten mit den Wirkungen von Arzneimitteln in eins setzt. Hierfür gibt es mehrere Beispiele: Um Christines »Anschauungen von Pflicht eine andere Richtung zu geben« und einen »Wandel der Anschauungen« (U, S. 42) herbeizuführen, schmiedet Schwarzkoppen den Plan, ein »prophylaktisches Verfahren« anzuwenden: »Ich will mir Geschichten zurecht legen, Geschichten aus meinem früheren Pfarrleben […] und will versuchen, diese Geschichten still wirken zu lassen.«
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Des Weiteren: »Kopenhagener Geschichten« (U, S. 86), »Liebesgeschichten« (U, S. 91, 147), »Sensationsgeschichten« (U, S. 237).
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(U, S. 42) Auch in ihrer Bekenntnisstrenge läge das »Heilmittel« für Christine (U, S. 278). Die Geschichten am königlichen Hof wiederum tun ihre Wirkung auf Holk. Doch auch im Falle von Geschichten kommt es auf die richtige Dosierung an, was Holk aber missachtet, den nach immer exzessiveren Geschichten verlangt – eine Geschichte über König Christian beurteilt Holk »zu kleinen Stils und überhaupt etwas zu wenig« (U, S. 195). Es gibt ein Zuviel und Zuwenig heilsamer und schädlicher Geschichten. Christine weist Holks brieflich übermittelte Hofgeschichten denn auch explizit als »zuviel« zurück (U, S. 213). Als Holk sich nach dem Wahrheitsgehalt der wundersamen Liebesgeschichte der Brigitte Hansen erkundigt, erwidert Pentz: Ich will Ihnen was sagen, Holk, Sie sind über beide Ohren in diese schöne Person verliebt, und weil Sie sich vor ihr fürchten oder, was dasselbe ist, sich persönlich nicht recht trauen, so wünschen Sie, daß ich Ihnen eine furchtbare Geschichte als Sicherheitsvademecum [!] aus der Tasche hole und es wie einen Schirm zwischen sich und der schönen Frau Hansen aufrichten könnte. (U, S. 136)
Auch das zentrale Homöopathiegespräch enthält eine versteckte metapoetische Anspielung, wenn es über die Homöopathie heißt: »Die ganze Geschichte bedeute nicht mehr und nicht weniger als den endlichen Triumph eines neuen Prinzips.« (U, S. 16, meine Hervorhebung) Die Homöopathie wird hier direkt als Narrativ bezeichnet und somit in eine Reihe mit allen anderen wirksamen Geschichten im Roman gestellt, die auf die Vorstellungswelt der Leser einwirken. Unwiederbringlich konstruiert somit Ähnlichkeiten zwischen der riskanten Lektüre von Geschichten – Romanen! – und den Nebenwirkungen maßlos dosierter Arzneimittel. Zu bedenken ist zudem, dass es Holks Briefe beziehungsweise brieflich übermittelte Klatschgeschichten vom Hofe sind, die Christine seelisch und körperlich krank machen. Anders als die sogenannten Apothekerbriefchen, welche das vom Apotheker hergestellte Arzneipulver enthielten und den Patienten nach Hause mitgegeben wurden, wirken Holks Geschichten/Briefe nicht heilend.26 Sogar die Streukügelchen tauchen im Roman zweifach in symbolischer Gestalt auf: In der Geschichte über Kapitän Herluf Trolle heißt es, er sei an einer Wunde gestorben, die er sich bei einer Seeschlacht zugezogen habe. Die Wunde selbst sei allerdings nicht tödlich gewesen: »Aber es war jener merkwürdige Krieg, wo Jeder, der eine Wunde davontrug […], an dieser Wunde sterben musste. So wenigstens steht es in den Büchern. Pentz sprach von ›vergifteten Kugeln‹.« (U, S. 177) In der märchenhaften Erzählung der alten Frau Hansen (U, S. 97) kommt eine Perlenkette vor, die der
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Das Apothekerbriefchen als Behältnis im Allgemeinen wird erwähnt von Murnane, Fiktionale Pharmazie (wie Anm. 12), S. 171. – Auch die »brieflichen Vorstellungen des alten Peterson« bleiben als Gegenmittel wirkungslos (U, S. 278).
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Kaiser von Siam ihrer schönen Tochter Brigitte vermacht haben soll (U, S. 95–96). Die Existenz dieser Perlenkette wird von Holk bezweifelt. Ein Hinweis auf den Märchenstatus und damit auf den Lügencharakter der Geschichte findet man in Irrungen, Wirrungen: »Geschichten, die den Stempel der Erfindung an der Stirn trugen, sogenannte ›Perlen‹, amüsierten ihn am meisten«.27 Insofern kann die Reihung der Geschichten in Unwiederbringlich mit einer Perlenschnur verglichen werden, die den Figuren Unheil bringen. Folgt man dieser Hypothese, erscheinen außereheliche homöopathische Verbindungen als krankmachende Wirkungen »giftiger« Erzählungen,28 darunter der »ganzen Geschichte« von der Homöopathie. Es ließe sich folgern, dass Fontane Unwiederbringlich als Sicherheitsvademecum konzipiert hat, das den wankelmütigen LeserInnen die Wirkungen des Zuviel und Zuwenig falsch dosierter Narrative vor Augen führt, über die katastrophalen Folgen homöopathischer Affären aufklärt und ihnen ein maßvolles allopathisches Liebesleben verordnet. Der Autor inszeniert sich somit als Heilpraktiker, dessen Roman(e)/Erzählungen seine LeserInnen von der Unzufriedenheit mit dem bürgerlichen Eheleben heilen und vor homöopathischen Verführungen warnen.
7. Fazit Unwiederbringlich ist ein Eheroman und gleichermaßen ein Roman über Homöopathie, wobei sich Ehegeschichte und Homöopathienarrativ wechselseitig beleuchten: Zum einen bilden contraria contrariis und similia similibus die Funktionsprinzipien der Holkschen Ehe; die Ablösung des allopathischen Prinzips durch das homöopathische führt zum Scheitern der Ehe. Umgekehrt lässt sich der Romanausgang als kritischer Kommentar zur Homöopathie lesen. Das tödliche Ende führt die Heilsversprechen der Homöopathie ad absurdum; von einem »Triumph des neuen Prinzips« kann keine Rede sein. Zwar warnt Fontane vor den falschen Heilsgeschichten, gleichzeitig kann dies keinesfalls als Aufklärungs- und Wissenschaftskritik verstanden werden. Zu berücksichtigen ist hier der medizinhistorische Kontext zur Entstehungszeit, also des Jahrzehnts vor der Niederschrift von Unwiederbringlich. In diesem Zeitraum hatte Robert Koch bereits seine bahnbrechenden Untersuchungen zur Verbreitung bakteriell verursachter Infektionskrankheiten bei Menschen und Tieren veröffentlicht und war in Berlin
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Irrungen, Wirrungen, AFA, Romane und Erzählungen. Bd. 5, S. 36. Mit dem Hinweis, er sei von seiner Affäre mit Ebba »nicht recht geheilt« (U, S. 272), lehnt Christine Holks Versöhnungsangebot zunächst ab.
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auf den eigens für ihn eingerichteten Lehrstuhl für Hygiene berufen worden. Lissauers und Holks fiktive Forderung nach moderner Stallreinlichkeit wird also durch die faktuale Wissenschaftsgeschichte bestätigt. Eine Lesart, die den Roman selbst als Sicherheitsvademecum begreift und als Warnhinweis vor den Wirkungen homöopathischer Kuren, resultiert vor allem aus dem tödlichen Ende. Der (Be-)Handlungsverlaufs scheint jedoch geradezu unausweichlich, denn die ›Krankheitsursache‹ ist in Fontanes Figuren als eine anthropologische Konstante angelegt und somit, wenn moralisch nicht entschuldigt, so doch erklärlich: Die Rede ist von ihrem ›unheilbaren‹ Knacks (ihrer Halbheit also), der für sie als moderne Individuen zeittypische Symptome hervorruft: jenes Schwanken zwischen ehelicher Treue und Verführbarkeit, zwischen Moral und Gefühl, zwischen Aufklärung und Mystik, Liberalismus und Monarchie, Kälte und Hitze, Allopathie und Homöopathie). Die Symptome der Erschütterungen scheinen unheilbar; ein Austarieren der Schwankungen in stoische Balance kommt bei Fontane gar nicht vor. Wenn »Zwiegesichtigkeit« (etwa zwischen Rückschritt und Fortschritt) die Signatur des Zeitalters der Aufklärung ist,29 so wird klar, dass die Spannungsfelder von Fontanes Romanwelten in der Aufklärung wurzeln. Doch gestalten sich die Pole der Anziehungskräfte bei Fontane nicht mehr in Form eines Kampfes um entweder oder, sondern eher als ein sowohl als auch. Darin aber, dass Fontane die Halbheiten zulässt, die Ambivalenzen als Katalysator, die Dinge des Lebens für unentscheidbar und die Wirrungen für unvermeidbar erklärt, erweist er sich als Autor der Moderne: ›Du sollst nicht ehebrechen‹, das ist die Norm, und wohl dem, der, nicht in Versuchung und nicht in Kämpfe geführt, dieser Norm entspricht; aber der Complicirtheiten modernen Lebens sind so viele, daß das jeden Tag und jede Stunde durchlöchert wird, weil es durchlöchert werden muß.30
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Steffen Martus, Aufklärung. Das Deutsche 18. Jahrhundert – Ein Epochenbild, Reinbek bei Hamburg 2018, S. 887. Theodor Fontane an Otto Brahm, 21. April 1888, HFA IV/3, S. 599.
»Und möchten wir von der entkirchlichten Zeit / Auch nicht das Gute missen…« Glaubensdinge des 18. und 19. Jahrhunderts im Werk Theodor Fontanes Anett Lütteken Anlässlich einer (von ihm selbst so nicht betitelten) Ansprache beim Taufmahl fand der Pate Theodor Fontane am Pfingstsonntag des Jahres 1877 launige Worte, um die versammelten Gäste der Familie Stockhausen »noch vor Butter und Brot« auf die Feierlichkeit einzustimmen:1 Ein alter Freund, schon lange tot, Erzählte gerne Geschichten; Gestatten Sie mir, noch vor Butter und Brot, Eine davon zu berichten. In Prag, eine alte Judenfrau Lag herzkrank im Spitale, Der Doktor behorchte sie ganz genau Mit dem bekannten Pennale. Er horchte und klopfte mit Ernst und mit Lust, – Da begann ihm der Ernst zu weichen, Es lag halb versteckt auf der Alten Brust Ein Kreuz, das christliche Zeichen. Und er hielt der Alten das Kreuzchen vor; Die lächelte still auf dem Kissen Und raunte dann dem Doktor ins Ohr: »Man kann’s doch am Ende nicht wissen.« Man kann es nicht wissen. Auch wir insgesamt, Einem zweifelsvollen Hoffen, Trotz Doktor Erich und Standesamt, Sind wir noch immer offen. Und möchten wir von der entkirchlichten Zeit
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Der Täufling war Johannes Theodor Stockhausen, der Sohn von Clara und Julius Stockhausen; vgl. GBA-Gedichte II/3, S. 537; DLA Marbach: A: Fontane, Theodor (1); Roland Berbig, Theodor Fontane. Chronik, Berlin/New York 2010, Bd. 3, S. 2063 (11. Februar 1877) und S. 2070 (20. Mai 1877); Theodor Fontane und Martha Fontane. Ein Familienbriefnetz. Hrsg. von Regina Dieterle, Berlin/New York 2002, S. 964.
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Auch nicht das Gute missen, Doch, wenn ein Kind in der Wiege schreit, So heißt es: »Man kann es nicht wissen,« Und gesegnet, daß man nicht alles weiß, Daß Wunder und Rätsel bleiben; Nicht unten liegt der höchste Preis, Nach oben muß es treiben Verloren, wer in des Lebens Drang, Am Boden sich zerraufte, Excelsior gehe deinen Gang, Johannes der Jüngstgetaufte!
Atmosphärisch und der Form wie der Aussage nach diente dieser Text als ein für den überschaubaren Rahmen einer mehr oder minder heiteren Familienfeier konzipierter Trinkspruch, als eine typische Gelegenheitsdichtung also, deren kaum übersehbare Anspielungen mit einiger Wahrscheinlichkeit nur für die Geladenen zur Gänze entschlüsselbar waren. Konventionell möchte man diese Poesie freilich dennoch gerade nicht nennen. Denn manche der verwendeten Vokabeln wie auch Teile des Inhalts stechen hervor. Sie unterscheiden sich vom für einen solchen Anlass Erwartbaren: Die skurrile Geschichte von der um ihr Seelenheil besorgten Jüdin, die auf dem Totenbett faktisch und zweifelsohne auch ein klein wenig verschlagen in Eigenregie ›Aufklärung‹ vollzieht und klandestin konvertiert, es dabei aber nur bis zum »Kreuzchen« bringt, spiegelt, ebenso wie die beharrliche Reflexion über das, was man wissen oder nicht wissen kann und der Hinweis auf das »zweifelsvolle[] Hoffen« konsolidierte Skepsis in Bezug auf Glaubensdinge. In »[d]as Gute« der »entkirchlichten Zeit« ragt die hier zwingend mitzudenkende, viele Jahrhunderte überwölbende ›kirchliche Zeit‹ als ein Relikt und fremdgewordener Archaismus hinein.2 In dieser schlichten Epochenzweiteilung wird zudem auf eine für Fontane ausgesprochen typische Weise der noch im neunzehnten Jahrhundert omnipräsente aufklärerische Optimismus, in der besten aller Welten zu leben, mitsamt der zugehörigen Fortschrittsgläubigkeit ironisch gebrochen und hinterfragt. Die ›kirchliche Zeit‹ als eine Zivilisationsstufe zu beschreiben, die »Wunder und Rätsel« und damit das Irrationale noch ohne profunde Irritation tolerieren konnte, –––––––––––– 2
Allgemeine Hinweise zur thematisch zugehörigen Literatur in: Fontane-Bibliographie, Bd. 2, S. 1386–1393 (Kap. Fontanes religiöse Anschauungen und sein Verhältnis zu den Kirchen). Basale Kompendien (wie z. B. Emil Brachvogels Der sonntägliche Gottesdienst der evangelischen Landeskirche in Preußen, Stargard 1898) lassen ahnen, dass die religiöse Praxis im engeren Sinne selbst im Bildungsbürgertum des späten 19. Jahrhunderts kaum mehr vertraut war.
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lässt sich so auch als ein Hinweis des Verfassers auf eine substantielle Verarmung des sinnlichen und emotionalen Wahrnehmungsvermögens in seinem eigenen Zeitalter verstehen. Fontanes Sichtweise scheint derjenigen heutiger Historiker zu entsprechen. So notiert Rudolf Schlögl in der Studie Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1750–1850:3 Das 19. Jahrhundert wurde ein Jahrhundert der Entkirchlichung. Die von den Kirchen selbst für unabdingbar erachteten Frömmigkeitsübungen – Besuche des Sonntagsgottesdienstes, Abendmahlsteilnahme, Osterkommunion samt Beichte – wurden weniger. […] Die Entkirchlichung war ein Vorgang, der Protestanten und Katholiken gleichermaßen betraf, auch in der Intensität des Geschehens waren die Unterschiede gering.
Ob diese pauschale Aussage auch im Detail deckungsgleich mit Fontanes Befund ist, wird im Folgenden noch näher zu untersuchen sein. Zunächst aber noch einmal zurück zum Taufgedicht. Wollte man es mit rhetorischen Kategorien messen, so wären wohl einige Zweifel am ›aptum‹ der Rede in Bezug auf den Anlass gestattet. Und auch das Verhältnis von heiterer und tieferer Einsicht lässt sich dabei nicht im Vorübergehen bestimmen. Artikulierte sich Fontane hier allein spielerisch und weit entfernt von jeglichen persönlichen Glaubensgewißheiten oder -zweifeln, um gesellschaftliche Konventionen zu erfüllen? Bei anderen seiner Gelegenheitspoesien macht es jedenfalls ein wenig den Eindruck, als ob der Autor ihm selbst längst hohl gewordene Formen füllte, womit er natürlich auch einer im Genre selbst gelegenen Tendenz nachgab.4 Dass er sich aber noch im Jahr 1869 an den »Lachkrampf« erinnerte, den er anlässlich der Tauffeier der Schwester Elise im Jahr 1838 bekommen hatte, weil ihn eben schon frühzeitig »[a]lles Ehrpußliche« »zu kritischen Betrachtungen« reizte, und ebenso die in diesem Kontext gebrauchte Formel: »Ich habe gar kein Organ für solche Feierlichkeiten«: Solche nur scheinbar beiläufigen Aussagen wären bei der Analyse von Gelegenheitspoesien wie der oben erwähnten systematisch einzubeziehen, da Fontane damit variantenreich die für jeden wachen Betrachter unübersehbare Diskrepanz von äußerlicher und echter Frömmigkeit, von –––––––––––– 3
4
Rudolf Schlögl, Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1750– 1850, Frankfurt am Main 2013, S. 273–280, hier S. 273, 274; vgl. auch: Lucian Hölscher, Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland. Von der Mitte des 19. Jh. bis zum Zweiten Weltkrieg, Berlin 2013 [zuerst: 2001]. Vgl. etwa: Zu Elisens Hochzeit (26. Januar 1875), HFA I/6, S. 435; oder ebd., S. 495f.: Zur Taufe von Cäcilie Wichmann (1868); symptomatisch für die ironisch-distanzierte Haltung gegenüber derartigen Texten waren wohl schon die Zeilen aus dem Jahr 1855: »Ach, ich bin der Verse müd’/ Aus dem Album-Stammbuch-Fache […]« (Gratulation an »Nord und Süd« [Juli 1855], ebd., S. 535).
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gesellschaftlicher Konvention und christlicher Botschaft thematisierte.5 Der Text des Taufgedichts für Johannes Theodor Stockhausen wirkt nun jedenfalls nicht gerade übertrieben affirmativ oder fromm, auch wenn das »Excelsior« und die Anspielung auf den ältesten Zeugen Jesu, Johannes den Täufer, um den jüngstgetauften Johannes auf die rechte Bahn, »[n]ach oben« nämlich, zu lenken, das an der Oberfläche nahelegen. Fragen könnte man sich darüber hinaus, ob bzw. in welchem Zusammenhang das Narrativ des Gedichts mit einem Brief Fontanes an Mathilde von Rohr aus dem Jahr 1872 steht:6 Mein gnädigstes Fräulein. Dieser Oktober soll nicht aus der Zeitlichkeit scheiden, ohne daß ich Ihnen vorher noch für Ihren lieben Brief vom 6. d. M. gedankt hätte. Vieles darin tat mir wohl, am meisten aber die, ich darf es wohl sagen, in Demuth von mir hingenommenen Worte: »Sie und Ihre liebe Frau bringen Segen in jedes Haus, in der unausgesetzten Thätigkeit und der dankbaren Anerkennung dessen was Gott Ihnen schenkt.« Diese Worte hätten mich zu allen Zeiten beglückt, an dem Tage aber, an dem sie hier eintrafen, wirkten sie wie ein Talisman, denn unmittelbar vorher hatte mir meine Frau erzählt, das alte Judenweib, das vorher diese Wohnung inne hatte, sei mit den Worten von hier geschieden: »na, Freude soll er hier nicht erleben.« Bei all meinem Vertraun in die Gnade Gottes, die auf den Wunsch eines alten Judenweibes nicht von mir abfallen wird, verstimmte mich die Sache doch ein wenig und ich athmete erst freier auf, als Ihre Zeilen wie eine Art Exorcismus des Teufels eintrafen. Ein christlicher Segenswunsch wird doch wohl mächtiger sein, als ein alter, halbversteckter Judenfluch. Mögen Ihre freundlichen Gesinnungen und Fürsprachen an alleroberster Stelle, uns ferner schützend zur Seite stehn. […] [Hervorhebungen in der Vorlage]
Gegenüber der wohl kaum je von Glaubenszweifeln gequälten Korrespondenzpartnerin bekannte Fontane sich hier recht (oder vielleicht auch: etwas zu) nachdrücklich zum »Vertraun in die Gnade Gottes«, indem er über die Wirkmächtigkeit eines »christliche[n] Segenswunsch[es]« räsonierte und mit einigem Charme die Nähe der frommen Briefempfängerin zur »allerobersten Stelle« postulierte. Dieser Brief wurde sichtlich strikt adressatenorientiert formuliert und dies erkennbar auch in der Absicht, durch die richtige ›Tendenz‹ anzusprechen und zu gefallen. Andererseits verharrte Fontane an dieser Stelle genau wie später im Taufgedicht im Vagen: Durch den Dank mit explizitem ›Überbau‹, durch die Einbettung in eine Geschichte und letztlich auch durch die Verwendung des gerade nicht christlich zu denkenden Begriffs »Talisman« entzog er sich einer im engeren Sinne persönlichen –––––––––––– 5 6
Vgl. Theodor Fontane an seine Mutter Emilie Fontane, 29. Mai 1869, HFA IV/2, S. 232– 234, hier S. 233; Berbig, Chronik (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 31. Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, 31. Oktober 1872, HFA IV/2, S. 415.
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Aussage. Die beiden Beispiele lassen ansatzweise erkennen, dass für Fontanes Umgang mit dem Christentum im weitesten Sinne nach wie vor gilt, was lange bekannt und insbesondere von Eckart Beutel in vorbildlicher Weise erforscht worden ist:7 Fontanes Neigung, ambivalent und ironisch gebrochen schreiben, macht es nicht eben leicht, seine persönlichen Überzeugungen und Gewissheiten zu untersuchen. Wie kann man nun eingedenk eines solchen Vorab-Befundes dennoch Genaueres und Belastbares über Fontanes Wahrnehmung der ›kirchlichen‹ wie der ›entkirchlichten‹ Zeit in Erfahrung bringen? Und welche Rolle spielte das Zeitalter der Aufklärung als Ausgangs- und Übergangspunkt vom einen zum anderen gesellschaftlichen Zustand aus seiner Sicht dabei? Um sogleich Missverständnissen vorzubeugen: Fontanes persönliche Anschauungen sollen im Folgenden allenfalls gestreift werden, da für die genannte Fragestellung seine publizierten Texte über das Verhältnis von Religion und Gesellschaft in ihrer jeweiligen Zeit bzw. zu seinen Lebzeiten relevanter und aussagekräftiger scheinen. Im Zentrum des Interesses hat dabei erstens zu stehen, wie eine sich modernisierende Gesellschaft mit ihrer kulturellen Herkunft umgeht und mit dem, was sie geprägt hat, und zweitens, welche kollektiven Techniken entwickelt werden, das Überkommene zu bewahren, es zu sublimieren, zu marginalisieren oder ganz zu negieren. Welche Antworten Fontane in unterschiedlichen Schreibkontexten auf diese komplexen Fragen fand und welche Schlüsse er daraus zog, soll anhand einiger charakteristischer und, wo möglich, zu kontextualisierender Denk- und Schreibfiguren typologisch beschrieben werden. Das Augenmerk wird hierbei auf literarische und journalistische Arbeiten Fontanes zu richten sein, auf solche Texte mithin, die er seinen eigenen Zeitgenossen als Gegenwarts- und Vergangenheitsanalysen präsentierte.8 Da seine Gedanken zur ›kirchlichen‹ Zeit nicht selten deutlich über das 18. Jahrhundert hinaus zurückweisen und also die üblichen Epochengrenzen tendenziell aufweichen, mag es gestattet sein, die Argumentation an den Vorgaben des Autors zu orientieren: Ausgehend von einigen, zumeist in seinen Reiseberichten situierten Architekturbeschreibungen wird hierbei über christliche Rituale und Repräsentanten des Christentums nachzudenken sein und schließlich darüber, welche Rollen dem institutionalisierten Christentum in einer zusehends »entkirchlichten« Zeit überhaupt noch zufallen konnten.
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Eckart Beutel, Fontane und die Religion. Neuzeitliches Christentum im Beziehungsfeld von Tradition und Individuation, Gütersloh 2003. Zum journalistischen Selbstverständnis Fontanes vgl. Dorothee Krings, Theodor Fontane als Journalist. Selbstverständnis und Werk, Köln 2008, S. 98–119.
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Dass die Auswahl zugehöriger Quellen angesichts der vorhandenen Materialfülle notwendig Stückwerk bleibt, möge andere zur Weiterarbeit motivieren.
