Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung bei Theodor Fontane 9783110259933, 9783110259926

The study investigates the influence of the two visual media photography and painting on the works of Theodor Fontane. F

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German Pages 384 Year 2011

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Table of contents :
1. Einleitung
2. Das Forschungsumfeld
2.1. Die ›Visual Studies‹
2.2. Die Intermedialitätsforschung
3. Historischer Hintergrund
3.1. Entwicklung und Rezeption neuer Bildmedien im 19. Jahrhundert
3.1.1. Das Panorama
3.1.2. Das Diorama
3.1.3. Das Moving Panorama
3.1.4. Die Photographie
3.2. Die Rezeption der Malerei durch die Literatur
3.2.1. Die Malerei im poetischen Realismus
3.2.2. Fontanes Erfahrungen mit und Einstellungen zur Malerei
3.3. Die Rezeption der Photographie durch die Literatur
3.3.1. Die Photographie im poetischen Realismus
3.3.2. Fontanes Erfahrungen mit und Einstellungen zur Photographie
3.3.3. Photographieanaloges Sehen im poetischen Realismus
3.4. Seh- und Wahrnehmungstheorien im 19. Jahrhundert
3.4.1. Hermann von Helmholtz’ Seh- und Wahrnehmungstheorie
3.4.2. Der Einfluss der Wahrnehmungstheorien auf die Malerei
4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«
4.1. Der bildhafte Text als Sehschule
4.2. Arten der visuellen Wahrnehmung und Beschreibung
4.2.1. ›Bewegte Bilder‹: Analogie zu Moving Panorama und Film
4.2.2. ›Stehende Bilder‹: Analogie zu Panorama und Diorama
4.2.3. Ausschnitte und Fensterblicke: Analogie zur Photographie
4.2.4. Merkmale malerei- und photographieanaloger Beschreibungen
4.3. Mit bildanalogem Sehen und Bildern verknüpfte Themen
4.3.1. Der Bezug zur Geschichte
4.3.2. Die Verbindung zwischen Bild, Sehen und Tod
4.3.3. Die Kopie
4.4. Fontanes Konzept des ›Malerischen‹
4.5. Gemäldebeschreibungen
4.6. Zusammenspiel und Bewertung der Medien Text und Bild
4.7. Zusammenfassung
5. Analyse der Romane
5.1. »Cécile«
5.1.1. Figurenspezifische Arten der visuellen Wahrnehmung
5.1.1.1. Der kontrollierend überschauende St. Arnaud
5.1.1.2. Die ›blinde‹ Cecile
5.1.1.3. Der photographieanaloge Beobachter Gordon
5.1.1.4. Die Malerin und Beobachterin Rosa Hexel
5.1.2. Die Subjektivität der Wahrnehmung
5.1.3. Das Text-Bild-Verhältnis
5.1.4. Die Photographie und der Brief Clothildes
5.1.5. Die kontrastive Charakterisierung durch Bildmedien
5.1.6. Fazit
5.2. »L’Adultera«
5.2.1. Die typisierende Wahrnehmung van der Straatens
5.2.2. Das Text-Bild-Verhältnis: Original vs. Kopie/Typus
5.2.3. Die kopierte Existenz Melanies
5.2.4. Das Porträtgemälde Melanies
5.2.5. Gemälde und Sehen als Kontrollmittel
5.2.6. Fazit
5.3. »Effi Briest«
5.3.1. Figurenspezifische Arten der visuellen Wahrnehmung
5.3.1.1. Innstetten und Effi: Erziehung durch Bilder und Blicklenkung
5.3.1.2. Innstetten: Kontrollblicke
5.3.1.3. Die Entwicklung von Effis Sehfähigkeit
5.3.2. Physiognomische Blicke
5.3.3. Das Zusammenwirken von Photographien und Briefen
5.3.4. Die Wirkungskraft von Text und Bild im Zusammenspiel
5.3.5. Die Gegenüberstellung von Malerei und Photographie
5.3.6. Fazit
5.4. »Mathilde Möhring«
5.4.1. Der Geschlechterrollentausch in Bildmedium und Sehweise
5.4.1.1. Die kontrastive Charakterisierung durch Bildmedien
5.4.1.2. Seh- und Wahrnehmungsweisen
5.4.2. Sozialer Stand und Sehfähigkeit
5.4.3. Produktion und Rezeption von Texten und Bildern
5.4.4. Fazit
6. Zusammenfassung und Ausblick
Bibliographie
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Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung bei Theodor Fontane
 9783110259933, 9783110259926

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Nora Hoffmann Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung bei Theodor Fontane

Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft Herausgegeben von der

Theodor Fontane Gesellschaft e. V. Wissenschaftlicher Beirat

Hugo Aust Helen Chambers Band 8

De Gruyter

Nora Hoffmann

Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung bei Theodor Fontane

De Gruyter

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

ISBN 978-3-11-025992-6 e-ISBN 978-3-11-025993-3 ISSN 1861-4396

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Hoffmann, Nora, 1980Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung bei Theodor Fontane / by Nora Hoffmann. p. cm. -- (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft ; 8) Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-025992-6 (alk. paper) 1. Fontane, Theodor, 1819-1898--Criticism and interpretation. 2. Photography--Influence. 3. Art and literature. I. Title. PT1863.Z7H64 2011 833‘.7--dc23 2011029194

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt 1.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

2. 2.1. 2.2.

Das Forschungsumfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Die ›Visual Studies‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Die Intermedialitätsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

3. 3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.1.4. 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.3. 3.3.1. 3.3.2. 3.3.3. 3.4. 3.4.1. 3.4.2.

Historischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Entwicklung und Rezeption neuer Bildmedien im 19. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Das Panorama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Das Diorama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Das Moving Panorama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Die Photographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Die Rezeption der Malerei durch die Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Die Malerei im poetischen Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Fontanes Erfahrungen mit und Einstellungen zur Malerei . . . . . 59 Die Rezeption der Photographie durch die Literatur . . . . . . . . . . 66 Die Photographie im poetischen Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Fontanes Erfahrungen mit und Einstellungen zur Photographie 72 Photographieanaloges Sehen im poetischen Realismus . . . . . . . . 81 Seh- und Wahrnehmungstheorien im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . 86 Hermann von Helmholtz’ Seh- und Wahrnehmungstheorie. . . . 93 Der Einfluss der Wahrnehmungstheorien auf die Malerei . . . . . 104

4. 4.1. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.2.3. 4.2.4. 4.3. 4.3.1. 4.3.2. 4.3.3.

»Wanderungen durch die Mark Brandenburg«. . . . . . . . . . . . . . . . 109 Der bildhafte Text als Sehschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Arten der visuellen Wahrnehmung und Beschreibung . . . . . . . . 119 ›Bewegte Bilder‹: Analogie zu Moving Panorama und Film. . . . 120 ›Stehende Bilder‹: Analogie zu Panorama und Diorama . . . . . . . 125 Ausschnitte und Fensterblicke: Analogie zur Photographie . . . 128 Merkmale malerei- und photographieanaloger Beschreibungen 133 Mit bildanalogem Sehen und Bildern verknüpfte Themen . . . . 137 Der Bezug zur Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Die Verbindung zwischen Bild, Sehen und Tod . . . . . . . . . . . . . . 142 Die Kopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

VI

Inhalt

4.4. 4.5. 4.6. 4.7.

Fontanes Konzept des ›Malerischen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemäldebeschreibungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenspiel und Bewertung der Medien Text und Bild . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

150 158 167 175

5.

Analyse der Romane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

5.1. 5.1.1. 5.1.1.1. 5.1.1.2. 5.1.1.3. 5.1.1.4. 5.1.2. 5.1.3. 5.1.4. 5.1.5. 5.1.6.

»Cécile« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figurenspezifische Arten der visuellen Wahrnehmung . . . . . . . . Der kontrollierend überschauende St. Arnaud . . . . . . . . . . . . . . . Die ›blinde‹ Cécile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der photographieanaloge Beobachter Gordon . . . . . . . . . . . . . . . Die Malerin und Beobachterin Rosa Hexel . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Subjektivität der Wahrnehmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Text-Bild-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Photographie und der Brief Clothildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die kontrastive Charakterisierung durch Bildmedien . . . . . . . . . Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181 183 190 194 203 217 225 230 234 237 239

5.2. 5.2.1. 5.2.2. 5.2.3. 5.2.4. 5.2.5. 5.2.6.

»L’Adultera« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die typisierende Wahrnehmung van der Straatens . . . . . . . . . . . . Das Text-Bild-Verhältnis: Original vs. Kopie/Typus . . . . . . . . . Die kopierte Existenz Melanies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Porträtgemälde Melanies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemälde und Sehen als Kontrollmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241 241 250 259 266 268 272

5.3. 5.3.1. 5.3.1.1. 5.3.1.2. 5.3.1.3. 5.3.2. 5.3.3. 5.3.4. 5.3.5. 5.3.6.

»Effi Briest« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Figurenspezifische Arten der visuellen Wahrnehmung . . . . . . . . 279 Innstetten und Effi: Erziehung durch Bilder und Blicklenkung 279 Innstetten: Kontrollblicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Die Entwicklung von Effis Sehfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Physiognomische Blicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Das Zusammenwirken von Photographien und Briefen . . . . . . 311 Die Wirkungskraft von Text und Bild im Zusammenspiel . . . . 319 Die Gegenüberstellung von Malerei und Photographie . . . . . . . 320 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

5.4. 5.4.1. 5.4.1.1. 5.4.1.2.

»Mathilde Möhring« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Geschlechterrollentausch in Bildmedium und Sehweise . . Die kontrastive Charakterisierung durch Bildmedien . . . . . . . . . Seh- und Wahrnehmungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

324 325 325 331

Inhalt

VII

5.4.2. 5.4.3. 5.4.4.

Sozialer Stand und Sehfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Produktion und Rezeption von Texten und Bildern . . . . . . . . . . 340 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

6.

Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

1. Einleitung

1. Einleitung Das Wissen um die prägende Bedeutung der Visualität für das 19. Jahrhundert und die Wechselwirkungen zwischen der raschen Entwicklung innovativer Bildmedien und neuer Wahrnehmungsweisen gehört mittlerwiele zum Allgemeingut der historisch orientierten Wahrnehmungsforschung. Als faszinierendste und am stärksten prägende neue Bildart gilt dabei die Photographie, durch deren Betrachtung sich eine Wahrnehmungsweise entwickelte, die bald nicht mehr an das Anschauen der Bilder selbst gebunden war, sondern das Sehen generell veränderte. Dieses neue Sehen in den Texten Theodor Fontanes nachzuweisen, stellt ein zentrales Anliegen der vorliegenden Arbeit dar. Zugleich soll das literarische Motiv der mit zeitgenössischen Assoziationen aufgeladenen Photographie untersucht werden. Weiter soll Spiegelungen der durch das neue Bildmedium ausgelösten Diskurse in Fontanes Texten nachgegangen werden, wobei die Thematisierung der Begrenztheit menschlicher Wahrnehmung von besonderem Interesse sein wird. Rechtfertigen lässt sich eine solche Fokussierung auf Bilder und Visuelles sowie das damit einhergehende Thema der Wahrnehmung speziell in Texten Theodor Fontanes neben dem generell hohen Stellenwert dieser Aspekte im 19. Jahrhundert zusätzlich vor dem Hintergrund ihrer zentralen Rolle in Fontanes gesamtem Leben und Werk. Immer wieder regten ihn Erfahrungen aus verschiedensten Lebens- und Tätigkeitsbereichen zur Auseinandersetzung mit visuellen Phänomenen an. Zu denken ist hier an die Erlebnisse von 1864 bis 1871 als Kriegsberichterstatter,1 die ihn lehrten, wie sehr seine eigenen Wahrnehmungen der fremden Wirklichkeit von Klischees und stereotypen Vorurteilen gelenkt wurden. Darüber hinaus hatte er sich speziell beim Versuch der Erfassung und Darstellung des Krieges damit auseinanderzusetzen, dass Zeichen trügerisch sein konnten,2 Realität und Wahrheit sich oft der Sichtbarkeit entzogen und somit auch ihre Repräsentation sich nicht allein am visuell Wahrgenom_____________ 1 2

Vgl. John Osborne, Theodor Fontane. Vor den Romanen. Krieg und Kunst. Göttingen 1999, S. 140–160. Fontanes Vertrauen in die Sichtbarkeit von Realität und Zuverlässigkeit von Zeichen wurde dadurch erschüttert, dass er in Partisanenkriegen erlebte, wie in einem »Raum, der zunächst durch keinerlei Zeichen als Raum des Krieges markiert ist […] außerhalb der traditionellen Formen einer Sichtbarkeit des Krieges« (ebd., S. 144) Partisanen den Kampf eröffneten.

2

1. Einleitung

menen orientieren durfte.3 Als Kriegsbeobachter an der Seite weiterer Schaulustiger hinterfragte er zudem die Position eines in seiner erhöhten Lage distanzierten Beobachters angesichts der Kriegsgräuel, die als ästhetisch ansprechendes Schauspiel wahrgenommen wurden4 und als solches in seinen Berichten neben der Beschreibung von Bauwerken wie Sehenswürdigkeiten wiedergegeben werden. Aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt dagegen erlebte er in der Rolle des Beobachteten auch die Gegenposition des durch fremde, machtausübende Blicke Dominierten und setzte sich mit möglichen Reaktionen darauf auseinander: der Verweigerung der Rolle als Blickobjekt, die wiederum die Beobachter zur Reflexion über ihr Verhalten zwingt, oder der bewussten Selbstdarstellung und -inszenierung, die in kritischer Weise ans Theatralische grenzen kann.5 Im Theatralischen wiederum liegt der zweite Erfahrungshintergrund Fontanes, der mit seinem geschärften Bewusstsein für Aspekte des Sehens und Beobachtens verbunden ist, war er doch im Anschluss an die Tätigkeit als Kriegsberichterstatter von 1870 bis 1889 fest als Theaterkritiker bei der Vossischen Zeitung angestellt und verfasste bereits davor sowie auch danach weiterhin vereinzelt Theaterkritiken. Auch hier war also seine Aufgabe wiederum die eines aufmerksamen und detailgenauen Beobachters,6 der sich zugleich von weiteren Zuschauern umgeben sah und so zur Reflexion seiner Tätigkeit angeregt wurde. Durch diese Arbeiten als Kriegsberichterstatter und Theaterkritiker entwickelte Fontane nicht nur Sensibilität für die Rollen eines Beobachters und Beobachteten sowie für unterschiedliche Arten des Sehens und das trügerische Potenzial visueller Zeichen, sondern setzte sich bei der anschließenden Aufgabe der Verschriftlichung und Vermittlung des Gesehenen mit Fragen der Sichtbarkeit und Repräsentation von Wirklichkeit _____________ 3

4 5 6

Eine seiner Grunderfahrungen im französischen Kriege war, dass die Kriegsschauplätze aufgrund des Partisanenkrieges auseinanderfielen und er sich auch zeitlich ausdehnte, so dass ein ›zentrales‹ Kriegsgeschehen kaum noch greifbar oder an bestimmte, sicht- und repräsentierbare, historische Lokalitäten rückzubinden war (vgl. Uwe Hebekus, Klios Medien. Die Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts in der historischen Historie und bei Theodor Fontane, Tübingen 2003, S. 127, 135f). »Mit den klaren und nicht nur begrifflichen Grenzen entzieht der Partisan dem Krieg einen guten Teil seiner Sichtbarkeit, welcher Entzug zugleich die Möglichkeit einer Repräsentation des Krieges als eines ›Ereignisses‹ im historischen Sinne beträchtlich erschwert« (ebd., S. 142) Vgl. a. Jan Pacholski, Das ganze Schlachtfeld – ein zauberhaftes Schauspiel. Theodor Fontane als Kriegsberichterstatter. Wrocław 2005, S. 167. Vgl. Hebekus, Klios Medien, S. 165. Vgl. Lothar Schirmer, ›Der Herr hat heut Kritik‹. Theodor Fontane und das Theater seiner Zeit. In: Stiftung Stadtmuseum Berlin (Hrsg.), Fontane und sein Jahrhundert, Berlin 1998, S. 102, 106; Helmut Scheuer, Der Realist und die Naturalisten. Theodor Fontane als Theaterkritiker. In: Der Deutschunterricht 50/4 (1998), S. 26f.

1. Einleitung

3

auseinander.7 Verstärkt wurden diese Reflexionen durch seine Arbeit als Kunstkritiker (Näheres dazu in Kapitel 3.2.2.), in deren Rahmen – wie auch im privaten Bereich (vgl. Kapitel 3.3.2.) – neben Gemälden auch immer wieder photographische Porträts und Gemäldereproduktionen zu seinen alltäglichen Erfahrungen zählten und somit sein Bewusstsein für Bilder, ihre Repräsentations- und Zeichenfunktion sowie durch sie veränderte Seh- und Wahrnehmungsweisen ein weiteres Mal schärften. Diese Bilder, Gemälde und Photographien, sowie mit ihnen verbundene Assoziationen, Sehweisen und Reflexionen über die Bedingtheiten der menschlichen Wahrnehmung und die Unzuverlässigkeit visueller Zeichen werden im Zentrum der Arbeit stehen. Dieser Zugang der gemeinsamen und vergleichenden Analyse photographischer und gemalter Bilder ergibt sich zum einen aus der Fontaneforschung, die das Thema alt-neu längst für sich entdeckt hat, wie etwa die These Fischers8 zeigt, dass ein Vergleich des Vorkommens technischer Neuerungen mit ihren Vorformen in den Texten Fontanes – beispielsweise der Eisenbahn mit der Kutsche oder der Telegraphie mit dem Brief – der Erforschung wert sei.9 Bei dieser Gegenüberstellung des ›alten‹ Bildmediums Malerei mit dem ›neuen‹ der Photographie wird davon ausgegangen, dass sich die Funktionen der verschiedenen Bildarten für die Texte oft erst in der Gegenüberstellung komplett _____________ 7

8 9

Dabei zielte Fontane in beiden Fällen – wie auch im späteren Prosawerk – nicht auf eine distanzierte, professionell-objektive Wirklichkeitswiedergabe, sondern auf eine subjektive, das ästhetische Element betonende, bei der es mehr um einen künsterischen Gesamteindruck als um die Vermittlung reiner Fakten ging: »Fontane wollte [als Theaterkritiker, N.H.] alles vermeiden, was selbstgefällige Distanz […] vermittelt hätte« (vgl. Scheuer, Der Realist und die Naturalisten); seine Kriegsberichte lassen »die kühle, distanzierte Betrachtungsweise des Chronisten vermissen« (Günter Jäckel, Fontane und der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. In: Fontane Blätter 2/2 (1970), S. 94); »[a]uch als Berichterstatter über den Krieg blieb Fontane Dichter« (ebd., S. 99; vgl. a. Manuel Köppen, Im Krieg gegen Frankreich. Korrespondenten an der Front. 1870 vor Paris – 1916 an der Westfront – 1940 im Blitzkrieg. In: Barbara Korte (Hrsg.), Kriegskorrespondenten. Deutungsinstanzen in der Mediengesellschaft, Wiesbaden 2007, S. 62). Vgl. Hubertus Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹. Wie Fontane mit Bildern erzählt. In: Tim Mehigan und Gerhard Sauder (Hrsg.), Roman und Ästhetik im 19. Jahrhundert. Festschrift für Christian Grawe zum 65. Geburtstag, Sankt Ingbert 2001, S. 132. Auch die Intermedialitätsforschung betont die Ergiebigkeit von vergleichenden Analysen ›alter‹ und ›neuer‹ Medien: »Um die technologischen, kultursemiotischen und institutionellen Veränderungen durch neue Medien angemessen diskutieren zu können, sind vor allem ihre intermedialen Relationen zu älteren Medien, also diachrone Bezüge aufschlussreich. Gerade wenn wir uns der im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert rapide ansteigenden Geschwindigkeit der technologischen Entwicklungen annehmen, wird deutlich, daß das ›Alte‹ und das ›Neue‹ im dialektischen Prozeß verstanden und mit komparativen Methoden untersucht werden muß« (Yvonne Spielmann, Intermedialität und Hybridisierung. In: Volker Lüdeke und Erika Greber (Hrsg.), Intermedium Literatur. Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft, Göttingen 2004, S. 78).

4

1. Einleitung

erschließen. Zudem ist eine Zusammenführung beider Themen sinnvoll, um den Einfluss der Betrachtung verschiedener Bildarten auf die Art und Weise der visuellen Wahrnehmung zu erforschen. Die Photographie wird dabei nicht als Unterthema der Malerei behandelt, wie dies in bisherigen Untersuchungen teilweise geschehen ist, sondern beiden Bildarten gleichermaßen Aufmerksamkeit gewidmet, zumal Untersuchungen zu den Beziehungen zwischen Photographie und Literatur gezeigt haben, »daß es sich um ein lohnendes Gebiet handelt, das autonom ist und keinesfalls als bloßes Anhängsel der Arbeitsgebiete ›Malerei und Literatur‹ oder ›Film und Literatur‹ behandelt werden darf«.10 Bisher hat die Fontaneforschung das Thema Photographie weitgehend ausgeklammert. Weder Untersuchungen zu Fontanes Auseinandersetzungen mit der bildenden Kunst sehen eine Analyse der Einflüsse der Photographie als ihren Aufgabenbereich an11 noch die Arbeit Phillip Franks zu Fontanes Behandlung des technischen Fortschritts in seinem Werk, die das Thema lediglich beiläufig erwähnt.12 Damit steht die Photographie wie zu ihrer Anfangszeit weiterhin zwischen den beiden Polen Kunst und Technik, ohne eine eindeutige Zuordnung zu erfahren: »Entweder denkt man sie als eine rein mechanische und exakte Transkription der Wirklichkeit. [...] Am anderen Extrem denkt man das Foto als eine Art Ersatz für die Malerei«.13 Verbindungen zwischen Fontanes Werk und der Photographie wurden stattdessen durch Untersuchungen zur Photographie geknüpft, die sich mit deren Anfangszeit und ihren Auswirkungen auf die Literatur des 19. Jahrhunderts befassen. Aufeinander aufbauend erklären zwei Autoren übereinstimmend den Anfang von Effi Briest als ›photographisch‹ wirkende _____________ 10 11

12 13

Erwin Koppen, Über einige Beziehungen zwischen Photographie und Literatur. In: Ulrich Weisstein (Hrsg.), Literatur und Bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes, Berlin 1992, S. 245. Vgl. Claude Keisch, Peter-Klaus Schuster et al. (Hrsg.), Fontane und die Bildende Kunst, Berlin 1998; Stefan Greif, ›Wer immer dasselbe sieht, sieht nichts…‹ Fontanes Kunstbegriff im Kontext des 19. Jahrhunderts. In: Fontane Blätter 55 (1993), S. 69–90; Stefan Greif, ›Wo sind die Pièces de résistance?‹ Kunstkritik und Bildbeschreibung bei Fontane. In: Günter Helmes et al. (Hrsg.), Literatur und Leben. Anthropologische Aspekte in der Kultur der Moderne. Festschrift für Helmut Scheuer zum 60. Geburtstag, Tübingen 2002, S. 89–100; Winfried Jung, ›Bilder und immer wieder Bilder…‹ Bilder als Merkmale kritischen Erzählens in Theodor Fontanes ›Cécile‹. In: Wirkendes Wort 40 (1990), S. 197–208; Winfried Jung, Bildergespräche. Zur Funktion von Kunst und Kultur in Theodor Fontanes ›L’Adultera‹. Stuttgart 1991. Vgl. Phillip Frank, Theodor Fontane und die Technik, Würzburg 2005. Roland Barthes, Über Fotografie. Interview mit Angelo Schwarz (1977) und Guy Mandery (1979). In: Herta Wolf (Hrsg.), Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 1, Frankfurt am Main 2002, S. 83.

1. Einleitung

5

Beschreibung14 und verweisen darauf, eine solche lasse sich generell in Fontanes Texten finden. Neben dem Einfluss der Photographie auf die Art und Weise der literarischen Beschreibung wird in diesen Arbeiten nur kurz auf ihr thematisches Vorkommen in einzelnen Texten verwiesen, in denen photographische Porträts der Figuren erwähnt werden. Deren Untersuchung steht bis jetzt aus. Zum Thema Malerei bei Fontane dagegen liegen einige Aufsätze vor, die sich entweder mit seinen kunstkritischen Schriften befassen15 oder die Rolle der Malerei in einzelnen Romanen behandeln.16 Letztere widmen sich teils dem prägenden Einfluss der Malerei auf seine bildlichen Beschreibungen, teils Gemälden als literarischen Motiven und der Bedeutung der Malerei in der Bilder- und Gedankenwelt Fontanes. Da eine Zusammenfassung dieser vielfältigen Forschungsansätze hier zu weit führen würde, werden die Ergebnisse stattdessen bei der Behandlung der jeweiligen Werke einzeln herangezogen. Abgesehen von Klaus Peter Schusters Untersuchung Theodor Fontane: ›Effi Briest‹ – Ein Leben nach christlichen _____________ 14

15

16

Vgl. Erwin Koppen, Literatur und Photographie. Über Geschichte und Thematik einer Medienentdeckung, Stuttgart 1987, S. 68f; Rolf H. Krauss, Photographie und Literatur. Zur photographischen Wahrnehmung in der deutschsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Ostfildern 2000, S. 72–78. Wilhelm Vogt, Theodor Fontane und die bildende Kunst. In: Die Sammlung 4 (1949), S. 154–163; Hermann Fricke, Nicht auf Kosten des Lebens. Theodor Fontane als passionierter Kunstschriftsteller. In: Der Bär von Berlin 25 (1976), S. 53–70; Sonja Wüsten, Zu kunstkritischen Schriften Fontanes. In: Fontane Blätter 27 (1978), S. 174–200; Burkhard Bittrich, Theodor Fontane und die bildende Kunst der Kaiserzeit. In: Ekkehard Mai, Stephan Waetzoldt et al. (Hrsg.), Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich, Berlin 1983, S. 171–180; Donald C. Riechel, Theodor Fontane and the Fine Arts. A Survey and Evaluation. In: German Studies Review 7/1 (1984), S. 39–64; Henrik Karge, Poesie und Wissenschaft. Fontane und die Kunstgeschichte. In: Keisch, Schuster et al. (Hrsg.), Fontane und die Bildende Kunst, S. 267–278; Immo Wagner-Douglas, Alte Meister. Von der Bildsprache zum Sprachbild. In: Keisch, Schuster et al. (Hrsg.), Fontane und die Bildende Kunst, S. 231–241; Moritz Wullen, Deutsche Zeitgenossen. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Keisch, Schuster et al. (Hrsg.), Fontane und die Bildende Kunst, S. 169–173; Moritz Wullen, Die Gefilde der Seligen. In: Keisch, Schuster et al. (Hrsg.), Fontane und die Bildende Kunst, S.179; Hugo Aust, Fontane und die bildende Kunst. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 405–412; Hugo Aust, Literatur- und Kunstkritik. In: Grawe und Nürnberger, Fontane-Handbuch, S. 878–888. Werner Schwan, Die Zwiesprache mit Bildern und Denkmalen bei Theodor Fontane. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Neue Folge 26 (1985), S. 151–183; Jung, Bildergespräche; Gabriele Althoff, Weiblichkeit als Kunst. Die Geschichte eines kulturellen Deutungsmusters, Stuttgart 1991; Marion Doebeling, Eine Gemäldekopie in Theodor Fontanes ›L’Adultera‹. Zur Destabilisierung traditioneller Erwartungs- und Sinngebungsraster. In: Germanic Review 68 (1993), S. 2–10; Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹; Gerhard Neumann, Speisesaal und Gemäldegalerie. Die Geburt des Erzählens aus der bildenden Kunst. Fontanes Roman ›L’Adultera‹. In: Tim Mehigan und Gerhard Sauder (Hrsg.), Roman und Ästhetik im 19. Jahrhundert. Festschrift für Christian Grawe zum 65. Geburtstag, Sankt Ingbert 2001, S. 139–170.

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1. Einleitung

Bildern von 1978, welche die Behandlung des Themas einleitete, gibt es bisher jedoch keine umfassende Monographie zur Malerei in Fontanes Romanen, die einen Überblick über die verschiedenen Funktionen der Gemälde bieten würde. Die vorliegende Arbeit möchte diese Lücke schließen, indem sie 1. die Darstellung durch Malerei beeinflusster Blickweisen und Beschreibungstechniken Fontanes, 2. die Analyse von Gemälden als Motiven und 3. Ausführungen über durch Malereibetrachtungen geprägte Wahrnehmungsweisen Fontanescher Figuren zusammenführt. Zum Thema Sehen und Wahrnehmung bei Fontane – insbesondere mit Verbindung zu bestimmten Bildarten – schließlich ist die Forschungslage bisher eher dürftig. Einige Arbeiten zu den Kriegsberichten gehen explizit auf seine dort gesammelten Seherfahrungen ein,17 sonst befassen sich die wenigen Studien, die zur Spiegelung seiner Wahrnehmungsweise in literarischen Beschreibungen vorliegen, hauptsächlich mit den Wanderungen durch die Mark Brandenburg,18 die für eine solche Analyse mit ihren vielen Landschafts- und Kunstbeschreibungen das umfangreichste Material bieten und Parallelen zu an Bildmedien erprobten Sehweisen verstärkt nahelegen.19 Noch spärlicher erforscht sind bislang die Blicke und Sehweisen der Figuren; erst in jüngster Zeit wurden Aufsätze zu diesem Thema veröffentlicht.20 Die vorliegende Arbeit geht davon aus, _____________ 17

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John Osborne, Theodor Fontane. Vor den Romanen; Hebekus, Klios Medien; Uwe Hebekus, Friktionen der Kriegmoderne. Theodor Fontanes autobiographische Texte zum deutsch-französischen Krieg von 1870/71. In: Stephan Jaeger und Christer Petersen (Hrsg.), Zeichen des Krieges in Literatur, Film und den Medien, Bd. 2: Ideologisierung und Entideologisierung, Kiel 2006, S. 167–191. Im Folgenden als Wanderungen abgekürzt. Hubertus Fischer, Märkische Bilder. Ein Versuch über Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹, ihre Bilder und ihre Bildlichkeit. In: Fontane Blätter 60 (1995), S. 117–142; Moritz Wullen, Über das Sehen bei Fontane. In: Keisch, Schuster et al. (Hrsg.), Fontane und die Bildende Kunst, S. 257–261; Phillip Frank, Erlebnisreisen – Fontanes Wanderungen in wahrnehmungstheoretischer Sicht. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), ›Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg‹. Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ im Kontext der europäischen Reiseliteratur, Würzburg 2003, S. 111–122; Frank, Theodor Fontane und die Technik; Erdmut Jost, Das poetische Auge. Visuelle Programmatik in Theodor Fontanes Landschaftsbildern aus Schottland und der Mark Brandenburg. In: Delf von Wolzogen, ›Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg‹, S. 63–80; Jerzy Kalazny, ›Das landschaftliche Auge‹. Zum Sehen und Wandern in Wilhelm Heinrich Riehls ›Wanderbuch‹ im Vergleich mit Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Delf von Wolzogen, ›Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg‹, S. 159–174. Osborne, Theodor Fontane. Vor den Romanen; John Osborne, Theodor Fontanes ›Stine‹ – Ein ›Schauspiel für Männer‹?. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 120/Supplement (2001), S. 128– 152; Maria Elisabeth Brunner, ›Effi Briest‹ von Theodor Fontane als Schule des Sehens. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 115 (1999), S. 143–153; Maria Elisabeth Brunner, Sehen und Erkennen in ›Effi Briest‹. Ist Wahrnehmung ›ein zu weites Feld‹? In: Seminar 36/4 (2000), S. 418–435; Maria Elisabeth Brunner, ›Man will die Hände des Puppenspielers nicht sehen‹ – Wahrnehmung in ›Effi Briest‹. In: Fontane Blätter 71 (2001), S. 28–48; Maite Zubiaurre, Panoramic Views in Fontane, Galdós and Clarín. An Essay on Female Blindness. In: Patricia Howe und

1. Einleitung

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dass die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit der Figuren und ihre Blickarten ebenso aussagekräftig für ihre Charakterisierung sind wie deren viel beachtete Sprache und will dem Thema daher die bisher versagte Aufmerksamkeit zukommen lassen. Um das Untersuchungsfeld der Beziehungen zwischen Malerei, Photographie, Wahrnehmung und Literatur abzustecken, wird zunächst auf den Ansatz Erwin Koppens, einem der Wegbereiter für die Erforschung der Beziehungen zwischen Literatur und Photographie, zurückgegriffen. Seine Zusammenstellung der wichtigsten Aspekte, die eine solche Untersuchung umfassen sollte, wird im Folgenden vorgestellt, wobei einige Aspekte entsprechend den bei Fontane vorliegenden Bedingungen modifiziert werden. Als 1. Aspekt nennt Koppen die Äußerungen von Schriftstellern »zum Kunstcharakter der Photographie«. Da sich solche bei Fontane nicht explizit finden, muss auf seine poetologischen Äußerungen zurückgegriffen werden, in denen er die Photographie und ihren Kunstcharakter als Vergleich für Schreibweisen heranzieht. Den 2. Punkt bildet die »Photographie als literarisches Motiv«, das hauptsächlich mit der Thematik »Magie, Erotik und Komik« verbunden sei oder bei dem die Photographie als Beweisstück diene. 3., »Schriftsteller als Photographen«, entfällt bei Fontane, da über eine photographische Tätigkeit des Autors nichts bekannt ist. 4., dem »Zusammenwirken von Photo und Text«, ist hinzuzufügen, dass die Texte Fontanes im Original ohne Illustration durch Photographien veröffentlicht wurden und erst nach seinem Tod mit Photographien versehene Ausgaben seiner Reisebücher herausgegeben wurden. Deren Analyse kann dementsprechend keinen Aufschluss über Fontanes Auseinandersetzung mit der Photographie oder ihre Thematisierung in seinem Werk geben. Dennoch kann es aufschlussreich sein, zu betrachten, welche Textstellen nachträglich illustriert wurden, inwiefern dies für die Bildhaftigkeit der Beschreibungen spricht und ob Parallelen zwischen den Photographien und der Art der Beschreibung festzustellen sind – was für eine photographieanaloge21 Wahrnehmungsweise des Autors sprechen würde. Als Unterpunkt zu 4. soll in der vorliegenden Arbeit die Untersuchung der von Fontane gestalteten Beziehungen zwischen in seinen Texten beschriebenen Photographien und Schriftstücken ergänzt _____________ 21

Helen Chambers (Hrsg.), Theodor Fontane and the European Context, Amsterdam/Atlanta 2001, S. 253–263. In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff des ›photographieanalogen Sehens‹ anstelle des oft verwendeten ›photographischen Sehens‹ genutzt. Damit soll der Differenz zwischen dem tatsächlichen Blick durch die Kamera oder auf eine Photographie und Wahrnehmungsweisen der Realität, die Merkmale des ›Photographischen‹ zeigen, Rechnung getragen werden.

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1. Einleitung

werden, um seine eigenen Reflexionen zum Text-Bild-Verhältnis zu berücksichtigen. Koppens 5. Aspekt schließlich ist die Behandlung »photographische[r] Verfahrensweisen und Stilmerkmale« in literarischen Texten, wobei zunächst die Eigentümlichkeit des photographischen gegenüber dem gemalten Bild zu klären sei. Davon ausgehend, dass sich »[i]nnerhalb großer geschichtlicher Zeiträume [...] mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung [verändert]«,22 und zwar in Wechselwirkung mit den neuen visuellen Medien, werden nicht nur die photographieanalogen Verfahrensweisen des Autors untersucht, sondern insbesondere auch die Darstellung und Thematisierung dieser gewandelten Wahrnehmungsweise bei seinen Figuren.23 In Anlehnung an diese zur Beziehung zwischen Photographie und Literatur aufgeführten Aspekte sollen auch für die Malerei folgende Punkte Beachtung finden: 1. die Äußerungen Fontanes zum Kunstcharakter der Malerei in seiner Kunstkritik und 2. die Malerei als literarisches Motiv. 3. ›Schriftsteller als Maler‹ entfällt, da Fontane zwar teilweise Skizzen als Gedächtnisstützen anfertigte, sich jedoch im engeren Sinne nicht als Maler betätigte. Ebenso wenig wird 4., dem ›Zusammenwirken von Gemälde und Text‹ nachgegangen, da die Romane Fontanes fast ausschließlich ohne Gemäldeillustrationen vorliegen und als reine Textbände konzipiert wurden.24 5. hingegen, malereianaloge Verfahrensweisen und Stilmerkmale der Texte sowie Wahrnehmungsweisen der Figuren, werden in die vorliegende Untersuchung aufgenommen. Die dargestellte Thematik wird im Weiteren wie folgt erschlossen: Im zweiten Kapitel wird zunächst das Forschungsumfeld skizziert. Nachdem im vorangegangenen Einleitungsteil kurz der Forschungsstand speziell zu Fontane dargestellt wurde, finden sich dort Angaben zum ›Visual Turn‹ in den Geisteswissenschaften und den ›Visual Studies‹, die sich mit Bildern und Wahrnehmung befassen. Anschließend wird die Intermedialitätsforschung dargestellt, deren Ansätze die vorliegende Untersuchung mit denen der ›Visual Studies‹ verbindet. Das Kapitel _____________ 22 23 24

Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, I.2., Frankfurt am Main 1980, S. 478. Vgl. zur gesamten Aufzählung Erwin Koppen, Über einige Beziehungen, S. 231–245. Die zitierten Punkte sind Kapitelüberschriften und im Text folgende Erklärungen aus diesem Aufsatz. Als einzige Ausnahmen wären die von Osborne, Theodor Fontane. Vor den Romanen bereits detailliert analysierten Kriegsberichte (siehe zu den dortigen Text-Bild-Beziehungen auch Pacholski, Das ganze Schlachtfeld, S. 178–266) und die mit Skizzen Max Liebermanns versehene Effi Briest-Ausgabe zu nennen, wobei der Roman zunächst als reine Textausgabe gedacht und auch veröffentlicht wurde.

1. Einleitung

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schließt mit einem systematischen Überblick über die in der vorliegenden Arbeit zu analysierenden Aspekte. Das dritte Kapitel führt weiter in die Thematik ein, indem es historische Hintergrundinformationen zu verschiedenen Gemäldearten des 19. Jahrhunderts und der Photographie liefert. Schwerpunkte liegen dabei auf verbreiteten zeitgenössischen Ansichten über die verschiedenen Bildarten, generellen Reaktionen auf sie sowie gängigen Assoziationen. Von besonderem Interesse wird die konträre Aufnahme von Malerei und Photographie durch die poetischen Realisten und Fontane sein. Weiter werden Seh- und Wahrnehmungstheorien des 19. Jahrhunderts, insbesondere die Hermann von Helmholtz’, erläutert und in ihrem Einfluss auf die Literatur des poetischen Realismus dargestellt. Das Kapitel will damit deutlich machen, welche wichtige Rolle das Sehen bzw. neue Formen des Sehens im 19. Jahrhundert spielten und wie stark man einerseits noch auf die visuelle Lesbarkeit der Welt vertraute, andererseits jedoch das Vertrauen in die Zuverlässigkeit menschlicher Wahrnehmungen völlig erschüttert wurde. Kapitel vier untersucht die Bildhaftigkeit der als Sehschule konzipierten Wanderungen und stellt Verbindungen zwischen verschiedenen Arten der Wahrnehmung bzw. Beschreibung und zeitgenössischen Bildmedien dar. Weiter wird ein vorläufiger Kriterienkatalog entwickelt, anhand dessen sich bestimmen lässt, ob eine literarische Beschreibung photographieoder malereitypische Merkmale aufweist, und erarbeitet, was bei Fontane in Abgrenzung zum ›Photographischen‹ als ›das Malerische‹ gelten kann. Auch die Beziehungen zwischen beschriebenen Bildern und dem Text werden analysiert. Das gesamte Kapitel liefert so eine Materialsammlung Fontanescher Wahrnehmungs- und Beschreibungsarten, mit verschiedenen Bildarten verknüpfter Themenkomplexe und typischer Text-BildBeziehungen, auf die bei der folgenden Romananalyse zurückgegriffen werden kann. Diese umfasst das fünfte Kapitel und beinhaltet Einzeluntersuchungen zu Cécile, L’Adultera, Effi Briest und Mathilde Möhring. Diese Auswahl wurde getroffen, da in diesen Werken visuellen Phänomenen eine besondere Bedeutung zukommt und sich an ihnen ein breites Spektrum verschiedener Einsatzmöglichkeiten nachweisen lässt. Zudem liefert sie einen Querschnitt durch Fontanes Romane, da sie Werke aus verschiedenen Schaffensperioden umfasst – von der 1880 veröffentlichten L’Adultera bis hin zu Effi Briest von 1894/5. Sofern einzelne Aspekte durch den Blick auf weitere Romane gewinnen, werden diese Verweise in Fußnoten gegeben. Ein Schwerpunkt der Romananalyse liegt jeweils auf der visuellen Wahrnehmung der Figuren, insbesondere auf photographieanalogen oder durch Malereibetrachtung geprägten Sehweisen. Deren – teils zeitgenössi-

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1. Einleitung

schen Diskursen über die Bildmedien entsprechende – Merkmale werden herausgearbeitet, inklusive der damit verbundenen Bedeutung für die Charakterisierung der Figuren. Zu vermuten ist, dass Malerei und Photographie wie in der Poetologie so auch in den Romanen konträre Funktionen erfüllen und eine gegensätzliche Bewertung erfahren werden. Weiter werden physiognomische Blickweisen der Figuren zum einen als Mittel der Figurencharakterisierung interessieren, zum anderen als mögliche Kritik am Vertrauen auf die Zuverlässigkeit und Objektivität menschlicher Wahrnehmung. Desweiteren wird in Anknüpfung an die genderorientierten Ansätze der ›Visual Studies‹ gefragt, inwiefern die in den Romanen gestalteten Sehweisen und -rollen an traditionellen Geschlechterzuschreibungen ausgerichtet sind. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Analyse der unterschiedlichen Funktionen der verschiedenen Bildmedien wie Gemälden, Photographien und Spiegelbildern. Diese werden als Hinweise auf die Interpretation der Handlung, als Verweise auf zentrale Anliegen der Texte und in ihrer Bedeutung für die Figurencharakterisierung untersucht, wobei bei der letztgenannten Funktion besonderes Gewicht auf der Konstitution von Selbstund Fremdbildern und deren Ausrichtung an Geschlechterrollen liegen wird. Nicht nur die Bildmedien sind dabei in ihrem Verhältnis zueinander zu betrachten, sondern auch die Bezüge zwischen ihnen und dem Medium des Textes, in dem sie behandelt werden. Anzunehmen ist, dass das enge Text-Bild-Verhältnis der Wanderungen in den Romanen wieder begegnet, zugleich aber auch der Rechtfertigungsdrang des Schriftstellers, die Vorrangstellung seines eigenen Mediums zu suggerieren. Die Reihenfolge der einzelnen Romananalysen richtet sich nach diesen thematischen Aspekten, nicht nach der Werkchronologie: Die ersten Untersuchungen konzentrieren sich verstärkt auf konkrete und mentale Bilder25 sowie durch verschiedene Bildmedien geprägte Wahrnehmungsformen, die letzten befassen sich in Erweiterung des Ansatzes stärker mit Beobachtung und Wahrnehmung selbst als gesellschaftlich relevanten Themen ohne engeren Bezug zu Bildern. Zugleich bewegen sich die Analysen ausgehend von traditionellen Zuordnungen von Sehrollen und -weisen zu Genderrollen hin zu deren Varianten und Umkehrungen. Aufgrund dieser dem jeweiligen Werk angepassten Analyseschwerpunkte erfolgt kein paralleles Vorgehen bei den Einzelanalysen, so dass die Unterkapitel entsprechend differieren. In Cécile werden zunächst – soweit das Textmaterial dies hergibt – alle grundsätzlichen Analysekategorien angewandt, um einen Überblick über _____________ 25

Vgl. Kapitel 2.1. der vorliegenden Arbeit.

1. Einleitung

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die auf Visuelles konzentrierte Herangehensweise zu geben. So werden die verschiedenen Blickarten, die anhand der Wanderungen herausgearbeitet wurden, in ihrer Zuordnung zu den Figuren untersucht. Besonderes Interesse gilt dem photographieanalogen Blick des Technikers Gordon, dem scharf beobachtenden Sehen der Malerin Rosa Hexel und der mangelnden Sehfähigkeit des Blickobjekts Cécile. Weiter finden die durchgängige Thematisierung der Subjektivität des Sehens sowie das Text-Bild-Verhältnis Beachtung, das in der Verknüpfung zwischen der Photographie Clothildes und ihrem Brief in besonders enger Form auftritt. In L’Adultera wird dann auf eine spezielle Form des durch Malereibetrachtung veränderten Sehens eingegangen, auf die typisierende Wahrnehmung van der Straatens, der Individuelles nur noch als Kopie wahrnimmt. Wie diese mit der Malerei verbundene Kopie-Original-Thematik den Text auf allen Ebenen durchzieht, wird anhand des Verhältnisses zwischen im Text genannten Gemälden und dem Text selbst betrachtet. Daran schließt sich die Frage, inwiefern Melanie nur eine ›kopierte‹ Existenz lebt oder ihr ein unabhängiges Selbstbild und ein eigenständiger Lebensentwurf möglich sind, wie ihr Porträtgemälde – im Gegensatz zum L’Adultera-Gemälde – suggeriert. Als weitere Funktion des Sehens in diesem Roman wird auf seine Nutzung als Kontrollmittel eingegangen, die wiederum mit in Gemälden gestalteten Blickweisen sowie dem Blick auf Gemälde verbunden ist. Dieses Sehen als Kontrollinstrument taucht in etwas abgewandelter Gestalt auch in Effi Briest auf, wo es anstatt mit Gemälden in Verbindung mit der Physiognomik auftritt, die als eigenes Thema behandelt wird. Besonders ausgefeilt ist in diesem Roman zudem die Entwicklung von Effis Sehfähigkeit, deren Phasen nachvollzogen und analysiert werden. Deutlicher und komplexer tritt auch das aus Cécile bekannte Zusammenspiel von Photographien und Briefen zu Tage, wobei das Text-Bild-Verhältnis hier generell eng ist und eine gegenseitige Verstärkung der Wirkung beider Medien beinhaltet. Inwiefern sich dabei die Funktionen von Photographie-Text- und Malerei-Text-Verbindungen überschneiden oder differieren, wird schließlich analysiert, um der Unterscheidung zwischen ›Photographischem‹ und ›Malerischem‹ bei Fontane näher zu kommen. Das Kapitel zu Mathilde Möhring ergänzt die Figurencharakterisierung durch Zuordnung verschiedener Bildmedien und Sehweisen um den in diesem Werk besonders betonten Genderaspekt sowie die Verknüpfung von Sehfähigkeit und sozialem Stand. Weiter wird die Erweiterung des Konzepts der Text-Bild-Verbindung um Hör-, Sprach- und Sehfähigkeit untersucht. Die gesamten Forschungsergebnisse, die sich aus der Analyse der Wanderungen sowie der Romane ergeben, werden abschließend nach The-

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mengebieten zusammengefasst. Ein Ausblick auf wünschenswerte Fortführungen der hier entwickelten methodischen Ansätze sowie der behandelten Themen führt schließlich aus dem eingegrenzten Bereich der vorliegenden Studie heraus und möchte als Anregung zu weiteren Untersuchungen dienen.

2. Das Forschungsumfeld 2.1. Die ›Visual Studies‹ Dem Medienwissenschaftler Erich Straßner zufolge leben wir gegenwärtig »im sogenannten ›Optischen Zeitalter‹, nach der ›visuellen Zeitenwende‹ bzw. im Zeichen der ›Bilderflut‹«.1 Dieser »Übergang von einer weitestgehend schriftorientierten Kultur zu einer Kultur der Bild- bzw. Telepräsenz und der audiovisuellen Diskurse«2 schlägt sich etwa seit den 1980er und 90er Jahren auch in der geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschung nieder, deren Interesse sich verstärkt der Erforschung von Bildern zuwendet. In Anlehnung an die These des Philosophen Richard Rorty, die Geschichte der Philosophie sei eine Aufeinanderfolge von ›Turns‹, in denen neue Problemzusammenhänge besondere Bedeutung erlangten, während die alten langsam verblassten, benannte W.J.T. Mitchell diese Bewegung 1994 als ›Pictorial Turn‹, der den vorangehenden ›Linguistic Turn‹ ablöse. Er erklärte, eine einheitliche ›Picture Theory‹ stehe bisher noch aus, da sich verschiedene Geisteswissenschaften jeweils getrennt voneinander mit unterschiedlichen Phänomen des Bildes befassten. Gleichzeitig war er – ebenso wie andere Forscher, die sich der Bildwissenschaft zuwandten – sich dessen bewusst, dass es ein Wesen des Bildes an sich bzw. eine generelle Bildwissenschaft nicht geben kann, da Bilder und ihre Wahrnehmung einem kontinuierlichen historischen Wandel unterworfen sind.3 Im deutschen Sprachraum proklamierte Gottfried Boehm ebenfalls 1994 einen ›Iconic Turn‹ und verlangte nach einer ›Bildtheorie‹ oder ›Bildwissenschaft‹ mit dem Ziel, das »enorme Arbeitsfeld einer Wissenschaft von Auge und Bild«4 zu erschließen und »gründlicher zu erkunden, was Bilder sind, woraus sie bestehen, wie sie funktionieren und was sie mitteilen«.5 _____________ 1 2 3 4 5

Erich Straßner, Text-Bild-Kommunikation. Bild-Text-Kommunikation, Tübingen 2002, S. 1. Ebd. Vgl. William J. Thomas Mitchell, Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago/London 1994. Gottfried Boehm, Die Bilderfrage. In: Ders. (Hrsg.), Was ist ein Bild? München 1994, S. 326. Ebd., S. 327.

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2. Das Forschungsumfeld

Während Mitchell und Boehm zwar gleichzeitig nach einer Bildforschung verlangten, verknüpften sie mit dieser doch unterschiedliche Fragestellungen: Mitchell, geprägt durch marxistische Theorien Althussers und den ›Cultural Materialism‹ von Raymond Williams, richtete sein Interesse unter soziologischen und politischen Fragestellungen auf die visuelle Kultur insgesamt und zielte »im Sinne der Ideologietheorie auf ihre bewusstseinsbildende (bzw. -deformierende) Funktion in den sozialen Antagonismen«6 ab. Für den von Konrad Fiedler beeinflussten7 Boehm dagegen lag der ›Sinn‹ eines Bildes nicht in seinen Motiven, sondern war »ein völlig selbstreferentieller Prozess einer oszillierenden Wahrnehmung von Kontrasten oder des Austauschs von Bildgründen«,8 so dass Boehms Fragestellung sich »auf eine diffuse Macht von Bildern als ästhetischen Reiz, der uns irgendwie ergreift«9 richtete. Dabei lag sein Schwerpunkt neben anthropologischen Verweisen auf Urformen von Bildern insbesondere auf der Malerei der klassischen Moderne. Beide Fragestellungen resultierten im Weiteren in den unterschiedlichen Forschungssträngen der ›Visual (Culture) Studies‹ in den USA und Großbritannien und der Bildwissenschaft in Deutschland und Europa:10 Erstere sind »stärker an politischer Aufklärung über die bewußtseinsdeformierende Kraft von in den Medien strategisch eingesetzten Bildern interessiert«, letztere betreiben »mehr essentialistisch eine Ontologie des Bildes«11 und fragen danach, _____________ 6 7

8 9 10 11

Norbert Schneider, W.J.T. Mitchell und der ›Iconic Turn‹. In: Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 10 (2008), S. 34. Fiedler geht davon aus, dass Menschen für gewöhnlich im Alltag nicht auf die Art und Weise ihres Sehens achten (Stefan Majetschak, Die Sichtbarkeit des Bildes und der Anblick der Welt. Über einige Anregungen Konrad Fiedlers für die Bild- und Kunsttheorie. In: Klaus SachsHombach (Hrsg.), Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn, Frankfurt am Main 2009, S. 170), sondern die visuelle Wahrnehmung nur dazu nutzen, um Objekte zu erfassen (vgl. ebd., S. 169) und nach bestehenden Kategorien und Konventionen formelhaft einzuordnen (vgl. ebd., S. 170). Die Aufgabe der Maler bzw. ihrer Bilder sieht er daher darin, dem Betrachter Phänomene der Sichtbarkeit (die der Bilder ebenso wie die Wahrnehmungsweise des Künstlers oder des Betrachters selbst) zu vermitteln und ihn für diese zu sensibilisieren (vgl. ebd., S. 166f). Damit solle die bildende Kunst »einen neuen, mit überkommenen Anschauungen brechenden Anblick der Welt« eröffnen (ebd., S. 171). Eine zentrale Kategorie Fiedlers ist somit die »Anschaulichkeit von Gemälden mit der methodischen Maßgabe, dass die Werkbetrachtung auf die reine Visualität unter Ausklammerung aller referentiellen Konnotationen eingegrenzt wird« (Schneider, W.J.T. Mitchell, S. 30). Schneider, W.J.T. Mitchell, S. 31. Ebd., S. 34. Dies zeigt etwa eine aktuelle Überblicksdarstellung zu Bildtheorien mit dem Untertitel Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn (Sachs-Hombach, Bildtheorien). Norbert Schneider, Vorwort. In: Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 10 (2008), S. 8f.

2.1. Die ›Visual Studies‹

15

was das Wesen eines Bildes ausmache und welche Arten von Bildern zu unterscheiden seien.12 Doch eine stringente und klare Trennung bzw. allgemeingültige Definition dessen, was als Bildwissenschaft, ›Image Studies‹, ›Visual Culture‹, ›Visual Studies‹ oder ›Visual Culture Studies‹ zu gelten hat – allein die kleine Auswahl der wichtigsten Bezeichnungen des Forschungsfeldes lässt die terminologische Vielfalt erahnen, welche die der verschiedenen Ansätze widerspiegelt – ist schwer zu treffen.13 Als Gesamttendenz der Forschungsrichtung14 lässt sich jedoch feststellen, dass neben Fragen nach dem Wesen des Bildes an sich im weiteren Sinne ein Untersuchungsfeld erschlossen wurde, das Diskussionen um das Wesen mentaler Bilder15 sowie Untersuchungen der Beziehungen zwischen Bildern und Sprache beinhaltete. Schließlich erweiterte man das Gebiet von den Bildern ausgehend auch auf ihre Betrachtung sowie das Konzept der ›Visual Literacy‹, das danach fragt, welche produktiven und rezeptiven visuellen Kompetenzen in der heutigen Zeit mit ihren verstärkten visuellen Herausforderungen auf welche Art und Weise vermittelt werden sollten.16 Das Interesse dehnte sich zudem aus auf Visualität bzw. visuelle Wahrnehmung generell – also unabhängig von Bildern –, und man fragte insbesondere nach histo_____________ 12 13 14

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16

Vgl. Hans Belting, Vorwort. Zu einer Anthropologie des Bildes. In: Ders. und Dietmar Kamper (Hrsg.), Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion, München 2000, S. 7–10; Boehm, Die Bilderfrage. Für eine Aufgliederung zumindest der in den USA gängigen Forschungsrichtungen vgl. James Elkins, Visual Studies. A Skeptical Introduction, New York/London 2003, S. 1–7. Elkins stellt als wichtigste Themenfelder zusammen: die Erforschung zeitgenössischer Massenmedien, philosophische Fragestellungen nach Sehen und Visualität, sozialkritische Analysen zeitgenössischer Praktiken der Bilderzeugung, soziologische, semiotische and anthropologische Fragestellungen (vgl. Elkins, Visual Studies, S. 17f). Für einen Überblick über die wichtigsten Fragestellungen vgl. a. William J. Thomas Mitchell, Bildwissenschaft. In: Gottfried Boehm und Horst Bredekamp (Hrsg.), Ikonologie der Gegenwart, München 2009, S. 99–114. Vgl. Klaus Sachs-Hombach (Hrsg.), Bilder im Geiste. Zur kognitiven und erkenntnistheoretischen Funktion piktoraler Repräsentationen, Amsterdam/Atlanta 1995; Klaus Sachs-Hombach, Bild, mentales Bild und Selbstbild. Eine begriffliche Annäherung. In: Petra Leutner und Hans-Peter Niebuhr (Hrsg.), Bild und Eigensinn. Über die Modalitäten der Anverwandlung von Bildern, Bielefeld 2006, S. 116–131. Speziell die so genannte ›Imagery Debatte‹ diskutiert seit den 1980er Jahren intensiv über den Begriff des internen bzw. mentalen Bildes und sein Verhältnis zum externen Bild (vgl. Sachs-Hombach, Bild, S. 123). Frühere Ansätze versuchten noch, eine dem Text ähnliche »der Sprache vergleichbare Grammatik bzw. Syntax des Bildes« (Martin Steinseifer, Prägnanzen. Bilder und ihre Effekte in der pragmatischen Linguistik. In: Arnulf Deppermann und Angelika Linke (Hrsg.), Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton, Berlin/New York 2010, S. 327) zu erschließen, wovon man mittlerweile in Anerkennung der Differenzen zwischen dem semiotischen System des Textes und dem des Bildes abgekommen ist. Vgl. für eine ausführliche Darstellung verschiedener aktueller Konzepte von ›Visual Literacy‹ Elkins, Visual Studies, S. 125–196.