Zeitgeistige Kirchenumbauten oder »Herr Schultze, wohin mit die Leichensteine?«9 Im etwas raubauzig formulierten und nachgerade symptomatisch betitelten Gedicht Kirchenumbau (bei modernem Gutswechsel) aus den 1880er Jahren brachte Fontane die rastlos-unbedarfte Unwissenheit und zum Schaffen von Fakten geneigte Geisteshaltung auf den Punkt, mit der sich die der gewachsenenen politischen Relevanz anpassende preußische Gesellschaft eines sie jahrhundertelang prägenden Teils ihrer Kulturgeschichte zu entledigen suchte: Kirchenumbau (Bei modernem Gutswechsel) Spricht der Polier: »Nun bloß noch das eine: Herr Schultze, wohin mit die Leichensteine? Die meisten, wenn recht ich gelesen habe, Waren alte Nonnen, aus Heiligen Grabe.« »Und Ritter?« »Nu Ritter, ein Stücker sieben, Ich hab’ ihre Namens aufgeschrieben, Bloß, wo sie gestanden, da sind ja nu Löcher: 1 Bredow, 1 Ribbeck, 2 Rohr, 3 Kröcher; Wo soll’n wir mit hin? wo soll ich sie stell’n?« »Stellen? Nu gar nich. Das gibt gute Schwell’n, Schwellen für Stall und Stuterei, Da freun sich die Junkers noch dabei.« »Und denn, Herr Schultze, dicht überm Altar Noch so was vergoldigt Kattolsches war, Maria mit Christkind … Es war doch ein Jammer.« »Versteht sich. In die Rumpelkammer. «
Dabei ließ er keinen Zweifel daran, wen er für die ungut treibende Kraft dieser umfassenden gesellschaftlichen Transformation hielt: Es waren dies nicht die kaum gebildeten und hier vom »Polier«, der sich scheut, ohne Not –––––––––––– 9
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Relikte früherer Zeiten abzuräumen oder zu zerstören, repräsentierten Schichten. Im Gegenteil beschrieb er die gut ausgebildeten, aber geradezu barbarisch auftretenden agnostischen ›Verwalter‹ wie »Schultze« als die eigentlich Verantwortlichen: Ein »Schultze« schert sich nicht um die kulturstiftende Präsenz der »Nonnen« in früheren Jahrhunderten und behauptet ebenso geschichtsvergessen wie nassforsch, die Umwidmung vom Grabstein zur Schwelle hätte den »Ritter[n]« als frühen Geistesverwandten der rustikalen »Junkers« des neunzehnten Jahrhunderts zweifelsohne behagt. Der Allerweltsname »Schultze« passt für diesen Allerweltsmann, der gerade kein Mann von Welt ist und unter den Auspizien des Fortschritts eine problematische Form der Deutungshoheit über die die Landschaft und deren Historie prägenden Geschlechter erlangt hat. Indem er sich anschickt, auch über die Traditionen christlicher Glaubens-, Gedenk- und Sepulkralkultur zu entscheiden, wird er zum zeittypischen Exponenten einer weitgehend profanierten Welt: Die Grabsteine der »Ritter« mutieren in dieser nüchternen, auf Pragmatismus, Effizienz und Gewinn ausgelegten Welt zu Spolien, indem sie eine neue, einerseits denkbar bescheidene, gleichwohl aber tragende Funktion in den Ställen erhalten. Reste von Pietät und/oder die hochwertig wirkende Vergoldung verhindern es schließlich knapp, dass »Maria mit Christkind« entsorgt wird. Diesem unwiederbringlich historisch und zweckfrei gewordenen Sinnbild katholischer Frömmigkeit wird ein Platz in der »Rumpelkammer« zugewiesen, weil es zu schade zum Wegwerfen ist, aber eben auch nicht mehr gebraucht wird. Es bietet sich an, solche illusionsbefreiten Zuspitzungen im Zusammenhang mit Fontanes vielfach dokumentiertem Interesse an anderen physischen Manifestationen des Glaubens zu betrachten: Kirchenbauten wie deren Ausstattung, Bildprogramme und das zugehörige ›Rankenwerk‹ der für das 19. Jahrhundert schon lange vor dem ›Kulturkampf‹ typischen Brauchtumspflege beider Konfessionen betrachtete er nämlich geradezu systematisch aus der Perspektive sich verändernder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen.10 Hierbei beschäftigten ihn sowohl die historistischen als auch die strikt modernisierenden Restaurierungen von Kirchen über den reinen Sachverhalt hinaus als symbolische Akte, die allem Anschein nach zudem auch charakteristische ›Schreibfiguren‹ initiierten. So notierte Fontane anlässlich seiner Schottlandreise des Jahres 1858 über die Ruine der mittelalterlichen Holyrood Chapel in Edinburgh:11 –––––––––––– 10
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Vgl. den Sammelband: Irene Crusius (Hrsg.), Zur Säkularisation geistlicher Institutionen im 16. und 18./19. Jahrhundert, Göttingen 1996; Michael Stolleis, Kulturkampf. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Berlin 2013, Sp. 311–313. Theodor Fontane, Jenseit des Tweed, HFA III/3, S. 193 f. Zur Vorgeschichte der Wahrnehmung von Ruinen vgl.: Constanze Baum, Ruinenlandschaften. Spielräume der Einbildungskraft in Reiseliteratur und bildkünstlerischen Werken über Italien im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Heidelberg 2013.
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[…] das Dach ist eingestürzt und der Fußboden gleicht einem Kirchhof; ein Rasenstück, aus dem sich zahlreiche Grabsteine erheben. Umschau haltend, wächst das Interesse, so lange wir unsere Aufmerksamkeit auf die Fülle des Details richten, das entweder durch Alter und Eigentümlichkeit oder bei Schöpfungen einer späteren Epoche durch Schönheit imponiert. Von dem Augenblick an aber, wo wir Miene machen, uns in dem Ganzen zu orientieren, sind wir verloren und bezahlen unsere Wißbegier mit immer wachsender Unruhe. Wir fordern etwas, was uns die Dinge nicht mehr gewähren können. Vielfach zerstört und geschädigt, teilweis niedergerissen, um den Neubauten des Palastes Platz zu machen, schließlich (vor 100 Jahren) unter die Hände eines pietät- und kenntnislosen Architekten geraten, gleicht das Ganze nur noch einer willkürlich zusammengesetzten Scherbenmosaik.12 Der Kitt hat alles tun müssen. Nicht die Frage »paßt es« hat den Architekten beschäftigt, sondern immer nur die Frage »klebt es«.
Der Beobachter ist sichtlich ernüchtert: Darüber, dass ein pittoresker Anblick nicht zwingend ein authentischer sein muss und stattgehabte Historie angemessen wiedergibt, und auch über die Geschichtsvergessenheit und den Mangel an Pietät gegenüber der Würde von Relikten ausgerechnet bei denen, deren Metier es wäre, solche Defizite zu vermeiden, drittens bezüglich der Unmöglichkeit, aus einem historischen Fragment auf das Ganze der Geschichte schließen zu wollen. Ein vergleichbarer Befund stellte sich offenbar auch beim Anblick der ebenfalls im Jahr 1858 besuchten Ruine von Melrose Abbey ein. Sie sei, so Fontane, des »alten Glanzes beraubt«, »besonders da, wo die Hand des Puritanismus nicht bloß niedergerissen, sondern in dem ihm eigentümlichen Nüchternheitsstil auch aufzubauen und zu restaurieren versucht hat.«13 Was er dort in spätromantischer Manier wohl eigentlich gesucht, nicht aber gefunden hatte, mag ansatzweise im Gedicht Melrose-Abbey niedergelegt worden sein:14 Und willst du des Zaubers sicher sein, So besuche Melros’ bei Mondenschein; Die goldne Sonne, des Tages Licht, Sie passen zu seinen Trümmern nicht.
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Berbig, Chronik (wie Anm. 1), S. 907, 11. August 1858; vgl. ebd. S. 910, Eintrag und Anmerkungen zum 19. August 1858 sowie das 1824 entstandene Ölgemälde von Louis Daguerre, The Ruins of Holyrood Chapel (Walker Art Gallery, Liverpool). Fontane, Jenseit des Tweed, HFA III/3, S. 383; vgl. Berbig, Chronik (wie Anm. 1), S. 912, Eintrag zum 24. August 1858 (»unter allen Ruinen, die ich kennen gelernt habe, durchaus die schönste und fesselndste«). Theodor Fontane, Melrose-Abbey, HFA I/6, S. 92 f., hier S. 92.
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Im Reisebericht freilich findet sich bereits das noch im eingangs behandelten Gedicht evozierte Bild:15 Die Kirche wird zum »Steinbruch, dessen Wände und Pfeiler man zerschlug, um nachbarliche Stallgebäude aufzuführen.«16 Die Pietätlosigkeit wie den »Nüchternheitsstil« mit seinen zerstörerischen Folgen beschreibt Fontane so insistierend, dass es naheliegt, anzunehmen, dass sie ihm als Konstanten frühneuzeitlicher bzw. postreformatorischer und selbst noch zeitgenössischer Bautätigkeit vorkamen. Er konstatierte, wenn man so will, das bauliche Ausleben von Aversionen gegenüber dem ›alten‹ Glauben als einen ihm suspekten kulturgeschichtlichen Vorgang. Und selbst dort, wo man im 19. Jahrhundert mit nationalpolitischem Impetus daran gegangen war, Kirchen zu restaurieren, sei stets Entstellung und/oder Zerstörung die Konsequenz gewesen – im dänischen Viborg, wo man einen ursprünglich romanischen Bau zu einem barocken gemacht und ihn dadurch »ganz neu wiederhergestellt« hatte17, ebenso wie in Köln. Anlässlich der Rheinreise des Jahres 1865 formulierte Fontane erneut seine Vorstellungen von bewusst oder unbewusst sinnentleerenden baulichen Maßnahmen und dem Mißverhältnis von christlicher Lehre und Glaubenspraxis in der gesellschaftlichen Realität:18 Der Kölner Dom sei »alles, nur keine katholische Kirche«; »[e]s ist ein Museum und profanes Getreibe«.19 Der dortige Gottesdienstbesuch verschaffte ihm darüber hinaus die Gelegenheit, sich als nicht übertrieben intim mit katholischen Gepflogenheiten vertrauter Preuße zu inszenieren. Dezidiert auf die Leserschaft daheim ausgerichtet und daher wohl auch so ostentativ fremdelnd, notierte er, dass »Weihrauch« »erstickend über den Betern lag«, »das Weihrauchfaß« »geschwungen« und ihm selbst durch all das vermeintlich »himmelangst« –––––––––––– 15
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Vgl. zum Gattungsverständnis bzw. zur Schreibpraxis Fontanes: Michael Ewert, Uneigentliche Briefe. Zum Verhältnis von Briefen, Reisebriefen und Brief-Essays im Werk Fontanes. In: Hanna Delf von Wolzogen und Rainer Falk (Hrsg.), Fontanes Briefe ediert, Würzburg 2014, S. 176–189, hier S. 179 und S. 182 ff. Fontane, Jenseit des Tweed, HFA III/3, S. 382. Theodor Fontane, Reise nach Schleswig-Holstein und Dänemark. 8. bis 28. September 1864, GBA, Tage- und Reisetagebücher 3, S. 30–58, Zitat: S. 50 (Eintrag vom 20. September 1864); vgl. auch die Aussagen über Roeskilde aus dem Jahr 1865 (»Daß dieser Eindruck [der Kirche] nicht mächtiger ist, schiebe ich auf zweierlei: auf die weiße Tünche und auf die Kahlheit der drei Schiffe. Beide herrschen nicht absolut, aber doch mehr als wünschenswert. […] In der Tat, bedenklich wird die Nüchternheit des Tons erst durch die sie begleitende sachliche Kahlheit.« (Theodor Fontane, Reisebriefe aus Jütland, HFA III/3, S. 664)). Theodor Fontane, Reise an den Rhein. 28. August bis 3. September 1865, GBA, Tage- und Reisetagebücher 3, S. 59–83. Rheinreise 1865, HFA III/3, S. 869–894, hier S. 871; vgl. den Artikel Katholizismus in: Helmuth Nürnberger und Dietmar Storch, Fontane-Lexikon. Namen – Stoffe – Zeitgeschichte, München 2007, S. 240-241; vgl. Berbig, Chronik (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 1364 (28. August 1864) (»Der Eindruck den man hat ist so unkirchlich wie möglich«).
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wurde. Das Fazit des Erlebten fiel dementsprechend aus: »Das hält noch eine Weile.« Anders aber als in seinem Gedicht Zum Kölner Domfest (15. Oktober 1880), in dem später das glaubensunabhängige Potential des Baus, eine heterogene Nation zu einen, heraufbeschworen wurde, überwog hier noch die eher journalistisch gelenkte Faszination an der Alterität.20
Abb. 1: Luther-Baum bei Worms, in: Die Gartenlaube, 1883, Heft 28, S. 453.
Begleiten wir Fontane weiter auf seiner Rheinreise: Der Wormser Dom sei zwar »sehr schön, aber völlig kahl, weil ausgeplündert.«21 Und an der Stelle, wo »Luther, auf dem Wormser Reichstag, vor Kaiser und Reich erschien«, stehe heute das, »hübsche Haus des Herrn Heil (eines sehr reichen Lederfabrikanten)«.22 Der in der Nähe befindliche, sich einiger Popularität erfreuende »Lutherbaum« endlich sei, »[w]iewohl er grünt und blüht«, »ganz –––––––––––– 20
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Theodor Fontane, Zum Kölner Domfest (15. Oktober 1889), HFA I/6, S. 572 (»[…] Eins wurde Hohenstauf und Hohenzoller, / Und dieser Dom ist dessen uns Symbol, / Und wie nach Maß und Schönheit ohnegleichen, / Ist er zugleich uns unsrer Einheit Zeichen […]«). Theodor Fontane, Rheinreise 1865, HFA III/3, S. 882; Theodor Fontane, Reise an den Rhein, GBA, Tage- und Reisetagebücher 3, S. 73: »Der Wormser Dorm, schön wie er ist – in Folge der Zerstörungen durch die Franzosen – fast ganz kahl. Erst mit der Zeit soll dem wieder abgeholfen werden.« (im Gegensatz dazu: »Der Speirer Dom ist ein Muster-und Meisterstück von einer restaurierten, romanischen Kirche.« (vgl. Berbig, Chronik (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 1367 (3. September 1865)). Theodor Fontane, Rheinreise 1865, HFA III/3, S. 882.
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hohl.«23 Den Zustand der Sehenswürdigkeit mit dem des zeitgenössischen Protestantismus selbst gleichzusetzen, lässt sich hier kaum umgehen. Die in der schlichten Formel prägnant zugespitzte Ironie changiert auf bemerkenswerte Weise zwischen konziliantem Humor und Abgründigkeit. Ebenso unwirsch wie auf unkundig restaurierte Kirchenbauten reagierte Fontane auf Luther-Devotionalien, wie er sie u. a. bei seiner Thüringenreise 1873 kennengelernt hatte.24 In Schmalkalden fand er dementsprechend Fragwürdiges vor, so etwa in der Kirche die »lateinische Bibel, deren sich Luther beim Gottesdienst bedient haben soll. Sie liegt an einer eisernen Kette.« Auch hier schwingt der ironische Unterton unüberhörbar mit, in Bezug auf offenbar abzuschreckende Trouvaillenräuber ebenso wie auf den Sachverhalt, den Katholizismus pars pro toto ›an die Kette‹ legen zu wollen. Besonders aber echauffierte er sich über die »Lutherstube«: Man habe »nicht das Alte« konserviert, »sondern stiftete etwas Neues«, das sich des Nachweises historischer Korrektheit entziehe.25 Mit distanziertem Blick auf vergleichbare Objekte, nämlich den auf der Veste Coburg aufbewahrten »Lutherkrug« wie das »Lutherbett« konstatierte Fontane schließlich: Es wäre doch vielleicht besser zu sagen: dies ist das Lutherzimmer, hier saß er, hier dichtete er und nun alles andre der Phantasie des Besuchers zu überlassen. Die gewöhnlichen Menschen wollen freilich direkt was haben, auf diese kommt es aber nicht an. Es kommt auf die feinren an, die umgekehrt durch diese Falsa in ihrer Andacht gestört werden.26
Der Luther-Kult sei, so das unbequeme Fazit des Autors nach dem Besuch der Wartburg im Juli 1873, »ein Reliquien-Schwindel allerschlimmster Sorte, gerade weil er einen Mann betrifft, dem all das ein Greuel war, der eben die Wahrheit wollte und nur die Wahrheit. […]«.27 Was für Schottland, das Rheinland, Dänemark oder Thüringen angesprochen wurde, gilt selbstredend auch für mehr oder minder beiläufige Bemerkungen in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg, die hier aus Platzgründen weitestgehend ausgespart werden: Fontane betonte den Konnex von (zerstörerischer) Modernisierung und Glaubensverlust geradezu insistierend. Wiederkehrende ironisch gebrochene Formulierungen (wie z. B. –––––––––––– 23 24 25 26 27
Vgl. Luthertum. In: Nürnberger, Storch, Fontane-Lexikon (wie Anm. 19), S. 287f.; Theodor Fontane, Reise an den Rhein, GBA Tage- und Reisetagebücher 3, S. 74–76. Theodor Fontane, Thüringenreise 1873, HFA III/3, S. 907–912, hier S. 910. Ebd., S. 910–911. Zur Veste Coburg: ebd., S. 912–915, Zitat S. 915. Theodor Fontane, Thüringenreise 1873, HFA III/3, S. 922–926; Berbig, Chronik (wie Anm. 1), Bd. 3, S. 1853; vgl. in diesem Zusammenhang auch Anton von Werners Gemälde: Luther auf dem Reichstag zu Worms aus dem Jahr 1877 in der Staatsgalerie Stuttgart (Inv. 876).
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»nüchterne weiße Tünche«, »sachliche Kahlheit«; »man hat die Tünche heruntergeklopft« oder, mit Blick auf den Turm der Mittenwalder PropsteiKirche aus dem Jahr 1781: »Er passt nicht zur Kirche, nimmt sich aber nichtsdestoweniger gut genug aus.«28) finden sich allenthalben und verunmöglichen es, diese nicht als doppelbödige und zugleich implizite Diagnosen in Bezug auf den Zustand des Glaubens im fortgeschrittenen neunzehnten Jahrhundert zu verstehen.
Rituale und Repräsentanten oder »Zur Andacht riefen Priesterwort und Orgelton« Unter den Nachlass-Fragmenten findet sich ein sehr kurzer Text mit dem mehrdeutigen Titel Mein Kirchenjahr,29 in dem es offenkundig um Kirchenbesuche in Berlin hätte gehen sollen. Die stichwortartige Angabe der zu besuchenden Gotteshäuser (»1. Paulus Cassel« (1821–1892), »2. Dom«, »3. Nicolai«., »4. Klosterkirche«) lässt auf den Plan schließen, das Spektrum gottesdienstlicher Aktivitäten und damit der zeitgenössischen urbanen Glaubenspraxis erzählerisch auszuleuchten. Wieder aufgenommen wird in den wenigen Zeilen insbesondere der Gedanke des nur vermeintlichen Überlebtseins von Glaubensdingen. Ein fiktiver(?) Ich-Erzähler äußert sich dementsprechend hierzu:30 Jeder hat seine Zeit, auf länger oder kürzer, wo er kirchlich wird […]. Die besondre Veranlassung dazu mag auf sich beruhn, kurzum eines Tages, nachdem ich jahrelang ein sehr säumiger Kirchenbesucher gewesen war, fand ich es wieder angezeigt in die Kirche zu gehen. Ganz im Stillen. Ich sprach zu niemand davon. Es hielt ein Jahr lang an und diese Zeit nenn ich mein Kirchenjahr und es ist die Zeit, wo ich viele Kirchen gesehn habe, in die ich sonst nicht gekommen wäre.
Die Differenz zwischen dem tatsächlichen Kirchenjahr und der hier nicht näher bezeichneten, individuell definierten Datierung des Zeitraums deutet auf widerstreitende Prinzipien: Das ›Angebot‹ der Kirchen und die Sinnsuche des Einzelnen ließen sich im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert allem –––––––––––– 28 29 30
Theodor Fontane, Eine Pfingstfahrt in den Teltow, GBA, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 4, S. 268–279, hier S. 271. Theodor Fontane, Fragmente. Erzählungen, Impressionen, Essays. Hrsg. von Christine Hehle und Hanna Delf von Wolzogen, Berlin/Boston 2016, Bd. 1, S. 397. Ebd.; vgl. auch den Eintrag Matthäikirche in: Nürnberger, Storch, Fontane-Lexikon (wie Anm. 19), S. 301; die salopp-liebevolle Haltung der Berliner im Umgang mit ›ihren‹ Kirchen zeigt sich auch an Attributen wie »des lieben Gottes Sommervergnügen« und »Polkakirche« über die Matthäikirche.
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Anschein nach nur noch bedingt und bestenfalls temporär zusammenbringen. Es empfiehlt sich, diesen Sachverhalt weitestgehend unabhängig von privaten Usancen Fontanes zu betrachten und nicht zwingend seine ganz persönliche Sinnsuche dahinter zu vermuten.31 Dies auch und nicht zuletzt, um seinem eigenen Anspruch, als wacher Beobachter ein detailliertes und zugleich kritisch distanziertes Gesellschaftspanorama zu skizzieren, möglichst gerecht zu werden. Denn in der ihn umgebenden Gesellschaft waren z. B. die hohen kirchlichen Feiertage selbstverständlich nach wie vor sehr präsent. In den Reiseberichten Fontanes haben diese Feiertage, aber auch die Gottesdienstgepflogenheiten und die Repräsentanten der Kirche(n) ihren angestammten Platz und zwar aus genau diesem Grund, weil sie eben die Gesellschaft bzw. diejenigen Teile der Gesellschaft, über die er und für die er schrieb, mitsamt deren kollektiver Mentalität nachhaltig charakterisieren halfen. Hierbei unterschied er deutlich zwischen der damals schon verweltlichten Großstadt Berlin und ländlichen Rückzugsgebieten wie dem Spreewald. Hatte der Autor 1839 im Gedicht Am Heil’gen Abend noch im spätromantischen Tonfall mit faustischer Motivik und mittels Negation der Auferstehung die Entfernung vom Glauben, wie er sich in Kirchenglocken und -liedern und den hohen Feiertagen manifestiert, angedeutet,32 so blickte er im Gedicht Berlin 1850 aus dem Jahr 1842 nüchtern auf eine unmittelbar bevorstehende Glaubenszukunft. Geprägt ist diese durch den Autoritätsschwund von Geistlichen, durch die Marginalisierung von christlichem Brauchtum und – vor allem – durch omnipräsentes weltliches Treiben:33 […] Ich begab mich unverzüglich In die fromme Stadt zurück. Dorten wurde höchst moralisch Ganz urplötzlich mir zu Sinn,
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Vgl. z. B. den Tagebucheintrag zum 24. Dezember 1880: »Weihnachten still in der Familie.« (siehe Berbig, Chronik (wie Anm. 1), Bd. 3, S. 2301); vgl. ebd., S. 23–28, den vom 6. März 1881 überlieferten Eintrag über den Besuch eines von Oberhofprediger Rudolf Kögel gestalteten Passionsgottesdienstes im Dom; dazu stellte Henriette von Merckel, die am 22. April 1867 an der Konfirmation von George Fontane in der französischen Kirche teilnahm, fest: »Fontane sowie seine Frau haben ihr Bekenntnis nicht auf den Lippen, wohl aber im Herzen; ich halte ihn für tief religiös, obwohl er fast nie in die Kirche geht. […]« (Berbig, Chronik (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 1446); vgl. Die Fontanes und die Merckels. Ein Familienbriefwechsel. 1850–1870. Hrsg. von Gotthard Erler. Berlin, Weimar 1987, Bd. 2, S. 257. Zitiert nach: AFA, Gedichte II/1, S. 210 (»[…] Plötzlich tönen Kirchenglocken / Aus der Ferne zu mir her, / Meine frohen Lieder stocken, / Und das Singen geht nicht mehr. / Kündet doch des Turms Geläute, / Daß ein Feiertag beginnt, / Daß der Heil’ge Abend heute / Und die Ostern morgen sind. […]«); vgl. ebd., II/2, S. 9f. (Die Christnacht), und S. 211, Am Bußtage. Ebd., Bd. 2, S. 298.