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2. Das Forschungsumfeld

risch und kulturell bedingten Veränderungen des Sehens,17 so dass sich die umfassendere Bezeichnung ›Visual Turn‹ entgegen dem ursprünglichen ›Pictorial Turn‹ durchsetzte.18 Einflüsse auf die entstehenden, heterogenen und interdisziplinären19 Forschungsrichtungen, die im Weiteren unter dem in der vorliegenden Arbeit als Überkategorie verstandenen Begriff der ›Visual Studies‹ zusammengefasst werden, sind gleichermaßen in den Geistes- wie den Naturwissenschaften zu finden20 – bei letzteren insbesondere in der Kognitionsforschung und der kognitiven Psychologie.21 Besonders eng ist die Verbin_____________ 17

18 19

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21

Vgl. Norman Bryson, Das Sehen und die Malerei. Die Logik des Blicks, München 2001; Stephen Kern, Eyes of Love. The Gaze in English and French Culture 1840 – 1900, New York 1996; Harro Segeberg, Rahmen und Schnitt. Zur Mediengeschichte des Sehens seit der Aufklärung. In: Wirkendes Wort 43/2 (1993), S. 286–301; Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Sehsucht. Über die Veränderung der visuellen Wahrnehmung, Göttingen 1995; Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/Basel 1996. Vgl. Margaret Dikovitskaya, Visual Culture. The Study of the Visual after the Cultural Turn, Cambridge/Massachusetts et al., 2005, S. 47. Vgl. zu verschiedenen Ausformungen der Interdisziplinarität der ›Visual Studies‹ Elkins, Visual Studies, der folgende Aufassungen bestehender Forschungsrichtungen zusammenfasst: Visual Studies seien entweder 1. eine neue Disziplin oder 2. interdisziplinär, und zwar entweder in dem Sinne, dass sie a) bestehende Methoden, Objekte und Texte aus verschiedenen Disziplinen ›zusammenflickten‹, b) die Lücken zwischen bestehenden Disziplinen auffüllten, oder c) das Gebiet erschlössen, das – im Unterschied zum vorigen Modell nicht zwischen, sondern – unterhalb der Wahrnehmung etablierter Forschungsgebiete liege (also Unkünstlerisches, Unästhetisches etc.). Als 3., von ihm präferierte und offenste Alternative gibt er an, dass die zu untersuchenden Objekte nicht von vornherein feststünden, sondern sich erst im Laufe der Beschäftigung herausbilden sollten (vgl. S. 27–30). Susan Buck-Morss stellt folgenden Kanon der einflussreichsten Autoren – allerdings allein aus dem Gebiet der Geisteswissenschaten – zusammen, worin ihr Elkins, Visual Studies folgt: »Barthes, Benjamin, Foucault, Lacan«. Als Standardthemen nennt sie – der sich anschließende Elkins ergänzt entsprechende Autoren in eckigen Klammern – »the reproduction of the image [Benjamin], the society of the spectacle [Guy Debord], envisioning the Other [Lacan], scopic regimes [Martin Jay and others], the simulacrum [Jean Baudrillard, Gilles Deleuze, Frederic Jameson], the fetish [Freud], the (male) gaze [associated most famously with Laura Mulvey], the machine eye [Donna Haraway]« (Susan Buck-Morss’ reply to ›Visual Culture Questionnaire‹, S. 29, zitiert in: Elkins, Visual Studies, S. 32f). Deren zentrale Fragen drehen sich um die Art und Weise, wie (visuelle) Wahrnehmung im Gehirn verarbeitet wird. Bedeutende Unteraspekte sind dabei die These von mehr oder weniger als bildhaft verstandenen Repräsentationen (vgl. Sachs-Hombach, Bilder; SachsHombach, Bild; Verena Gottschling, Bilder im Geiste. Die Imagery-Debatte, Paderborn 2003), die Erforschung des genauen Ortes der Verarbeitung im Gehirn (vgl. Wolf Singer, Das Bild in uns. Vom Bild zur Wahrnehmung. In: Klaus Sachs-Hombach (Hrsg.), Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn, Frankfurt am Main 2009, S. 104–126) sowie die Darlegung menschlicher Wahrnehmung als Konstruktion der Wirklichkeit und dabei zugrunde liegender Prozesse (vgl. Donald D. Hoffman, Visuelle Intelligenz. Wie die Welt im Kopf entsteht, Stuttgart 2000; Singer, Das Bild in uns). Verbindungen zwischen Kognitionsund Geisteswissenschaften auf dem Gebiet der ›Visual Studies‹ stellt etwa Matthias Bauer, Fabienne Liptay et al. (Hrsg.), Kunst und Kognition. Interdisziplinäre Studie zur Erzeugung von

2.1. Die ›Visual Studies‹

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dung zur Kunstgeschichte, der die ›Visual Studies‹ viele methodische Grundlagen verdanken, von der sie jedoch oft als Konkurrenzwissenschaft verstanden und zurückgewiesen wurden. Dabei wurden sie oft auf der einen Seite als deren fehlgeleitete Erweiterung missinterpretiert – auf ›niedere‹ Kunst bzw. nichtkünstlerische Bilder sowie visuelle Phänomene generell – andererseits als deren Begrenzung – auf zeitgenössische Kunst – abgelehnt.22 Überschneidungen bestehen hier etwa in der Weiterführung von Fragestellungen des Kunsthistorikers Ernst H. Gombrich nach dem »künstlerischen Schaffensprozess«, »der Kunstbetrachtung« und dem »Verhältnis von Kunstwerk, Künstler und Stilgeschichte«,23 die Bezüge von der Kunstwissenschaft zu Sprachtheorie, Philosophie und Wahrnehmungstheorie herstellten.24 In der Literaturwissenschaft erschienen Arbeiten, die dem Verhältnis von Text und Bild – oft mit Schwerpunkt auf der Malerei25 – oder Wahr_____________

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Bildsinn, München 2008 her, der fragt: »Welche Relevanz besitzt die Kognitionswissenschaft für Film- und Kunst-, Musik- oder Literaturwissenschaftler?« (Matthias Bauer, Fabienne Liptay et al., Einleitung der Herausgeber. Das Feuer(n) des Geistes. In: Dies., Kunst und Kognition, S. 8). Vgl. Elkins, Visual Studies, S. 21–25; Stewart Martin, Visual Culture or Art? In: Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 10 (2008), S. 21f. Klaus Lepsky, Wivenhoe Park. Ernst H. Gombrich (1909–2001). In: Jörg Probst und Jost Philipp Klenner (Hrsg.), Ideengeschichte der Bildwissenschaft. Siebzehn Porträts, Frankfurt am Main 2009, S. 243. Vgl. ebd., S. 244. In Art and Illusion geht Gombrich – im Gegensatz zur traditionellen Ansicht, dass Bilder Symbole ohne direkten Ähnlichkeitsbezug zur Wirklichkeit enthalten, deren Interpretation erst erlernt werden müsse –, davon aus, dass tatsächliche Eigenschaften der abgebildeten Objekte ins Bild gebracht würden (vgl. ebd., S. 245). Seiner Ansicht nach ist eine wirkliche Übereinstimmung nötig, die nicht durch ein ›simples Abmalen‹ des Gesehenen erreicht werde, sondern durch einen »Angleichungsprozess zwischen Bild und Wirklichkeit« (ebd., S. 246). Erst dadurch könne in einem zweidimensionalen Bild eine Wirklichkeitsillusion geschaffen werden, durch die dieselbe Wirkung wie beim Betrachten der abgebildeteten Realität hervorgerufen werde (vgl. ebd., S. 247). Die Erzeugung dieses Effekts sei die wesentliche Aufgabe des Künstlers, und die ihm dafür »zur Verfügung stehenden darstellerischen Mittel sind Bestandteil der künstlerischen Praxis und somit gleichzeitig Elemente der Stilgeschichte« (ebd., S. 247). Der Weg des Künstlers, diese Mittel zu erreichen, beruhe – in Anlehnung an Karl R. Popper – auf »Versuch und Irrtum in der Form von Schema und Korrektur« (ebd., S. 249), d. h. der Künstler beobachte und probiere anschießend unablässig verschiedene Methoden aus, das Gesehene aufs Papier zu bringen, so lange, bis er durch Tradition und Übung zu den adäquatesten Möglichkeiten gelange (vgl. ebd., S. 248ff) – beispielsweise Verkürzung, Zentral- und Luftperspektive zur Darstellung von Räumlichkeit (vgl. ebd., S. 256). Auch die Bildwahrnehmung des aktiven Betrachters funktioniere nach diesem Schema; seine Interpretation eines Bildes beruhe ebenfalls auf dem »Aufstellen von visuellen Hypothesen über die sichtbare Welt, die in einem Feedbackprozess zunehmend verfeinert werden« (ebd., S. 253). Vgl. Ulrich Weisstein, Einleitung. Literatur und bildende Kunst. Geschichte, Systematik, Methoden. In: Ders., Literatur und bildende Kunst, S. 11–31.

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2. Das Forschungsumfeld

nehmung und Literatur,26 meist begrenzt auf bestimmte Autoren oder Epochen, nachgingen. Ferner wandte sich das Forschungsinteresse dem Einfluss zeitgenössischer theoretischer Reflexionen über Bilder, Sehen und Wahrnehmung auf die literarische Produktion zu. Auch diese Themen als Motive literarischer Texte und die Mitwirkung der Literatur an Diskursen über visuelle Phänomene rückten ins Zentrum der Aufmerksamkeit.27 Neue Ansatzpunkte lieferten der Literaturwissenschaft zudem von den Gender Studies beeinflusste Aspekte der ›Visual Studies‹.28 In den Gender Studies und insbesondere der feministischen Kunstgeschichte, wo das »Geschlecht zur zentralen Körperkategorie (und damit auch Bildkategorie) erklärt«29 wurde, regte der ›Pictorial Turn‹ Betrachtungen über den Einfluss von Bildern auf die Konstruktion von Geschlechtsidentitäten an. Dabei widmete man sich insbesondere Frauenrollen bzw. -bildern, während Männlichkeitsbilder weniger Beachtung fanden.30 Zudem wurde in den Gender Studies »verstärkte Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmungskategorien des Sehens, des Blicks und des Betrachtetwerdens gerichtet, die [...] ohne geschlechtsspezifische Untersuchungen nicht auskommen«.31 Die von Laura Mulvey in der Filmtheorie _____________ 26 27

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Vgl. Volker Mergenthaler, Sehen schreiben – Schreiben sehen. Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel, Tübingen 2002. Vgl. Jürgen Manthey, Wenn Blicke zeugen könnten. Eine psychohistorische Studie über das Sehen in Literatur und Philosophie, München/Wien 1983; Katharina Weisrock, Götterblick und Zaubermacht. Auge, Blick und Wahrnehmung in Aufklärung und Romantik, Opladen 1990; Matthias Völcker, Blick und Bild. Das Augenmotiv von Platon bis Goethe, Bielefeld 1996; Manfred Schmeling und Monika Schmitz-Emans (Hrsg.), Das visuelle Gedächtnis der Literatur, Würzburg 1999; Renate Brosch, Krisen des Sehens. Henry James und die Veränderung der Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Tübingen 2000; Andrea Gnam, Sei meine Geliebte, Bild! Die literarische Rezeption der Medien seit der Romantik, München 2004; Andrea Goulet, Optiques. The Science of the Eye and the Birth of Modern French Fiction, Philadelphia 2006. Vgl. Eva Kaufmann, Frauenbilder und männlicher Blick. In: Argonautenschiff 5 (1996), S. 196– 203; Zubiaurre, Panoramic Views; Waltraud Fritsch-Rößler (Hrsg.), Frauenblicke Männerblicke Frauenzimmer. Studien zu Blick, Geschlecht und Raum, St. Ingbert 2002; Erdmut Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild. Wahrnehmung und Ästhetik im Reisebericht 1780–1820. Sophie von La Roche – Friederike Brun – Johanna Schopenhauer, Freiburg im Breisgau/Berlin 2005, S. 35– 54. Doris Bachmann-Medick, Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 359. Ilsebill Barta, Zita Breu et al. (Hrsg.), Frauen, Bilder, Männer, Mythen. Kunsthistorische Beiträge, Berlin 1987; Anne Higonnet, Bilder – Schein und Erinnerung, Musse und Subsistenz. In: Geneviève Fraisse und Michelle Perrot (Hrsg.), Geschichte der Frauen, Bd. 4: 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York 1994, S. 283–311; Stéphane Michaud, Idolatrie. Darstellungen in Kunst und Literatur. In: Fraisse und Perrot, Geschichte der Frauen. Bd. 4: 19. Jahrhundert, S. 141–164; Anne-Kathrin Reulecke, Geschriebene Bilder. Zum Kunst- und Mediendiskurs in der Gegenwartsliteratur, München 2002; Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Kunst/Kunstwissenschaft (Kunstgeschichte). In: Renate Kroll (Hrsg.), Metzler Lexikon Gender Studies, Geschlechterforschung. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 2002, S. 222. Bachmann-Medick, Cultural turns, S. 359.

2.1. Die ›Visual Studies‹

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der 1970er Jahre entwickelte Ansicht von ›männlichem‹ und ›weiblichem‹ Sehverhalten, nach welcher der Mann als aktiv Sehender der Frau als passiv gesehenem Objekt gegenübersteht,32 wurde kritisch diskutiert.33 Mittlerweile scheint das Projekt der ›Visual Studies‹ mit seinem Einschluss jeglicher Form von Bildern einigen Forschern bereits an seiner »Lösung vom Zwang der Disziplinen und Methoden«34 gescheitert oder zumindest im Wanken begriffen.35 Andere dagegen zeichnen die Geschichte seiner umgreifenden Ausbreitung nach36 und legen Konzepte zur Fortführung und Verbesserung vor.37 Ohne den Erfolg oder das Misslingen des gesamten Projekts beurteilen zu wollen, greift die vorliegende Arbeit auf einige Ergebnisse und Methoden der ›Visual Studies‹ zurück. Um dem Problembewusstsein von der Unschärfe des Forschungsansatzes Rechnung zu tragen, soll jedoch im Folgenden das Untersuchungsfeld klar defininiert und begründet eingegrenzt werden. Im Laufe der ›Visual Studies‹ entwickelte Bilddefinitionen gehen meist von einer Unterteilung in mindestens zwei Bildarten aus: Als innere, endogene oder mentale Bilder gelten solche der Vorstellung und Erinnerung, äußere bzw. exogene dagegen zeichnen sich durch ihre Materialität und Sichtbarkeit aus. Da letztere eher einem allgemeinen Verständnis von Bildern entsprechen, werden sie häufig als Bilder im engeren Sinn angesehen, während der Bildstatus mentaler Bilder teils umstritten ist.38 Als dritte Bildart nehmen einige Ansätze noch Sprach- oder Denkbilder bzw. Bilder im metaphorischen Sinn hinzu.39 Während diese dritte Kategorie in der vorliegenden Arbeit aus dem Untersuchungsbereich ausgeklammert wird, da es sich hierbei nur noch im übertragenen Sinn um Bilder handelt, wird der Analyseschwerpunkt auf externen Bildern als Bildern im engeren Sinne liegen. Diese jedoch sind nicht von inneren Bildern zu trennen, denn, wie Hans Belting feststellt: _____________ 32 33

34 35 36 37 38 39

Vgl. Brenda Hollweg, Blick, männlicher/weiblicher. In: Kroll, Metzler Lexikon Gender Studies, S. 42f. Vgl. Gisela Schneider und Klaus Laermann, Augen-Blicke. Über einige Vorurteile und Einschränkungen geschlechtsspezifischer Wahrnehmung. In: Kursbuch 49 (1977), S. 36–58; Kern, Eyes of Love; John Berger, Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt, 14. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2002. Jörg Probst und Jost Philipp Klenner, Vorwort. In: Dies., Ideengeschichte der Bildwissenschaft, S. 7. Vgl. Elkins, Visual Studies, S. 20. Vgl. William J. Thomas Mitchell, Vier Grundbegriffe der Bildwissenschaft. In: Sachs-Hombach, Bildtheorien, S. 219. Vgl. Elkins, Visual Studies. Vgl. Sachs-Hombach, Bild, S. 117f; Belting, Vorwort, S. 7. Vgl. Sachs-Hombach, Bild, S. 119, Belting, Vorwort, S. 7.

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2. Das Forschungsumfeld

Es ist also das Wechselverhältnis zwischen der mentalen und der physischen Bildproduktion einer Zeit, welche das Material für eine Geschichte der Bilder liefert. Wir kennen die mentalen Bilder nur deswegen aus anderen Zeiten, weil sie in Artefakte übertragen wurden, die wiederum auf die Imagination ihrer Betrachter einwirkten und das aktuelle Gedächtnis einer Kultur bilden.40

Daher sind auch mentale Bilder in die Analyse einzubeziehen, zumal deren Thematisierung in Form von Erinnerungsbildern in Fontanes Texten auffällig ist – Stellen wie »[a]llerhand Bilder zogen an ihm vorüber«,41 »[a]lte Bilder zogen herauf«42 oder »die freundlichen Bilder, die dieser Sommer ihm gebracht hatte, zogen noch einmal an seiner Seele vorüber«43 finden sich in hoher Frequenz. Im Folgenden referiert der Terminus ›Bild‹ der Eindeutigkeit halber generell auf externe Bilder, mentale Bilder werden als solche extra benannt. Ebenso wie innere und äußere Bilder einander bedingen, besteht zwischen Bildern und ihrer bzw. der generellen Wahrnehmung ein untrennbarer Zusammenhang: Die Art und Weise der Bildbetrachtung beeinflusst die Wahrnehmungsweise des Bildbetrachters. Dies belegen etwa Michael Bischoff und Matthias Struch, indem sie zwei kunsttheoretische Ansätze vorstellen, die dem Kunstwerk eine wahrnehmungskonstitutive Bedeutung zuschreiben und zeigen, wie die Thematisierung und Bewusstmachung von Wahrnehmungsformen und -strategien in Bildern zu einer Wahrnehmungsveränderung führen kann.44 Im Einzelnen geschieht dies nach Konrad Fiedler – dem bedeutendsten Kunsttheoretiker des 19. Jahrhunderts, der Fontane mithin bekannt war – indem man beim Betrachten eines Gemäldes den Wahrnehmungsprozess des Künstlers nachverfolge und reflektiere. Damit könne man sich diesen ebenso aneignen, wie man sich durch das Nachvollziehen sprachlicher Mitteilungen die Gedanken anderer zu eigen mache.45 Ähnlich argumentiert auch der Kunsttheoretiker Ernst H. Gombrich, für den Maler ihre Wahrnehmungseindrücke mit verschiedenen Mitteln im Bild auszudrücken versuchten, während der Rezipient diese wiederum entschlüsseln müsse und sich durch seine Hypothesenbildungen seines Wahrnehmungsprozesses bewusst werde.46 Dem Kubismus-Theoretiker Daniel-Henry Kahnweiler zufolge vermischen sich bei jedem Sehakt optische Eindrücke mit Erinnerungsbildern, als deren Hauptquelle Kunstwerke benannt werden, _____________ 40 41 42 43 44 45 46

Belting, Vorwort, S. 8. VdS 2, S. 239. GF, S. 142. ST, S. 262. Vgl. Michael Bischoff und Matthias Struch, Kunst, Wahrnehmung und visuelle Erkenntnis. In: Sachs-Hombach, Bilder im Geiste, S. 307–320. Vgl. ebd., S. 312. Vgl. ebd., S. 319.

2.1. Die ›Visual Studies‹

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wodurch diese gleichfalls wahrnehmungsverändernd wirken.47 Dass dieser Einfluss nicht nur durch gemalte, sondern auch durch photographische Bilder ausgeübt werden kann, begründen Bischoff und Struch damit, dass auch auf Photographien Gegenstände auf andere Weise abgebildet werden, als sie sich dem menschlichen Auge präsentieren. Durch diese Differenz zur eigenen Wahrnehmung können photographische Abbildungen den Betrachter irritieren, etwa indem sie alle Gegenstände gleich scharf zeigen, verblüffend detailreich sind oder bestimmte Objekte gezielt scharf abbilden. Der Rezipient wird dadurch zur Reflexion über seine Wahrnehmungsweise angeregt.48 Demnach können Bilder neue Wahrnehmungsarten hervorbringen oder bestehende verändern. Umgekehrt führen bestimmte Sehweisen zur Darstellung in Bildern oder der Entstehung neuer Bildmedien, in denen sie erprobt und perfektioniert werden können: Stephan Oettermann stellt fest, dass der panoramatische Blick bereits vor Entstehung des Bildmediums Panorama in der Naturbetrachtung praktiziert wurde. In der Einrichtung des Panoramas wurde der Blick dann weiter eingeübt und anschließend auf die Naturbetrachtung zurück übertragen, so dass die panoramatische Betrachtungsweise in gegenseitiger Wechselwirkung von der Natur- auf die Bild- und wieder zurück auf die Naturbetrachtung überging.49 Ein ähnlicher, etwas komplexerer Kreislauf zeigt sich auch bei durch die Photographie bewirkter Wahrnehmungsveränderung, die in drei Schritten von der Betrachtung einer Bildart auf die generelle Weltwahrnehmung und schließlich zurück auf die Rezeption und selbst die Produktion einer anderen Bildart übertragen wurde: »Die Erfindung der Kamera veränderte die Art, in der die Menschen sahen. Das Sichtbare bekam eine andere Bedeutung für sie, die unmittelbar in der Malerei gespiegelt wurde«.50 »Die Erfindung der Kamera veränderte auch die Art, in der Menschen Gemälde sahen, die lange vor dieser Erfindung gemalt worden waren«.51 Aufgrund dieser starken gegenseitigen Bedingtheit behandelt auch die vorliegende Arbeit Bilder und Sehen bzw. Wahrnehmung gemeinsam. Zu beachten ist bei einer solchen Erforschung von Wahrnehmung bzw. Bildern und ihren Medien deren kulturelle und historische Eingebun_____________ 47 48 49 50 51

Vgl. ebd., S. 313. Vgl. Bischoff und Matthias Struch, Kunst, Wahrnehmung und visuelle Erkenntnis, S. 318f. Vgl. Stephan Oettermann, Das Panorama – Ein Massenmedium. In: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Sehsucht, S. 79f. Berger, Sehen, S. 18. Diese Spiegelung der Wahrnehmung findet sich insbesondere in Gemälden des Kubismus und des Impressionismus, die Wahrnehmungsvorgänge verbildlichen. Ebd., S. 19.

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2. Das Forschungsumfeld

denheit.52 Für verschiedene Epochen sind zum einen unterschiedliche Bildarten und Wahrnehmungsweisen typisch – etwa für das 18. Jahrhundert und die Aufklärung die Rahmenschau und für das frühe 19. Jahrhundert der panoramatische Blick53 –, zum anderen ändern sich die mit bestimmten Bildarten verbundenen Assoziationen – etwa die mit der Photographie in ihrer Anfangszeit gegenüber den heutigen. Die Bildmedien selbst sind ebenfalls im Laufe der Zeit technischen Veränderungen unterworfen, die wiederum neue Assoziationen und Wahrnehmungsweisen zur Folge haben – dies verdeutlicht etwa die Entwicklung von der Daguerreotypie bis hin zur heutigen Digitalphotographie. Daher bedarf »eine Geschichte der Bilder [...] der Begleitung durch eine Mediengeschichte«.54 Schließlich verändert sich auch die Wahl von Blicken als Bildmotiven entsprechend den kulturellen und historischen Gegebenheiten. Stephen Kern beobachtet beispielsweise für französische und englische Gemälde der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine spezifische, von ihm als »proposal composition«55 bezeichnete Blickkonstellation: Bei Darstellungen von Paaren sehen die im Profil abgebildeten Männer die Frauen mit einem Blick der erotischen Begierde an. Die von vorn dargestellten Frauen dagegen, deren Gesicht und Augen stärker betont sind, erwidern den Blick des Mannes nicht, sondern schauen in Richtung des Bildbetrachters. Für Kern impliziert die Darstellung nur eines Auges beim Mann eine gewisse Oberflächlichkeit der monokularen Perspektive und des zielstrebig nur auf eine Antwort ausgerichteten Vorhabens. Die zwei Augen der Frau dagegen stünden für eine tiefere Wahrnehmung durch binokulares Sehen und einen weiteren visuellen Horizont sowie breiter gefächerte Interessen und intensivere Gefühle.56 Diese Frauen würden entgegen den bisherigen Ergebnissen genderorientierter Untersuchungen zum Blickverhalten nicht durch den männlichen Blick zu Objekten degradiert, sondern behielten ihre Subjektivität, da sie eine größere Bandbreite an Gedanken und Gefühlen zeigten als die Männer.57 Kern hinterfragt damit die etwa seit den 1970er Jahren herrschende und unter anderen durch den Kunsthistoriker John Berger vertretene Forschungsansicht über genderspezifische Blickarten,58 in der der aktive – _____________ 52 53 54 55 56 57 58

Vgl. Benjamin, Das Kunstwerk, S. 478. Vgl. Bettina Brandl-Risi, ›Tableau’s von Tableaus‹. Zur Beziehung von Text, Bild und Theater in Erzähltexten des 19. Jahrhunderts. In: Günther Heeg und Anno Mungen (Hrsg.), Stillstand und Bewegung. Intermediale Studien zur Theatralität von Text, Bild und Musik, München 2004, S. 123. Belting, Vorwort, S. 8. Kern, Eyes of Love, S. 7. Vgl. ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 228. Vgl. Berger, Sehen, S. 44.

2.1. Die ›Visual Studies‹

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oft erotisch aufgeladene – Blick dem Mann zugeordnet, die Frau dagegen als passives Objekt der Beobachtung definiert wird.59 Kern sieht eine solch eindeutige Zuordnung durch die Kunstgeschichte nicht bestätigt, denn women’s objectification under that gaze was not even close to being complete, because the eroticism of the gaze encompassed only a limited aspect of women’s as well as men’s experience, because women’s subjectivity was energized by men’s failure to recognize their humanity, and because women could always look away and think of something else.60

Dennoch gesteht Kern zu, dass das Privileg eines begehrlichen Blicks in der viktorianischen Epoche – das heißt im für die vorliegende Untersuchung relevanten Zeitraum – ausschließlich Männern vorbehalten war. Dagegen gestatteten soziale und moralische Regeln es Frauen kaum, Männer direkt anzusehen, denn solche als provozierend empfundenen Blicke kennzeichneten eine Frau als sittenlos oder – im Extremfall – als Prostituierte.61 Berger zufolge ist eine Frau grundsätzlich der Beobachtung durch Männer ausgesetzt, so dass sie schließlich, »fast ständig von dem Bild begleitet, das sie sich von sich selbst macht«,62 selbst die Angewohnheit übernimmt, sich kontinuierlich zu beobachten: Männer handeln und Frauen treten auf. Männer sehen Frauen an. Frauen beobachten sich selbst als diejenigen, die angesehen werden. Dieser Mechanismus bestimmt nicht nur die meisten Beziehungen zwischen Männern und Frauen, sondern auch die Beziehung von Frauen zu sich selbst. Der Prüfer der Frau in ihr selbst ist männlich – das Geprüfte weiblich. Somit verwandelt sie sich selbst in ein Objekt, ganz besonders in ein Objekt zum Anschauen – in einen ›Anblick‹.63

Dieser Auffassung entsprechend sei – entgegen Kerns Beobachtungen – eine Rollenverteilung, bei der die Frau den Mann ansieht und dieser den Bildbetrachter, »ein bildgewordenes Ideologem geschlechtsspezifischen Wahrnehmungsverhaltens«.64 Typisch für den Mann sei auf diesen Bildern das distanzierte Überblicken seines Handlungsraumes, sein Blick sei ein »Mittel der Selbstbehauptung« sowie »ein Herrschafts- und Distanzierungsmittel«.65 Die Sehfähigkeit der Frau dagegen sei durch die seit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert verstärkte, _____________ 59 60 61 62 63 64 65

Kern, Eyes of Love, S. 10–14. Ebd., S. 14. Vgl. ebd. Berger, Sehen, S. 43. Ebd., S. 44. Schneider und Laermann, Augen-Blicke, S. 42. Ebd., S. 46.

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2. Das Forschungsumfeld

»sozial erzwungene Skotomisierung des weiblichen Blicks«66 stark eingeschränkt, so dass Frauen oft die Wahrnehmung der Männer für sich übernähmen.67 Neben genderspezifischen Sehweisen behandeln die Gender Studies Bilder als Repräsentationen von Geschlechterrollen und betrachten sich damit als dem Forschungsfeld der Visualität untrennbar zugehörig.68 Anne-Kathrin Reulecke stellt fest, dass »das Problemfeld der Repräsentation eigentlich überhaupt nicht mehr ohne die Frage der Geschlechterdifferenz analysiert werden kann und so von einem ›Nebenthema‹ nicht mehr die Rede sein kann«.69 »Da das ›objektiv‹ schauende und daher erkennende Betrachtersubjekt männlich konnotiert war, wurde das Weibliche mit dem zu erkennenden Objekt, dem ›schweigenden‹ Bild assoziiert«.70 Frauen wurden zu Projektionsflächen für männliche Vorstellungsbilder, zu »Auslöser[n] einer imaginären Bilderflut, die sich in den Kunstwerken [...] manifestiert[e]«.71 Sie fügten sich schließlich in diese Rolle als schöner Anblick oder ›Bild‹ und posierten bewusst als Blickobjekte, so dass »die Ebene der Bilder und Vorstellungen unabdingbar zur Geschichte der Frauen dazu[gehört], existiert doch eine Frau niemals unabhängig von dem ihr zugeschriebenen Bild der Frau«. Für diesen Zusammenhang zwischen Weiblichkeit und Bildlichkeit prägte Silvia Eiblmayr die Formel vom »Bildstatus des Weiblichen«.72 Insbesondere für das 19. Jahrhundert, die Schaffenszeit Fontanes, gilt die These von der Beeinflussung des Frauenbildes durch »die Macht der Bilder. Die imaginierte Frau, die Frau als Idol fasziniert das Jahrhundert«.73 Als »Madonna, Verführerin, Muse«,74 »Madonna, Engel oder Teufel«75 tauchte sie _____________ 66 67 68

69 70 71 72 73 74 75

Ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 37f. Dass die Visualitätsforschung diese Ansicht mittlerweile teilt, zeigt sich etwa daran, dass ein Überblickswerk wie Visual Culture. The Reader einen eigenen umfassenden Teil zu Gendering the gaze enthält. Allerdings wird dort hauptsächlich auf verschiedene Arten des Blicks und weniger auf Geschlechterrollen in Bildern eingegangen (vgl. Jessica Evans und Stuart Hall (Hrsg.), Visual Culture. The Reader, London 2001). Reulecke, Geschriebene Bilder, S. 270. Brosch, Krisen des Sehens, S. 48. Annette Simonis, Weiblichkeitsbilder/Imagination. In: Kroll, Metzler Lexikon Gender Studies, S. 400. Silvia Eiblmayr, Die Frau als Bild. Der weibliche Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 1993, zitiert in: Schmidt-Linsenhoff, Kunst, S. 222. Michaud, Idolatrie, S. 141. Higonnet, Bilder, S. 283. Michaud, Idolatrie, S. 143.

2.1. Die ›Visual Studies‹

25

auf allen – hohen und niedrigen Ebenen der visuellen Kultur auf: in Zeitungen, Anzeigen, Photographien, Buchillustrationen und im Kunsthandwerk ebenso wie in der Plastik, der Malerei und Gelegenheits-Malerei.76

Männer hingegen scheinen aufgrund des unterschiedlichen Blickverhaltens in ihrer Rollenvorstellung und Identitätskonstitution weniger durch Bilder beeinflusst worden zu sein als Frauen. Während Forschungsliteratur zur Rolle der Frau im 19. Jahrhundert kaum ohne Verweise auf bildliche Darstellungen auskommt,77 beziehen ähnliche Darstellungen zu Männern die visuelle Ebene nur selten ein.78 Wolfgang Schmale stellt dazu fest, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der männliche Körper nicht mehr, wie noch im 18. Jahrhundert, »ständig in idealisierender Nacktheit zur Schau gestellt [wurde, N.H.]. Dies war in der Kunst nach 1850 mittlerweile dem weiblichen Körper ›vorbehalten‹«.79 Statt durch Bilder wurden Männlichkeitsvorstellungen im 19. Jahrhundert nach Walter Erhart vor allem durch die Literatur geprägt.80 Er schlägt daher vor, »Männlichkeit als eine in erster Linie narrative Struktur zu rekonstruieren«.81 In seiner Auffassung von der Narrativität von Geschlechterkategorien ordnet er Männlichkeit dynamische und Weiblichkeit statische Formen zu82 und stützt damit die Ansicht, dass Frauenrollen stärker durch Bilder geprägt wurden als Männerrollen. Entsprechend diesen Ausführungen zur Überschneidung von Gender und ›Visual Studies‹ kann auch die vorliegende Arbeit bei ihrer Behandlung von Bildern und dem Sehen nicht ohne Einbezug der Genderthematik auskommen. Sie wird den Fragen nachgehen, inwieweit sich die Blickweisen weiblicher und männlicher Figuren in Fontanes Romanen unterscheiden und ob seine Gestaltung eher der traditionellen Rollenverteilung entspricht oder ihrer von Kern in der Malerei des 19. Jahrhunderts festgestellten Umkehrung. Weiter wird von Interesse sein, inwiefern insbesondere weibliche Figuren Bilder zur Selbstkonstitution nutzen.

_____________ 76 77 78 79 80 81 82

Higonnet, Bilder, S. 283. Vgl. Fraisse und Perrot, Geschichte der Frauen, Bd. 4: 19. Jahrhundert. Vgl. Wolfgang Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000), Wien/Köln et al. 2003. Ebd., S. 199. Walter Erhart, Das zweite Geschlecht: ›Männlichkeit‹, interdisziplinär. Ein Forschungsbericht. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 30/2 (2005), S. 204f. Ebd., S. 207. Vgl. ebd., S. 217.

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2. Das Forschungsumfeld

2.2. Die Intermedialitätsforschung Die Tendenz der Geisteswissenschaften, sich visuellen Themen zuzuwenden, ist kaum trennbar von der ebenfalls etwa seit den 1990er Jahren aufkommenden Intermedialitätsforschung, die sich die Untersuchung der Wechselwirkung zwischen verschiedenen Medien zur Aufgabe macht, um Kunstwerke innerhalb ihres geistigen und kulturellen Umfeldes besser zu begreifen. Sie befasst sich mit der Erforschung jeglicher Medien, vom Buch über Theater, Musik, die unterschiedlichen Medien der bildenden Künste bis hin zum Film, um nur eine Auswahl zu nennen. Damit deckt sie einerseits ein weiteres Feld als die ›Visual Studies‹ ab, die sich hauptsächlich auf visuelle Medien und Phänomene konzentrieren und zwar bildliche Darstellungen in Textmedien einbeziehen, medienspezifische Erscheinungen jedoch nicht als Schwerpunktthema behandeln. Andererseits bleibt die Intermedialitätsforschung – je nach Definition des Forschungsfeldes, das bisher noch nicht allgemeingültig und eindeutig eingegrenzt ist83 – hinter den ›Visual Studies‹ zurück, was die Erfassung von durch Medien veränderter Wahrnehmung und deren Niederschlag in verschiedenen Medien betrifft: »Wenn man unter dem Stichwort Intermedialität allein die techn(olog)ischen Interferenzen untersuchen können soll, dann kommen die Veränderungen der Wahrnehmung und Sinnbildung durch sich durchdringende Medien darin nicht vor«.84 Eine gegenseitige Ergänzung beider Forschungsrichtungen erscheint jedoch wünschenswert, um medienspezifische Themen, Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Medien und medial bedingte Sehweisen im Zusammenhang zu untersuchen. Die Aufnahme entsprechender Untersuchungen von Wahrnehmungsund Sehweisen in die Intermedialitätsforschung erklärt dementsprechend auch Volker Roloff unter Bezug auf den Bildwissenschaftler Hans Belting zum Desiderat: Er benennt »die Zirkulation und den ständigen Wechsel zwischen innerer und äußerer Bildproduktion« als »wichtigen, aber erstaunlicherweise wenig beachteten Aspekt der Intermedialität, der bisher _____________ 83

84

»Trotz verschiedener, immer wieder formulierter (Forschungs-)Desiderate und trotz aller Versuche, ein in sich geschlossenes Theoriegebäude zu entwerfen, verfügt die Intermedialitätsforschung momentan noch nicht über ein kohärentes System, welches es ermöglichen würde, alle intermedialen Phänomene zu fassen« (Jürgen E. Müller, Intermedialität und Medienhistoriographie. In: Joachim Paech und Jens Schröter (Hrsg.), Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen, München 2008, S. 31). Vgl. a. Irina O. Rajewsky, Das Potential der Grenze. Überlegungen zu aktuellen Fragen der Intermedialitätsforschung. In: Dagmar von Hoff und Bernhard Spies (Hrsg.), Textprofile intermedial, München 2008, S. 20). Jörg Metelmann, Hybride Tranformationen. Anmerkungen zu Theorie und Praxis der Intermedialität. In: Werner Frick, Susanne Komfort-Hein et al. (Hrsg.), Aufklärungen. Zur Literaturgeschichte der Moderne, Tübingen 2003, S. 450.

2.2. Die Intermedialitätsforschung

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eher von den Künstlern selbst, aber kaum von den Medientheoretikern ins Spiel gebracht wird«.85 Desgleichen tritt Sandra Poppe für eine verstärkte Einbeziehung der von ihr »als Brücke zwischen den Medien«86 verstandenen Visualität in die Intermedialitätsforschung ein: Die Visualität ist ein zentrales Merkmal intermedialer Wechselspiele. Zu denken wäre hier an die produktive Rezeption der Malerei und Fotografie durch die Literatur, der Malerei durch den Film, der Literatur durch die Fotografie, der Fotografie durch den Film usf.87

In Übereinstimmung mit diesen Positionen bezieht die vorliegende Arbeit Sehweisen als Teil der Intermedialität ein, grenzt jedoch auf der anderen Seite intermediale Phänomene jenseits der visuellen Thematik aus, um das Forschungsfeld überschaubar zu halten. Um dessen Einbettung in den Gesamtkomplex der Intermedialitätsforschung zu verdeutlichen, wird im Folgenden deren historische Entwicklung in ihren Grundsträngen dargestellt, gefolgt von einem Abriss ihrer aktuellen Fragestellungen. Zunächst definierte man die Intermedialität in Anlehnung an die Intertextualität, die sich auf Beziehungen zwischen schriftlichen Texten – das heißt in ein und demselben Medium verwirklichten Werken – beschränkt. In Abgrenzung dazu sollte sich die Intermedialitätsforschung Wechselwirkungen zwischen Werken verschiedener Künste, also etwa Literatur, Musik und bildender Kunst, zuwenden. Später konzentrierte man sich verstärkt auf den Medienbegriff, definierte die Intermedialität »mit Hilfe medientheoretischer oder -philosophischer Überlegungen«88 und wandte die Aufmerksamkeit medienhistorischen Studien über die Entstehung neuer Medien wie der Photographie und dem Film zu.89 Die divergierenden Forschungsrichtungen »literatur- oder kunstwissenschaftlicher Provenienz« und die »i.w.S. medienwissenschaftlich verankerten« entwickelten sich im Weiteren recht unabhängig vonein-

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Volker Roloff, Intermedialität und Medienanthropologie. Anmerkungen zu aktuellen Problemen. In: Joachim Paech und Jens Schröter (Hrsg.), Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen, München 2008, S. 24. Sandra Poppe, Visualität in Literatur und Film. Eine medienkomparatistische Untersuchung moderner Erzähltexte und ihrer Verfilmungen, Göttingen 2007, S. 16. Ebd., S. 318. Irina O. Rajewsky, Intermedialität ›light‹? Intermediale Bezüge und die ›bloße Thematisierung‹ des Altermedialen. In: Lüdeke und Greber, Intermedium Literatur, S. 34. Für eine historisch ausgerichtete »Rekonstruktion der sozialen und historischen Funktionen intermedialer Prozesse« spricht sich gegenwärtig etwa Müller, Intermedialität und Medienhistoriographie, S. 45 aus.

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2. Das Forschungsumfeld

ander weiter bzw. auseinander,90 weshalb gegenwärtig wieder für eine Zusammenführung beider Interessengebiete plädiert wird.91 In der aktuellen Forschung zeichnen sich Tendenzen ab, entweder die ›Spuren‹ eines Mediums in einem anderen als Intermedialität zu behandeln oder sich »mit den Übergängen, Schnittstellen und Transformationen zwischen den Medien«92 zu befassen, wobei gefragt wird: »[W]ie ist dieses verbindende Zwischen/Dazwischen der Medien zu bestimmen?«.93 Zugleich wird die Definition und Eingrenzung des Medien- und des darauf aufbauenden Intermedialitätsbegriffs94 diskutiert. Dabei tritt insbesondere die Problematik der Abgrenzung von Einzelmedien in den Vordergrund, die – angesichts der seit den 1960er Jahren steigenden Tendenz zur Vermischung und Aufhebung der Grenzen zwischen den Medien und neuen Möglichkeiten durch die zunehmende Digitalisierung – erhöhte Dringlichkeit besitzt.95 Dies umso mehr, als sich letztlich die Forschung selbst in Frage stellt, wenn »die Abgrenzbarkeit von ›Einzelmedien‹, mithin die Möglichkeit medialer Grenzziehungen, sowie das Kriterium der Überschreitung von Mediengrenzen in dessen Qualität als Fundierungskategorie des Intermedialen hinterfragt«96 wird. Zur Lösung dieser Fragen vertreten Forscher wie Joachim Paech und Yvonne Spielmann in der Nachfolge Niklas Luhmanns eine recht abstrakte system- und »differenzlogische Betrachtung«.97 Mit zunehmender Tendenz zu rezipientenbezogenem Vorgehen und dem Einbezug medialer Wirkungsweisen98 hingegen – ein Forschungstrend, dem sich auch die vorliegende Arbeit in ihrer Berücksichtigung medial veränderter Wahrnehmungsweisen anschließt – _____________ 90 91 92 93 94 95 96 97 98

Müller, Intermedialität und Medienhistoriographie, S. 32, sieht die »Intermedialitätsforschung noch im Theorieschatten der Literaturwissenschaft«, wodurch die »Komplexität der wechselseitigen Beziehungen audiovisueller und digitaler Medien [...] außen vor [bleibt]«. Rajewsky, Irina O., Intermedialität und remediation. Überlegungen zu einigen Problemfeldern der jüngeren Intermedialitätsforschung. In: Paech und Schröter, Intermedialität analog/digital, S. 48. Poppe, Visualität in Literatur und Film, S. 23. Metelmann, Hybride Tranformationen, S. 439. Vgl. ebd. Vgl. Joachim Paech und Jens Schröter, Intermedialität analog/digital – Ein Vorwort. In: Dies., Intermedialität analog/digital, S. 11, Rajewsky, Intermedialität und remediation, S. 58ff. Rajewsky, Das Potential der Grenze, S. 22. Ebd., S. 441. Vgl. Scheffers Ansatz, für den »die Rezeption aller Medien, [...] also auch die Rezeption der sogenannten monomedialen Medien von vornherein multimedial bzw. intermedial« ist, da »das rezipierende Bewusstsein ›ganzheitlich‹ prozessiert« (Bernd Scheffer, Zur Intermedialität des Bewusstseins. In: Lüdeke und Greber, Intermedium Literatur. S. 103). Vgl. a. Gudrun MarciBoehncke, Intermedialität als perpektivierter Prozess – Von der Wiederentdeckung des Rezipienten in einem vorläufigen Diskurs. In: Bodo Lecke (Hrsg.), Mediengeschichte, Intermedialität und Literaturdidaktik, Frankfurt am Main/New York 2008, S. 79–94; Roloff, Intermedialität und Medienanthropologie.

2.2. Die Intermedialitätsforschung

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binden andere wie Jürgen E. Müller den Medienbegriff mit phänomenologischem Ansatz an den Rezipienteneindruck zurück.99 Auch Irina O. Rajewsky plädiert dafür, dass ein Medium nur »historisch, diskurs- und beobachterabhängig, unter Berücksichtigung technologischer Veränderungen, sich wandelnder konventioneller Zuschreibungen und in Abhängigkeit des zu einem spezifischen Zeitpunkt gegebenen medialen Relationsgefüges«100 definiert werden kann. Insofern betont sie mit ihrer Herausstellung, Intermedialität befasse sich mit »Relationen zwischen konventionell als distinkt wahrgenommenen Medien«101 ebenfalls die Verankerung des Medienbegriffs auf Seite des Rezipienten. Dies solle jedoch nicht als ausschließliches Kriterium verstanden werden, sondern sei um die »gegebenen, materiellen und operativen Bedingungen«102 zu ergänzen. Andere Forschungsrichtungen begegnen dem Problem der Definition von Medien bzw. Intermedialität, indem sie »mehr oder weniger unreflektiert als Synonym für die Beschreibung von intermedialen Prozessen«103 neue Begriffe und Konzepte wie die Hybridisierung104 vorschlagen – wie effektiv diese Versuche letztlich sind, können erst zukünftige Entwicklungen zeigen. Darüber hinaus weckt die Intermedialitätsforschung neuerdings auch das Interesse bisher weniger mit ihr in Verbindung gebrachter Disziplinen. So gibt es in der Interkulturalitätsforschung Ansätze, die »Zwischenräume« zwischen den Medien als »Experimentierfelder, die für neue kulturelle Codierungen offen bzw. sensibel sind«,105 aufzufassen, und die Linguistik macht den Begriff für sich fruchtbar, indem sie sich der Medialität von Sprache – etwa in der Differenz von Mündlich- und Schriftlichkeit – zuwendet.106 Schon dieser kurze Überblick zeigt, wie vielfältig und schwer durchschaubar sich das Untersuchungsfeld der Intermedialität gestaltet. Dementsprechend lässt sich kaum eine vollständige Übersicht erstellen, so dass sich die von Rajewsky vorgelegte, zurzeit wohl umfassendste Syste_____________ 99 100 101 102 103 104

105 106

Vgl. Metelmann, Hybride Tranformationen, S. 440, 442. »Was dem einen an Anschaulichkeit fehlt [...], ermangelt dem anderen an begrifflicher Schärfe und Abstraktionskapazität«, kommentiert Metelmann, Hybride Tranformationen, S. 445, dazu kritisch. Rajewsky, Das Potential der Grenze, S. 25. Ebd., S. 40. Ebd., S. 44. Müller, Intermedialität, S. 39–43. Nach Metelmann, Hybride Tranformationen, S. 451, etwa soll die Intermedialität durch die Hybridität abgelöst werden, die für ihn »Teil einer sich potentiell kritisch verhaltenden Gesellschaftstheorie« ist. Vgl. a. Spielmann, Intermedialität und Hybridisierung; Müller, Intermedialität, S. 37ff. Annette Simonis, Einleitung. Intermedialität und Kulturaustausch. In: Dies (Hrsg.), Intermedialität und Kulturaustausch. Beobachtungen im Spannungsfeld von Künsten und Medien, Bielefeld 2009, S. 12. Vgl. Deppermann und Linke, Sprache intermedial.

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2. Das Forschungsumfeld

matik trotz einiger Unschärfen und Mängel107 etabliert hat,108 da bisher keine überzeugenderen Lösungen vorgestellt wurden.109 Ihr sowie der von Rajewsky vorgeschlagenen Terminologie folgt auch die vorliegende Arbeit – jedoch unter Vorbehalten, die im Anschluss an die folgende Vorstellung ihrer Systematik dargelegt werden. Rajewsky grenzt die Intermedialität zunächst gegenüber der Intramedialität ab, die Phänomene umfasst, die nur ein Medium involvieren, wie beispielsweise die Intertextualität.110 Auf der anderen Seite trennt sie die _____________ 107 Einige Forscher und Rezensenten etwa kritisieren die Einschränkung auf Beziehungen zwischen Literatur und anderen Medien bzw. insbesondere dem Film (vgl. Torsten Hoffmann, Rezension zu Irina O. Rajewsky, Intermedialität, Tübingen/Basel 2002. In: Komparatistik (2002/2003), S. 184; Klaus Maiwald, Rezension zu Irina O. Rajewsky, Intermedialität, Tübingen/Basel 2002. In: Medien im Deutschunterricht (2003), S. 306) sowie die Fokussierung auf sehr spezifische Beispiele (vgl. Bodo Lecke, Einführung. In: Ders., Mediengeschichte, S. 53; Maiwald, Rezension zu Irina O. Rajewsky, S. 306). Darin ist ihnen zuzustimmen, denn viele Unterkategorien Rajewskys sind an so speziellen Fällen festgemacht, dass sich für eine Übertragung auf andere Medien kaum entsprechende Standardbeispiele finden lassen (vgl. a. Maiwald, Rezension zu Irina O. Rajewsky, S. 307). Weiter heißt es, Rajewskys Systematik enthielte terminologische Unklarheiten – der Begriff Systemkontamination irritiere – und sei teils »[v]erwirrend« (Hoffmann, Rezension zu Irina O. Rajewsky, S. 187) – so die Verwendung der Termini Translation und Transposition. Zudem sei die Berechtigung einiger Kategorien – etwa die Unterscheidung von Systemerwähnung und -kontamination – fraglich (vgl. ebd., S. 187). Auch in der vorliegenden Arbeit wird, in Übereinstimmung mit Hoffmanns Vorschag zur Vereinfachung des Systems (vgl. ebd., S. 188), kategorial nur zwischen Systemerwähnung und Transposition unterschieden. Die problematische Aufgliederung in Subtypen der Transposition (evozierend, simulierend, (teil-)reproduzierend) – die Hoffmann hingegen für bedeutsam hält – entfällt hier ebenfalls. Der Hauptkritikpunkt Maiwalds indessen ist, dass unklar bliebe, welche Bedeutung und Funktion Intermedialität in der Literatur habe: »Die Formen intermedialer Bezüge werden überzeugend geklärt; ihre Funktionen indes nicht, und so regt sich die Frage nach dem Warum des betriebenen Aufwands« (Maiwald, Rezension zu Irina O. Rajewsky, S. 307). Er merkt an, dies sei nur in einer konkreten Analyse möglich, die Rajewsky hätte vornehmen müssen (vgl. ebd.). Dagegen lässt sich einwenden, dass solch umfangreiche Einzelanalysen zu jedem einzelnen Unteraspekt in einer Arbeit, die sich in erster Linie als Systematik versteht – das heißt als Ausgangspunkt für solche Untersuchungen –, nicht zu leisten ist. 108 Marci-Boehncke, Intermedialität als perpektivierter Prozess, S. 82 erklärt, Rajewskys Monographie könne »im Moment wohl als Standardwerk« gelten; für Roloff, Intermedialität und Medienanthropologie, S. 15 bildet sie den »Höhepunkt« und »zugleich den Abschluss jener Phase der Unsicherheiten«, die den Terminus »Intermedialität bislang begleitet hat«. 109 Während Rajewsky eine generelle und umfassende Systematik entwickelt, liegen den meisten anderen intermedial ausgerichteten Arbeiten – wenn überhaupt – auf die jeweiligen Erkenntnisinteressen konzentrierte und daher eingeschränkte Definitionen zugrunde (vgl. Rajewsky, Das Potential der Grenze, S. 22). 110 Diese Einschränkung auf einen engen Intertextualitäts- bzw. Textbegriff, der allein Phänomene innerhalb eines Mediums bzw. nur verbalsprachlich fixierte Texte umfasst, kritisiert Marci-Boehncke. Stattdessen plädiert sie in Anlehnung an Julia Kristeva für einen »erweiterten, semiotischen Textbegriff«, der »alle symbolisch verfassten Produkte des Menschen, in denen Bedeutung auf zeichenhafte, symbolische oder ikonische Weise präsentiert werden«, umfasst (Marci-Boehncke, Intermedialität als perpektivierter Prozess, S. 84). Da

2.2. Die Intermedialitätsforschung

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Intermedialität von der Transmedialität, die medienübergreifende und -unspezifische Tendenzen beinhaltet, die »mit den dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können, ohne daß hierbei die Annahme eines kontaktgebenden Ursprungsmediums wichtig oder möglich ist«.111 Solche »medienunspezifische[n] ›Wanderphänomene‹ «112 zeigten sich etwa in Epochen, in denen bestimmte Themen in mehreren Kunstformen behandelt werden, oder im Auftreten gleicher Stoffe, Ästhetiken oder Diskurstypen in verschiedenen Medien.113 _____________ in diesem Verständnis der Begriff der Intertextualität zur »Konkurrenz für Intermedialität« (ebd.) und eine Abgrenzung nötig wird, definiert Marci-Boehncke dann die Intermedialität als durch den Rezipienten konstituiert, da erst durch íhn die Distinktheit eines Mediums wahrgenommen werden kann (vgl. ebd., S. 88). Zudem setzte die Intermedialität sich auch mit der Medialität der Medien auseinander, während die Intertextualität sich stärker auf inhaltliche Bezüge zu anderen Texten konzentriere (vgl. ebd., S. 89). 111 Irina O. Rajewsky, Intermedialität, Tübingen/Basel 2002, S. 13. 112 Ebd., S. 12. 113 Beispiele hierfür wären Mythen oder die Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert (vgl. Werner Wolf, Intermedialität. Ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft. In: Herbert Foltinek und Christoph Leitgeb, Literaturwissenschaft: intermedial – interdisziplinär, Wien 2002, S. 170). – Bisher wird der Terminus Transmedialität uneinheitlich verwendet, auch wenn sich Rajewskys Definition wohl am ehesten etablieren konnte (vgl. Jan-Arne Sohns, Literarische Geschichts-Bilder. Thesen zur Transmedialität im 19. Jahrhundert. In: Urs Meyer, Roberto Simanowski et al. (Hrsg.), Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren, Göttingen 2006, S. 234). In verkürzter Rezeption Rajewskys erklärt etwa Marci-Boehncke, Intermedialität als perpektivierter Prozess, S. 83 allein inhaltliche »Themen, die in unterschiedlichen Medien aufgegriffen werden« zu transmedialen Phänomenen, womit sie ähnliche Ästhetiken oder Kunstkonzeptionen vernachlässigt. Bei Herlinghaus bezeichnet der Begriff Literaturverfilmungen, die bei Rajewsky zum Medienwechsel zählen (vgl. Rajewsky, Das Potential der Grenze, S. 21). Wenz dagegen nutzt ihn für »die implizite Anwesenheit des Ausgangsmediums im Zielmedium« (Urs Meyer, Roberto Simanowski et al., Vorwort. In: Dies., Transmedialität. S. 9), was einer Art Verbindung der intermedialen Bezüge und der Medienkombination Rajewskys entspräche. Meyer, Simanowski et al., Transmedialität dagegen ist bestrebt, den Terminus »präziser zu beschreiben und zu umreißen« (S. 9) und versteht ihn als Ersatz für den zu mehrdeutigen Intermedialitätsbegriff sowie als Verschiebung der Perspektive auf den Prozess der »Grenzüberschreitung« statt dem der »Grenzbeziehung« (ebd., S. 8). Dort bezeichnet er »die gleichzeitige Anwesenheit der beteiligten Medien und steht somit im Grunde der intermedialen Kopplung nahe. Während dort der Akzent jedoch auf dem Ergebnis als vollzogener Verbindung beider Partner liegt, betont der Begriff der Transmedialität den Transfer. Gegenstand sind die beteiligten Medien im Prozess des Übergangs. Dieser Prozess wird z. B. im Moment der Rezeption wirksam« (ebd., S. 10). Diese Auffassung ließe sich bei Rajewsky eher als Medienkombination einordnen, wobei der zurzeit gängige Trend zur Betonung des Rezeptionsvorgangs zwar einen neuen Schwerpunkt setzt, es sich jedoch letzendlich um dasselbe Phänomen handelt. Die vorliegende Arbeit bezieht sich daher entgegen neuerer abweichender Definitionsversuche auf den Terminus im Sinne Rajewskys, da dieser am klarsten definiert und am ehesten in ein umfassendes System integrierbar scheint, trotz der ihm inhärenten Problematik – Sohns, Literarische Geschichts-Bilder, S. 234 stellt fest: »Rajewskys Setzung kann freilich nicht vollständig überzeugen. So ist etwa zweifelhaft, ob es ›medienunabhängige‹ Inhalte über-

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2. Das Forschungsumfeld

Ob eine solche Abgrenzung zwischen Inter- und Transmedialität immer klar vorzunehmen ist, erscheint jedoch fraglich, wenn der ausschlaggebende Unterschied nach Rajewsky darin liegen soll, dass bei der Transmedialität bestimmte Phänomene mehr oder weniger gleichzeitig in verschiedenen Medien auftreten und in allen verwirklicht werden können, ohne daß sich ein Ursprungsmedium festlegen ließe. Dagegen wird für die Intermedialität die eindeutige Bezugnahme eines Mediums auf ein anderes angenommen, sowie medienspezifische Elemente, die sich nicht als solche, sondern nur durch Übertragungen in ein anderes Zeichensystem in anderen Medien umsetzen lassen. Diese Annahme, dass bestimmte Phänomene ausschließlich für ein Medium spezifisch seien und erst, nachdem sie in diesem erkannt wurden, auf andere übertragen wurden, wird in einigen Arbeiten kritisch hinterfragt. So stellt etwa Stephan Oettermann fest, dass der panoramatische Blick nicht einseitig vom vermeintlichen Ursprungsmedium des Panoramas ausging, sondern schon vorher vorhanden war,114 was sich literarisch in Reiseberichten niedergeschlagen hat. Später beeinflussten sich beide Medien gegenseitig.115 Auch filmanaloge Schreibweisen finden sich in literarischen Texten vor der Entstehung des Films als »vorausgreifende literarische Inszenierung von Wahrnehmungs- und Darstellungsformen, die später von der technischen Apparatur des Kamera-Films weiter revolutioniert sind«.116 Ebenso gab es laut Volker Mergenthaler in der Literatur schon vor Entdeckung der Photographie photographieanaloge Schreibweisen oder die Beschreibung photographieähnlicher Bilder, die den Wunsch nach einem neuen Bildmedium ausdrückten. Er bezeichnet diese als » ›prospektive Reflexe‹ auf das Modell der Photographie«.117 Ähnlich stellt Michael Neumann fest: Die Theoriegeschichte der Photographie zeigt sich in hohem Maße abhängig von den entsprechenden literarischen Positionen; sie entwickelt sukzessive als Theorie des Mediums, was in der Literatur bereits ausformuliert worden ist. Es scheint also keineswegs übertrieben, im Fall der photographischen Theorien von einer Nachgeschichte zu sprechen, die in der Literatur das Reservoir ihrer medientheoretisch zugespitzten Pointen besitzt.118

Ein Medium entsteht demzufolge nicht allein durch technischen Fortschritt und die theoretische Möglichkeit seiner Entstehung, notwendig ist zudem das Bedürfnis nach einem solchen Medium. Daher ist grundsätz_____________ 114 115 116 117 118

haupt geben kann, also Signifikate unabhängig vom Signifikanten«; siehe zu einem anderen Einwand die weitere Argumentation des vorliegenden Kapitels. Vgl. Stephan Oettermann, Das Panorama – Ein Massenmedium. In: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Sehsucht, S. 79f. Vgl. Jost, Das poetische Auge, S. 73. Segeberg, Rahmen und Schnitt, S. 291f. Mergenthaler, Sehen schreiben, S. 167. Michael Neumann, Eine Literaturgeschichte der Photographie, Dresden 2006, S. 11.

2.2. Die Intermedialitätsforschung

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lich davon auszugehen, dass in anderen Medien als dem, für das bestimmte Phänomene als spezifisch angesehen werden, solche bereits vorher als Ausdruck des Bedarfs daran vorhanden sind. Ein Medium wäre demnach nicht der Ausgangspunkt, um seine speziellen Merkmale zu bestimmen, sondern könnte umgekehrt als Endpunkt einer Entwicklung betrachtet werden, in deren Verlauf zeitgenössische Bedürfnisse dazu führen, dass bestimmte Elemente in verschiedenen Medien zusammen auftreten. Diese werden schließlich in einem neuen Medium gemeinsam verwirklicht, das dann als die ›reinste‹ Form des Zusammenwirkens dieser Merkmale gelten kann. Daher ist es in Bezug auf solche Elemente nur bedingt gerechtfertig, von medienspezifischen Phänomenen zu sprechen, und zwar lediglich insofern, als sie in diesem Medium am klarsten hervortreten, jedoch nicht in dem Sinne, dass sie bei anderen Medien nicht auch – gemäß deren Möglichkeiten – vorkommen könnten. Spielmanns Schema zu den Phasen der Wechselwirkungen zwischen einem neu entstehenden und bereits vorhandenen Medien ist diesen Ausführungen entsprechend zu ergänzen. Im Vorfeld der von ihr aufgeführten Phasen kommen bereits Diskurse auf, in denen das Desiderat eines neuen Mediums, das bestimmten Ansprüchen genügen soll, geäußert wird, so dass sich hier von einer vorangestellten ›Phase Null‹ sprechen ließe. Erst dann setzt folgende Entwicklung »von Konkurrenz zu Akzeptanz«119 ein: 1. die ›technologische Geburt‹ als Integration in den Kontext des vorhandenen Mediensystems, 2. der Schritt zur ›kultursemiotischen Geburt‹ durch die Setzung einer Differenz, welche die Spezifik und Sprachen des neuen Mediums etabliert und schließlich die Kommunikations- und Repräsentationsfunktion des neuen Mediums etabliert und 3. die Konstitution eines neuen Paradigmas, was institutionelle Anerkennung, wirtschaftlichen Erfolg und Produktion anbelangt und die Durchsetzung einer dem neuen Medium gemäßen Ökonomie und Produktion bedeutet.120

Auch nachdem sich ein Medium konstituiert hat, besteht weiterhin »ein Spielfeld wechselseitiger Aneignungen«:121 »Alle ›Medien‹ konstruieren sich wechselseitig, nicht allein durch implizite Absetzung gegeneinander, sondern oft genug auch durch explizite Thematisierung«.122 Speziell für das in der vorliegenden Arbeit zu behandelnde Thema der Bezüge zwischen Texten und Bildern formuliert Monika Schmitz-Emans die These,

_____________ 119 120 121 122

Spielmann, Intermedialität und Hybridisierung, S. 82. Ebd. Mergenthaler, Sehen schreiben, S. 171. Monika Schmitz-Emans, Die Intertextualität der Bilder als Gegenstand der Literaturwissenschaft. In: Foltinek und Leitgeb, Literaturwissenschaft. Intermedial – interdisziplinär, S. 195.

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2. Das Forschungsumfeld

dass sich die Kunst der Texte und die der Bilder nicht trennscharf als differente Medien auffassen lassen, sondern einander wechselseitig ›erfinden‹, und zwar in einem Prozess mehrschrittiger intermedialer Interpretation.123

Daher ist es problematisch, eindeutige Einflussrichtungen festlegen zu wollen, wie auch Rajewsky selbst einräumt.124 Stattdessen ist bei einigen Phänomenen, die für Rajewsky unter Intermedialität fallen – etwa photographiealogen Schreib- und Sehweisen, wie sie in den Texten Fontanes nachgewiesen werden sollen –, möglicherweise eher von zeitgenössischen Strömungen auszugehen, die sich in verschiedenen Medien niederschlagen. Dementsprechend betrachtet auch Volker Mergenthaler Photographie und Literatur »als medienspezifische Ausprägungen und Transformationen (wahrnehmungs-)ideologischer Entwicklungen, an denen beide, Literatur und Photographie, teilhaben«.125 Nach Rajewskys Intermedialitätsdefinition würden solche übergreifenden Phänomene als transmedial aus dem Bereich der Intermedialität herausfallen. Um dies zu vermeiden, wird in der vorliegenden Arbeit dafür plädiert, ergänzend zum engen Intermedialitätsbegriff auch transmediale Phänomene in den Untersuchungsbereich aufzunehmen, wie es auch in Werner Wolfs Klassifizierung bereits der Fall ist.126 Insbesondere spezielle Formen der visuellen Wahrnehmung, die sich in Fontanes Texten ebenso wie bei der Betrachtung bestimmter zeitgenössischer Bildmedien finden, werden als solche von Interesse sein. Zudem soll herausgearbeitet werden, wie Fontanes Wanderungen, die wie die zeitgenössische Malerei die Wahrnehmungsfähigkeit des Rezipienten verändern wollen, dieses Ziel umzusetzen versuchen und welche Möglichkeiten dem Text im Unterschied zum Bild zur Verfügung stehen. Weiter soll eine Methode erarbeitet werden, um ›das Malerische‹ und ›das Photographische‹ zu definieren. Da eine solche Bestimmung ›des _____________ 123 Ebd., S. 221f. 124 Vgl. Rajewsky, Intermedialität, S. 37. In Bezug auf einen möglichen Einfluss des Films auf die Literatur schreibt Rajewsky, es sei kaum entscheidbar, ob dieser oder generelle gesellschaftliche Veränderungen Auswirklungen auf die Literatur hatten, also ob eine »Wechselwirkung« oder »Parallelentwicklung« vorliege (vgl. ebd., S. 37). 125 Mergenthaler, Sehen schreiben, S. 196. 126 Für Wolf bildet die Transmedialität die erste Subkategorie der »extracompositional« (Werner Wolf, Intermediality. In: David Herman, Manfred Jahn et al. (Hrsg.), Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, London/New York 2005, S. 253) Intermedialität, als deren zweite er die »intermedial transposition« (ebd., S. 254) nennt, die dem Medienwechsel bei Rajewsky entspricht. Seine zweite Großkategorie stellt die »intracompositional intermediality« (ebd., S. 254) dar, mit den beiden Unterkategorien » ›multimediality‹ or ›plurimediality‹ « (ebd., S. 254) und »intermedial reference« (ebd., S. 254), die der Rajewskyschen Medienkombination und ihren intermedialen Bezügen entsprechen. Somit stimmen Wolfs und Rajewskys Systematiken in ihren Großkategorien überein, nur dass Wolf die von Rajewsky ausgegliederte Transmedialität als gleichberechtigten Teil der Intermedialität neben den drei anderen Formen auffasst – eine Position, der sich die vorliegende Arbeit anschließt.

2.2. Die Intermedialitätsforschung

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Medienspezifischen‹ »immer nur historisch, diskurs- und beobachterabhängig und unter Berücksichtigung sich wandelnder konventioneller Zuschreibungen«127 möglich ist, wird sie ausschließlich für das Werk Fontanes angestrebt. Das Gebiet der Intermedialität im engeren Sinn unterteilt Rajewsky – ohne Anspruch auf Vollständigkeit und unter Hinweis darauf, dass ein Werk auch mehreren Kategorien angehören kann128 – folgendermaßen: Sie nennt 1. die ›Medienkombination‹, bei der mindestens zwei Medien in einem Produkt kombiniert werden (z. B. in einem mit Zeichnungen oder Photographien illustrierten Text) und 2. den ›Medienwechsel‹, bei dem die Transformation eines Produkts aus einem Medium in ein anderes vorgenommen wird (z. B. bei der Literaturverfilmung). Es folgen 3. die ›intermedialen Bezüge‹, bei denen auf ein Produkt (Einzelreferenz) oder das semiotische System eines anderen Mediums (Systemreferenz) Bezug genommen wird (z. B. wenn in einem Text bestimmte filmische Verfahren simuliert werden oder wenn in Fontanes Romanen Gemälde als Objekte und Gesprächsgegenstände vorkommen),129 so dass sich ein Medium explizit in Relation zu einem anderen konstituiert. Diese intermedialen Bezüge unterteilen sich zum einen in 3.1., die »Systemerwähnung qua Transposition«,130 die als ›evozierende, simulierende oder (teil)reproduzierende Systemerwähnung‹ auftreten kann und bei der mit den Mitteln des eigenen Mediums fremdmediale Eigenheiten nachempfunden werden und eine Illusionsbildung dieser Phänomene im eigenen Medium angestrebt wird.131 Dabei kann sie vom Pol der punktuellen ›Systemerwähnung‹ bis hin zur das ganze Werk durchziehenden ›Systemkontamination‹ reichen.132 Zum anderen zählt zu den intermedialen Bezügen 3.2., die explizite Systemreferenz, bei der das andere Medium thematisiert wird, jedoch ohne seine Eigenheiten nachahmen zu wollen. Diese kann sich »in Form eines ›Redens über‹ oder eines ›Reflektierens‹ des Bezugssystems«133 zeigen. Systemerwähnung und -referenz können gemeinsam auftreten, »sprechen ließe sich dann von einer evozierenden Systemerwähnung, der _____________ 127 128 129 130 131

Rajewsky, Intermedialität ›light‹?, S. 71. Vgl. ebd., S. 39. Vgl. Rajewsky, Intermedialität, S. 157. Ebd., S. 113. Im Falle der (teil)reproduzierenden Systemerwähnung entfällt der » ›Als ob‹-Charakter« (Rajewsky, Intermedialität, S. 39) der Illusionsbildung des Fremdmedialen: Medienunspezifische oder – sofern sich auf ein plurimediales Werk bezogen wird – in beiden Medien vorkommende Elemente oder Strukturen werden tatsächlich als solche reproduziert (vgl. ebd., S. 103ff). 132 Vgl. Rajewsky, Intermedialität ›light‹?, S. 45. 133 Ebd., S. 46.

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2. Das Forschungsumfeld

eine explizite Systemerwähnung und damit [...] eine Markierung inhärent ist«.134 Bei den drei Überkategorien 1. Medienkombination, 2. Medienwechsel und 3. intermediale Bezüge liegen insofern qualitativ unterschiedliche Intermedialitätsbegriffe zugrunde, als beim Medienwechsel »ein produktionsästhetischer, ›genetischer‹ Intermedialitätsbegriff« angesetzt werden muss, bzw. mit Wolf »extracompositional intermediality«.135 Dagegen sind in den anderen beiden Fällen nicht allein im Entstehungsprozess, sondern in der Erscheinung oder Bedeutung des Endprodukts selbst mehrere Medien involviert, so dass »intracompositional intermediality«136 vorliegt. Weiter differenziert Rajewsky nach direkter (in 1., der Medienkombination) und indirekter (in 3., den intermedialen Bezügen) Partizipation mehrerer Medien.137 Da die 3.2., die explizite Systemreferenz, häufig als banal abgetan wird, soll kurz ihre spezielle Funktion als Markierung des fremdmedialen Be_____________

134 135 136 137

Ebd., S. 47. Rajewsky, Das Potential der Grenze, S. 27, vgl. Wolf, Intermediality, S. 253f. Ebd., S. 28, vgl. Wolf, Intermediality, S. 254. Vgl. Rajewsky, Das Potential der Grenze, S. 28f. Eine weniger detaillierte Auflistung, die in ihren Grundzügen und vor allem der Erstellung einer unterschiedlichen Rangordnung der verschiedenen Typen der Intermedialität Rajewskys Systematik ähnelt, stellt Uwe Wirth, Hypertextuelle Aufpropfung als Übergangsform zwischen Intermedialität und Transmedialität. In: Urs Meyer, Roberto Simanowski et al. (Hrsg.), Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren, Göttingen 2006, S. 31, vor: Für ihn stehen auf der »Nullstufe der Intermedialität« die »Thematisierungen eines Mediums in einem anderen« (ebd., S. 32) – also in Rajewskys Terminologie explizite Systemerwähnungen –, deren Funktion, als »Indices für implizite Inzenierungen von Intermedialität« (ebd.) zu dienen, er ebenfalls hervorhebt. Die »erste Stufe« ist dann »die mediale Modulation«, die Rajewskys Medienwechsel entspricht. »Stufe zwei betrifft die Kopplung verschieden konfigurierter Zeichensysteme«, die »durch eine integrierende konzeptionelle und mediale Re-Konfiguration ausgezeichnet ist« (ebd.) – bei Rawesky wäre dies eine Medienkombination, die schon stark in Richtung der Mediemischung tendiert. Es folgt als dritte Stufe »die konzeptionelle Aufpropfung« (ebd., S. 32), die »das Konzept der medialen Konfiguration eines Zeichenverbundsystems auf ein anderes [überträgt]« (ebd.) und mit Rajewskys Systemerwähnung durch Transposition übereinstimmt. Anschließend unterscheidet Wirth zwischen Intermedialität im engen Sinne oder der »harten Intermedialität« (ebd., S. 33) – sie umfasst Stufe zwei mit ihren »medialen Hybridisierungen« (ebd.) – und im weiten Sinne oder der »weichen Intermedialität« (ebd.) der Stufen eins und drei. Im Vergleich mit Rajewsky – deren Terminologie der Verständlichkeit halber im Folgenden verwendet wird – zeigen sich deutliche Wertungsunterschiede: Während Wirth die explizite Systemerwähnung auf der Nullstufe, am Randgebiet der Intermedialität verortet und intermediale Bezüge zwar zur Intermedialität zählt, aber nur zur »weichen«, liegen beide Phänomene bei Rajewsky als intracompositional intermediality im Kernbereich und werden auch in der vorliegenden Arbeit verstärkt analysiert. Doch es bestehen auch deutliche und bezeichnende Übereinstimmungen zwischen Wirths und Rajwskys Konzepten: In beiden wird der – auch in der vorliegenden Arbeit ausgeklammerte – Medienwechsel als eher periphär klassifiziert, die Medienkombination dagegen als zentral. Dass letztere dennoch in der vorliegenden Arbeit weniger Aufmerksamkeit erfährt, ist dadurch bedingt, dass Fontane selbst kaum Medienkombinationen vorgenommen hat.

2.2. Die Intermedialitätsforschung

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zugssystems eines Textes erläutert werden, die eine Verbindung zwischen den beiden Typen der intermedialen Bezüge herstellt: Grundlage dafür, dass die Illusionsbildung intermedialer Verfahren wie der Systemerwähnung durch Transposition gelingt, ist, dass die Ähnlichkeitsbezüge zwischen den Medien wahrgenommen werden. Dafür ist zum einen eine adäquate Gestaltung der medienspezifischen Verfahren des Mediums, auf das Bezug genommen wird, nötig, zum anderen eine solche Markierung des Verfahrens, damit der Rezipient es als Bezugnahme auf ein bestimmtes System erkennen kann.138 Eine weitere Einsatzmöglichkeit der expliziten Systemreferenz besteht auf der Handlungsebene im Verweis darauf, dass die dargestellte Welt oder Einzelfiguren stark vom genannten Medium geprägt sind. Zudem dient sie grundsätzlich in ihrer Thematisierung eines anderen Mediums auch derjenigen des eigenen Mediums, »denn mit dem Verweis auf ein Medium referiert ein literarisches Werk nicht auf die ›prämediale Welt‹, sondern auf einen Bereich, dem es selbst angehört«.139, 140 »Von der Selbstreferenz ist es nur ein kleiner Schritt zur Selbst- oder Metareflexivität«.141 Speziell ist die »Bildbeschreibung immer auch poetologische Reflexion«,142 da die generelle Unzulänglichkeit der Sprache an ihr besonders deutlich wird. Wenn an Bildern im Text die Pole ›mimetisch‹ oder ›abstrakt‹ sowie ›realistisch‹ oder ›allegorisch‹ thematisiert werden, dient das immer auch der Suche nach dem eigenen poetologischen Standort, der Schriftsteller führt seine eigene ›Realismusdebatte‹.143

Eine weitere Funktion insbesondere der in der vorliegenden Arbeit zu analysierenden expliziten Systemreferenz auf ein Werk der bildenden Kunst liegt darin, dem Rezipienten durch das Dechiffrieren der Anspielungen auf Kunstwerke seine Kulturkenntnisse zu bestätigen und ihm Vergnügen zu bereiten.144 Auf der Produktionsseite des Textes demonstriert auch der Autor seine kulturelle Bildung sowie seinen Geschmack.145 _____________ 138 Vgl. Rajewsky, Das Potential der Grenze, S. 56. 139 Wolf, Intermedialität, S. 183. 140 Fontane verweist in seinen Romanen mindestens ebenso häufig auf Gemälde und Dramen wie auf Literatur und stellt sogar wesentlich häufiger Maler- und Schauspielerfiguren dar als Schriftsteller, so dass verstärkt davon auszugehen ist, dass ihm diese Verweise auf andere Kunstformen bzw. ihre Vertreter zur Thematisierung genereller kunsttheoretischer Fragen dienen. 141 Wolf, Intermedialität, S. 183. 142 Reulecke, Geschriebene Bilder, S. 14. 143 Ebd. 144 Vgl. Wolf, Intermedialität, S. 183. 145 Vgl. Alison Byerly, Realism, Representation, and the Arts in Nineteenth-Century Literature, Cambridge 1997, S. 3.

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2. Das Forschungsumfeld

Referenzen auf Gemälde können weiter der Hervorhebung einer bestimmten Textstelle, der Charakterisierung von Figuren und Situationen,146 »der Nobilitierung eines literarischen Gegenstandes« oder »als Vorstellungshilfen«147 dienen. Wie diese verschiedenartigen Möglichkeiten der expliziten Systemreferenzen auf Photographien und verschiedene Gemäldearten in Fontanes Texten genutzt werden, wird im analytischen Teil der vorliegenden Arbeit dargestellt. Zu beachten sind dabei zeitgenössische Diskurse, denn [d]a die Bilder in Abhängigkeit von der jeweiligen medienhistorischen Situation und in Abhängigkeit ihres materiell-technischen Substrats fortwährend ihren Status verändern, gibt es auch nicht das Wort-Bild-Verhältnis in der Literatur. Je nach medialer Situation hat die sprachliche Erfassung von Kunstwerken eine andere Funktion.148

In der Forschung wurden mittlerweile einige Klassifikationen zum Verhältnis zwischen Texten und Bildern – insbesondere solchen der bildenden Kunst – entwickelt, die zumeist auf bestimmte Zeiträume oder auf eine spezielle Textauswahl begrenzt sind.149 Damit liegt ebenso wenig wie bei Systematisierungsversuchen des Gesamtbereichs der Intermedialität eine eindeutige und allgemein akzeptierte Typologie vor, da eine solche aufgrund der sich ständig wandelnden Beziehungen zwischen Bildern und Texten nicht möglich ist. Mit Rückgriff auf die von Ulrich Weisstein vorgelegte Systematik,150 die am ehesten universal gehalten ist, soll im _____________ 146 147 148 149

Vgl. ebd. Wolf, Intermedialität, S. 183. Reulecke, Geschriebene Bilder, S. 31. Vgl. Gottfried Willems, Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils, Tübingen 1989; Manfred Pfister, The Dialogue of Text and Image. Antoni Tàpies and Anselm Kiefer. In: Klaus Dirscherl (Hrsg.), Bild und Text im Dialog, Passau 1993, S. 321–344; Thomas Eicher, Was heißt (hier) Intermedialität? In: Ders. (Hrsg.), Intermedialität. Vom Bild zum Text, Bielefeld 1994, S. 11–28. 150 Vgl. Weisstein, Einleitung, S. 20–27. Weisstein schlägt folgende 15 Kategorien vor als »Typologie derjenigen Phänomene [...], in denen das Wechselverhältnis von Literatur und Bildender Kunst realiter zum Tragen kommt, ohne daß hierbei ein Anspruch auf Vollständigkeit gemacht werden könnte« (ebd., S. 20): »1) Literarische Werke [...], die ein wirklich vorhandenes oder frei erfundenes Kunstwerk beschreiben und deuten«, »2) Literarische Werke [...], welche die Sachen oder Begriffe, auf die sie sich beziehen, unmittelbar nachahmen bzw. nachvollziehen [...] und sich somit selbst als Bild konstituieren«, »3) Literarische Werke, die graphisch bzw. [...] kalligraphisch ausgerichtet sind«, »4) Literarische Werke, die an den optischen oder haptischen Sinn des Lesers apellieren, und zwar durch die Verwendung von ›Bildern‹, Metaphern, Gleichnissen, Symbolen oder Allegorien«, »5) Literarische Werke, bei deren Gestaltung bildkünstlerische Verfahrensweisen zur Anwendung gelangen« (als Beispiele werden Collage, Montage und die Nachahmung von Kameratechniken genannt), »6) Synoptische oder symbiotische Gattungen wie das Emblem«, »7) Die Buch-Illustration«, 8) Bilder, »die auf literarische, religiöse oder mythologische Vorlagen« zurückgehen, »9) Literarische Werke, die fiktive oder historisch belegte Maler, Bildhauer, Architekten und deren Werke zum Gegenstand haben oder kunstgeschichtliche

2.2. Die Intermedialitätsforschung

39

Folgenden speziell für die bei Fontane vorliegenden Text-Bild-Beziehungen das Modell Rajewskys modifiziert und illustriert werden. Von Interesse werden innerhalb dieser literaturwissenschaftlich ausgerichteten Arbeit in erster Linie vom Text ausgehende Beziehungen zu Bildern sein, nicht umgekehrt, wobei die Schwierigkeit einer Festlegung von Einflussrichtungen bereits diskutiert wurde. Aufgrund dessen werden mit der Transmedialität – und damit auch der Visualität – Relationen aufgenommen, bei denen die Einflussrichtung als unklar oder beidseitig gelten kann. Es handelt sich um folgende Eigenschaften der Texte: 1. 1.1.

Transmedialität: medienübergreifende bzw. unspezifische Phänomene ohne eindeutig festlegbares Ursprungsmedium mit Bildern gemeinsames künstlerisches Programm eines Textes (z. B. die Wahrnehmungsschulung) oder gemeinsame Stoffe (z. B. die motivische Überschneidung (Frauenbilder) und Ähnlichkeit in der Art und Weise und Verwendung der Symbolik in Effi Briest und der Malerei der Präraffaeliten151, 152 oder (genderspezifisches) Sehen und Wahrnehmung als übergreifende Themen)

_____________ Probleme thematisieren«, »10) Literarische Werke, die Motive, Themen oder Figuren darstellen, die auch in der Bildenden Kunst behandelt werden, ohne daß Kontakt-Relationen [...] eine Rolle spielen«, »11) Literarische Werke, in denen versucht wird, verbale Entsprechungen zu bildkünstlerischen Bewegungen oder Strömungen zu erarbeiten«, »12) Literarische Werke, die mit gleichzeitig entstandenen oder konzipierten Werken der Bildenden Kunst durch Programme oder Manifeste verbunden sind«, 13) »›interart periodization‹«, 14) die »Doppelbegabung« und 15) die »Synästhesie [...], die man als psychologisches Korrelat zur Symbiose der Künste [...] ansehen könnte« (ebd., S. 20–26). Während Punkt 1) bis 8) einfach nebeneinander gereiht werden, sind 9) und 10) dem »stoffgeschichtlichen (thematologischen) Bereich« zugeordnet, 11) bis 13) dem »historischen Sektor« und 14) und 15) dem »psychologischen Bereich« (ebd., S. 20–26). Da Rajewsky die einzelnen Aspekte klarer voneinander abgegrenzt und systematischer in ihren Zusammenhängen darstellt, werden in der vorliegenden Arbeit nur für die Thematik relevante Einzelaspekte von Weisstein herangezogen und in die Systematik Rajewskys eingeordnet. 151 Vgl. Peter-Klaus Schuster, Theodor Fontane. Effi Briest – Ein Leben nach christlichen Bildern, Tübingen 1978. 152 Diese Einordnung der Anwendung des für die Präraffaeliten typischen Verfahrens des ›disguised symbolism‹ in der Literatur Fontanes als transmedial begründet sich dadurch, dass zwar möglicherweise die Malerei als Ursprungsmedium angenommen werden kann – was jedoch nicht zwingend nachweisbar ist (vgl. Françoise Forster-Hahn, ›Die Ehe als Beruf‹ oder der Fall von der Schaukel. Über die Moral in präraffaelitischen Bildgeschichten und in Fontanes ›Effi Briest‹. In: Keisch, Schuster et al. (Hrsg.), Fontane und die Bildende Kunst, S. 316) –, das Verfahren in der Literatur aber tatsächlich als solches angewandt werden kann und nicht imitiert werden muss. Der Eindruck des Fremdmedialen bleibt aus, die Rezeption des Verfahrens ruft beim Leser nicht den Eindruck hervor, hier werde eine Methode der Malerei nur nachgeahmt (wie bei 3.1., der Systemerwähnung durch Transposition), sondern die Literatur kann, ebenso wie die Malerei nebensächliche und alltäglich scheinende Objekte abbil-

40

1.2.

2. 2.1. 2.2.

2.3.

3. 3.1.

2. Das Forschungsumfeld

Darstellung oder Verwendung visueller Wahrnehmungsweisen und Blickarten, die auch bei der Produktion oder Rezeption bestimmter Bildarten genutzt und mit ähnlichen Assoziationen wie die entsprechenden Bildarten aufgeladen werden, in der Literatur (z. B. photographieanaloges Sehen – im terminologischen Unterschied zum photographischen Sehen, das den tatsächlichen Blick des Photographen durch die Kamera bzw. eines Betrachters auf eine Photographie bezeichnet)153 Medienkombination (graduell bis zur Medienvermischung steigerbar154): beide Medien, Text und Bild, sind materiell präsent Illustration von Text durch Bilder (z. B. in Ausgaben der Wanderungen) oder Text als Erläuterung für ein Bild (z. B. Bildtitel oder -erläuterungen, wie sie häufig in den Wanderungen zitiert werden) Text als Teil der bildlichen Fiktion und des Bildraumes (z. B. wenn in einem Stillleben der Titel eines gemalten Buches lesbar ist) oder umgekehrt ein Bild als Teil des Textes (z. B. in den Textfluss eingebundene Zeichnungen in den Wanderungen) Text als Bild, das heißt die Referenzfunktion des Textzeichens entfällt, seine materielle Beschaffenheit steht im Vordergrund (z. B. bei einigen Textzeichen in den Wanderungen, die Formen von Objekten verdeutlichen sollen)155 Intermediale Bezüge: Bezugnahmen des Textes auf das semiotische System oder Produkte eines (materiell nicht präsenten) Bildmediums Systemerwähnung durch Transposition: Nachahmung bildspezifischer Verfahren mit den Mitteln des Textes, bei der eine Illusions-

_____________ det, diese beiläufig beschreiben und zugleich mit einer zweiten Ebene zusätzlichen symbolischen Gehalts aufladen. 153 Auch für Poppe gilt »Visualität als medienübergreifendes und damit transmediales Phänomen« (Sandra Poppe, Visualität als Phänomen in Literatur und Film. In: Hoff und Spies (Hrsg.), Textprofile intermedial, S. 187), was sie damit begründet, dass Visualität in den von ihr untersuchten Medien Film und Literatur zwar mit unterschiedlichen, medienspezifischen Mitteln dargestellt wird, aber gemeinsame, medienübergreifende Funktionen – »Anschaulichkeit, Semantik und Strukturbildung« (ebd., S. 194) – erfüllt: »In ihren konkreten Ausdruckmitteln ist sie zwar mediengebunden, in ihrer Funktionalität jedoch medienunabhängig und kann somit als transmediales Phänomen [im Sinne Rajewskys, wie Poppe explizit darlegt (vgl. ebd., S. 198), N.H.] verstanden werden« (ebd., S. 197). Dieser Einschätzung schließt sich die vorliegende Arbeit insofern an, als auch sie (bildmedienanaloge) Sehweisen als transmedial einordnet. Das gesamte Feld der Visualität umfasst jedoch im Verständnis der vorliegenden Arbeit auch Bilder selbst, so dass es in weitere Bereiche der Intermedialität übergreift. 154 Sofern von »einer regelrechten Fusion [oder Verschmelzung, N.H.] der unterschiedlichen medialen Artikulationsformen« gesprochen werden kann, liegen »intermedia« vor (Rajewsky, Das Potential der Grenze, S. 29). 155 Vgl. zu dieser Subklassifizierung Pfister, The Dialogue of Text and Image, S. 322f.

2.2. Die Intermedialitätsforschung

41

oder ›Als-ob‹-Wirkung des ›Bildhaften‹ angestrebt wird und der Text sich in Relation zum aufgerufenen Bezugssystem konstitutiert (z. B. Erschaffen von ›tableaux vivants‹ in Texten oder Nachahmung des filmischen Zooms mit literarischen Mitteln);156 der Unterschied zu 1.2 liegt darin, dass es sich hierbei ausschließlich um rein technische und bildimmanente Merkmale handelt, nicht jedoch um die mit dem Bildmedium verbundenen, kulturell und historisch wandelbaren Arten des Gebrauchs und Assoziationen157 3.2. explizite Systemreferenz: 3.2.1. Beschreibung und/oder Deutung eines vorhandenen oder erfundenen Bildes, die sowohl das gesamte Werk ausmachen kann (z. B. in der Kunstkritik) als auch nur stellenweise auftreten (z. B. als eines vieler Themen im Prosatext) 3.2.2. Thematisierung eines fiktiven oder realen Malers oder Photographen, ihrer Werke oder kunstgeschichtlicher Probleme 3.3.3. Mentale Bilder – insbesondere mit externen Bildern als Vorlagen – als Motive In den analytischen Kapiteln 4 und 5 werden alle Aspekte der obigen Systematik einbezogen, die erst im Zusammenspiel eine umfassende Definition des ›Malerischen‹ und des ›Photographischen‹ in Fontanes Werk – verstanden als Gesamtheit der speziell nur einem Bildmedium als zentrale Merkmale zugeschriebenen Eigenschaften und Assoziationen – gewährleisten. Weiter zielen die Analysekapitel in der gemeinsamen Beachtung aller genannten Aspekte auf die Erfassung der Zusammenhänge zwischen verschiedenen Bildarten, ihnen analogen oder in ihnen thematisierten Sehweisen und dem Text. Die vorliegende Arbeit versteht sich damit als »kulturwissenschaftliche, intermedial ausgerichtete Untersuchung«158 im Sinne Heinz Brüggemanns, der feststellt: Die Geschichte dieses Dialogs [zwischen Literatur und medialen Wahrnehmungsformen, N.H.] und seine Bedeutung für das Verständnis unserer Gegenwart, die Geschichte der Technologien der Einbildungskraft und ihrer imaginativen Potenzen [...] zu erforschen, zu rekonstruieren, unsere Gegenwart in solchen Vergangenheiten zu erkennen, das wäre ein Projekt für eine zeitgenössische Literaturwissenschaft.159

_____________ 156 Vgl. Kapitel 5.3. der vorliegenden Arbeit. 157 Rajewskys Untergliederung in simulierende, evozierende und (teil-)reproduzierende Systemerwähnungen wird in der vorliegenden Arbeit nicht übernommen, da sie schwer vorzunehmen und zudem nicht zwingend notwendig erscheint. 158 Heinz Brüggemann, Literatur und mediale Wahrnehmung in kulturwissenschaftlicher Perspektive. In: Matthias Mertens (Hrsg.), Forschungsüberblick ›Intermedialität‹. Kommentierungen und Bibliographie, Hannover 2000. S. 26. 159 Ebd., S. 14.

3. Historischer Hintergrund Als historisches Hintergrundwissen wird im Folgenden zunächst die Entwicklung verschiedener Bildmedien beschrieben, die schließlich in die Erfindung der Photographie mündete. Dadurch soll aufgezeigt werden, welche Merkmale den verschiedenen Bildarten – insbesondere der Photographie – eigen sind und wie Fontanes Zeitgenossen auf sie reagierten. Darauf basierend wird die Einstellung der poetischen Realisten und speziell Fontanes gegenüber Malerei und Photographie dargelegt, die sich vor allem in ihrer Bezugnahme auf diese Bildmedien in poetologischen und literarischen Texten zeigt. Die Themen Sehen und Wahrnehmung werden eingeführt, indem Forschungen zur Veränderung des Sehens durch die Photographie und die Auswirkungen dieses Prozesses auf die Texte des poetischen Realismus vorgestellt werden. Weiter werden Sehund Wahrnehmungstheorien des 19. Jahrhunderts erläutert, mit Schwerpunkt auf den sinnesphysiologischen Theorien Herrmann von Helmholtz’, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von unübertroffener Wirkung waren. Abschließend wird dargestellt, wie solche wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Wahrnehmung sich auf die Malerei und ihr Bestreben, Bildbetrachtern eine Sehschulung zu bieten, auswirkten.

3.1. Entwicklung und Rezeption neuer Bildmedien im 19. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert fand eine rasche Entwicklung neuer Bildmedien statt, die in der Photographie ihren Höhepunkt fand und deren Abschluss in der Entstehung des Films zu Anfang des 20. Jahrhunderts gesehen werden kann. Durch die Betrachtung dieser Bildarten entwickelten sich neue Sehweisen, die nicht nur für die Bildrezeption angewendet wurden, sondern auch den Blick auf die Wirklichkeit veränderten, denn »wie man die Natur sieht, hängt davon ab, welche Erfahrungen mit Bildern, mit Perspektive und räumlicher Ordnung man gemacht hat«.1 Dieser Einfluss wird besonders deutlich beim Übersicht und Rundschau gewährenden Panorama, das _____________ 1

Albrecht Koschorke, Das Panorama. Die Anfänge der modernen Sensomotorik um 1800. In: Harro Segeberg (Hrsg.), Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst, München 1996, S. 157.

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3. Historischer Hintergrund

vor allem den Beginn des 19. Jahrhunderts und dessen Sehweisen prägte. Diorama und Moving Panorama mit ihren Versuchen der Bewegungsdarstellung lösten es nur kurzzeitig ab, bis schließlich die detailgetreue Photographie die zweite Hälfte des Jahrhunderts beherrschte. Während allen Bildarten das Streben nach möglichst großer Wirklichkeitsnähe und -illusion gemeinsam ist, soll es im Folgenden vor allem darum gehen, die Besonderheiten der einzelnen Bildarten, ihrer zeitgenössischen Rezeption und der mit ihnen verbundenen Blickweisen hervorzuheben. Zudem werden Fontanes Erfahrungen mit ihnen dargelegt. 3.1.1. Das Panorama Nachdem das erste, 1792 von Robert Barker in London erbaute Panorama sich als publikumswirksam erwiesen hatte, breitete sich die Form des Rundgemäldes schnell in Europa aus. Das Bild – das etwa im Pariser Panorama von 1800 17 Meter breit und sieben Meter hoch war – bedeckte die gesamte Wand eines Rundbaus, in dessen Mitte sich eine erhöhte und überdachte Plattform für die Besucher befand. Diese erblickten rund um sie herum eine gemalte Landschaft und konnten in dieser Kunstwelt der Illusion erliegen, eine wirkliche Gegend zu betrachten. Damit lag die Besonderheit des Panoramas im Wegfall der Rahmung des Bildes und dem Mangel an gleichzeitig als Kontrast wahrnehmbarer Wirklichkeit, wodurch man, ebenso wie durch »größtmögliche[...] Exaktheit der Abbildung«, dem »Streben nach möglichst vollkommener Illusion der Wirklichkeit«2 nachkam. Perspektivische Korrektheit und Detailtreue wurden dadurch gewährleistet, dass einzelne Bildausschnitte von einem bestimmten, meist erhöht gelegenen Ort aus mit Hilfe der Camera obscura3 erstellt und anschießend zum Rundgemälde zusammengefügt wurden. Der dadurch erreichten illusionistischen Wirkung stand jedoch »ein bedeutender, aber unaufhebbarer Mangel des Panoramas entgegen: seine Unfähigkeit, Bewegung darzustellen«.4 Während die Abbildung unbelebter Natur den Anschein von Wirklichkeit erwecken konnte, ließen sich belebte und bewegliche Gegenstände nur erstarrt festhalten, wodurch die Illusion brach. Ein Zeitgenosse kritisierte daher, man habe »den Eindruck, nur den _____________ 2 3

4

Heinz Buddemeier, Panorama, Diorama, Photographie. Entstehung und Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert, München 1970, S.18 Die Camera obscura besteht aus einem geschlossenen Raum, in den nur durch eine kleine Öffnung Licht einfällt. Auf der der Öffnung gegenüberliegenden Seite entsteht ein spiegelverkehrtes und auf dem Kopf stehendes Bild dessen, was sich außen vor der Öffnung befindet. Buddemeier, Panorama, Diorama, Photographie, S. 19.

3.1. Entwicklung und Rezeption neuer Bildmedien

45

toten Leichnam der Natur [...] vor Augen zu haben, da Starre und Tonlosigkeit herrschen«.5 Auch durch später mit Ventilatoren erzeugten künstlichen Wind und wie an wirklichen Aussichtspunkten installierte Fernrohre konnte keine komplette Wirklichkeitsillusion erreicht werden. Parallel zum Aufschwung des Panoramas erfolgte der der Aussichtstürme, die erst seit Ende des 18. Jahrhunderts errichtet wurden6 und ähnlich wie das Panorama »neu entstandene Bedürfnisse nach Aussicht, Horizonterweiterung und Natur«7 erfüllen sollten. Sowohl durch das Bildmedium als auch in der Wirklichkeit wurde so eine bisher kaum genutzte Art des Sehens eingeübt. Noch in einem Reisebericht vom 1798 äußern Dorfbewohner Befremden über die neue Mode, erhöhte Orte aufzusuchen, »[b]loß um die Aussicht zu genießen ... Solch nichtsnutziges Unterfangen quittierten die Dörfler mit purer Verständnislosigkeit«8 – eine Reaktion, an der sich das Neuartige dieses Sehbedürfnisses zeigt. Im »Verlangen nach Aussicht«, das der Panoramablick – sowohl in der Wirklichkeit als auch beim Rundgemälde – erfüllte, drückte sich neben »Vergnügungssucht« auch »der bürgerliche Bildungshunger« aus.9 Der neue Blick aus der Vogelperspektive ermöglicht[e], das unten Ausgebreitete in seiner Struktur zu erkennen, bekannte Dinge innerhalb eines großen Raumes zu suchen, zu verknüpfen, zu trennen und zu ordnen.10

Mit der gewonnenen Übersicht ging der Eindruck einher, alles Geschaute kontrollieren und beherrschen zu können, so dass der Blick vom Aussichtsturm oder von der Aussichtsplattform des Panoramas die »Einübung des weltlich-herrschaftlichen Blicks«11 mit sich brachte. Insbesondere, wenn man die Nutzung dieser erhöhten Beobachterposition durch das Militär bedenkt, wo Feldherren von dort aus mit Fernrohren den Gang der im Tal ausgetragenen Schlacht verfolgten, wird deutlich, wie stark der Panoramablick auch im Bildmedium, das bevorzugt Schlachtendarstellungen zeigte (wie beispielsweise das in den 1870er Jahren berühmte SedanPanorama Anton von Werners in Berlin)12, genau dieses Erlebnis eines Triumphes vermittelte. Hebekus stellt sogar fest, dass die Wahl von Kriegsschauplätzen als Motiv mitverantwortlich für die Konjunktur des _____________ 5 6 7 8 9 10 11 12

Ebd., S. 21. Vgl. Joachim Kleinmanns, Schau ins Land. Aussichtstürme, Marburg 1999, S. 7. Ebd., S. 13. Friedemann Schmoll, Der Aussichtsturm. Zur Ritualisierung touristischen Sehens im 19. Jahrhundert. In: Christoph Köck (Hrsg.), Reisebilder. Produktion und Reproduktion touristischer Wahrnehmung, Münster/New York et al. 2001, S. 184. Vgl. Kleinmanns, Schau ins Land, S. 16. Ebd. Schmoll, Der Aussichtsturm, S. 196. Vgl. Ralph Köhnen, Das optische Wissen. Mediologische Studien zu einer Geschichte des Sehens, München 2009, 295f.

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3. Historischer Hintergrund

Panoramas als Massenmedium sei, es diese »entscheidend dem Umstand verdankt, dass in ihm Szenarien des Krieges in nahezu perfekter Simulation zur Anschauung kommen«.13 Daneben konnte der Panoramablick allerdings auch das gegenteilige Gefühl auslösen, dem sich bietenden, fast grenzenlos erscheinenden Ausblick nicht gewachsen zu sein: »Eng verknüpft mit der Seh-Sucht ist die Seh-Krankheit mit den Symptomen Fallsucht und Schwindel«.14 Noch 1899 wurde zu bedenken gegeben, »daß sich ein Eisenturm kaum für die Besteigung durch schwindelanfällige Damen eigne«,15 da Frauen als weitaus stärker vom Schwindel gefährdet galten als Männer. Auch Besucher der Panoramen wurden teilweise von ähnlichen Schwindelgefühlen ergriffen. Nach dem Vorbild des Londoner Panoramas wurde 1800 auch in Fontanes späterem Wohnort Berlin ein solches eröffnet. Die Popularität der Panoramen ließ in Deutschland nach 1839 – dem Zeitpunkt der Erfindung der Daguerreotypie16 – zwar nach, ab 1880 setzte jedoch ein neuer Aufschwung dieser Einrichtung ein, so dass Berlin zeitweise sogar fünf Panoramen besaß.17 Fontanes Kenntnis der Rundgemälde belegt beispielsweise sein Tagebucheintrag vom 12.05.1852, in dem er den Besuch des Londoner Coliseums und die Besichtigung des dortigen Panoramas festhält.18 Einem weiteren Eintrag vom 26.01.1856 zum »Panorama von Dover« ist sogar eine Zeichnung beigefügt, auf der Fontane das Gesehene in einem beschrifteten Halbkreis festgehalten hat.19 Auch die Erwähnung eines Zyklus »perspektivisch-optischer Bilder (meist für die Gropiusschen Weihnachtsausstellungen)«,20 bei denen es sich um »Rundbilder«21 handelte, in den Wanderungen bezeugt seine Bekanntschaft mit dem Panorama. Schließlich zeigt die Selbstverständlichkeit, mit der er das Bildmedium in seinen Romanen einband,22 – beispielsweise der Besuch des im Berliner

_____________ 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Hebekus, Friktionen der Kriegmoderne, S. 168. Kleinmanns, Schau ins Land, S. 19. Schmoll, Der Aussichtsturm, S. 190. Die Daguerreotypie ist eine frühe Form der Photographie. Näheres zu ihr findet sich unter dem Punkt ›Photographie‹ im vorliegenden Kapitel. Vgl. Oettermann, Die Reise mit den Augen, S. 49. Vgl. GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 15; Fischer, Märkische Bilder, S. 126; Frank, Erlebnisreisen, S. 119. Vgl. GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 80. WMB 9, S. 103. Ebd., S. 565. Vgl. Richard Brinkmann, Der angehaltene Moment. Requisiten – Genre – Tableau bei Fontane. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 53/1 (1979), S. 440.

3.1. Entwicklung und Rezeption neuer Bildmedien

47

National-Panorama ausgestellten Gemäldes Sturm auf St. Privat in Effi Briest23 – dass er bestens mit dieser Gemäldeart vertraut war. Schon während der Tätigkeit als Kriegsberichterstatter lernte Fontane auch bei Panoramablicken in der Natur insbesondere deren militärische Nutzung kennen24 und bestieg auch ansonsten privat wie seine Zeitgenossen und seine Romanfiguren häufig Türme, um Panoramablicke zu erhalten, wie seine Tagebuchaufzeichnungen belegen.25 Da er dort für jeden Tag in nur wenigen Zeilen das Wichtigste festhielt, bezeugen sie, welchen Eindruck diese Blickweise auf ihn gemacht haben muss. 3.1.2. Das Diorama »Für das Diorama ist kennzeichnend, daß es sich die Darstellung von Bewegung, deren Fehlen man im Panorama mehr oder weniger als Mangel empfand, zum Ziel [setzt]«.26 Das erste Diorama, ein Raum, in dem an zwei gegenüberliegenden Wänden ca. 300 Quadratmeter große Bilder ausgestellt wurden, entstand 1822 in Paris. Die Leinwand, die deckend oder transparent bemalt war, wurde von hinten durch ein Fenster beleuchtet, wobei der Lichteinfall durch mehrere, verschiedenfarbige Blenden regulierbar war. Dadurch war es möglich, ein Gemälde – für gewöhnlich etwa eine Viertelstunde lang – mit verschiedenen Beleuchtungseffekten so vorzuführen, dass die Illusion entstand, »wallende Nebel, ziehende Wolken, sprühende Wasserfälle, ein aufziehendes und sich entladendes Gewitter und schließlich die Lichtveränderung vom Morgen zum Abend«27 zu sehen. So trat die Wahrnehmung des bewegten Bildes in den Vordergrund, wobei die beim Panorama vorherrschende Absicht der totalen Täuschung wegfiel. Während das Publikum von diesem neuen Bildmedium begeistert war, lehnten Kritiker es ab, da es nicht mit _____________ 23 24

25 26 27

Vgl. EB, S. 44, 50. Etwa an folgender Passage beschreibt Fontane einen solchen Panoramablick, wobei er auch die militärische Nutzung des Fernrohrs wie eine Art Waffe erfasst (vgl. a. Osborne, Theodor Fontane. Vor den Romanen, S. 157): »Auf dem Plateau [zu dessen Füßen eine Schlacht stattfand, N.H.] standen: eine Mühle, ein Wirtshaus und ein Beobachtungsgerüst, auf welchem letztern ein großer Tubus, immer mit Richtung gegen Süden, wie ein kleines Geschütz im Anschlage lag. Um dieses Rohr herum standen Offiziere aller Grade, einige von Dienst wegen, um von Minute zu Minute das Auge an das Rohr zu legen« (HFA III/4, S. 768). Vgl. Einträge vom 04.04., 15.05., 12.08., 05.10., 16.10. und 20.10.1856. In: GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 102, 119, 157f, 175, 182, 186. Buddemeier, Panorama, Diorama, Photographie, S. 25. Ebd., S. 26.

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3. Historischer Hintergrund

künstlerischen, sondern technischen Mitteln arbeite, und behandelten es als eine von der Malerei getrennte, eigene Kunstart. Zu Fontanes Lebzeit befand sich mit dem von 1827 bis 1850 bestehenden Diorama von Carl Wilhelm Gropius eine solche Einrichtung in Berlin,28 die Fontane nachweislich kannte – dies belegt seine Erwähnung der Gropiusschen Weihnachtsausstellungen in den Wanderungen.29 3.1.3. Das Moving Panorama Dem Bedürfnis nach Bewegungsdarstellung kam auch das Moving Panorama nach. In ihm wurde ein langes Gemälde langsam von einer aufrecht stehenden Trommel auf eine zweite abgewickelt, so dass der gerahmte, den Zuschauern präsentierte Bildausschnitt ständig in Bewegung war und wechselnde Ansichten zeigte. Dadurch sollte die Illusion entstehen, der Betrachter selbst bewege sich fahrend durch die Landschaft. Solche Vorführungen wurden teilweise durch Geräusche, Musik oder einen erklärenden Vortrag begleitet.30 Dass die Bildbetrachtung tatsächlich als Eigenbewegung erlebt wurde, lässt sich dadurch belegen, »dass sich manche Fahrgäste der frühen Eisenbahnen an den Besuch einer Bilderreise [=eines Moving Panoramas, N.H.] erinnert fühlten«.31 Damit übertrugen sie die während der Bildbetrachtung gewonnenen Eindrücke auf die später erlebte Situation der Bahnfahrt, bei der sie sich tatsächlich selbst vorwärts bewegten, während sie im Moving Panorama durch das Abrollen der Leinwand nur der Illusion von Bewegung erlegen waren. Ein Fahrgast der frühen Eisenbahn rekurriert damit bei seiner Einordnung dieses Erlebnisses »auf Wahrnehmungserfahrungen, die er bisher nur von Bilderreisen kannte. Offensichtlich waren das Reisen mit der Eisenbahn und das Erleben einer Bilderreise in gewisser Hinsicht ähnlich«.32 Noch nahe liegender sind Vergleiche mit der Fortbewegung in Kutsche oder Schiff, da deren langsame Bewegung der Bildvorführung eher entsprach. In Deutschland fand das Moving Panorama zwar nur geringe Verbreitung, doch _____________ 28 Vgl. Stephan Oettermann, Die Reise mit den Augen – ›Oramas‹ in Deutschland. In: Marie-Louise von Plessen (Hrsg.), Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, Basel/Frankfurt am Main 1993, S. 46. 29 WMB 9, S. 103, 565. 30 Vgl. Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 378. 31 Stefan Simon, ›Fern-Sehen‹ und ›Fern-Hören‹. Zur Wahrnehmung von musikbegleiteten Bilderreisen im 19. Jahrhundert. In: Erika Fischer-Lichte, Christian Horn et al. (Hrsg.), Wahrnehmung und Medialität, Tübingen/Basel 2001, S. 262. 32 Ebd.

3.1. Entwicklung und Rezeption neuer Bildmedien

49

[d]a insbesondere die Moving Panoramas ihre Blütezeit im London der 1840er und 1850er Jahre, also gerade zur Zeit von Fontanes Englandaufenthalten, hatten, dürfte dieses Illusionsmedium [...] sein Landschaftserlebnis mitgeprägt haben.33

In einem Tagebucheintrag vom 12.05.1852 hält Fontane fest, er habe das Londoner Zyklorama, in dem sich zu diesem Zeitpunkt eine Moving Panorama-artige Einrichtung befand, besichtigt,34 so dass von seiner Bekanntschaft mit diesem Bildmedium ausgegangen werden kann. 3.1.4. Die Photographie Den bisher beschriebenen Gemäldearten lagen mit Hilfe der Camera obscura angefertigte Bilder zugrunde, wodurch zwar die exakte Wiedergabe der Umrisse von Gegenständen möglich war, deren Struktur und Farbgebung jedoch weiterhin wie üblich zu malen waren. Um auch diese originalgetreu nachbilden zu können, war eine weitere Technisierung nötig, die Joseph Nicéphore Niépce mit seinem Verfahren der Héliographie, einem photographischen Positiv-Verfahren, verwirklichte. Nachdem er es zunächst entwickelt hatte, um mit Hilfe lichtempfindlicher Substanzen Kopien von Zeichnungen anzufertigen, die dann als Druckvorlage dienen sollten, erkannte Niépce 1816 die Möglichkeit der Nutzung seiner Erfindung zur Abbildung der Natur unter Zuhilfenahme der Camera obscura. Weiterentwickelt wurde diese Idee von Louis Jacques Mandé Daguerre, der zur selben Zeit ähnliche Experimente durchführte und sich zwecks Erfahrungsaustauschs an Niépce wandte. 1839 stellte Daguerre mit seiner Daguerreotypie die Möglichkeit vor, Bilder auf einer mit Silbersalz beschichteten Kupferplatte durch Quecksilberdämpfe so zu fixieren, dass sie nicht durch Lichteinfluss wieder zerstört wurden. Begeisterte Zeitgenossen bewunderten an diesen Bildern vor allem die exakte Wiedergabe der Details, die vom technischen Apparat alle unterschiedslos abgebildet wurden, während bei vorherigen Verfahren der Bildherstellung »zwischen den darstellungswürdigen und den nicht darstellungswürdigen Gegenständen unterschieden wurde [...]. Die Photographie wirkte dadurch auf die Zeitgenossen als ein eminent demokratisches Verfahren«.35 Häufig betrachtete man Daguerreotypien mit der Lupe, um jedes Detail erkennen zu können, und zählte fasziniert etwa Pflastersteine oder Dachziegel auf der Abbildung und in der Wirklichkeit nach. _____________ 33 34 35

Fischer, Märkische Bilder, S. 126. Vgl. GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 15; Fischer, Märkische Bilder, S. 126; Frank, Erlebnisreisen, S. 119. Buddemeier, Panorama, Diorama, Photographie, S. 70.

50

3. Historischer Hintergrund

Mit der vollständigen und überdies mathematisch exakten Wiedergabe aller Details hängt zusammen, daß die Daguerreotypien gar nicht so sehr die Vorstellung von Abbildungen erweckten, sondern beim Betrachter eher den Eindruck hervorriefen, er habe die Sache selbst in Händen.36

Für Fontanes Zeitgenossen zeigten die Bilder nicht mehr nur eine Illusion der Wirklichkeit, sondern ersetzen sie selbst, waren »keine Nachahmung mehr, sondern die absolute und vollkommene Wahrheit«.37 Sie wurden daher auch dazu genutzt, um das Abgebildete vor der Vergänglichkeit zu bewahren, da sie unveränderliche Abbilder schufen, während die abgebildeten Objekte der Zeitlichkeit unterworfen waren. Man war sich allerdings dessen bewusst, dass ein Unterschied zwischen der Betrachtung einer Daguerreotypie und derjenigen der Wirklichkeit besteht. Dieser ergibt sich zum einen daraus, dass die Kamera einen viel größeren Schärfenbereich aufweist als das Auge, und rührt zum anderen daher, dass die menschliche Wahrnehmung selektiv ist, während die Daguerreotypie unterschiedslos alles zugleich nebeneinander abbildet. Auf den Bildern erkannte man daher Dinge, die sich zuvor dem menschlichen Blick nicht auf diese Art und Weise erschlossen hatten. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass Photographien eine festgelegte Perspektive, »einen privilegierten Beobachterstandpunkt«38 gegenüber dem Abgebildeten einnehmen. Die dadurch entstehende Subjektivität der Aufnahme wurde zumindest in der Anfangszeit, in der die Masse die Daguerreotypie als völlig objektive Wiedergabe der Realität feierte, nur von wenigen Kritikern wahrgenommen. Zudem unterscheidet sich ein photographisches Bild von der Wahrnehmung der Realität durch die Stillstellung des Abgebildeten, das sich so besser betrachten lässt als die bewegte Wirklichkeit. Diese Bewegungslosigkeit wurde nicht nur als Vorteil für den forschenden Betrachter empfunden, sondern, wie schon beim Panorama, – und ebenso wie die Unmöglichkeit der Wiedergabe von Farben – als Mangel der Daguerreotypie aufgefasst. Ab den 1880er Jahren, als die Belichtungszeiten sich ausreichend verkürzt hatten, versuchte man, mit Momentaufnahmen dennoch Bewegung einzufangen, indem man sie in mehrere, rasch hintereinander aufgenommene Einzelbilder zerlegte. Unter anderem dadurch, dass die Photographie so eine Wirklichkeit zeigte, die ein Mensch – aufgrund der zu hohen Geschwindigkeit – mit bloßem Auge nicht

_____________ 36 37 38

Ebd. Bernd Stiegler, Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert, München 2001, S. 30. Buddemeier, Panorama, Diorama, Photographie, S. 78f.

3.1. Entwicklung und Rezeption neuer Bildmedien

51

wahrnehmen konnte, löste sie Reflexionen über die Möglichkeiten und Grenzen der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit aus.39 Als mögliche Anwendungsgebiete der Daguerreotypie betrachtete man ihren Einsatz für naturwissenschaftliche Forschungen und zur Dokumentation und Reproduktion, vor allem von Kunstwerken. Letztere allerdings war nur begrenzt mit dem Verfahren der Daguerreotypie zu leisten, da Daguerreotypien Originale waren, von denen sich – abgesehen von nach ihnen hergestellten Radierungen, die als Druckvorlagen dienen konnten – keine Abzüge herstellen ließen. Das anfangs weniger Aufsehen erregende, zeitgleich von William Henry Fox Talbot entwickelte NegativPositiv-Verfahren für Papierphotographien dagegen ermöglichte die Umsetzung dieser Erwartungen und hat sich in der Entwicklungsgeschichte der Photographie durchgesetzt. Zunächst wurde die Daguerreotypie hauptsächlich für Porträtaufnahmen genutzt, wodurch die Porträtmalerei nach und nach fast vollständig verdrängt wurde. Ausschlaggebend für ihre starke Verbreitung war neben dem wesentlich geringeren Zeitaufwand die Erschwinglichkeit auch für weniger bemittelte Bevölkerungsschichten, denn auch wenn die ersten Daguerreotypien noch recht kostspielig waren, senkte sich doch mit ihrer zunehmenden Verbreitung der Preis deutlich. Diese Porträtphotographien wirkten jedoch anfangs wegen der langen Belichtungszeit und des notwendigen Stillhaltens noch sehr starr. Dennoch hatten erste Betrachter solcher Aufnahmen das Gefühl, »die dargestellten Personen könnten einen selbst sehen«,40 da die Detailgenauigkeit und Schärfe der Bilder sie so realistisch wirken ließ. »Die Photographie ersetzt den Gegenstand [bzw. die Person, N.H.], sie ist nicht sein Abbild sondern sein Ebenbild«.41 Teilweise glaubte man sogar, dass tatsächlich ein Teil des Abgebildeten über das Licht in seine Photographie einfließe.42 In Wiederbelebung antiker Sehtheorien ist »[i]n den zeitgenössischen spiritistischen Texten gegen Ende des 19. Jahrhunderts [...] dabei auch ausdrücklich von Eidola und ›magnetischen Emanationen‹ die Rede« oder man spricht von den Photographien als »eine Haut, die dem Gegenstand abgezogen wurde«.43 Dieser Eindruck der Übereinstimmung von Photographie und abgebildeter Person führte zusammen mit der Möglichkeit zur eingehenderen _____________ 39 40 41 42 43

Vgl. Bernd Stiegler, Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern, Frankfurt am Main 2006, S. 40. Buddemeier, Panorama, Diorama, Photographie, S. 85. Stiegler, Philologie des Auges, S. 31. Vgl. Wolfgang Kemp, Vorwort. In: Ders. (Hrsg.), Theorie der Fotografie 1. 1839–1912, München 1980, S. 31. Stiegler, Bilder der Photographie, S. 86. Eine ausführlichere Erläuterung antiker Sehtheorien findet sich in Kapitel 3.4. der vorliegenden Arbeit.

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3. Historischer Hintergrund

Studie eines abgebildeten, immoblisierten Gesichts und der Annahme, die ›Wahrheit‹ über eine Person schauen zu können, dazu, dass Photographien häufig zu physiognomischen Zwecken betrachtet wurden. Dadurch erlangte das Konzept der Physiognomik einen neuen Aufschwung. Es hält das Ablesen des Charakters einer Person aus als lesbare Zeichen verstandenen Gesichtszügen oder anderen körperlichen Merkmalen für möglich, da es auf der Annahme eines Analogieverhältnisses zwischen Innerem und Äußerem basiert. Der bereits von Johann Caspar Lavater mit seinem Hauptwerk Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1775–1778) aufgestellte Wissenschaftsanspruch wurde durch die Photographie erneuert; die Physiognomik erhielt einen »massiven Szientifizierungsschub«.44 »Der Versuch, nicht nur die äußere Erscheinung des Menschen, sondern auch sein Inneres auf körperliche Merkmale zu verpflichten, stützte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig auf die Fotografie«.45 Doch bereits Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) hatte vor den Auswirkungen einer als Wissenschaft aufgefassten Physiognomik gewarnt: Er befürchtete, dass man Menschen vorschnell und falsch be- bzw. verurteilen und deterministisch auf eine bestimmte Wesensart festlegen würde.46 Dennoch wurde die Physiognomik unter anderem durch ihre Aktualisierung bei der Photographiebetrachtung im 19. Jahrhundert sowohl als wissenschaftliche Anwendung als auch darüber hinaus bei der Bevölkerung sehr populär und zur Unterhaltung in bürgerlichen und Adelskreisen aktiv betrieben: »Es entstand ein regelrechter physiognomischer Kult. Besonders große Auswirkungen hatte die Physiognomik auch auf die Künste, auf die Malerei und die Literatur«.47 Neben diesem Anspruch, in der Verwechslung von Abbild bzw. Zeichen und Realität die Wirklichkeit und Wahrheit aus dem neuen Bildmedium herauslesen zu können, wurden Diskussionen um die Photographie im 19. Jahrhundert von der Frage beherrscht, ob es sich bei ihr nur um »von der Natur selbst hervorgebrachte[...] Bilder«48 handle, die durch Sonnenlicht und Technik ohne besonderes menschliches Zutun _____________ 44 45 46 47

48

Claudia Schmölders, Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik, Berlin 1995, S. 32. Bernd Busch, Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie, Frankfurt am Main 1995, S. 318. Vgl. Kirstin Breitenfellner, Lavaters Schatten. Physiognomie und Charakter bei Ganghofer, Fontane und Döblin, Dresden/München 1999, S.9. Ebd., S. 28. Zu einer genaueren Darstellung der Weiterentwicklung der Physiognomik im 19. Jahrhundert bei Theodor Piderit und Carl Gustav Carus siehe Georg Braungart, Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne, Tübingen 1995, S. 149–172. Stiegler, Philologie des Auges, S. 42.

3.1. Entwicklung und Rezeption neuer Bildmedien

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entstünden, oder ob sie als Kunst anzusehen seien. In immer wieder angeführten Vergleichen zwischen Malerei und Photographie zog man meist die Malerei vor, da sie eine tiefere Wahrheit wiedergeben könne, während die Photographie nur ausschnitthaft die zufällige Oberfläche der Dinge zeige. »Was von der Wissenschaft als Naturwahrheit und Genauigkeit gelobt wird, verwandelt sich in der Ästhetik in eine mechanische Widerspiegelung, die die Wahrheit verfehle«.49 Photographie und Malerei wurden nicht nur in ästhetischen Debatten aufeinander bezogen, sondern beeinflussten einander auch formal und inhaltlich: Mit dem Aufkommen der preisgünstigeren Daguerreotypien verloren viele Porträtmaler ihre Arbeit und betätigten sich stattdessen als Porträtphotographen. Sie übernahmen – sowie generell die frühen Daguerreotypisten – zunächst Konventionen der bildenden Kunst für photographische Porträtaufnahmen, indem sie die Aufzunehmenden in gestellten Haltungen vor einem künstlerisch drapierten oder gemalten Hintergrund posieren ließen. Umgekehrt versuchte man in der Malerei anfangs, sich dem Detailreichtum und der Exaktheit der daguerreotypischen Aufnahmen anzunähern, so dass »die Fotografie ›malerisch‹ oder ›piktoral‹ und die Malerei ›fotografisch‹ «50 wurde. Insbesondere für die von Fontane hoch geschätzten Präraffaeliten ist der »wechselseitige Einfluß von englischer Malerei und Photographie im 19. Jahrhundert [...] in einschlägigen wissenschaftlichen Studien ausführlich belegt worden«, denn viele dieser Künstler »verwendeten Photographien als naturgetreue Bildvorlage« und übernahmen von der Photographie den »Trend zur präzisen, hyperreal zu nennenden Sichtbarmachung von Natur«, »die gleichberechtigte Abbildung jedes Details«.51 Zudem verband die Präraffaeliten mit den Photographen »die Vorliebe für literarische Themen aus dem Mittelalter wie für die populäre Ritterromantik von Walter Scott und Alfred Tennyson«.52 Im Laufe der Zeit entfernten sich beide Bildarten jedoch wieder voneinander: Die Malerei wurde durch die Photographie von der Aufgabe einer reinen Wiedergabe der Wirklichkeit entbunden und damit frei, sich neuen Darstellungsmöglichkeiten zuzuwenden, so dass ab den 1870er Jahren mit dem Impressionismus die Entwicklung der modernen Malerei einsetzte. Die Photographen dagegen begannen, ihre eigenen künstlerischen Mög_____________ 49 50 51

52

Ebd., S. 43. Joachim Paech, ›Le Nouveau Vague‹ oder Unschärfe als intermediale Figur. In: Ders. und Schröter (Hrsg.), Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen, S. 349. Ulrich Pohlmann, ›Harmonie zwischen Kunst und Industrie‹. Zur Geschichte der ersten Photoausstellungen (1839–1868). In: Bodo von Dewitz und Reinhard Matz (Hrsg.), Silber und Salz. Zur Frühzeit der Photographie im deutschen Sprachraum 1839–1860. Kataloghandbuch zur Jubiläumsausstellung 150 Jahre Photographie, Köln/Heidelberg 1989, S. 11. Ebd.

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3. Historischer Hintergrund

lichkeiten zu entdecken, wodurch sich der Berufsstand in Berufsphotographen, welche die Photographie als Handwerk betrachteten, und Kunstphotographen wie Nadar oder Alfred Stieglitz aufspaltete.

3.2. Die Rezeption der Malerei durch die Literatur 3.2.1. Die Malerei im poetischen Realismus In der Literatur des 19. Jahrhunderts ist eine verstärkte Thematisierung der bildenden Kunst festzustellen, die sich zum Teil durch das generell gesteigerte Interesse der Gesellschaft an Kunst und die Ausbreitung der Kunstkritik erklärt. Indem die Kunstkritik die Beschreibung und Beurteilung von Gemälden übernahm, entlastete sie literarische Texte von diesen Funktionen und eröffnete ihnen einen breiteren Spielraum im Umgang mit Werken der bildenden Kunst, die in der Literatur neue Funktionen entfalten konnten. Zudem rief sie Gemälde als Gegenstände der Reflexion immer wieder ins Bewusstsein. In Zeitschriften wurden etwa seit 1740 kunstkritische Beiträge publiziert, in den 1750er Jahren entwickelte sich die Werkbeschreibung zu einer eigenen Gattung und am Ende des Jahrhunderts entstanden die ersten reinen Kunstzeitschriften.53 In den 1860er Jahren etablierten sich dann auch langsam die Disziplinen Kunstwissenschaft und -geschichte an den Universitäten.54 Im Rahmen eines »Paradigmenwechsels von der aristokratisch-feudalistischen ›geselligen‹ Bildbetrachtung zur ›bürgerlichen‹ Kunstbetrachtung«55 zeichnete sich ein »Wechsel vom Bildergespräch zur Bildbeschreibung«56 ab. Der Betrachter stand nun schweigend vor dem Bild und versuchte, dessen tiefere Wahrheit zu erfassen, um sie schriftlich festzuhalten. Im Zusammenhang mit diesem Aufschwung der Kunstkritik »läßt sich für das 18. und frühe 19. Jahrhundert geradezu sagen, daß es kaum noch Autoren gibt, die sich nicht mit bildender Kunst beschäftigen«.57 Diese Feststellung trifft auch noch auf die poetischen Realisten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu, in der die Kunstgeschichte sich zu einer akademischen Disziplin entwickelte:58 Fontane arbeitete als Kunstkritiker während _____________ 53 54 55 56 57 58

Vgl. Reulecke, Geschriebene Bilder, S. 165. Vgl. Lothar Schneider, Gedachte Intermedialität. Zur wechselseitigen Illustration der Künste in Ästhetiken des zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Simonis, Intermedialität und Kulturaustausch, S. 211. Ebd., S. 166. Ebd., S. 167. Ebd., S. 165. Vgl. Wagner-Douglas, Alte Meister, S. 236.