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Oder war’s nur theatralisch, Kurz, ich ging zur Kirche hin.34 Wunderbar! – Zur Andacht riefen Priesterwort und Orgelton, Aber die Berliner schliefen Allesamt und schnarchten schon. Mir zur Seite sprach im Traume Eine Köchin äußerst fromm: »Wilhelm, komm! im Jrienen Baume Ist Musik und Tanz; – oh, komm.«
Der Kontrast zu Fontanes quasi-ethnologischen Beobachtungen auf dem Land könnte kaum größer ausfallen. Sein besonderes Interesse galt dort den zu dieser Zeit noch sehr lebendigen frommen Traditionen. In Lübbenau beeindruckten den Besucher aus der Stadt demgemäß die altertümlichen Trachten ebenso wie die Trennung der Geschlechter während eines Trauergottesdienstes und die Unterscheidung der auf ihn emotional wirkenden Predigtsprache Wendisch von der Amtssprache Deutsch.35 Das Archaische des Gesamtbildes berührte ihn wegen der Ungebrochenheit, Authentizität und Ehrlichkeit der Lebensform. Dass er diese so facettenreich kennenlernen konnte, verdankte er der »Spreewaldsautorität« »Kantor Klingestein«, der ihn in Kätner Posts Garten einführte.36 Auch wenn Fontane sich zunächst etwas skeptisch in Bezug auf den »Konventikler« Post gab und ihn von vornherein pietistischen Kreisen zurechnete, so war er doch in hohem Maße fasziniert von dessen beharrlicher, von Zeitläuften weitestgehend unbeeindruckter Glaubensintensität, die in so krassem Gegensatz zur profanierten urbanen Lebenswelt stand. Solche Beharrlichkeit und Resilienz meinte Fontane in erster Linie bei den sektiererischen Formen des Glaubens ausmachen zu können, wie sie etwa August Hermann Francke (1663– 1727) und Nicolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) mit eindrücklicher Strahlkraft vorgelebt und verkörpert hatten. Die ausführliche Schilderung der Wirksamkeit des »schöne[n] Zinzendorfsche[n] Lied[s]« Jesu geh voran, das die anwesenden Kinder vortrugen, spricht Bände in Bezug auf den gewaltigen Resonanzraum des gefühlvollen und auf Gefühlserforschung ausgerichteten und eben gerade nicht aufgeklärt-vernunftgesteuer–––––––––––– 34
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Den chronisch-ironisch gebrochenen Konnex von Kirchgang und Theatralik betonte Fontane auch an anderer Stelle. Vgl. Berbig, Chronik (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 38, hier bezogen auf das Jahr 1840 und die Teilnahme am Lenau-Club, den man »mit der Feierlichkeit eines Kirchengängers, ja sogar sonntäglichen Aufgeputztheit eines solchen […]« besuche. Theodor Fontane, In den Spreewald, GBA, Wanderungen durch die Mark Brandenburg 4, S. 9–11, passim. Theodor Fontane, In Kätner Posts Garten, ebd. S. 16–20.
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ten 18. Jahrhunderts: »Das Lied hätte die doppelte Zahl von Strophen haben können, wir wären willig gefolgt. Es hatte jeden von uns ergriffen […]«.37 Fontane scheint ein besonderes Sensorium für diese, vom spezifisch protestantischen Liedgut evozierte Gemütsbefindlichkeit gehabt zu haben. Im Spreeland-Band der Wanderungen wird demgemäß nicht allein das Wirken von Paul Gerhardt (1607–1676) thematisiert, sondern insbesondere auch dessen im besten Sinne volkstümliches Abendlied, das Fontane zum »Musterstück einfachen Ausdrucks und lyrischer Stimmung« erklärte und dessen Urheber ihm wie kaum ein anderer als Inbegriff echter protestantischer Geisteshaltung galt.38 Ein ausführliches Kapitel wird hier auch dem heute kaum mehr bekannten, gleichwohl aber im neunzehnten Jahrhundert noch seiner verbreiteten Liedersammlung wegen vertrauten Prediger und Liederdichter Ernst Gottlieb Woltersdorf (1725–1761) gewidmet, der ebenfalls einschlägig, nämlich pietistisch sozialisiert worden war.39 Fontane zitiert in diesem Abschnitt Woltersdorfs eigene Beschreibung des dem Verseschmieden und Liederdichten zugrundeliegenden kreativen Prozesses.40 Der dichterische Furor, den Woltersdorf als »Brand im Herzen« und »poetisches Feuer« beschrieb,41 mag Fontane dabei in zweierlei und zugleich sehr unterschiedlicher Hinsicht beschäftigt haben. Woltersdorf sei »bescheiden und bewußt – jedes an rechter Stelle«, dazu »ein Psychographendichter«,42 ein Medium also, dass vom göttlichen Feuer inspiriert schreibt und somit eine Art ›poeta vates‹ der Lieddichtung. Dass Fontane auf eine geradezu gegenteilige Weise arbeitete und schrieb (oder es jedenfalls so wahrnahm), ist von ihm selbst thematisiert worden.43 Unabhängig davon dürfte ihm Woltersdorfs sperriges Christentum ebenso imponiert haben wie dasjenige Paul Gerhardts. –––––––––––– 37 38
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Jesu geh voran (EKG Nr. 391). Nun ruhen alle Wälder (EKG 361); vgl. Theodor Fontane, Mittenwalde, GBA, Wanderungen durch die Mark Brandenburg 4 (Spreeland) S. 268–279, hier S. 273; Gerhardt, Paul. In: Nürnberger, Storch, Fontane-Lexikon (wie Anm. 19), S. 172. Theodor Fontane, Friedrichsfelde. In: GBA Wanderungen durch die Mark Brandenburg 4, S. 132–162, hier S. 155 f. Ebd., S. 157–159; vgl. Neue Lieder oder Evangelische Psalmen, welche bisher sowohl einzeln als auch in kleinern Sammlungen herausgekommen, zum Theil aber noch ungedrukt geblieben, und nun auf Begehren in eine vollständige Sammlung gebracht sind. Schleusingen 1768. Ebd., Zitate: S. 157 und S. 158. Ebd., S. 158 und S. 159. Vgl. den Brief an Emilie Fontane vom 13. Januar 1857, GBA Ehebriefwechsel 1, S. 478– 483, hier S. 481: »Ich bin gewiss eine dichterische Natur, aber ich bin keine große und reiche Dichternatur. Es drippelt nur so. Der einzelne Tropfen mag ganz gut und klar sein, aber es ist und bleibt nur ein Tropfen, kein Strom auf dem die Nationen fahren und hineinsehn in die Tiefe und in das himmlische Sonntagslicht das sich drin spiegelt.«.
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Dies allein schon deshalb, weil er einen feinen Sinn für die Spielarten des Verschrobenen, Schrägen und Unangepassten namentlich bei Kirchenrepräsentanten hatte. Erinnert sei hier nur am Rande an die im Romanwerk häufig, aber auch in den Werkfragmenten nicht selten auftretenden Theologen und Missionare herrnhuterischer oder sonstiger nonkonformistischer Prägung,44 denen meist etwas Angestaubt-Altertümliches, Querständiges und aus der Zeit Gefallenes anhaftet: Consistorialrath Suffragan und Hofprediger Verulam aus Allerlei Glück45 zählen hierzu ebenso wie die »Missionsfest«-Teilnehmer in Storch von Adebar,46 Domkandidat Kippelskirch47 oder der ungleich bekanntere Pastor Lorenzen aus dem Stechlin. In diesem Zusammenhang lässt es sich entweder als Reverenz oder als Teil der vom Autor so gern bedienten »Ulkereien mit den Namensgebungen« deuten – oder als beides –, dass der Name des Liederdichters Woltersdorf in Allerlei Glück bei der »Geheimräthin Woltersdorf« wieder aufgenommen wird.48 Wie viel Respekt Fontane darüber hinaus vor den traditionsbewussten Pastoren in den ländlichen Rückzugsgebieten hatte, und wie viel Verständnis er für deren Sorgen wegen des Glaubensdingen abgewandten Zeitgeistes aufbrachte,49 beschrieb er im Spreeland-Band mit großer Sympathie. Der im »Schlußwort« als Dank für die Mitarbeit verankerte Hinweis auf Oliver Goldsmiths (1728–1774) Vicar of Wakefield, auf einen idealtypischen Geistlichen also und dazu auf den gleichfalls im 18. Jahrhundert fest verankerten Begriff der »Idyll[e]«, unterstreicht, wie Fontane die Tätigkeit solcher Theologen wahrnahm: »Lehn- und Sorgenstuhlpastor[en]« seien sie, ganz so wie sie auch in der Luise von Johann Heinrich Voß beim »Pfarrer von Grünau«50 –––––––––––– 44 45
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Vgl. den Artikel Herrnhut in: Nürnberger, Storch, Fontane-Lexikon (wie Anm. 19), S. 208f. Allerlei Glück in: Theodor Fontane, Fragmente (wie Anm. 29), Bd. 1, S. 103–173, vgl. z. B. S. 71, 72, 105 (dort auch die »Missions-Närrin«, »die Bazare veranstaltet, Puppenausstellungen für die INDIAN BOYS AND BABIES«), S. 139; vgl. hierzu: Petra S. McGillen, Poetische Mobilmachung im Textbaukasten. Fontanes Listen und die Kunst der Weiterverwendung – der Fall »Allerlei Glück«, in: Hanna Delf von Wolzogen und Christine Hehle (Hrsg.), Formen ins Offene. Zur Produktivität des Unvollendeten, Berlin, Boston 2018, S. 97–119, hier S. 115, und ebd., Hanna Delf von Wolzogen, »Eine gefährliche Lektüre.« Fontane liest Schopenhauer, S. 120–144, hier S. 125, Anm. 21. Vgl. Theodor Fontane, Fragmente […] (wie Anm. 29), Bd. 1, S. 176–227. Theodor Fontane, Ehen werden im Himmel geschlossen, in: ebd., Bd. 1, S. 313–318, hier S. 318. Theodor Fontane an Theodor Wolff, 28. April 1890, HFA IV/4, S. 38; vgl. den Artikel Pastoren, in: Nürnberger, Storch, Fontane-Lexikon (wie Anm. 19), S. 343f. Theodor Fontane, Schlußwort, GBA, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 4, S. 443; vgl. [Oliver Goldsmith], The Vicar of Wakefield: A Tale. Supposed to be written by Himself, Salisbury 1766. Vgl. Johann Heinrich Voss, Luise. Ein lændliches Gedicht in drei Idyllen, Königsberg 1795; (3. Idylle: Der Brautabend); Zitat: Theodor Fontane, Schlußwort, in: GBA, Wanderungen durch die Mark Brandenburg 4, S. 444.
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beschrieben worden waren und damit zugleich Relikte eines längst vorübergegangenen Zeitalters.
Fontane und die öffentliche Festkultur oder »Land-Fremde waren wir, nicht Herzens-Fremde«51 Dass die etwa zwanzigtausend Hugenotten, die als Calvinisten von Frankreich kommend seit 1685 Berlin und Brandenburg auf Basis des von Friedrich Wilhelm I. erlassenen Edikts von Potsdam besiedelten, wichtige Impulse für die Entwicklung des Landes gegeben hatten und für den kulturellen Fortschritt auch dem Selbstverständnis nach von immenser Bedeutung waren,52 unterstrich der von Fontane anlässlich der Feierlichkeiten des 200jährigen Bestehens der »Kolonie« am 1. November 1885 vorbereitete Prolog mehr als deutlich.53 Die zugehörigen Tagebucheinträge spiegeln die epochentypische Festkultur mit sechs »Tableaux vivantes«, »Festspiel«, »Souper und Tanz«.54 Auch wenn der eigentliche ›Kulturkampf‹ bereits im Begriff war beigelegt zu werden, so steht der Text doch sichtlich unter dessen Eindruck. Die Relevanz der konfessionellen Zugehörigkeit und deren Konsequenzen für die bürgerliche Existenz wie die Freiheit des Denkens waren und blieben für den Autor überzeitlich aktuell: Zweihundert Jahre, daß wir hier zu Land Ein Obdach fanden, Freistatt für den Glauben Und Zuflucht vor Bedrängnis der Gewissen. Ein hochgemuter Fürst, so frei wie fromm, Empfing uns hier, und wie der Fürst des Landes Empfing uns auch sein Volk. Kein Neid ward wach, Nicht Eifersucht – man öffnete das Tor uns Und hieß als Glaubensbrüder uns willkommen. Land-Fremde waren wir, nicht Herzens-Fremde. […]
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53 54
Theodor Fontane, Prolog zur Feier des zweihundertjährigen Bestehens der Französischen Kolonie (1. November 1885), HFA I/6, S. S. 535f.; vgl. ebd., S. 536–539, auch: Zum 26. Oktober 1885. Aus Anlaß der 200-Jahrfeier des Ediktes von Potsdam. Vgl. Manuela Böhm, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungsorte der Berliner Hugenotten, in: Roland Berbig, Iwan-Michelangelo D’Aprile, Helmut Peitsch und Erhard Schütz (Hrsg.), Berlins 19. Jahrhundert. Ein Metropolen-Kompendium, Berlin 2011, S. 473–490, hier S. 482. Vgl. den Artikel »Calvinismus« in: Nürnberger, Storch, Fontane-Lexikon (wie Anm. 19), S. 84, und ebd., S. 250, den Artikel »Kolonie, Französische«. Vgl. Berbig, Chronik (wie Anm. 1), Bd. 4, S. 2754f.
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Das ›Wir‹, das Fontane hier so ostentativ postulierte, zeugt dabei von bemerkenswert ausgeprägtem Selbstbewusstein, willentlichem Insistieren auf Alterität wie vom dauerhaft kultivierten Wissen, »älterer Kultur und wärmrer Sonne« zu entstammen, und, anlasserzwungen konventionell, auch von Dankbarkeit. In der steigernden Formel »Obdach«, »Freistatt für den Glauben«, »Zuflucht vor Bedrängnis der Gewissen« aber zeigte der Autor, wie er eigentlich gewichtet wissen wollte: In gewisser Hinsicht als Erbteil der Aufklärung wog die Freiheit des Gewissens dabei augenscheinlich schwerer als die des Glaubens. Es mag sein, dass der festliche Rahmen diese Aussage insgesamt etwas relativiert. Ebenso aber kann es sein, dass sie ernster gemeint war, als es der Anlass nahelegt.
Abb. 2: Oscar Begas, Der Empfang der Salzburger Protestanten durch König Friedrich Wilhelm I. und den Kronprinzen Friedrich zu Potsdam 1732,1862, Öl auf Leinwand, 152 x 115 cm, BEGAS HAUS – Museum für Kunst und Regionalgeschichte Heinsberg, Leihgabe aus Privatbesitz Foto: BEGAS HAUS/Friedrich Rosenstiel, Köln.
Die evident enge Verzahnung von politischem Kalkül und Konfession hatte Fontane bereits im Jahr 1862 ausgiebig beschäftigt, als er vom Besuch der Berliner Akademie-Ausstellung berichtet hatte. Dort waren ihm zwei Gemälde besonders aufgefallen, die den Empfang der Salzburger Protestanten durch König Friedrich Wilhelm I. im Jahr 1732 thematisieren. Eines stammt von Franz Cretius (1814–1901), das zweite, vom Kritiker bevorzugte, von Oscar Begas (1828–1883), einem damals sehr bekannten Porträt-
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und Historienmaler.55 Mit einiger Sympathie für beide Bilder und doch mit kritischem Blick für deren Schwächen zitierte Fontane zunächst die Chronik-Stelle, auf die sich Begas bezogen hatte. Dabei hob er das Bilddetail der noch eingerüsteten Garnisonskirche, in der König wie Kronprinz später dann bestattet wurden, als geistreiche Idee hervor. Insgesamt aber zeigte er sich unbefriedigt von der Darstellung der Salzburger Glaubensflüchtlinge:56 Das »Kostüm« bemühe sich »salzburgisch« zu sein; »einige Gestalten« könnten »vielleicht mehr davon haben«; das Mädchen linker Hand kam ihm hingegen »allzu modern« vor. Gänzlich abwegig sei dazu dessen »schelmische[] Vertraulichkeit«, ganz so, als wolle sie den König, »auffordern, ›Bäumchen, Bäumchen, verwechselt euch‹ mit ihr zu spielen«. Dabei sei Friedrich Wilhelm I. »wirklich der letzte, in dessen Jupiter tonans Gegenwart« sich »arme Emigrantentöchter« derlei getraut hätten. Und auch der »Alte in grüner Jacke« entsprach so gar nicht Fontanes Vorstellungen vom historischen Ereignis selbst, dessen Beteiligten und einer quellenbasierten, sachlich korrekten Darstellung. Auf ihn mache der Alte »mehr den Eindruck eines Slawen als eines Salzburgers«; es »ruft uns weniger das Bild eines Emigranten vor die Seele, der Glaubens halber sein Vaterland verlassen hat, als vielmehr das Bild eines polnischen Bauern, der seinem Gutsherrn den Rockzipfel küßt«. Kurzum: Fontanes Befund lautete, dass der Maler Begas, bei allem Respekt für sein Handwerk, mit wenig Wissen und Verständnis für den historischen Vorgang selbst das Ereignis verfehlt bzw. historistisch verlogen darstelle. Nicht nur Architekten passierte das also beim Restaurieren, sondern auch denen, die sich anschickten, Historie mit anderen Mitteln zu interpretieren.
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Vgl. HFA III/5, S. 482–485; Wolfgang Cortjaens, Oscar Begas. 1828–1883. Ein Berliner Maler zwischen Hof und Bourgeoisie. Biografie und Catalogue Raisonné seiner Gemälde, Petersberg 2017, S. 142-144; vgl. auch den Artikel Begas, Reinhold in: Nürnberger, Storch, Fontane-Lexikon, (wie Anm. 19), S. 52; Franz Cretius, Empfang der Salzburger Protestanten durch König Friedrich Wilhelm I. in Berlin am Leipziger Tor am 30. April 1732 (Öl auf Leinwand, 109,5x142cm, Privatbesitz); Oscar Begas, Empfang der Salzburger Protestanten durch König Friedrich Wilhelm I. und den Kronprinzen Friedrich zu Potsdam am 29. April 1732 [1862] [WV 141], Öl auf Leinwand, 152x115cm; Privatbesitz als Dauerleihgabe im Begas Haus, Heinsberg). Ebd., S. 483f.
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Seelennöte auf dem Schlachtfeld oder »Helm ab zum Gebet!«57 Dass sich Fontane als Kriegsberichterstatter mit der gewaltigen Diskrepanz zwischen dieser, für seine Epoche so charakteristischen Spielart von Geschichtsklitterung und realem Kriegsgeschehen kritisch auseinandersetzte, obwohl er sich damit temporär und aufgrund äußerer Zwänge durchaus zu arrangieren vermochte, ist kaum zu übersehen. Trotz dieser geschärften Wahrnehmung für abgeschmackte Instrumentalisierungen, die ihn auch eine aus Machtgier und Geltungssucht verbogene protestantische Staatskirche kritisieren ließ, ist es nicht leicht, die tatsächlichen Grenzen seines eigenen affirmativen Denkens auszuloten. So zitierte er im Umfeld der Pariser Ereignisse des Jahres 1871 eine heute eher ungut anmutende Kreation des evangelischen Kirchenlieddichters und »Consistorial-Raths und Superintendenten der Graffschaft Wernigerode« Julius Karl Arndt (1820–1888), der Gesangbuch-Versatzstücke mit kriegsverherrlichenden Aussagen, die in die Wiederholung des militärischen Kommandos »Helm ab zum Gebet« münden, verquickte.58 Fontanes durchaus ambivalenter Kommentar lautet: »So klang es daheim, während in Frankreich die erste Staffel unsrer Armeen zum Aufbruch rüstete.«59 Das kann man nun tatsächlich so oder so verstehen, als verächtlichen Hinweis auf ein Trockenschwimm-Manöver eines Wernigeroder Geistlichen, der wirklich nichts vom wirklichen Krieg wusste. Oder aber als tatsächlich staatstragenden und schnöde Wirklichkeit überhöhenden Text, den Fontane auf diese Weise sozusagen nicht selbst formulieren und damit auf die eigene Kappe nehmen mußte. Wie entsetzlich der Krieg wirklich wahr, wusste Fontane zu diesem Zeitpunkt längst und aus eigener Anschauung, und dazu auch, was er selbst bei glaubensfernen Menschen in existenziell zugespitzten Krisensituationen –––––––––––– 57
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Vgl. Theodor Fontane, Der Krieg gegen Frankreich, HFA III/5, S. 443–454 (Von den Versailler Friedenspräliminarien (2. März) bis zum Friedensschluss in Frankfurt a.M. (10. Mai. Rückkehr. Einzug), Zitat: S. 444. Ebd., S. 443f. (»Horch! wie es tönt bei Tränenflut: / Helm ab zum Gebet! / ›Jesus unsre Zuversicht!‹«). Ebd., S. 444; vgl. Julius Karl Arndt, Ueber Erhaltung christlich deutscher Volkssitten. Vortrag, gehalten im Evangelischen Vereinshause zu Berlin, Berlin 1871; Buschbeck-Helldorff’s Feld-Taschenbuch für Offiziere aller Waffen der Deutschen Armee zum Kriegs- und Friedens-Gebrauch. Zweiter Theil, Berlin 1874, S. 50–64, hier S. 60: »Das Militair-Kirchenwesen […] [:] LITURGIE, welche stets mit entblösstem Haupte angehört wird – PREDIGT, während welcher das Haupt bedeckt wird. – GEBET, welches mit entblösstem Haupte angehört wird«; Hans Kiskalt, Helm ab zum Gebet. Unchristliches und Christliches zum Krieg, Frankfurt am Main 1988, S. 146; bis heute ist die Formel Teil des Großen Zapfenstreichs: Nach erfolgtem Kommando halten die Solden den Helm mit der linken Hand vor der Brust.
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auszulösen vermochte. 1866 hatte er bei Königgrätz diesbezüglich einschneidende Erlebnisse gehabt, die er mit eigenen Worten oder andere zitierend weitab von jeglicher Kriegsverherrlichung und mit scharfem Blick für bedrohliche, jegliche Konfessionsgrenzen sprengende Situationen mitteilte:60 In der Chlumer Kirche […] lagen die Verwundeten in so dichten Schichten, daß man mit äußerster Behutsamkeit hingehen mußte, um keinen zu verletzen. […] Mancher von den Verstümmelten sah auf die Toten und seufzte vor sich hin: »wär’ ich erst so weit.« Gebete wurden gesprochen; deutsch, polnisch, böhmisch, ungarisch klang es laut und leise durcheinander. [Bericht eines Offiziers]: »Ohne ein gewisses Ziel zu verfolgen ritt ich weiter, und gelangte zu einer Muttergottesstatue. Ach, welch ein trauriges Schauspiel bot sich hier dar! Um die Statue herum lagen wohl an zwanzig Tote mit geöffneten, gebrochenen Augen, die nach dem Marienbild hin gerichtet waren. Andre hielten Rosenkränze und Kruzifixe in den Händen; sie hatten wahrscheinlich bis zu ihrem Ableben gebetet. […] Ich sprang vom Pferde und kniete nieder um für die Toten zu beten.«
Auffällig ist es, in welcher Intensität Elementares und Althergebrachtes des christlichen Glaubens hierbei zur Sprache gelangt: das Abendmahl, Gebete, Choräle, Rosenkränze, Kruzifixe und ein Marienbildnis. Mochte das Zeitalter zwar schon ent-kirchlicht im wissenschaftlichen Sinne sein, Reste des individuellen Glaubens beharrten gleichwohl. Solches Rückbesinnen in allerernstesten Lebenssituationen wie im Angesicht des Todes thematisierte Fontane wohl nicht von ungefähr auch im bereits erwähnte Fragment Mein Kirchenjahr: »Lassen Sie sich von alten Soldaten erzählen, wie’s da aussieht, wenn’s in den Krieg geht oder direkt in die Schlacht, da will jeder noch retten was zu retten ist und der Ungläubigste giebt eine Gastrolle beim Glauben.«61 Fontane selbst scheint diese »Gastrolle«, die willentliche Rückbesinnung also auf etwas, das man durch Verstandesargumente längst abgelegt zu haben meint, mitunter widerwillig übernommen zu haben: In Gedichten der späteren Jahre ist eher vom dunklen Ausgang des Lebens durch den Tod die Rede als von der Auferstehung von den Toten. In Meine Gräber werden Gräber und nichts sonst beschrieben, Am Grabe der Gräfin Amelie von Pudagla, geb. von Vitzewitz (1876) wird am Ende der wenig fromme Wunsch ausgesprochen: »Sei dir die Erde leicht.«62 Ob er die Glaubensdinge –––––––––––– 60 61 62
Theodor Fontane, Der deutsche Krieg von 1866, HFA III/5, S. 117–325, hier S. 303ff.; Zitate: S. 302 und S. 305. Theodor Fontane, Fragmente (wie Anm. 29) Bd. 1, S. 397. Vgl. AFA Gedichte I, S. 41 (Ausgang), 42f. (Meine Gräber), S. 358 (Grabschrift (Auf einem Grabstein im Kirchhof von Melrose-Abbey)); II, S. 118 (Am Grabe der Gräfin Amelie von Pudagla).