3.2. Die Rezeption der Malerei durch die Literatur

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Adalbert Stifter, Gottfried Keller und Wilhelm Raabe praktische Erfahrung mit der Malerei sammelten.59 In vielen poetologischen Texten greifen die poetischen Realisten auf Malereiterminologie zurück, um ihre schriftstellerische Tätigkeit zu bezeichnen, wobei sie sich grundsätzlich auf traditionelle Gemäldeformen beziehen und weniger auf die im vorangehenden Kapitel dargestellten neuen Gemäldeinszenierungen. Julian Schmidt, der Wortführer des programmatischen Realismus, spricht von »Detailmalerei« im Roman und davon, ein Dichter solle »aus der Masse seiner Farben diejenigen auswählen, die zu einem idealen Gemälde nötig sind«.60 Bei Rudolf Gottschall finden sich Kommentare über die »scharfe psychologische Malerei«61 Otto Ludwigs und Friedrich Hebbels, bei Arnold Ruge die Benennung seiner schriftstellerischen Arbeit als ›Zeichnen‹ zusammen mit dem Vergleich mit Gemälden Raffaels.62 Auch Fontane verwendet solche Vergleiche von Schriftstellern mit Malern: [M]an steht vor ihren Sachen [den Dichtungen schlesischer Poeten, N.H.] wie vor Landschaften und Genrebildern [...], aber der Historienmaler, der uns im Innersten faßt [...] – ein solcher Maler fehlt noch unter ihnen.63

Wie in diesem Textabschnitt werden auch von anderen Autoren Gattungsbezeichungen der Malerei auf bestimmte literarische Gattungen oder Schreibweisen übertragen: Julian Schmidt äußert sich zur »Genremalerei der Dorfgeschichten«64 und Rudolf Gottschall kritisiert: »Die Romane von Auerbach, Freytag und Ludwig enthalten die vortrefflichsten Genrebilder, aber auch nicht viel mehr als dies«, weshalb er sich von der »poetischen Genremalerei« abwendet.65 Die Schriftsteller beziehen sich zudem auf Verfahren der Malerei oder bestimmte Maler und Werke, um ihr literarisches Realismusverständnis aus dem der Malerei zu entwickeln. Nach Ausführungen über verschiedene literarische Stile kommt Julian Schmidt etwa in seiner Annäherung an den Realismusbegriff auf die Malerei zu sprechen, um von ihr aus sein Urteil über das falsch verstandene Realismusverständnis bestimmter Autoren zu fällen: »Auf eine ähnliche Weise [wie es in der neuern französischen Malerei geschieht] sündigen Victor Hugo und Hebbel an der Kunst«.66 An anderer Stelle stellt er fest: »Gerade in der bildenden Kunst _____________ 59 60 61 62 63 64 65 66

Vgl. Aust, Fontane und die bildende Kunst, S. 407. Julian Schmidt, zitiert in: Gerhard Plumpe (Hrsg.), Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, Stuttgart 1985, S. 115. Rudolf Gottschall, zitiert in: Ebd., S. 124. Arnold Ruge, zitiert in: Ebd., S. 132f. HFA III/1, S. 253. Julian Schmidt, zitiert in: Plumpe, Theorie, S. 121. Rudolf Gottschall, zitiert in: Ebd., S. 127f. Julian Schmidt, zitiert in: Ebd., S. 111.

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3. Historischer Hintergrund

hat sich der Realismus siegreich bewährt«,67 so dass diese als Vorbild für die Literatur gelten soll. Auch Adalbert Stifter entwickelt anhand der Malerei eine Theorie über das Wesen der Kunst, die er anschließend auf jegliche Kunst überträgt,68 und Emil Homberger schließt eine längere Ausführung über die Malerei mit: »Was von dem Landschaftsmaler gilt, das gilt von jedem [sic] der es unternimmt ›der Natur den Spiegel vorzuhalten‹«.69 Diese Analogie des literarischen Realismus zur bildenden Kunst bringt Otto Ludwig auf den Punkt: »Die Kunstwelt des künstlerischen Realisten ist ein erhöhtes Spiegelbild des Gegenstandes, aber nach dem Gesetze der Malerei zu klarer Anordnung gediehen«.70 Schließlich stellen einige Autoren eine beide Künste umfassende Realismusauffassung vor, ohne die Malerei als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zu wählen, sondern in einer Gleichstellung von Malerei und Literatur, die durch das Prinzip des Realismus vereinigt sind. So heißt es bei Julian Schmidt: Der wahre Realismus [...] in der Kunst [...] liegt darin, daß man über die nötige Technik, sei es in Bezug auf Pinsel und Palette oder auf den Meißel, auf den Ton oder auf das Wort, so frei disponieren kann, daß man die zur Charakteristik notwendigen Mittel, die das Leben nachbilden und das Leben hervorbringen, augenblicklich bei der Hand hat.71

Er geht damit sogar noch über die bei so gut wie allen Schriftstellern zu findende Einbeziehung von bildender Kunst und Literatur hinaus, indem er auch die Musik in sein Realismuskonzept aufnimmt. Wie sich diese theoretischen Auseinandersetzungen mit der Malerei in den literarischen Texten niederschlugen, soll im Folgenden anhand der intermedialen Bezüge dargestellt werden, zunächst für Typ 3.1., den Nachvollzug von für Bilder typischen Verfahren, der im Versuch gipfelt, den Text als Bild zu konstituieren. Speziell für die Literatur des 19. Jahrhunderts hat Bettina Brandl-Risi die Beziehungen zu Gemälden untersucht und eine typische Schreibweise herausgearbeitet, durch welche die Texte den Eindruck eines Gemäldes nachzuahmen versuchen. Ihr zu Folge gelten die von August Langen für das 18. Jahrhundert und dessen literarische Texte festgestellten Wahrnehmungsweisen, »die Rahmenschau und die Struktur der Bilderkette«, noch für die Literatur des 19. Jahrhunderts, wo eine » ›sucession de tableaux‹ als ›description en mouvement‹« ein typisches Strukturprinzip Flauberts und der französischen Realisten sei.72 _____________ 67 68 69 70 71 72

Julian Schmidt, zitiert in: Ebd., S. 121. Adalbert Stifter, zitiert in: Ebd., S. 151f. Emil Homberger, zitiert in: Ebd., S. 154f. Otto Ludwig, zitiert in: Ebd., S. 150. Julian Schmidt, zitiert in: Ebd., S. 120. Vgl. Brandl-Risi, ›Tableau’s von Tableaus‹, S. 122f.

3.2. Die Rezeption der Malerei durch die Literatur

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Mit der ›Rahmenschau‹ im Text wird dasselbe, aus der Gemäldebetrachtung entlehnte Wahrnehmungsprinzip genutzt, das im 18. Jahrhundert auch bei der Betrachtung der Wirklichkeit angewandt wurde. Seine Charakteristika sind nach Langen folgende: 1. die ›Umrahmung‹, die Deutlichkeit der Wahrnehmung, Konzentration auf das Wesentliche garantiert, 2. ›Bewegungslosigkeit‹ als Voraussetzung klaren, eindeutigen Erfassens; ein bewegter Gegenstand muss zur Starrheit verfestigt werden, 3. ›Zusammenschau‹, also Simultaneität, da konzentriertes, gleichzeitiges Übersehen des an sich Verstreuten gegenüber sukzessiver Wahrnehmung unmittelbare Evidenz gewährt.73

Auf die Literatur übertragen bedeutet diese Verfahrensweise, »die Handlungsstruktur an einem entscheidenden Moment anzuhalten, den Ablauf von Zeit zu unterbrechen und inmitten einer dramatischen Handlung ein gerahmtes Bild zu inszenieren«.74 Brandl-Risi definiert solche Passagen in Texten des 18. und 19. Jahrhunderts als ›tableaux vivants‹75 und nennt als deren Markierungsverfahren: 1. die explizite Nennung des Vor-Bildes, 2. die Bezeichnung der Situation als ›Gemälde‹, ›Bild‹ oder ›Theaterszene‹, 3. die Rahmung des Blicks (Fenster, Fernrohr, Vergleich mit Blick in Guckkasten, Camera obscura etc.), 4. der Eindruck der Rahmung, der durch räumlich-zeitliche Abtrennung des Bildgeschehens erzeugt wird, 5. der Bruch in der Erzählstruktur: Zeitstillstand, Beschreibungsverfahren [...]. Schließlich kann es 6. in Abgrenzung zum Rekurs auf Gemälde so etwas wie Zwei- bzw. Dreidimensionalität von Bildszenen geben, die sich etwa in der ›Begehbarkeit‹ [...] oder in der Bewegung innerhalb des tableau vivant zeigt.76

Mit 6. können zu den Erzählverfahren, die eine bildhafte Wirkung des Textes ermöglichen, noch spezielle Eigenarten des ›tableau vivant‹ hinzutreten, die Eigenschaften bis inklusive 5. genügen jedoch bereits, um von einer gemäldeanalogen Schreibweise zu sprechen. Dass die Schriftsteller des poetischen Realismus diese bewusst anstrebten, legt ihre auffällig häufige Bezeichnung ihrer Arbeit mit _____________ 73 74 75

76

Ebd., S. 123. Ebd., S. 122. Ein ›tableau vivant‹ oder ›lebendes Bild‹ ist im ursprünglichen Sinn die Nachstellung eines bekannten Gemäldes oder einer Plastik durch lebende Personen, die im 19. Jahrhundert der gesellschaftlichen Unterhaltung diente. Fontanes Tagebüchern lässt sich entnehmen, dass ›tableaux vivants‹ auch in Gesellschaften, an denen er teilnahm, als eine Art des Zeitvertreibs unter anderen gestellt wurden. Als solche listet er auf: »Lebende Bilder, Sprüchwörter, Pfänderspiel [...], etwas Klimperei und etwas [...] ›Gesang‹ « (Eintrag vom 15.01.1857. In: GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 214; vgl. a. Eintrag vom 30.12.1858. In: GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 298). Die Mode findet auch Eingang in den Stechlin: »[U]nd wenn sie nach den ersten Tänzen eine Pause machen, dann stellen sie ein lebendes Bild, wo ein Wilddieb von einem Edelmann erschossen wird, oder sie führen ein französisches Stück auf« (DS, S. 392f). Ebd., S. 124.

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3. Historischer Hintergrund

Malereivokabular nahe, wenn sie vom Schreiben als ›Bilderzeichnen‹ oder ›Porträtmalen‹ sprechen, um bewusst an eine nichtliterarische Art der Beschreibung und Repräsentation anzuknüpfen.77 Auch über Fontane wird in der Forschung festgestellt, »dass in seinen Texten die Wahrnehmung zu standardisierten Bildern gerinnt«78 oder sich »zu einer malerisch sortierten Fläche«79 organisiert und eine »Verwandlung des Raumes in ein Tableau oder eine panoramatische Bilderfolge«80 stattfindet. Dass diese beiden noch aus der Literatur und den Wahrnehmungsgewohnheiten des 18. Jahrhunderts stammenden Arten der literarischen Bildinszenierung – Rahmenschau bzw. ›tableau vivant‹ und Bilderkette – nicht die einzigen Varianten sind, die in Fontanes Texten auftreten, sondern dass im Zusammenhang mit den neuen Bildmedien des 19. Jahrhunderts weitere Möglichkeiten hinzutreten, wird bei der Analyse der Wanderungen im 4. Kapitel der vorliegenden Arbeit herauszuarbeiten sein. Als weiterer Aspekt der Beziehungen zwischen Malerei und den Texten der poetischen Realisten ist Typ 3.2.1., die explizite Systemreferenz auf bestimmte Gemälde bzw. Malerei generell, einzubeziehen. Alison Byerly hat eine spezifische Funktion von Kunst in englischen realistischen Romanen des viktorianischen Zeitalters herausgearbeitet, die sich deutlich von der Art und Weise und dem Zweck der Verwendung von Kunst in der Literatur anderer Epochen unterscheide.81 Der Grund für diese Sonderstellung liege darin, dass die Autoren des Realismus der Opposition Kunst vs. Realität eine besondere Bedeutung beigemessen hätten und sich der Gefahr einer Gleichsetzung von Kunst und Realität bewusst gewesen seien. Um dieser entgegenzuwirken, wollten sie in ihren Texten zwar Realität evozierten, zugleich aber den Unterschied zwischen Literatur und Realität aufzeigen.82 Byerly vertritt die These, dass Anspielungen auf bzw. Beschreibungen von Kunstwerken im Text dazu neigen, die Stimme des Erzählers auszulöschen. Da ein Bild nicht direkt etwas feststellen oder behaupten könne, scheine ein im Text genanntes Gemälde (»a narrative ›painting‹ «)83 beispielsweise nicht Teil des Erzählerkommentars zu sein und erhalte dadurch eine gewisse Unabhängigkeit von und Alterität gegenüber der gesamten Erzählung. Als »fictive discourse« grenze sich die _____________ 77 78 79 80 81 82 83

Vgl. Byerly, Realism, S. 3. Brandl-Risi, ›Tableau’s von Tableaus‹, S. 124. Wullen, Über das Sehen bei Fontane, S. 261. Heinz Brüggemann, Das andere Fenster. Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform, Frankfurt am Main 1989, S. 209. Vgl. Byerly, Realism, S. 9, 12. Vgl. ebd., S. 1f. Ebd., S. 4.

3.2. Die Rezeption der Malerei durch die Literatur

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Kunstbeschreibung vom »natural discourse« des restlichen Textes ab.84 When ein Bild im Text also zum Kunstwerk erklärt würde, würde es dadurch von der restlichen, als ›real‹ dargestellten Welt der Erzählung abgetrennt. Das Bild durchbreche diese Welt und erzeuge ein ›Loch‹ oder eine Öffnung im Text, durch die es in ein anderes Zeichensystem gelange. Durch die Definition dieser anderen Ebene als ›Kunst‹ erscheine die zurückgelassene Romanwelt realer. Hauptfunktion der Kunstwerke in Texten des Realismus sei damit die, sich ontologisch von der Romanwelt abzuheben, sie in mehrere Realitätsebenen aufzuteilen und damit der Handlungsebene einen höheren Grad an Wirklichkeit beizumessen: Die Schriftsteller nutzten »the category of ›art‹ to create a sphere of ›radical otherness‹ within their texts, an artificial realm that is poised against an underlying ›reality‹«.85 Vor allem dadurch, dass sie dabei nicht einfach Kunst und Nicht-Kunst einander gegenüberstellten, sondern ein komplexes Netzwerk verschiedener, aufeinander bezogener und gegeneinander abgestufter Künste in den Text einbänden und so ein System verschiedener Repräsentationsebenen konstruierten, werde dem Text selbst eine größere Nähe zur tatsächlichen Realität zugewiesen als den verschiedenen genannten Künsten.86 Inwiefern sich dieser Befund auf Texte Fontanes übertragen lässt, und welche weiteren Funktionen explizite Systemreferenzen auf Malerei in seinen Texten erfüllen, wird zu untersuchen sein. 3.2.2. Fontanes Erfahrungen mit und Einstellungen zur Malerei Nachdem die frühere Forschung Fontanes Verhältnis zur bildenden Kunst und seine Tätigkeit als Kunstkritiker wenig beachtet oder ihm die Fähigkeit zur Beurteilung von Gemälden komplett abgesprochen hat,87 erfährt das Thema etwa seit den 1970er Jahren verstärkte Aufmerksamkeit.88 Die Meinungen zu Fontanes Kunstkenntnis und Urteilsfähigkeit sind zwar weiterhin geteilt, insgesamt zeichnet sich jedoch eine Anerkennung seiner kunstkritischen Fähigkeiten und seiner Leidenschaft für die bildende Kunst ab. Angeregt zu seinen Auseinandersetzungen mit der Malerei wurde der junge Fontane, Enkel des Malers Jean Pierre Barthélemy, unter anderem durch seine zahlreichen Bekanntschaften mit Malern, Kunstkritikern und _____________ 84 85 86 87 88

Ebd. Ebd., S. 5. Vgl. zum Absatz ebd., S. 4ff. Vgl. Riechel, Theodor Fontane and the Fine Arts, S. 48f. Einen guten Überblick über die Forschung gibt Riechel, Theodor Fontane and the Fine ArtS.

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3. Historischer Hintergrund

Kunsthistorikern aus den Vereinigungen Tunnel über der Spree, Ellora und Rütli.89 Dort verkehrte er unter anderem mit Franz Kugler, Adolf Menzel, Gustav Friedrich Waagen, August von Heyden, Richard Lucae, Wilhelm Lübke und Max Liebermann.90 Auch durch den Freund Friedrich Eggers, Kunsthistoriker und Leiter des Kunstblattes, kam er in Kontakt mit Strömungen und Vereinigungen der neuen Berliner Kunstschule.91 Er nahm an dessen kunstkritischer Arbeit »durch Besuche von Galerien und Kunsthandelshäusern, von Kunstateliers und Künstlern lebhaften Anteil«92 und übte sich unter seiner Führung »[a]ls eifriger Leser des Kunstblattes« »in der Technik der Kunstbetrachtung, Kunstbeschreibung und Kunstverzeichnung«.93 Zur Zeit seiner ersten beiden Englandreisen ist noch kein besonderes Interesse für die bildende Kunst festzustellen, wenn er auch schon während der zweiten Reise einige Gemäldebeschreibungen verfasst.94 Erst bei seinem dritten Aufenthalt von 1855 bis 1859, bei dem er neben der National Gallery viele Kunstsammlungen besuchte,95 hatte Fontane »[v]eritable Kunsterlebnisse im erhabenen Sinn des Wortes«.96 In den 1860er und 70er Jahren arbeitete er für verschiedene Zeitschriften als Kunstkritiker, rezensierte Berliner Kunstausstellungen,97 widmete sich in den Wanderungen der Bewertung von Malerei und Architektur,98 unternahm 1874 und 1875 zwei » ›Kunstpilgerfahrten‹ nach Italien«99 und verfasste über Jahrzehnte hinweg »Schriften, Berichte, biographische Essays und Notizen zur bildenden Kunst«.100 Seit seiner Zeit als Schriftsteller entstanden nur noch sehr wenige Artikel zur Malerei,101 doch »Fontane bekundete bis an sein Lebensende ein waches und lebhaftes Interesse für die Kunstentwicklung seiner Zeit«.102 _____________ 89 90 91 92 93 94 95

Vgl. Fricke, Nicht auf Kosten des Lebens, S. 62. Vgl. Aust, Fontane und die bildende Kunst, S. 406. Vgl. Fricke, Nicht auf Kosten des Lebens, S. 58. Ebd., S. 59. Ebd., S. 62. Vgl. ebd., S. 61. Dies belegen die Tagebuchaufzeichnungen Fontanes, vgl. Fricke, Nicht auf Kosten des Lebens, S. 63f. 96 Moritz Wullen, Englische Malerei. ›Kosmopolitismus in der Kunst‹. Fontane in England. In: Keisch, Schuster et al. (Hrsg.), Fontane und die Bildende Kunst, S. 43. 97 Vgl. Wullen, Deutsche Zeitgenossen, S. 169. 98 Vgl. Riechel, Theodor Fontane and the Fine Arts, S. 42. 99 Fricke, Nicht auf Kosten des Lebens, S. 68. 100 Aust, Fontane und die bildende Kunst, S. 405. 101 Vgl. Riechel, Theodor Fontane and the Fine Arts, S. 45. 102 Bittrich, Theodor Fontane und die bildende Kunst der Kaiserzeit, S. 177.

3.2. Die Rezeption der Malerei durch die Literatur

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Frühere Kritiker warfen Fontane häufig vor, Werke der bildenden Kunst hauptsächlich nach ihren Inhalten und seiner persönlichen Ergriffenheit zu beurteilen, für Formales jedoch keinen Sinn entwickelt zu haben, so beispielsweise Wilhelm Vogt: Gefühlsmäßig bleibt er stets dem Stofflichen verhaftet. Er sah die Werke der bildenden Kunst Zeit seines Lebens mehr mit Dichteraugen als mit Maleraugen an. Ein bloß formaler Kunstgenuß blieb ihm versagt.103

Mittlerweile fällt die Beurteilung anders aus: »Der Autodidakt Fontane muß heute als kunstkritischer Spezialist ernst genommen werden«.104 Zwar wird eingeräumt, dass seine Vergleiche zwischen Malern wie Wilhelm Gentz und William Turner heute unpassend wirken105 und er »mehr als dilettierender denn als professioneller Kritiker«106 angesehen werden muss, dennoch erkennt man generell an, dass zwischen seinen Urteilen über die zeitgenössische Malerei und Wertungen durch Fachleute oft kaum ein Unterschied ist.107 Unumstritten ist sein Verdienst, bis dahin in Deutschland weitgehend unbekannte Maler wie die Präraffaeliten und William Turner entdeckt und publik gemacht zu haben.108 Kaum ein anderer hätte zu seiner Zeit souveräner über die hohe Geltung englischer Kunst räsonieren können. Millais, aber auch die anderen Präraffaeliten, waren ihm mehr als nur ein Begriff. Anders als das breite deutsche Publikum nahm er das Unbekannte an.109

Sein »Sich-Absetzen, eine ›Secession‹ gegenüber ›Offiziellem‹«,110 das heißt gegenüber allgemein anerkannten und verbreiteten Urteilen über Werke der bildenden Kunst, ermöglichte ihm die Wertschätzung zeitgenössischer Maler, die von der breiten Öffentlichkeit zunächst abgelehnt wurden. Während ihm daher für zeitgenössische Kunst eine gewisse Kompetenz zugesprochen wird – bis hin zur Anerkennung seiner »frappierend modernen Gedanken zur bildenden Kunst«111 – gelten seine kunsthistorischen Kenntnisse meist als mangelhaft.112 Obwohl er mit großer Selbstverständlichkeit kunsthistorische Begriffe verwendete, distanzierte er sich auch selbst von einer als Wissenschaft betriebenen Auseinandersetzung _____________ 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112

Vogt, Theodor Fontane und die bildende Kunst, S. 159. Aust, Fontane und die bildende Kunst, S. 406. Vgl. Wullen, Englische Malerei, S. 47. Bittrich, Theodor Fontane und die bildende Kunst der Kaiserzeit, S. 171. Vgl. Wüsten, Zu kunstkritischen Schriften Fontanes, S. 175. Vgl. Fricke, Nicht auf Kosten des Lebens, S. 65. Wullen, Englische Malerei, S. 46. Bittrich, Theodor Fontane und die bildende Kunst der Kaiserzeit, S. 178. Fricke, Nicht auf Kosten des Lebens, S. 70. Wüsten, Zu kunstkritischen Schriften Fontanes, S. 175.

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3. Historischer Hintergrund

mit Malerei,113 wie sie seit den 1840er Jahren insbesondere in Berlin geführt wurde.114 Allein Immo Wagner-Douglas stellt fest: »Erst auf den zweiten Blick offenbart sich der Nichtakademiker Fontane als Kenner auch der alten Kunst«,115 die eines der großen Gesellschaftsthemen des 19. Jahrhunderts darstellte. Neben der Beschäftigung mit den Gemälden selbst und ihrer Bewertung als Kunst setzte sich Fontane kritisch mit der massenhaften Rezeption von Kunstwerken in den großen Ausstellungen auseinander. Beispielsweise in der National Gallery, wo mehr als tausend Werke stündlich von Hunderten von Besuchern betrachtet wurden, erfuhr er Kunst nicht mehr als intimes, individuelles Erlebnis, sondern als eines der Masse. »Kunst als Massenspektakel – darüber konnte sich Fontane nur wundern«.116 In seinen im Mai 1856 verfassten Kristallpalast-Bedenken117 weist er auf die Unterschiede hin, welche durch die modernen Reproduktionstechniken im Umgang mit dem kulturellen Erbe entstanden sind. Die Ordnung der Artefakte und Epochen war bisher für den Kunstrezipienten in einem durch Erfahrung, Geschichte und Anschauung erworbenen Regelwerk des ›besseren Geschmacks‹ festgelegt. Eine beliebige Sammlung von schlecht kopierten Kunstgegenständen tritt an die Stelle dieses ›imaginären Museums.‹ Kulturgüter werden mit ihrer Reproduktion in gleichförmige Waren verwandelt. Fontane befürchtet die Nivellierung des Geschmacks.118

»[E]in furchtbares Durcheinander aller dieser Dinge ist eine geistige Parforce-Kur« von der nur »einige Universalgenies« profitieren, während der Masse daraus nur »Begriffsverwirrung« entsteht,119 schreibt er. [D]ieser Kristallpalast mit Ninive und Ägypten, mit Byzantinisch und Romanisch, [...] mit seinen Tizians und Paul Veroneses in lächerlichen Öl- und Wasserfarbenkopien ist nicht imstande, die Tage besseren Geschmacks und feineren Gefühls für das, was schön ist, ins Dasein zu rufen.120

_____________ 113 Vgl. Karge, Poesie und Wissenschaft, S. 272f; Wagner-Douglas, Alte Meister, S. 236. Vgl. a. folgenden Auszug eines im Tagebuch festgehaltenen Gedichts: »Lern’ unterscheiden/ Kunstblatt und Kunst,/ Jenes thu meiden/ Mit Vergunst« (Eintrag vom 13.11.1856, GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 197). 114 Vgl. Wagner-Douglas, Alte Meister, S. 236. 115 Ebd., S. 231. 116 Wullen, Englische Malerei, S. 44. 117 GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 121f. 118 Gnam, Sei meine Geliebte, Bild!, S. 8f. 119 HFA III/1, S. 126. 120 Ebd., S. 127.

3.2. Die Rezeption der Malerei durch die Literatur

63

Der Besuch »der vielberühmten Versailler Gallerie«121 im Oktober desselben Jahres löst bei ihm eine ähnliche Reaktion aus, auch hierzu stellt er fest: Weniger wäre mehr. Man kann es nicht bezwingen [...]. Jeder Künstler und Schriftsteller, jeder Kunsthandwerker wird einzelner dieser Tableaux in seinem Leben bedürfen und wird froh sein, sie ansehn und befragen zu können; der einfache Mensch aber [...] ist diesem Bilderreichthum gegenüber verloren; denn zuletzt schweben ihm keine Bilder mehr vor der Seele, sondern nur noch ein Ding, das einer recht verschmierten Palette ähnlich sieht. Man nimmt nicht den Eindruck mit fort: ›wie schön das war!‹ sondern nur: ›Wie viel das war!‹122

Fontane konstatiert hier die Überforderung an die Wahrnehmungsleistung des durchschnittlichen Betrachters, der eine solche Masse an Gemälden nicht bewältigen und daher die Details und den Wert der Einzelwerke nicht mehr aufnehmen und schätzen kann. Stattdessen verschwimmen ihm alle Wahrnehmungen zu einer einzigen; statt »einen genußreichen Tag zu haben«123 fühlt sich der Besucher überlastet und gerät sogar in eine Art Schwindel oder Taumel angesichts der Masse visueller Eindrücke. Fontane selbst verbrachte während der Tätigkeit als Kunstkritiker oft an mehreren aufeinander folgenden Tagen jeweils etliche Stunden in Ausstellungen. Etwa für die Manchester-Ausstellung ist dies genau in den Tagebüchern vermerkt, wo täglich festgehalten wird, wie viele Stunden lang er welche Gemälde »gemustert«, »studirt«, sich »vorgenommen« und »durchgenommen« hat124 – Formulierungen, in denen das Anstrengende dieser als Arbeit aufgefassten Kunstbetrachtungen durchscheint. Der letzte Eintrag zu dieser Ausstellung vom 07.07.1857 lautet dementsprechend: »Früh in die Ausstellung. 7 Stunden lang noch mal drin abgerackert; dann mit dickem Kopf nach Haus«.125 Die massenhafte Rezeption beschäftigte und beunruhigte Fontane auch in seinen weiteren Arbeiten als Kunstkritiker und -betrachter. Auf seinen Italienreisen empfand er Erschöpfung durch die für den zeitgenössischen Kunsttourismus typische Betrachtung zu vieler Bilder. Er zog kleine Sammlungen den großen vor, denn in ihnen könnten auch Laien und Anfänger mehr lernen als in großen, wo die Betrachter schnell angesichts zu vieler Eindrücke kapitulierten.126 Die Vermarktung von Kunst kommentierte Fontane ebenfalls: »Gelegentlich unterstreicht _____________ 121 122 123 124 125 126

Tagebucheintrag vom 18.10.1856, GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 185. Ebd. Ebd. Einträge vom 29.06. bis zum 07.07.1857, GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 258f. GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 260. Vgl. Vogt, Theodor Fontane und die bildende Kunst, S. 162.

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3. Historischer Hintergrund

Fontane den kaufmännischen Hintergrund der Kunst-Szene, läßt Kunst als bestellte Ware wahrnehmen«.127 Auch auf der Produktionsseite nahm er die Vermassung von Werken der bildenden Kunst wahr, die im 19. Jahrhundert mit seinen revolutionären Reproduktionstechniken und »ungeahnte[n] Möglichkeiten der Auswietung, Multiplikation und Beschleunigung des visuellen Informationsverkehrs«128 stark voranschritt. »So engagiert wie kaum ein anderer hat Fontane die Bildproduktion seiner Zeit beobachtet, beschrieben und angefochten«.129 Einen weiteren wichtigen Aspekt der Auseinandersetzungen Fontanes mit der Malerei bilden seine kunsttheoretischen Ansichten, die er sowohl auf die Literatur als auch auf die Malerei anwandte.130 Sein Realismuskonzept und die Frage nach dem Wesen der Kunst werden in seinen literaturtheoretischen Schriften ebenso wie in der Kunstkritik behandelt.131 Frühere Kritiker gingen von einer simplen Übertragung seiner Kriterien zur Beurteilung von Literatur auf die Malerei aus, weshalb sie seine kunstkritischen Fähigkeiten in Frage stellten.132 Heute jedoch wird dies differenzierter gesehen: »Auch verstand er [Fontane] es, literarästhetische Kategorien auf kunstästhetische Zusammenhänge sinnvoll zu übertragen«.133 Zudem nimmt man mittlerweile auch einen umgekehrten Einfluss seiner kunstkritischen Gedanken auf seine Poetologie an – »Und doch will es scheinen, als ob sich der Erzähler Fontane an TURNER heranbilden konnte«134 – und spricht ohne negative Wertung von »Entsprechungen bzw. wechselseitigen Befruchtungen zwischen der kunsttheoretischen und poetologischen Realismus-Debatte«.135 Fontane selbst schreibt im Entwurf zu Hans und Grete: »Es gelten für die erzählende Kunst dieselben Gesetze wie für die bildende Kunst und zwischen der Darstellung in Worten und in Farben ist kein Unterschied«.136 Diese Einstellung zeigt sich beispielsweise in seiner Bezeichnung des Malers David Wilkie als »Walter Scott mit der Palette«,137 mit der er auf eine Literatur und Malerei gemeinsame Darstellungsweise Bezug nimmt. Bei Wilkie fand er, so wie er _____________ 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137

Aust, Fontane und die bildende Kunst, S. 408. Wullen, Deutsche Zeitgenossen, S. 171. Ebd., S. 169. Vgl. Wüsten, Zu kunstkritischen Schriften Fontanes, S. 178. Vgl. ebd., S. 174. Vgl. ebd., S. 175; Vogt, Theodor Fontane und die bildende Kunst, S. 157, 159. Aust, Fontane und die bildende Kunst, S. 407. Ebd., S. 409. Ebd., S. 408. HFA I/7, S. 442. HFA III/3 I, S. 484.

3.2. Die Rezeption der Malerei durch die Literatur

65

es von der Literatur verlangte, »die Wirklichkeit ohne Roheit [sic]« und »den Hauch des Idealen ohne Einbuße an der Wahrheit«.138 Ebenso schätzte Fontane auch die Präraffaeliten deshalb, weil sie seiner Meinung nach in ihren Bildern ein ähnliches Programm vertraten wie er in seiner Literatur: Er nannte sie »eine Abzweigung der großen realistischen Schule«139 und empfand sie als Künstler, die sowohl genaue Beobachter der Natur als auch Idealisten waren: »Hier handelt es sich nicht um ein mußevolles Kopieren der Natur [...]. Die wahre Bedeutung der Schule indes liegt in dem, was ich lyrische Vertiefung genannt habe. Es sind Poeten«.140 Auf ähnliche Weise nennt Fontane ohne Unterschied den Schriftsteller Turgenjew und den Maler Menzel als gleichwertige Vertreter des von ihm angestrebten Realismuskonzepts.141 Damit ist bei Fontane verstärkt davon auszugehen, dass die Typen 3.2.1. und 3.2.2. der expliziten Systemreferenz, Verweise auf Malerei oder bestimmte Gemälde und Maler in den Romanen, auch als poetologische Stellungnahmen zu interpretieren sind und eine Metaebene der Kunstreflexion eröffnen. Im Alterswerk Fontanes finden sich kaum noch theoretische kunstkritische Schriften; stattdessen flossen seine Ansichten über bildende Kunst und Literatur in das erzählerische Werk ein: Während Fontanes Abwege in Journalismus, Politik und Historik in seinem nun anhebenden großen epischen Wortkunstwerk nur geringen Niederschlag fanden, bleibt seine alte ›Passion‹ für die Probleme der Kunst ungebrochen wirksam. Dafür zeugen in den Novellen und Romanen die immer wieder so frappierend modernen Gedanken zur bildenden Kunst.142

Teils zeigen sie sich in der Textkonzeption und Einbindung von Gemälden, häufiger jedoch werden sie Figuren in »Form des Kunst- und Galeriegesprächs, dem der ›Causeur‹ Fontane besondere Aufmerksamkeit widmet«143 in den Mund gelegt: »It is striking how often the figures in the novels talk about the visual arts and about visual perception”.144 Die vorliegende Arbeit will der Funktion dieser Kunstgespräche sowie all den vielfältigen Spuren der Fontaneschen Auseinandersetzung mit Konzeption, Inhalt, Gestaltung, Rezeption und Vermarktung von Malerei in seinem literarischen Schaffen nachgehen. In Anbetracht seiner Leidenschaft für die Malerei und seiner umfassenden Kenntnis zeitgenössischer Künstler und Werke sowie des Kunstmarktes geht sie dabei von einem _____________ 138 139 140 141 142 143 144

Ebd., S. 486. NFA 23/1, S. 140 Ebd., S. 146. Vgl. Riechel, Theodor Fontane and the Fine Arts, S. 50. Fricke, Nicht auf Kosten des Lebens, S. 70. Wagner-Douglas, Alte Meister, S. 231. Riechel, Theodor Fontane and the Fine Arts, S. 47.

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3. Historischer Hintergrund

sehr durchdachten Einsatz von Gemälden im fiktionalen Werk aus. Welchen Wert auch Hugo Aust diesen »vielsagenden Rollen von Bildern [...] im Erzählwerk«145 beimisst, zeigt folgende Feststellung: »Über das Requisitenspiel mit Bildern im Erzählwerk Auskunft zu geben heißt soviel wie alle seine Erzählungen zu interpretieren«.146

3.3. Die Rezeption der Photographie durch die Literatur 3.3.1. Die Photographie im poetischen Realismus Der Großteil der poetischen Realisten schloss sich dem verbreiteten zeitgenössischen Urteil an, Daguerreotypien könnten das Wesentliche oder die Idee der Dinge nicht wiedergeben, und leitete daraus eine negative Wertung des Mediums ab. In kunsttheoretischen Schriften betonten die poetischen Realisten daher, in ihren Romanen »keineswegs Daguerreotypen einer alltäglichen Wirklichkeit«147 geben zu wollen und lehnten auch ›daguerreotypistische‹ oder ›photographische‹ Arten der literarischen Beschreibung ab.148 Sie grenzten sich damit von den deutschen Naturalisten sowie den französischen und englischen Realisten ab, die erklärtermaßen nach einer anfänglich noch dem poetischen Realismus näheren Vorstellung später mit positivistisch-wissenschaftlichem Selbstverständnis der Photographie nacheifern wollten, insbesondere in Bezug auf den Detailrealismus und die Begrenzung auf das Sichtbare.149 So lehnten die poetischen Realisten Gustave Flauberts _____________ 145 146 147 148 149

Aust, Literatur- und Kunstkritik, S. 880. Aust, Fontane und die bildende Kunst, S. 410. Karl Gutzkow, zitiert in: Plumpe, Theorie, S. 179. Vgl. Buddemeier, Panorama, Diorama, Photographie, S. 79. Vgl. Köhnen, Das optische Wissen, S. 404. Der frühe Naturalismus zielt noch nicht auf die Erfassung allein der sichtbaren Oberflächen, sondern will auch die inneren Zusammenhänge bzw. das Wesen der Dinge realitätsgetreu darstellen. Wie die Realisten »begnügt sich Zola nicht einfach mit der reinen Wiedergabe der Dinge, vielmehr will er deren Gesetzmäßigkeiten zeigen sowie Innenansichten bieten […], womit die Ansprüche der Fotografie übertroffen werden sollen« (ebd., S. 405). Doch in der weiteren Entwicklung des Naturalismus wollen seine Vertreter »[u]nter dem Vorzeichen der empirischen Wissenschaften […] ganz auf die oberflächengetreue Abbildung setzen, wobei der Naturalist nicht mehr zwischen dem Wesen oder dem Kern der Dinge und ihrer Erscheinung differenziert. Was die Kamera optisch leistet, soll nun mit Sprache dargestellt werden, um ihre Alltagsgestalt ohne Verklärung wiederzugeben« (ebd., S. 404). Als Mittel dieses detailgenauen Sprachrealismus’ in Analogie zum Bildrealismus der Photographie findet der späte Naturalismus u.a. zum Sekundenstil. Arno Holz bringt diese Verabschiedung von der künstlerischen Überformung und Durchdringung zugunsten des Vorhabens, die Kunst der Natur so weit als möglich anzunähern, mit seiner bekannten Formel »Kunst=Natur-x« auf den Punkt (ebd., S. 407).

3.3. Die Rezeption der Photographie durch die Literatur

67

Romankunst aufgrund ihrer »Gleich-Gültigkeit aller Elemente einer kontingenten Welt«150 ab, ebenso Stendhals Definition des realistischen Romans als Spiegel, der alles reflektiert, was die Welt zeigt, inklusive dunkler oder schmutziger Stellen.151 Diese Spiegelbildmetapher, die mit dem Bild der als totes, »fixiertes Spiegelbild der Natur«152 aufgefassten Daguerreotypie austauschbar war, wurde gleichermaßen für die literarische Beschreibung wie für das einem Roman zugrunde gelegte Kunstkonzept verwendet.153 Spiegelbild und Photographie standen in diesen Auffassungen für die von den poetischen Realisten kritisierte Wiedergabe des Zufälligen und Fragmentarischen, denn »im Spiegel erscheine die ganze Zufälligkeit eines willkürlichen Ausschnitts, nie die Gesamtheit der Natur«.154 So verurteilte Fontane eine solche detailgenaue Schilderung aller beliebigen Bereiche der Wirklichkeit oder »das nackte Wiedergeben des alltäglichen Lebens«155 als oberflächliche und falsch verstandene Kunstauffassung. Statt zufälliger Ausschnitte wollten die Realisten gezielt ausgewählte Aspekte zeigen und das Charakteristische darstellen, statt Fragmenten sollte ihre Literatur die Totalität, eine ganze, in sich geschlossene Welt mit ihren Tiefenstrukturen wiedergeben,156 statt die Objekte durch das Anhalten des Moments zu mortifizieren wollte man »das Tote ruhen« lassen und »das Leben je frischer je besser« einfangen.157 Wie einige Zeitgenossen ignorierten die Schriftsteller mit dieser Argumentationsweise allerdings – möglicherweise durchaus beabsichtigt, da sie die Abwertung und Abgrenzung gegenüber dem Konkurrenzmedium für notwendig hielten – die Konstruiertheit und Gestelltheit der frühen Photographien. Die der Photographie zugeschriebene Zufälligkeit war in ihrer Anfangszeit noch sehr gering, sowohl der Ausschnitt wurde genau gewählt, als auch der Inhalt (etwa bei Porträts) bewusst künstlerisch zu einem gemäldeartigen Gesamtbild arrangiert, wodurch der Fragmentcharakter gleichermaßen gering gehalten wurde. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie gewollt die nach außen offensiv zur Schau getragene Ablehnung des Bildmediums durch die poetischen Realisten war. _____________ 150 Gerhard Plumpe, Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus, München 1990, S. 35. 151 Vgl. a. Stiegler, Philologie des Auges, S. 203–210. 152 Kemp, Vorwort, S. 25. 153 Vgl. Buddemeier, Panorama, Diorama, Photographie, S. 79. 154 Plumpe, Der tote Blick, S. 34. 155 HFA III/1, S. 240. 156 Vgl. Boris Röhrl, Kunsttheorie des Naturalismus und RealismuS. Historische Entwicklung, Terminologie und Definitionen, Hildesheim/Zürich et al. 2003, S. 58. 157 HFA III/1, S. 242.

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3. Historischer Hintergrund

Eines ihrer weiteren Ziele war die Vermittlung von ›Wahrheit‹ durch ihre Kunst: »Der Realismus will nicht die bloße Sinnenwelt und nichts als diese; [...] er will das Wahre«.158 Auch dies konnte die Photographie trotz bzw. sogar wegen ihrer detailgetreuen, aber zufälligen Wirklichkeitswiedergabe nach Ansicht der Schriftsteller nicht leisten. Erreichbar schien diese Aufgabe den poetischen Realisten, deren Realismus »eine Einheit von Idealem und Realem«159 darstellte, stattdessen nur durch »poetische Verklärung«160 und eine deren Tiefenstrukturen erfassende, leichte Idealisierung der Realität: »Wer wahllos kopiert, ist Realist im schlimmsten Sinne; wer hingegen idealisierende Elemente aufgreift, kann als Realist im positiven Sinne bezeichnet werden«.161 Auch hiermit jedoch wurde der Photographie eine Eigenschaft abgesprochen, die sie gerade in ihrer Anfangszeit noch besaß, denn auch ihr galten zunächst bestimmte Motive als nicht-darstellungswürdig. Auch kann ein Äquivalent zum idealisierenden Vorgehen der Realisten im Arrangement und insbesondere der nachträglichen Retouche und Kolorierung gesehen werden.162 Zudem versuchten Kunstphotographen wie Nadar in ihren Porträts in einer alles andere als wahllosen, sich intensiv auf das Objekt einlassenden Herangehensweise charakteristische Gesichtsausdrücke festzuhalten, in denen sich individuelle Züge und damit ebenfalls innere ›Wahrheiten‹ der Abgebildeten enthüllten. Darüber hinaus befasste die Photographie »sich gelegentlich auch mit fantastischmagischen Inhalten und appellierte an die Imagination«.163 Sie sah ihre Aufgabe also nicht grundsätzlich allein in der bloßen Wiedergabe des objektiv Sichtbaren, sondern suchte seit 1860 auch »das Nichtsichtbare, das Übersinnliche, allerhand Geistererscheinungen«.164 Insgesamt lassen sich diese Gegenüberstellungen der positiven Eigenschaften einer künstlerischen Wirklichkeitswiedergabe vs. der negativen einer photographischen nach Plumpe und Köhnen folgendermaßen zusammenfassen: Mensch – Maschine, Schöpfung – Kopie, Leben – Tod, Aktivität – Passivität, Wesen – Erscheinung, Tiefe – Oberfläche, Ganzheit – Detail, Notwendigkeit – Kontingenz, Wahrheit – Lüge, Reinheit – Unreinheit, Idealität – Materialität165

_____________ 158 159 160 161 162

HFA III/1, S. 242. Röhrl, Kunsttheorie, S. 56. HFA III/1, S. 237. Röhrl, Kunsttheorie, S. 57; vgl. zu den gesamten Ausführungen Plumpe, Theorie, S. 161–183. Vgl. Sabina Becker, Literatur im Jahrhundert des Auges. Realismus und Fotografie im bürgerlichen Zeitalter, München 2010, S. 79f. 163 Köhnen, Das optische Wissen, S. 410. 164 Ebd. 165 Köhnen, Das optische Wissen, S. 385.

3.3. Die Rezeption der Photographie durch die Literatur

69

Neben der Ausblendung unliebsamer Aspekte des Bildmediums zeigt sich das Forcierte der Abgrenzung gegenüber Photographie und naturalistischen Schreibweisen damit auch in der auffällig stereotyp geführten Diskussion. Zudem wird die Unhaltbarkeit dieser polarisierenden Ansichten dadurch deutlich, dass die poetischen Realisten in ihren poetologischen Schriften genau dieselben Vorwürfe gegenüber dem Bildmedium bzw. eine ihm analoge Schreibweise erhoben, die Kritiker der realistischen Literatur selbst anlasteten: Der Detailreichtum mit seiner Nivellierung von Wesentlichem und Unwesentlichen missfiel gleichermaßen bei ihren bis ins Kleinste gehenden Beschreibungen und der Darstellung alltäglicher Handlungen.166 Auch das Mortifizierende fanden Kritiker in der handlungsarmen Literatur mit ihren die Zeit anhaltenden Beschreibungen wieder, in denen das Dargestellte zu ›toten Bildern‹ gerann.167 Mit Köhnen lässt dich das Verhältnis zwischen Photographie und Literatur damit folgendermaßen auf den Punkt bringen: »In wirklicher Gegenposition zur Fotografie befindet sich die Literatur nur im programmatisch-polemischen Diskurs«.168 In Anbetracht dieser absichtlichen Zurückweisung, die insbesondere durch die unterschwellige Parallelität einiger literarischer Verfahrensweisen mit photographischen notwendig schien, verwundert es kaum, dass sich die Begeisterung ihrer Zeitgenossen bei den poetischen Realisten nicht wiederfand – zumindest nicht in der Form, dass die Photographie zu einem beliebten literarischen Motiv geworden wäre. Gerhard Plumpe stellt dazu in seiner Untersuchung zeitgenössischer Diskurse über die Photographie fest: Eine Stoffgeschichte der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts fände zu einer Rubrik ›Photographie‹ nur wenig Material vor. Beschränkte man sich auf die sog. ›hohe‹ Literatur, müßte sie gänzlich Fehlanzeige melden, hätte nicht Wilhelm Raabe in einer Erzählung [in Der Lar, N.H.] der Figur des Photographen einige Bedeutung beigemessen.169

Plumpe fasst die literarischen Reaktionen als Schweigen (aufgrund von Ablehnung) und Gelächter (begründet in heimlicher Anziehung und der Annahme, die ästhetischen Prinzipien der Literatur seien denen der Photographie überlegen) zusammen. Rolf H. Krauss ergänzt dieses Urteil in seiner Arbeit über die Beziehungen zwischen Photographie und Literatur im 19. Jahrhundert: »Weder Schweigen noch Gelächter haben die subversive Kraft der Photographie bändigen können. Über das Unterbewusstsein der Schreibenden ist sie in deren Texte eingeflossen _____________ 166 167 168 169

Vgl. Becker, Literatur im Jahrhundert des Auges, S. 124–127. Vgl. ebd., S. 72–75. Köhnen, Das optische Wissen, S. 409. Plumpe, Der tote Blick, S. 165.

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3. Historischer Hintergrund

und hat dort ihre Spuren hinterlassen«.170 So finden sich etwa – während das Thema selbst in Texten des Realismus höchstens beiläufig erwähnt wird – durch die Photographie angeregte Veränderungen literarischer Beschreibungen und der literarischen Ästhetik, wie Sabina Becker nachweist.171 Parallelen liegen neben der genrell verstärkt auf Visuelles ausgerichteten Schreibweise in den bereits genannten Merkmalen des Detailreichtums und der Mortifizierung durch zeitanhaltende Beschreibungen, die, wie Becker darstellt, als Gegenbewegung zu den Beschleunigungstendenzen der Moderne aufzufassen sind.172 Dass eine solche möglichst detailgetreue und wirklichkeitsnahe Schreibweise als Anlehnung an die Photographie zu verstehen ist, lässt sich zudem anhand der Titel zeitgenössischer Texte belegen: Einige beschreibende Texte bezeichnen sich als ›Daguerreotypen‹ oder ›Photographien‹, beispielsweise Friedrich Wilhelm Hackländers Reisebeschreibung Daguerreotypen. Aufgenommen während einer Reise in den Orient. Daneben ist noch eine weitere Parallele zwischen Photographie und Literatur zu beobachten, auf die Köhnen173 verweist: Beide Medien setzen sich verstärkt mit der Zeichenhaftigkeit von Sehen und Wahrnehmung auseinander, mit dem Problem der Differenz zwischen dem äußeren Zeichen und dem inneren Vorstellungsbild174 sowie der »Grundfrage nach der Abbildbarkeit der Dinge bzw. ihren Zeichenkonstitutionen«.175 Im Gegensatz zur Photographie kann die Literatur des Realismus dabei die Zeichenhaftigkeit alles Visuellen und auch ihrer selbst sowie ihres Mediums, der Sprache reflektieren und thematisieren und auch ihren Figuren ein solches Bewusstsein für die Problematik eines blinden Vertrauens in die eindeutige Lesbarkeit von Zeichen einschreiben, wie es Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere in Charles Sanders Peirce’s Semiotik greifbar wurde und die gesamte Literatur des Realismus prägte.176 _____________ 170 171 172 173

Krauss, Photographie und Literatur, S. 161. Vgl. Becker, Literatur im Jahrhundert des Auges. Vgl. ebd., S. 253–278. Köhnen analysiert speziell Kellers Grünen Heinrich und Stifters Nachsommer auf Einflüsse durch die Photographie, speziell auf Übernahmen von photographischen Wahrnehmungsmustern durch die Figuren, deren Seh- und Malweisen einerseits technisch geprägt sind, was sich etwa in des grünen Heinrich Kopiertätigkeit in jungen Jahren zeigt. Doch eine solcherart photographieanaloge Sehweise bzw. »[n]aturwissenschaftliches Analysieren ist nur eine Vorstufe des poetisch ganzheitlichen Verfahrens, die Vorrangstellung des Geistes vor dem Stoff bzw. den Gestaltungen bleibt unangetastet« (Köhnen, Das optische Wissen, S. 401). Am Ende der Bildungswege siegt ein Sehen, das die poetische Imagination integriert. 174 Vgl. Köhnen, Das optische Wissen, S. 374f. 175 Ebd., S. 416. 176 Vgl. Hans Vilmar Geppert, Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1994. Nach

3.3. Die Rezeption der Photographie durch die Literatur

71

Doch die aufgezeigten Parallelen führten nicht zu einem Gemeinschaftsgefühl zwischen Photographen und Schriftstellern, sondern ganz im Gegenteil zur Entwicklung eines Konkurrenzgefühls, wie es auch in der Betitelung literarischer Werke zum Ausdruck kommt. Vor dem Aufkommen der Photographie teilte sich die Literatur die Aufgabe der Vermittlung von Bildern durch sprachliche Beschreibung noch mit der Malerei, weshalb damals Texte, deren Bildlichkeit betont werden sollte, als Ansichten oder Panoramen vermarktet wurden. Die Malerei jedoch war weniger allgegenwärtig als die Photographie und zudem in der Wiedergabe der Details auf ähnlichem Stand wie die Literatur. Erst »die Photographie erweist sich als überlegen gegenüber der Beschreibung«,177 zumindest aus Sicht der Photographen. Daher geriet die Literatur mit der Photographie in einen härteren Konkurrenzkampf als zuvor mit der Malerei. Vor allem an Reise- und Kriegsberichten – beides Metiers, die auch Fontane pflegte, so dass er die Konkurrenz durch die Photorgaphie deutlich zu spüren bekam – sowie Stadtbeschreibungen wird deutlich, dass die Literatur sich das Feld mit der Photographie teilen musste, wobei sie in Bezug auf Genauigkeit, Anschaulichkeit und Wirklichkeitsnähe ins Hintertreffen geriet. Auch die sich rasch ausbreitenden Zeitschriften mit ihrer »Kopräsenz von Bild und Text«178 trugen ihren Teil dazu bei, den Wettstreit zwischen beiden Medien zu verstärken. »[D]ie ›Gartenlaube‹ [in der auch Fontane häufig veröffentlichte, N.H.], vorher bereits die Leipziger ›Illustrierte Zeitung‹ und ab 1850 zahllose andere Blätter vergleichbarer Machart [enthielten] nicht nur Schrift, sondern auch Bilder«.179 Solche Illustrationen erfolgten teils durch Zeichnungen, im Laufe der Zeit dann häufiger mit Abdrucken von nach Photographien angefertigten Kupferstichen, so dass auch hier die Photographie stärker als die Malerei in Konkurrenz mit dem Text trat. Die Photographie übernahm noch eine weitere Aufgabe, die vorher der Schrift zugefallen war: die des »Einfangens und Festhaltens der vergehenden Erfahrung, des Aufnehmens von Präsentem und seiner

_____________ Geppert waren die Realisten durch eine bewusste Krisenhaftigkeit der Wirklichkeitserkenntnis geprägt, durch das Wissen, dass sich die Realität nur durch jeweils individuell unterschiedlich interpretierte Zeichen vermitteln lässt, und so legten sie auch ihre Romane als aus Zeichen aufgebaute, vom Leser zu entschlüsselnde Textwelten an. 177 Stiegler, Philologie des Auges, S. 54. 178 Rudolf Helmstetter, Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus, München 1997, S. 50. 179 Ebd., S. 57.

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3. Historischer Hintergrund

Aufspeicherung für die Zukunft«,180 der Erinnerung und Vermittlung über Zeiten und Räume hinweg.181 Das Album mit Photographien war in den 50er/60er Jahren des 19. Jahrhunderts mit den ersten Ansätzen zur industriellen Herstellung photographischer Erzeugnisse aufgekommen und hatte bald die davor gebräuchlichen Formen mit handgeschriebenen Eintragungen, selbstgefertigten Zeichnungen und Skizzen abgelöst.182

So wurden nach und nach Tagebücher, Reiseaufzeichnungen und Notizsammlungen von Photoalben verdrängt, ebenso wie man bald statt Briefen schneller und leichter Postkarten mit photographischen Abbildungen verschickte. Diese sich auf verschiedensten Ebenen abspielende Konkurrenz zwischen schriftlicher Aufzeichnung und Photographie hat vermutlich bei der allgemeinen Ablehnung und Abwertung der Photographie durch die Schriftsteller eine gewisse Rolle gespielt.183 Ein weiterer Grund für die Zurückweisung des neuen Mediums lag darin, dass viele Autoren es – sowohl durch die ohne viel menschliches Zutun stattfindende Aufnahme des Bildes durch den Apparat als auch wegen seiner Vervielfältigungsmechanismen – als Teil der als bedrohlich empfundenen Prozesse von Modernisierung und Industrialisierung wahrnahmen. 3.3.2. Fontanes Erfahrungen mit und Einstellungen zur Photographie Fontane, dessen »Leben während des damals oft diskutierten Aufschwungs der Photographie stattf[and]«,184 verwendete die Photographiemetaphorik auffallend häufig in seinen Beurteilungen literarischer _____________ 180 Rosalind Krauss, Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München 1998. S. 205. 181 Beispielsweise führt man heutzutage selten Reisetagebücher, wie es noch Fontane tat, sondern nimmt eher unterwegs Erinnerungsphotographien auf. 182 Timm Starl, Erinnern um zu vergessen. Zur Entstehung der Bildwelt der Knipser. In: Andreas Volk (Hrsg.), Vom Bild zum Text. Die Photographiebetrachtung als Quelle sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, Zürich 1996, S. 67. 183 Gerhard Sauder, Erzähler und Photographen. Kunst und Tod in Texten des späten 19. Jahrhunderts. In: Tim Mehigan und Gerhard Sauder (Hrsg.), Roman und Ästhetik im 19. Jahrhundert: Festschrift für Christian Grawe zum 65. Geburtstag, Sankt Ingbert 2001, S. 279. 184 Gabriele Wittig-Davis, ›Von den anderen…hat man doch mehr‹? Kunst und Wirklichkeit, Weiblichkeit und Fremdsein in Theodor Fontanes ›Mathilde Möhring‹ als Roman und Film. In: Hanna Delf von Wolzogen und Helmuth Nürnberger, (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes 13.–17. September 1998 in Potsdam, Bd. 2, Würzburg 2000, S. 219. Wittig-Davis stellt die zitierte Tatsache zwar fest, geht jedoch nicht weiter auf sich daraus ergebende Beeinflussungen Fontanes durch die Photographie ein.

3.3. Die Rezeption der Photographie durch die Literatur

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Werke.185 Einerseits lobte er die »Vorzüge des englischen Romans« von Charles Dickens186 und William Makepeace Thackeray mit »daguerreotypisch treuer Abschilderung des Lebens und seiner mannigfachsten Erscheinungen«.187 ›Daguerreotypisch‹ implizierte in diesem Zusammenhang für Fontane, dass jedes Detail, unabhängig von der Bedeutung für den Verlauf der Geschichte, mit der gleichen Genauigkeit beschrieben wird: »Der letzte Knopf am Rock und die verborgenste Empfindung des Herzens werden mit gleicher Treue wiedergegeben«.188 Andererseits jedoch urteilte er: »Mit dem bloßen Daguerreotyp des Lebens ist es freilich nicht getan, die Kunst erheischt mehr«.189 Auch über Iwan S. Turgenjew schrieb er in einem Brief an Emilie vom 24.06.1881: Er beobachtet alles wundervoll: Natur, Thier und Menschen, er hat so was von einem photographischen Apparat in Aug und Seele [...]. Ich bewundre die scharfe Beobachtung [...], aber eigentlich langweilt es mich, weil es [...] so grenzenlos prosaisch, so ganz unverklärt die Dinge wiedergibt. Ohne diese Verklärung gibt es aber keine eigentliche Kunst.190

Ähnlich kritisierte er eine Theateraufführung der Familie Selicke folgendermaßen: Das Stück beobachtet das Berliner Leben und trifft den Berliner Ton in einer Weise, daß auch das Beste, was wir auf diesem Gebiet haben, daneben verschwindet. […] In Wirklichkeit geht es zwar so her und wem die photographische Treue alles bedeutet, der wird auch diese richtige Beobachtung des Lebens bewundern müssen; die Bühne aber […] hat ihre eigenen bestimmten Gesetze, von denen vorläufig nicht wohl abzusehen ist.191

Fontane stimmte demnach in seinem Urteil über den mangelnden Kunstcharakter der Photographie sowie der photographieanalogen Schreibweise mit den anderen Vertretern des poetischen Realismus überein und verwendete wie diese den Begriff der Daguerreotypie in seinen literaturtheoretischen und theaterkritischen Schriften als Negativbeispiel. Dennoch war er sich der Bedeutung der Photographie für sein Zeitalter sowie ihres starken Einflusses auf die Kunst bewusst. Dies zeigt sich darin, dass er die »neueste Kunst- und Weltepoche« im zwischen 1859 und 1881 entstandenen Wanderungen-Band Spreeland als »die ›lichtbildnerische‹ « bezeichnet, der »eine vor-lichtbildliche Zeit« vorangegangen sei, die nicht den Detailrealismus in den Mittelpunkt gestellt habe, sondern das _____________

185 Vgl. Plumpe, Der tote Blick, S. 174. 186 Fontane nennt Dickens nach dessen zu Anfang seiner schriftstellerischen Tätigkeit gebrauchtem Pseudonym »Boz« (NFA 21/1, S. 216). 187 NFA 21/1, S. 216f. 188 Ebd., S. 217. 189 NFA 22/3, S. 113. 190 GBA, Der Ehebriefwechsel 3, S. 247f. 191 HFA III/2, S. 846

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3. Historischer Hintergrund

Ideal.192 Über seine Erfahrungen mit der Photographie und seine persönliche Einschätzung des Mediums jedoch ist wenig bekannt.193 Aus der relativ großen Anzahl von photographischen Porträts des Schriftstellers, die häufig als Vorlagen für in Zeitschriften veröffentlichte Holzstiche dienten,194 lässt sich allerdings schließen, dass er privat keine besondere Abneigung gegen die Photographie hegte und mit ihr bestens vertraut war. Weiter legen dies für die damalige Zeit typische Atelieraufnahmen seiner Kinder in sorgsam hergerichteten, theatralisch wirkenden Posen, Porträtbilder seiner Frau Emilie und schließlich eine zwanzig Jahre später entstandene Photographie Fontanes mit Mete, die beide im Freien in natürlicherer Haltung zeigt, nahe – die Photographie mit ihren voranschreitenden Entwicklungsstufen war demnach über verschiedene Phasen seines Lebens hinweg ein ständiger Begleiter Fontanes.195 Auf gemalte Porträts reagierte er häufig mit Zweifel an der Ähnlichkeit des Bildes mit sich selbst, so dass sich vermuten lässt, dass er in der Photographie eine wirklichkeitsgetreuere Abbildungsart gesucht habe, in der er sich wieder erkennen konnte. Seine Heimat Berlin als damals größte deutsche Stadt war der Ausgangspunkt für die Verbreitung der Photographie in Deutschland. »In ihr gab es Ende 1839 mehr an der Erfindung Daguerres interessierte Wissenschaftler, Liebhaber und Geschäftsleute, als in jeder anderen [deutschen Stadt]«,196 so dass das Phänomen auch Fontane nicht unberührt lassen konnte. Dementsprechend nennt auch Jörg Probst in seiner Chronik 1839 die Erfindung der Photographie und 1840 die Einrichtung eines Photoateliers im Berliner Kunstsalon Sachse als wichtige Ereignisse der Kunstöffentlichkeit mit Bezug auf Fontanes Leben.197 Mit der Durchsetzung des neuen Verfahrens der Papierkopie von Glasnegativen gegenüber dem vorherigen der Daguerreotypie kam es zwischen 1853 und 1860 zu 70 Neugründungen photographischer Ateliers in Berlin, wodurch die Berliner Öffentlichkeit, und mit ihr Fontane, ein weiteres Mal auf das Phänomen _____________ 192 WMB 12, S. 396. 193 Vgl. Bärbel Reißmann und Hela Zettler, Reisebilder. In: Stiftung Stadtmuseum Berlin, Fontane und sein Jahrhundert, S. 199–203. 194 Vgl. Klaus-Peter Möller, ›Bin ich’s denn wirklich?‹. Fontane-Porträts und -Bildnisse (1). In: Fontane Blätter 75 (2002), S. 27. 195 Vgl. die Abdrucke dieser Photographien in Bettina Machner, Auf der Suche. Vom Apotheker zum Staatsdiener. Vom Tunnelianer zum freien Schriftsteller. In: Stiftung Stadtmuseum Berlin, Fontane und sein Jahrhundert, S. 69; Trude Trunk, ›Weiber weiblich, Männer männlich‹. Frauen in der Welt Fontanes. In: Stiftung Stadtmuseum Berlin, Fontane und sein Jahrhundert, S. 169f, 175. 196 Ludwig Hoerner, Die Einführung der Photographie in den Metropolen und in der Provinz (1839– 1860). In: Dewitz und Matz, Silber und Salz, S. 114. 197 Vgl. Jörg Probst, Chronik. In: Keisch, Schuster et al. (Hrsg.), Fontane und die Bildende Kunst, S. 29.

3.3. Die Rezeption der Photographie durch die Literatur

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der Photographie aufmerksam gemacht wurde. Die Bilder wurden nicht nur in Schaufenstern von Photoateliers präsentiert, sondern auch in Kunsthandlungen und Kunstvereinen, so dass sie dem kunstinteressierten Fontane spätestens ab 1843 als »ständig präsente[s] und quantitativ expandierende[s] Ausstellungsgut«198 häufig ins Blickfeld geraten sein müssen, zumal »Visiten im Kunstverein [...] zu den festen Einrichtungen einer bürgerlichen Freizeitkultur«199 zählten. Zudem fand 1865 die damals bedeutendste internationale Photographieausstellung, die 13.000 Besucher anlockte, ebenfalls in Berlin als »wirtschaftliche[m] Zentrum der photographischen und chemischen Industrie«200 statt. Dass Fontane über zeitgenössische Verwendungsweisen der Photographie auf dem Laufenden war und sich seine eigene Meinung darüber bildete, bezeugt etwa seine Aufzeichnung vom 27.08.1851 zu einem englischen Zeitungsartikel über den Krieg in Indien:201 Wenn aber ein Leitartikelschreiber [...] ausruft: ›Vor allem muß die Kapelle Aurungzebs (des größten der Großmoguls) zerstört werden, versteht sich, nachdem sie zuvor photographiert worden ist‹, so spricht sich darin eine Kleinheit der Empfindung und eine Ledernheit des Geistes aus [...]. Das ist die Leidenschaft einer Geliebten, die zugleich an ihre Halskrause denkt [...]. (Das ist die Kriegswut eines gebildeten Ellenreiters, welcher sich vom Feindesrock ein Muster nimmt zu profitabler Nachahmung, ehe er auf das Original einhaut.202

Fontane nimmt hier Bezug auf die gängige Praxis der photographischen Dokumentation und Aneignung Indiens, wie sie seit 1855 von der East Indian Company den englischen Militärkadetten empfohlen wurde, um Zeichnung und Lithographie zu ersetzen.203 Diese penible Sicherungs-, Dokumentations- und Sammlungslust, die durch die Photographie neue Ausmaße annahm, scheint ihm ebenso missfallen zu haben wie die Nutzung von Photographien als »Zeugnisse[n] einer rücksichtslosen Aneignung von Territorien, deren wirtschaftliche und wissenschaftliche Erschließung mit der photographischen Dokumentation einherging«.204 Auch als Aufzeichnungsmedium für naturwissenschaftliche Forschung ist die Photographie Fontane bekannt, wie aus einem Tagebucheintrag am Rande hervorgeht: Dort schreibt er am 20.05.1856, er habe während einer in den Räumen der Pharmaceutical Society in London stattfindenden »Conversazione« »schöne Photographieen, neue Präparate und Instrumen_____________ 198 199 200 201 202 203 204

Pohlmann, ›Harmonie zwischen Kunst und Industrie‹, S. 498. Ebd. Ebd., S. 511. Für den Hinweis auf diese Textpassage danke ich Rudolf Muhs. NFA 18a, S. 746f. Vgl. Pohlmann, ›Harmonie zwischen Kunst und Industrie‹, S. 10. Ebd., S. 8.

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3. Historischer Hintergrund

te u. dgl. m.«205 gesehen. Zu einem Besuch Julius Schweitzers im LondonHospital vermerkt er am 17.08.1856: »Hübsche Sammlung von photographischen Porträts gesehen«206 und zeigt damit auch seine Wertschätzung des Mediums für Porträtaufnahmen. Vergnügen fand er ebenso an photographischen Gemäldereproduktionen, wie folgender Kommentar vom 13.03.1858 nahe legt: »Packet in Empfang genommen, mit Büchern und Briefen [...]; auch eine reizende Photographie ›die spielenden Kinder‹ nach dem bekannten Meyerheimschen Bilde«.207 Schließlich lässt auch der Eintrag vom 25.03.1857: »Am Strand einige Kleinigkeiten (Photographieen) gekauft«208 Interesse und Gefallen am neuen Bildmedium durchblicken. Somit nahm Fontane von allen Verwendungsbereichen, für die die Photographie im 19. Jahrhundert als bahnbrechend angesehen wurde, Kenntnis. Dabei zeigte er sich von genau den Merkmalen begeistert, die auch für seine Zeitgenossen von besonderer Bedeutung waren und das Neuartige und Charakteristische des Mediums ausmachen. Deutlich wird dies in einer Passage aus den Wanderungen, wo er die Photographie inklusive ihrer bedeutendsten damaligen Assoziationen als Vergleichsmedium heranzieht, um seiner Faszination von der Wahrnehmungs- und Gedächtnisfähigkeit einiger hervorragender Maler Ausdruck zu verleihen. Er stellt so eine Verbindung zwischen Malerei und Photographie her, indem er einigen Malern eine Fähigkeit bescheinigt, die im heutigen Sprachgebrauch als ›photographisches Gedächtnis‹ bezeichnet werden würde. Diese können laut Fontane das »allerflüchtigst Wahrgenommene« »wie ein Lichtbild« »auf viele Jahre hin, um nicht zu sagen für immer, in ihrer Vorstellung [...] bewahren«.209 Als charakteristische Merkmale der Photographie benennt Fontane damit zum einen die Geschwindigkeit der Aufnahme, zum anderen ihre Fähigkeit der dauerhaften Speicherung kurzlebiger Eindrücke. Wie seinen Zeitgenossen galten auch ihm Photographien »als ›Spiegel mit einem Gedächtnis‹ «, was beinhaltete, dass »die Bilder der Camera obscura [...] zu Modellen des Gedächtnisses« und umgekehrt »das Gedächtnis [...] zur Photographie« erklärt wurde.210 Diese Verbindung von Gedächtnis und Photographie verweist auf das Wesen der Photographie, das unter anderem in der Funktion besteht »eine Art ›ausgelagertes Ge_____________ 205 206 207 208 209

GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 121. Ebd., S. 160. Ebd., S. 313. Ebd., S. 234. Vgl. WMB 9, S. 101. Weitere Ausführungen zu dieser Textstelle und ihrem Bezug zu Helmholtz’ Wahrnehmungstheorie finden sich in Kapitel 3.4.1. der vorliegenden Arbeit. 210 Stiegler, Bilder der Photographie, S. 102.

3.3. Die Rezeption der Photographie durch die Literatur

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dächtnis‹ darzustellen«211 und Vergangenes zu speichern, um es später mit Hilfe dieser »besonders starke[n] Abrufreize[n] für Erinnerungen«212 erneut abrufen zu können. Schließlich fehlt auch die charakteristische Begeisterung von der vollkommen exakten Wiedergabe der Details bei Fontane nicht, denn in seiner weiteren Ausführung des Vergleichs fasziniert ihn insbesondere die »frappanteste Naturwahrheit« und »staunenswerte[...] Treue«, so dass die von den Malern hergestellten Bilder wie Photographien als »vollständig ähnlich befunden« werden.213 Damit schreibt Fontane der Photographie dieselben Merkmale zu, die seine Zeitgenossen am neuen Medium faszinierten: Schnelligkeit, Detailgenauigkeit und Dauerhaftigkeit.214 Während die genannten Passagen aus den 1850er bis 1860er Jahren Fontanes Wertschätzung der Photographie sowie seine Einbindung in die zeitgenössischen Diskurse nahelegenden, findet sich in einem relativ späten Brief von 1895 erstmals in seinen privaten Aufzeichnungen eine ausführlichere und differenziertere Stellungsnahme zu ihren Eigenschaften, der zu entnehmen ist, dass der Schriftsteller sich tatsächlich intensiver mit ihr auseinandersetzte: Fontane äußert sich hier über eine im Daily Graphic’s abgedruckte Photographie mit »dem großen Gruppenbild der ins Parlament Gewählten«, an der ihm wie auf allen englischen photographischen Bildern – das auffällig [ist], daß sie alle wie Deutsche aussehn. Ein spezifisch englisches Gesicht hat nicht ein einziger,

_____________ 211 Stefan Guschker, Bilderwelt und Lebenswirklichkeit. Eine soziologische Studie über die Rolle privater Fotos für die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens, Frankfurt am Main/New York 2002, S. 262. 212 Ebd., S. 266. 213 WMB 9, S. 101. 214 Diese Merkmale finden sich auch in Fontanes weiteren Ausführungen zur Fähigkeit einiger Maler, sich Objekte wie Photoapparate einzuprägen und wiederzugeben. Fontane schreibt, Turner habe sich »die Szenerie von Calais (bloß dadurch, daß sein Auge einen Moment darauf ruhte) so vollständig eingeprägt, daß er das bestellte Bild in frappantester Naturwahrheit aus dem Kopfe malen konnte. Ein anderes Mal zeichnete er mit raschen Strichen einen Dreimaster aufs Papier, den er länger als zwanzig Jahre vorher auf der Reede von Spithead hatte tanzen sehen. Das Schiff existierte noch in Portsmouth oder Plymouth und man verglich die Zeichnung damit. Zum Staunen aller ergab sich, daß Turner sogar die Zahl und Stellung der Stückpforten völlig richtig wiedergegeben hatte« (WMB 9, S. 101). Auch an Schinkel bewundert Fontane, dass er tagsüber in der Natur begonnene Studien abends »mit staunenswerter Treue und von einem nie irrenden Gedächtnis unterstützt im einzelnen« (ebd.) ausführte, ebenso an einem weiteren, nicht benannten Maler, dass er das Gesicht eines drei Wochen zuvor kurz gesehenen Mädchens aus dem Gedächtnis wirklichkeitsgetreu zu zeichnen vermochte – »Und der Maler zeichnete alsbald einen Kopf, der vollständig ähnlich befunden [...] wurde« (ebd.) Wie beeindruckt Fontane von dieser Begabung einiger Maler war, zeigt sich daran, dass er sie wiederholt thematisiert, so etwa an Textstellen zum »große[n] Bild in der Kirche ›Annunziata‹ zu Florenz« thematisiert: »künstlerische Begeisterung hat nach flüchtigem Schauen die schönsten Köpfe desselben festzuhalten gewußt« (WMB 9, S. 41); »der Maler hat diese beiden Köpfe, nach einmaligem Sehen, aus dem Gedächtnis auf die Leinwand gebracht« (ebd., S. 43).

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3. Historischer Hintergrund

nicht einmal Captain Chaloner […], der sich blos mit seiner kokett aufgesetzten Militärmütze englisch zurechtgemacht hat. Früher sahen die Engländer auf all ihren Bildern englisch aus, jetzt, seitdem man alles nach Photographie zeichnet, nicht mehr. Woran liegt das? Erst antwortete ich mir: ›es liegt daran, daß die Engländer wirklich deutsch aussehen und daß der photographische Apparat in seiner Unerbittlichkeit das fortlässt, was sich die englische Malerei gewöhnt hatte, über die Natur hinaus hinzuzutun.‹ Aber das ist nicht richtig und ich halte es jetzt mehr mit einer zweiten, neueren Erklärung. Diese lautet: ›die meisten englischen Köpfe haben wirklich etwas spezifisch englisches und das Künstlerauge, das Auge überhaupt, sah diese Dinge und sieht sie noch; der todte Apparat aber giebt nur die Linien wieder und hat nicht die Kraft, den Zug, der doch mit dem Seelischen zusammenhängt, herauszubringen.‹ Diese letztre Erklärung muß richtig sein, da man im Leben (im Gegensatz zu ihren photographischen Bildnissen) so viele Engländer sieht, die spezifisch englisch wirken.215

Diese Passage ist aus vielerlei Gründen interessant: Zum einen zeigt sie Fontanes Bewusstsein von der Zeichenhaftigkeit bestimmter Accessoires und der Möglichkeit ihres gezielten Einsatzes um Einfluss auf die Einschätzung des Betrachters zu nehmen (die Militärmütze soll seiner Ansicht nach dazu dienen, einen ›koketten‹ und ›englischen‹ Eindruck zu erwecken). Damit einher geht jedoch das Wissen, dass solche Zeichen auch ihre Wirkung verfehlen können (denn der so ›zurechtgemachte‹ Captain wirkt denoch auf Fontane nicht ›englisch‹). Zum anderen – und das macht die Passage so zentral für eine Studie über den Einfluss der Photographie auf Fontane – belegt sie seine intensive Reflexion über die Photographie, die ihm bedeutsam genug war, das entsprechende Bild auszuschneiden und mit diesem Kommentar, der zudem durch einige Unterstreichungen in seiner Wichtigkeit zusätzlich hervogehobenen wird, an Mete zu schicken. Dass er in jüngeren Jahren nur weniger ausführliche Stellungnahmen gab, mag an den Vorbehalten gegenüber dem Konkurrenzmedium liegen, dem er auch im Pritvaten keine allzu hohe Stellung einräumen wollte. Doch seine Beobachtung, das Phänomen begegne ihm ›bei allen englischen photographischen Bildern‹ zeigt, dass er Photographien schon seit längerer Zeit durchgehend aufmerksam betrachtete und sich seine Thesen über ihre Wirkung bildete. Ebenso für eine längerfristige Auseinandersetzung sprechen die Bemerkung, dass er ›zuerst‹ – also vermutlich in früheren Jahren – eine andere Erklärung für seinen Eindruck hatte als zum Zeitpunkt der Niederschrift, sowie die von ihm gezogene Linie von der Zeit der Vormachtstellung der Malerei hin zu derjenigen der Photographie. Erneut begegnet hier das Bewusstsein einer sich ändernden Dominanz der Bildmedien, denn die Gegenwart wird wahrgenommen als ›jetzt, seitdem man alles nach Photographien zeichnet‹ – der Bezug zur Malerei bleibt für Fontane also auch noch Ende des _____________ 215 Theodor Fontane an Martha Fontane, HFA IV/4, S. 467f.

3.3. Die Rezeption der Photographie durch die Literatur

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19. Jahrhunderts zentral zur Einschätzung der Photographie, was nicht nur seine Reflexion, sondern allein schon die Wortwahl (zeichnen) belegt. Geblieben ist die Abgrenzung gegenüber dem ›todten Apparat‹, der dem ›Leben‹ nicht gerecht werden kann und dem ›das Künstlerauge‹, darüber hinaus aber sogar ›das Auge überhaupt‹ gegenübergestellt wird. Die Feststellung ›man sah diese Dinge und sieht sie noch‹ lässt eine Reflexion Fontanes über den Zusammenhang der Wahrnehmungskonventionen mit den Bildmedien möglich erscheinen, denn bewusst spricht er hier von vergangenen und gegenwärtigen Sehweisen. Seine frühere ebenso wie jetzige Sehweise entspricht am Schluss seines Argumentationsgangs derjenigen der Maler, die das Spezifische und ›Seelische‹ wahrnehmen können. Deutlich wird jedoch, dass er zunächst durch die Betrachtung der Photographien an der eigenen Wahrnehmung zu zweifeln begann, sich fragte, ob nur die Betrachtung zu vieler nicht naturgetreuer Gemälde ihn daran gewöhnt hatte, in englischen Gesichtern etwas Spezifisches zu sehen, das an sich gar nicht vorhanden war. Die Photographie wird in dieser Erklärung also als Enthüllerin der tatsächlichen Wirklichkeit gesehen, während die Malerei diese verfälscht hatte. Doch muss sich Fontanes Kunstverständnis gegen diese Annahme wehren, die Photographie biete eine korrektere Art der Welterfassung, und zwar mit einer Vehemenz, die in den zahlreichen Unterstreichungen seiner abschließenden Erklärung deutlich wird. Diese rückt die Photographie als unlebendiges, das Innere verfehlendes und Individuelles einebnendes Abbildungsmedium wieder an den Platz zurück, der ihr im Weltbild des poetischen Realisten zugewiesen werden muss, wenn dieser seine künstlerische Sicht und Wiedergabe der Realität behaupten will. Fontane kannte und nutzte die Bilder also ganz bewusst und reflektiert. Zudem pflegte er – ebenso wie seine Malereibegeisterung Hand in Hand ging mit seinem Verkehr mit Malern – anscheinend auch den Umgang mit Photographen, wenn auch in weit geringerem Maße als den mit Malern. So ist die Bekanntschaft mit dem Berliner Photographen O. Roloff anhand von Tagebuchaufzeichnungen belegbar.216 In den Wanderungen verweist Fontane mit Aufzählung einzelner Aufnahmen auf ein bestimmtes Photoalbum und gibt dazu Name und Adresse des Berliner Photographen an, von dem die Bilder stammen: »Hofphotograph David Schwartz, Potsdamer Platz (Eingang Bellevuestraße 22)«.217 Laut _____________ 216 Am 14.05.1882 heißt es: »Briefe geschrieben an Photograph Roloff [und weitere Personen, N.H.]«. Einen Tag darauf schlägt ein geplanter Besuch fehl: »Besuch bei Photograph Roloff; nicht getroffen, weil er die Bernauer Jubelfeier mitfeiern hilft«, und so erfolgt ein weiterer Versuch am folgenden Tag: »Zu Photograph O. Roloff, Taubenstraße 20« (Tagebucheinträge vom 14., 15. und 16.05.1882, GBA, Tage- und Reisetagebücher 2, S. 173f). 217 NFA 13, S. 86.

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3. Historischer Hintergrund

einem Brief an Emilie vom 14.10.1888 wollte er diesen bzw. dessen Tochter später auch selbst aufsuchen, »um wegen hübscher Einbände [für einige Exemplare von Fünf Schlösser, die für Minister und Generäle bestimmt waren, N.H.] zu sprechen«.218 Was Rolf H. Krauss generell über Autoren des 19. Jahrhunderts schreibt, trifft somit auch auf Fontane zu: »Wenn die deutschen Schriftsteller, obwohl sie bestens unterrichtet waren, nicht über Photographie schrieben, so waren sie doch privat von Anfang an mit ihr befasst«.219 Fontane wusste photographische Bilder durchaus zu schätzen und beschäftigte sich häufiger als andere Schriftsteller in seinen theoretischen Texten mit der Photographie. Auch band er Photographien als Motive in seine Werke ein, wenn sie auch weniger in den Vordergrund treten als die Bezüge zu anderen technischen Neuerungen wie der Eisenbahn oder der Telegraphie220 oder zu traditionellen Kunstformen wie Theater und Malerei. Zudem beeinflusste die Betrachtung von Photographien – ebenso wie seine Gemälderezeption – Fontanes visuelle Wahrnehmung. Daher muten seine Beschreibungen oft wie die eines Bildes und teilweise speziell photographisch an. Darüber hinaus wird in der vorliegenden Arbeit die These vertreten, dass er auch bestimmte Romanfiguren mit einem photographieanalogen Sehen ausgestattet hat und zudem seine Beschäftigung mit bestimmten Themen – wie der visuellen Wahrnehmung, dem Typus oder der Kopie – durch seine Erfahrungen mit der Photographie angeregt wurde. Insbesondere von Interesse wird die Thematisierung der Subjektivität des Sehens in seinem Erzählwerk sein, da diese langsam zum zeitgenössischen Gedankengut werdende Erkenntnis unter anderem durch die Photographie ausgelöst wurde. Damit zeigt Fontane in seinen fiktionalen Texten mehr Reflexionspotential als seine Poetologie bzw. die der poetischen Realisten annehmen lässt, wo implizit davon ausgegangen wird, dass eine objektiv beschreibbare Wirklichkeit existiere, die sich – sowohl von der Photographie als auch von der Literatur – ebenso objektiv wahrnehmen und wiedergeben lasse.221

_____________ 218 HFA IV/3, S. 648. 219 Krauss, Photographie und Literatur, S. 156. 220 Deren stärkere Einbindung in die Texte mag auch mit Folgendem zusammenhängen: »Wie groß das Interesse der Öffentlichkeit an dem neuen Verfahren [der Daguerreotypie, N.H.] auch war, so schlecht konnte man sich andererseits doch vorstellen, daß die Erfindung praktischen Zwecken dienen konnte wie die Eisenbahn oder der gleichfalls 1838 erfundene elektrische Telegraph« (Buddemeier, Panorama, Diorama, Photographie, S. 68). 221 Vgl. Sascha Kiefer, Der determinierte Beobachter. Fontanes ›Cécile‹und eine Leerstelle realistischer Programmatik. In: Literatur für Leser 26/3 (2003), S. 168ff.

3.3. Die Rezeption der Photographie durch die Literatur

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3.3.3. Photographieanaloges Sehen im poetischen Realismus Die Photographie »änderte den menschlichen Blick auf die Realität«,222 da das Sehen durch die Kamera und die Photographiebetrachtung aufgrund häufiger Wiederholung so selbstverständlich wurden, dass Merkmale dieses neuen Sehens auf die generelle visuelle Wahrnehmung der Wirklichkeit übergingen. So wie Literatur oft als Spiegel für Wahrnehmungsveränderungen dient, fand auch der sich entwickelnde photographieanaloge Blick seinen Niederschlag in Texten des poetischen Realismus. Dort wird mit neuen Seh- und Beschreibungsweisen experimentiert, deren teils auffällige Gestaltung für eine bewusste und reflektierte Thematisierung des mit großer Sensibilität verfolgten Prozesses der Wahrnehmungsveränderung spricht. Auf Parallelen zwischen typischen Merkmalen der Photographie und den Besonderheiten der Wahrnehmungs- oder Beschreibungsweisen der Realisten haben dementsprechend bereits mehrere Forscher hingewiesen. Deren stark divergierende Methoden zur Bestimmung des ›Photographischen‹ generell sowie zu seiner speziellen Ausprägung in der Literatur des Realismus werden im Folgenden dargestellt, um anhand der unterschiedlichen Herangehensweisen ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, welche verschiedenen Ebenen für eine komplette Erschließung des ›Photographischen‹ zu beachten sind, dessen klarere Definition für Fontanes Romane am Ende der vorliegenden Arbeit formuliert werden soll. Um der bestehenden, in ihrer Vielfalt und Uneindeutigkeit mehr verwirrenden als klärenden Begrifflichkeiten Herr zu werden, sei dabei für diese Arbeit folgende (auf die Malerei übertragbare) Terminologie vorgeschlagen: Das ›photographische Sehen‹ steht allein für den tatsächlichen Blick des Photographen durch die Kamera bzw. des Betrachters auf eine Photographie. ›Photographieanaloges Sehen‹ hingegen bezeichnet eine Sehweise, die durch Photographiebetrachtung verändert wurde, so dass sie zum einen Merkmale des photographischen Blicks enthält, darüber hinaus jedoch mit Assoziationen aufgeladen ist, die in zeitgenössischen Diskursen der Photographie zugeschrieben wurden. ›Das Photographische‹ schließlich wird verstanden als Überbegriff für alle mit dem Bildmedium assoziierten Merkmale, umfasst also zusätzlich zu denen photographieanaloger Blickweisen auch alle Aspekte, die mit Photographien als literarischen Motiven verbundenen sind. Merkmale des photographischen Sehens, die auch Koppen übernimmt,223 finden sich bei Buddemeier als »Unterschiede zwischen der direkten Beobachtung der Natur und dem Betrachten einer Fotografie der _____________ 222 Straßner, Text-Bild-Kommunikation, S. 3. 223 Vgl. Koppen, Literatur und Photographie, S. 68.

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3. Historischer Hintergrund

Natur«.224 Während beide diese nur unter Vorbehalt als photographisch angeben, da sie ebenso gut auf andere Bilder zuträfen, gelten sie Krauss, der die Merkmale ergänzt, als spezifisch photographisch. Es handelt sich hierbei um Ausschnitthaftigkeit inklusive Rahmung, einen genau festgelegten Schärfen- und Unschärfenbereich, Verkleinerung, die Immobilisierung bewegter Objekte, die Beschränkung auf das Sehen unter Ausschluss anderer Sinneseindrücke und einen privilegierten Beobachterstandpunkt. Krauss fügt als weitere Kriterien Zentralperspektive, Detailgenauigkeit und die einfache Herstellung und Vervielfältigung hinzu,225 womit er allerdings nicht mehr die Eigenschaften des Blicks auf die Photographie (d. h. des photographischen Sehens) beschreibt, sondern die des Mediums selbst (d. h. Merkmale des ›Photographischen‹). Genauer eingegangen wird auf diese einzelnen Merkmale und die Frage, inwiefern sie allein für die Photographie oder auch für die Malerei gültig sind, in der Analyse der Wanderungen in Kapitel 4.2.4. der vorliegenden Arbeit mit Textbeispielen. Während die genannten Autoren versuchen, generelle, möglichst messbare und bildinhärente Kriterien zusammenzutragen, wird in einer anderen, weit verbreiteten Forschungsansicht der historische und kulturelle Zusammenhang berücksichtigt, in dessen Rahmen die Photographie zu einem veränderten Sehen führte, so dass es sich hier um Merkmale eines photographieanalogen Sehens handelt: So geht etwa Gottfried Willems davon aus, die Photographie habe einen Wandel in der Art des Sehens verstärkt, der zum Zeitpunkt ihrer Erfindung bereits im Gang war und den er als »die Versachlichung des Sehens«226 bezeichnet. Der Aufschwung von Naturwissenschaft und Technik habe zusammen mit der wachsenden Bedeutung einer technisch-naturwissenschaftlich orientierten Ausbildung grundsätzlich die Haltung gegenüber den Objekten der Wahrnehmung verändert. Um sich in einer modernen, technisch geprägten Welt orientieren zu können, sei das Auge »permanent zum sachlichen Blick [gezwungen gewesen, N.H.], zu einem das Objekt zur Kenntnis nehmenden, prüfenden, klärenden, von allen subjektiverlebnishaften Elementen freien Hinsehen«.227 Dieser Auffassung nach steht das photographieanaloge Sehen in der Nachfolge des Sehens der Aufklärung, denn schon »in den literarischen SehAnweisungen der Frühaufklärung« seien in »Nachahmung einer technischnaturwissenschaftlich geprägten Instrumentenoptik«228 gerahmte, _____________ 224 Heinz Buddemeier, Das Foto. Geschichte und Theorie der Fotografie als Grundlage eines neuen Urteils, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 88. 225 Vgl. Krauss, Photographie und Literatur, S. 67–72. 226 Willems, Anschaulichkeit, S. 163. 227 Ebd. 228 Segeberg, Rahmen und Schnitt, S. 287.

3.3. Die Rezeption der Photographie durch die Literatur

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ausschnitthafte Einzelbilder als Wahrnehmungsmodell etabliert worden, um nicht vom Gesamtanblick einer betrachteten Landschaft überwältigt zu werden. Die Photographie habe dieses wissenschaftlich-sachliche Sehen der Aufklärung fortgeführt und bereits bestehende Tendenzen weiterentwickelt. Als Merkmale dieser forschend-wissenschaftlichen Wahrnehmungsweise habe sie »Distanzierung, Konzentration, Begrenzung, Verdinglichung«229 übernommen. Typische Wahrnehmungsmodalitäten der Betrachtung von Photographien (=photographisches Sehen), die auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit übertragen wurden (=photographieanaloges Sehen), sind dieser Position nach »Oberflächlichkeit, Wissenschaftlichkeit, Unmittelbarkeit, Authentizität«,230 »Entzeitlichungs- und Archivierungsleistung, Objektivitätsanspruch, mikroskopische Präzision, Förderung verdinglichender Betrachtung«.231 Die Photographie gilt den Forschern als »ein Geschöpf der bürgerlichen Aufklärung und des naturwissenschaftlich-positivistischen Denkens«232 und der photographieanaloge Blick wird zur »Verkörperung des naturforschenden Blicks«.233 Weitere Eigenschaften des photographieanalogen Sehens, die vom naturwissenschaftlichen abweichen, werden hierbei außer Acht gelassen. Eine ähnliche Position vertritt Bernd Stiegler, der für die 1980er Jahre konstatiert: »Das photographische Auge hat bereits dem natürlichen seine Regeln auferlegt«.234 Für ihn, der das »Foto-Auge« als »Organ voller Kälte und Teilnahmslosigkeit«235 definiert, zeigt sich das in der distanzierten Haltung des Betrachters. Auch Ernst Jünger, auf den sich Stiegler vielfach bezieht, bemerkt, die Menschen sähen mit »einem unempfindlichen und unverletzlichen Auge«236 und »[d]ie Photographie ist also ein Ausdruck der uns eigentümlichen, und zwar einer sehr grausamen Weise, zu sehen«.237 Für Stiegler machen also nicht die gesamten Merkmale eines wissenschaftlichen Sehens gleichberechtigt das photographieanaloge aus, sondern insbesondere Distanzierung und Verdinglichung, die er eindeutig negativ als »Kälte« wertet. Damit basiert seine Bestimmung des photographieanalogen Sehens auf subjektiven Einstellungen und Empfindungen des Betrachters. _____________ 229 230 231 232 233 234 235 236

Mergenthaler, Sehen schreiben, S. 182. Willems, Anschaulichkeit, S. 166. Mergenthaler, Sehen schreiben, S. 193. Busch, Belichtete Welt, S. 222. Ebd., S. 235. Stiegler, Bilder der Photographie, S. 97. Ebd. Ernst Jünger, Ueber den Schmerz. In: Ders., Blätter und Steine. Kleinere Schriften, Leipzig 1942, S. 201. 237 Ebd., S. 202.

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3. Historischer Hintergrund

Von einem ganz anderen Ansatz geht Harro Segeberg aus, der im Unterschied zu den vorigen Positionen ein durch die Photographie beeinflusstes Sehen speziell für Texte des poetischen Realismus definiert. Er konzentriert sich auf äußerliche, messbare, räumliche Faktoren während der Aufnahme einer Photographie (=photographisches Sehen) bzw. während eines Sehprozesses, der dieser ähnelt (=photographieanaloges Sehen). Texte des poetischen Realismus starten seiner Ansicht nach den Versuch einer Überbietung technisch reproduzierter fotografischer Wirklichkeitsnachbildungen im Entwurf eines ebenso dynamischen wie konstruktiven Sehens in Texten [...], in denen mit der Polyperspektivik sehr unterschiedlich gerahmter Blicke wegweisend experimentiert wird.238

Für ihn liegt die Charakteristik eines durch die Photographie veränderten Sehverhaltens in der Literatur des 19. Jahrhunderts dieser Definition nach nicht wie bei den oben dargelegten Positionen in Kennzeichen eines einzelnen Blicks, von denen er allein die Rahmung bzw. Begrenzung nennt. Stattdessen findet er sie in der Darstellung eines polyperspektivischen Sehens, also einer Aneinanderreihung mehrerer Blicke von verschiedenen Standorten aus,239 die das durch die Photographie geweckte Bewusstsein für die perspektivische und subjektive Festgelegtheit und Begrenztheit des Sehens verarbeitet. Diese neue Seh- bzw. Darstellungsweise, die Segeberg als »Herstellung eines privilegierten Beobachterstandpunktes mit einer eindeutig subjektzentrierten Zentralperspektive«240 bzw. eine Aufeinanderfolge mehrerer solcher Blicke definiert, weist er stellvertretend für die Literatur des Realismus bei Theodor Storm nach. Segebergs Kriterien verabschieden das sonst gängige Verfahren, Analogien zur Photographie anhand eines Einzelbildes oder -blicks nachzuweisen, und liefern stattdessen den Ansatz, eine Blickfolge zu untersuchen. Er versucht nicht, reine Parallelen zwischen photographischer Aufnahme und literarischer Beschreibung herauszuarbeiten, sondern will nachweisen, welche Auswirkungen das durch die Photographie veränderte Bewusstsein der Schriftsteller für Fragen der Wahrnehmung auf die Gestaltung des Sehens in ihren Werken hatte. Um die Verbindung der Wahrnehmungsthematik zur Photographie zu belegen, muss auch dabei auf Eigenschaften eines photographieanlogen Blicks zurückgegriffen werden. Eine weitere Definition des photographieanalogen Sehens in der Literatur des poetischen Realismus formuliert Volker Mergenthaler. Er _____________ 238 Segeberg, Rahmen und Schnitt, S. 287. 239 Dass diese verschiedenen gerahmten Einzelblicke bzw. -bilder von wechselnden Perspektiven aus erfolgen, bildet den grundlegenden Unterschied zur bereits in der Aufklärung genutzten Bilderkette, die in Kapitel 3.2.1. beschrieben wurde. 240 Segeberg, Rahmen und Schnitt, S. 290f.

3.3. Die Rezeption der Photographie durch die Literatur

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stellt für Wilhelm Raabe »Wahrnehmungssignaturen« fest, die sowohl Photographien als auch der Beschreibung eigen seien: Die Aufnahme erfolgt aus lokaler, die Betrachtung aus lokaler und zeitlicher Distanz; das Betrachtete liegt mortifiziert vor, ist archivierbar, entbindet Erinnerungen und Vervollständigungen im Bewußtsein der Bildbetrachter, verfügt über eine geradezu mikroskopisch erschlossene Detailgenauigkeit und wird im Modus der Präsenz rezipiert.241

Im Gegensatz zu Segeberg legt sich Mergenthaler zwar auf einen einzelnen Blick fest, dennoch scheint diese Definition aufgrund ihrer Vielschichtigkeit besser als die bisher vorgestellten dem Anspruch zu genügen, umfassende Kriterien des photographieanalogen Sehens zu liefern. Sie beschränkt sich nicht nur auf einen bestimmten Aspekt, wie insbesondere Stieglers Definition des photographieanalogen Sehens als emotionslose Wahrnehmungsform. Zu eng gefasst erscheint im Vergleich mit Mergenthalers Festlegung auch die Gleichsetzung mit dem wissenschaftlichen Sehen, selbst wenn sie verschiedene Aspekte erfasst, da in ihr beispielsweise die perspektivisch-räumlichen Merkmale unbeachtet bleiben. Letztere bilden bei Segeberg das einzige Kriterium, so dass auch seine Definition eine breitere Auffächerung der Merkmale vermissen lässt. Bei Mergenthaler hingegen setzt sich das photographieanaloge Sehen aus verschiedenen Elementen zusammen, die zum einen unterschiedlichen Ebenen der Bildproduktion und -rezeption entstammen, zum anderen Eigenschaften umschließen, die dem Bild selbst eigen sind. Als Aspekt, der während des Photographierens von Belang ist, nennt er die Aufnahme aus lokaler Distanz. Merkmale, die während der Bildbetrachtung eine Rolle spielen, sind das Sehen aus lokaler und zeitlicher Distanz, bei dem das Dargestellte dennoch als im Moment präsent rezipiert wird, der Eindruck des Mortifizierten sowie das Auslösen von Erinnerungen und vervollständigenden Elementen. Als bildimmanente Charakteristika, die das Medium im Vergleich zu anderen Bildarten auszeichnen, gibt er die extreme Detailgenauigkeit und die Archivierbarkeit an. Seine Kriterien reichen hierbei von rein äußerlich-messbaren – wie der Perspektive – bis hin zu eher subjektiven Wahrnehmungen und Assoziationen (deren historische Veränderung zu bedenken ist) – wie der Mortifizierung. Auch beziehen sie Prozesse mit ein, die nicht im Bild selbst festzumachen sind, sondern erst durch seine Betrachtung ausgelöst werden (wie die Erinnerung) oder durch seine Nutzung entstehen (wie die Archivierung). Erst all diese divergenten Aspekte zusammen gelten ihm als Bestandteile eines photographieanalogen Sehens oder einer solchen Beschreibung. _____________ 241 Mergenthaler, Sehen schreiben, S. 192f.

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3. Historischer Hintergrund

Am Ende dieses Vergleichs bisheriger Definitionen des photographieanalogen Sehens bzw. seiner Ausformung in literarischen Texten zeigt sich, wie problematisch eine genaue Eingrenzung und Definition ist, da verschiedenste Bereiche einbezogen werden müssen. Selbst bei Mergenthaler, dessen Definition dies berücksichtigt, werden einige der in den anderen Ansichten genannten, plausiblen Aspekte vernachlässigt, wie etwa die Einbeziehung von Blickfolgen anstatt nur eines Blicks. Eine umfassende Definition des photographieanalogen Sehens in der Literatur des Realismus steht damit noch aus. Da sich im Laufe der Zeit sowohl die Photographien selbst (durch neue Techniken oder Motive) als auch die Einschätzung dessen, was als ›das Photographische‹ empfunden wird, ändern, und der Prozess der Veränderung alltäglicher Sehgewohnheiten durch die Photographie kontinuierlich fortschreitet, kann eine generelle Bestimmung photographieanalogen Sehens nicht angestrebt werden. Die vorliegende Arbeit möchte daher allein für die Texte Fontanes diese Veränderung des Sehens durch die Photographie nachweisen und eine Definition des photographieanalogen Sehens in seinen Texten sowie eine Methode zur Bestimmung des ›Photographischen‹ erarbeiten.

3.4. Seh- und Wahrnehmungstheorien im 19. Jahrhundert Nachdem bisher vor allem auf die Bildmedien des 19. Jahrhunderts und spezifische, von ihnen beeinflusste Sehweisen eingegangen wurde, soll das Thema Sehen im Folgenden in ein breiteres Theorieumfeld eingebunden werden, da seine Behandlung nicht ohne Berücksichtigung grundsätzlich mit ihm verknüpfter Diskurse zu leisten ist. Theorien über das Sehen wurden seit jeher mit Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorien verbunden, worauf allein schon die zahlreichen Begriffe der Erkenntnis, der Wahrnehmung und des Wissens verweisen, die aus dem Bereich des Sehens stammen, wie etwa ›Einsehen, Anschauung, Beobachtung‹, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Wie sehr sich Sehtheorien in verschiedenen Epochen und Kulturen unterscheiden, wird deutlich, wenn man ihre Entwicklung seit der Antike betrachtet, in deren Verlauf das Sehen auf unterschiedlichste Weise eingeschätzt und bewertet wurde. Zugleich zeichnen sich immer wiederkehrende Grundstränge der Diskussionen ab, wie etwa die Frage nach dem Verhältnis zwischen sinnlicher und geistiger Erkenntnis, der die Philosophie meist mit Zweifel an der Zuverlässigkeit des Sehens begegnet. Eine weitere durchgehende Linie der im Folgenden kurz nachgezeichneten Geschichte der Sehtheorien bildet die Beschäftigung mit der Relation zwischen dem Sehen und anderen Sinnen wie dem Hören und dem Fühlen bzw. Tasten.

3.4. Seh- und Wahrnehmungstheorien im 19. Jahrhundert

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Antike und Mittelalter waren von der Vorstellung eines Sehstrahls geprägt, den man sich als Emission von Strahlen aus den menschlichen Augen sowie von den wahrgenommenen Gegenständen dachte. Man glaubte an eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Sehendem und Gesehenem, die beide aktiv am Prozess des Sehens beteiligt seien. Auch im etwas von der Sehstrahltheorie abweichenden Atomismus ging man davon aus, dass sich ein Bild kontinuierlich vom Gegenstand löse, in Richtung Auge wandere und die Wahrnehmung außerhalb desselben in der Luft stattfinde. Diese und ähnliche seit der Antike vertretene Sehstrahl- und Sendetheorien, die sich im Konzept der Aussendung von Strahlen oder Ähnlichem vom Betrachter oder vom Objekt aus ähnelten, behielten bis ins Mittelalter ihre Gültigkeit. Neben sie trat im 11. Jahrhundert mit Alhazen eine Empfangstheorie, welche die Rolle des Auges als empfangendes Sehorgan in den Vordergrund rückte. Nachdem die antiken Theorien zwischenzeitlich an Beachtung verloren hatten, kam es durch die Erfindung der Photographie »im 19. Jahrhundert [zu einem] allgemein verbreiteten Rückgriff auf das plotinische Modell des Sehens«,242 da manche Betrachter früher Photographien annahmen, dass sich Teile des Abgebildeten während der Aufnahme von ihm ablösten und in das Bild hineinwanderten. Oliver Wendell Holmes, Schriftsteller, Mediziner und Erfinder eines neuartigen Stereoskops, beispielsweise greift noch 1859 in seinen Ausführungen zur Photographie explizit auf die Wahrnehmungstheorie Demokrits von Abdera zurück, der davon ausging, dass alle Gegenstände kontinuierlich kleine Bilder oder Häutchen ihrer selbst aussendeten.243 Anfang des 17. Jahrhunderts wurden diese Emissionstheorien durch Kepler überwunden, dem zufolge das Sehen darin besteht, dass Lichtstrahlen durch eine Linse im Auge gebrochen und wieder zusammengeführt werden. Der Bau des Auges wird dabei dem der Camera obscura verglichen. Das Neue an dieser Theorie war, dass sie nicht mehr von unklar definierten Strahlen oder durch die Luft wandernden Bildern ausging, sondern von abstraktem, physikalisch analysierbarem Licht, und dass die Verbindung zwischen sehendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt entfiel. Mit René Descartes kam die Einschätzung hinzu, dass die so entstandene Wahrnehmung im Bewusstsein durch vorhandenes Wissen und Meinungen mitgestaltet werde. Er betonte die Anfälligkeit der Sinne für Täuschungen, wohingegen nur die kognitiven Fähigkeiten in der Lage seien, ein höheres Wissen hervorzubringen. Diese von Descartes vorgenommene klare Trennung zwischen Körper und Geist prägte die _____________

242 Crary, Techniken des Betrachters, S. 146. 243 Vgl. Oliver Wendell Holmes, Das Stereoskop und der Stereograph (1859). In: Kemp, Theorie der Fotografie 1, S. 114–121.

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3. Historischer Hintergrund

folgenden klassischen Sehtheorien. Das »Bewußtsein von der assoziativen, integrativen und interpretativen Rolle, die der Geist spielt«,244 wuchs generell in der frühen Neuzeit. Ihre verstärkte Beschäftigung mit der Optik zeigte sich in technologischen Innovationen, die den Sehbereich in die Ferne und auf der Mikroebene ausdehnten, in Teleskop und Mikroskop. Insbesondere Galileo Galilei löste durch seine Nutzung und Verteidigung des Teleskops Diskussionen über dessen Zuverlässigkeit sowie diejenige der visuellen Wahrnehmung aus. Die Wirkung dieser optischen Instrumente auf die Einschätzungen des Sehens war zweischneidig, denn einerseits gewann durch sie die empirische wissenschaftliche Beobachtung als Weg der Erkenntnis an Bedeutung, andererseits stellten sie die Zuverlässigkeit der menschlichen Sinneswahrnehmung dadurch in Frage, dass mit ihrer Hilfe Dinge sichtbar wurden, die für das bloße Auge nicht erkennbar waren.245 So gilt für diese optischen Instrumente sowie später entwickelte, »daß sie das Prinzip der Sichtbarkeit bestätigen und zugleich destruieren«.246 In Folge dessen machte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts »eine Krise des Erkenntnisvermögens geltend, die sowohl die sinnliche wie auch die kognitive Wahrnehmung erfaßt[e]«.247 Im 18. Jahrhundert feierte die Aufklärung mit ihrer Licht- und Sehensmetaphorik das Auge trotz dieser vorausgegangenen Verunsicherung wieder als edelstes Sinnesorgan,248 wobei einige Theoretiker auch dem Gehör eine gewisse Vorrangstellung zubilligten. Die Literatur der Romantik pries schließlich den auditiven vor dem visuellen Weltzugang und hing dem Gedanken an, »daß das Gehör der ursprünglichste und innerlichste

_____________ 244 Astrid von der Lühe, Sehen. In: Joachim Ritter un Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9: Se–Sp, Basel 1995, S. 153. 245 Vgl. Ulrich Stadler, Der technisierte Blick. Optische Instrumente und der Status von Literatur. Ein kulturhistorisches Museum, Würzburg 2003, S. 23. 246 Ebd., S. 34. 247 Ebd., S. 23. Die Rolle, die optische Neuerungen innerhalb dieser Entwicklung einnahmen, spiegelt sich in ihrer Verwendung in literarischen Texten, wo ihre Erwähnung »immer auch einen Kommentar zum jeweiligen Stand, zur jeweiligen Praxis der Naturerkenntnis« (ebd., S. 7) liefert. Zudem »eignen sie sich besonders gut dazu, Erkenntnisvorgänge zu versinnbildlichen, und insofern kommt ihnen auch [...] eine zentrale Rolle zu, wenn es darum geht, den Status der Poesie etwa als eines Mediums der Erkenntnis in Relation zu konkurrierenden Wissenschaftskonzeptionen zu bestimmen« (ebd., S. 9). Auch erfassen »[d]ie poetischen Darstellungen [...], wie sehr der technisierte Blick auf die Objektwelt auch die Subjektivität der Beobachter [...] herausgefordert hat« (ebd., S. 35). Die symbolische Verwendung von Mikroskop und Teleskop sowie anderer optischer Instrumente in literarischen Texten kann allerdings auch über diese Thematiken hinausgehen. 248 Vgl. Mergenthaler, Sehen schreiben, S. 34f.

3.4. Seh- und Wahrnehmungstheorien im 19. Jahrhundert

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Sinn sei, [...] in dem sich die ›sprechende‹ Natur nur dem ›Lauschenden‹ offenbart«.249 Im 19. Jahrhundert wandte man sich vom abstrakten spekulativen Denken ab und widmete sich stattdessen einer Philosophie, die das Sinnliche, konkret Sichtbare zu ihrer Basis machte. Physiologische Auffassungen des Sehens wie die von Jan Evangelista Purkinje oder Johannes Müller und seinem Schüler Hermann von Helmholtz, die die Bedingtheit der Wahrnehmung durch den menschlichen Körper betonen, dominierten.250 Man erforschte insbesondere subjektive Sinneserscheinungen wie Nachbilder251 und erfasste damit die Eigenaktivität des Auges, womit Darstellungen des Sehens als rein mechanischer Prozess verabschiedet wurden.252 Diese Auffassungen von Subjektivität und Aktivität der Wahrnehmung entstanden zum Teil dadurch, dass transzendentalphilosophische Sätze, idealistische Theoreme aus dem Bereich des reinen Bewußtseins, empirisch umgedeutet und auf die Wahrnehmung übertragen wurden253 – worin der enge Zusammenhang zwischen Wahrnehmungs- bzw. im engeren Sinne Sehtheorien und Erkenntnistheorien erneut deutlich wird. Dabei spielte zudem die Auffassung eine zentrale Rolle, dass es sich bei Sinneswahrnehmungen nur um Zeichen für die Dinge der Außenwelt handelt, deren Interpretation erlernt werden muss, dass also die Wirklichkeit selbst nicht direkt wahrnehmbar ist, sondern immer nur durch Zeichen vermittelt erschlossen werden kann. In der Forschung ist man sich darin einig, dass im 19. Jahrhundert ein Primat des Sehens bestand und eine umwälzende Veränderung oder Krise des Sehens stattgefunden hat.254 Uneinheitlich dagegen sind die Einschätzungen in Bezug auf den genauen Zeitpunkt, die Gründe (etwa neue Herausforderungen an die Wahrnehmung durch das Erlebnis von Groß_____________ 249 Lühe, Sehen, S. 159. 250 Vgl. zum gesamten Kapitel bis hier Lühe, Sehen. 251 Als Nachbilder bezeichnet man die subjektiven visuellen Sinneswahrnehmungen, die sich einstellen, wenn man längere Zeit auf eine Stelle mit einer bestimmten Farbe oder deutlichen Helligkeitsunterschieden geblickt hat und dann die Augen schließt. Bei positiven Nachbildern empfindet man die gesehenen Verhältnisse weiterhin, bei negativen kehren sich die Helligkeitswerte um bzw. nimmt man die Komplementärfarben wahr. 252 Vgl. Jutta Müller-Tamm, Die ›Empirie des Subjektiven‹ bei Jan Evangelista Purkinje. Zum Verhältnis von Sinnesphysiologie und Ästhetik im frühen 19. Jahrhundert. In: Gabriele Dürbeck, Bettina Gockel et al. (Hrsg.), Wahrnehmung der Natur, Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Dresden 2001, S. 155. 253 Vgl. ebd., S. 157. 254 Vgl. Crary, Techniken des Betrachters; Goulet, Optiques, S. 3f; Weisrock, Götterblick, S. 28; Brosch, Krisen des Sehens, S. XI, 1–4; Karl Wagner, Voyeuristische Blicke. Beobachtungen an Texten des 19. Jahrhunderts. In: Ulrich Stadler und ders. (Hrsg.), Schaulust. Heimliche und verpönte Blicke in Literatur und Kunst, München 2005, S. 74.

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3. Historischer Hintergrund

städten),255 Einzelheiten der Veränderung des Sehens und die Bewertung des Einflusses verschiedener technischer Neuerungen (wie des Stereoskops, des Phenakistiskops256 und ähnlicher Geräte, der Photographie und schließlich der Eisenbahn). Die bisher einflussreichste und am weitestgehend akzeptierte, wenn auch teils kritisierte257 Theorie zur Veränderung des Sehens bzw. der Rolle des Beobachters im 19. Jahrhundert wurde von Jonathan Crary 1996 in Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert formuliert und soll hier kurz vorgestellt werden. Crary begreift die Entwicklung im 19. Jahrhundert so, dass das alte Modell der Parallelisierung des Beobachters mit der Funktionsweise der Camera obscura ausgedient habe. In dieser veralteten Ansicht sei die Bedingtheit des Sehens durch den menschlichen Körper nicht beachtet worden, während sie nun ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt sei. Diesen neuen Status des Beobachters beschreibt Crary statt des Vergleichs mit der Camera obscura anhand des Phenakistiskops, Stereoskops und weiterer optischer Instrumente.258 Seiner Ansicht nach ereignete sich zu _____________ 255 Vgl. Alfred Krovoza, Gesichtssinn, Urbanität und Alltäglichkeit. In: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Sehsucht. Über die Veränderung der visuellen Wahrnehmung, Göttingen 1995, S. 43–52. 256 Das Phenakistiskop ist eine in acht oder 16 gleich große Abschnitte geteilte Scheibe. In jedem Abschnitt befindet sich eine Figur in einem bestimmten Moment einer Bewegungssequenz und ein Schlitz. Der Betrachter stellt sich mit der Scheibe vor einen Spiegel, versetzt sie in Drehung und erblickt durch die Sehschlitze im Spiegel eine Figur in Bewegung. Eine detaillierte Beschreibung und Abbildungen finden sich bei Crary, Techniken des Betrachters, S. 112–115. 257 Nach Jutta Schikore sind Crarys Beobachtungen über die Auswirkungen der physiologischen Optik zwar zutreffend aber verkürzt, denn die sinnliche Wahrnehmung sei nicht arbiträr geworden, sondern im Gegenteil durch detaillierte experimentelle Untersuchungen genau klassifizierbar. Das Vertrauen in die Beobachtung sei daher durch die physiologische Forschung nicht geschwunden, sondern gewachsen, da man immer komplexere Strategien entwickeln konnte, um falsche Beobachtungen zu vermeiden (vgl. Jutta Schikore, Eröffnung der Augen. Auge und Sehen in der mikroskopischen Anatomie. In: Gabriele Dürbeck, Bettina Gockel et al. (Hrsg.), Wahrnehmung der Natur, Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Dresden 2001, S. 166f). Joseph Wachelder kritisiert an Crarys These der im 19. Jahrhundert stattfindenden Abwendung vom zuvor allgemein gültigen Cameraobscura-Modell, dass dieses sogar für Descartes nicht ganz zutreffe. Auch beschreibe Crary die differenzierte visuelle Kultur des 19. Jahrhunderts wenig nuanciert und ließe nur wenige Autoren (v.a. Goethe und Schopenhauer) zu Wort kommen, die nicht die Hauptströmungen darstellten (vgl. Joseph Wachelder, Nachbilder, Natur und Wahrnehmung. Die frühen optischen Untersuchungen von Joseph Plateau. In: Dürbeck, Gockel et al., Wahrnehmung der Natur, S. 258f). W.J.T. Mitchell wirft Crary Übergeneralisierung vor, da er nicht auf die empirische Geschichte der Betrachtung eingehe, sondern die Visualität als alltägliche kulturelle Praxis in seiner Untersuchung außen vor lasse, ebenso wie den durch Gender, soziale Klasse oder Ethnie bestimmten Körper des einzelnen Betrachters. Stattdessen würden verschiedenste, auch widersprüchliche Theorien des Betrachters zu einer einzigen über einen rein hypothetischen Betrachter vereint (vgl. Mitchell, Picture Theory, S. 19ff). 258 Vgl. Crary, Techniken des Betrachters, S. 19.

3.4. Seh- und Wahrnehmungstheorien im 19. Jahrhundert

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Anfang des 19. Jahrhunderts in Europa eine wesentliche Veränderung in der Struktur des Sehens, als deren spätere Symptome die Entwicklung der Photographie und die der modernen Malerei (beginnend mit dem Impressionismus) in den 1870er und 80er Jahren anzusehen seien.259 In deren Verlauf habe sich »ein neuer Betrachtertypus« gebildet, »der sich radikal von dem im 17. und 18. Jahrhundert vorherrschenden unterscheidet«.260 Nach der Unterdrückung der körperlichen Bedingtheit und Subjektivität des Sehens im 17. und 18. Jahrhundert habe das Modell des subjektiven Sehens und eines produktiven Betrachters die philosophischen, wissenschaftlichen und technologischen Diskurse des gesamten 19. Jahrhunderts beherrscht.261 Die im Camera obscura-Modell implizierte Trennung von Innen und Außen, bei der der Beobachter von der Außenwelt isoliert und autonom gewesen sei, sei aufgelöst und die innere Empfindung mit den äußeren Zeichen vermischt worden.262 Ein weiteres Merkmal dieser Modernisierung des Sehens sei eine Erneuerung und Vermehrung von Zeichen (z. B. in der Stadt von Reklameplakaten, Schaufenstern, Verkehrszeichen, Schrift)263 und Objekten gewesen, wobei die Photographie den größten gesellschaftlichen Einfluss gehabt habe.264 Crary betont, dass Camera obscura und Photokamera zwei völlig verschiedenen Systemen des Sehens angehörten und unterschiedliche Beziehungen zwischen dem Betrachter und seinem Objekt herstellten, da die mit der Camera obscura verbundene Annahme, ein wahrheitsgetreues Bild der Wirklichkeit wahrnehmen zu können, Anfang des 19. Jahrhunderts so nicht mehr bestanden habe.265 Er geht unter anderem auf die Theorie Schopenhauers ein, der noch von der Möglichkeit einer ›reinen Anschauung‹ ausging, einem Zustand der Objektivität, in dem der Wille keinen Einfluss nehme. Durch eine Beruhigung der Leidenschaften und des Blutumlaufs sollte es möglich sein, dass die Tätigkeit des Gehirns vor allen anderen überwiege. Diese Annahme sei mit den Erkenntnissen der physiologischen Psychologie im 19. Jahrhundert hinfällig geworden, deren Elemente »die quantitative Untersuchung des Auges und die Bestimmung seiner Aufmerksamkeitsspanne, Reaktionszeiten, Reizschwellen und seiner _____________ 259 260 261 262 263 264 265

Vgl. ebd., S. 16. Ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 20f. Vgl. ebd., S. 35, 49. Vgl. Krovoza, Gesichtssinn, S. 51. Vgl. Crary, Techniken des Betrachters, S. 22ff. Vgl. ebd., S. 43. Dieser Feststellung Crarys widerspricht allerdings die Aufnahme der Photographie als Möglichkeit einer objektiven, wahrheitsgemäßen Abbildung der Wirklichkeit durch die Zeitgenossen.

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3. Historischer Hintergrund

Ermüdung«266 waren. Schopenhauer und Goethe bereiteten laut Crary der physiologischen Optik mit ihren Modellen des subjektiven Sehens den Weg, vollendet wurde sie von Hermann von Helmholtz, der auf Johannes Müllers Theorie der spezifischen Sinnesenergien zurückgreifen konnte.267 Diese besagt, dass eine Ursache auf verschiedene Sinne unterschiedliche Wirkungen ausüben könne und umgekehrt verschiedene Ursachen, die auf einen Nerv treffen, die gleiche Empfindung bewirken könnten.268 Damit stellte Müller eine arbiträre Beziehung zwischen Reiz und Empfindung her und schlussfolgerte, dass der menschliche Körper Falsches wahrnehmen kann,269 womit er »eine der folgenreichsten Beschreibungen des Betrachters und einer bestimmten ›Wahrheit‹ über das Sehen, Wahrnehmen und Erkennen«270 lieferte. Crary zufolge hatte diese Theorie »derart nihilistische Implikationen«,271 dass sich Nachfolger Müllers wie etwa Helmholtz gezwungen sahen, Theorien zu entwickeln, die diesem Gedanken der Beliebigkeit entgingen und verlässliche Erkenntnisse garantieren konnten. Doch auch die Theorie Helmholtz’ zerstörte das »lebensweltliche Vertrauen des Menschen in die Wahrheit seiner Sinnenwelt, die in der Hauptsache zum schönen Schein degradiert«272 wurde. Ewald Hering, ein Zeitgenosse Helmholtz’ und Anhänger der nativistischen Theorie, die im Gegensatz zu Helmholtz davon ausging, dass dem Menschen bestimmte Wahrnehmungskonzepte angeboren seien und schon vor jeder empirischen Erfahrung existierten, klagte daher, dem Menschen sei durch Helmholtz seine Welt abhanden gekommen.273 Crary lässt in seinen Betrachtungen beiseite, dass im 19. Jahrhundert neben der Aufmerksamkeit für subjektive Phänomene des Sehens gleichzeitig noch das Vertrauen in einen objektiven wissenschaftlichen Blick bestand. Mit diesem glaubte man, die Welt als stabiles Objekt, das von allgemeingültigen, festen Gesetzen strukturiert werde, untersuchen zu können. Das Nebeneinander beider Ansichten im 19. Jahrhundert, der abstrakten Rationalität und dem nativistischen a priori-Denken einerseits und der Subjektivität, die die Phänomenologie des folgenden 20. Jahrhun_____________ 266 267 268 269 270 271 272

Ebd., S. 91. Vgl. ebd., S. 92ff. Vgl. ebd., S. 96. Vgl. ebd. Ebd., S. 94. Ebd., S. 97. Michael Heidelberger, Innen und Außen in der Wahrnehmung. Zwei Auffassungen des 19. Jahrhunderts (und was daraus wurde). In: Olaf Breidbach und Karl Clausberg (Hrsg.), Video ergo sum. Repräsentation nach innen und außen zwischen Kunst- und Neurowissenschaften, Hamburg 1999, S. 149. 273 Vgl. ebd., S. 155.