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in eigener Sache wirklich so sah? Mit Theodor Fontane möchte man sagen: »Man kann es nicht wissen«.
Doppeltes Erbe Erzählte Aufklärungsskepsis und ›erlebte Judenfrage‹ bei und nach Fontane Mike Rottmann […] möchte ich der Welt und der Geschichtsschreibung zeigen, wie man solchen Stoff überhaupt zu behandeln hat, gründlich und doch nicht langweilig.1 Es ist überhaupt besser, den Einzelfall zu beschreiben, als durch eine noch so bestechende Terminologie neue Irrtümer zu erzeugen.2
Zwei leitende Aspekte, die das Exposé dieser Tagung als Frageanreiz ausgewiesen hat, werden in diesem Aufsatz zusammengeführt und exponiert: In erster Instanz werden zunächst Feststellungen über einen Gesichtspunkt »fundamentaler Aufklärungsskepsis« in Theodor Fontanes Erzählwerk getroffen, um in einem komplementär gedachten zweiten Schritt sodann ein Merkmal von »Produktivität« herauszuarbeiten, die sich annähernd ›zeitlos‹ aus Fontanes Literatur ergeben kann und, wie zu zeigen sein wird, faktisch ergeben hat. Lassen sich beide Formen überzeugend auf die Aufklärung beziehen, dann kann von einem ›doppelten Erbe‹ dieser Epoche gesprochen werden – ein Erbe, das bis in die Gegenwart reicht. Stichhaltig ist diese zweipolige Referenz, sofern sich zwei einleitend ausgeführte (I) und prospektiv entfaltete Beobachtungen verifizieren und zueinander in Beziehung setzen lassen. In einem anschließenden zweiten Teil (II) erfolgen kursorische Rekapitulationen zur deutsch-jüdischen Geschichte und zur Problemkonfiguration Aufklärung/Gegenaufklärung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, denn hier zeigt sich, wie Politik- und Literaturgeschichte ineinandergreifen. Wenn anschließend exemplarisch drei literarische Texte aus Fontanes späterem Werk beleuchtet und nach Maßgabe der ersten Leitthese – Aufklärungsskepsis – erörtert werden sollen, so bedarf es einer vorangestellten Verständigung darüber, welche Inhalte der Aufklärung überhaupt strittig werden konnten. Die Betrachtungen zu L’Adultera, Poggenpuhls
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Theodor Fontane an Heinrich Jacobi, 23. Januar 1890, HFA IV/4, S. 18. Kurt Blumenfeld an Hannah Arendt, 5. November 1954. In: Kurt Blumenfeld, Im Kampf um den Zionismus. Briefe aus fünf Jahrzehnten, Stuttgart 1976, S. 256.
https://doi.org/10.1515/9783110666984-012
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und Mathilde Möhring wollen gezielt bedenken, welche literarischen Mittel als Indikatoren der vermuteten erzählten Aufklärungsskepsis namhaft gemacht werden können. So impliziert etwa der Dialog um »Hugos Nathanschaft« in Mathilde Möhring einen weitausgreifenden gegenwarts- und aufklärungskritischen Hof, weniger dagegen transportiert dieses Gespräch bloß illustrativ Symbole bürgerlicher Kulturbeflissenheit. Im dritten und abschließenden Teil (III) soll ein kurzer Ausblick auf die Rezeption Fontanes den Nachweis erbringen und punktuell illustrieren, dass seinen Texten eine aufklärungsfördernde »Produktivität« insofern (und ganz ungeachtet jedweder Intentionalität) eignet, weil sie von jüdischen Intellektuellen gerade nach 1945 herangezogen wurden, um sich in Ergänzung geschichtswissenschaftlicher Expertise die komplexe Vielstimmigkeit innerhalb der deutschen Gesellschaft zu vergegenwärtigen. Die ernsthafte Rezeption von Fontanes Erzählungen auch als ›Quelle‹ führt bereits den Nachweis, dass diese Texte einen Beitrag zum Verstehen geleistet haben und weiterhin leisten können.
I. Erzählte Aufklärungsskepsis: Fontanes spätes Erzählwerk Fontanes Auseinandersetzung mit der »modernen Judenfrage«, die – einer Formulierung Hannah Arendts folgend – »aus der Aufklärung datiert«,3 vollzog sich auf eine bislang unzureichend untersuchte Weise auch als Kritik an der Aufklärung aus der Perspektive eines Repräsentanten der bürgerlichen Kultur.4 Die Rückführung von – als problematisch empfundenen – gesellschaftlichen Umbrüchen auf die Aufklärung erfolgte unter Einschluss polemischer Abrechnungen nicht zuletzt deshalb so kämpferisch, weil das ›Projekt Aufklärung‹ in der zweiten Jahrhunderthälfte und zumal im liberalen Bildungsbürgertum eine fortlaufende Aktualität besaß und als »noch zu
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Hannah Arendt[-Stern], Aufklärung und Judenfrage. Zuerst in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 4 (1932), S. 65–77. Zitiert nach Hannah Arendt, Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Barbara Hahn, Hermann Kappelhoff, et al. Bd. 3, Göttingen 2019, S. 115–129, hier S. 115. Der strukturelle Zusammenhang, den Historiker längst beschrieben haben, muss in der Literatur freilich individuell nachgewiesen werden. Vgl. z.B. Jürgen Kocka, Das europäische Muster und der deutsche Fall. In: Ders. (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Bd. 1: Einheit und Vielfalt Europas, Göttingen 1995, S. 9–75, hier S. 19: »Bürgerliche Kultur wurzelte auch in der Aufklärung.«
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erreichendes Ziel bejaht« wurde.5 Fontanes »scharfer Blick für alle Eigentümlichkeiten des modernen Lebens«,6 seine historiographischen und proto-soziologischen Interessen richteten sich beständig auch auf die gesellschaftliche Lage der deutschen Juden. Im Anschluss an Henry Remaks fundiertes Aperçu, demzufolge Fontane »sieht, versteht, darstellt« und sich in seiner künstlerischen Darstellung auf die Abbildung des »sowohl als auch« und das »ja, aber« und das »nein, jedoch« kapriziert, hat Hans Otto Horch diese Fähigkeit als ein Element ausgewiesen, das Fontane »einerseits mit der Aufklärung, andererseits mit der Moderne der Jahrhundertwende« in Verbindung bringt – hierbei bedarf es jedoch des weiterführenden Hinweises, dass die zu recht konstatierte Verbindung zwischen Aufklärung und Moderne spannungsreich, mithin wenig harmonisch ausfällt.7 Als historiographisch interessierter, journalistisch versierter, in vielfältigen Kommunikationsverhältnissen stehender Autor war Fontane über die öffentlichen Debatten und zahlreichen, oft publizistisch geführten Auseinandersetzungen hervorragend informiert. Fontane hatte Zugriff auf den innerjüdischen Aufklärungs- und Emanzipationsdiskurs, denn sein langjähriger Wegbegleiter Moritz Lazarus beteiligte sich, als einer von vielen, an dieser Debatte. In seiner Stellungnahme Gedanken über Aufklärung schrieb Lazarus: »Nicht aufgeklärt sein, sondern werden ist das Wichtigste; der Proceß ist der wesentliche Gewinn für die Veredelung des Geistes, ist seine Erhebung auf die Höhe wahrer Menschlichkeit.«8 Will man im Anschluss an Georg Bollenbeck die »ungebrochene Präsenz der Aufklärung in der Basis-Semantik des Bildungsbürgertums« untersuchen und sich zugleich der Einschätzung anschließen, dass sich – an Ideale der Aufklärung anschließende – »individuelle Lebenserfahrung[en] und autonome Lebensentwürfe« »erst spät, […] nach
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Georg Bollenbeck, Die Abwendung des Bildungsbürgertums von der Aufklärung. Versuch einer Annäherung an die semantische Lage um 1880. In: Wolfgang Klein, Waltraud Naumann-Beyer (Hrsg.), Nach der Aufklärung? Beiträge zum Diskurs der Kulturwissenschaften, Berlin 1995, S. 151–162. Umfassender auch Ders., Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880–1945, Frankfurt am Main 1999, S. 84–98 und passim. Gustav Karpeles, Allgemeine Geschichte der Literatur von ihren Anfängen bis auf die Gegenwart. Neue Ausgabe fortgeführt bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Zweiter Band. Zweite Abteilung, Berlin 1901, S. 682. Hans Otto Horch, Theodor Fontane, die Juden und der Antisemitismus. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 281–305, hier S. 281. Moritz Lazarus, Gedanken über Aufklärung. In: Ders., Ideale Fragen in Reden und Antworten, Berlin 1878, S. 276–362, hier S. 289. Ob und inwieweit es sich bei Lazarus insgesamt um einen ›Parteigänger des Antisemitismus‹ und insofern um einen Agenten des jüdischen Selbsthasses handelt, wird kontrovers diskutiert. Vgl. nur Sander L. Gilman, Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden, Frankfurt am Main 1993, S. 120–123.
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dem ideengeschichtlichen Ende der Aufklärung«9 realisiert haben, dann erweist sich Fontanes spätes Erzählwerk (1880 bis 1896) als einschlägig belastbar und in der Folge als exemplarisch zu untersuchender Komplex. Wie zu zeigen sein wird, verschränken sich Aufklärungsskepsis und die Verhandlung der ›Judenfrage‹ sowohl in den Erzählungen L’Adultera und Die Poggenpuhls als auch in dem unabgeschlossenen Erzählentwurf Mathilde Möhring. Für die Beurteilung der Rezeption von Fontanes Erzählwerk und den darin bezeugten Problemen deutsch-jüdischer Geschichte muss weiterhin bedacht werden, dass sich das gestaltende und reflexive Interesse von Literatur und Kunst – im 19. Jahrhundert, aber auch im 20. Jahrhundert – nicht bloß auf politikferne Bereiche beschränkte.10 Vielmehr galten Literatur und Kunst als »die Sphäre, in der innerhalb bürgerlicher Kreise mit am intensivsten und auf jeden Fall mit der größten gesellschaftlichen Breitenwirkung über das eigene Selbstverständnis und die eigene Gegenwart reflektiert wurde.«11 Ein Beispiel mag die semantisch transformierte Aufklärungsskepsis im Zentrum bürgerlicher Selbstverständigung illustrieren: Fontane hatte am 30. Januar 1879 – ein Jahr vor der Eskalation des ›Berliner Antisemitismusstreits‹ – die Inszenierung von Karl Gutzkows Drama Uriel Acosta im Königlichen Theater Berlin besucht und am 1. Februar eine Kritik publiziert. Fontane moniert dort den »lichtfreundlichen Liberalismus aus der ersten Hälfte der 40er Jahre, der mit oeden Redensarten das Bestehende zu dethronisieren und eine schönere Zeit heraufzuführen trachtete.«12 Wenn Fontane seine Leser vor den Verheißungen des »lichtfreundlichen Liberalismus« warnte, mochte er dabei an Reden wie diese des Gutzkow’schen Uriel gedacht haben:
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Bollenbeck, Die Abwendung des Bildungsbürgertums von der Aufklärung (wie Anm. 5), S. 153 und Anm. 6. Vgl. Florian Krobb, Selbstdarstellungen. Untersuchungen zur deutsch-jüdischen Erzählliteratur im neunzehnten Jahrhundert, Würzburg 2000, S. 11–23. Manfred Hettling, Der Bürger im Roman des 19. Jahrhunderts. In: Ders., Politische Bürgerlichkeit, Göttingen 1999, S. 291–317, hier S. 291. Dass sich dieser Zusammenhang im Umfeld des deutsch-jüdischen Bürgertums potenziert, zeigt Uffa Jensen, Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005, S. 43–106. Theodor Fontane, Karl Gutzkow: Uriel Acosta, GBA, Theaterkritiken 2: 1878–1882, S. 181– 185, hier S. 182. Im Kommentar heißt es: »Die Dichter des sogenannten Jungen Deutschlands strebten in den 1830er und 1840er Jahren einen gesamtgesellschaftlichen Wandel hin zum Liberalismus an« (5/4, S. 370). Manfred Hettling gibt gegenüber dieser Deutung zu bedenken, dass auch eine Anspielung auf die ›Lichtfreunde‹ in Frage kommt. Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Lichtfreunde. In: Religion in Geschichte und Gegenwart 5, Tübingen 42002, Sp. 333– 334.
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Kommt auch die Zeit, wo man, hebräisch nicht, Nicht griechisch, nicht lateinisch, nein in Zungen Des Geistes und der Wahrheit sagen wird: Noch gab die Welt nicht Raum für solche Bahnen, Noch war die Luft zu schwül für solche Flammen – 13
Wie Uriel da Costa, Spinoza und Moses Mendelssohn, so waren auch Lessing und Heine Symbolfiguren, die sowohl auf die Vor- als auch auf die Nachgeschichte der Aufklärung verwiesen.14 Noch zehn Jahre nach Fontanes Theaterkritik bemerkte der im Kampf gegen den Antisemitismus engagierte Schriftsteller und Publizist Conrad Alberti: »[D]as Muster einer tragischen Figur […] scheint mir der moderne Jude zu sein, der aufgeklärte Jude der heutigen Zeit, dessen Typus Gutzkow im ›Uriel Akosta‹ so großartig angedeutet hat«15. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert galt Lessing nicht nur als Musteraufklärer, sondern auch als »de facto […] Bezugspunkt für alle projüdischen Äußerungen im deutschen Geistesleben«16 – und, man wird ergänzen müssen: für eine Vielzahl anti-jüdischer Äußerungen.17 Doch auch innerhalb des Judentums waren spätestens am »Endpunkt der Emanzipation«18 Zweifel an der Tragfähigkeit jenes zukunftsweisenden Konzepts gekommen, für das Nathan 150 Jahre symbolisch gestanden hatte: [Nathan] hat keine adäquate Vergangenheit und Gegenwart gestaltet, aber eine ihn nachahmende Zukunft mit bewirkt. Die geradezu kanonische Geltung, die Lessings »Nathan der Weise« bei der deutsch-jüdischen Assimilation genießt, hat sein emanzipatorisches Zukunftsbild zum pädagogischen Vorbild werden lassen. Kein lebendiger Jude hat den »Nathan«, und sei es auch nur als Modell, mitgezeugt: aber
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Karl Gutzkow, Uriel Acosta. Trauerspiel in fünf Aufzügen. In: Karl Gutzkow’s Dramatische Werke. Fünfter Band, Leipzig 1847, S. 236–237. Die kontroverse Rezeptionsgeschichte von Lessings Nathan der Weise ist bekannt und ebenso vielfältig diskutiert worden wie das Heine-Bild. Zur schwankenden Mendelssohn-Rezeption vgl. stellvertretend Mordechai Breuer, Das Bild der Aufklärung bei der deutsch-jüdischen Orthodoxie. In: Karlfried Gründer und Nathan Rotenstreich (Hrsg.), Aufklärung und Haskala in jüdischer und nichtjüdischer Sicht, Heidelberg 1990, S. 131–142. Conrad Alberti, Judentum und Antisemitismus. In: Die Gesellschaft. Münchener Halbmonatsschrift für Kunst und Kultur 5 (1889), S. 1718–1733. Martha B. Helfer, Das unerhörte Wort. Antisemitismus in Literatur und Kultur, Göttingen 2013, S. 25. Besonders einschlägig ist Wilhelm Marr, Lessing contra Sem. Allen »Rabbinern« der Juden- und Christenheit, allen Toleranz-Duselheimern aller Parteien, allen »Pharisäern und Schriftgelehrten« tolerantest gewidmet von W.M., Berlin 21885 [1883]. Vgl. Moshe Zimmermann, Deutsch-jüdische Vergangenheit: Der Judenhaß als Herausforderung, Paderborn/München et al. 2005, passim. Jost Hermand, Am Endpunkt der Emanzipation. In: Ders., Judentum und deutsche Kultur. Beispiele einer schmerzhaften Symbiose, Köln/Weimar et al., S. 136–159.
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Nathan hat, in Verbindung mit der sozialen, politischen und geistigen Entwicklung, Hundertausende von Scheinjuden nach seinem Ebenbilde gemacht.19
Es gilt als ausgemacht, dass Fontane bis zur Jahrhundertmitte der Überzeugung gefolgt ist, »die humanistische Botschaft der Aufklärung [würde] endlich zum Ziel einer Integration der Juden führen«; zu Beginn der 1880er Jahre hingegen lässt sich eine Haltung konstatieren, die »eine Revision der bürgerlichen Gleichstellung der Juden [anstrebt] und zugleich für eine strikte Separierung der Sphären [eintritt].«20 Sorgfältige Rekonstruktionsarbeiten zur Herausstellung der politischen Positionierung Fontanes basieren indes regelmäßig auf Auswertungen von Ego-Dokumenten, auf der Zusammenstellung von brieflichen Äußerungen, Notaten in Tagebüchen und ähnlichen persönlichen, nicht aber öffentlichen Stellungnahmen, die dem lebensweltlichen Kontext zuzurechnen, insofern aber nicht mit Literatur gleichzusetzen sind.21 So wichtig eine genaue Kenntnis der politischen Entwicklung Fontanes gerade vor dem Hintergrund des vielfach und mit Recht beklagten ›Schweigens‹ in der Forschung zu dieser heiklen Problemstellung gewesen ist,22 so ersetzen Materialkenntnis und Kontextwissen doch keine Interpretationen der literarischen Texte, deren Aussagekraft nicht der politischen Haltung ihres Schöpfers entsprechen oder sich darin erschöpfen muss, während zugleich eindeutige politische Verortungen oft kaum möglich sind. Dieser Sachverhalt wird zur Herausforderung für die Literaturwissenschaft, wenn man mit Victoria Gutsche und Gunnar Och konstatiert, dass Fontane »in Briefen, Tagebuchblättern und unveröffentlichten Gedichten mehrfach abfällig über Juden urteilt […], […] in den Konfigurationen des Erzählwerks [dagegen] ungleich differenzierter.«23 Ohne apologetische Tendenz gilt es hier, Norbert Mecklenburg in seinem Urteil zu folgen,
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Ernst Simon, Lessing und die jüdische Geschichte. In: Jüdische Rundschau (22. Januar 1929). Zitiert nach Ders., Brücken. Gesammelte Aufsätze, Heidelberg 1965, S. 215–219, hier S. 219. Horch, Theodor Fontane, die Juden und der Antisemitismus (wie Anm. 7), S. 287 und 295. Unentbehrlich als Stoffsammlung unter Einschluss aller Aussagen Fontanes zum Judentum ist Michael Fleischer, »Kommen Sie, Cohn«. Fontane und die »Judenfrage«, Berlin 1998. Eine umfassende und bis in die Gegenwart reichende forschungsgeschichtliche Aufarbeitung existiert noch nicht. Vgl. aber Michael Schmidt, »Wie ein roter Faden«. Fontanes Antisemitismus und die Literaturwissenschaft. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 8 (1999), S. 350–369, und Helen Chambers, Theodor Fontanes Erzählwerk im Spiegel der Kritik. 120 Jahre Fontane-Rezeption, Würzburg 2003, S. 153–154. Quellen und Forschungsliteratur bis 2006 dokumentiert Wolfgang Rasch, Theodor Fontane Bibliographie, Werk und Forschung. Bd. 2, hrsg. von Ernst Osterkamp und Hanna Delf von Wolzogen, Berlin/New York 2006, S. 1394–1400. Ein wichtiges Erschließungsmittel ist die ›Theodor Fontane Bibliographie online‹ des Theodor-Fontane-Archivs (https://www.fontanearchiv.de/bestaende-sammlungen/digitale-sammlungen-kataloge/fontane-bibliographie); es empfiehlt sich, mit verschiedenen Suchbegriffen zu operieren (›Judentum‹, ›Juden‹, ›jüdische(e)‹). Victoria Gutsche und Gunnar Och, Figurationen des »Jüdischen« in fiktionalen Texten seit 1750. In: Hans Otto Horch (Hrsg.), Handbuch der deutsch-jüdischen Literatur, Berlin/Boston 2016,
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dass Fontanes Romane und Gedichte »klüger« sind als ihre »›philosemitische[n]‹ Titelheld[en]« und ihr »antisemitischer Autor«.24 Allein das Wissen um Fontanes engagierte Beobachtung gesellschaftlicher Prozesse lässt den Schluss zu, dass sozialpolitische Themen Eingang auch in die literarischen Werke gefunden haben, die Debatten, Positionen und Meinungen als Stoff aber nicht einfach wiedergegeben, sondern literarisch überformt ausgestellt werden. Auf Grundlage dieser kategorialen Unterscheidung zwischen ›Diskurs‹ und literarischer Repräsentation empfiehlt es sich, Kontexte zwar stets mitzudenken und auszuweisen, den literarischen Text aber nicht als reines Aggregat einer potential unerschöpflichen Menge an Kontexten aufzufassen – übersehen worden ist aber, und hier folge ich Torben Fischer, »zu bestimmen, welchen literarischen Reflexionsraum der Komplex des ›Jüdischen‹ eröffnet und mit welchen anderen werkimmanenten oder außerliterarischen Konstruktionen er in Beziehung gesetzt wird.«25 Fontanes jüdischen Lesern, deren Interesse am Erzählwerk im zweiten Teil des Beitrags Bedeutung zugeschrieben wird, war das widersprüchliche Verhältnis dieses Autors immer bewusst, und zwar auf beiden Ebenen: Seine Erzählungen haben sie wachsam gelesen und die darin entfalteten, persönlichen und gesellschaftliche Spannungen sehr wohl registriert und weiterverhandelt, mithin zum Ausgangspunkt eigenen Nachdenkens gemacht. Zugleich wusste das jüdische Lesepublikum um Fontanes abfällige Äußerungen über das deutsche Judentum und seine zunehmend regressive Haltung in der Beurteilung ihrer gesellschaftlichen Lage. Exemplarisch hierfür steht ein Nachruf auf Fontane, mutmaßlich verfasst von Gustav Karpeles. Mit dem Verstorbenen sei einer der »wahrhaften Chasside umot holam dahingegangen«; und weiter heißt es über diesen ›Gerechten unter den Völkern‹: Der Antisemitismus war seinem humanen und künstlerischen Naturell tief zuwider, gleichwohl nahm er davon Abstand, seine »widersprechenden Sentiments« zu veröffentlichen, weil seine vornehme Natur jede Berührung mit dem Pöbel scheute. […] In seinen Romanen, die mit Vorliebe die gesellschaftlichen Verhältnisse Berlins schildern, hat er Juden nur hier und da als Nebenfiguren verwandt, aber gerade zu der Zeit, in der die Antisemitenbewegung ausbrach, hatte er eine
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S. 23–36, hier S. 28. Die angezeigten ›Methodenprobleme‹ sind freilich weder neu noch themen- oder fontanespezifisch. Vgl. aber Renate Böschenstein, Fontanes ›Finessen‹. Zu einem Methodenproblem der Analyse ›realistischer‹ Texte. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 532–535. Norbert Mecklenburg, Theodor Fontane. Realismus, Redevielfalt, Ressentiment, Stuttgart 2018, S. 212 und 229. Torben Fischer, Judenbilder und ›literarischer Antisemitismus‹. Bemerkungen zur Forschungsgeschichte. In: Matthias N. Lorenz (Hrsg.), Juden.Bilder, München 2008, S. 115–124, hier S. 121.