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derts beherrschen würde, andererseits, betonen Andrea Goulet und Michael Heidelberger.274 3.4.1. Hermann von Helmholtz’ Seh- und Wahrnehmungstheorie Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Seh- und Erkenntnistheorien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der Entstehungszeit der Romane Fontanes, war der Naturforscher Hermann von Helmholtz. Nach verschiedenen Lehrtätigkeiten in Königsberg, Bonn und Heidelberg lehrte er 1871 bis 1888 an der Berliner Universität, wurde 1876 zu ihrem Direktor gewählt und stand von 1888 bis 1894 als Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt vor. Er machte sich einen Namen in vielen Bereichen der Naturwissenschaft, unter anderem auf den Gebieten der Optik und der Erkenntnistheorie. Als starkem Befürworter einer Popularisierung der Wissenschaften war ihm daran gelegen, seine Ergebnisse nicht nur der Fachwelt zugänglich zu machen, sondern durch öffentliche Reden ein breites, meist literarisch gebildetes Publikum zu erreichen.275 Diesem sollten neben klaren Erkenntnissen über Naturgesetze auch die Vorgehensweisen und Ziele der wissenschaftlichen Tätigkeit eines Naturforschers dargelegt werden. Helmholtz’ Ansichten blieben so nicht einem kleinen Kreis von Naturwissenschaftlern vorbehalten, sondern waren in groben Zügen allgemein bekannt. Insbesondere die Erkenntnisse aus »Helmholtz’ Optik, die die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierte«,276 waren in Künstlerkreisen verbreitet.277 Zudem war Fontane auch »wegen seiner [Helmholtz’, N.H.] exponierten Stellung in der damaligen Bildungselite«278 mit seiner Person279 und seinen _____________ 274 Vgl. Goulet, Optiques, S. 10f, Heidelberger, Innen und Außen) Genau in diesen Zwiespalt zwischen dem Vertrauen in die Möglichkeit einer unverfälschten Welterkenntnis und -repräsentation und dem Zweifel daran ordnet Hebekus Fontanes Kriegsberichte ein, die für ihn »in der Mitte zwischen diesen beiden Polen – des (traumatischen) Auseinanderfallens der Repräsentation des Krieges einerseits, der (angemaßten) Gewissheit seiner bruchlosen Repräsentierbarkeit andererseits« liegen (Hebekus, Friktionen der Kriegmoderne, S. 171). 275 Vgl. Horst Kant, Helmholtz’ Vortragskunst und sein Verhältnis zur populären Wissensvermittlung. In: Lorenz Krüger (Hrsg.), Universalgenie Helmholtz. Rückblick nach 100 Jahren, Berlin 1994, S. 316; Wolfgang Küttler, Bemerkungen zu Helmholtz’ Geschichtsverständnis. In: Lorenz Krüger (Hrsg.), Universalgenie Helmholtz. Rückblick nach 100 Jahren, Berlin 1994, S. 361. 276 Crary, Techniken des Betrachters, S. 94. 277 Brosch, Krisen des Sehens, S. 127. 278 Küttler, Bemerkungen zu Helmholtz’ Geschichtsverständnis, S. 360. 279 So lassen etwa folgende Stellen darauf schließen, dass in Fontanes Kreisen Klatsch über Hermann von Helmholtz ausgetauscht wurde und Fontane ihn auch persönlich kannte: »Heut ist Rütli bei Menzel [...]. Er (Menzel) kann uns von Karolyi’s erzählen, wohin er [...] geladen war [...]. Dicht neben ihm saß Helmholtz und Frau, und blieben, waren also nicht

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Ansichten280 vertraut. Zu Helmholtz’ bekanntesten Vorträgen zählen neben Über die Erhaltung der Kraft von 1847, Über das Sehen des Menschen von 1855, Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens von 1868, Optisches über Malerei von 1871–1873 und Die Thatsachen in der Wahrnehmung von 1878. Eines seiner Hauptwerke ist das in zwei Auflagen zunächst 1858 bis 1867 und dann überarbeitet 1885 bis 1895 erschienene dreibändige Handbuch der physiologischen Optik. Die Themen seiner Werke erstrecken sich von der Farbenlehre und Untersuchungen der Spektralfarben über den genauen Bau und die Funktionsweise des Auges und subjektive Phänomene wie die Nachbilder bis hin zu erkenntnistheoretischen Fragen. Internationales Aufsehen erregte er unter anderem durch seine Erfindung des Augenspiegels von 1850, der es Augenärzten ermöglichte, durch die Pupillen hindurch Augenhintergrund und Netzhaut zu betrachten. Helmholtz befasste sich mit der Frage, in wie weit die menschlichen Vorstellungen von der Außenwelt mit dieser tatsächlich übereinstimmen: »Was ist Wahrheit in unserem Anschauen und Denken? In welchem Sinne entsprechen unsere Vorstellungen der Wirklichkeit?«.281 Er stellte Überlegungen darüber an, wie man von den Sinnesempfindungen zum Wissen über die wahrgenommenen Gegenstände gelangt und wie sich die rein sinnlichen Wahrnehmungen, die bei ihm ›Empfindungen‹ genannt werden, von der Verarbeitung durch den Geist, deren Ergebnis er erst als ›Wahrnehmung‹ bezeichnet, trennen lassen. Seiner Theorie zufolge sind Eigenschaften von Objekten wie etwa deren Farbigkeit nichts den Dingen selbst Zugehöriges, sondern existieren nur durch die Wirkung der Objekte auf die Sinneswahrnehmungen des Menschen, das heißt diese Eigenschaften entstehen erst in Zusammenwirkung mit den menschlichen Sinnesorganen: »[W]ie eine solche Wirkung sich äußert, hängt natürlich ganz wesentlich von der Art des Apparats ab, auf den gewirkt wird«.282 In Anschluss an Johannes Müllers Lehre der spezifischen Sinnenempfin_____________ bei Karolyis, was ich ihnen und ihrem Hochmuth gönne.« (Theodor Fontane an Emilie Fontane, GBA, Der Ehebriefwechsel 3, S. 137.) »Am Abend in der Gesellschaft zu Zoellners; [...]. Helmholtz soll bei Gustav Richters Wiederherstellung gesagt haben: ›er muß falsch behandelt sein, sonst wär’ er todt.‹ « (Tagebucheintrag vom 25.04.1881, GBA, Tageund Reisetagebücher 2, S. 110f); »Um 5 zum Diner bei Lessing’s. Zugegen: Prof Helmholtz und Frau [...].« (Es folgt eine längere Aufzählung weiterer Anwesender.) (Tagebucheintrag vom 08.03.1882, GBA: Tage- und Reisetagebücher 3, S. 160). 280 Sabina Becker vermutet in Fontanes Formulierung, Turgenjev habe »so was von einem fotografischen Apparat in Aug’ und Seele« (GBA, Der Ehebriefwechsel 3, S. 248) eine Anspielung auf Helmholtz’ Der optische Apparat des Auges (Becker, Literatur im Jahrhundert des Auges, S. 216), was durchaus möglich wäre, in Anbetracht der damals verbreiteten Terminologien und Diskurse aber nicht eindeutig nachweisbar ist. 281 Hermann Helmholtz, Die Thatsachen in der Wahrnehmung. Rede zur Gedächtnisfeier der Stiftung der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin gehalten am 3. August 1878, Berlin 1878, S. 7. 282 Ebd., S. 12.

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dungen stellt Helmholtz fest, ein und dasselbe äußere Phänomen werde von verschiedenen Sinnesorganen unterschiedlich empfunden, bestimmte Strahlung beispielsweise vom Auge als Licht und von der Haut als Wärme,283 so dass die Natur der menschlichen Sinnesorgane die Wahrnehmung mindestens ebenso bedinge wie die wahrgenommenen Objekte. Das von den Sinnesorganen Wahrgenommene entspräche also nicht den Objekten selbst, habe keine Ähnlichkeit mit ihnen, sondern sei nur ein Zeichen für diese. Die richtige Deutung der Sinnesempfindungen erfolge daher erst durch den Verstand und müsse wie eine Sprache durch »Erfahrung, Einübung und Gewöhnung«284 erlernt werden.285 Helmholtz richtete sich gegen die von Kant und anderen Theoretikern des 19. Jahrhunderts vertretene nativistische Vorstellung, dass zumindest einige Konzepte der Gesichtswahrnehmung und Raumvorstellung a priori existierten und angeboren seien. Dagegen vertrat er die empiristische Ansicht, dass jegliche Verarbeitung der durch das Auge empfangenen Sinneseindrücke erlernt werden müsse.286 Dieses Vertrauen auf die Erlernbarkeit von Sehweisen zeigen auch zeitgenössische Maler und Fontane in den Wanderungen mit seinem Programm der Sehschulung des Lesers, das in Kapitel 4.1. ausführlicher behandelt wird. In seinen Untersuchungen über die Bedeutung des Gedächtnisses schreibt Helmholtz, eine solche Einübung sei dadurch möglich, dass die häufige Wiederholung einer bestimmten Wahrnehmung zu einer Verfestigung des Eindrucks im Gedächtnis führe. Dabei verblassten die einzelnen Umstände der jeweiligen Wiederholungssituationen, wohingegen die Gesamterfahrung haften bleibe. Vor allem gesetzmäßige und typische Vorgänge setzten sich so im Gedächtnis fest, während seltene Einzelerscheinungen zurückträten.287 Das Individuelle gerät folglich in den Hintergrund, wenn sich ein allgemeiner Begriff des Gesetzmäßigen bildet, was ein notwendiger Prozess zur Erfassung der Welt sei. Dieses »Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit alles Geschehens« lasse einen annehmen, daß ein bisher beobachtetes gesetzliches Verhalten sich auch in allen noch nicht zur Beobachtung gekommenen Fällen bewähren werde. [...] Die Gesetzmäßigkeit aber ist die Bedingung der Begreifbarkeit. Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit ist also zugleich Vertrauen auf die Begreifbarkeit der Naturerscheinungen. Setzen wir aber voraus, daß das Begreifen zu vollenden sein wird, daß wir ein letztes Unveränderliches als Ursache der beobachteten Veränderungen werden hinstellen können, so nennen wir das regulative Princip unseres Denkens, was

_____________ 283 Vgl. ebd., S. 10. 284 Friedrich Conrat, Hermann von Helmholtz’ psychologische Anschauungen, Hildesheim/Zürich et al. 1999, S. 84. 285 Vgl. ebd., S. 71. 286 Vgl. Helmholtz, Die Thatsachen in der Wahrnehmung, S. 25, 30f. 287 Vgl. ebd., S. 26.

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uns dazu treibt, das Causalgesetz. Wir können sagen, es spricht das Vertrauen auf die vollkommene Begreifbarkeit der Welt aus. Das Begreifen, in dem Sinne, wie ich es beschrieben habe, ist die Methode, mittels deren unser Denken die Welt sich unterwirft, die Thatsachen ordnet, die Zukunft voraus bestimmt. Es ist sein Recht und seine Pflicht die Anwendung dieser Methode auf alles Vorkommende auszudehnen, und wirklich hat es auf diesem Wege schon große Ergebnisse geärndtet.288

Dieses Verfahren, durch die Beobachtung von Einzelphänomenen ein grundlegendes Gesetz zu rekonstruieren und dieses als auch in Zukunft in ähnlichen Fällen für gültig anzunehmen, gilt ursprünglich zwar für die Naturwissenschaften, sei jedoch, wie Helmholtz selbst feststellt, auf jegliche Erkenntnis ausdehnbar. Hier zeigt sich das trotz des Wissens um die Subjektivität der Wahrnehmung weiter bestehende Vertrauen in die empirische Beobachtung als Weg zur Erkenntnis; ein Zwiespalt, der sich durch die gesamten Theorien des 19. Jahrhunderts zieht. In Bezug auf die Klarheit der zu findenden grundlegenden Gesetze muss nach Helmholtz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften unterschieden werden. Letzteren spricht er weniger scharf umrissene Begriffe zu, auch trennt er zwischen logischer und künstlerischer Induktion als den Ausgangsmomenten, die zum Urteil über ein Objekt führen.289 Als Beispiel für eine künstlerische Induktion wird die intuitive Beurteilung eines Menschen nach seinen Gesichtszügen angeführt, die gängigen physiognomischen Praktiken zugrunde lag, oder diejenige seiner wahrscheinlichen Handlungsweise nach seinem Charakter,290 Urteile, die »aus einem gewissen psychologischen Takt«291 entstünden. Da diese Schlüsse unbewusst stattfänden, wirkten sie jedoch auf den Urteilenden so, als seien sie »durch unmittelbare Wahrnehmung gegeben [...], ohne alle Selbsttätigkeit von unserer Seite«,292 obwohl sie doch »eigentlich nur ein Erraten oder eine wahrscheinliche Annahme«293 seien. Genau dieses Phänomen ist unter Fontanes Figuren weit verbreitet: Sie schließen nach dem äußerlich Wahrnehmbaren, vor allem dem Gesicht, auf typische Charakterzüge anderer, ohne sich bewusst zu machen, dass sie selbst diese Zuschreibungen treffen. Zudem nimmt ein Großteil der Figuren ihn umgebende Menschen und Geschehnisse hauptsächlich als typisch wahr und übersieht individuelle Unterschiede, entsprechend der bei Helmholtz beschriebenen Funktionsweise des Gedächtnisses. Für Helmholtz stellt dieses Ausgehen _____________ 288 289 290 291 292 293

Ebd., S. 40f. Vgl. Conrat, Hermann von Helmholtz’ psychologische Anschauungen, S. 64f. Vgl. ebd., S. 100. Helmholtz, zitiert in: Ebd., S. 101. Helmholtz, zitiert in: Ebd., S. 102. Helmholtz, zitiert in: Ebd.

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von typischen Grundmustern eine Notwendigkeit zur Erfassung der Welt dar, die sich unserem Verständnis entziehen würde, wenn sie nicht nach solchen Gesetzmäßigkeiten funktionieren würde. Ob Fontane sich diesem Urteil anschließt oder mit seiner Figurendarstellung Kritik an diesem Verfahren übt, wird in den entsprechenden Kapiteln über seine Romane zu untersuchen sein. Weiter stellt sich die Frage, ob Fontanes Figuren teilweise eine naturwissenschaftliche Betrachtung der Welt im Sinne Helmholtz’ fälschlich auf ihre gesamte Weltbetrachtung übertragen und so in ihren Urteilen über Menschen ebenso vorgehen wie bei der Erfassung von Naturgesetzlichkeiten, also künstlerische und logische Induktion vermischen. Helmholtz’ Ansicht nach ist es zwar möglich, dass die Naturforschung durch Beobachtung und Experiment zu objektiven Wahrheiten über die Natur gelangen kann, für die Beurteilung von Menschen jedoch schließt er solche definitiven Ergebnisse aus. Bei Helmholtz entspricht das dargelegte Vorgehen der Abstraktion vom Besonderen zum Allgemeinen insbesondere der Schaffensweise des Künstlers, der seine Erkenntnisse an einem von den Strömungen des Zufalls gereinigten Beispiele vorträgt. Er aber ist uns darin überlegen, daß er es aus allem Zufall und aller Verwirrung des Treibens der Welt herauszulesen wußte.294

Helmholtz’ im Weiteren ausgeführtes Kunstverständnis weist Parallelen zu demjenigen Fontanes auf, denn beide verlangen eine ähnliche Abstraktion vom rohen und individuellen Leben zugunsten einer leicht idealisierten Darstellung – ein Anspruch, der in zahlreichen zeitgenössischen Texten ähnlich formuliert wird. Helmholtz schreibt in Bezug auf die Malerei: Der ungebildete Beschauer verlangt in der Regel nichts, als täuschende Naturwahrheit [...]. Ein Beschauer dagegen, der seinen Geschmack an Kunstwerken feiner ausgebildet hat, [...] wird eine getreue Copie roher Natur höchstens als ein Kunststück betrachten. Um ihn zu befriedigen wird eine künstlerische Auswahl, Anordnung und selbst Idealisirung der dargestellten Gegenstände nöthig sein. Die menschlichen Figuren im Kunstwerk werden nicht die alltäglicher Menschen sein dürfen, wie wir sie auf Photographien sehen, sondern ausdrucksvoll und charakteristisch entwickelte, wo möglich schöne Gestalten, die vielleicht keinem lebenden oder gelebt habenden Individuum angehören, sondern nur einem solchen, wie es leben könnte, und wie es sein müsste, um irgend eine Seite des menschlichen Wesens in recht voller und ungestörter Entwickelung zur lebendigen Anschauung zu bringen./ Wenn aber auch der Künstler nur solche idealisirte Typen [...] darzustellen hat, sollte das Gemälde nicht wenigstens eine

_____________ 294 Helmholtz, Die Thatsachen in der Wahrnehmung, S. 26.

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wirklich vollkommen und unmittelbar getreue Abbildung derselben sein müssen, wie sie erscheinen würden, wenn sie irgendwo und wann in das Leben träten?295

Die Photographie wird hier ganz wie bei Fontane und den poetischen Realisten als unkünstlerisch abgelehnt und gewisse Wendungen wie die »getreue Copie roher Natur« stehen deren Ausdrucksweisen sehr nahe. Auch Helmholtz’ Bevorzugung einer idealisierten und dabei dennoch realitätsnahen Darstellung erinnert an die in Kapitel 3.3.1. dargestellte Position der Schriftsteller. Durch die Tätigkeit des Gedächtnisses verfestigen sich Helmholtz zufolge nicht nur typische und oft wiederholte Eindrücke, während Einzelphänomene in den Hintergrund treten, sondern zu neuen Sinneseindrücken gesellen sich zudem immer Reproduktionen vorangegangener Erfahrungen und Assoziationen, was Helmholtz als ›unbewusste Schlüsse‹ bezeichnet. Er stellt sogar fest, dass der momentane sinnliche Eindruck nur den kleineren Anteil der Wahrnehmung ausmache, während durch frühere Beobachtungen Eingeprägtes sie zum größeren Teil bestimme.296 Die Beeinflussung der visuellen Wahrnehmung durch Ideenassoziationen und Wirkungen von Gedächtnisinhalten in der Darstellung Helmholtz’ kann somit kaum überschätzt werden. Auch dieser Punkt wird sich deutlich bei Fontanes Konzeption des Sehens von Figuren wieder finden, das durch ihre Urteile und Einstellungen bestimmt wird. Sie vertrauen ihrer Wahrnehmung, ohne deren Beeinflussung durch eigene Assoziationen zu bedenken und erliegen so ihren unbewussten Schlüssen, die sie nicht als solche erkennen. Schon die bisher zusammengefassten Aussagen Helmholtz’ führen zu einer Verunsicherung in Bezug auf die Verlässlichkeit von visuellen Sinneseindrücken, wenn sie nur noch als durch Erfahrung und Übung erlernbare, arbiträre Zeichen für die Außenwelt definiert und ausdrücklich nicht als einfaches Abbild der Welt angesehen werden.297 Hinzu kommen in seiner Schilderung zahlreiche weitere Feststellungen über die Entstehung von Sinnestäuschungen, die erst bei der Verarbeitung im Gehirn zustande kommen oder schon durch den Bau oder die Mängel des Auges während der reinen Sinnesempfindung bedingt sein können. Die beschriebenen unbewussten Schlüsse etwa stellten sich laut Helmholtz auch dann ein, wenn die objektive Verbindung zweier Vorstellungen einmal nicht wie gewöhnlich vorhanden sei, so dass man etwas zu sehen glaube, was in diesem Fall gar nicht vorliege, sondern nur unter gewöhnlichen Bedingungen denselben Eindruck auf unseren Sehapparat _____________ 295 Hermann von Helmholtz, Optisches über Malerei. In: Ders., Populäre wissenschaftliche Vorträge, Bd. 3, Braunschweig 1876, S. 59f. 296 Vgl. Helmholtz, Die Thatsachen in der Wahrnehmung, S. 27. 297 Ebd., S. 12f.

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machen würde.298 So empfinde man beispielsweise auch eine mechanische Reizung des Auges durch Druck oder elektrischen Strom als Licht, da die Sehnerven normalerweise durch Licht gereizt werden.299 Als Beispiel, dass der Bau des Auges die Wahrnehmung der Außenwelt bedinge, führt Helmholtz an, dass runde Sterne in der menschlichen Wahrnehmung »strahlig«300 erschienen, da die Linse des Auges einen strahlenförmigen Bau habe. Als weitere Sinnestäuschungen nennt er Spiegelbilder, Fernrohre und Mikroskope, bei denen man jeweils einem falschen Eindruck von der Nähe der betrachteten Gegenstände erliege.301 Hinzu kommen durch unwillkürliche Bewegungen des Auges entstehende Täuschungen, wie die Scheinbewegungen, die bei Schwindel, Fieber oder nachdem man sich schnell im Kreis gedreht habe, einträten.302 Auch bei Zug- und Schifffahrten könne diese Scheinbewegung entstehen: Jemand, der in einem Eisenbahnzuge sitzend, längere Zeit die Gegenstände, an denen er vorüberfährt, betrachtet hat, und nun in den Wagen hineinblickt, glaubt die Gegenstände im Coupé in der entgegengesetzten Richtung bewegt zu sehen. Jemand, der einige Zeit auf der See gefahren ist, glaubt nachher am Lande ähnliche Bewegungen des Zimmers zu sehen, wie sie in der Cajüte des Schiffes stattfanden. In diesen Fällen hat sich eine falsche Gewöhnung des Urteils ausgebildet.303

Dieses Phänomen betont Helmholtz vor allem deswegen, da es »lehrt, wie schnell eine veränderte Einübung in der Deutung der Sinneswahrnehmungen eintreten kann«.304 Aufschluss über die Verarbeitungsweise von Wahrnehmungen im Gehirn geben auch Beobachtungen zum blinden Fleck: Wenn man nur durch ein Auge blicke, übersähe man einen Punkt, der sich an der Stelle des blinden Flecks befinde und ergänze die übrige Hintergrundfarbe. Ebenso ergänze man den Teil einer Figur, der durch den blinden Fleck verdeckt sei, so, dass es den am häufigsten vorkommenden Figuren ähnlicher Art entspräche. Dies könne natürlich dazu führen, dass man eine Figur ergänze, die so nicht vorliege.305 Trotz des Wissens um solche Vorgänge sei es einem Menschen nicht möglich, diese unbewussten Schlüsse zu steuern. Auch wenn einem _____________ 298 Vgl. Hermann von Helmholtz, Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens. In: Ders., Populäre wissenschaftliche Vorträge, Bd. 2, Braunschweig 1871, S. 91. 299 Vgl. Helmholtz, Die Thatsachen in der Wahrnehmung, S. 9. 300 Hermann von Helmholtz, Über das Sehen des Menschen. Ein Populär Wissenschaftlicher Vortrag gehalten zu Königsberg in Pr. zum Besten von Kant’s Denkmal am 27. Februar 1855, Leipzig 1855, S. 12. 301 Vgl. ebd., S. 22f. 302 Vgl. ebd., S. 28. 303 Ebd., S. 28. 304 Ebd., S. 29. 305 Vgl. ebd., S. 32.

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bewusst sei, dass etwas sich in der Wirklichkeit anders verhalte, als man es wahrnehme, könne man an der Wahrnehmung nichts ändern: »[I]ch habe schon anerkannt, dass diese Acte ohne unser Wissen vor sich gehen, und auch nicht durch unsren Willen und unsere bessere Überzeugung abgeändert werden können«.306 Das bedeutet, dass der Mensch unausweichlich immer wieder Sinnestäuschungen ausgesetzt ist und das Wahrgenommene fälschlich für die ihn wirklich umgebende Welt hält. Dem Vertrauen in die Möglichkeit einer Wahrnehmung der Welt, wie sie ›tatsächlich ist‹, wird damit jegliche Basis entzogen. Im Normalfall mache man sich solche Täuschungen kaum bewusst, weder die sich erst bei der Verarbeitung im Gehirn vollziehenden noch die schon während der reinen Sinnesempfindung auftretenden. Neben der Wirkung des Gedächtnisses und der Ideenassoziationen, die Helmholtz als erste allgemeine Eigentümlichkeit der Sinneswahrnehmungen betrachtet, gilt für ihn zweitens das Phänomen, dass man sich bewusst nur mit solchen Sinneswahrnehmungen befasse, die einem Erkenntnisse über die Außenwelt vermittelten, während man von allen subjektiven Empfindungen abstrahiere.307 Zu diesen als ›entopisch‹ bezeichneten subjektiven Erscheinungen zählt er etwa die sich bei Müdigkeit einstellenden Schlieren, die ›fliegende Mücken‹ genannt werden, Nachbilder und Ähnliches.308 Sie zeichneten sich dadurch aus, dass sie sich mit der Augenbewegung zusammen verschöben. An Unvollkommenheiten des Auges zählt Helmholtz noch einige weitere auf, wie die »Farbenzerstreuung«,309 die »Abweichung wegen der Kugelgestalt der brechenden Flächen «310 und den »Astigmatismus«, der »bewirkt, dass wir nicht gleichzeitig horizontale und vertikale Linien in derselben Entfernung vollkommen deutlich sehen können«.311 Zudem wird festgestellt, dass das menschliche Auge nur einen Teil aller Wellenlängen als Licht wahrnimmt, besonders kurz- und besonders langwellige Bereiche jedoch, wie sie an beiden Seiten des Farbprismas auftreten, entzögen sich der menschlichen Wahrnehmung.312 Helmholtz’ Schlussfolgerung lautet: Nun ist es nicht zuviel gesagt, dass ich einem Optiker gegenüber, der mir ein Instrument verkaufen wollte, welches die letztgenannten Fehler hätte, mich vollkommen berechtigt glauben würde, die härtesten Ausdrücke über die Nachlässigkeit seiner Arbeit zu gebrauchen, und ihm sein Instrument mit Protest

_____________ 306 307 308 309 310 311 312

Ebd., S. 33f. Vgl. Conrat, Hermann von Helmholtz’ psychologische Anschauungen, S. 112. Vgl. ebd., S. 113. Helmholtz, Die neueren Fortschritte, S. 18. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 37.

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zurückzugeben. [...] Wir sind aber mit unserem Sündenregister für das Auge noch nicht fertig.313

Helmholtz zählt weitere Unregelmäßigkeiten des Auges auf, um dennoch am Ende zu dem Schluss zu gelangen, dass deren Effekte zwar bei einem optischen Gerät störend sein würden, das Auge für die Bedürfnisse des menschlichen Sehens jedoch völlig zweckmäßig sei.314 Er begründet dies Urteil vor allem damit, dass man zwei Augen habe, die untereinander die Fehler ausglichen und man die eigene Stellung zum Beobachteten durch Bewegung verändern könne. Dadurch könne man das Objekt von verschiedenen Perspektiven aus wahrnehmen und erfassen, so dass eine von nur einem Standpunkt aus falsche Annahme durch Bewegung leicht korrigiert werden könne. Diese Ansichten eines Objektes aus verschiedenen Perspektiven nennt Helmholtz »Localzeichen«, denn auch deren Verständnis werde »erst durch Erfahrung erworben«.315 Dieser kurze versöhnliche Absatz am Ende einer langen Aufzählung des ›Sündenregisters‹ des Auges in Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens hebt jedoch kaum die Verunsicherung wieder auf, die sich während des gesamten Aufsatzes beim Rezipienten aufgebaut hat. Eine Parallele zur Feststellung, die aufgezählten Mängel ließen sich durch den Wechsel der Perspektive ausgleichen, kann man in Fontanes Texten darin finden, dass er das Geschehen ebenfalls aus unterschiedlichen, begrenzten und fehlerhaften – sowohl optischen als auch weltanschaulichen – Perspektiven verschiedener Figuren und des Erzählers präsentiert. Dadurch kann der Leser im Gesamtüberblick über die verschiedenen Positionen deren Inhalte gegeneinander abwägen und gelangt zu einem vielschichtigeren und zuverlässigeren Bild der Romanwelt, als wenn sie nur aus einer Blickweise geschildert würde. Helmholtz folgt im Übrigen dem traditionsreichen Camera obscuraModell des Sehens, allerdings in der Verwendung der Camera obscura als Photoapparat: Das Auge ist ein von der Natur gebildetes optisches Instrument, eine natürliche Camera obscura. Ich setze voraus, dass der grösste Theil meiner Zuhörer schon Daguerresche oder photographische Bilder hat anfertigen sehen, und sich das Instrument ein wenig betrachtet hat, welches dazu gebraucht wird. [...] Ein eben solches Instrument ist nun das Auge; der einzige wesentliche Unterschied mit demjenigen, welches beim Photographiren gebraucht wird, besteht darin, dass statt der matten Glastafel oder lichtempfindlichen Platte im Hintergrund des Auges die empfindliche Nervenhaut oder Netzhaut liegt, in welcher das Licht Empfindungen hervorruft, die durch die im Sehnerven zusammengefassten

_____________ 313 Ebd., S. 71f. 314 Ebd., S. 28. 315 Helmholtz, Die Thatsachen in der Wahrnehmung, S. 29.

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3. Historischer Hintergrund

Nervenfasern der Netzhaut dem Gehirn, als dem körperlichen Organe des Bewusstseins, zugeführt werden.316

Es folgt eine detaillierte Beschreibung des Baus des Auges im Vergleich mit dem der Photokamera.317 »Die Krystalllinse im Verein mit der gekrümmten Fläche der Hornhaut vertritt im Auge die Stelle der Glaslinse in der Camera obscura des Photographen«.318 So wie ein Photograph die Linse seines Instruments je nach dem, ob er Nähe oder Ferne scharf abbilden wolle, von der Platte entfernen oder ihr nähern müsse, erfolge auch im Auge eine Veränderung der Form der Linse durch Muskeln, die Akkomodation.319 Das Auge wird in Bau und Funktion der Maschine gleichgesetzt, jedoch mit den Unterschieden, dass es ihr gegenüber die vielen aufgezählten Mängel enthalte und dass beim Photoapparat das fertige Bild schon auf der Platte entstehe, die der Netzhaut des Auges entspreche, während die dort empfangenen Informationen beim Menschen erst im Gehirn zum wahrgenommenen Bild verarbeitet würden. Insofern bestätigt sich bei Helmholtz Crarys These vom Unterschied zwischen dem alten Camera obscura-Modell und der neuen Gleichsetzung mit der Photokamera, bei der die Subjektivität und körperliche Bedingtheit der Wahrnehmung mitbedacht wird.320 Auf ähnliche Weise setzt Fontane in den Wanderungen menschliches Sehen und visuelle Erinnerungsfähigkeit dem photographischen Prozess gleich: Es scheint fast, daß alle hervorragenden Künstler die oft ans Wunderbare grenzende Gabe besitzen, das allerflüchtigst Wahrgenommene auf viele Jahre hin, um nicht zu sagen für immer, in ihrer Vorstellung zu bewahren. Das Geschaute fällt wie ein Lichtbild in ihre Seele und fixiert sich daselbst.321

So wie sich das Bild auf dem Weg über die Linse der Kamera auf der photographischen Platte einprägt, fixiert es sich in dieser Vorstellung auch im Gedächtnis. Dabei entspricht das Auge, das in diesem Zusammenhang als »bloßes Registrationsmedium«322 dient, der Kameralinse, das Gedächtnis dem photographischen Bild. Fontanes Vergleich unterscheidet sich somit von demjenigen Helmholtz’ dadurch, dass beim Naturforscher die Netzhaut mit dem photographischen Bild gleichgesetzt wird, das erst im Bewusstsein, wo vorhandene Bewusstseinsinhalte Einfluss auf die _____________ 316 317 318 319 320 321 322

Helmholtz, Über das Sehen, S. 7f. Vgl. ebd., S. 8f. Ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 9f. Vgl. Crary, Techniken des Betrachters, S. 43. WMB 9, S. 101. Jost, Das poetische Auge, S. 68f.

3.4. Seh- und Wahrnehmungstheorien im 19. Jahrhundert

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Wahrnehmung nehmen, tatsächlich als Bild wahrgenommen wird.323 Bei Fontane dagegen scheint in der Feststellung von der Analogie der Wahrnehmung zum photographischen Vorgang ein Abbild der Wirklichkeit direkt und unverfälscht aufgenommen zu werden, so wie er auch in seinen poetologischen Feststellungen davon ausgeht, dass eine photographische Schreibweise die Realität völlig objektiv wiedergeben könne.324 Daher kann der zitierte Vergleich zur Annahme verleiten, Fontane setze den gesamten menschlichen Wahrnehmungsvorgang demjenigen der Aufzeichnung durch die Kamera gleich und beurteile damit das Sehen als objektive Wahrnehmung der Welt. Jost urteilt dementsprechend, Fontane glaube noch an ein solches unverfälschtes Sehen, wie es nach Helmholtz kaum noch Bestand haben konnte: Mit dem literarischen Realismus kehrt der Glaube an die unproblematische Abbildbarkeit der Welt zurück [...]. Wie die Rationalisten weiß sich der Realist Fontane im Besitz eines sicheren, das heißt objektiven Sehens, des klaren, von keiner subjektiven Verfärbung beeinträchtigten Auges.325

Insofern jedoch, als Fontane mit den Wanderungen eine Veränderung des Sehens anstrebte,326 zeigt er ein starkes Bewusstsein davon, dass man auf unterschiedliche Art wahrnimmt, je nachdem welche Erfahrungen man gemacht hat, denn nur so lässt sich die Art und Weise des Sehens ändern und erlernen. Er ist sich durchaus der Subjektivität von Wahrnehmung sowie ihrer Beschreibung bewusst, wie folgende Stelle über den Einfluss von Stimmungen sehr deutlich macht, an der er diesen sogar einen größeren Anteil an Beschreibungen zuspricht als dem beschriebenen Objekt selbst: Er bemerkt, »wie sehr das Auge mit dem man sah und die Stimmung in der man schrieb, vielfach mehr in Betracht kommen, als die Sache selbst«.327 Dies erinnert an Helmholtz’ Feststellung, der momentane Sinneseindruck trage weniger zur Wahrnehmung bei als hinzugefügte Assoziationen. Damit findet sich bei Fontane ein anscheinender Widerspruch zwischen der Annahme einer rein registrierenden Wahrnehmung einerseits und der Möglichkeit der Beeinflussung der subjektiven und änderbaren Wahrnehmung andererseits, ähnlich wie Helmholtz einerseits noch auf Beobachtung als wissenschaftliches Verfahren vertraut, während er andererseits die Subjektivität jeglicher Wahrnehmung verhandelt. Im Falle Fontane lässt sich dieser Widerspruch dadurch erklären, dass er gängigen zeitgenössischen Vorstellungen entsprechend zwischen dem ›äußeren _____________ 323 324 325 326 327

Vgl. Helmholtz, Über das Sehen, S. 7ff. Vgl. dazu Kapitel 3.3.1. und 3.3.2. der vorliegenden Arbeit. Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 465. Vgl. Kapitel 4.1. der vorliegenden Arbeit. WMB 9, S. 546.

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Auge‹ als kameraartig registrierendem Wahrnehmungsorgan und dem ›inneren Auge‹ als Ort der durch ästhetische Erfahrung und Ausbildung beeinflussbaren Verarbeitung der Sinneseindrücke unterschied.328 So hielt er anscheinend eine objektive, registrierende Wahrnehmung und ebensolche künstlerische Wiedergabe des empfangenen Eindrucks für möglich, wenn sie für ihn auch ausdrücklich eine Ausnahme und besondere Fähigkeit einiger Maler darstellte, keineswegs den Normalfall. Einzelheiten der physiologischen Optik, die schon die Fehlerhaftigkeit des ›äußeren Auges‹ feststellen, scheinen ihm somit – zumindest zur Entstehungszeit der Wanderungen – nicht präsent gewesen zu sein. Am Ende dieser Ausführungen über Helmholtz’ Theorien des Sehens lässt sich nachvollziehen, welchen erschütternden Eindruck sie auf seine Zeitgenossen und so auch auf Fontane ausübten. Einerseits wurden dem Vertrauen in eine objektive, wahre und umfassende Wahrnehmung der Welt die Grundlagen entzogen, indem jegliche Wahrnehmung als nur zeichenhaft und erlernt und zudem durch die Bedingtheiten des menschlichen Körpers sowie die Verarbeitung im Gehirn als subjektiv beschrieben wird. Sinnestäuschungen mussten als unumgängliches und alltägliches, unbewusstes Phänomen akzeptiert werden – eine Erkenntnis, die, ebenso wie die von Helmholtz betonte Beeinflussung durch Vorwissen, noch heute die Wahrnehmungsforschung bestimmt.329 Dem stand die widersprüchlich scheinende Annahme gegenüber, dass durch empirische Beobachtungen und Experimente naturwissenschaftliche Erkenntnisse über die Grundgesetze der Natur gewonnen werden könnten. Hierbei wurde die Möglichkeit der Erkenntnis der Wahrheit durch das – teilweise unter Verwendung optischer Hilfsmittel erfolgende – Sehen zugrunde gelegt. Den Auswirkungen dieser Theorien auf die literarischen Texte Fontanes nachzugehen, wird eine der Aufgaben der vorliegenden Arbeit sein. 3.4.2. Der Einfluss der Wahrnehmungstheorien auf die Malerei Schon bevor Herrmann von Helmholtz theoretisch dargelegte, dass Wahrnehmung erlernbar ist und wie dieses Lernen im Einzelnen vor sich geht, _____________ 328 Vgl. Kalazny, ›Das landschaftliche Auge‹, S. 165f. 329 »Unsere Wahrnehmungen sind keine isomorphen Abbildungen einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit. Sie sind vielmehr das Ergebnis hochkomplexer Konstruktionen und Interpretationsprozesse, die sich sehr stark auf gespeichertes Vorwissen stützen. Dieses Vorwissen wiederum speist sich aus unterschiedlichen Quellen, wobei sowohl evolutionäre Prozesse als auch individuelle Seherfahrungen, die das Gesehe zu interpretieren erlauben, von Bedeutung sind. [...] Interessant ist, daß wir keine bewußte Kontrolle über diese interpretativen Prozesse haben. [...] [D]as Wissen um die Illusion [hat] keinen Einfluß auf die Wahrnehmung« (Singer, Das Bild in uns, S. 114f).

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entwickelten einige Schriftsteller und Maler Ende des 18. Jahrhunderts die Idee, die Wahrnehmungsfähigkeit eines Menschen durch die Betrachtung darauf abzielender Gemälde zu schulen und zu verändern. Im 18. Jahrhundert versuchte man noch, sich so eine möglichst unmittelbare, nicht durch bestehendes Wissen verfälschte Wahrnehmungsweise anzueignen. August Wilhelm Schlegel stellte in seinen Kunstgesprächen von 1799 »das Wissen als den eigentlichen Feind eines unmittelbaren Sehens«330 dar, das durch Kunstbetrachtung erlernt werden sollte. William Gilpin, Verfasser von Reiseliteratur und Begründer der Ästhetik des ›Picturesquen‹,331 wollte dem Dilemma, dass man sich des Sehens nicht bewusst ist, da man es nie um seiner selbst willen ausführt, begegnen, indem er das Auge des Reisenden und des Malers zunächst an der Natur, dann [...] an der Kunst schulen will. Gilpin zielt auf die Ausbildung des Sehvermögens selbst. Ihm ist daran gelegen, sozusagen die Schutzschirme des Wissens wie auch der Wahrnehmungskonventionen abzulegen, um das zu sehen, was sich tatsächlich in der Natur vor den Augen des Betrachters abspielt.332

Angestrebt wurde damit von ihm ebenso wie anderen zeitgenössischen Autoren von Reiseliteratur333 ein ›reines‹, unverfälschtes und genaues Sehen, das erst später durch die Erkenntnisse Helmholtz’ zur Unmöglichkeit erklärt wurde. Einer der Maler, die sich Gilpins Programm einer Sehschulung durch die Malerei anschlossen, war Thomas Gainsborough, der »auf die Wahrnehmungsoperation des Betrachters angelegte künstlerische Techniken«334 verwendete und sich dabei auf weitere zeitgenössische Sehtheorien stützte. Gainsboroughs Gemälde zeichnen sich etwa seit den 1770er und 80er Jahren mit ihrer Betonung von Licht und Farben durch eine starke Flächigkeit aus, die dem Auge keine Anhaltspunkte mehr für räumliche Nähe oder Ferne bietet.335 Indem man sich in ihren teils sehr auffälligen Größen- und Entfernungsverhältnissen erst langsam zurecht finden muss und während dieses Prozesses die eigenen Wahrnehmungsmechanismen verfolgen kann, ermöglichen einem diese Gemälde, während der Betrachtung zu erfahren, wie subjektiv und veränderlich das Sehen bzw. die Interpretation ein und desselben Bildes sein kann.336 Man _____________ 330 Bettina Gockel, Gemalte Sehweisen. Sehen in Kunst, Ästhetik und Naturwissenschaft der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Dürbeck, Dies. et al., Wahrnehmung der Natur, Natur der Wahrnehmung, S. 208. 331 Vgl. ebd., S. 297. 332 Ebd., S. 208. 333 Vgl. ebd., S. 209. 334 Ebd., S. 211. 335 Vgl. ebd., S. 211f. 336 Vgl. ebd., S. 216.

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kann die Einschätzung von Nähe und Ferne als eigene Leistung und damit Subjektivität des Sehens begreifen.337 »Der Bildbetrachter erfährt durch Gainsboroughs Gemälde von der zeitgenössischen Naturwissenschaft gestützte Thesen. Insofern kann man sagen, daß der Künstler gewissermaßen ein objektives Bild subjektiven Sehens gemalt hat«.338 Zusätzlich wollte Gainsborough, dass Betrachter seine Bilder von nah und fern betrachten könnten, damit sie anhand derselben auch die Erfahrung machen könnten, wie aus vielen einzelnen, verschiedenfarbigen Pinselstrichen, die man aus der Nähe sah, bei einer Betrachtung aus größerer Entfernung ein homogener Farbraum entstand.339 Vor seinen Bildern wurde dem Betrachter das Bewußtsein über den Wahrnehmungsvorgang, über die Differenziertheit des Sehens antrainiert. Im Vor- und Zurücktreten vor dem Bild, also dem Sehen der bildnerischen Mittel, die erst im Zurücktreten die Illusion einer natürlich wirkenden Außenraumatmosphäre stiften, wurde dem Betrachter ermöglicht zu sehen, wie er synthetisiert. Dabei wurde nicht zuletzt die unbewußte Mechanik von Sinneseindruck und Bedeutungszuweisung aufgebrochen. Insofern sind die Gemälde Gainsboroughs und die von ihm geforderte Bewegung vor dem Bild geradezu Lehrstücke über den Wahrnehmungsprozess.340

Dem Betrachter sollten so seine eigenen Sehleistungen bewusst gemacht werden, um sein Sehen für zukünftige Natur- und Wirklichkeitsbetrachtungen zu schärfen.341 Er sollte sich über seine Synthetisierungen und subjektiven Hinzufügungen zum Gesehenen bewusst werden, um es in zukünftigen Seherlebnissen mit zu bedenken. In einer noch nicht von Helmholtz beeinflussten Denkweise sollte man darüber hinaus so die Fähigkeit des objektiven Sehens erlangen können, was nach seinen Veröffentlichungen nicht mehr angestrebt wurde. In den Akademien setzte sich Gainsboroughs Vorstellung davon, wie seine Bilder präsentiert und betrachtet werden sollten, zunächst nicht durch, so dass er ab 1784 in seinen Privaträumen ausstellte, was dafür spricht, wie wichtig ihm die richtige Art der Bildbetrachtung war, um den erwünschten Effekt auf den Betrachter zu ermöglichen.342 Dennoch beeinflusste er mit seinem Verlangen, Bilder müssten von nah und fern betrachtet werden, die Bildkonzeption von Künstlern nach 1800.343 Schließlich wurden »sinnesphysiologische Einsichten über die Funktion des Auges sogar von _____________ 337 338 339 340 341 342 343

Vgl. ebd., S. 212. Ebd., S. 216. Vgl. ebd. Ebd., S. 217f. Vgl. ebd., S. 218. Vgl. ebd., S. 219. Vgl. ebd.

3.4. Seh- und Wahrnehmungstheorien im 19. Jahrhundert

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Ausstellungsveranstaltern bei der Hängung der Bilder berücksichtigt«,344 und die alte Art, Gemälde dicht an dicht, die gesamte Wand vom Boden bis zur Decke füllend aufzuhängen, wich nach und nach Präsentationsweisen, die dem Betrachter das nahe Herangehen an auf Augenhöhe befindliche Bilder ermöglichten. Die neuesten Erkenntnisse zeitgenössischer Wahrnehmungstheoretiker gingen so bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts in die Malweisen von Künstlern und die gewünschten Rezeptionsleistungen der Betrachter ein und wurden dem Publikum anhand der Kunstrezeption vermittelt. Diese Entwicklung verstärkte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, in dessen 70er Jahren schließlich die Impressionisten noch radikaler als frühere Maler die Zeichenhaftigkeit optischer Werte, die Subjektivität und Synthetisierungsleistung des menschlichen Sehens zur Grundlage ihrer Malweise machten. Dargestellt werden nicht mehr die Objekte der Natur selbst oder »Wahrheitswerte«, sondern nur mehr die »Wahrnehmungsdaten«.345 Die moderne Malerei versuchte damit nicht mehr, eine objektive Wahrnehmung zu schulen, sondern stellte deren Subjektivität und momentane, individuelle Sinneseindrücke dar, um auf die Zeichenhaftigkeit alles Gesehenen zu verweisen. Insbesondere der Pointillismus oder Divisionismus ließ den Betrachter darüber reflektieren, wie er aus zeichenhaften Farbpunkten selbst ein Bild synthetisierte.346 Bezüge zwischen der von der Malerei angestrebten Wahrnehmungsschulung und Fontanes Werk liegen vor allem darin, dass er sich mit seinen Wanderungen dasselbe Ziel setzt – wie im folgenden Kapitel dargestellt –, können aber auch darin gesehen werden, dass die gesamte Wahrnehmungsthematik – insbesondere deren Subjektivität – auch in seinem Erzählwerk einen ebenso bedeutenden Platz einnimmt wie in der zeitgenössischen Malerei.347

_____________ 344 345 346 347

Schikore, Eröffnung der Augen, S. 13. Köhnen, Das optische Wissen, S. 371. Vgl. ebd., S. 436. Vgl. dazu Kapitel 5. der vorliegenden Arbeit.

Bezüge zwischen der

4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« Als Vorstufe zur Romananalyse werden im Folgenden die zwischen 1862 und 1889 veröffentlichten Wanderungen analysiert, da nicht nur die dort erzählten Geschichten und Anekdoten im späteren Romanwerk weiterverarbeitet wurden, sondern auch deren verschiedene Arten der visuellen Wahrnehmung bzw. bildlichen Beschreibung: Der Autor entwickelt in seinen Schriften eine Bildlichkeit – hier verstanden als Gesamtheit des Fontaneschen Bildinventars –, die er thematisch ›speichert‹ [...] und in ähnlich zu gestaltenden, thematisch adäquaten Textpassagen neuer Werke als ›Vorlage‹ benutzt.1

So tauchen nicht nur symbolische, sondern auch visuelle Bilder bzw. Wahrnehmungsarten, die schon in Jenseit des Tweed ausprobiert und in den Wanderungen weiterentwickelt wurden, im späteren Erzählwerk wieder auf.2 Dieser Vorgehensweise Fontanes entsprechend werden auch in der vorliegenden Arbeit die Wanderungen mit ihrer Betonung der visuellen Wahrnehmung und ihrer Bildhaftigkeit genutzt, um eine Art Materialsammlung Fontanescher Wahrnehmungs- und Beschreibungsarten zu erschließen. Die Parallelen dieser unterschiedlichen Sehweisen zu verschiedenen Gemäldearten und der Photographie sowie die Vorwegnahme später im Medium Film praktizierter Wahrnehmungswiesen werden dargelegt, ebenso die mit Bildern und Sehen verknüpften Themengebiete, auf die bei der sich anschließenden Untersuchung der Romane zurückgegriffen werden kann. Damit soll eine erste Annäherung an eine Definition des ›Bildhaften‹ in Fontanes Werk erfolgen. Um hierbei ›Malerisches‹ und ›Photographisches‹ voneinander abzugrenzen, wird im Anschluss Fontanes eigene Begrifflichkeit des ›Malerischen‹ untersucht. Zudem wird sein Verhältnis zur Malerei anhand seiner Bildbeschreibungen herausgearbeitet, die darüber Aufschluss geben, wie Fontanes Kunstbegeisterung und Erfahrungen mit der Kunstkritik Eingang in sein literarisches Schaffen fanden. Nach diesem speziellen TextBild-Bezug wird umfassender analysiert, wie der Autor im Text der Wanderungen das Verhältnis zwischen Bild bzw. bildhafter Beschreibung und Text gestaltet, wie beide Medien einerseits ineinander übergehen und _____________ 1 2

Udo Meyer, ›es liegt alles vorgezeichnet…‹ Zwei Bilder Theodor Fontanes und ihre Spiegelung im Werk. In: Fontane Blätter 54 (1992), S. 98. Vgl. Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹, S. 110.

110

4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

andererseits von ihren Möglichkeiten her gegeneinander abgegrenzt werden. Da Photographien in den Wanderungen noch kaum erwähnt werden, kann eine gleichermaßen detaillierte Untersuchung zur Photographie hier nicht stattfinden, sondern wird erst bei der Analyse der später entstandenen Romane einen höheren Stellenwert einnehmen, entsprechend dem von Koppen festgestellten »Verzögerungseffekt«: Es dauert Jahrzehnte, bis in den Romanen des 19. Jahrhunderts nicht mehr die Pferde traben und die Postkutschen rollen, sondern die Eisenbahnen fahren [...]. Einen ähnlichen Verzögerungseffekt finden wir auch in den literarischen Reaktionen auf die Photographie.3

4.1. Der bildhafte Text als Sehschule Der Text der Wanderungen zeichnet sich besonders durch die auffällige Bildhaftigkeit seiner zahlreichen Beschreibungen aus, die Fontane bewusst erzielen wollte – womit ein intermedialer Bezug vom Typ 3.1. vorliegt. An entsprechenden Textstellen spricht er von ›Landschaftsbildern‹ (vgl. z. B. WMB 9, S. 109, 435; WMB 10, S. 19, 95), nicht etwa von Landschaftsbeschreibungen, und verweist damit auf eine spezielle Gemäldegattung, denn der Fachterminus ›Landschaft‹ stammt ursprünglich aus der Malerei, wurde aber im allgemeinen Sprachgebrauch bereits seit dem 18. Jahrhundert auf literarische Naturbeschreibungen oder bildhafte Eindrücke, die an solche Gemälde erinnerten, übertragen.4 Dieser Ursprung des Begriffs war dem Kunstkenner Fontane sicherlich bekannt, und so ist davon auszugehen, dass er den Bezug zur Malerei in seiner Wortwahl beabsichtigt hat, zumal bei ihm gegenüber früheren Autoren von Reiseliteratur »der inflationäre Gebrauch der Bild›vokabel‹ im Zusammenhang mit Landschaft ins Auge«5 fällt. Darüber hinaus wird das Ziel, eine literarische Bildhaftigkeit zu erreichen, anhand früherer Titel der Zeitschriftenbeiträge, die später zusammengefasst als Wanderungen erschienen, ersichtlich: In der Kreuzzeitung wurden einige Aufsätze als Märkische Bilder veröffentlicht, im Morgenblatt für gebildete Leser unter der Bezeichnung Bilder und Geschichten aus der Mark Brandenburg. Fontane betonte damit ausdrücklich die angestrebte Anschaulichkeit und den Versuch, im Medium des Textes Bildlichkeit zu vermitteln. _____________ 3 4 5

Erwin Koppen, Die Dichter und das erste optische Medium: Beobachtungen zum Thema ›Literatur und Photographie‹. In: Komparatistische Hefte 5/6 (1982), S. 103. Vgl. Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 15, 74. Ebd., S. 483.

4.1. Der bildhafte Text als Sehschule

111

Dem entspricht auch, dass die Wanderungen zu Fontanes Lebzeiten nie illustriert erschienen sind, denn der Text selbst sollte in seinen Beschreibungen Bildhaftigkeit vermitteln, wodurch zusätzliche Illustrationen überflüssig waren. Fischer vermutet, dass »Fontane nie ernsthaft bestrebt war, seine Wanderungen zusätzlich zu bebildern. Sie waren ja schon voller Bilder«.6 Auch in Kommentaren Fontanes zu seinen Kriegsbüchern zeigt sich seine »Abneigung gegen eine bestimmte Art von Illustrierung und der Vorzug, der [...] dem Text vor dem Bild zukommen sollte«.7 Die zahlreichen posthum publizierten Ausgaben mit Photographien8 bringen daher in Anerkennung der Fähigkeit Fontanes, mit seinen anschaulichen Beschreibungen bereits Bilder zu evozieren, keine Illustrationen bereits bildhaft geschriebener Passagen, sondern vermeiden solche Doppelungen. Stattdessen stellen sie eher nur kurz erwähnte Orte oder Gegenstände dar, die nicht von einer eindeutig bestimmbaren Perspektive aus oder mit festgelegten Wahrnehmungsbedingungen beschrieben werden.9 _____________ 6

7 8 9

Fischer, Märkische Bilder, S. 135. Andererseits versieht Fontane selbst einige Textstellen mit Zeichnungen, worauf Kapitel 4.6. der vorliegenden Arbeit näher eingeht, und hat laut Herausgeber des ersten illustrierten Bandes selbst »die Absicht ausgesprochen, seine ›Wanderungen‹ auf den ›heutigen Stand der Dinge‹ zu bringen«, also zu illustrieren, sei aber »nicht dazugekommen [sic]« (Fedor von Zobeltitz, Vorwort zur illustrierten Ausgabe. In: Theodor Fontane, Havelland. Die Landschaft um Spandau, Potsdam, Brandenburg, illustrierte Ausgabe, hrsg. von Dems, Stuttgart/Berlin: Cotta, 1910, S. V). Auch erschien Quitzövel oder die Quitows in Geschichte, Lied und Sage zunächst mit Illustrationen 1887 bis 1888 in einer Zeitschrift, bevor es später als Quitzöwel-Kapitel in Fünf Schlösser aufgenommen wurde (vgl. Tagebucheintrag vom 01.10 bis 31.12.1881, GBA, Tage- und Reisetagebücher 2, S. 240 sowie die entsprechende Anmerkung S. 413). Osborne, Theodor Fontane. Vor den Romanen, S. 163. Eine Auflistung der einzelnen Ausgaben mit Photographien findet sich bei Fischer, Märkische Bilder, S. 117f. Vgl. z. B. die Abbildungen in Theodor Fontane, Havelland. Die Landschaft um Spandau, Potsdam, Brandenburg, Illustrierte Ausgabe, hrsg. von Fedor von Zobeltitz, Stuttgart/Berlin: Cotta’sche Buchhandlung 1910; Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, gekürzte Ausgabe mit 125 Tiefdruckbildern nach Photos von Martin Hürlimann u.a., Berlin 1932; Theodor Fontane, Von Rheinsberg bis zum Müggelsee. Märkische Wanderungen Theodor Fontanes, hrsg. von Gotthard und Therese Erler, mit Fotos von Heinz Krüger, Berlin/Weimar 1971; Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, gekürzt und illustriert von Martin Hürlimann, 9. Aufl., Zürich/Freiburg im Breisgau 1977; Theodor Fontane, Wanderungen in der Mark, Farbfotos von Hans Jochen Knobloch, Texte von Theodor Fontane, Auswahl der Texte und Anmerkungen von Gotthard Erler, Berlin/Weimar 1978; Theodor Fontane, Von Rheinsberg bis zum Müggelsee. Die schönsten Kapitel aus den ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹, mit vierzig Fotos von Eberhard Renno, hrsg. von Gotthard und Therese Erler, Berlin/Weimar 1990; Peter G. Kliem, Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Mit Theodor Fontane u.a. Reisenden, Frankfurt am Main 1986; Jürgen Wolff, Mit Fontane durch die Mark Brandenburg und den Harz, Stuttgart 1990; Michael Ruetz, Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 2. Aufl., Stuttgart 1992.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

Die mit dem Bildhaften zusammenhängende wichtige Rolle des Sehens in den Wanderungen zeigt sich unter anderem an häufigen Nennungen besonders guter Aussichtspunkte oder sich durch Fenster bietender Anblicke bei Beschreibungen von Innenräumen (vgl. z. B. WMB 9, S. 29, 225, 297). Hinzu kommt eine »ausführliche Diskussion von Wahrnehmungsbedingungen (Standort, Tages- und Jahreszeit, Wetter) und Blickmöglichkeiten des jeweiligen Ortes«.10 Das Jagdschloss Dreilinden beispielsweise, das Fontane beim ersten Besuch nur im »Novembernebel« betrachten konnte, wo alles »öd und leer« und »wie in Trauer« wirkte (WMB 13, S. 317), sucht er ein zweites Mal auf, um es »auch in hellem Tagesscheine zu sehen« (WMB 13, S. 323). Er betont dabei die Bedeutung der beschriebenen, so verschiedenen Beleuchtungsverhältnisse mit der Feststellung, dass er die »Stelle kaum wieder erkannte« (WMB 13, S. 324) und nun einen ganz anderen, heiteren Eindruck empfängt. Ähnlich heißt es über das Rohrsche Herrenhaus, dass es »halb gemütlich, halb spukhaft dreinblickt, je nach der Stimmung, in der man sich ihm nähert, oder nach der Beleuchtung« (WMB 9, S. 443). Neben dieser Thematisierung der Einwirkung von Licht- oder Stimmungsverhältnissen auf die Wahrnehmung spricht auch Fontanes von Erdmut Jost festgestellte Auseinandersetzung mit historischen Wahrnehmungsweisen für sein Interesse an unterschiedlichen Arten des Sehens:11 Er beschreibt als » ›visuelle‹ Charakteristik«12 der Königin Luise ausführlich, welchen sentimentalen Blickweisen sie sich früher in ihrem Park hingegeben hatte. Fontane findet bei seinem Besuch aufgrund von Veränderungen der Gartenanlage die damaligen Ansichten nicht mehr vor, strebt jedoch eine Nachahmung dieses Sehens auch gar nicht an, da es zu seiner Zeit aus der Mode gekommen ist.13 »Im folgenden wird auch der König Friedrich Wilhelm III. über das Sehen charakterisiert«,14 wobei Fontane dessen vom Wahrnehmungsdiskurs des späten 18. Jahrhunderts geprägte Sehweise ebenfalls als »unpassend und überholt«15 empfindet. Diese Methode, Menschen über ihre Wahrnehmung zu kennzeichnen, zeigt sich auch an folgender Stelle, wo statt einer veralteten Wahrnehmungsweise die Eingeschränktheit einer bestimmten Perspektive zum Charakteristikum wird: Er sah alles zu einseitig, zu sehr von einem bloß Zietenschen Standpunkt aus, um gerecht sein zu können, selbst wenn ihm ein feinerer ästhetischer Sinn die

_____________ 10 11 12 13 14 15

Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 495f. Ebd., S. 512ff. Ebd., S. 513. Ebd., S. 512f. Ebd., S. 514. Ebd., S. 515.

4.1. Der bildhafte Text als Sehschule

113

Möglichkeit dazu gewährt hätte. Dieser ästhetische Sinn fehlte ihm aber völlig. (WMB 9, S. 23f)

In den späteren Romanen wird diese Charakterisierungstechnik durch Seh- und Wahrnehmungsweisen weiter ausgearbeitet, womit sich das 5. Kapitel der vorliegenden Arbeit näher befasst. Die Bedeutung der visuellen Wahrnehmung innerhalb der Wanderungen wird daneben vor allem dadurch deutlich, dass Fontane mit dem Werk die Schulung einer neuen Sehgewohnheit verfolgte: Der » ›Sinn‹ [für die Landschaftswahrnehmung, N.H.] mußte erst geweckt, geschult und gebildet werden. Fontane tat mit den Wanderungen [...] das Seine dazu«.16 Damit reihte er sich in eine gegen Ende des 18. Jahrhunderts beginnende Entwicklung des Reiseberichts »vom Erfahrungsmedium hin zur Schule der Ästhetik«17 ein. Der Reisebericht konnte laut Jost schneller als andere literarische Gattungen neue Impulse verarbeiten, so dass »das sich verändernde Sehen«18 an ihm erkennbar wurde. Viele Reiseberichte dieser Zeit wollten ihren Rezipienten ein » ›Sehenlernen‹ «19 ermöglichen und ihnen beibringen, die ›richtigen‹ Gegenstände auf die ›richtige‹ Art und Weise zu beobachten.20 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bedeutete dies noch, dass das Sehen »die Rolle der bloßen Registration«21 erfüllen sollte und alle sinnlichen Affekte zu kontrollieren waren.22 Zu Fontanes Zeit konnte diese Absicht nach den neuesten Erkenntnissen der Wahrnehmungstheorie über die grundsätzliche Beeinflussung des Sehens durch subjektives Vorwissen, unvermeidbare Assoziationen und die rein biologisch bedingten Mängel des menschlichen Sehens nicht mehr verfolgt werden. Im Vorwort zum ersten Band der Wanderungen thematisiert Fontane die für einen Reisenden notwendige Sehfähigkeit dementsprechend folgendermaßen: Der Reisende in der Mark muß sich ferner mit einer feineren Art von Natur- und Landschaftssinn ausgerüstet fühlen. Es gibt gröblichere Augen, die gleich einen Gletscher oder Meeressturm verlangen, um befriedigt zu sein. Diese mögen zu Hause bleiben. [...] Wer das Auge dafür hat, der wag’ es und reise. (WMB 9, S. 8)23

_____________ 16 17 18 19 20 21 22 23

Fischer, Märkische Bilder, S. 122. Jost, Das poetische Auge, S. 64. Ebd., S. 64. Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 126. Vgl. ebd., S. 128. Ebd., S. 129. Vgl. ebd., S. 131f. Mit »Auge« ist hier wie auch in den späteren Romanen die Sehfähigkeit und nicht allein das Organ gemeint.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

Fontanes Ansicht nach ist dieser »feinere Sinn« bisher bei den meisten Bewohnern der Mark noch nicht richtig ausgebildet: »[D]er Sinn für die ›schöne Landschaft‹ ist wie die Landschaftsmalerei von sehr modernem Datum. Namentlich in der Mark. Die eigentliche märkische Bevölkerung hat noch jetzt diesen Sinn beinah gar nicht« (WMB 10, S. 57). Daher sollte bei dieser Zielgruppe das Sehen durch die genaue Schilderung der Sehweisen des Autors geschult werden und ein Bewusstsein für eine neue Art der Landschaftswahrnehmung entstehen. Sie sollte lernen, die bislang kaum beachtete Landschaft nicht mehr rein pragmatisch als Lebensraum, sondern als schönen Anblick wahrzunehmen, was nur möglich sei, »wenn man ein freundlich-aufmerksames Auge mitbringt« (WMB 9, S. 307). In einem weiteren Schritt sollten Leser eine ästhetische Naturrezeption erlernen, indem – zusätzlich zur Übernahme von Fontanes Blickweisen – auch die in den Beschreibungen mitgelieferten literarischen und historischen Assoziationen bei zukünftiger Naturbetrachtung in die Wahrnehmung einfließen würden. Jost spricht hier von einer »Doppelstrategie« Fontanes, da er sich an zwei Zielgruppen wandte: Zum einen an die Bewohner der Mark, deren Formsinn erst noch zu wecken war, zum anderen an »ästhetisch vorgebildete Leser«, deren Schönheitssinn verfeinert werden sollte, damit sie die Ästhetik der märkischen Landschaft schätzen lernten.24 Die Wanderungen erfüllen diese Aufgabe der Wahrnehmungsschulung auf unterschiedliche Art und Weise: Zum einen schildert Fontane immer wieder bestimmte, durch Malerei und andere Reiseberichte bereits vorgeprägte Sehweisen – wie den Panoramablick oder das Sehen aus der Bewegung heraus, die in Kapitel 4.2. vorgestellt werden – auf eine eingegrenzte Auswahl von Motiven. Durch häufige Wiederholung sollten diese sich entsprechend Helmholtz’ Ausführungen, die als zeitgenössisches Allgemeingut betrachtet werden können, im Gedächtnis der Leser festsetzen und von ihnen bei zukünftiger Naturbetrachtung selbst angewandt werden.25 Zum anderen liefert Fontane mit seinen historischen Darstellungen, _____________ 24 25

Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 471. In Bezug auf die Motivwahl ist es Fontane tatsächlich gelungen, Maßstäbe für zukünftige Betrachter zu etablieren, wie sich zeigt, wenn man verschiedene posthum erschienene illustrierte Bände der Wanderungen bzw. mit Wanderungen-Zitaten versehene Bildbände vergleicht, die größtenteils dieselben Objekte abbilden. Die meisten Ausgaben zeigen hauptsächlich Schlösser bzw. Herrenhäuser, Kirchen und Seen, daneben sind in vielen Bänden mittelalterliche Gebäude, Stadtmauern und -türme, ein paar kleine Dörfer mit ländlichem Charakter sowie Denkmäler und Friedhöfe oder Gräber abgebildet. Während Schlösser und Seen wohl generell als häufig besichtigte und abgebildete Motive gelten können, können die Ansichten stiller Dörfer und Friedhöfe als typisch speziell für Fontanes Sicht auf die Mark betrachtet werden (vgl. Fontane, Havelland 1910; Wanderungen 1932; Von Rheinsberg 1971; Wanderungen 1977; Wanderungen 1978; Von Rheinsberg 1990; Kliem, Wanderungen; Wolff, Mit Fontane; Ruetz, Fontanes Wanderungen).

4.1. Der bildhafte Text als Sehschule

115

Anekdoten und Gedichten den Rezipienten neues Hintergrundwissen und Assoziationen, die sich nach der Lektüre automatisch – wie Helmholtz es für seine ›unbewussten Schlüsse‹ darlegt – bei Betrachtungen des Beschriebenen einstellen sollten.26 Jost beurteilt die große Bedeutung, die Fontane dem Historischen als Wahrnehmungshintergrund beimisst,27 folgendermaßen: »Fontanes ›Beleuchtung‹ der Landschaft durch einen historischpoetischen Kontext nachzuvollziehen, ist dem Leser nicht freigestellt, sondern vorgeschrieben«.28 Die Wahrnehmungsschulung soll damit einerseits durch Schilderungen historischer Ereignisse als Assoziationshintergrund erfolgen, andererseits durch die Beschreibung bestimmter Sehweisen – etwa aus festgelegter Perspektive (z. B. dem Panoramablick), in besonderer Stimmung bzw. Wahrnehmungsverhältnissen (z. B. bei Sonnenaufgang) oder auf bevorzugte Gegenstände (z. B. historische Bauwerke). Einen ähnlichen Prozess der Beeinflussung der Wahrnehmungsweise durch das Sehen bestimmter Objekte, der sogar eine sittliche Veränderung bewirkt, beschreibt Fontane in anderem Zusammenhang in den Wanderungen: »[V]on dem Augenblick an aber, wo sie sich um die Sommerzeit ihren Bergen zuwandten, begann auch der Anblick des Schönen den Formensinn zu bilden, die Sitte zu modeln« (WMB 10, S. 52f). Anstatt durch den direkten Anblick wollte Fontane denselben Effekt durch die literarische Beschreibung des Gesehenen erreichen, das heißt mit dem Text eine Wirkung erzielen, die ursprünglich dem bildanalogen Sehen selbst eigen ist. 29 _____________ 26

27 28 29

Die Wanderungen machten die Mark tatsächlich für zukünftige Betrachter »zu einer historischen Landschaft«: Photographen, die die Mark einige Jahrzehnte nach Erscheinung des Werks als Motiv entdeckten, nahmen sie als von Fontane geprägte »literarische Landschaft« wahr (Günter de Bruyn, Märkische Ansichten von gestern. In: Janos Frecot und Wolfgang Gottschalk, Märkische Ansichten. Photographien 1865–1940, Berlin 1990, S. 7). Welch große Bedeutung Fontane dem historischen Wissen als Vorraussetzung einer ›richtigen‹ Wahrnehmung der Mark Brandenburg beimaß, wird in Kapitel 4.3.1. der vorliegenden Arbeit näher erläutert. Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 472f. Dass diese Sehschulung ein wichtiges Anliegen Fontanes darstellte und als solches zur Kenntnis genommen wurde, zeigt sich etwa daran, dass auch eine spätere illustrierte Ausgaben der Wanderungen ganz in diesem Sinne als »Augenöffner« für die Schönheit des Landes und seine Geschichten dienen soll (Martin Hürlimann, Vorwort des Verlags. In: Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, gekürzte Ausgabe mit 125 Tiefdruckbildern nach Photos von Martin Hürlimann und anderen, Berlin 1932, S. 10). Eine weitere soll den Leser dazu anregen, bei der Betrachtung Erinnerungen und Geschichten Fontanes mitzudenken, denn: »Man muß nur zu sehen verstehen, auch mit der Erinnerung, nicht nur mit den Augen« (Wolf Jobst Siedler, Wanderungen zwischen Oder und Nirgendwo. In: Michael Ruetz, Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Stuttgart 1992, S. 12), was dadurch ermöglicht werden soll, dass den Bildern Fontanetexte beigegeben werden, um ihre Bedeutung zu verändern und sie auf eine Fontane ähnliche Art wahrzunehmen.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

Dieses Programm der Wahrnehmungsschulung teilen die Wanderungen mit zeitgenössischen, Fontane bekannten Malern, die sich der Abbildung derselben Landschaft widmeten, so dass hier ein transmediales Phänomen vom Typ 1.1. vorliegt. So wie Fontanes Realismusauffassung mit der Forderung nach ›poetischer Verklärung‹ für Malerei und Literatur dasselbe Kunstkonzept proklamiert, stimmen damit auch seine Reisebeschreibungen in ihrer Zielsetzung mit der Malerei überein: »Schinkel und Blechen waren bekannte Namen, ihre Blätter mit märkischen Motiven fanden ein großes Publikum. Dieses, sonst unbeleckt im Umgang mit Kunst, konnte an ihnen sehen lernen«.30 Schon die bereits zitierte Nennung der etwa gleichzeitigen Entstehung von Landschaftsmalerei und ›Landschaftssinn‹ – »[D]er Sinn für die ›schöne Landschaft‹ ist wie die Landschaftsmalerei von sehr modernem Datum« (WMB 10, S. 57) – verweist auf diesen Zusammenhang. Noch deutlicher wird das Bewusstsein Fontanes dafür, dass Gemäldebetrachtungen bestimmte Sehweisen einüben und man sich durch sie schulen kann bzw. muss, um durch die geschärfte Wahrnehmung ein besseres Kunstverständnis zu erwerben, anhand des Tagebucheintrags vom 16.06.1852, in dem er gesteht, bestimmte Maler nicht auf Anhieb schätzen zu können: »Tizian und Michel-Angelo sind mir unverständlich; ich kenne sie zu wenig, und wie sich das Ohr an schwere Musik erst gewöhnen, und sie studieren muß, so ergeht es dem Auge diesen Malern gegenüber«.31 Er selbst hat sich durch Gemäldestudien nicht nur eine erhöhte Fähigkeit zur Kunstrezeption antrainiert, auch seine Wahrnehmungsweise der Landschaft war durch seine Betrachtung der Landschaftsmalerei beeinflusst: Fontanes märkische Landschaft ist im wesentlichen ein ›Kunst-Produkt‹. Sein Blick und seine Art, Landschaftliches zu beschreiben und in Szene zu setzen, war vor allem an zweierlei geschult: der englischen Reiseliteratur und der Landschaftsmalerei.32

Die Landschaftsdarstellungen der Wanderungen erinnern daher an Gemäldebeschreibungen, wobei die häufige Behandlung zeitgenössischer Landschaftsbilder und -maler im selben Text von Fontanes umfassender Kenntnis auf diesem Gebiet zeugt. Als explizite Systemreferenzen vom Typ 3.2.1. und 3.2.2. können diese Verweise auf die Malerei als Signal dafür gedeutet werden, dass die Naturbeschreibungen auf entsprechende Gemälde zu beziehen sind. Fontane ist damit Teil einer im 18. Jahrhundert einsetzenden Entwicklung: »Im 18. Jahrhundert dienen Landschafts_____________ 30 31 32

Jost, Das poetische Auge, S. 79. GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 27. Fischer, Märkische Bilder, S. 131.

4.1. Der bildhafte Text als Sehschule

117

gemälde [...] den Reiseautoren als Wahrnehmungsmuster, sie lernen sehen an ihnen, bevor sie sich der realen Landschaft zuwenden«.33 Neben Parallelen zur traditionellen Landschaftsmalerei finden sich in den Wanderungen auch solche zu den neuen Gemäldeinszenierungen Panorama, Diorama und Moving Panorama. Die Prägung von Fontanes Landschaftswahrnehmung durch die Malerei stellt auch Hubertus Fischer fest und belegt diese Annahme unter anderem daran, dass für Gemälde- und Landschaftsbeschreibungen im Text häufig dasselbe Vokabular verwendet wird.34 Auch nennt Fontane die eigene Tätigkeit – »die Mark durchreisen und beschreiben« (WMB 9, S. 104) – zusammen mit derjenigen der Landschaftsmaler, woraus Fischer schlussfolgert: »Er [Fontane] wollte als Schriftsteller ein solcher ›Landschafter‹ für die Mark Brandenburg sein. Und er verfehlte diese Wirkung nicht«,35 wie das Zitat einer zeitgenössischen Kritik, Fontane habe sich »auf den Sockel eines historischen Landschafters geschwungen«36 belegt. Die Prägung der Seh- und Beschreibungsweisen des Autors durch die Malerei wird zudem deutlich, wenn er Gesehenes immer wieder als »malerisch« (vgl. z. B. WMB 10, S. 47) bezeichnet, beziehungsweise ihm Bedeutung abspricht, sofern dieses Element fehlt: Leider geht dieser baulich schönen Ruine [...] das eigentlich Malerische ab. Ruinen, wenn sie nicht bloß, als nähme man ein Inventarium auf, nach Pfeilerund Fensterzahl beschrieben werden sollen, müssen zugleich ein Landschaftsoder auch ein Genrebild sein. (WMB 11, S. 96)

Deutlich zeigt sich diese Beeinflussung des Sehens durch die Malerei auch, wenn Fontane seine Sicht auf eine Stadt mit Gemälden vergleicht und dabei ahnen lässt, wie sehr seine Vorstellung von einem schönen bzw. lohnenswerten Anblick auf Gemäldebetrachtungen basiert: Die Stadt macht auf ihn nicht den erwünschten Eindruck, denn das Gymnasium hatte Ferien und die Garnison Mobilmachung. So fehlten denn die roten Kragen und Aufschläge, die, wie die zinnoberfarbenen Jacken auf den Bildern eines berühmten Niederländers (Cuyp) in unserm farblosen Norden dazu berufen scheinen, der monotonen Landschaft Leben und Frische zu geben. (WMB 9, S. 49)

Im Kapitel zu den Müggelbergen wird dann ganz offensichtlich, dass sich die Erwartungshaltung, mit der Fontane sich einer Landschaft nähert, durch seine Gemälderezeption aufgebaut hat, und er seine Beschreibungen sogar absichtlich mit den erwünschten Effekten auflädt bzw. sich Elemente der Gemälde hinzudenkt. Zu Beginn des Kapitels beschreibt er _____________ 33 34 35 36

Jost, Das poetische Auge, S. 77. Vgl. Fscher, Märkische Bilder, S. 127. Fischer, Märkische Bilder, S. 134. Wochenblatt der Johanniter-Ordens-Balley Brandenburg Nr. 50 vom 11.12.1861, 226 (recte 232), zitiert in: Ebd.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

Blechens Semnonenlager, das den Ort als »eine historische Landschaft« (WMB 12, S. 102) darstellt, in der ein germanischer Stamm mit seinem Kriegsgerät lagert. Es folgt die Wiedergabe von Fontanes eigenen Eindrücken, worauf er am Kapitelende auf das Semnonenlager zurückkommt und beschreibt, wie sich in seiner Phantasie die auf dem Gemälde erblickte Ansicht der Gegend vor die eigene Wahrnehmung schiebt: [D]ie Müggelberge sind wieder wie sie die künstlerische Phantasie gesehn. An den knorrigen Ästen hängen wieder Schilde [...]. Die verkohlten Scheite vor uns sind nicht länger mehr verkohlt, sie treiben wieder Flammen, und um die brennenden Scheite herum lagern, ihre Leiber mit Fellen leicht geschürzt, die Gestalten unsers märkischen Malers und Meisters - die Semnonen./ Wie gebannt hält uns das Bild. (WMB 12, S. 107)

Trotz dieser eindeutigen Bezugnahmen Fontanes auf die Malerei sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass auch »die Photographie als maßgeblicher Bestandteil einer Theoriegeschichte der Wahrnehmung im 19. Jahrhundert«37 mutmaßlich Auswirkungen auf seine Seh- und Beschreibungsweisen hatte, weshalb einige Fontaneforscher die Beschreibungen der Wanderungen als ›photographisch‹ bezeichnen: Phillip Frank schreibt, die Wanderungen seien »überreich an solchen Landschaftsbildern, die ihrer ›scharfe[n] Zeichnung‹ wegen beinah fotografisch anmuten«;38 Jost spricht von einer »Kameraoptik«39 Fontanes und stellt fest: »[T]atsächlich wirken Fontanes [...] ›Aufnahmen‹ der Mark wie Photographien«;40 Andreas Teltow nennt die Beschreibungen »Momentaufnahmen«.41 Zwar erwähnt Fontane im Text nur wenige Photographien, doch finden sich Anspielungen auf photographische oder vorphotographische Wahrnehmungsformen wie die Camera obscura. Zudem übernahm auch die Malerei, die Fontanes Darstellung beeinflusste, Eigenheiten der Photographie (wie etwa die Detailtreue), so wie umgekehrt die ersten Photographen häufig in Bezug auf Objekte und deren Arrangement Anleihen bei der Malerei machten. Auch finden sich typische Darstellungsweisen und Perspektiven auf bestimmte landschaftliche Motive in beiden Bildmedien, was etwa auffällt, wenn man zeitgenössische Photographien und Gemälde derselben Objekte vergleicht: So stimmen etwa photographische und gemalte Ansichten von Schloss Rheinsberg – so das Gemälde Th. Hennickes42 – untereinander und darüber hinaus mit Fontanes Beschreibung in der Wahl des Standorts überein und etablieren eine Wahrneh_____________ 37 38 39 40 41 42

Stiegler, Philologie des Auges, S. 13. Frank, Theodor Fontane und die Technik, S. 139. Jost, Das poetische Auge, S. 69. Ebd., S. 73. Teltow, Lehret uns Erinnerung, S. 213. Vgl. Wolff, Mit Fontane, S. 107.

4.2. Arten der visuellen Wahrnehmung und Beschreibung

119

mungsweise, die nachfolgende Aufnahmen beeinflusste.43 Eine Übereinstimmung zwischen Fontanes Blickweise und Motivwahl und derjenigen zeitgenössischer Photographen stellt auch Günter de Bruyn im Vorwort zum Photoband Märkische Ansichten. Photographien 1865–1940 fest, der für damals charakteristische Blickweisen von Photographen auf die Mark veranschaulichen will. Als Merkmale dieser Blicke nennen die Herausgeber ein ruhiges Herangehen an die Objekte, Distanz, Objektivität und Nüchternheit44 sowie ein historisches Interesse,45 und sprechen von der »Natursicht des Großstädters, der [...] in der Landschaft weniger das Liebliche oder Erhabene sucht als vielmehr die Stille, [...] Weltabgeschiedenheit, Einsamkeit, Urwüchsigkeit«.46 Fontanes Beschreibungen »haben nicht nur die gleichen Motive, sie betrachten sie auch aus ähnlicher Sicht«.47 Wenn es daher auch kaum möglich ist, eindeutig festzulegen, ob Fontanes Beschreibungen stärker durch Malerei oder Photographie beeinflusst wurden, so zeigen doch einige Passagen verstärkt Parallelen zu bestimmten Gemäldearten, so dass für diese in Einzelfällen ein Bildmedium als besonders relevant betrachtet werden kann. Das folgende Kapitel wird sich mit diesen Beschreibungen und ihren Bezügen zu verschiedenen Gemäldearten im Einzelnen befassen.

4.2. Arten der visuellen Wahrnehmung und Beschreibung Im Folgenden soll der Fontane selbst bewusste Einfluss vorangegangener Wahrnehmungserfahrungen bzw. insbesondere von Bildbetrachtungen auf spätere Wahrnehmungen genauer untersucht werden. Dabei soll herausgearbeitet werden, welche Arten von Bildern Fontane beeinflusst haben und wodurch sich die entsprechenden Sehweisen auszeichnen. Dass der Einfluss verschiedener Bildmedien auf die Landschaftswahrnehmungen und -beschreibungen Fontanes nicht immer auf direktem Weg erfolgt sein muss, sondern auch indirekt über seine Kenntnis vorangehender Reiseliteratur, die bereits von der Malerei geprägte Beschreibungsweisen nutzte, stellt Jost fest. Sie schreibt, Fontane bediene sich »noch einmal des gesamten Wahrnehmungs- und Darstellungsinstrumentariums von Landschaft, _____________ 43 44 45 46 47

Vgl. Fontane, Wanderungen 1932, S. 159; Von Rheinsberg 1971, S. 72f; Wanderungen 1977, S. 162f; Wanderungen 1978, S. 52f; Von Rheinsberg 1990, S. 46; Kliem, Wanderungen, S. 79; Frecot und Gottschalk, Märkische Ansichten, S. 107; Ruetz, Fontanes Wanderungen, S. 24f. Vgl. Janos Frecot und Wolfgang Gottschalk, Nachwort. In: Dies., Märkische Ansichten, S. 117. Vgl. Bruyn, Märkische Ansichten, S. 7. Ebd. Ebd.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

wie es in der Reiseliteratur [...] entwickelt und tradiert worden war«.48 Wie eindeutig und klar unterscheidbar sich dabei in den Wanderungen bestimmte, immer wiederholte Wahrnehmungsarten herausbilden, die als transmediale Phänomene nach Typ 1.2. zu klassifizieren sind, zeigt sich an Josts Urteil, daß Fontanes landschaftliche ›Aufnahmen‹ der Mark wie Photographien und Urlaubsvideos der immer gleichen Sehenswürdigkeiten unter immer gleichen Einstellungen wirken. Man könnte von einer ›Auswahl‹ oder einem ›Repertoire‹ visueller Formen sprechen.49

Diese Formen werden im Folgenden vorgestellt. 4.2.1. ›Bewegte Bilder‹: Analogie zu Moving Panorama und Film In den Wanderungen finden sich auffällig häufig Beschreibungen der Landschaft als ›bewegtes Bild‹, die Aussichten während Wagen- oder Schifffahrten darstellen. Fontane selbst formuliert seine Vorliebe für diese Wahrnehmungsweise, bei der die Landschaft durch die eigene Fortbewegung wie eine Reihe wechselnder oder bewegter Bilder erscheint: »Das beste ist fahren. Mit offenen Augen vom Coupé, vom Wagen, vom Boot, vom Fiaker aus die Dinge an sich vorüberziehen zu lassen«.50 Die Geschwindigkeit, mit der das Wahrgenommene bei solchen Fahrten seinen Charakter ändert, sagte ihm anscheinend mehr zu als die geringere bei Fußwanderungen oder die raschere bei der Eisenbahnreise, die er beide seltener darstellt. Zum einen hat dies ganz pragmatische Gründe, da das Eisenbahnnetz die von Fontane bereiste Gegend noch kaum abdeckte: »Eisenbahnen, wenn du ›ins Land‹ willst, sind in den wenigsten Fällen nutzbar; also – Fuhrwerk« (WMB 9, S. 9). Zum anderen spielt die Wahrnehmungssituation eine Rolle, denn frühe Eisenbahnreisende waren zunächst von der Geschwindigkeit verwirrt und überfordert, bis sich eine Wahrnehmungsweise entwickelte, die die neuen Gegebenheiten zu schätzen wusste.51 Dementsprechend zieht Fontane in den Wanderungen noch das Sehen aus Wagen und Schiff vor, während er in den später entstandenen Romanen häufiger den Blick aus dem fahrenden Zug schildert. Der besondere Reiz dieses Sehens liegt darin, dass der fahrende Betrachter durch die eigene, gleichmäßige Fortbewegung den Eindruck _____________ 48 49 50 51

Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 463. Ebd., S. 502. Theodor Fontane an Emilie Fontane, GBA, Der Ehebriefwechsel 3, S. 39. Vgl. Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000, S. 51–67.

4.2. Arten der visuellen Wahrnehmung und Beschreibung

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hat, das Gesehene selbst bewege und verändere sich.52 Dies belegen Fontanes folgende Formulierungen, mit denen er die wechselnden Ansichten der als »Bild« rezipierten Landschaft bei einem Spaziergang und zwei Kutschenfahrten kommentiert: »Die Bilder wechseln von Schritt zu Schritt« (WMB 11, S. 330); »das Bild hat seinen Charakter geändert« (WMB 10, S. 51); »dabei wechselt der Charakter der Landschaft so oft und so anmutig, daß jeder, der am Rande des Plateaus [...] diese Fahrt zu machen gedenkt, einer langen Reihe der mannigfachsten und anziehendsten Bilder begegnen wird« (WMB 10, S. 22). Fischer und in seiner Nachfolge weitere Forscher stellen Parallelen dieser Wahrnehmungsart bzw. Darstellungsweise Fontanes mit dem Moving Panorama fest, zumal auch Fontanes Formulierung von einer Landschaft als ›sich entrollendes Bild‹ (vgl. WMB 9, S. 6f) Assoziationen an das Bildmedium weckt. Da Fontane es nachweislich vor Niederschrift der Wanderungen kennen lernte, ist eine Beeinflussung durchaus möglich. Beide Darstellungsweisen verfolgen das Ziel »beim Zuschauer (respektive Leser) die Illusion der Selbstbewegung durch die Landschaft zu erzeugen«,53 das Bildmedium mit technischen Hilfsmitteln auf direktem, visuellem Weg, der Text durch die literarische Beschreibung ähnlicher Situationen. Auch eine motivliche Übereinstimmung liegt vor, da sowohl beim Moving Panorama als auch in den Wanderungen häufig entlang von Flüssen verlaufende Landschaften wiedergegeben werden.54 Die Anziehungskraft dieser Wahrnehmungsart auf Fontane und zeitgenössische Besucher des Moving Panoramas ist zum Teil durch ihren Abwechslungsreichtum begründet: »Wechsel und Mannigfaltigkeit, das macht den Reiz der Landschaft aus«.55 Daneben steigert für Fontane offensichtlich die durch die Bewegung entstehende Lebendigkeit die Qualität dieser (Wahrnehmungs)Bilder, denn an einer Passage verschweigt er »die üblichen Details« mit der Begründung, »sie würden das Bild wohl erweitern, aber nicht lebendiger machen« (WMB 10, S. 124). Dieser Wunsch nach Bewegtheit und Lebendigkeit eines Bildes bzw. einer Ansicht entspricht ganz dem Verlangen zeitgenössischer Gemäldebetrachter, das zur Erfindung von Diorama und Moving Panorama geführt hatte. Weiter schätzt Fontane auch das durch die schnelle Fahrt bewirkte, überraschende und plötzliche Auftauchen neuer Anblicke sowie deren _____________ 52 53 54 55

Nicht nur Fontane empfindet und beschreibt diese Wahrnehmung so, sondern teilweise auch seine Zeitgenossen (vgl. ebd., S. 59). Fischer, Märkische Bilder, S. 125. Vgl. Monika Wagner, Bewegte Bilder und mobile Blicke. Darstellungsstrategien in der Malerei des neunzehnten Jahrhunderts. In: Segeberg, Die Mobilisierung des Sehens, S. 180. Fischer, Märkische Bilder, S. 124.

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Flüchtigkeit, die Objekten, welche bei längerer Betrachtung aus der Nähe unscheinbar wirken, ihre Faszination belässt:56 Kloster Chorin [...] gestattet kein Verweilen in ihm und es wirkt am besten, wenn es wie ein Schattenbild flüchtig an uns vorüberzieht. Wer hier in der Dämmerstunde des Weges kommt und plötzlich zwischen den Pappeln hindurch diesen still einsamen Prachtbau halb märchenhaft, halb gespenstisch auftauchen sieht, dem ist das Beste zuteil geworden, das diese Trümmer [...] ihm bieten können. Die Poesie dieser Stätte ist dann wie ein Traum, wie ein romantisches Bild an ihm vorübergezogen, und die sang- und klanglose Öde des Innern hat nicht Zeit gehabt, den Zauber wieder zu zerstören, den die flüchtige Begegnung schuf. (WMB 11, S. 97)

Die Forschung verbindet diese Darstellung von Bewegung nicht nur mit dem Moving Panorama, sondern fasst sie teilweise als filmartiges Verfahren vor der Entstehung des Mediums Film selbst auf. So schreibt Fischer: Wer nämlich die märkische Landschaft behutsam und in dem entsprechend gemessenen Tempo mit der Filmkamera ›abfährt‹, wiederholt virtuell die Bewegung, die Fontane selbst auf seinen Fahrten vollzogen und in literarische Bilder umgesetzt hat.57

Auf Jost wirken die »dynamischen, filmhaften Beschreibungen«58 in den Wanderungen wie »Urlaubsvideos«59 und Frank stellt »strukturelle Gemeinsamkeiten dieses Sehens während der Fahrt mit der Funktionswiese der Filmkamera und mit der Wahrnehmungshaltung des Kinobesuchers«60 fest. Für ihn handelt es sich um eine (prä)filmische bzw. filmanaloge Wahrnehmungsweise, bei der Fontanes Auge »im Stile einer Filmkamera die sich ihm anbietenden Einzelbilder in der Linie der realen Reisebewegung zu einem Szenenstreifen [reiht und montiert]«.61 Auch Blickwechsel zwischen »Näh’ und Ferne« (WMB 9, S. 499) sowie »Ausschnitten« und »Totalität« (WMB 12, S. 67) empfindet Frank als filmisch.62 In ähnlicher Weise spricht Jost von einem »Verfahren filmhafter Landschaftsschilderung« bei Fontane, das der Verdichtung und dem Eindruck der Simultanität diene, »analog zur Zusammendrängung der Gegenstände bei der _____________ 56

57 58 59 60 61 62

Für das Sehen aus dem fahrenden Zug heraus – in Bezug auf die Geschwindigkeit der Wahrnehmung eine Steigerungsform der in den Wanderungen bevorzugt geschilderten Kutsch- und Bootsfahrten – stellt auch Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 58 eine Steigerung des Reizes an sich langweiliger Objekte durch die Fahrt fest: »[E]ine an sich eintönige Landschaft wird durch die Eisenbahn erst in eine ästhetisch ansprechende Perspektive gebracht«. Fischer, Märkische Bilder, S. 123. Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 483. Jost, Das poetische Auge, S. 73. Frank, Erlebnisreisen, S. 119. Ebd., S. 121. Vgl. Frank, Erlebnisreisen, S. 121.

4.2. Arten der visuellen Wahrnehmung und Beschreibung

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Fernsicht«.63 Dieser Analogie zum Panoramablick trägt Wolfgang Schivelbusch mit seinem Begriff des »panoramatischen Blick[s] aus dem Abteilfenster« Rechnung, der dafür steht, dass die »Flüchtigkeit die Erfassung des Ganzen, d. h. einen Überblick möglich macht«.64 Ähnlich formulieren auch Bärbel Reißmann und Hela Zettler: »Indem er die Landschaft aus einem Fahrzeug heraus wahrnahm, komprimierte sich das Gesehene und setzte sich wie eine schnelle Folge von einzelnen Bildern zu einem Ganzen zusammen«.65 Durch dieses Zusammenspiel vieler Einzelansichten zu einem geschlossenen Ganzen entging Fontane der fragmentarischen Wiedergabe der Realität, wie die Realisten sie an der Photographie bemängelten. Neben der Bewegtheit des Gesehenen liegt eine weitere Verbindung zum Film in der räumlichen Wahrnehmungssituation des Betrachters: Sein Blick aus einem dunklen, geschlossenen Raum durch eine kleine Öffnung ist bezeichnend für die allgemein als Vorläuferin des Films angesehene Camera obscura und findet sich bisweilen auch bei Fontane, wenn auch bei Weitem nicht so häufig, wie die Vorstellung, er betrachte die Landschaft durch die Fenster geschlossener Kutschen, vermuten lässt. Ganz im Gegenteil scheint der Autor diese Sichtweise zu missbilligen: »Der Wagen, in dem wir fahren, hindert uns nicht, uns des schönen Bildes zu freuen; es ist keine übliche Postchaise mit Ledergeruch und kleinen Fenstern, es ist einer von den großen Sommerwagen, ein offenes Gefährt« (WMB 10, S. 44f). In weiteren Textpassagen betont er, dass er – auch des Gesprächs wegen – lieber vorn neben dem Kutscher sitze als hinten im geschlossenen Wagen (vgl. WMB 9, S. 10). Die Ähnlichkeit seiner Wahrnehmung mit derjenigen durch die Camera obscura benennt er selbst in anderem Zusammenhang: In den Rahmen der offenstehenden Kajütentür stellten sich camera-obscura-artig die Veduten dieser Spree- und Müggelgegenden. [...] Unser Auge richtete sich zumeist auf die wechselnden und doch dieselben bleibenden Landschaftsbilder, die jetzt in immer heller werdender Beleuchtung durch unsere Tür hereinschienen. (WMB 12, S. 66)

Fontane betont auch das Ausschnitthafte dieser Wahrnehmung, wenn er schreibt, dass die Reisenden später das, was sie »nur in Ausschnitten kennengelernt hatten, in ihrer Totalität« (WMB 12, S. 67) vor sich hatten. Weiter heißt es, an einer betrachteten Stelle entsteht ein heller Fleck im Dunkel und das ganze sich fortbewegende Treiben drüben erscheint in dieser Lichtung und schwindet wieder. Die Entfernung ist

_____________ 63 64 65

Jost, Das poetische Auge, S. 73. Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 59. Reißmann und Zettler, Reisebilder, S. 201.

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groß genug, um jeden Lärm zu verschlingen, und so kommen die Bilder und gehen wieder wie auf der glatten Fläche einer Camera obscura. (WMB 11, S. 310)

Im Gegensatz zu den bisher behandelten Beschreibungen aus der Fahrt heraus bewegt sich hier das beobachtete Objekt selbst, während der Betrachter statisch bleibt – eine Variante der Wahrnehmung ›bewegter Bilder‹, die vergleichsweise selten in den Wanderungen vorkommt und für Fontane daher eher reizlos gewesen zu sein scheint. Eine weitere Variante dieser Wahrnehmungsart ist das Sehen nicht nur einer Ansicht aus der Fahrt heraus, sondern von zweien, rechts und links des Wagens oder Schiffs: »[W]ir [...] fahren endlich, zwischen Parkanlagen links und einer Sägemühle rechts, in die Stadt Rheinsberg hinein« (WMB 9, S. 244). An anderer Stelle heißt es: »Wir standen nun auf und traten an die Schiffswandung. [...] Das linke Oderufer ist hügelig und malerisch, das rechte flach und reizlos« (WMB 10, S. 14). Danach folgen abwechselnd Beschreibungen beider Seiten. Dadurch gewinnt Fontane die erstrebte Vielfalt und Abwechslung in verstärktem Maße, da die Wahrnehmung so nicht nur beschleunigt, sondern sogar verdoppelt wird. Auch in der zeitgenössischen Malerei nutzte man diese Steigerungsform des Moving Panoramas, indem man den Betrachter zwischen zwei zu beiden Seiten an ihm vorüberbewegten Leinwänden platzierte,66 dem doppelseitigen Moving Panorama oder Pleorama.67 Zudem wurden die Zuschauer in einem schwimmenden Boot untergebracht, um die Illusion der eigenen Fahrt zu verstärken, mithin also genau die Situation nachzuahmen, die Fontane bei der Doppelansicht vom Boot aus schildert. Abschließend sei nochmals darauf verwiesen, dass es nicht möglich ist, die geschilderten Wahrnehmungs- bzw. Beschreibungsarten ›bewegter Bilder‹ eindeutig als filmanalog oder camera obscura-, moving panoramaoder pleoramaanalog zu klassifizieren, weil die Darstellungsweisen all dieser Bildmedien einander ähneln. Da die Gemäldeinszenierungen und die Camera obscura-Ansichten als Vorläufer des Films bzw. präfilmisch betrachtet werden können, erscheint eine solch präzise Unterscheidung der Wahrnehmungsweisen jedoch auch nicht notwendig. Eine eindeutige Zuweisung zur Malerei wäre höchstens bei solchen Stellen möglich, wo verschiedene, klar voneinander getrennte und selbst unbewegte Einzelbilder aufeinander folgen, wobei man es jedoch nicht mehr mit bewegten Bildern im engeren Sinne zu tun hätte, sondern mit der aus der Aufklärung bekannten Bilderkette.

_____________ 66 67

Vgl. Wagner, Bewegte Bilder, S. 179. Vgl. Oettermann, Die Reise mit den Augen, S. 46.

4.2. Arten der visuellen Wahrnehmung und Beschreibung

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4.2.2. ›Stehende Bilder‹: Analogie zu Panorama und Diorama Ebenso häufig wie ›bewegte Bilder‹ werden in den Wanderungen ›unbewegte oder stehende Bilder‹ geschildert, bei denen der Blick von einem genau festgesetzten, höher gelegenen Standort aus in die Weite einer unbelebten Landschaft geht. Fontane sucht bestimmte Orte gezielt um dieses Ausblicks Willen auf: »Das ist die Stelle, die wir suchten. Ein Lug-insLand« (WMB 11, S. 99); »Es verlohnt sich durchaus, ihn [den höchsten Berg der Gegend, N.H.] zu besteigen. [...] Das landschaftliche Bild, das sich von seiner Kuppe aus dem Auge darstellt, ist sehr schön« (WMB 11, S. 205). Teilweise ist dieser Talblick keine Neuentdeckung mehr, sondern schon zum Allgemeingut geworden, so dass Fontane einen Turm, den er besteigt, »um Umschau zu halten«, als »Aussichtsfirma« bezeichnet.68 Von solchen Orten aus gibt er »ein topographisch genaues, panoramatisches und um malerische Effekte bereichertes Bild«,69 eine literarische »panoramatisch-malerische[...] Landschaftsinszenierung«70 – so etwa in folgenden Passagen: An höchster Stelle hielten die Pferde wie von selbst und Moll sagte: ›Hier ist es. Dies ist die ›Schöne Aussicht‹.‹ [...] Im Quadrat standen vier Steinbänke, dazwischen präsentierte sich ein großer, runder Steintisch [...] [.] [W]er auf der ›Schönen Aussicht‹ ist, hat nun mal die Pflicht, sich auf den Steintisch zu stellen, um von ihm aus und nur von ihm aus die Landschaft zu mustern. Und so tat ich denn wie mir geboten und genoß [...] eines [...] entzückenden Rundblicks, ein weitgespanntes Panorama. Die Dürftigkeiten verschwanden, alles Hübsche drängte sich zusammen und nach Westen hin traten die Türme Berlins aus einem Nebelschleier hervor. (WMB 12, S. 28f) Links und rechts in gleicher Höhe mit uns die Raps- und Saatfelder des Plateaus, unmittelbar unter uns der blaue, leicht71 gekräuselte Schermützelsee, drüben am anderen Ufer, in den Schluchten verschwindend und wieder zum Vorschein kommend, die Stadt und endlich hinter derselben eine bis hoch hinauf mit jungen frischgrünen Kiefern und dunklen Schwarztannen besetzte Berglehne. Die Nachmittagssonne fällt auf die Stadt, die mit ihren roten Dächern und weißen Giebeln wie ein Bild auf dem dunklen Hintergrunde der Tannen steht, das Auge aber, wohin es auch durch die Mannigfaltigkeit des Bildes gelockt werden möge, kehrt immer wieder auf den rätselvollen See zurück, der in genau zu verfolgenden Linien unter uns liegt. (WMB 10, S. 95f)

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WMB 10, S. 47. Fischer, Märkische Bilder, S. 130. Ebd., S. 131. »Leicht« heißt es bereits in der von Theodor und Friedrich Fontane herausgegebenen Ausgabe von 1925, S. 71, wohingegen in Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. 1: Die Grafschaft Ruppin; Das Oderland, hrsg. von Helmuth Nürnberger, München 1994, S. 646 steht: »leis gekräuselte«.

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Die Parallele auch dieser Wahrnehmungsweise zur Malerei, in diesem Fall zum Panorama, wird durch die wiederholte Benennung des Gesehenen als »Bild« betont sowie durch die Nutzung von Vokabular, das eher einer Bildbeschreibung zu entstammen scheint, wie dem »dunklen Hintergrunde« und den »Linien«. Neben Perspektive und Objekten der Schilderungen Fontanes, das heißt dem rein Visuellen, stimmen an folgender Stelle weitere äußere Bedingungen mit dem Panorama überein, so das Hinaufsteigen von Treppenstufen auf eine umgitterte und überdachte Plattform, wie sie in der Bildinszenierung als Nachahmung der Realität anzutreffen war: An einem Aussichtspunkt findet sich eine breite Treppe, die sich spiralförmig um den alten Stamm der Eiche windet und oben in einem Rundtisch oder poetischer in eine ›Tafelrunde‹ ausmündet. Die höchste Krone des Baumes spannt sich dann als Schirm über dieser gitterumfaßten Plattform. (WMB 10, S. 54)

Laut Jost wurde der Panoramablick zunächst in der Literatur etabliert, bevor das entsprechende Bildmedium entstand; im 19. Jahrhundert habe dann eine wechselseitige Beeinflussung stattgefunden:72 Das erste literarische Massenmedium Reisebericht entwickelt ab den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts die panoramatische Sehweise und initiiert damit die Entstehung des ersten optischen Massenmediums, des Panoramas. Im 19. Jahrhundert beeinflussen sich beide Medien wechselseitig.73

Fontane selbst stellt ab dem Band Havelland einen eindeutigen Bezug zum Bildmedium her, in dem er die Bezeichnung ›Panorama‹, die ursprünglich auf das Gemälde referierte, für seine Landschaftsbeschreibungen verwendet (vgl. z. B. WMB 11, S. 205, 385, 390). Das Wesentliche dieser panoramatischen Sichtweise in den Wanderungen lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: »Der Vorteil der Fernsicht aus der Höhe besteht darin, daß die Landschaft sich gleichsam von selbst zu einem vollendeten Ganzen fügt«.74 So kommt Fontane dem »Wunsch nach Überblick, nach Zusammenschau, nach Gesamteindruck«75 nach, denn die Panoramaansicht wird wie ein durchkomponiertes Bild in ihrer Gesamtheit erfasst und genossen: _____________ 72 73

74 75

Die Problematik solch eindeutiger Festlegungen von Einflussrichtungen wurde bereits eingehend erläutert (siehe Kapitel 2.2. der vorliegenden Arbeit). Jost, Das poetische Auge, S. 73. Dieser gegenseitige Einfluss besteht nach Jost in einer Trivialisierung und Stereotypisierung der Sehweisen, so dass typischerweise Landschaften mit Sonnenunter- und -aufgängen oder Mondlichtbeleuchtung erwartet werden. Diesen Vorstellungen wird auch in den Wanderungen häufig entsprochen, die Landschaften vor allem bei Sonnenuntergang beschreiben, manchmal auch im Mondschein (vgl. zu den Sonnenuntergängen WMB 10, S. 44, 420; WMB 11, S. 401; WMB 12, S. 44; zum Mond WMB 10, S. 69; WMB 11, S. 201). Jost, Das poetische Auge, S. 72f. Buddemeier, Das Foto, S. 96.

4.2. Arten der visuellen Wahrnehmung und Beschreibung

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Auf dieses Epitaphium, das einen guten Überblick versprach, stieg ich hinauf und übersah nun, ein paar Zweige zurückbiegend, die ganze Klosteranlage [...] Eine Viertelstunde lang hielt ich Umschau. (WMB 9, S. 466; Herv. N.H.)

So wie die ›bewegten Bilder‹ durch die Geschwindigkeit ihrer Abfolge komprimiert und zu einer Einheit werden, verdichtet der Panoramablick das Gesehene durch die auf einmal wirkende Weite des Raums. Beide Methoden verwandeln damit die »durch ihre Monotonie [...] eigentlich reizlose Landschaft der Mark« so, dass sie »ästhetisch konsumierbar« wird, und in beiden Fällen entsteht ein Eindruck von Simultanität, der sonst die Wahrnehmung eines Bildes gegenüber derjenigen der Wirklichkeit auszeichnet.76 Diese Gleichzeitigkeit ist laut Buddemeier nur dann möglich, wenn der Betrachter eine Wahrnehmungshaltung einnimmt, die normalerweise gar nicht vorkommt. Er muß [...] seine Aufmerksamkeit möglichst gleichmäßig auf alles, was vor ihm liegt, [...] verteilen. [...] Unsere alltägliche Art des Sehens ist denn auch eine ganz andere.77

Fontane hat sich diese Art der Wahrnehmung zu eigen gemacht und beschreibt infolgedessen seine Wahrnehmung der Realität wie die eines Bildes. So nennt er etwa im zweiten zu Beginn dieses Unterkapitels abgedruckten Zitat die rechte und linke Ansicht gleichzeitig, obwohl er sie nur nacheinander betrachten kann. Neben dieser ästhetischen Funktion dient der Panoramablick ihm auch ganz pragmatisch zur Orientierung. In folgender Passage beispielsweise wird nicht die Schönheit der Landschaft beschrieben, sondern lediglich rasch vom Aussichtsort aus festgestellt, wo das nächste Reiseziel liegt: Eine offene Stelle, wo nur Hagebutten und verzwergte wilde Kirschen stehen, gestattet uns auf der sonst in ihrer Aussicht beschränkten Kuppe einen vollen Blick nach Nordwesten zu. Der nächste Punkt ist Fahrland. Wir steigen, um uns den Weg zu kürzen, den steileren Abhang des Berges hinunter. (WMB 11, S. 206)

Statt des panoramatischen Rundblicks wird an manchen Passagen – ähnlich wie beim Blick aus der Fahrt heraus – die Sicht auf zwei einander gegenüberliegende Landschaften beschrieben: Von der Höhe dieses Viaduktes aus blickt man jetzt nach links hin in die Wassertiefe des Gamensees, nach rechts hin in die Waldestiefe des Gamengrundes hinab. [...] Beide Bilder sind schön, auch einzeln betrachtet; aber das eine steigert noch die Wirkung des andern. Nach links hin Klarheit und Schweigen. Der Gamensee, wie ein Flußarm, windet sich in leicht gespanntem Bogen zwischen den Tannenhügeln hin und nichts unterbricht die Stille als ein plätschernder Fisch, den die Nachmittagssonne an die Oberfläche treibt. Nach rechts hin

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Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 489. Buddemeier, Das Foto, S. 90. Buddemeier nennt dieses Kriterium als Unterschied zwischen der Wahrnehmung der Realität und dem Blick auf eine Photographie, doch die Gleichzeitigkeit ist nicht nur bei Photographien, sondern generell bei Bildern gegeben – sofern sie gewisse Größenverhältnisse nicht überschreiten.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

Dunkel und Leben. Aus dem Grunde herauf und bis an die Höhe des Dammes, beinahe greifbar für unsere Hände, steigen die ältesten Eichen, und während sich die Stämme in Schatten und Waldesnacht verlieren, blitzt die Sonne über die grünen Kronen hin. Allerhand Schmetterlinge wiegen sich auf und nieder und die Vögel sind von einer Herzlichkeit, als wäre dies das Tal des Lebens und nie ein Falk oder Weih über den Gamengrund dahingezogen. (WMB 10, S. 360)

Die Benennung des Gesehenen als zwei »Bilder« zusammen mit der Schilderung zunächst stiller Ansichten, in die dann jeweils eine stellenweise Bewegung kommt – links durch einen Fisch, rechts durch Schmetterlinge und Vögel – weckt Assoziationen mit dem Diorama. Auch dort wird in anfangs unbewegten Bildern während der Vorführung die Illusion partieller Bewegung oder wechselnder Tageszeiten erzeugt. Fontane macht seine Betrachtung zwar nur zu einer bestimmten Tageszeit, doch spielen deren spezifische Lichtverhältnisse, die durch die doppelte Erwähnung der »Nachmittagssonne« und ihres »Blitzens« auf den Bäumen betont werden, eine ähnliche bedeutsame Rolle wie im Diorama. Während dort dem Zuschauer die beiden Bilder nacheinander gezeigt werden, schildert Fontane ihre Wahrnehmung als gleichzeitig. Indem er dabei gegensätzliche Ansichten kontrastiert, kann er deren Reiz steigern, so wie auch die ›bewegten Bilder‹ ihn durch ihre Vielfalt und den Abwechslungsreichtum für sich einnehmen: Die neuen Orangeriehäuser [...] auf dem Kamme des Hügels [...] gestatten einen Überblick über beide, hier über die Baum- und Villenpracht der königlichen Gärten, dort über die rohrbedeckten Hütten des märkischen Dorfes; links steigt der Springbrunnen auf und glitzert siebenfarbig in der Sonne, rechts liegt ein See im Schilfgürtel und spiegelt das darüber hinziehende weiße Gewölk./ Dieser Gegensatz von Kunst und Natur unterstützt beide in ihrer Wirkung [...] [,] ein[em] Produkt des Kontrastes. (WMB 11, S. 235)

4.2.3. Ausschnitte und Fensterblicke: Analogie zur Photographie Eine weitere Auffälligkeit der Fontaneschen Beschreibungen liegt in der Rahmung oder Ausschnitthaftigkeit des Gesehenen, sowohl beim Sehen bewegter als auch statischer Objekte, die typisch für die bildanaloge Wahrnehmung ist. Immer wieder wird die Aussicht auf bestimmte Gegenstände, meist auf Bauwerke, durch Bäume beschränkt, so dass entweder nur das Dach darüber zu sehen ist oder kleine Ausschnitte durch die Zweige hindurch (vgl. WMB 9, S. 5; WMB 9, S. 245f). Während einer Fahrt etwa heißt es: »So ging das Geplauder, als plötzlich, zwischen den Stämmen hin, eine weite Wasserfläche sichtbar wurde« (WMB 9, S. 316). An anderer Stelle sieht man »die weißgrauen Wände des Schlosses durch das ziemlich dichte Laubwerk hindurchschimmern« (WMB 10, S. 192).

4.2. Arten der visuellen Wahrnehmung und Beschreibung

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Den dadurch entstehenden Effekt der Rahmung und Bildhaftigkeit beschreibt Fontane selbst: »Wir [...] blicken durch die Umrahmung der Bäume in das Bild abendlichen Friedens hinein« (WMB 11, S. 151). Diese Sichtweise ist so bezeichnend für Fontane, dass Peter-Klaus Schuster eine Photographie abbildet, auf der fast nur Bäume zu sehen sind, lediglich im oberen Drittel ein Stück Dach, das etwa ein Zehntel des Bildes einnimmt, und dazu schreibt, man empfinde es als fontanesk, weil es höchst ungewöhnlich einen von Bäumen verstellten Blick auf den Tempel der Nationalgalerie festhält. So unprätentiös aus dem Blickwinkel eines beliebigen Passanten, so intensiv im zufälligen Ausschnitt kann nur Fontane, so glaubt man, die Nationalgalerie gesehen haben.78

Während das Ausschnitthafte der Wahrnehmungsweise Fontanes einem Gemälde ebenso wie einer Photographie eigen ist, ist dessen Zufälligkeit eindeutig der Photographie zuzuschreiben. Ein Gemälde ist durchdacht und durchkomponiert, der abgebildete Ausschnitt genau ausgewählt, jedes enthaltene Element beabsichtigt und bedeutungsvoll. Die Photographie dagegen kann innerhalb kürzester Zeit beliebige Realitätsausschnitte abbilden und enthält selbst bei ausgewählten Abschnitten zufällige Details. Besonders deutlich wird diese Zufälligkeit des Ausschnittes etwa bei Amateurphotographien, auf denen Köpfe oder Füße der Abgebildeten teilweise abgeschnitten sind oder bei Touristenphotographien, bei denen im Aufnahmemoment etwa ein Fremder ins Bild tritt. In der Frühzeit der Photographie wurden zwar auch deren Motive genau ausgewählt und angeordnet, doch der Zufall ließ sich dennoch nicht umgehen, beispielswiese wenn im Moment der Aufnahme die Augen des Abgebildeten geschlossen waren. Für Roland Barthes stellt daher der Zufall eines der konstitutiven Momente der Photographie dar.79 So zeigt auch Schuster kein Gemälde, sondern eine Photographie als Beispiel für die Sehweise Fontanes, da diese zusätzlich zum Merkmal der Ausschnitthaftigkeit das der Zufälligkeit aufweist. Die traditionellere Variante des ausschnitthaften Sehens durch das Fenster, der in Fontanes Romanen eine häufig untersuchte und bedeutsame Rolle zukommt, findet sich ebenfalls in den Wanderungen. Rahmung und Ausschnitthaftigkeit bewirken das Bildhafte dieser Sehweise: Fensterblicke verdienen den Namen ›Bild‹ durchaus im spezifischen Sinne eines begrenzten Ausschnitts, eines der Zeit momentan enthobenen, eines angehaltenen Augen-

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Peter-Klaus Schuster, Die Kunst bei Fontane. In: Claude Keisch, ders. et al. (Hrsg.), Fontane und die Bildende Kunst, S. 21. Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1989, S. 12.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

blicks [...]. Stets haben Fensterblicke mehr oder weniger den Charakter von Camera-obscura-Ansichten oder von Filmausschnitten.80

Für Kurt Weber hat sich darüber hinaus beim Fensterblick ebenso wie bei dem aus dem fahrenden Wagen [z]wischen das Auge und die Objekte [...] eine Apparatur geschoben – oder vielmehr etwas, das einer solchen gleichkommt, etwas wie eine ›Linse‹, und selbst die simple Einrahmung macht einen ähnlichen Effekt.81

Damit stellt er fest: »[D]ie technische Vorrichtung ist in die Sichtweise eingegangen«82 – in das alltägliche Sehen gehen Seherfahrungen ein, die sonst mit »technischen Vorrichtungen« erreicht werden. So ähnelt auf eine gewisse Art der Blick durch ein Fenster demjenigen durch eine Kameralinse oder der Betrachtung einer Photographie. In den Wanderungen beschreibt der Erzähler Fensterblicke nach draußen nur selten detailliert,83 dagegen wird die umgekehrte Blickrichtung, von außen in einen Raum hinein, häufiger und prägnanter gestaltet: Wir traten [...] dicht an die hohen, aus kleinen grünen Scheiben zusammengesetzten Fenster heran und sahen in den Betsaal hinein, der aus einem Katheder und sechs Bank- und Pultreihen bestand. Auf den Pulten lagen viele Gesangbücher aufgeschlagen, als habe eben erst eine Gemeinde diesen Betsaal verlassen. Und doch waren es über drei Jahre, seit man sich hier zum letzten Male versammelt hatte. Das Ganze berührte mich unheimlich. (WMB 9, S. 394)

Auffällig an dieser Beschreibung ist das durch Starre, Verlassenheit und die lange Abwesenheit von Menschen verursachte Unheimliche des sich bietenden Anblicks, das ganz im Gegensatz zu der bei den ›bewegten Bildern‹ gesuchten Lebendigkeit steht. Es bildet auch bei weiteren Nennungen des Fensters einen Bestandteil der Wahrnehmung, wo es nicht durch Stille oder Starre bewirkt wird, sondern durch das Gesehene selbst: Aber himmlische Mächte, was war inzwischen geschehen?! Aus jedem Fenster sah ein ›Beguinengesicht‹ und grinste mich an [...]./ Und mit verlegener Herzlichkeit grüßend, wie man es tut, wenn man sich fürchtet, empfahl ich mich und floh die Straße hinab und vor das Wildberger Tor hinaus. (WMB 9, S. 400) [D]as Abendrot streift die Kirchenfenster, und mitunter ist es, als stünde eine weiße Gestalt inmitten der roten Scheiben. Das ist das weiße Fräulein. (WMB 11, S. 71)

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Brinkmann, Der angehaltene Moment, S. 440. Kurt Weber, ›Au fond sind Bäume besser als Häuser‹. Über Theodor Fontanes Naturdarstellung. In: Fontane Blätter 64 (1997), S. 150. Ebd. Teils erinnern solche Beschreibungen eher an Panoramaansichten, wenn Fontane in erster Linie den weiten Ausblick schildert, die fenstertypischen Elemente Rahmung und Ausschnitt dagegen vernachlässigt (vgl. WMB 10, S. 171).

4.2. Arten der visuellen Wahrnehmung und Beschreibung

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Um Mitternacht, so heißt es jetzt, glühen die Fenster der alten Kirche plötzlich in rotem Lichte auf, und die Gestalt Kaspars von Uchtenhagen in weißem Sterbekleide und mit glattanliegendem Haar tritt vor den Altar. (WMB 10, S. 90)

An die Stelle des Unheimlichen, das schon in den letzten beiden Zitaten über das Gespenstische mit dem Tod verbunden ist, tritt häufig der Tod selbst: Eine Gruft erhält durch eine Öffnung im Mauerwerk »eine Art Kellerfenster [...], durch das der alte Herr in seine letzte Wohnung hineinblicken konnte« (WMB 9, S. 23), »[d]ie Jürgaßsche [Familiengruft] gleicht mehr einer [...] Grabkammer, durch deren Fensterchen man die dahinter aufgeschichteten Särge zählen kann« (WMB 9, S. 443) und das Lager einer Toten befindet sich direkt unter einem Fenster (vgl. WMB 9, S. 313). Ein Sarg wird erwähnt, »in dessen Deckel ein kleines Fenster befindlich ist«, und ein zweiter, auf dem ebenfalls »ein kleines Fenster angebracht [ist], durch das man die entseelte Hülle der alten Freifrau erblickt« (WMB 9, S. 303f). Ein weiterer »Sarg mit einem Kuckfenster oben« weckt das besondere Interesse Fontanes: »Den mit dem Kuckfenster säh’ ich gerne« (WMB 12, S. 35).84 Für gewöhnlich fungieren Fenster als Verbindung zwischen Innenund Außenwelt, was in den Wanderungen bei der Wiedergabe einer Ordensregel deutlich wird, nach der die »Nonnen unter fester Klausur zu verbleiben« (WMB 10, S. 144) haben und ihre völlige Abgeschnittenheit von der Außenwelt durch das folgende Gebot unterstrichen wird: »[W]ir befehlen, daß niemand ohne spezielle Erlaubnis der Abbatissin oder des Präpositus an das Küchenfenster [...] herantreten soll« (WMB 10, S. 144). In der Verknüpfung mit dem Tod jedoch ist diese Funktion des Fensters gebrochen, da Tote nicht durch Sarg- oder Gruftfenster hinaussehen und keinen Kontakt zur Außenwelt aufnehmen können. So stellt der mit dem Tod assoziierte Blick durch das Fensterglas keine Verbindung zweier Welten her, sondern trennt die Welten der Toten und der Lebenden. Das Fenster lässt nur noch den Blick in eine Richtung, von der Seite des außerhalb stehenden Lebenden aus, zu, doch auch dieser kann nur begrenzt in die Innenwelt vordringen, da er mit dem Toten keine Verbindung herstellen kann, sondern nur dessen Oberfläche wahrnimmt.85 Von dieser Assoziation des gerahmten oder ausschnitthaften Blicks durch das Fensterglas mit dem Tod lässt sich eine Verbindung zur Photo_____________ 84

85

Deutlich wird die Verbindung zwischen Fenster und Tod auch im Unterkapitel Wo stand Kronprinz Friedrich? Wo fiel Kattes Haupt? (WMB 10, S. 288–292) aus dem Band Das Oderland, in dem Fontane sich über mehrere Seiten hinweg mit der Frage beschäftigt, von welchem Fenster aus der Kronprinz die Hinrichtung von Kattes beobachtet hat, woraus auch die Wichtigkeit des Beobachterstandpunkts für Fontane klar hervorgeht. In den Wanderungen können zuweilen auch Tote sehen, womit sich Kapitel 4.3.2. der vorliegenden Arbeit näher befasst. Den hier behandelten Verstorbenen in den mit kleinen Fenstern versehenen Särgen jedoch wird diese Fähigkeit nicht zugeschrieben.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

graphie herstellen,86 wenn man bedenkt, dass sie zu Zeiten Fontanes als »Todeskunst par excellence«87 galt. Barthes, für den das Wesen der Photographie ebenfalls in ihrer Nähe zum Tod besteht, formuliert später diesen Gedanken dahingehend, dass das in ihr Abgebildete in einem Moment festgehalten ist, den es so in der Wirklichkeit einmal gegeben hat, der aber unwiderruflich vergangen ist. Aufgrund dieser Eigenschaft der Photographie, ihrem »Es-ist-so-gewesen«,88 zeigt die Photographie grundsätzlich ein Bild des Vergangenen, des Todes. Dieser Effekt tritt verstärkt zutage, wenn sie Menschen abbildet, die mittlerweile verstorben sind. In der Anfangszeit der Photographie wurden sogar häufig Leichen photographiert, so dass der Betrachter einer Photographie wirklich das Gesicht eines Toten ansah.89 Doch allein schon »die bildliche Darstellung des reglosen, geschminkten Gesichtes« in der Photographie eines Lebenden lässt Barthes darin einen »Toten sehen«.90 Diesem Blick auf die Porträtphotographie ähnelt Fontanes Blick durch die Glasscheibe eines Sargdeckels: In beiden Fällen sieht man den gleichen Ausschnitt, nur den Kopf einer Person, der als starres, lebloses Bild des Todes wahrgenommen wird. Berücksichtigt man nun noch, dass die Daguerreotypien in kleinen Etuis verwahrt und mit einer Glasplatte geschützt wurden, so ist die Ähnlichkeit nicht von der Hand zu weisen. Selbst das Element des Unheimlichen, das Fontane dem Fenster beilegt, wird bei Barthes der Photographie zugeordnet: Er schreibt vom »etwas unheimlichen Beigeschmack [...], der jeder Photographie eigen ist: die Wiederkehr des Toten«.91 Ebenso sieht man auch bei Fontane durch das Fenster einen als Geist zurückgekommenen Verstorbenen. Das Thema Tod tritt in den Wanderungen nicht nur in der Verknüpfung mit dem Fensterblick auf, sondern auch in der mit dem Sehen und Bildern generell, womit sich Kapitel 4.3.2. befassen wird.

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Auch das Element des Unheimlichen und der Gespenster lässt sich mit der Photographie in Verbindung bringen, wie Schmitz-Emans darlegt, denn: »Als körperlos-immaterielle Wesen sind sie Grenzgänger von schemenhafter Erscheinung. Ihr Ort ist die Schwelle zwischen Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit, zwischen Tod und Leben, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Bei der metaphorischen Modellierung und Interpretation der Photographie spielt das Bildfeld um Gespenster schon früh eine wichtige Rolle« (Monika SchmitzEmans, Gespenster. Metaphern der Photographie in der Literatur. In: Simonis, Intermedialität und Kulturaustausch, S. 307). Stiegler, Philologie des Auges, S. 226. Barthes, Die helle Kammer, S. 87. Vgl. Guschker, Bilderwelt, S. 318. Barthes, Die helle Kammer, S. 41. Ebd., S. 17.

4.2. Arten der visuellen Wahrnehmung und Beschreibung

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4.2.4. Merkmale malerei- und photographieanaloger Beschreibungen In den vorangehenden Kapiteln sind stellenweise bereits Elemente der Seh- und Beschreibungstechniken Fontanes genannt worden, die für gewöhnlich typisch für die Wahrnehmung von Gemälden oder Photographien sind, im Gegensatz zu derjenigen der Realität. Sie sollen hier noch einmal kurz zusammengefasst und ergänzt werden. Zugrunde liegen dabei die in Kapitel 3.3.3. genannten, allgemein gehaltenen Kriterien Buddemeiers, Koppens und Krauss’, die in der folgenden Aufzählung auf Fontanes Landschaftsbeschreibungen angewendet und, sofern notwendig, modifiziert werden. In Anlehnung an Buddemeier und Koppen wird davon ausgegangen, dass sie zunächst generell Bildern eigen sind, nicht allein photographischen, und dementsprechend unterschieden, in welchen Bildmedien sie besonders ausgeprägt auftreten und in welcher Form. 1. Ausschnitt: Die Wahrnehmung erfolgt teilweise durch Zweige hindurch oder über Baumkronen hinweg, so dass nur Teile eines Objekts – meist eines Bauwerkes – sichtbar werden, oder durch ein Fenster, wodurch ebenfalls das Gesehene auf einen Ausschnitt begrenzt und zusätzlich eingerahmt wird. Während die Ausschnitthaftigkeit generell auch dem Gemälde eigen ist, kommt bei der Photographie ihre Zufälligkeit sowie diejenige der in diesem Ausschnitt enthaltenen Details hinzu, die sich auch bei Fontane findet. Beim Panorama hingegen entfällt die sonst Gemälden eigene Ausschnitthaftigkeit. 2. Schärfenbereich: Fontane geht nur selten auf die Schärfe des Gesehenen ein, so etwa wenn er in folgender Passage, die bezeichnenderweise einen Vergleich zu einer bildlichen Darstellungsform enthält, schreibt: »Zu Füßen uns, in scharfer Zeichnung, als läge eine Karte vor uns ausgebreitet, die Zickzackwälle der Festung« (WMB 11, S. 99). Unschärfe dagegen wird thematisiert, wenn der Blick in die Ferne als verschwommen wahrgenommen und gegenüber dem detailgenauen Blick auf näher liegende Objekte abgegrenzt wird: Welch Bild jetzt! Da wo das ›Gemünde‹, das tiefgehende eigentliche Fahrwasser, das aus der Havel in den Schwielow führt, sich als ein blauer Streifen markiert, zogen in langen Rudeln die Havelschwäne; zu beiden Seiten des ›Gemündes‹ aber, an den einfassenden seichten Stellen Spalier bildend, blühten in dichten Girlanden die weißen Teichrosen aus dem Wasser auf. In einiger Entfernung war es nicht zu unterscheiden, wo das Blühen aufhörte und das Ziehen und Schwimmen begann. (WMB 11, S. 373)

Damit aber liegen nur die Merkmale der menschlichen Wahrnehmung von Natur oder ihrer dieser nachempfundenen Wiedergabe in Gemälden vor, nicht diejenigen der Photographie, die das Ferne scharf und das Nahe

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

unscharf abbilden kann, beziehungsweise »Schärfe- [sic] und Unschärfe im Bild nach Belieben [...] verteilen«.92 Möglich ist allerdings, dass Fontane durch die Betrachtung von Photographien verstärkt für die Wahrnehmung von Schärfe und Unschärfe sensibilisiert wurde, da vor allem frühe Photographien oft durch Bewegung auffällig verwischte Stellen innerhalb oder am Rande der sonst verblüffend scharfen und detailgenauen Darstellung enthielten. 3. Immobilisierung: Völlige Bewegungslosigkeit des Beschriebenen ist in den Wanderungen selten und bewirkt einen unheimlichen, an den Tod gemahnenden Eindruck, so beispielsweise ein menschenleerer Betsaal mit aufgeschlagenen Büchern (vgl. WMB 9, S. 394f).93 Häufiger dagegen finden sich minimale Änderungen – etwa durch Wind oder vereinzelt durch das ›Bild‹ fliegende Vögel –, die meist erst eintreten, nachdem zunächst ein unbewegtes Bild aufgebaut wurde, und den Eindruck der Leblosigkeit nicht ganz aufheben: Die Mühlen stehen so steif und leblos da, als hätten sie sich nie im Klappertakte gedreht. Sonntags- und Mittagsstille vereinigen sich zu einem Bilde absoluter Ruhe, und wäre nicht der Wind, der oft umschlagend, bald wie ein Gefährte plaudernd neben uns hergeht, bald wie ein junger Bursche uns entgegenspringt, so wäre die Einsamkeit vollkommen. (WMB 11, S. 329f) Zwischen den Hügeln aber dehnt sich jedesmal ein grüner Streifen, aus dessen Mitte leise gekräuselte Wasserflächen, mal dunkel wie ein Teich, mal blau wie ein See, hervorblicken. Alles Lebendige scheint diese Öde zu meiden, keine Lerche wiegt sich in Lüften, kein Storch stolziert den Sumpf entlang, nur eine Krähe fliegt gleichgültig über die Landschaft hin. (WMB 10, S. 416)

Die Immobilisierung ist eine Eigenschaft sowohl der Malerei als auch der Photographie, bei letzterer jedoch ist der angehaltene Moment zufälliger. Zudem ermöglicht die Photographie durch Momentaufnahmen das Anhalten von Bewegungsabläufen, wie es der Malerei, die bis dahin auf die menschliche Wahrnehmung angewiesen war, zuvor nicht möglich war. Solche typisch photographischen Aspekte der Immobilität sind für die Wanderungen nicht belegbar, zumal das Merkmal ohnehin nicht konsequent durchgehalten wird. Dennoch verweisen diese Beschreibungen insofern auf die Photographie, als die für damalige Betrachter mit dem Bildmedium verbunden Assoziationen mit Leblosigkeit, Tod und Unheimlichkeit bei ihnen oft mitschwingen. Andererseits erinnert gerade die leichte, nur stellen- und zeitweise Bewegung der insgesamt stillen Landschaften an das Diorama als spezielle Form der Malerei, wo ebenfalls für ein generell unbewegtes Bild durch Beleuchtungs- oder Nebeleffekte momentane Bewegtheit suggeriert wurde. Für das Moving Panorama schließlich trifft _____________ 92 93

Krauss, Photographie und Literatur, S. 64. Vgl. a. Kapitel 4.2.3. der vorliegenden Arbeit.