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Arbeit im Sinn, in der auch jüdische Charaktertypen mit der Objektivität, die ihm zu eigen war, geschildert werden sollten. 26
Ungeachtet aller Irritationen wird Fontane für das Judentum, als sein Freund, ›gerettet‹, Karpeles schreibt seinen »jüdische[n] Charaktertypen« überdies »Objektivität« zu. Eine ähnlich ambivalente Haltung spricht auch aus einem Brief, den Betty Scholem aus ihrem Exil Sydney am 26. April 1941 an ihren Sohn Gershom Scholem in Jerusalem schickte: »Aber daß Du Fontane mit Genuß liest, das freut mich; da bist du also durchaus nicht ganz östlich, wenn dieser Preuße mit seiner großen Liebe für den märkischen Adel u. seinem kleinen Schuß Antisemitismus Dir so wohl gefällt. Die einzigen Bücher, die ich mitnahm, waren Fontane’s Werke u. ich lese sie immer wieder. Sage mir, welcher Roman Dir am besten gefällt, ich bin eine begeisterte Fontänin!«27 Fontane war auf eine noch ausführlicher zu untersuchende Weise ›im Bewusstsein‹ von Emigranten, wie es Betty Scholem eine war, nachdem sie ›Fontanopolis‹ gen Australien verlassen hatte.
›Erlebte Judenfrage‹: Fontanes Erzählungen im Spiegel jüdischer Leser Wenn, wie behauptet, Fontanes Erzählungen Formen »fiktionaler Vergangenheitsbewältigung«28 mit gegenwartsbezogenem und zukunftsleitendem Interesse implizieren, dann hat sich ihr erkenntnisförderndes und Erfahrung konservierendes Potential schon deshalb nicht erschöpft, weil sich einzelne Leser und ganze Gesellschaften insgesamt dafür interessieren (müssen) und Aufklärung darüber verlangen, weshalb die Akkulturation der deutschen Juden nicht nur scheiterte, sondern schließlich mit der Vernichtung der europäischen Juden endete. Dass diese Frage ihre Aktualität nicht eingebüßt hat und überdies weiterhin mit der Aufklärung in Verbindung gebracht wird (in der Geschichtswissenschaft29), lässt sich ebenso voraussetzen wie die Tatsache, dass der nie getilgte Antisemitismus als Scheitern
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In: Der Gemeindebote. Beilage zur »Allgemeinen Zeitung des Judenthums« 62 (30. September 1898), S. 1–2. Betty Scholem und Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel 1917–1946. Hrsg. von Itta Shedletzky in. Verb. mit Thomas Sparr, München 1989, S. 496. Zu weiteren Lesern im Exil vgl. Hiltrud Häntzschel, Fontane im Gepäck der Emigranten. In: Konrad Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde. Fontane und Europa, Würzburg 2002, S. 307–320. Wolfgang Hardtwig, Fiktive Zeitgeschichte? Literarische Erzählung, Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur in Deutschland. In: Ders., Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters, Göttingen 2005, S. 114–135, hier 121. Stellvertretend für Viele Jürgen Kocka, Geschichte und Aufklärung. In: Ders., Geschichte und Aufklärung. Aufsätze, Göttingen 1989, S. 140–159.
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der Aufklärung aufgefasst werden muss.30 Die dritte Voraussetzung, Geschichte sei im Medium der Literatur bezeugt und erfahrbar, verteidigen nicht nur Anhänger eines emphatischen Literaturverständnisses. Auch in den Geschichtswissenschaften finden sich Vertreter, die die Relevanz von Literatur als historische Quelle und als Medium der Reflexion zur Ergänzung (nicht aber Substitution) wissenschaftlicher Forschung hoch einschätzen: »[…] Schriftsteller erzählen Geschichten von einer Komplexität und inneren Spannung, die der Historiker mit seinen expliziten, analytischen und insofern immer höchst reduktionistischen Erklärungsansprüchen nicht erreichen kann.«31 Die von Karpeles gepriesene »Objektivität« ist auch von einem prominenten Historiker wie Wolfgang J. Mommsen als »verstehende[r] Historismus« gleichsam ratifiziert und ausführlich gewürdigt worden.32 Fontanes historiographische (und proto-soziologische) Interessen33 haben dabei nicht nur Eingang in seine literarischen und essayistischen Texte gefunden, seine Kompetenz wurde und wird von Historikern anerkannt, seine Texte stoßen in der Geschichtswissenschaft folglich auf Interesse und gelten bisweilen sogar als ›Quellen‹.34 So konstatierte bereits 2000 Eda Sagarra: »[E]s ist tatsächlich so, daß gerade diejenigen Historiker, für die die Kultur- und Alltagsgeschichte ein nicht mehr wegzudenkender Teil moderner sozialpolitischer Geschichtsschreibung bildet, Fontane mehrfach in ihren Werken als Kronzeugen kulturgeschichtlichen Wandels zitieren.«35
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Vgl. exemplarisch Julius H. Schoeps und Joachim Schlör, Einleitung. In: Dies. (Hrsg.), Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, München/Zürich 21996, S. 8: »Hat die Aufklärung versagt?«. Hardtwig, Fiktive Zeitgeschichte? (wie Anm. 28), S. 133–134. Wolfgang J. Mommsen, Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde. Kultur und Politik im deutschen Kaiserreich 1870 bis 1918, Frankfurt am Main/Berlin 1994, S. 37 und passim. Fontane steht sogar im Zentrum geschichtswissenschaftlicher Debatten: Vgl. Franz Georg Maier, Der Historiker und die Texte. In: Historische Zeitschrift 238 (1984), S. 83–94, hier S. 85. Zu dieser Perspektive vgl. grundsätzlich Pierre Bourdieu, Flaubert als Analytiker Flauberts. Eine Lektüre der ›Erziehung des Herzens‹. In: Ders., Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main 62014, S. 19–79. Hardtwig gehört zu den Historikern, die unter der Perspektive »Literarische Aneignung von Erinnerung« weit gehen: »Es geht also primär um den Quellenwert dieser Literatur für den Historiker«. (Hardtwig, Fiktive Zeitgeschichte?, S. 120). Eda Sagarra, Kommunikationsrevolution und Bewußtseinsänderung. Zu einem unterschwelligen Thema bei Theodor Fontane. In: Hanna Delf von Wolzogen und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Bd. 2, Würzburg 2000, S. 105–118, hier S. 106.
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Einen schlagkräftigen Beleg findet man nicht nur in Gordon A. Craigs einschlägiger Monographie,36 sondern auch in zahlreichen fachwissenschaftlichen Publikationen.37 Auch, aber nicht allein aufgrund ihrer Bildung bestand für Intellektuelle eine Option darin, zur Vergegenwärtigung historischer Probleme mit langfristiger gesellschaftlicher Relevanz auf Literatur zurückzugreifen, die sie bereits kannten und von der sie wussten, dass die in Frage stehenden Probleme dort verhandelt werden, mithin spezifisch erfahrbar waren. Hierbei handelte es sich um einen nachgerade natürlichen Vorgang, natürlich insofern, als die Literatur schon gelesen und damit bereits Teil des eigenen intellektuellen Werdegangs war, folglich nicht erst aufgesucht, sondern allenfalls einer erneuten Lektüre unterzogen werden musste. Wenn in der Geschichtswissenschaft heute dafür plädiert wird, Literatur als »politikmächtige Ressource«38 wiederzuentdecken, so lassen sich demgegenüber Beispiele finden, die zeigen, wie dieser Vermittlungsprozess ausgebildet war und welche Ergebnisse er zutage gefördert hat. Was heute durch theoretische Reflexion legitimiert werden muss, erfolgte dort vor dem Hintergrund persönlicher Bildung. Beispiele für Formen produktiver Verarbeitung finden sich bei Fontanes jüdischen Lesern: Hier lässt sich zeigen, dass der Literatur eine produktive Funktion zur Vergegenwärtigung der Vergangenheit in ihrer subjektiven Vielstimmig- und Widersprüchlichkeit zugeschrieben wurde. Ein Räsonieren, das in Literatur, und in Fontanes Erzählwerk zumal, einen Anfangspunkt fand, sollte dabei nicht die dringend notwendige geschichtswissenschaftliche Forschung ersetzen oder für überflüssig erklären. Die Verhandlung des »jüdischen Komplexes«39 bei Fontane hat seine jüdischen Leser vor 1933 und nach 1945 in mindestens zweifacher Hinsicht interessiert: Vor 1933 kam dem »Deutungsmuster ›Bildung und Kultur‹« eine zentrale Bedeutung zu, wobei es auf die Betonung seines doppelten Verhältnisses ankommt: Zum einen bezog es sich eher pauschal auf Konzepte der Aufklärung, zum anderen deutlich konkreter und existentialer auf
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Gordon A. Craig, Über Fontane, München 1997. Die Relevanz Fontanes für Historiker dokumentiert, nicht zuletzt, die einschlägige Monographie Ekkhard Verchaus, Theodor Fontane – Individuum und Gesellschaft, Frankfurt am Main/Berlin 1983. Vgl. auch die zustimmende Besprechung von Hans-Christof Kraus, Theodor Fontane. Mensch, Geschichte, Gesellschaft, Politik. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte XXXVIII (1986), S. 66–68. Markant auch der Einstieg bei Till van Rahden, Von der Eintracht zur Vielfalt: Juden in der Geschichte des deutschen Bürgertums. In: Andreas Gotzmann, Rainer Liedtke, Till van Rahden (Hrsg.), Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800–1933, Tübingen 2001, S. 9–31. Wolfram Pyta, Politikgeschichte und Literaturwissenschaft. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 36 (2011), S. 381–400, hier S. 385. Ernst Simon, Theodor Fontanes jüdischer Komplex. Zunächst in: Neue Zürcher Zeitung (16. August 1970). Zitiert nach Ders., Entscheidung zum Judentum. Essays und Vorträge, Frankfurt am Main 1979, S. 266–275.
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die Akkulturationschancen der deutschen Juden.40 Nach 1945 waren Fontanes Texte Dokumente einer untergegangenen Welt, die herangezogen wurden, um das Scheitern nicht zuletzt der Aufklärung besser zu verstehen. Dieses Interesse lässt sich sowohl bei wissenschaftlich ausgebildeten Lesern wie Ernst Simon, Peter Gay, Fritz Stern, Werner E. und George L. Mosse – und dem Fontane-Forscher Henry Remak – als auch bei (gebildeten) politischen Aktivisten wie Kurt Blumenfeld aufzeigen. In seiner Autobiographie formuliert es Blumenfeld, eingebettet in eine besondere Erinnerungskonfiguration, einschlägig: »Sie können die deutsche Judenfrage unserer Zeit in allen ihren Verschlingungen kennenlernen, wenn Sie zum Beispiel die Romane von Theodor Fontane daraufhin lesen.«41 Für eine erste Annährung kommen diese vier prominenten ›Höhenkamm‹-Leser besonders in Betracht, weil sie sich zudem auch wissenschaftlich zu Fontanes positioniert haben. 42 Sie alle, Juden aus assimilierten bürgerlichen Elternhäusern,
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Bollenbeck, Die Abwendung des Bildungsbürgertums von der Aufklärung (wie Anm. 5), S. 153, Anm. 6: »Die Aufklärung wird im 19. Jahrhundert nicht nur rezipiert, sondern auch, sozial-geschichtlich folgenreich, in Verbindung mit dem Deutungsmuster ›Bildung und Kultur‹ und der liberalen Emanzipationsideologie perpetuiert.« Kurt Blumenfeld, Erlebte Judenfrage. Ein Vierteljahrhundert deutscher Zionismus, Stuttgart 1952, S. 57. Die erfolgte Konzentration auf ›prominente‹ Leser soll indes nicht den Schluss nahelegen, Fontanes Werk oder die historische Person Fontane seien nur auf diesem ›Höhenkamm‹ vielfältig rezipiert und diskutiert worden. Durch das in den Jahren 2000 bis 2011 realisierte und von Hans Otto Horch initiierte Digitalisierungsprojekt ›Compact Memory‹ (http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de) ist es möglich, eine Auswahl der 110 wichtigsten jüdischen Zeitungen und Zeitschriften des deutschsprachigen Raumes aus den Jahren 1806 bis 1938 unter dem Stichwort ›Fontane‹ zu durchsuchen. Vgl. Hans Otto Horch und Till Schicketanz, »Ein getreues Abbild des jüdischen Lebens« ›Compact Memory‹ – Ein DFG-Projekt zur retrospektiven Digitalisierung jüdischer Periodika im deutschsprachigen Raum. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 2001: Haskala und Öffentlichkeit, Berlin 2001, S. 387–405. – Hier zeigt sich die tatsächliche Breitenwirkung, wobei nur eine genaue Analyse zahlreicher Rezeptionsund Diskursformationen sowie ebenso zahlreicher Argumentations- und Ideenfiguren stichhaltige Ergebnisse liefern dürfte. Es wäre aber z. B. denkbar, exemplarisch die Rezeption (und d. h. auch: einander widerstreitende Lesarten) von Fontanes berühmtem, 1895 verfassten und erstmals 1898 im Pan publizierten Gedicht »An meinem Fünfundsiebzigsten« in diesem Korpus zu untersuchen. Nahezu gleichzeitig mit seiner Veröffentlichung im Pan war das Gedicht in der Israelitischen Wochenschrift 8 (1.9.1899), S. 553–554, veröffentlicht und diskutiert worden. In den folgenden Jahrzehnten wurde es mehrfach und aus verschiedenen Anlässen in jüdischen Zeitschriften wiederabgedruckt oder in Aufsätzen zitiert, etwa bei: Adel und Judentum im deutschen Geistesleben. In: Die Wahrheit. Unabhängige Zeitschrift für jüdische Interessen (6.9.1912), S. 7–8, M[oritz]. Spanier, »Erziehung zum Deutschtum«. In: Jüdische Schulzeitung. Monatsschrift für Pädagogik und Schulpolitik 1 (1925), S. 1–4, Curt Bürger, Alldeutsch-antisemitisches Haberfeldtreiben gegen unsere Klassiker. In: Allgemeine Zeitung des Judenthums 84 (1920), S. 379–380, oder Leo Hirsch, Die Kehrseite der Konjunktur. In: Der Morgen. Monatsschrift der Juden in Deutschland 14 (1938), S. 163–168. Die Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus 25 (1915), S. 137–138, diskutieren das Gedicht aus Anlass der Konstellation Fontane und Wolfsohn. Weitere Kontexte der Gedichtzitation oder -erwähnung waren: die Zuerkennung des Fontane-Preises an Max Brod resp. Franz Kafka 1919, der Tod Fritz Theodor
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haben Fontane nach 1945 wiederentdeckt und seine Texte auf unterschiedliche, doch vergleichbare Weise der Aufgabe unterstellt, einen Beitrag zur gesellschaftlichen Aufklärung mit historiographischem Tiefgang zu leisten. Mit ihren Vorhaben attestieren sie explizit, dass das ›Projekt Aufklärung‹ auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unabgeschlossen ist.43 Ohne sich hierbei ausdrücklich auf temporale Vorstellungen über die Geltungsdauer der Aufklärung beziehen zu müssen, ergibt sich aus ihren Texten, dass das Projekt als Prozess weitergeführt werden soll – sie stehen damit im Einklang mit der wissenschaftlichen Forschung, die die Prozessualität nicht zuletzt aus politischen Gründen betont hat.44 Ernst Simon und Kurt Blumenfeld leben nach 1945 in Israel, George L. Mosse und Henry Remak in den Vereinigten Staaten. Zum Verständnis ihrer Abarbeitungsstrategien gehört, dass Reflexionen und Bezugnahmen auf die europäische Aufklärung in gesellschaftlichen Debatten nennenswerten Raum eingenommen hat – in den USA, aber auch in Israel.45
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Cohns und die Auseinandersetzung mit den Thesen Werner Sombarts, der das Gedicht in seine Monographie Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911, S. XV, eingebunden und zudem in Aufsätzen gerne zitiert hatte. Eine Untersuchung, die sich um eine Analyse der diskursiven Ausstrahlung bemüht, würde idealerweise weiter ausgreifen und auch einschlägige Beiträge in nicht-jüdischen Zeitschriften einbeziehen, etwa: Eberhard König, Vom Lebenswert der Dichtung. In: Deutscher Volkswart 1 (1914), S. 409–419. Natürlich las man auch bei Sombarts Fontane: Nicolaus Sombart, Jugend in Berlin 1933–1943. Ein Bericht, Frankfurt am Main 62001, S. 25. Prägend hierfür Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 202011. Vgl. Rudolf Vierhaus, Aufklärung als Prozeß – ›der Prozeß der Aufklärung‹. In: Aufklärung 2 (1988), S. 3–7, und Kocka, Geschichte und Aufklärung (wie Anm. 29), S. 140–159, stets unter Berufung auf Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? [1784]. In: Kant’s Werke. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Abt. 1, Bd. VIII, Berlin 1912, S. 33–43, hier S. 40. Der Stellenwert von ›Aufklärung‹ als bezugsrelevanter Epoche und/oder ›moralischer Haltung‹ in der Wissenschafts-, Ideen- und Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhundert kann hier nur angedeutet werden. Wichtig sind die Hinweise von Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006, insbesondere S. 111–116. Die Bedeutung der ›historischen Aufklärung‹ für die israelische Politik- und Kulturgeschichte zeigt Carlo Strenger, Israel. Einführung in ein schwieriges Land, Berlin 2011, indem er in seinen Kapiteln »Die Juden und die Moderne« (S. 51–73) und »Die Entstehung des ›jüdischen Problems‹« (S. 78–83) die langfristige Wirkung der Aufklärung herausarbeitet und auf Diskurse im Staat Israel bezieht. Einen wichtigen Punkt macht auch Amnon Raz-Krakotzkin, The Zionist Return to the West and the Mizrahi Jewish Perspective. In: Ivan Davidson Klamar und Derek J. Penslar (Hrsg.), Orientalism and the Jews, Hanover/London 2005, S. 166: »Despite the Zionist rejection of ›assimilationist trends‹, it can be read as an extreme expression of the desire to assimilate the Jews into the Western narrative of enlightenment and redemption.«
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II. Politik- und Literaturgeschichte: Aufklärung und Gegenaufklärung Im 19. Jahrhundert hatte das deutsche Judentum die Mauern des Ghettos verlassen und war zu einem Teil der bürgerlichen Gesellschaft geworden.46 Als »sozial-politisches Postulat« bildeten die Ideen der Aufklärung den intellektuellen und emotionalen Bezugspunkt für diesen herausragenden, wenn auch durchgängig von kontrovers geführten Debatten begleiteten Prozess, an dessen Ende die unvollständige, in der historischen Zeit doch überwiegend erfolgreich empfundene Akkulturation der deutschen Juden stand.47 Erreichte dieser Prozess – ungeachtet zahlreicher Widrigkeiten – im Jahr 1869 einen vorläufigen Höhepunkt, als die rechtlichen Voraussetzungen durch das ›Gesetz betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung‹ geschaffen wurden, so stand dieses ›Erbe der Aufklärung‹ bereits in der folgenden Dekade in bis dato ungekannter Schärfe zur Disposition. Nach einer initialen Rede des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker am 19. September 1879 gelang es Heinrich von Treitschke durch die Veröffentlichung ›Unserer Aussichten‹ am 15. November 1879, den Antisemitismus aus der Deutungs- und Publikationshoheit »obskurer Journalisten« (etwa Wilhelm Marr) und aus dem Bereich religiöser Weltanschauung (Stoecker) heraus zu einem Thema des Bildungsbürgertums zu machen. So konstatierte (und appellierte implizit) Treitschke, dass »das Alles Tausende zum Nachdenken über den Werth unserer Humanität und Aufklärung gezwungen [hat].«48 Als Komplementärbewegung – im Sinne Bollenbecks – vertraten viele Juden »die Ideale der Aufklärung, als diese in Deutschland heftig angegriffen wurden. Es verehrte Lessing und Schiller, als die deutschen Literaten sich bemühten, das expressionistische Theater zu verstehen.«49 Diese Haltung brach erst zusammen,
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Vgl. die umfassende Darstellung von Michael A. Meyer und Michael Brenner (Hrsg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. 4 Bde., München 2000. Jacob Katz, Varianten des jüdischen Aufklärungserlebnisses. In: Hans Otto Horch und Horst Denkler (Hrsg.), Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Erster Teil, Tübingen 1988, S. 1–9, hier S. 7. Vgl. den deutschen Titel der einschlägigen Monographie von Jacob Katz, Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation von 1770–1870, Frankfurt am Main 1986. Heinrich von Treitschke, Unsere Aussichten. In: Preußische Jahrbücher 44 (1879), S. 559–576. Zitiert nach Walter Boehlich (Hrsg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt am Main 1965, S. 5–12, hier S. 5. Shulamit Volkov, Die Erfindung der Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland, München 1992, S. 26. Vgl. ergänzend hier Ulrich Wyrwa, Reaktionen des deutschen Judentums auf den Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich: Eine Rekapitulation. In: Ders. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts (Hrsg.), Einspruch und Abwehr. Die Reaktion des europäischen Judentums auf die Entstehung des Antisemitismus (1879–1914), Frankfurt am Main/New York 2010, S. 25–42,
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als der »Endpunkt der Emanzipation« erreicht war und sich assimilationskritische und damit zugleich aufklärungsskeptische Stimmen mehrten.50 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert blickten die deutschen Juden noch optimistisch in die Zukunft und sahen sich als integraler Bestandteil einer staatlichen Entität.51 Während sich, erzwungen durch die Kritik der Aufklärung, die gesellschaftliche Modernisierung sukzessive vollzog, transformierte sich das deutsche Judentum in mehrfacher Hinsicht; man verhandelte alle Herausforderungen der gesellschaftlichen Modernisierung mit und musste sich zugleich der Frage stellen, welche Elemente der eigenen Tradition und der durch die Halacha geregelten Lebenspraxis integriert, welche zum Preis der gewollten gesellschaftlichen Teilhabe oder Integration aufgegeben werden mussten. Die anspruchsvolle Aufgabe, ein doppeltes kulturelles Kapitel zu verwalten, Risiken und Chancen der Konfessionalisierung abzuwägen und Fragmentierung zu vermeiden, vollzog sich vor dem Anspruch, drei grundsätzliche Dimensionen mitzudenken und zentrale Versprechen der Aufklärung in Handeln zu überführen: durch Bildung Gleichberechtigung zu erwerben, das Verhältnis zu spezifisch modernen Entwicklungen auszutarieren und, nicht zuletzt, den Gefahren des Antisemitismus zu begegnen. Die Vermittlung zwischen eigener Identitätssuche und der Teilhabe am »bürgerlichen Wertehimmel« fand, wie schon herausgestellt, zentral in hochkulturellen Sphären statt.52 Nach Wilhelm Marrs antisemitischer sowie erklärtermaßen aufklärungs- und emanzipationsfeindli-
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hier S. 40: »Im Gegensatz zur Mehrheit des nichtjüdischen Bürgertums verabschiedete sich das jüdische Bürgertum nicht von den Idealen des Humanismus und dem Ethos der Aufklärung.« Aus der Fülle einschlägiger Texte sei exemplarisch verwiesen auf Ludwig Holländer, Aufklärung und immer wieder Aufklärung. In: Central-Verein-Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum 5 (5.3.1926), S. 112–113. Im Kampf gegen den Antisemitismus wird ›Aufklärung‹ beschworen. Vgl. hierzu auch Arnold Paucker, Der jüdische Abwehrkampf gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus in den letzten Jahren der Weimarer Republik, Hamburg 1968, S. 29: »Bis zum bitteren Ende blieb ein ausgedehntes Aufklärungsprogramm der Angelpunkt der gesamten Tätigkeit des C.V. Er erstrebte die Aufklärung und Bekehrung aller derjenigen, die Vernunftsgründen zugänglich waren, sowie der Widerlegung falscher Behauptungen durch Tatsachen.« Und: »Es ging nun darum, Aufklärung in die feinen und verästelten Kanäle aller Berufs- und Gesellschaftsklassen hineinzuleiten« (S. 50). Moshe Zimmermann, Zukunftserwartungen der deutsch-jüdischen Gesellschaft im langen 19. Jahrhundert. In: Aschkenas 18/19 (2008/2009), S. 25–39. Zu Aspekten der Zuversicht und des politischen Optimismus vgl. auch Meyer und Brenner, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. II, S. 43, 153, 238, 356. Siehe hierzu Manfred Hettling und Stefan-Ludwig Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 333–360, und Henry Wassermann, Das Judentum und die Juden in der bürgerlichen Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts. Die Darstellungen in der Familienzeitschrift ›Gartenlaube‹. In: Aschkenas 2 (1992), S. 151–171.
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cher Schmähschrift Lessing contra Sem erschien – um nur ein Beispiel zu geben – noch vor Ausbruch des ›Antisemitismusstreits‹ das Lessing-Mendelssohn Gedenkbuch.53 Wenn die Sphäre des Kulturellen als Feld der politisch grundierten Aufklärungskritik wie auch der Aufklärungsaffirmation betont wird und darüber hinaus einberechnet wird, dass Antisemitismus gerade in der Literatur eine wirksame Äußerungsform gefunden hat,54 dann lässt sich eine historisch wirksame und analytisch komplexe Verzahnung von Politik- und Literaturgeschichte behaupten. Wie kein zweiter hat Hans Mayer diesem Sachverhalt Rechnung getragen, als er mit seinem 1975 publizierten Großessay Außenseiter nicht zufällig einen, wenn nicht den maßgeblichen Impuls zur Begründung literaturwissenschaftlicher Antisemitismusforschung gesetzt hat. Mayers Essay ist für den Gang dieser Untersuchung aber noch mehr deshalb relevant, weil er die Verheißungen der Aufklärung klar benannt und die Widerstände im bürgerlichen Realismus engagiert aufgedeckt hat. Seine Kritik ging hierbei von der Feststellung aus, dass die »umfassende Konzeption von Aufklärung […] ohne den Sonderfall von Fremdheit innerhalb der Gesellschaft auszukommen [gedachte]«, und er warf der bürgerlichen Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts vor, »alles zurückentwickelt« zu haben.55 Ein besonderer Vorzug seiner Perspektive und der sich daraus ergebene Gebrauchswert dieses Essays beruht darauf, dass sich Mayer dezidiert an der Wirkungsmacht der historischen Aufklärung abarbeitet und prononciert Stellung nimmt zur Durchsetzbarkeit aufklärerischer Ideale, an die er selbst ohne Abstrich glaubte: »Widersprüche im gesellschaftlichen Sein bestätigen die Notwendigkeit von Enlightenment.«56 Ausgangsund Endpunkt seines Buch bildete allerdings ein Negativbefund, der sich am Schluss als »Erkenntnis« ausweisen ließ: »Dies Buch geht von der Behauptung aus, daß die bürgerliche Aufklärung gescheitert ist.«57 Obschon
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Lessing-Mendelssohn Gedenkbuch. Zur hundertfünfzigjährigen Geburtstagsfeier von Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn, sowie zur Säcularfeier von Lessings »Nathan«. Hrsg. vom Deutschisraelitischen Gemeindebunde, Leipzig 1879. Die Forschungsliteratur zum Antisemitismus in der Literatur des Bürgerlichen Realismus ist vorzüglich. Stellvertretend nenne ich Florian Krobb, Was bedeutet literarischer Antisemitismus im 19. Jahrhundert? Ein Problemaufriss. In: Klaus-Michael Bogdal, Klaus Holz et al. (Hrsg.), Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Stuttgart/Weimar 2007, S. 85–101. Hans Mayer, Außenseiter, Frankfurt am Main 1975, S. 29. Ebd., S. 9. Ebd. Vgl. auch die Einleitung zum »offenen Schluss«: »Dies Buch geht von der Erkenntnis aus, daß die bürgerliche Aufklärung gescheitert ist.« (S. 459). Obschon Mayers Beitrag zum Thema ein umfassendes Referat verdienen würde, beschränke ich mich auf das Wesentliche. Auch weitere Texte könnten beigezogen werden; ich denke an Hans Mayer, Als der Krieg zu Ende war. Nachdenken über eine Erbschaft. In: Ders., Aufklärung heute. Reden und Vorträge 1978– 1984, Frankfurt am Main 1985, S. 287–305, und Ders., Deutsche und Juden nach dem Widerruf.
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Mayers Beitrag zum Thema ein umfassendes Referat verdienen würde und auch weitere Texte beigezogen werden müssten, beschränke ich mich auf das Wesentliche. Im dritten Teil seines Essays – Shylock – widmet er sich den »[j]üdischen Kunstfiguren im bürgerlichen Roman« (381–413). Seine Gegner sind Gustav Freytag und Wilhelm Raabe. Mit Blick auf Raabes Hungerpastor stellt er fest: Der ›Hungerpastor‹ setzt alle Widersprüche der bürgerlichen Aufklärung in Deutschland gleichzeitig frei: Liberalismus, doch Antisemitismus; bürgerliche Gesinnung, doch innere Verweigerung der jüdischen Gleichberechtigung; aufgeklärte Gläubigkeit an Wissenschaft und Literatur, bei gleichzeitiger Verweigerung einer systemsprengenden Denk- und Schreibweise.58
Die Ideen der Aufklärung (Liberalismus, Gleichberechtigung, Wissenschaftlichkeit) scheitern in der von Raabe geschaffenen ›Realität im Roman‹, einem »Amalgam aus deutsch-jüdischem Antagonismus und bürgerlicher Verinnerlichung.«59 Mayer diagnostiziert »Grenzen der Vernunft innerhalb einer allgemeinen Religion«, wenn der »Hunger des Hungerpastors nach Aufklärung […] im Roman zum geistlichen Hunger [degeneriert]«, und Raabe attestiert er »den geheimen Schauder Lichtenbergs, als er den realen Juden auf der Bühne vergleichen muß mit dem abstrakten Postulat allgemeiner Emanzipation, mithin auch der Juden.«60 Hans Mayer, soviel lässt sich schon nach diesen Auszügen resümieren, verweigert im Vollzug seiner Interpretationen eine Trennung von Realgeschichte und literarischer Wirklichkeit; ihm ist daran gelegen, fortlaufend an die Ideen der Aufklärung zu erinnern, während er mit ausgewählten Literaturbeispielen kritisch laboriert. Für den Kritiker ist es essentiell, die Literatur – im Bewusstsein der in der Aufklärungsepoche hervorgebrachten Forderungen – dahingehend zu befragen, inwieweit sie sich einlösend oder widersprechend, modifizierend oder zweifelnd positioniert.
Aufklärungsskeptische Trilogie: L’Adultera, Poggenpuhls, Mathilde Möhring Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf Fontanes L’Adultera, den Roman Die Poggenpuhls und Mathilde Möhring. Fontane entwirft jüdische
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Erfahrungen und Erkenntnisse. In: Ders., Der Widerruf. Über Deutsche und Juden, Frankfurt am Main 21994, S. 429–446. Ebd., S. 386. Ebd., S. 385 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 386.
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Figuren in unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen, wobei einerseits die tatsächliche soziale Anerkennung, andererseits die politische Reflexionskraft aller Protagonisten durch erzählerische Mittel fortlaufend ins Kontroverse verlagert und kritisch diskutiert werden. In L’Adultera (1880) führt der Erzähler den Kommerzienrat Ezechiel van der Straaten als erfolgreichen Börsenkaufmann ein, als einen der »vollgiltigsten Financiers der Hauptstadt«61, der – bereits in zweiter Generation emanzipiert – alle Insignien jüdischer Identität abgelegt und auch sonst sämtliche Anforderungen erfüllt hat, die sich nach Maßgabe staatlich sanktionierter ›Gleichstellung‹ überhaupt adressieren lassen. Um seine individuelle Leistung weiß auch Ezechiel, wenn er stolz daran zu erinnern pflegt, »nicht blos überhaupt getauft worden« zu sein, »sondern auch das nicht jedem Preußen zu Theil werdende Glück gehabt« zu haben: »durch einen evangelischen Bischof« (LA, S. 6–7). Ezechiels Handlungen und Denkgewohnheiten sind durchgängig ebenso liberal wie aufgeklärt, doch werden sie regelmäßig als überspannt wahrgenommen und erscheinen in der Summe mehr lächerlich als mustergültig – nicht nur seine Gattin Melanie sieht es so und entfremdet sich sukzessive, selbst die Kellnerin in »Löbbekes Kaffeehaus« durchschaut die präfigurierte charakterliche Disposition und der Erzähler lässt wissen, und zwar mit ausgestelltem Bedauern (»Es muß leider gesagt werden«), dass Ezechiel in keine ihrer »Klassen« hineinpasst, und zwar »einzig und allein weil er von alter Zeit her die Schwäche hatte, sich à tout prix populär machen zu wollen. Und das war der Blondine das Verächtlichste von allem.« (LA, S. 64) Ezechiels ist also geprägt, und »das von alter Zeit« – über seine Prinzipien, »Landpartien« zu gestalten, lässt der Kommerzienrat wissen: aber ich verabscheue Landpartien mit mitgeschlepptem Weinkeller. Erstens kränkt man die Leute, bei denen man doch gewissermaßen immer noch zu Gaste geht, und zweitens bleibt man in dem Kreise des Althergebrachten, aus dem man ja gerade heraus will. Wozu macht man Partien? Wozu? frag’ ich? (LA, S. 66)
Der eigentliche Hintergrund dieser Ansprache wird zunehmend deutlich hervorgekehrt: »doch gewissermaßen immer noch zu Gaste« zu sein ist das Thema. Die mit dem Adverb »gewissermaßen« eingeholte Einschränkung und die unabgeschlossene Zeitlichkeit des »immer noch« indizieren, dass die Gasthausfrage als Chiffre für den eigentlichen Sachverhalt dient: Die Empfindung, als Angehöriger des jüdischen Volkes einem »Kreise des Althergebrachten« anzugehören oder angehört zu haben; einem »Kreise«, der sich kulturell und geographisch nicht nur von »Löbbekes Kaffeehaus« un-
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Theodor Fontane, L’Adultera. Novelle [=LA], GBA, Das erzählerische Werk 4, S. 5.
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terscheidet, sondern von der gesamten Umwelt. Ezechiels Nachdenklichkeit und sein Bewusstsein dafür, die Gastgeber durch einen »mitgeschleppte[n] Weinkeller« zu kränken, geht in zwei Richtungen: Er selbst verabscheut »Landpartien« dieser Art und wir müssen annehmen, dass damit auch solche Personen aus dem »Kreise des Althergebrachten« gemeint sind, die sich zwar bewegen, nicht aber bereit sind, das unterwegs oder am Ziel sich bietende Angebot anzunehmen, sondern am Alten festhalten. »Wozu macht man Partien? Wozu? frag’ ich?«, fragt er also ausdrücklich, um zugleich eine Antwort zu geben: Nicht um es besser zu haben, sondern um es anders zu haben, um die Sitten und Gewohnheiten anderer Menschen und nebenher auch die Localspenden ihrer Dorf- und Gauschaften kennen zu lernen. Und da wir hier nicht im Lande Canaan weilen, wo Kaleb die große Traube trug, so stimm’ ich für das landesübliche Product dieser Gegenden, für eine kühle Blonde. (LA, S. 66)
»Wir«, sagt Ezechiel, und meint damit nicht die übrigen Mitglieder dieser »Landpartie«, sondern die Angehörigen des »Kreise des Althergebrachten«, »wir [weilen] hier nicht im Lande Canaan«, dem Land also, von dem Gott zu Mose gesagt hat: »Sende Männer aus, die das Land Kanaan erkunden, das ich den Israeliten geben will, aus jedem Stamm ihrer Väter je einen vornehmen Mann.«62 Ezechiel erinnert Moses Auftrag an die Kundschafter der 12 Stämme Israels, das schon zuvor von Gott versprochene Land auszukundschaften: Da sandte sie Mose aus der Wüste Paran nach dem Wort des HERRN. Allesamt waren sie Häupter der Israeliten. […] Als sie nun Mose aussandte, das Land Kanaan zu erkunden, sprach er zu ihnen: Zieht da hinauf ins Südland und geht auf das Gebirge und seht euch das Land an […] Und sie kamen bis an den Bach Eschkol und schnitten dort eine Rebe ab mit einer Weintraube und trugen sie zu zweien auf einer Stange, dazu auch Granatäpfel und Feigen. Der Ort heißt Bach Eschkol nach der Traube, die die Israeliten dort abgeschnitten hatten.63
Ezechiel sieht sich nicht »im Lande Canaan«, dort, wo »Milch und Honig fließen«, sondern in einer Umwelt, die sich durch Insignien des »Althergebrachten« gekränkt fühlen – oder zumindest fühlen könnten. Einen ersten Kontrapunkt setzt indes schon Ezechiels protestantische Frau Melanie, die, »als Tochter Jean de Caparoux’« (LA, S. 7) adelig geboren und hervorragend ausgebildet, antisemitische Ressentiments bewahrt, ihren ebenso komfortablen wie emanzipierten Lebensstil aber nur deshalb genießen kann, weil Ezechiel und ihr zweiter Mann (auch er ein akkulturierter Jude) wirtschaftlich erfolgreich sind. Kommunikative und weltanschauliche
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Numeri 13, 1–2. Numeri 13, 3, 17–18.
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Brüche, die die gesellschaftliche Gleichstellung Ezechiel in Frage stellen, ergeben sich buchstäblich ›in der Gesellschaft‹: In kultur- und tagespolitische Debatten mit dem »Engeren Zirkel« »Bei Tisch« rückt van der Straaten wiederholt in eine Außenseiterrolle. Im Gefolge einer andeutungsreichen Kunstdebatte, in deren »Zusammenklang […] sich für die schärfer Hörenden schon etwas wie Zittern und Mißaccord« (LA, S. 34) mischte, spricht van der Straaten Klartext, hatte er es auch zunächst bei »Allgemeinsätzen« (LA, S. 35) belassen wollen; er fragt in die Runde: Und wer ist Euer Abgott? Der Ritter von Bayreuth, ein Behexer wie es nur je einen gegeben hat. Und an diesen Tannhäuser und Venusberg-Mann setzt Ihr, als ob Ihr wenigstens die Voggenhuber wäret, Eurer Seelen Seligkeit und singt und spielt ihn Morgens, Mittags und Abends. Oder dreimal täglich, wie auf Euren Pillenschachteln steht. […] Ich sagʼ Euch, fauler Zauber. Und das ist es, was ich zweierlei Maß genannt habe. Den Murillo-Zauber möchtet Ihr zu Hexerei stempeln und die Wagner-Hexerei möchtet Ihr in Zauber verwandeln. Ich aber sagʼ euch, es liegt umgekehrt, und wenn es nicht umgekehrt liegt, so sollt Ihr mir wenigstens keinen Unterschied machen. (LA, S. 35–36)
Van der Straatens Vorhaltung verpufft, ohne dass ein ernsthaftes Gespräch hätte einsetzen können. Durch eine wenig überzeugende Geste löst sein Schwippschwager, Major von Gryczinski, den Konflikt durch eine Plattitüde unter Einschluss einer Goethe-Reminiszenz auf: »›So lassen wir sie denn leben, Alle diese Tannhäuser, wobei sich Jeder das Seine denken mag. […] Was sind Worte? Schall und Rauch. Stoßen wir an. Hoch, hoch!‹« (LA, S. 36) Wie Melanie van der Straaten, so entstammen auch Die Poggenpuhls (1895/96) altem Adel und konservieren einen Familienstolz, dem die ökonomische und soziale Stellung der Gegenwart entgegensteht – und doch steht die Familie »überall in Achtung und Ansehen, weil ihr Thun, und das war die Hauptsache, von einer großen persönlichen Selbstlosigkeit begleitet war.«64 Das handlungsleitende Motiv setzt hier an: »Diesen Ruhm der Familie womöglich noch zu steigern, war das, was die schwesterliche Trias mit allen Mitteln anstrebte.« (PP, S. 12) Obgleich freundschaftliche Beziehungen zur Familie des jüdischen Bankiers Bartenstein bestehen und zwei der fünf Kinder grundsätzlich mit ›Vernunftehen‹ sympathisieren, regen sich innerhalb der Familie Poggenpuhl erhebliche Widerstände: Manon, die unter der retardierenden sozialen Geltung noch am meisten leidet, zugleich forciert Kontakt zu »Bankierhäusern, unter denen sie die nicht-christlichen bevorzugte« (PP, S. 10–11),
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Theodor Fontane, Die Poggenpuhls [=PP], GBA, Das erzählerische Werk 16, S. 11.
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sucht, diese Tochter nun bekämpft die Option eines gesellschaftlichen Aufstiegs durch ›Mischehe‹ schließlich am entschiedensten: »Raffe Dich auf, sei stärker als Ahasverus war (ich meine den Perserkönig), der auch der Macht der Esther erlag« (PP, S. 86), schreibt sie an ihren Bruder Leo, der sich im fernen Thorn anschickt, einer Tochter der jüdischen Blumenthals näherzukommen. Zugleich stellen die Bartensteins in Berlin ein Spiegelbild der van der Straatens dar, wenn auch Herr Bartenstein bereits »rumänischer Generalkonsul« (PP, S. 87) ist, was, wie Manon weiß, »höher steht als Kommerenzienrat« (PP, S. 87). Doch beide Ehefrauen heißen »Melanie« (PP, S. 87– 88), beide Familien leisten sich Bildergalerien. Viele weitere Mitteilungen gestalten eine reiche und zuverlässige Informationslage, allein der Hinweis auf Besuche von Droysen, Mommsen und Leopold von Ranke (PP, S. 87) ist bezeichnend für die herausragende gesellschaftliche Position, durch die sich Manon gleichwohl nicht ›korrumpieren‹ lässt: »Es ist ein Unterschied, muß ein Unterschied sein.« (PP, S. 87) Eine Konstellation bedarf der genaueren Betrachtung: Während Sophie damit beschäftigt ist, die Kirche zu Adamsdorf im Auftrag ihrer Tante mit biblischen Bildern auszumalen, wobei sie sich auf Motive des Alten Testaments fokussiert, nähert sich Leo in Thorn Esther Blumenthal. Von dieser Episode erhält der Leser Mitteilung durch Briefe, alle Figuren äußern sich vermittelt. Später klingt überdies an, dass die beauftragende Tante auch solche Motive wünscht, die »die Auferstehung […] durch einen Hergang aus dem Alten Testament« (PP, S. 110) darstellen; Sophie freilich kennt Stellen der Bibel, die die Idee einer Sukzession von Judentum zum Christentum unterstützen, doch fühlt sie sich zu der Aufgabe, diesen »Moment« (PP, S. 110) zu gestalten, künstlerisch nicht gewachsen. Hierauf reagiert Manon und motiviert die Tante dadurch zu einem Bekenntnis: »Gott sei Dank,« sagte Manon in einem plötzlichen Anfall von Uebermut. »Sage das nicht, Kind,« bemerkte die Tante. »Dir erscheint es komisch; aber was Jahrhunderte mit Ernst und Achtung angeschaut haben, darin seh’ ich immer etwas, was man respektieren muß.« Manon errötete und erhob sich dann und küßte der Tante die Hand. (PP, S. 110)
Manons Ausruf ist kaum religionskritisch, hierzu verhält sie sich vielmehr indifferent. In ihrer aufgeklärten Toleranz akzentuiert allerdings die Tante, dass Religion und Tradition »Achtung« (PP, S. 110) verdienen, gleichgültig, wie man sich persönlich dazu verhalten mag. Ausgerechnet die spontane Erleichterung Manons darüber, das Verbindende von Judentum und Christentum nicht künstlerisch umgesetzt erdulden zu müssen, erzeugt ein Bekenntnis der Tante, das geeignet ist, zwischen religionsskeptischer Distanz und Achtung des Anderen zu vermitteln. Wenig harmonisch auflösen lassen sich dabei Manons Ratschläge, die sie Leo umfassend brieflich mitteilt
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und sich, äußerlich, auf die Ehefrage beziehen. Manon spielt alle Gesichtspunkte einer möglichen Verbindung zwischen Leo und Flora Bartenstein durch, und sie führt ihm die Konsequenzen vor Augen, die sich ergeben, würde in der Provinz eine solche Ehe geschlossen werden: In diesem Falle bliebe Dir also nur Standesamt, ein, so aufgeklärt ich bin, mir geradezu schrecklicher Gedanke. Solch ein Schritt würde Dich nicht nur von der Armee, sondern, was mehr sagen will, auch von der »Gesellschaft« ausschließen und Du würdest von da ab in der Welt umherirren müssen, fremd, abgewiesen, ruhelos. Und da hätten wir dann den andern Ahasverus. Thu uns das nicht an. Therese würd’ es nicht überleben. (PP, S. 86)
Rechtlich sind Juden gleichgestellt, das weiß auch Manon. Doch eine gesellschaftliche Akzeptanz ist mit der rechtlichen Anerkennung nicht gleichzusetzen, mehr noch, der soziale Status des christlichen Deutschen Leo würde schweren Schaden nehmen, er selbst müsste – dem ›ewigen Juden‹ gleich – »in der Welt umherirren […]« und »fremd, abgewiesen, ruhelos« existieren. Weder die beiden Söhne beim Militär noch die drei ledigen Töchter entfalten indes überzeugende Lebensentwürfe, um den gesellschaftlichen Aufstieg aus eigener Kraft zu meistern, wenn auch die Töchter Poggenpuhl »in ihren Gedanken und Hoffnungen eigentlich nur für die ›zwei Jungens‹« (PP, S. 11) lebten: Das Erbe der Tante, ein unverhofftes Glück, rettet am Ende die ökonomische Lage der Familie. Zuvor hatte Manon noch pessimistisch prophezeien müssen: »Deine ganze Zukunft, so viel wird mir immer klarer, dreht sich um die Frage: Esther oder Flora. Flora, Gott sei Dank, ist blond, sogar hellrotblond. Lebe wohl. In alter Liebe« (PP, S. 85). Auch Mathilde Möhrings Gatte, der spätere Bürgermeister Hugo Großmann, entstammt einer jüdischen Familie,65 wenngleich sein ›Familienerbe‹ am geringsten durchscheint: Denn schon sein Vater war Bürgermeister, und
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Ich schließe mich hier einzelnen Ausführungen Gabriele Radeckes an, vgl. GBA, Das erzählerische Werk 20, S. 140–145 und Dies., Hugo Großmann und der Prozess jüdischer Verbürgerlichung. Eine textgenetische Lektüre von Theodor Fontanes Nachlassroman »Mathilde Möhring«. In: StormBlätter aus Heiligenstadt 16 (2011), S. 71–84. Radecke hat herausgearbeitet, dass im Roman »zahlreiche Anspielungen auf die Überbleibsel jüdischer Lebensgewohnheiten und Glaubensrituale in Hugos Umfeld« enthalten sind, »vor deren Hintergrund die bürgerliche Integration der Familie Großmann erst sichtbar wird« (S. 141). Überzeugend erscheinen mir Radeckes Überlegungen da, wo sie nicht über Namenssymbolik spekuliert (»Hugo« sei »christlich-germanisch«, »Großmann« der »jüdische[n] Tradition« zuzuschlagen) oder äußere Merkmale (»schwarzer Bart und Hut sind die hervorstechendsten Attribute orthodoxer Juden«) interpretiert, sondern Äußerungen von Hugo heranzieht. Mathilde, so äußert Hugo, habe »gerade das«, »was ihm fehlt«, denn sie ist »ein echtes deutsches Mädchen« (MM, S. 45, vgl. GBA I/20, S. 143). Auch Radeckes Hinweise auf Mathildes Wiederannahme ihres Mädchennamens (MM, S. 122) und die angedeutete jüdische, also koschere Speisepraxis Hugos (MM, S. 83) überzeugen. Durch ihre eingehende Auseinandersetzung mit den Handschriften gelingt es Radecke, eine »Verdichtung des jüdischen Kontextes« im Schreibprozess zu rekonstruieren (GBA, Das erzählerische Werk 20, S. 144).
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im gesellschaftlichen Austausch der Familien Möhring und Großmann erlebt keine Seite Irritationen. Mathilde, Kind einfacher Leute, realisiert die Forderungen der Aufklärung nachgerade mustergültig und vollzieht einen beachtenswerten, selbstorganisierten Bildungsgang (sie geht regelmäßig in »Lesehallen für Frauen«66 (83), der gleichwohl nicht ausreicht, um den ersehnten Aufstieg durchzusetzen. Hierfür braucht sie den eifrigen SchillerLeser – »Nur sein Schiller steckt voller Lesezeichen und Eselsohren« (MM, S. 20) – und Theaterfreund Hugo, der als antriebsarmer Rechtskandidat zur Untermiete bei Möhrings wohnt und schon kurz nach Antritt der von Mathilde im weiteren Verlauf maßgeblich geförderten Bürgermeisterkarriere vorzeitig verstirbt, ohne dass Mathildes Emanzipationsprozess dadurch gefährdet wird: Als Witwe wird sie Lehrerin. Zuvor in Woldenstein, wo Hugo als Bürgermeister waltet, »ging alles gut« (MM, S. 95), doch der Landrath verhielt sich kühl und es war ganz ersichtlich daß er weder von der »Initiative« die sein eignes Licht in den Schatten stellte, sonderlich erbaut war, noch von Hugo’s Nathanschaft und seiner Gleichberechtigung der drei Confessionen. Es kamen Begegnungen vor, in denen Hugo »geschnitten« wurde, besonders auch von der Frau Landräthin, die Tänzerin erst in Agram und dann in Wien gewesen war, und sich die Festigung des Christlich Germanischen zur Lebensaufgabe gestellt hatte. (MM, S. 95)
Die Zuschreibung »Hugos Nathanschaft«, vom belesenen und sehr »gebildet« sprechenden jüdischen Bürger Silberstein im Dialog entwickelt, Ist er nicht wie Nathan? Ist er nicht der Mann, der die 3 Ringe hat? Ist er nicht gerecht und sieht doch aus wie ein Apostel[?] Und seine Frau Gemahlin, eine sehr gebildete Frau, hat gesprochen von der Dreieinigkeit und der Papst in Rom und Luther und Moses die müßten aufgehn in Einem. Und dies sei Preußen. Und sie sei gesegnet wegen der Einheit. Das hat sie gesagt, und ich sage Dir Moses bleibt, Moses hat die Priorität.« (MM, S. 95)
wird vom Erzähler als »wahr« ratifiziert, wird sie doch ohne Anführungszeichen übernommen. Die zweite Einschätzung Silbersteins – »Er hat die Initiative« – wird durch die bestehenden Anführungszeichen als unzutreffend, zumindest aber fraglich markiert: In der Tat dirigiert Mathilde die politischen Geschicke und bildet Initiativen aus, die Hugo alsdann lediglich umsetzt. Während Hugo unter der »Gegnerschaft« (MM, S. 96) des Landrats und seiner Gattin leidet und die Gründe nicht versteht – »›Du verstehst es nicht‹ sagte Thilde« (MM, S. 96) –, gelingt es Mathilde, eine Annährung durch strategisches Handeln zu erreichen. »Hugos Nathanschaft« freut weiland nur seine jüdischen Mitbürger, nicht aber den Landrat und vielleicht
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Theodor Fontane, Mathilde Möhring [=MM], GBA, Das erzählerische Werk 20, S. 83.
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noch weniger dessen Gattin. Wenn van der Straaten den Wagner-Kult seiner Familie und Freunde als Gefahr deuten und sich hierbei nur auf sein Urteil verlassen kann, ist es hier Mathilde, die die Widerstände nicht aufklärt oder artikuliert, wohl aber provisorisch überwindet. Diese Erzählungen, die sich unter der Leitfrage als Trilogie zusammenführen lassen, diskutieren die bereits weit fortgeschrittene Akkulturation der deutschen Juden. In unterschiedlichen Graden machen sie erfahrbar, dass die formale Gleichstellung der Juden nur dann umfassend gilt, wenn bestehende Vorurteile, stereotype Verallgemeinerungen und pauschale Ressentiments ihre handlungsleitende und Denkgewohnheiten prägende Bedeutung verlieren: Doch nichts, so scheint es, kann etwa Manon Poggenpuhl davon abhalten, Bartenstein vor dem Hintergrund ihrer Herkunft zu beurteilen. In ihren Selbstwahrnehmungen mehr (van der Straaten) oder weniger (Hugo Großmann) gefestigt, realisieren und verstehen Fontanes jüdische Protagonisten die subtilen gesellschaftlichen Zurückweisungen und Schranken oft nur unzureichend. Die Darstellung der Beziehungsgeflechte in den Romanen repräsentieren soziale Ordnungsmuster und ihre Mechanismen. Die Erzählerstimme nimmt einen übergeordneten Standpunkt ein, der es ermöglicht, die eingeschränkte Selbstwahrnehmung der jüdischen wie der nichtjüdischen Figuren zu beobachten. Durch die realistisch-distanzierte Erzählweise werden überdies Zusammenhänge deutlich, die in der eingeschränkten Sichtweise keine Repräsentation finden. Die Beziehungen der Figuren zur Aufklärung sind gleichwohl unterschiedlich konstruiert und ermöglichen es demnach, über die verhandelten Zusammenhänge unterschiedlich ›aufzuklären‹.
III. ›Erlebte Judenfrage‹ nach Fontane: Ernst Simons eigene Ambivalenz Zwischen 1800 und 1930 wurde das ›Erbe der Aufklärung‹ von deutschen Juden verhandelt, aus Ideen und Postulaten sollte eine soziale Wirklichkeit geschaffen werden, die sich im liberalen wie orthodoxen Judentum an der Person Moses Mendelssohns als erfolgreichem ›Bürger beider Welten‹, der die Kultur der deutschen Aufklärung angenommen und dem doch eine Synthese zwischen den aufklärerischen Ideen und der jüdischen Tradition gelungen war, festmachen ließ.67 Spätestens ab 1930 setzte eine kritische Erforschung der Aufklärungsepoche einschließlich ihres ›Erbes‹ ein. Für diesen Ansatz stehen die Arbeiten von Hannah Arendt und Bernard Dov
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Vgl. Katz, Varianten des jüdischen Aufklärungserlebnisses (wie Anm. 47), S. 5–7.
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Weinryb, von Selma Stern und Jacob Katz.68 Nach 1945 widmeten sich auch Literaturwissenschaftler diesem Fragehorizont und untersuchten die Zeit »von Mendelssohn bis Kafka«.69 Wie Michael Brenner herausgestellt hat, begann »[d]ie Deutung dieser Epoche […] erst nach ihrer Zerstörung.«70 Forschten deutsche Historiker mit dem Interesse, »zu erfahren, was in der deutschen Geschichte falsch gelaufen war«, so waren die Motive jüdischer Historiker vielfältiger, ihre Urteile zielten sowohl auf die »kulturellen Errungenschaften von Heinrich Heine […] bis Arnold Schönberg« als auch auf die »unvollständig gebliebene gesellschaftliche Integration der Juden«.71 Am Beispiel der Historiker George L. Mosse, Peter Gay und Fritz Stern zeigt Brenner, dass sie einerseits methodisch »mehr mit kultur- und geistesgeschichtlichen als mit sozialgeschichtlichen Ansätzen« operierten und dabei auf die eigenen (und auch familiären) Erfahrungen zurückgriffen: Sie alle »stammten aus dem am stärksten assimilierten Segment des deutschen Judentums.«72 »Ihre Autobiographien«, so die epistemische Pointe, »dienen als Schlüssel zu ihrem Geschichtsverständnis […].«73 Zu den Biographien von Mosse, Gay und Stern gehören auch Kultur- und Bildungserfahrungen, die dem Selbstverständnis ihrer bürgerlichen Elternhäuser gemäß selbstverständlich vermittelt wurden. Diese Ressource haben sie als Historiker nutzbar gemacht, um dem angezeigten Aufklärungsinteresse nachzukommen. Eine Ressource bildete das literarische Werk Fontanes, das sie nach einem »Schock des Wiedererkennens«74 fruchtbar gemacht haben, an dem sie gleichwohl auch scheitern konnten. In seiner Autobiographie schildert etwa Fritz Stern nicht nur, dass er mit seinem Vater das Alte Testament und Balladen Theodor Fontanes gelesen hatte, sondern auch, dass ihn der Historiker Alan Bullock 1966/67 aufgefordert hatte, einen Beitrag zu einer Vortragsreihe über »Schriftsteller und Künstler des neunzehnten Jahrhunderts« zu leisten, und er folgender-
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Arendt[-Stern], Aufklärung und Judenfrage (wie Anm. 3); Bernard Dov Weinryb, Zur Geschichte der Aufklärung bei den Juden. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 76 (1932), S. 139–153; Selma Stern-[Täubler], Die Judenfrage in der Ideologie der Aufklärung und Romantik. In: Der Morgen 11 (1935), S. 339–348; Jacob Katz, Die Entstehung der Judenassimilation in Deutschland und deren Ideologie, Frankfurt am Main 1935. Heinz Politzer, From Mendelssohn to Kafka. The Jewish Man of Letters in Germany. In: Commentary 4 (1947), S. 344–351. Michael Brenner, Symbiose oder Selbsttäuschung. Rückblicke auf das deutsche Judentum. In: Nicolas Berg, Omar Kamil et al. (Hrsg.), Konstellationen. Über Geschichte, Erfahrung und Erkenntnis. Festschrift für Dan Diner zum 65. Geburtstag, Göttingen 2011, S. 143–156, hier S. 143. Ebd., S. 143f. Ebd., S. 146 und 148. Ebd., S. 146. Craig, Über Fontane (wie Anm. 36), S. 220.
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maßen reagierte: »Als Thema schlug ich Theodor Fontane vor, dessen Romane ich für meine Arbeit über Bleichröder verschlungen hatte.«75 Neben Sterns berühmter, auch in der Fontane-Forschung rezipierten Monographie über den Bankier Gerson Bleichröder haben auch George L. Mosse76, sein Großcousin Werner E. Mosse77 und Peter Gay78 Fontane-Lektüren in ihre historiographischen Arbeiten eingeflochten und fruchtbar gemacht: Die Erkenntnisse, die sie beim Lesen der Erzählungen und Romane Fontanes gewonnen haben, gehen, wie ich hier nicht im Einzelnen nachweisen kann, über additive Illustrationen weit hinaus. Ihre Übersetzungsleistungen – von Lektüreerfahrung in historisches Urteil – verdienen gleichwohl eine genaue Analyse, weil ihnen jene »Produktivität« eigen ist, die die Geschichtswissenschaft heute neu zu entdecken sich bemüht. Gleiches gilt für den Literaturwissenschaftlicher Henry Remak, der nicht nur explizit zu Fontane und dem jüdischen Kultureinfluß in Deutschland unter den Leitbegriffen »Symbiose und Kontrabiose« Stellung bezogen,79 sondern auch interpretierend wichtige
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Fritz Stern, Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen, München 72007, S. 130 und 307, auch Ders., Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, Reinbek 1988. Vgl. George L. Mosse, Jüdische Intellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion und Nationalismus. Mit einer Einleitung von Aleida Assmann, Frankfurt am Main/New York 1992, S. 7–15, Ders., Aus grossem Hause. Erinnerungen eines deutsch-jüdischen Historikers, München 2003. Dazu Dieter Langewiesche, Bildungsliberalismus und deutsches Judentum. Historische Reflexionen auf den Spuren von George L. Mosse. In: Medaon 12 (2018), S. 1–16. In seinem großen Aufsatz Die Juden in Wirtschaft und Gesellschaft verhandelt Werner E. Mosse die »spezifischen Spannungen zwischen individuellen (oft in schlechten Verhältnissen befindlichen) Adeligen und reichgewordenen (oder auch bereits arrivierten) Juden«, die sich »aus der […] Neigung der letzteren zum Erwerb von Landgütern (oder auch Patrizierhäusern in den Städten) zu haben [scheinen].« Der Besuch des Geldverleihers Baruch Hirschfeld beim Gutsherrn Dubslav im Stechlin ist für Mosse charakteristisch: »[…] Fontane hatte (dem Vorbild Gustav Freytags folgend[ ]) […] eine ähnliche Situation beschrieben«, notiert Mosse, um anschließend ausführlich aus dem Stechlin zu zitieren. Vgl. Werner E. Mosse, Die Juden in Wirtschaft und Gesellschaft. In: Ders. und Arnold Paucker (Hrsg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland, 1890–1914. Ein Sammelband, Tübingen 21998, S. 58–113, hier S. 89. Weitere Beispiele aus dem wissenschaftlichen Œuvre Werner E. Mosses ließen sich beibringen, etwa – wiederum am Beispiel einer Figurenkonstellation im Stechlin – sein Aufsatz Der Niedergang der Republik und die Juden. In: Ders. und Arnold Paucker (Hrsg.), Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik. Ein Sammelband, Tübingen 21966, 3–42. Mosse diskutiert hier das ablehnende Verhältnis der Juden des unteren Mittelstands zur Sozialdemokratie und bestimmt es als »bezeichnend, daß Theodor Fontane um einen zwischen dem feudalen Junker von Stechlin und dem sozialistischen Drechsler stehenden Wahlkandidaten zu zeigen, den liberalen Anwalt Katzenstein erfand, der mit größter Wahrscheinlichkeit als Jude gedacht ist.« Mosse schlussfolgert, dass in Katzensteins Haltung der »Wunsch[] nach Bewahrung und Vollendung der Judenemanzipation« insofern zum Ausdruck kommt, als er sich zur Wahrung der gruppenspezifischen »[w]irtschaftliche[n] Interessen und soziale[n] Stellung« »dem linken Flügel der liberalen Bewegung« anschloss (6f.). Vgl. Peter Gay, Freud, Juden und andere Deutsche, Hamburg 1986, Ders., Meine deutsche Frage. Jugend in Berlin 1933–1939, München 32000. In: Hanna Delf von Wolzogen und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor
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Einsichten zur Figurenrede in Fontanes Erzählungen vor dem Hintergrund antisemitischer Ressentiments beigetragen hat. 80 Auch für diesen Fall ist bezeugt, dass »[d]er Schriftsteller […] in der Familie Remak verehrt, ›Stine‹, ›Cécile‹ oder ›Effi Briest‹ reihum gelesen und diskutiert [wurden]. So manche Route der ›Wanderungen‹ wurde nachgegangen.«81 Neben diesen Experten-Lesern ist der zionistische Aktivist Kurt Blumenfeld besonders interessant: Nicht nur erwähnt auch er in seiner Autobiographie prägende Lektüren kanonischer deutscher Autoren82 und weist, wie schon zitiert, darauf hin, dass »die deutsche Judenfrage […] in allen ihren Verschlingungen« kennengelernt werden könne, wenn man »die Romane von Theodor Fontane daraufhin«83 liest. Es war Blumenfeld, der exakt vor diesem kulturell-biographischen Hintergrund und auf Grundlage einer klaren Haltung zum ›Assimilationsproblem‹ – »Man muß sich zwar ›aus der Assimilation ins Judentum retten‹, aber man ist ja doch durch einen großartigen, fruchtbaren Prozeß gegangen«84 – nachdrücklich, wenn auch, soweit ich sehe, ›nur‹ in Briefen, auf dem erkenntnisfördernden Potential von Literatur insistierte. Seine Position, die als Motto diesem Aufsatz vorangestellt ist, stimmt mit einem Urteil Wolfgang Hardtwigs überein, demzufolge »die Vermittlung historischer Erfahrung und Orientierung durch fiktionale Literatur diejenige durch geschichtswissenschaftliche Darstellung um ein Vielfaches [unzweifelhaft übertrifft].«85 Blumenfelds brieflich gegenüber Hannah Arendt geäußerter Wunsch oder Vorschlag, auch »den Einzelfall zu beschreiben«, korrespondiert mit der Einsicht, dass wissenschaftliche Forschung immer nur Aspekte des in Frage stehenden Problems und so auch, im konkreten Fall, der Geschichte der deutschen Juden in den Blick bekommt. So intendiert auch er, dass es Sinn ergibt, »der bloßen Tradition« eine »authentischere, humanere, differenziertere, aufrichtigere,
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Fontanes, 13.–17. September 1998 in Potsdam. Bd. 1: Der Preuße, die Juden, das Nationale, Würzburg 2000, S. 183–195. Henry H.H. Remak, Politik und Gesellschaft als Kunst: Güldenklees Toast in Fontanes Effi Briest. In: Jörg Thunecke und Eda Sagarra (Hrsg.), Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift for Charlotte Jolles, Nottingham 1979, S. 550–562. Das berichtet Volker Müller, Der Weg nach Sanssouci. Das Fontane-Jahr. Notizen, Plädoyers und Eskapaden, Würzburg 2001, S. 120–123, hier S. 122. Vgl. Blumenfeld, Erlebte Judenfrage (wie Anm. 41), S. 28–29 und passim Ebd., S. 57. – Er war es im Übrigen, der nach einer Anfrage Lotte Engels dafür sorgte, dass die Briefe Fontanes an Wilhelm Wolfsohn in die Sammlung des Leo Baeck Instituts in Jerusalem aufgenommen wurden. Vgl. Einleitung. In: Hanna Delf von Wolzogen und Itta Shedletzky (Hrsg.), Theodor Fontane und Wilhelm Wolfsohn – eine interkulturelle Beziehung, Tübingen 2006, S. IX–XXIV, hier S. XXII–XXIII. Zit. nach Daniel Azuélos, Jüdisches Selbstverständnis und deutsches Kulturgut. In: Jean-Marie Valentin und Jean-François Candoni (Hrsg.), Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005: »Germanistik im Konflikt der Kulturen«. Bd. 12, Bern/Berlin et al. 2007, S. 275–279, hier S. 279. Hardtwig, Fiktive Zeitgeschichte? (wie Anm. 28), S. 117.
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machtkritischere« »Form der Erinnerung entgegenzustellen.«86 Es ist signifikant, dass sich Blumenfeld ausweislich seiner Briefwechsel ab spätestens 1945 dezidiert der literarischen Tradition als Ressource zuwendet und Lektüreerfahrungen stets idiosynkratrisch auf sein Lebensthema bezieht. Dabei bezieht er sich nicht etwa ausschließlich auf Fontane, sondern auch auf Kafka und, besonders konzentriert, auf Schiller. In demselben Brief an Hannah Arend heißt es: »Ich wollte ihm [d. i. Karl Jaspers] sagen, daß Schiller mit seiner Abneigung gegen die Juden in der Originalausgabe der ›Räuber‹ von der deutschen Judenfrage mehr versteht als Graetz und Dubnow zusammen.«87 Aus diesem Beispiel lässt sich herausarbeiten, dass auch eine abwertende Haltung Juden gegenüber wesentlich zum Verständnis beiträgt. Blumenfeld belässt es gleichwohl nicht bei abbreviativen Bemerkungen, sondern verbindet in zahlreichen Briefen Probleme der deutsch-jüdischen Geschichte und das mutmaßliche Scheitern der vieldiskutierten ›Symbiose‹ mit Konfigurationen ihrer Repräsentation in der Literaturgeschichte. Dem Verdacht, Blumenfelds Hinwendung zur Literatur würde eine ›sentimentale Alterserscheinung‹ darstellen, wäre die kontinuierliche Verbindung von politisch-historischem Aufklärungsinteresse mit dem Problem seiner Erfahrbarkeit entgegenzuhalten. Darin besteht, meine ich, eine Einsicht in die »so viel größere Identifikationsmöglichkeit der Rezipienten mit den Akteuren der erzählten Geschichte, die Möglichkeit für viele, sich in der erzählten Geschichte wiederzufinden und teilzunehmen an den Geschicken von Menschen, die räumlich und vor allem zeitlich außerhalb des eigenen Kommunikationskreises stehen.«88 An einem weiteren Fallbeispiel soll nun abschließend herausgestellt werden, dass – wie Wolfgang Hardtwig einkalkuliert hat – »Personalisierung« und »Emotionalisierung« auch »eine Bedrohung der wissenschaftlichen Objektivität« zur Folge haben können. Eine solche Konsequenz wird ersichtlich, wenn man Ernst Simons Auseinandersetzung mit den beiden, hier stets in Verschränkung gedachten Themen, also Fontanes Auseinandersetzung mit der ›Judenfrage‹ und die Konsequenzen der deutsch-jüdischen Geschichte, rekonstruiert. Wie Blumenfeld, so sah sich auch Simon außer Stande und nicht daran interessiert, das eigene biographische, und d. h. auch: kulturelle Erbe abzustreifen. Yeshua Amir hat die vielen Aussagen Simons und sein Selbstverständnis als ›Brückenbauer‹ auf den Punkt gebracht: »Indem er sich einer neuen Wirklichkeit verband, mochte er sich von keiner alten trennen.«89 Risiken dieser intellektuellen Hypothek lassen
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Ebd., S. 129. Kurt Blumenfeld an Hannah Arendt, 5. November 1954. In: Blumenfeld, Im Kampf um den Zionismus (wie Anm. 42), S. 255. Hardtwig, Fiktive Zeitgeschichte? (wie Anm. 28), S. 132. Yeshua Amir, Akiba Ernst Simon zum Gedächtnis. In: Mitteilungsblatt 55 (1988), S. 5f.
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sich aufzeigen, wenn Simons einschlägiger Text in den Blick genommen wird: Eine Diskussion seines Aufsatzes Fontanes jüdischer Komplex soll diesen Gesichtspunkt illustrieren. Als notwendiges Hintergrundwissen muss ausreichen, dass auch er aus einer assimilierten und gebildeten, den Ideen der Aufklärung verpflichteten Familie stammte: Sein Vater hieß nach Lessing »Gotthold Ephraim«90, wie auch Simon später als ein in »Nathans Geist«91 stehender Intellektueller rezipiert wurde. Schon der Student Simon hatte Fontane gelesen92 und auch sehr viel später noch freute sich der Jerusalemer Emeritus über »die fünf Bände ›Wanderungen‹«, die er aus Anlass seines 69. Geburtstags von Julie Braun-Vogelstein aus New York erhalten hatte.93 Im Zentrum seines Alterswerk stand ein Buchvorhaben, mit dem er über den faktisch wirksamen Zusammenhang von Geschichte und Gegenwart »ein erstes Zeugnis« ablegen zu können hoffte; dieses Buch werde, so schreibt Simon, »vielleicht auch« von Hofmannsthal, »sicher« aber von Fontane handeln und sei bereits auf den Titel »›Empfangen und Geben‹« festgelegt.94 Noch etwas präziser wurde Simon in einem Brief an den Schweizer Diplomaten und Historiker Carl Jacob Burckhardt: Das Anliegen des Buches bestehe darin, »einige Wechselwirkungen deutschen und jüdischen Geistes an fünf oder sechs grossen Figuren genauer zu analysieren, von denen jede ein Kulturgebiet repräsentiert: Pestalozzi, Heine, Fontane, Freud, eventuell Hofmannsthal, Harnack und Baeck.«95 Diese Auswahl und den Ausschluss von Karl Marx begründet Simon unter Verweis darauf, dass »ich nur über solche Gestalten etwas Zusammenfassendes zu sagen versuchen darf, mit denen ich Jahrzehnte geistig gelebt habe.«96 In diese Zeit fällt auch und das nicht zufällig, sondern begründet durch seine spezifische Evaluierung des Projekts Aufklärung, Simons Berufung in den Wissenschaftlichen Senat der 1971 gegründeten Lessing-Akademie in Wolfenbüttel.97 Zur gleichen Zeit,
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Vgl. die Widmung in Ernst Simon, Chajjim Nachman Bialik. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk. Mit einigen Übersetzungsproben und Gedichtanalysen, Berlin 1935: »Herrn Gotthold Ephraim Simon, dem menschlichsten Erzieher, dieses jüdische Buch zu seinem siebzigsten Geburtstag.« Vgl. z.B. Jörg von Uthmann, In Nathans Geist. Schriften und Reden Ernst Simons. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (16. August 1980), o.S.: »[…] Simon [nimmt] gegenüber anderen Religionen, dem Christentum und dem Islam, die tolerante Haltung Nathans des Weisen ein.« Vgl. den Brief des Achtzehnjährigen Ernst Simon an seine Eltern. In: Leo Baeck Institut Jerusalem (Hrsg.), Sechzig Jahre gegen den Strom. Ernst A. Simon, Briefe von 1917–1984, Tübingen 1998, S. 14. Ernst Simon an Julie Braun-Vogelstein, 9. Juli 1968. In: ebd., S. 179. Ebd., S. 180. Ebd., S. 183. Ebd. Vgl. Günter Schulz, Arbeitsbericht der Lessing-Akademie über die Jahre 1971–1973. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 1 (1974), S. 331–337.
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im September 1969, stand Simon mit Peter Szondi im Austausch und berichtete ihm, eine »ziemlich abgeschlossene Stoffsammlung« vorbereitet zu haben: »besonders in […] Marbach habe ich viel gefunden, nach Potsdam wagte ich mich nicht, habe aber guten Kontakt mit dem Direktor und auch H.H. Reuter in Weimar – für eine Darstellung auszuwerten. Ich hoffe, es noch zu erleben.« 98 Seine Thesen hatte Simon regelmäßig vorgetragen. Vermutlich in Israel war er mit einem Vortrag über »deutsch-jüdische Wechselbeziehungen« an die Öffentlichkeit getreten, das Manuskript übersandte er außerdem seinem Freund – aus der gemeinsamen Heidelberger Studienzeit – Julius Löwenstein zur kritischen Lektüre. Mit seiner Stellungnahme über Ursache und Geltung des ›jüdischen Problems‹ bei Theodor Fontane bezog Löwenstein sodann Position zu derjenigen wissenschaftlichen Frage, die sein enger Freund in den 1960er Jahren mit einigem Nachdruck bearbeitete: Damit ist die Frage gestellt, warum die deutsch-jüdische ›Symbiose‹ so leicht möglich war. Doch wohl nur, weil beide dieselbe Tradition, die Bibel hatten. … Deshalb sympathisierte Fontane, und nicht nur er, mit dem jüdischen Juden und nicht mit den entjudeten und entwurzelten. Nur ein christliches Abendland und ein jüdisches Judentum hatten sich und haben sich etwas zu sagen … 99
Die artikulierte Annahme, Fontanes – wie auch immer geartete – ›Sympathie‹ würde den »jüdischen Juden«, den gesetzestreuen und traditionsbewussten Orthodoxen also, gelten, während er sich an den »entjudeten und entwurzelten«, sprich: den liberalen, schon akkulturierten oder anpassungsbereiten Reformjuden störte, verwies auf die gleichsam kanonische Dichotomie, die die Debatte um die Stellung der Juden in Deutschland seit der Aufklärung durchzogen und, in zunehmender Verschärfung, bestimmte hatte. Löwensteins Vermutung forderte Simon gleichwohl zum Widerspruch auf, und er konstatierte: Fontane liegt komplizierter, als Deine Formulierung ihn sieht. […] Es ist wie alles bei ihm, was ihn wirklich anging, ambivalent besetzt. Er hat es nämlich, und zwar in zunehmendem Grade, den Juden als Gesamtheit übel genommen, dass sie sich nicht assimilieren konnten, und dem einzelnen, wenn er es tat.100
–––––––––––– Ernst Simon an Peter Szondi, 5. September 1969 (DLA Marbach, Nachlass Szondi, Signatur 88.9.968). Szondi und sein Verhältnis zum Judentum im Kontext verhandelt Hans-Christian Riechers, Peter Szondi. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt am Main 2020. 99 Julius Löwenstein an Ernst Simon, 18. Februar 1972. In: ebd., S. 208, Anm. 188. 100 Ernst Simon an Julius Löwenstein, 6. März 1972. In: Leo Baeck Institut Jerusalem, Sechzig Jahre gegen den Strom (wie Anm. 92), S. 208. 98
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Simon diagnostizierte eine grundlegende »Ambivalenz« bei Fontane und schuf damit ein Schlagwort, das heute auf eine erstaunliche Karriere zurückblicken kann.101 Damit verwies er zugleich auf seinen – auch in der FontaneForschung vielzitierten – Artikel für die ›Neue Zürcher Zeitung‹, der unter dem Titel Fontanes jüdischer Komplex 1970 erschienen war. Dort hatte Simon die These vertreten, dass »fast alle Personen, die ihm wichtig waren […], so zum Beispiel Bismarck und das Preußentum, die Hohenzollern und der Adel, England und Frankreich, seine Frau und die Institution der Ehe […]«, eine »latente Ambivalenz« bei Fontane erweckten.102 Simon rekapituliert, was auch die Forschung nach ihm immer wieder getan hat: Paul Meyers Zeugnis, das Problem der ›Mischehe‹, Paulus Cassel ›in‹ Effi Briest, Fontanes Mitgliedschaft im Komitee für ein Heine-Denkmal und seine zahlreichen jüdischen Freunde von Berthold Auerbach über Moritz Lazarus bis Gustav Karpeles, schließlich die vielen möglichen Verarbeitungen lebensweltlicher Erfahrungen in den Erzähltexten. Simon glaubt, der junge Fontane habe viele Juden geliebt und an ihre »Assimilierbarkeit« geglaubt, und sieht sich doch genötigt, nach der Gesamtschau zu fragen: »Aber hätte er das ›Einverleiben‹ wirklich bejaht?«103 Auf die selbstgestellte Frage, ob Fontane »den ihm wesensähnlichen halbassimilierten Geistjuden« eine »geheime Sympathie« entgegengebracht habe, zitiert er den alten Briest (»Das ist ein zu weites Feld«) und bekundet damit sein eigenes Scheitern an dieser Frage – er hatte Fontanes jüdischen Komplex in die breitere Öffentlichkeit getragen, nicht aber gelöst. Demnach ist die konstatierte und vieltradierte »Ambivalenz« Fontanes nicht die Lösung des Problems, sondern vielmehr das Symptom einer modernespezifischen Disposition. Hier sollte die Forschung ansetzen und Zygmunt Baumanns Expertise heranziehen.104 Simon scheiterte an Fontane und nicht nur deshalb, weil sein Urteil »geprägt [ist] durch eine Liebe zu Fontanes Werk«;105 er gab auch sein gesamtes Buchvorhaben auf und widmete sich, mehr kleinteilig und auch hier unvollendet, Heinrich Heine. Seine unvollendeten Aufzeichnungen bewahrt das Archiv der National Library of Israel.106
–––––––––––– 101 Z.B. Hannah Burdekin, The Ambivalent Author. Five German Writers and their Jewish Characters,
1848–1914, Oxford/Bern et al. 2002. Simon, Theodor Fontanes jüdischer Komplex (wie Anm. 39), S. 267. Ebd., S. 273–274. Zygmunt Baumann, Moderne und Ambivalenz, Hamburg 1992. Das konstatiert zu Recht und mit Blick auch auf Reuter und Remak, Horch, Fontane, die Juden und der Antisemitismus (wie Anm. 7), S. 283. 106 Für Auskünfte über die Zusammensetzung der beiden Jerusalemer Teilnachlässe Ernst Simons danke ich Stefan Litt (National Library of Israel, Collections Division Department) und Meirav Reuveny (Leo Baeck Institute in Jerusalem). 102 103 104 105
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Vielstimmige Aufklärungen(en): Ein Ausblick »Das Scheitern einer bürgerlichen Aufklärung muß nicht«, so Hans Mayer, »den Bankrott des aufgeklärt-humanistischen Denkens bedeuten.«107 Ein Scheitern am Erbe der Aufklärung wird vermieden, wenn man – wieder mit Hardtwig – dem »kategorische[n]« Imperativ« folgt, »überliefern zu müssen und nicht vergessen zu dürfen.«108 Zu dieser Überlieferung zählen die Zeugnisse der Kulturgeschichte, damit gerade auch die Texte einer kritisch zu untersuchenden deutschen Literaturgeschichte, der die Erzählungen Fontanes (und anderer) selbstverständlich angehören. Sie verhandeln die Probleme der deutsch-jüdischen Geschichte in der historischen Zeit, ihre Autoren haben sich oft, das darf nicht vergessen werden, abstoßend antisemitisch positioniert. Es ist die Vielstimmigkeit der Texte, die die soziologische und historische Pluralität bewahren und erfahrbar machen. Die FontaneForschung weiß um diesen Reiz und expliziert ihn nach Maßgabe von Bachtins Polyphoniekonzept, das auch ein Historiker wie Amos Funkenstein in seine konzeptuellen Überlegungen einbezieht.109 Wenn Paul Mendes-Flohr 1999 im Rahmen seiner an der Yale University absolvierten Franz Rosenzweig Lectures in Jewish Thought and History zu recht festgestellt hat, dass die bürgerlichen, deutschen Juden »trotz ihrer Bildung […] als eine abgesonderte Gruppe gesehen [wurden]« und anschließend konstatiert, nachdem er Fontanes Gedicht An meinem Fünfundsiebzigsten zitiert hat: »Die Juden brauchten […] keinen Fontane, um daran erinnert zu werden«110, so bedarf diese Einschätzung einer Modifikation in dem hier vertretenen Sinn. Ich vermute, dass sich der nur im Ansatz rekapitulierte doppelte Aufklärungsbezug als umfassendes Kulturmuster beschreiben lässt, das neben Fontane weitere Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Gustav Freytag, Wilhelm Raabe, Hugo von Hofmannsthal oder der »Poet of Assimilation«111, Rudolf Borchardt) einbeziehen und auch auf der Seite der produktiven Rezeption weitere Konstellationen aufzeigen könnte.
–––––––––––– 107 Mayer, Außenseiter (wie Anm. 55), S. 9. 108 Hardtwig, Fiktive Zeitgeschichte? (wie Anm. 28), S. 128. Alles das bestätigt auch Kocka, Ge-
schichte und Aufklärung (wie Anm. 29).
109 Zuletzt, höchst einschlägig und unter Verweis auf die Studien von Norbert Mecklenburg,
Katharina Grätz, »Ach Mutter, warum bist du keine geborene Bleichröder«. Das Jüdische als Diskursphänomen in Theodor Fontanes Romanen L’Adultera und Die Poggenpuhls. In: Georg Braungart und Philipp Theisohn (Hrsg.), Philosemitismus. Rhetorik, Poetik, Diskursgeschichte, München 2017, S. 245–268. Siehe auch Amos Funkenstein, Jüdische Geschichte und ihre Deutungen, Frankfurt am Main 1995, S. 271. 110 Paul Mendes-Flohr, Jüdische Identität. Die zwei Seelen der deutschen Juden, München 2004, S. 23. 111 Heinz Politzer, Rudolf Borchardt: Poet of Assimilation. The Extreme Case of an Extreme Tendency. In: Commentary 9 (1950), S. 57–65.
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Zusätzliche Spannung wäre erreicht, wenn außerdem positive Aufklärungsbezüge – bei Berthold Auerbach, Sammy Gronnemann oder dem »Statthalter von Fontanopolis«112 Georg Hermann – aus literarischen Texten deutsch-jüdischer Autoren herausgearbeitet und in ein Verhältnis zur rezeptiven Produktivität gesetzt würden.113 Es ist (zu) wenig damit gewonnen, Fontanes – und nun doch noch einmal mit Simon – ›Ambivalenz‹ als »strunzdoofe[n] Antisemitismus«114 zu geißeln. Ein solches, obendrein nachweisfrei geführtes Diktum fällt hinter der bereits vorgebrachten Kritik nicht nur zurück, sondern unterschätzt auch das kritische Potential hinter diesem, wie ich meine, doppelten Erbe.
–––––––––––– 112 Moritz Seeler, Literarische Porträts. In: Hans Heinrich von Twardowski, Der rasende Pegasus,
Berlin 21919, S. 13.
113 Siehe auch Rudolf Muhs, Der »jüdische Fontane«. Anmerkungen zu Georg Hermann (1871–1943)
(mit einem unbekannten Brief Fontanes). In: FBl 109 (2020), S. 79–102.
114 So zuletzt Ingo Meyer im Rahmen einer scharfen Abrechnung mit Fontanes literarischen
Fähigkeiten und der »Fontane-Industrie«: Fontane. Ein Rückblick. In: Merkur 74 (2020), S. 26– 44, hier S. 29.
Siglenverzeichnis Folgende Werkausgaben und Periodika werden in allen Beiträgen des vorliegenden Bandes unter Angabe der Bandnummer und Seitenzahl zitiert: AFA
Theodor Fontane, Autobiographische Schriften. Bd. I–III/2. Hrsg. von Gotthard Erler, Peter Goldammer und Joachim Krueger. Berlin/ Weimar 1982.
Fbl
Fontane Blätter. Hrsg. von dem Theodor Fontane Archiv (seit 1965) und der Theodor Fontane Gesellschaft e. v. (gemeinsam) 1995ff.
GBA
Theodor Fontane, Große Brandenburger Ausgabe. Begründet von Gotthard Erler, Berlin 1994ff. Fortgeführt von Gabriele Radecke und Heinrich Detering.
GBA, Das autobiographische Werk. Hrsg. von der Theodor Fontane Arbeitsstelle Göttingen 2014ff. Bd. 3 Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches. Textkonstitution und Kommentar: Wolfgang Rasch. (2014). GBA, Das erzählerische Werk. Hrsg. in Zusammenarbeit mit dem Theodor Fontane Archiv. Editorische Betreuung: Christine Hehle. Berlin 1997–2012. Bd. 1–2: Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13. Hrsg. von Christine Hehle. (2011). Bd. 3: Grete Minde: Nach einer altmärkischen Chronik. Hrsg. von Claudia Schmitz. (1997). Bd. 4: L’Adultera. Hrsg. von Gabriele Radecke. (1998). Bd. 5: Ellernklipp: Nach einem Harzer Kirchenbuch. Hrsg. von Christine Hehle und Christina Salmen. (2012).
https://doi.org/10.1515/9783110666984-013
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Siglenverzeichnis
Bd. 6: Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes. Bearb. von Katrin Seebacher. (1997). Bd. 7: Graf Petöfy. Roman. Hrsg. von Petra Kabus. (1999). Bd. 8: Unterm Birnbaum. Hrsg. von Christine Hehle. (1997). Bd. 9: Cécile. Hrsg. von Hans Joachim Funke und Christine Hehle. (2000). Bd. 10: Irrungen, Wirrungen. Roman. Bearb. von Karen Bauer. (1998). Bd. 11: Stine. Hrsg. von Christine Hehle. (2000). Bd. 12: Quitt. Roman. Hrsg. von Christina Brieger. (1999). Bd. 13: Unwiederbringlich. Roman. Hrsg. von Christine Hehle. (2003). Bd. 14: Frau Jenny Treibel oder »Wo sich Herz zum Herzen find’t.« Roman. Hrsg. von Tobias Witt. (2005). Bd. 15: Effi Briest. Roman. Hrsg. von Christine Hehle. (1998). Bd. 16: Die Poggenpuhls. Hrsg. von Gabriele Radecke. (2006). Bd. 17: Der Stechlin. Roman. Hrsg. von Klaus-Peter Möller. (2012). Bd. 18: Frühe Erzählungen. Hrsg. von Tobias Witt. (2002). Bd. 19: Von vor und nach der Reise. Plaudereien und kleine Geschichten. Hrsg. von Walter Hettche und Gabriele Radecke. (2007). Bd. 20: Mathilde Möhring. Nach der Handschrift neu hrsg. von Gabriele Radecke. (2008). GBA, Das kritische Werk. Hrsg. von der Theodor Fontane Arbeitsstelle Göttingen, 2018ff.
Siglenverzeichnis
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Bd. 2–5: Theaterkritik. Hrsg. von Debora Helmer und Gabriele Radecke. Berlin 2018. GBA, Ehebriefwechsel. Emilie und Theodor Fontane, Der Ehebriefwechsel. 1844–1898. Bd. 1–3. Hrsg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. Berlin 1998. GBA, Gedichte Bd. 1–3. Hrsg. von Joachim Krueger und Anita Goltz. 2., durchges. und erweiterte Aufl. Berlin 1995. GBA, Tage- und Reisetagebücher, Bd. 1–3, Berlin 1994–2012. Bd. 1: Tagebücher. 1852, 1855–1858. Hrsg. von Charlotte Jolles unter Mitarbeit von Rudolf Muhs. (1994) Bd. 2: Tagebücher. 1866–1882, 1884–1898. Hrsg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. (1994). Bd. 3: Die Reisetagebücher. Hrsg. von Gotthard Erler und Christine Hehle. (2012) GBA, Wanderungen, Bd. 1–8, Berlin 1994–1997. Bd. 1: Erster Teil. Die Grafschaft Ruppin. Hrsg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau. 2. Aufl. (1994). Bd. 2: Zweiter Teil. Das Oderland. Barnim-Lebus. Hrsg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau. 2. Aufl. (1994). Bd. 3: Dritter Teil. Havelland. Die Landschaft um Spandau, Potsdam, Brandenburg. Hrsg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau. 2. Aufl. (1994). Bd. 4: Vierter Teil. Spreeland. Beeskow-Storkow und Barnim-Teltow. Hrsg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau. 2. Aufl. (1994). Bd. 5: Fünf Schlösser. Altes und Neues aus Mark Brandenburg. Hrsg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau unter Mitarbeit von Therese Erler. 2. Aufl. (1994).
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Siglenverzeichnis
Bd. 6: Dörfer und Flecken im Lande Ruppin. Unbekannte u. vergessene Geschichten aus der Mark Brandenburg. I. Hrsg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. 4. Aufl. (1994). Bd. 7: Das Ländchen Friesack und die Bredows. Unbekannte u. vergessene Geschichten aus der Mark Brandenburg. II. Hrsg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. 4. Aufl. (1994). HFA
Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe. 20 in 22 Bdn. in vier Abteilungen. Hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, München 1969–1997.
NFA
Theodor Fontane, Sämtliche Werke. 24 Bde. München, 1954–1974.
Personenregister Abbt, Thomas 19 Alexis, Willibald 127 Arendt, Hannah 211f. Arndt, Julius Karl 208 Arouet, Jean-Marie s. Voltaire Auerbach, Berthold 51, 124, 240 Aust, Hugo 35f. Barthelemy, Pierre 163 Begas, Oscar 206 Béranger, Pierre Jean 24 Beuth, Peter 25f. Bodemann, Eduard 152 Bodmer, Johann Jakob 155f. Bismarck, Otto von 3f., 42, 54, 82, 240 Blumenberg, Hans 150 Blumenfeld, Kurt 220, 222, 236 Büchner, Ludwig 90 Bürger, Gottfried August 23 Buchholtz, Arend 18 Burns, Robert 22, 25 Busch, Wilhelm 67 Brahm, Otto 102, 187 Brunner, Sebastian 28 Carlyle, Thomas 124 Cook, James 19, 157 Cretius, Franz 207 Darwin, Charles 90, 100, 179 Davidsohn, George 57f. Derfflinger, Georg von 131 Diderot, Denis 17, 19 Droysen, Johann Gustav 229 Du Bois-Reymond, Emil 92, 100 Dühring, Eugen 29 Elisabeth I., England, Königin 82 Elisabeth Christine, Preußen, Königin 163 Elisabeth von Thüringen 82 Engel, Johann Jakob 26 Eulenburg, Philipp zu 55 Faucher, Julius 152 Feuerbach, Ludwig 85f. Flaubert, Gustave 75
https://doi.org/10.1515/9783110666984-014
Fontane, Emilie 28, 31, 43, 54, 130 Fontane, Martha 36f., 44
Fontane, Theodor jun. 41 Francke, August Hermann 202 Freiligrath, Ferdinand 23 Freytag, Gustav 89, 225 Friedlaender, Georg 27, 42, 147f. Friedrich II., Preußen, König 1, 16, 124, 126, 130, 134, 136, 138, 143, 156 Friedrich Wilhelm I., Preußen, König 1, 206 Garve, Christian 158 Gebhard, Johann George 16 Gerhardt, Paul 203 Gessner, Salomon 157, 167ff. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 2, 8, 10, 19, 125 ff., 147, 152, 156f., 159, 161f., 170 Goethe, Johann Wolfgang von 14, 23, 28, 121, 229 Götz, Johann Nicolaus 134 Goldsmith, Oliver 8, 204 Gottsched, Johann Christoph 156, 159 Günther, Johann Heinrich von 146 Gurlitt, Louis 88 Gutzkow, Karl 29, 33, 214f. Haeckel, Ernst 100 Hahnemann, Samuel 173f. Harden, Maximilian 124 Hauff, Hermann 130, 132 Hebbel, Friedrich 85f., 89, 94, 114 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 34, 56f., 86f. Heine, Heinrich 31, 34, 215 Heinrich, Preußen, Prinz 124, 143, 157, 170 Helmholtz, Hermann 87 Hempel, Gottfried 163f. Herder, Johann Gottfried 14, 23, 138 Herwegh, Georg 19, 159 Hesekiel, Georg 127, 129 Hettner, Hermann 23, 121 Hirzel, Hans Caspar 165 Hirzel, Ludwig 152
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Personenregister
Hölderlin, Friedrich 64, 69 Hoffmann, E.T.A 32 Holtei, Karl von 127 Ibsen, Henrik 68, 96 Kant, Immanuel 26, 31f., 35f., 72, 92, 157, 158, 222 Karpeles, Gustav 217, 219, 240 Karsch, Anna Louisa 21, 125, 127, 139, 157 Keith, Jakob von 124, 131f., 140 Keller, Gottfried 86f., 90, 98f., 106, 121 Kleist, Ewald Christian von 123f., 129f., 134f., 142, 145, 156 Kleist, Heinrich von 69f., 112, 115, 117 Klencke, Hermann 152 Klopstock, Friedrich Gottlieb 153, 155, 160, 162 Körner, Theodor 110, 127, 130 Koselleck, Reinhart 1, 13, 67 Krause, Christian Gottfried 137, 162 Krüger, Franz 51 Kürnberger, Ferdinand 73, 77 Kugler, Franz 19, 24, 124 Lange, Anna Dorothea 125 Lange, Samuel Gotthold 134, 154, 156, 159 La Roche, Sophie von 157 Laube, Heinrich 33f. Lavater, Johann Caspar 127, 138 Lazarus, Moritz 19, 213, 240 Ledebur, Leopold von 50 Leibniz, Gottfried Wilhelm 19, 162 Leisewitz, Johann Anton 26 Lenau, Nikolaus 73, 76, 100 Leopold, Anhalt-Dessau, Fürst 131, 135 Lepel, Bernhard von 38, 158 Lessing, Carl Robert 18, 120 Lessing, Gotthold Ephraim 3, 7, 10, 13, 18, 21ff., 44, 56f., 67, 105ff., 126, 133, 135, 156, 215, 223, 237 Liebmann, Otto 91 Lindau, Paul 38, 94 Ludwig XVI., Frankreich, König 31 Ludwig, Otto 119 Luther, Martin 71, 198f., 232 Mann, Thomas 2, 14, 67 Mannheim, Karl 62 Maria Stuart, Schottland, Königin 25, 82 Meier, Georg Friedrich 154f.
Mendelssohn, Moses 16, 18, 26, 58, 107, 215, 224, 233 Menzel, Adolph von 24, 124 Merckel, Wilhelm von 42, 48 Meyer, Conrad Ferdinand 91 Mommsen, Theodor 229 Moritz, Karl Philipp 17, 69 Morris, James 41 Napoléon Bonaparte (Napoleon I.) 32, 129 Nicolai, Friedrich 16, 18, 24, 26, 63, 156 Nietzsche, Friedrich 92, 95 Nürnberger, Helmuth 128, 133 Playfair, John 25 Pröhle, Heinrich 20, 152 Raabe, Wilhelm 91, 95, 225 Ramler, Karl Wilhelm 19, 125ff., 156f., 159f., 162f. Ranke, Leopold von 229 Rauch, Christian Daniel 124, 131 Rohr, Mathilde von 94, 147, 192 Roquette, Otto 38 Rousseau, Jean-Jacques 17, 19, 56 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 87 Scherenberg, Christian Friedrich 19, 24, 128 Schill, Ferdinand von 139f. Schiller, Friedrich von 14, 23, 26, 31, 44, 67, 69, 82, 84, 88, 110, 115, 117f., 121, 166, 223, 231, 236 Schinkel, Karl Friedrich 26, Schleiermacher, Friedrich 148 Schmidt, Anna Sophia 157 Schmidt, Julian 89 Schneider, Louis 48, 130 Scholem, Betty 217f. Scholem, Gershom 218 Schopenhauer, Arthur 175 Schubert, Gotthilf Heinrich 32 Schwerin, Kurt Christoph von 124, 130, 132, 141f. Scott, Walter 22 Seydlitz, Friedrich Wilhelm von 132, 139 Shakespeare, William 22, 117 Simmel, Georg 151 Simon, Ernst 233ff.
Personenregister Spalding, Johann Joachim 26 Spielhagen, Friedrich 38 Stephany, Friedrich 28 Stern, Fritz 220 Sterne, Laurence 8 Stewart, Dugald 25 Stifter, Adalbert 86, 88, 95, 99, 106, 121 Stockhausen, Clara 189 Stockhausen, Julius 189 Stockhausen, Theodor 189, 192 Stoecker, Adolf 58, 223 Storm, Theodor 38, 91f., 95, 160 Sucro, Johann Josias 161 Sulzer, Johann Georg 126, 138, 156f., 162 Taine, Hippolyte 96 Thaer, Albrecht 26 Thomasius, Christian 156 Troeltsch, Ernst 7
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Uz, Johann Peter 128, 134, 162 Varnhagen von Ense, Karl August 131 Vernet, Horace 24 Voltaire 157 Weiße, Christian Felix 125 Werner, Anton von 199 Wiesike, Carl Ferdinand 174f. Wilhelm I., Deutsches Reich, Kaiser 4, 50, 146, 205 Witte, Friedrich 54 Wolff, Christian 156 Wolfsohn, Wilhelm 163, 221 Woltersdorf, Ernst Gottlieb 203 Wruck, Peter 31, 38 Zieten, Hans Joachim von 124, 157 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 202 Zola, Emile 75, 97