4.2. Arten der visuellen Wahrnehmung und Beschreibung

135

das Merkmal der Immobilität gar nicht mehr zu, da es ja gerade darauf ausgerichtet war, diese als Mangel empfundene Eigenschaft der Malerei zu überwinden. 4. Beschränkung auf das Sehen: Sie liegt bei vielen Beschreibungen vor, besteht allerdings – ähnlich wie die Immobilität, die teils mit ihr einhergeht – oft nur anfangs, um ein ›Bild‹ entstehen zu lassen, worauf im Weiteren andere Sinneseindrücke ergänzt werden. Als Beispiele mögen folgende Stellen dienen: »[Wir] horchten auf die Stille. Die blieb, wie sie war: kein Boot, kein Vogel; auch kein Gewölk. Nur Grün und Blau und Sonne« (WMB 9, S. 316). Es war ein wundervoller Weg; über dem blauen Wasser wölbte sich der blauere Himmel und zwischen den spärlichen Binsen, die das Ufer hier einfaßten, hing ein ebenso spärlicher Schaum, der in dem scharfen Ostwinde beständig hin und her zitterte. Holz und Borkestücke lagen über den Weg hin zerstreut, andre dagegen tanzten noch auf dem flimmernden See, der im übrigen, all diesem Flimmern und Schimmern zum Trotz, einen tiefen Ernst und nur Einsamkeit und Stille zeigte. Nirgends ein Fischerboot, das Netze zog oder Reusen steckte, ja kaum ein Vogel, der über die Fläche hinflog. Oft hielt ich an, um zu horchen, aber die Stille blieb. (WMB 12, S. 31)

Die Beschränkung auf das Sehen trifft auf Malerei und Photographie gleichermaßen zu. Zu beachten ist allerdings, dass bei einer Gemäldeinszenierung wie dem Moving Panorama die Betrachtung teils durch Musik oder Geräusche ergänzt wurde, um einen stärkeren Realitätseindruck zu vermitteln. 5. Privilegierter Beobachterstandpunkt: Vor allem die Panoramabeschreibungen erfüllen dieses Kriterium. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass die idealen Orte zur Wahrnehmung aufgesucht werden, die meist an erhöhten Stellen liegen und damit eine »komponierte und perspektivisch geordnete Beschreibung möglich«94 machen. Auch die »Überlegenheit des Beobachters«95 über die Natur ist so durch die im wörtlichen Sinne verstandene lokale Unterordnung des Gesehenen gegeben. Anstatt des Terminus des ›privilegierten‹ Beobachterstandpunkts, der sich in der Forschung eingebürgert hat, böte sich auch der eines ›festgelegten‹ Beobachterstandpunkts an, denn die Blickrichtung von einem genau festgelegten Standort aus charakterisiert Bilder ebenso wie die Wahl eines besonders guten Blickpunkts, von dem aus die sich bietende Ansicht ihre Wirkung am besten entfalten kann. Dieses Merkmal eines privilegierten, genau festgelegten Beobachterstandpunkts findet sich sowohl bei der Malerei als auch bei der Photographie, wobei das Merkmal des ›Privilegierten‹ eher der Malerei – insbesondere der Panoramamalerei – _____________ 94 95

Koppen, Literatur und Photographie, S. 69. Buddemeier, Das Foto, S. 94.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

zuzuschreiben ist, bei der die abgebildeten Gegenstände so angeordnet werden können, dass sie genau auf den Betrachter ausgerichtet sind. 6. Detailgenauigkeit: Dem Blick auf das Detail begegnet man oft in den Wanderungen, vor allem im Zusammenhang mit den Beschreibungen von Gemälden oder Kunstwerken: Zu zwei Relieffiguren etwa stellt Fontane fest, daß beide große, mit Buchklammern versehene, und in ein eigentümliches Futteral gesteckte Meßbücher tragen. Die Lederbekleidung dieses Futterals hört nämlich nach oben zu mit dem Bucheinbande nicht auf, sondern wächst noch einen Fuß hoch über die festen Deckel hinaus. [...] Ich habe geglaubt, dies so ausführlich beschreiben zu sollen, weil ich weder hier zu Lande noch sonstwo einer derartigen Einbandform [...] begegnet bin. (WMB 9, S. 397)

Auch Fontanes Blick auf die ihn umgebende Wirklichkeit richtet sich oft auf Details: Die kleinen Bettstellen von Birkenmaserholz, die roten Steppdecken von allersimpelstem Kattun, die Waschtoiletten mit dem Klappdeckel und die beinah faltenlosen Zitzgardinen, als habe das Zeug nicht ganz gereicht, alles hat den schlichtbürgerlichsten Charakter von der Welt. (WMB 9, S. 254)

In der Natur gilt seine Aufmerksamkeit häufig filigranen Objekten wie Spinnenweben oder Regentropfen und darin eingefangenen Lichtreflexen: »[Z]wischen den Ästen spannen sich Spinneweben aus und schillern in allen Farben des Regenbogens« (WMB 9, S. 184), »das Wasser des großen Tornow, das eben in tausend Tropfen von unserm Ruder fällt, funkelt in allen Farben des Lichts« (WMB 10, S. 101), und »an den Ebereschenbäumen blinkten einzelne Regentropfen« (WMB 11, S. 356). Diese Konzentration auf Details legt eine Beeinflussung Fontanes durch die Photographie nahe. Dieses Merkmal ist insofern photographiespezifisch, als die Malerei nicht alle Gegenstände mit gleicher Detailliertheit wiedergibt und zudem auch nicht jeden in der Wirklichkeit vorhandenen kleinen Gegenstand abbildet, wenn er nicht für die Komposition nötig ist. Alle aufgezählten Merkmale des Blicks auf ein Bild finden sich damit in den Beschreibungen der Wanderungen wieder, wobei deutlich wird, dass sie nicht auf alle für die vorliegende Arbeit relevanten Bildarten gleichermaßen zutreffen – so fällt etwa die Ausschnitthaftigkeit beim Panorama weg, die Immobilität bei Diorama und Moving Panorama. Gerade dadurch, dass bei den im 19. Jahrhundert entwickelten Gemäldeinszenierungen jeweils spezielle Merkmale des Bildhaften wegfallen, zeigen diese sich jedoch um so mehr als Eigenschaften ›gewöhnlicher‹ Gemälde, denn die neuen Gemäldeformen strebten gerade danach, diesem Gemäldecharakter zu entkommen und eine in den alten Gemäldeformen nicht erreichte

4.3. Mit bildanalogem Sehen und Bildern verknüpfte Themen

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Realitätsillusion zu schaffen. Insofern sind die genannten Merkmale weiterhin als gültig zu betrachten, müssen jedoch im Einzelfall auf die spezielle Bildart hin modifiziert werden. Allerdings bilden die genannten, auf objektive und nachmessbare, äußerliche Eigenschaften der Bilder begrenzten Kriterien nur die erste Grundlage einer Definition bildspezifischer Wahrnehmungs- und Beschreibungsarten. Um herauszuarbeiten, was in Fontanes Texten als das ›Photographische‹ oder das ›Malerische‹ gelten kann, sind sie – wie in Kapitel 3.3.3. dargelegt – um Kategorien zu ergänzen, die auch die kulturund epochenspezifische Nutzung der Medien und zeitgenössische, teils subjektive Assoziationen des Betrachters einbeziehen. Bisher fiel bei Fontane allein die Verbindung der – Parallelen zur Photographiebetrachtung aufweisenden – Fensterblicke mit Leblosigkeit, Tod und dem Unheimlichen auf. Es ist daher nötig, sich neben den reinen Beschreibungen auch ihrem thematischen Umfeld und sich an die bildhaften Beschreibungen knüpfenden Gedankengängen des Erzählers zuzuwenden.

4.3. Mit bildanalogem Sehen und Bildern verknüpfte Themen 4.3.1. Der Bezug zur Geschichte Neben der Bildhaftigkeit bildet der Bezug zur Geschichte das zweite Hauptmerkmal der Wanderungen, was die Betitelung einiger veröffentlichter Teile im Morgenblatt für gebildete Leser als Bilder und Geschichten aus der Mark Brandenburg96 zur Folge hatte. Im Vorwort zur zweiten Auflage der Grafschaft Ruppin legt Fontane neben dem ›Landschaftssinn‹ als weitere Bedingung fest: Wenn du reisen willst, mußt du die Geschichte dieses Landes kennen und lieben. Dies ist ganz unerläßlich. Wer nach Küstrin kommt und einfach das alte graugelbe Schloß sieht, das, hinter Bastion Brandenburg, mehr häßlich als gespensterhaft aufragt, wird es für ein Landarmenhaus halten und entweder gleichgültig oder wohl gar in ästhetischem Mißbehagen an ihm vorübergehen, wer aber weiß: ›hier fiel Kattes Haupt; an diesem Fenster stand der Kronprinz‹, der sieht den alten unschönen Bau mit andern Augen an. – So überall. (WMB 9, S. 8)

Das Betrachtete gewinnt für Fontane erst durch seine Verbindung mit der Geschichte, »die stille Führerschaft von Sage und Geschichte« (WMB 11, S. 96), wie es an anderer Stelle heißt, an Bedeutung, so dass Heinz Brüggemann feststellt: »Die Geschichte und Geschichten, die in den Dingen stecken wie ein fortwirkendes Vergangenes – sie sind es, denen auch der _____________ 96

Vgl. Uwe Hentschel, ›Märkische Bilder‹ oder ›Wanderungen‹? Anmerkungen zur Textsortenproblematik. In: Delf von Wolzogen, ›Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg‹, S. 82.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

literarische Blick dieses Autors gilt«, den Brüggemann als »archäologische[n] Blick« bezeichnet.97 Es ist ein Blick, für den die wahrgenommenen Objekte – Landschaften ebenso wie Bauwerke – nicht als solche von Belang sind, sondern nur durch ihre Verweisfunktion, als Zeichen für das historische Geschehen. Ohne das Wissen um die Historie kann für Fontane das Gesehene nicht richtig wahrgenommen werden, kennt man sie jedoch, kann man »plötzlich wie in wunderbarer Beleuchtung sehen« (WMB 9, S. 8) – eine Feststellung, die ebenso für sein Bewusstsein des starken Einflusses von Wissen und Assoziationen auf die Wahrnehmungsfähigkeit, wie Helmholtz ihn dargelegt hat, spricht, wie für seine eigene Vorgehensweise, Objekte seiner Umwelt mit diesem Hintergrundwissen angereichert als Zeichen zu interpretieren. Nicht um die sichtbaren Objekte selbst geht es Fontane, denn eine adäquate Wirklichkeitserfassung bzw. -durchdringung und -vermittlung darf nicht bei der reinen Visualität der Oberflächen stehenbleiben. Angestrebt wird stattdessen die Erkenntnis und Repräsentation des aus ihnen herauslesbaren ›Dahinter‹, ihres in ihrem Zeichencharakter begründeten ›historischen Wesens‹. Was keinen solchen historischen Hintergrund aufweist, erscheint dem Autor kaum der Erwähnung wert, wie etwa der sehr knapp gehaltene Abschnitt über das Gebäude der Amtsfreiheit zeigt, das nicht einmal beschrieben wird, da ihm »jeder Hauch von Historischem fehlt« (WMB 9, S. 393). Mangelt es Landschafts- und anderen Ansichten daran, werden sie nur dann geschildert, wenn sie sich ästhetisch besonders reizvoll präsentieren, wie etwa als Panoramaansicht oder ›bewegte Bilder‹. Nach ähnlichen Grundsätzen richtet sich auch die mehr oder weniger ausführliche Thematisierung von Kunstwerken: An einer Textstelle heißt es, dass »drei Bildchen [...] nicht unmittelbar und durch sich selbst, sondern erst durch ihre Geschichte zur Geltung kommen« (WMB 13, S. 395), zu einem Lutherporträt stellt Fontane fest, dass ihn »dessen kurze Geschichte [...] freilich mehr interessierte als das Bild selbst« (WMB 10, S. 383) und schließlich schreibt er über Tamsel: »Das Schloß ist reich an Bildern und Skulpturen aller Art; wir verweilen jedoch nur bei den historisch-interessantesten« (WMB 10, S. 346). Folglich gewinnen auch Gemälde erst durch ihren Verweischarakter auf Geschichte an Bedeutung, durch ihre Funktion als »Erinnerungszeichen« (WMB 9, S. 535). Neben dem historischen Gehalt liegt ein zweiter Grund, Kunstobjekten Beachtung zu schenken, in ihrem ästhetischen Wert, wie folgende Passage zur Rechtfertigung der Beschreibung einiger Gegenstände zeigt: »Alle diese Dinge sind historisch interessant, ohne künstlerische Bedeutung beanspruchen zu können. Von künstlerischer Bedeutung ist nur eins: _____________ 97

Brüggemann, Das andere Fenster, S. 205f.

4.3. Mit bildanalogem Sehen und Bildern verknüpfte Themen

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ein kleiner bronzener Klappaltar« (WMB 10, S. 16). Dabei können künstlerischer und historischer Gehalt einander aufwiegen und den Mangel des jeweils anderen ausgleichen: Nicht nur Objekte von historischem Wert können eines künstlerischen entbehren, umgekehrt wird auch der Mangel an Historischem durch »besondere Schönheit« ausgeglichen, was in Fontanes Feststellung deutlich wird, dass Bilder, »weil in der Mehrzahl durch besondere Schönheit ausgezeichnet, an dieser Stelle genannt werden mögen, obschon sie jeder Beziehung zu den Quitzows [das heißt dem eigentlichen, historischen Thema, N.H.] entbehren« (WMB 10, S. 84). In Kunst- wie Landschaftsdarstellungen richtet Fontane seine Auswahl somit gleichermaßen an Historie und Ästhetik aus.98 Dabei verknüpft er »nicht nur Historisches und Geographisches, sondern auch Bildliches mit dem Narrativen«,99 denn immer gehen die Beschreibungen von Landschaften, Gegenständen oder Bildern (vgl. z. B. WMB 9, S. 31f; WMB 13, S. 127, 395) in deren Geschichte oder die anekdotenhafte Erzählung mit ihnen verbundener historischer Ereignisse über – so an folgenden Textstellen: Hier, an einem breiten Fensterpfeiler, [...] erhebt sich statuenhaft und auf niedrigem Postament ein Riesenstiefel, mit einem 9 Zoll langen Sporn daran und einer 1 1/2 Zoll dicken Sohle. Das Ganze ein Kunstwerk in seiner Art, und trotz seines riesigen Umfanges von einer gewissen Eleganz der Erscheinung. Dieser Stiefel hat seine Geschichte[, die im Anschluss über zwei Seiten hinweg erzählt wird, N.H.]. (WMB 9, S. 357) [Beschreibung:] Unmittelbar hinter Zorndorf beginnt das Schlachtfeld. Es ist ein Viereck, das von der Neumühlschen Forst und dem Zicher Bach im Westen und Osten, und von der Mietzel und einem Höhenzug im Norden und Süden gebildet wird. An dem Höhenzuge liegen Wilkersdorf und Zorndorf. [Geschichte:] Auf diesem Stückchen Erde wurde die Schlacht geschlagen. [Beschreibung:] Der Boden ist wellenförmig, aber die Einschnitte ziehen sich nicht horizontal von West nach Ost, sondern senkrecht von Nord nach Süd, so daß das ganze Terrain mit seinen Höhen und Tiefen einer Tischplatte gleicht, auf der eine Riesenhand mit gespreizten Fingern liegt. [Geschichte:] Das an jenem Tage den Mittelpunkt der russischen Stellung bildende Dorf Quartschen [Beschreibung:] entspricht dem Handgelenk. Hier trafen alle Höhen und Tiefen in einem Punkte fächerförmig zusammen./ [Geschichte:] Auf einem zwischen zwei dieser Vertiefungen, dem Zabern- und dem Galgengrunde gelegenen Hügelrücken, entschied sich die Schlacht. (WMB 10, S. 351f; Einfügungen in eckigen Klammern von N.H.)

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Meist liegt nur einer der beiden Gründe vor, sie können jedoch auch zusammenspielen, so etwa, wenn die zweite in Kapitel 4.2.2. zitierte Beschreibung der Panoramaansicht auf Landschaft, Dorf und See mit der Wiedergabe des im See enthaltenen »Sagenschatz[es]« fortgesetzt wird (WMB 10, S. 96). Fischer, Märkische Bilder, S. 135.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

Auch hier folgt eine längere Schlachtendarstellung, so dass in beiden Passagen die Erzählung der Geschichte das Hauptanliegen ist. Die vorangehenden, ästhetisch eher anspruchslosen Beschreibungen des Gegenstands bzw. der Landschaftsansicht stehen nicht für sich selbst, sondern dienen vor allem der Einleitung und Verknüpfung der erlebten Gegenwart mit der Geschichte, denn »[e]rst die historische Erzählung macht die Landschaft wertvoll«.100 Dieses Verfahren wird nicht nur bei Wahrnehmungs-, sondern auch bei materiellen Bildern angewandt, wenn nach der Nennung eines Gemäldes erzählt wird, auf welchem Weg und durch welche Besitzverhältnisse es an seinen derzeitigen Platz gelangt ist (vgl. WMB 9, S. 31f). In den bisher genannten Beispielen sind Landschaft oder (Kunst)gegenstand Bestandteil einer realen Geschichte aus der Vergangenheit, der bis in die Gegenwart hinein überdauert hat und die Erinnerung wieder wachruft. In einer weiteren Variante existiert zunächst nur das Bild, dem dann nachträglich eine fiktive Geschichte angedichtet wird. Fontane schildert diesen Prozess der Entstehung einer unwahren Geschichte aus einem Bild als »Musterbeispiel« folgendermaßen: Ich würde diese[r] [...] mittelmäßigen Bildnisse zweier Kinder [...] gar nicht Erwähnung tun, wenn sich nicht, als an einem Musterbeispiele, daran zeigen ließe, wie und woraus Geschichten entstehen. Es wird einem nämlich erzählt, beide Kinder hätten am See gespielt und wären durch einen nicht aufgeklärten Zufall ertrunken. In der Hoffnung auf näheren Aufschluß, unterzog ich mich einer Entzifferung der Umschrift. [...] Die bloße Datenangabe genügte hier völlig, alles das, was erzählt wird, als ein Märchen erkennen zu lassen. Aber eine Prüfung der Bildnisse selbst ergab mir auch den Ursprung der Fabel. Das lang herabhängende blonde Haar des Mädchens sah täuschend aus wie halbkrauses Lockenhaar, das im Wasser seine Krause verloren hat und nur noch leise gewellt, wie eine kompakte Masse, über den Nacken fällt. Einfach der Anblick dieses Haares, das nur deshalb wie vom Wasser zusammengehalten aussieht, weil es der Steinmetz nicht besser und natürlicher machen konnte, hat der kleinen Erzählung von den im See ertrunkenen Geschwistern die Entstehung gegeben. (WMB 9, S. 249f)

An einer weiteren Stelle heißt es nach dem Erzählen einer Geschichte über die Auslöschung einer Familie durch den Tod eines Jungen: Es ist ersichtlich, daß dies überaus anziehende Bild, das wirklich eine Geschichte herauszufordern scheint, die äußere Veranlassung zu jener Sage gegeben hat, die ich bereits erzählt habe [...]. Wir freuen uns, daß die Sage da ist, möchten sie nicht missen, aber sie ist eben Sage und nicht mehr. Der Beweis ist mit Leichtigkeit zu führen. Das Bildnis selbst belehrt uns in seiner Umschrift. (WMB 10, S. 87f)

In beiden Fällen gibt Fontane zunächst die Geschichte wieder, benennt und beschreibt dann das Gemälde, das ihr zugrunde liegt, und begründet _____________ 100 Walter Erhard, Die ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 835.

4.3. Mit bildanalogem Sehen und Bildern verknüpfte Themen

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dann anhand desselben die Entstehung der Geschichte. Hauptanliegen ist also auch hier eine – in diesem Fall erfundene – Geschichte bzw. Erzählung, nicht ein Bild an sich. Während sich historische Erläuterungen gleichermaßen an die bildanalog rezipierten Eindrücke von Landschaften oder Bauten wie an Darstellungen von Gemälden anknüpfen, gibt Fontane solche fiktionalen Dichtungen nur bei Gemäldebeschreibungen wieder. Solche Rekonstruktionen der Geschichte bzw. Entstehungsumstände eines Bildes waren zu Fontanes Zeit ein gängiges Verfahren, allerdings nicht anhand von Gemälden, sondern bei Photographien. Diese wurden genau auf alle ihre Details hin studiert und anschließend Vermutungen darüber geäußert, wie es zu der Aufnahme kommen konnte, was etwa davor oder danach geschehen war. Wie John Ruskin, Kunst- und Photographietheoretiker des 19. Jahrhunderts, feststellt, verraten abgebildete Details »etwas über die Geschichte und Grundgesetzlichkeit organischer und anorganischer Gegenstände, sind signifikante Spuren, Lebenslinien, keine zufälligen und nebensächlichen Merkmale«.101 Bei frühen Daguerreotypien ließ sich etwa aus verwischten Stellen erschließen, dass dort zum Zeitpunkt der Aufnahme Bewegung stattgefunden hatte: »Nehmen Sie die Lupe! Sehen Sie auf diesem feinkörnigen Grund diese kleine Stelle, die etwas dunkler ist? Das ist ein Vogel, der durch die Lüfte gestrichen ist«.102 Durch das Zufällige der Photographie enthielt sie damals wie heute viele ungeplante Elemente, die Betrachter zu Spekulationen anregten – etwa über zufällig mit aufgenommene Personen, über die man Geschichten entwickelte. Die Photographie regte aufgrund dieser unbeabsichtigten Details die Erfindung von Geschichten in stärkerem Maße an als die Malerei; umso mehr, als das in ihr Abgebildete wirklich existiert hatte, wodurch der Anreiz zunahm, dieser vergangenen Wirklichkeit auf die Spur zu kommen. Als »Ausschnitt[e] aus dem raum-zeitlichen Kontinuum«103 »üben Fotos einen starken Zwang aus, die abgebildete Szene über das Abgebildete hinaus weiterzuentwickeln oder eben fortzudenken«.104 In den Wanderungen gibt Fontane diesen Prozess der Entstehung einer Geschichte durch ein Bild, seine Deutung als auf eine Geschichte verweisendes Zeichen, anhand von Gemälden wieder, bei denen er durchaus auch schon angewendet wird, wenn auch nicht in gleichem Maße wie bei Photographien. Es ist daher möglich, dass deren Verbreitung Fontanes Wahrnehmung für diesen Vorgang, Geschichten an Gesehenes zu knüpfen bzw. – allgemeiner formuliert – die sichtbaren Objekte der Realität mit zeichenhaften Bedeutungen und Verweisfunktionen aufzula_____________ 101 102 103 104

Kemp, Vorwort, S. 15. Jules Janin, Der Daguerreotyp (1839). In: Kemp, Theorie der Fotografie 1, S. 46. Patricia Anne Hämmerle, Schattenriss der Zeit. Fotografie und Wirklichkeit, Zürich 1996, S. 211. Guschker, Bilderwelt, S. 29.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

den und so mit einer weiteren Tiefendimension zu versehen, besonders geschärft hat.105 4.3.2. Die Verbindung zwischen Bild, Sehen und Tod Viele der von Bildern und »Erinnerungsstücken« (WMB 10, S. 122) ausgehenden fiktiven oder historischen Erzählungen drehen sich um den Tod; einige Sagen entstehen sogar erst, um die Todesursache einer abgebildeten Person zu erklären, die dann den Kern der Erzählung bildet. Auch werden reale Geschichten von Einzelpersonen oder Geschlechtern fast immer bis zum Lebensende des letzten Familienmitglieds erzählt und enden häufig mit der Beschreibung eines Grabsteins, der bis zur Gegenwart als sichtbares Zeugnis der Vergangenheit erhalten geblieben ist. Darauf befindet sich nicht selten »ein Grabsteinbild« (WMB 10, S. 139), ein Porträt des Verstorbenen – worin sich erneut die thematische Verbindung zwischen Tod und Bild zeigt. Ein Bild kann sogar den Grabstein in seiner Erinnerungsfunktion an den Verstorbenen komplett ersetzen: »Die Erinnerungszeichen an Abt Sibold sind zerstört; [...] statt des Grabsteins des Ermordeten [...] erzählen nur noch die beiden alten Bilder im Querschiff die Geschichte seines Todes« (WMB 11, S. 70). Die gleiche Funktion, die Erinnerung an die Vergangenheit und/oder den Tod wach zu halten, erfüllen auch die vielfach in den Wanderungen erwähnten Denkmäler, so dass die Geschichts-, Erinnerungs- und Todesthematik im gesamten Text präsent ist, nur jeweils von unterschiedlichen Gegenständen ausgehend – von Landschaften, Bauwerken, Bildern, Denkmälern, Grabsteinen und -kammern oder Friedhöfen. Im Unterschied zu diesen anderen Möglichkeiten gemahnen die Bilder jedoch nicht nur die Betrachter an Vergangenheit, Verstorbene und ihre _____________ 105 In illustrierten Wanderungen-Ausgaben wird dieses Vorgehen Fontanes, aus Bildern Geschichten zu entwickeln, besonders deutlich, wenn Bilder eines Ortes zu Kapitelbeginn erst den bildlichen Eindruck vermitteln, bevor die Geschichte folgt. Teils werden Kapitel, die sich mit verschiedenen Vorgängen und Personen befassen, die an diesem Ort geschehen sind bzw. verweilt haben, mit weiteren Bildern desselben Ortes versehen, die einen Bogen um das gesamte Kapitel spannen (vgl. Fontane, Havelland 1910; z.T. auch Von Rheinsberg 1990). Die Bilder rufen in Erinnerung, dass die Geschichten erzählt werden, weil sie mit diesem Ort verbunden sind und verstärken das Bewusstsein für das Vorgehen Fontanes, seine historischen Erzählungen an bestimmte Orte und Bilder zu knüpfen bzw. diese mit dem Erzählten aufzuladen. Zugleich kehren sie es um, wenn Photographien eines Ortes die im Text dazu dargestellte Geschichte begleiten oder Porträts die beschriebenen Handlungen der Abgebildeten (vgl. Fontane, Havelland 1910). Während Fontane sich durch den Anblick von Orten oder Porträts zur Schilderung von deren Geschichte anregen ließ, und damit das Potential der Bilder zeigt, Geschichten hervorzurufen, spiegelt sich in illustrierten Ausgaben das des Textes, zum Bild zu werden.

4.3. Mit bildanalogem Sehen und Bildern verknüpfte Themen

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eigene Vergänglichkeit, sondern verleihen darüber hinaus den Toten eine gewisse Präsenz in der Gegenwart, wie etwa an folgender Textstelle: Was der Jahnsfelder Porträtgalerie einen Reiz verleiht [...] ist, daß sie das Frostige eines sogenannten ›Ahnensaals‹ vermeidet. [...] [I]n Jahnsfelde lebt man mitten unter ihnen. Diese alten Herren in Rüstung oder Perücke, hier sind sie nicht zu steifer Repräsentation da, sind nicht Fremde am eigenen Herde, nein, man hat sich häuslich-familiär mit ihnen eingerichtet, kennt sie und liebt sie. Ein täglicher Verkehr hat Platz gegriffen zwischen denen, die waren, und zwischen denen, die sind; ältestes und neuestes reichen sich die Hand und wie ein ununterbrochener Strom wandert das Leben weiter von Geschlecht zu Geschlecht. Wohl mahnen auch hier die Bilder berühmter Ahnen an das Vergängliche alles Irdischen, aber sie predigen zugleich auch den Sieg des Geistes über den Leib und entfalten still die Fahne, auf der als Zuruf und Richtschnur das Dichterwort geschrieben steht:/ ›Und ein berühmter Name nach dem Tode!‹. (WMB 10, S. 443)

Der bereits von Platon formulierte Gedanke, »daß das Bild eines Wesens an diesem teilhat, also eine [...] Spur des Wesens darstellt«,106 findet sich hier im Gedanken wieder, dass die Gemälde nicht lediglich das Aussehen der Verstorbenen darstellen oder Teile von ihnen enthalten, sondern diese darin quasi selbst anwesend sind. Im zeitgenössischen Diskurs ist dieses Phänomen mit der Photographie verknüpft, Fontane jedoch behandelt es anhand von Gemälden. Folgende, im Ursprungstext auf Photographien bezogene Aussage trifft dementsprechend auch auf die in den Wanderungen beschriebenen Porträtgemälde zu: Zur Umwelt einer Person gehören nicht nur andere Personen, sondern auch Artefakte wie Möbelstücke oder Fotos. Dinge der persönlichen Umgebung sind nicht vom Wesen des Menschen ablösbar; die Interaktion mit ihnen bestimmt das Selbst genauso, wie die Interaktion mit anderen Personen.107

Diese Interaktion mit den in ihren Bildern weiterlebenden Ahnen wird im Zitat aus den Wanderungen betont und so wie diejenige mit anderen Personen beschrieben, wobei auch die Beeinflussung der Betrachtenden zum Ausdruck kommt, da das alltägliche »[M]ahnen«, »[P]redigen« und der »Zuruf« der Verstorbenen auf sie wirken (WMB 10, S. 443). Die Gleichsetzung von Bild und Abgebildetem sowie dessen virtuelles Fortleben nach dem Tod zeigt sich auch in folgender Ausführung: Einige Porträts sind fortgenommen [...] worden, was unseren Gevatter aber wenig kümmert; er stellt ihnen [den Besuchern, N.H.], nach wie vor, Personen vor, die sich gar nicht mehr im Schlosse zu Rheinsberg befinden. Prinzeß Amalie namentlich, die schon bei Lebzeiten so viel Schweres tragen mußte, muß auch im Tode noch allerlei Unbill über sich ergehen lassen. (WMB 9, S. 251)

_____________ 106 Guschker, Bilderwelt, S. 310. 107 Guschker, Bilderwelt, S. 356.

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Hier wird die Präsentation der Porträtgemälde so dargestellt, als handle es sich um die Abgebildeten selbst, und insbesondere im zweiten Teil des Zitats wird ein Bild ganz klar als eine Art Anwesenheit der porträtierten Prinzessin empfunden. Der Unterschied zwischen dem Bild als Zeichen mit Verweisfunktion auf die Abgebildete und ihr selbst als Bezugsobjekt und Referent dieses Zeichens wird aufgehoben, wenn der Erzähler suggeriert, die Prinzessin selbst könne den Vortrag verfolgen. Auch dass Fontane angesichts »sechzehn lebensgroße[r] Bildnisse, die ringsum die Wände bedecken«, »etwas unheimlich zu Mute« (WMB 9, S. 19f) wird, lässt sich neben seiner eigenen Begründung durch die Darstellungsweise aus dieser gefühlten Präsenz der Toten erklären. Er selbst setzt im Folgenden Gemälde und Personen in seiner Formulierung gleich: »Die alten Schnurrwichse fangen an, einem menschlich näher zu treten« (WMB 9, S. 20). Manche Bilder können daher in Fontanes Darstellung sehen oder wirken lebendig: »[A]uf uns hernieder aber sahen die Ahnen des weitverzweigten Hauses [...]. Mitternacht war heran, die Scheite verglimmten und nur ein Flackerschein spielte noch um die Bilder. Es war, als lächelten sie« (WMB 9, S. 320). An anderer Stelle heißt es: »[Z]ahlreiche Familienporträts blicken auf uns nieder« (WMB 10, S. 192), weiter werden »Medaillonporträts, deren eines träumerisch und wehmutsvoll aus dem weißen Kopftuche hervorblickt« (WMB 10, S. 198) und »aus ihren Rahmen auf uns niederblickend[e]« (WMB 9, S. 41) Madonnen genannt. Eine besondere Verquickung von Bild und Tod trifft man bei der Beschreibung von Toten an, die ebenso wie die Porträts einen Blick erhalten und ihre eigenen Bilder betrachten:108 Vor einem Altar »standen jetzt die Toten in ihren halbaufgerichteten Särgen und blickten geschlossenen Auges auf ihre eigenen Bildnisse herab« (WMB 9, S. 250). Hier fungieren die Bilder als eine Art Spiegel, da Betrachter und Abgebildete einander entsprechen, und verweisen verstärkt auf die Verbindung zwischen Bild und Tod. Die Porträtgemälde der Wanderungen veranlassen damit nicht nur die Betrachter, der Toten, der Familiengeschichte und -zugehörigkeit sowie ihrer eigenen Vergänglichkeit zu gedenken, sondern ermöglichen den Toten eine über ihren Tod hinausgehende virtuelle Anwesenheit, so dass sie quasi weiter sehen, innere Regungen zeigen und mit der Außenwelt in Verbindung treten können. Obwohl dieses ›Weiterleben‹ in Gemälden in den Wanderungen in erster Linie für verstorbene Personen festgestellt wird, _____________ 108 Für den Glauben an die Präsenz Verstorbener in ihren Leichnamen spricht außer dem diesen zugeschriebenen Blick, dass Fontane eine Sage über eine Leiche wiedergibt, die die Eigenschaften des Verstorbenen weiterhin innehat: Beim Verschieben seines Sarges habe er »bös ausgesehn und den Kopf geschüttelt«, denn er »sei schon bei Lebzeiten immer sehr stolz gewesen und habe sich nicht gerne beiseite schieben lassen (WMB 12, S. 35).

4.3. Mit bildanalogem Sehen und Bildern verknüpfte Themen

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scheint es generell als Eigenschaft von Bildern zu gelten, die mittlerweile nicht mehr existente Objekte abbilden. So heißt es zu einem Gemälde, das die Ansicht Ruppins aus einer früheren Zeit zeigt: »Das alte Ruppin ist 1787 niedergebrannt und lebt nur in diesem Wuthenower Bilde noch« (WMB 9, S. 560). Diese Funktionen von Gemälden bzw. speziell Porträts wurden ab 1839 nach und nach auf die Photographie übertragen, die zunehmend Grabsteine ebenso wie Zimmerwände bedeckte und die Gemälde verdrängte.109 In den Wanderungen jedoch hat sich diese Entwicklung noch nicht niedergeschlagen. Obwohl die Präsenz-, Erinnerungs- und Todesthematik bei der Photographie stärker im Vordergrund steht als bei Gemälden und zeitgenössische Diskurse diese Thematiken mit der Photographie verknüpfen, verwendet Fontane statt ihrer das traditionelle und langsam aus der Mode kommende alte Bildmedium der Malerei. Barthes formuliert ausdrücklich nicht nur dessen Ablösung durch die Photographie, sondern auch die des Denkmals, die in den Wanderungen noch nicht deutlich hervortritt, in den späteren Romanen jedoch vollzogen wird:110 Die Gesellschaften früherer Zeiten wußten es so einzurichten, daß die Erinnerung [...] ewig wurde und daß wenigstens das, was den TOD zum Ausdruck brachte, selbst Unsterblichkeit erlangte: das DENKMAL. Indem die moderne Gesellschaft aber die – sterbliche – PHOTOGRAPHIE zum allgemeinen und gleichsam natürlichen Zeugen dessen machte, ›was gewesen ist‹, hat sie auf das DENKMAL verzichtet. Ein Paradox: dasselbe Jahrhundert hat die GESCHICHTE und die PHOTOGRAPHIE erfunden.111

Mit der Aussage über die Widersprüchlichkeit von Geschichte und der – im Vergleich zum Denkmal – kurzlebigen Photographie gibt Barthes gleichzeitig eine mögliche Begründung für die Allgegenwart von Denkmälern in den Wanderungen und den thematisch weitgehenden Ausschluss der Photographie aus einem Werk, das sich um die Geschichte dreht.112 Fontane handelt noch eine weitere Thematik, die sich seinerzeit am neuen Medium der Photographie entzündete bzw. zu neuer Aktualität gelangte, in den Wanderungen am alten Medium der Malerei ab: die der Kopie. _____________ 109 Heute haben Photographien Porträtgemälde als Zimmerdekoration beinahe vollständig ersetzt, dagegen wurde die Praxis, Photographien an Grabsteinen anzubringen, abgeschafft. Eine Ausnahme bildet Japan, wo Gräber oder Urnen verstorbener Haustiere mit deren Photographien versehen werden (vgl. Guschker, Bilderwelt, S. 321). 110 Vgl. etwa die Erinnerungsfunktion der Photographien in Effi Briest, die in Kapitel 5.3.3. der vorliegenden Arbeit untersucht wird. 111 Bartes, Die helle Kammer, S.104. 112 Diese Verbindung von Geschichtslosigkeit und Photographie findet sich auch bei Sauder, Erzähler und Photographen, S. 284.

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4.3.3. Die Kopie In den Wanderungen wird bei beschriebenen Gemälden meist erwähnt, ob es sich um Kopien oder Originale handelt, wobei Fontane letztere deutlich höher schätzte. Dies geht daraus hervor, dass er sich bei einer Aufzählung von Kunstwerken »auf die Hauptsehenswürdigkeiten, d. h. also auf Originalwerke« (WMB 11, S. 159) beschränkt und feststellt, dass sich Karwe, wo früher ein Correggiogemälde hing, »jetzt mit der bloßen Kopie behelfen muß«, da das Original nun »eine Zierde unseres Berliner Museums [bildet]« (WMB 9, S. 31). Neben diesen beiden Wertungen liefert der Text keine weitere Begründung für die häufigen Hinweise darauf, ob ein Gemälde ein Original oder eine Kopie ist und wo sich das Original beziehungsweise weitere Kopien befinden, wie sie etwa folgende Stelle enthält: »Von diesem interessanten Gemälde befinden sich zwei Kopien in der Mark, die eine im Schloß Meyenburg (Priegnitz) bei dem Senior der Familie von Rohr, die andere in Wolletz (Uckermark) bei dem Landschaftsrat Theobald von Rohr« (WMB 9, S. 401; vgl. a. ebd., S. 18). Der höhere materielle Wert des Originals wird entweder deshalb nirgends als Begründung erwähnt, weil er als selbstverständlich vorausgesetzt wird, oder aus dem Grund, weil er nicht der ausschlaggebende Aspekt für Fontanes Wertschätzung des Originals ist. Auch stellt Fontane nirgends fest, dass Originale etwa von der Malweise her oder abgesehen vom rein Technischen auf sonst irgendeine Art als Bild besser wären. Er kann selbst nicht unterscheiden, ob es sich bei einem betrachteten Gemälde um ein Original oder eine Kopie handelt, wenn er es nicht weiß, so dass der Wert des Originals für ihn nicht in äußerlich erkennbaren Gegebenheiten liegen kann. Von einem Bild heißt es nur mit Unsicherheit, es sei »vielleicht eine Kopie« (WMB 9, S. 257), zu anderen stellt sich die Frage, muss aber aus mangelnder Kenntnis unbeantwortet bleiben: Was die beiden andern Bilder [...] angeht, so stellen sie genau dasselbe dar, wie die betreffenden beiden Bilder auf der Wagnerschen Galerie, die die Bezeichnung tragen: nach Schinkelschen Originalen von Ahlhorn 1823 kopiert. Die Frage entsteht, sind nun diese beiden Friedrichsfelder die Originale? [...] Eine Entscheidung in dieser Frage, die ohne exakte technische Kenntnis nicht zu geben ist, liegt außerhalb unserer Kraft; wir geben deshalb einfach die Tatsache, daß sich zwei solche Bilder in Friedrichsfelde befinden und überlassen andern den Beweis der Echtheit, oder – des Gegenteils. (WMB 12, S. 138)

Vermuten lässt sich, dass diese »Echtheit«, die noch an weiteren Stellen für beschriebene Bilder diskutiert wird (vgl. WMB 10, S. 297), deshalb von so großer Bedeutung ist, weil in ihr auch die für Fontane so bedeutsame Geschichte des Bildes enthalten ist, der Grund und die Art seiner Entstehung, sein Verweilen an einem bestimmten Ort oder in den Händen eines

4.3. Mit bildanalogem Sehen und Bildern verknüpfte Themen

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Geschlechts, wodurch es eine Kontinuität zwischen der Vergangenheit – der Zeit seiner Entstehung – und der Gegenwart herstellt. Im Sinne Walter Benjamins verliert das Kunstwerk durch die Reproduktion seine Aura, »das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet«.113 Im Aurabegriff enthalten ist die Geschichte des Kunstwerks inklusive der »Veränderungen, die es im Laufe der Zeit in seiner physischen Struktur erlitten hat, wie [...] [der] wechselnden Besitzverhältnisse, in die es eingetreten sein mag«.114 Benjamin formuliert mit seinem Aurabegriff somit genau das, was Fontane an den Bildern so wichtig ist und ihren Kopien fehlt: die »geschichtliche[...] Zeugenschaft«,115 das »Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition«.116 Diesen Aurabegriff entwickelt Benjamin zunächst in Zusammenhang mit der Photographie117 als dem »ersten wirklich revolutionären Reproduktionsmittel[...]«,118 da durch sie eine massenhafte Reproduktion in Gang gesetzt wurde, die zuvor mit anderen Reproduktionsweisen (wie dem Abmalen – teilweise schon mit Unterstützung technischer Hilfsmittel wie dem Diagraphen119 –, dem Druck von nach dem Gemälde angefertigten Stichen und der Lithographie) noch nicht in diesem Umfang und dieser Exaktheit möglich war. Dennoch besteht eine gewisse Verbreitung des Kopierens von Kunstwerken auf diese Art und Weise zu Fontanes Zeit, wie sich an folgenden Erwähnungen in den Wanderungen zeigt: »Der Stich nach diesem Bilde ist allgemein bekannt; hier befindet sich das Original« (WMB 11, S. 324) und: »Dies Bildniß wird oft abgeholet, um copirt zu werden« (WMB 10, S. 299). Erst nach Erfindung der Photographie jedoch nimmt das Kopieren solche Ausmaße an, dass viele Zeitgenossen sich beängstigt zeigen. In ihrer frühen Form, der nicht kopierbaren Daguerreotypie, ist dies noch nicht der Fall, so dass sie nach Benjamin durch ihre »Einmaligkeit und Dauer«120 noch eine Aura hat, denn »[a]lles an diesen frühen Bildern war angelegt zu dauern«.121 Erst die sich in den 1850er Jahren ausbreitende Papierphotographie nach dem NegativPositiv-Verfahren, mit dem sich unzählige Kopien anfertigen lassen, _____________ 113 114 115 116 117 118 119

Benjamin, Das Kunstwerk, S. 475. Ebd., S. 475f. Ebd., S. 477. Ebd., S. 480. Vgl. ebd., S. 378f; vgl. a. Krauss, Photographie und Literatur, S. 66. Benjamin, Das Kunstwerk, S. 481. Ein Diagraph ist ein Gerät zur Aufzeichnung der Umrissformen von Körpern, bei dem zwei Arme starr miteinander verbunden sind. Einer von ihnen tastet den Körper ab, während der andere die umfahrenen Kurven aufzeichnet. 120 Benjamin, Das Kunstwerk, S. 379. 121 Ebd., S. 373.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

verliert diese eigene Geschichte und ist auch vom Material her – im Gegensatz zur Metallplatte der Daguerreotypie – nicht mehr bestimmt, die Zeit zu überdauern. Gemälde dagegen haben immer eine Geschichte, selbst deren gemalte Kopien noch, auf niedrigerer Stufe, und schließlich sogar die Daguerreotypie-Kopien, eine weitere Stufe tiefer. Doch reichen die Geschichten der Kopien notwendigerweise weniger weit zurück als die des Originals, von dem sie zudem immer in Abhängigkeit stehen. Auch kann man vermuten, dass sich um Kopien weit weniger bedeutsame Geschichten ranken, da sie von geringerem Wert als das Original sind und zudem nicht dessen Faszination ausüben. Den späteren Photographien jedoch, die nach anfänglichem Misstrauen ab den 1860er Jahren als Reproduktionsmittel befürwortet wurden, fehlt nach Barthes die Geschichte ganz.122 Da die photographische Kopie im Verlauf des 19. Jahrhunderts an die Stelle der älteren Bild- und Reproduktionsformen tritt, begegnen auch in den Wanderungen photographische Reproduktionen von Kunstwerken: »[N]ur das sei hervorgehoben, daß dem Wolzogenschen Werke, und zwar in vorzüglicher photographischer Nachbildung, vier Bildnisse Schinkels aus seinen verschiedenen Lebensepochen beigegeben sind« (WMB 9, S. 112). Der Inhalt dieser photographischen Gemäldereproduktionen wird wiedergegeben wie sonst derjenige der Gemälde selbst, worauf eine weitere Reproduktion eines Kunstwerkes genannt wird, ohne dass zwischen der alten und der neuen Kopiertechnik ein Unterschied gemacht würde: »Hieran reiht sich ein fünftes Bild, Holzschnitt« (WMB 9, S. 113). Ebenso unvermittelt und kommentarlos folgt einer Nennung von gemalten Originalen »eine lange Reihe von Illustrationen [...]. Es sind (fünfundvierzig an der Zahl) fertige Feder- und Tuschzeichnungen, die auf Holz photographiert und dann geschnitten wurden« (WMB 9, S. 163). Beide Zitate finden sich im Band Die Grafschaft Ruppin, der zwischen 1859 und 1861 entstand, zu einer Zeit also, in der die photographische Reproduktion von Kunstwerken langsam allgemein anerkannt wurde. Der Kunstkenner Fontane enthält sich jeglicher expliziten Stellungnahme zur _____________ 122 Vgl. ebd., S. 104. In Bezug auf Photographien von Kunstgegenständen mag Barthes Feststellung, dass diesen eine Geschichte und damit eine Aura fehle, zutreffen. Bei Photographien jedoch, die Menschen zeigen, ist Barthes entgegenzuhalten, dass sie durch das Festhalten eines realen Augenblicks, der nur ein kurzer Moment einer längeren Geschichte ist, faszinieren und dazu anregen, diese Geschichte bei der Betrachtung mitzudenken. Insofern erzählen Photographien ebenso wie Gemälde Geschichten. Während das Gemälde diejenige seiner Entstehungszeit und seines Verweilens an verschiedenen Orten und bei wechselnden Besitzern enthält, ist bei der Photographie vor allem die Geschichte rund um den Moment ihrer Entstehung von Bedeutung, die auch bei Kopien noch eine Rolle spielt, denn die Einmaligkeit des Aufnahmemoments und seine Verwurzelung in der Geschichte bleiben bestehen. Vgl. Kapitel 4.3.1. der vorliegenden Arbeit.

4.3. Mit bildanalogem Sehen und Bildern verknüpfte Themen

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photographischen Reproduktion von Kunstwerken. Implizit jedoch zeugt ihre beiläufige Nennung neben anderen Vervielfältigungsarten zum einen von Fontanes schon zur Selbstverständlichkeit gewordenen Kenntnis, zum anderen – wenn nicht von seiner Befürwortung – so zumindest auch nicht von seiner Ablehnung des Verfahrens. Auf alle Fälle weisen die häufigen Hinweise auf Kopien auf ein erhöhtes Bewusstsein des Autors für den entstehenden Kopierkult seiner Zeit hin, der nicht bei Bildern Halt machte, sondern sich auch auf die in großen Auflagen erscheinenden Zeitschriften erstreckte, in denen seine Texte abgedruckt wurden. Deren Vielzahl machte eine Kontrolle zunächst unmöglich, so dass damals generell viele Texte in verschiedenen Zeitschriften erschienen und häufig von anderen ganz oder teilweise kopiert und unter deren Namen veröffentlicht wurden. Dieser Ausbreitung der Kopie in alle Lebensbereiche trägt Fontane in den Wanderungen Rechnung, indem er das Verfahren und seine Terminologie nicht nur in Bezug auf Gemälde anwendet, sondern beispielsweise auch auf die »Rheinsberger Festlichkeiten, die damals [...] überall im Lande kopirt wurden« (WMB 9, S. 554), Kirchtürme am Oderufer, »die Campanellen Italiens oft nicht unglücklich kopierend« (WMB 10, S. 19), oder auf Personen, wie Prinz Ferdinand, der »in allem seinen Bruder Heinrich kopierte« (WMB 12, S. 127). Über einen Mann, der von Fontane als »Original« bezeichnet wird, und dessen Nachahmer, der »Kopie«, heißt es, letzterer habe »[i]n der Erinnerung der Dörfler [...] nur schwache Spuren zurückgelassen, aber das Bild des alten ›Neck- und Feuerteufels‹, der vor ihm da war, lebt fort von Geschlecht zu Geschlecht. Auch das Volk hat künstlerische Instinkte und unterscheidet Kopie und Original« (WMB 12, S. 277f). Die Abwertung der Kopie kommt auch hier klar zum Ausdruck, ebenso wie der Wert des Originals daraus hervorgeht, dass besonders eindrucksvolle Persönlichkeiten immer wieder als »Originale«123 bezeichnet werden. Bei der Beschreibung eines dieser menschlichen »Originale«, Johann Christian Gentz, greift Fontane zudem auf Malereiterminologie zurück (seine »in wenigen Strichen« dargestellte Gestalt zeige »so viel farbenfrische Lokaltöne« und sei »ganz und gar Genre«) (WMB 9, S. 125) und verknüpft damit die Original-KopieThematik durch seine Wortwahl verstärkt mit der Malerei.

_____________ 123 Vgl. allein im Band Die Grafschaft Ruppin den fünfmaligen Gebrauch des Wortes »Original« in diesem Sinne (WMB 9, S. 124, 341, 403, 451, 508).

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

4.4. Fontanes Konzept des ›Malerischen‹ Die in Kapitel 4.2.4. vorgestellten allgemeinen Merkmalen von Bildern lassen sich nach diesen Ausführungen um einige für Fontane typische Assoziationen ergänzen, wie sie nötig sind, um eine zureichende Definition des ›Bildhaften‹ (verstanden als Gesamtheit aller Bildern zugeschriebenen Assoziationen) in seinen Texten zu geben – so die Verbindung mit Historie, Geschichten, Tod und der Kopiethematik. Bisher allerdings lässt sich noch keine Unterscheidung zwischen speziell mit Malerei oder Photographie assoziierten Gedanken treffen, da viele der Themen, die Fontane in den Wanderungen an Gemälde und bildhafte Beschreibungen knüpft, an den zeitgenössischen Diskurs über Photographien erinnern und möglicherweise durch ihn angeregt wurden. Als erster Schritt zur Abgrenzung des ›Malerischen‹ wird daher im Folgenden Fontanes eigener Gebrauch des Begriffs in den Wanderungen herangezogen. Er verwendet die Bezeichnung ›malerisch‹ zwar sehr häufig, oft im Zusammenhang mit der Lage eines Dorfs oder einzelner Gebäude, insbesondere von Kirchen (vgl. WMB 10, S. 19; 10, S. 47; 12, S. 241; 13, S. 388), gibt jedoch keine Definition oder Reflexionen über den Terminus noch explizite Begründungen seiner Anwendung auf bestimmte Anblicke. Daher muss aus der Nutzung auf die Bedeutung geschlossen werden, ohne dass hier bereits ein abgeschlossenes und stringentes Konzept des ›Malerischen‹ zu erwarten ist. Das Adjektiv wird meist im Zusammenhang mit Natürlichkeit, Einfachheit, Ursprünglichkeit und volkstümlich-dörflichem Charakter oder Treiben gebraucht: Die Besatzung eines Floßes wird während ihrer Arbeit und beim Kochen auf einem »improvisierten Herde«, einem »Erdhügel«, ebenso als »malerisch« (WMB 10, S. 11)124 empfunden wie eine Kirche, die zu »jenen einfach malerischen Feldsteinbauten [...] aus dem vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert« (WMB 10, S. 369) zählt, oder »der malerische Charakter eines Winzerstädtchens« (WMB 10, S. 16). Deutlich formuliert Fontane seine Vorstellung des ›Malerischen‹ als VolkstümlichUrsprüngliches, wenn er gleich drei Mal Trachten ›malerisch‹ nennt (WMB 10, S. 16, 36, 124f), eine »Totenkrone« in einer Kirche als »getreues Abbild stillen dörflichen Lebens« zu einem »höchst malerischen Gegenstande« erklärt (WMB 11, S. 397f) oder folgendermaßen »das alte malerische Dorf« Etzin beschreibt: _____________ 124 Hier erfolgt eine doppelte Benennung des Treibens als ›malerisch‹, und noch an einer weiteren Textstelle wird das Be- und Entladen von Booten als »heitere und malerische Szene« und »Schauspiel« bezeichnet (WMB 11, S. 427f).

4.4. Fontanes Konzept des ›Malerischen‹

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Alles verrät [...] jenen bescheidenen Sinn, der sich in Treue und Anhänglichkeit an das Überlieferte äußert. Das Dorf ist noch ein Dorf; nirgends das Bestreben, ins Städtische hineinzuwachsen und aus der schmalen Bank unterm Fenster eine Veranda zu machen. Der Hahn auf dem Hofe und die Schwalbe am Dache sind noch die eigentlichen Hausmusikanten und die Bauerntöchter, die eben ihr Geplauder unterbrechen und mit ruhiger, nirgends von Gefallsucht zeugender Neugier dem Schritt des Fremden folgen, haben noch nichts von jener dünnen Pensionstünche, die so leicht wieder abfällt von der ursprünglichen Stroh- und Lehmwand. (WMB 11, S. 330f)

In der Wertschätzung des Alten und Ursprünglichen überschneidet sich das Empfinden von Ruinen, gotischen Teilen von Bauwerken oder im Verfall Begriffenem als ›malerisch‹ mit dem des Volkstümlichen: So wird »ein gotischer Giebel, ziemlich malerisch, mit Glockennische und Storchennest« (WMB 9, S. 399) genannt, einem Dorf verleiht »dessen kleine gotische Kirche [...] einen malerischen Reiz« (WMB 10, S. 98) und Bruchstücke eines Tores werden als »ein malerisch gotisches Überbleibsel« (WMB 12, S. 246) bezeichnet. Nach Fontane ist die ›malerische‹ Wirkung einer Ruine wichtiger als die architektonische (vgl. WMB 11, S. 85), und nicht in jedem Fall automatisch gegeben, nur weil es sich um eine Ruine handelt. So geht Kloster Chorin seiner Meinung nach »das eigentlich Malerische ab« (WMB 11, S. 96), denn Ruinen müssen ein Landschafts- oder auch ein Genrebild sein. In einem oder im andern, am besten in der Zusammenwirkung beider wurzelt ihre Poesie. Chorin aber hat wenig oder nichts von dem allen; es gibt sich fast ausschließlich als Architekturbild. Alles fehlt, selbst das eigentlich Ruinenhafte der Erscheinung, (WMB 11, S. 96)

denn der Zerfall hat keinen ›malerisch‹ wirkenden Grad erreicht. Bemängelt werden die »nicht malerisch zerfallenen Innenräume« und »diese Trümmer, die kaum Trümmer sind«, so dass das Fazit lautet, »keine jener lieblichen Ruinen, darin sich’s träumt« vor sich zu haben (WMB 11, S. 96f). Auch in der Einschätzung von »einigen halberstorbenen Eichen« als »malerische Schönheit« (WMB 12, S. 105) kommt diese Wertung des Verfalls als ›malerisch‹ zum tragen. ›Malerisch‹ ist in diesen Fällen das Alte, Halbzerfallene, das romantisch-poetische Gedanken an ferne Vergangenheiten weckt, vom Lauf der Zeit zeugt und »die ganze Poesie des Verfalls, den alten Zauber, der überall da waltet, wo die ewig junge Natur das zerbröckelte Menschenwerk liebevoll in ihren Arm nimmt« (WMB 11, S. 71), zeigt. Ähnlich gelten Vermischungen menschlicher bzw. künstlich errichteter Objekte mit Natur als ›malerisch‹, beispielsweise Gartenzäune, sämtlich in jenen seltsamen Biegungen und Wellenlinien, die bemoostes Zaunwerk im Lauf der Jahre zu zeigen pflegt. Über die Zäune hinweg wuchsen die Kronen der Bäume von hüben und drüben zusammen, was sich namentlich in Nähe des Wassers überaus malerisch ausnahm, wo zugleich der See

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

bis zwischen das Plankenwerk vordrang und mal höher mal tiefer mit seinem gelblichen Schaum eine Grenzmarke zog. (WMB 12, S. 239)

Fontane selbst formuliert in Bezug auf einen Ausblick, bei dem »die Baum- und Villenpracht der königlichen Gärten« neben »rohrbedeckten Hütten des märkischen Dorfes« und der künstliche »Springbrunnen« neben einem natürlichen »See im Schilfgürtel« wahrgenommen werden (WMB 11, S. 235): »Dieser Gegensatz von Kunst und Natur unterstützt beide in ihrer Wirkung« (WMB 11, S. 235). Desgleichen, »eine Wand dunkler Bäume als Hintergrund, erhebt sich malerisch das Marmordenkmal« (WMB 10, S. 128), und ein weiteres Denkmal, »wenn man durch den offenen Rundbogen hindurch die jungen Eichen grünen sieht, die das Kapellchen umstehn, ist überaus reizend und malerisch« (WMB 12, S. 89). Auch die Schönheit eines Wohnhauses »besteht in seiner reichen und malerischen Einfassung von Blatt und Blüte: Kürbis rankt sich auf, und Geißblatt und Convolvulus schlingen sich mit allen Farben hindurch« (WMB 12, S. 14). Eine gegenseitige Durchdringung von Natur und Kunst oder Zivilisation – etwa indem alte Ruinen oder auch neue Häuser langsam von Vegetation umwuchert werden, ein Bau »malerisch in die Landschaft eingefügt wurde« um dieser »künstlerisch aufzuhelfen oder eine hübsche Landschaft noch hübscher zu machen« (WMB 10, S. 343), ein Dorf »malerisch zwischen Wald und See« (WMB 10, S. 428) oder auf andere Weise zwischen Wälder, Hügel oder Seen eingefügt liegt (vgl. WMB 9, S. 49; 10, S. 16; 10, S. 53; 13, S. 388) – bildet demnach bei Fontane ein weiteres Element des ›Malerischen‹. In ähnlicher Weise zählt für ihn auch künstlerisch gestaltete Natur zum ›Malerischen‹, so etwa ein »malerisch zusammengestellter Park« (WMB 13, S. 9), ein anderer »Park, der das Herrenhaus von allen Seiten malerisch umschließt« (WMB 10, S. 439), oder ein Garten, über dessen »malerischste Stelle« es heißt: »Eine künstlerische Hand hat hier unverkennbar die Linien gezogen« (WMB 9, S. 40). Als ›malerisch‹ gelten demnach durch Menschenhand kunstvoll zusammengefügte Ansichten, bei denen das Ganze als passend und stimmig empfunden wird und an denen die Absicht und Durchdachtheit ersichtlich ist, wo mit »Sinn für das, was gefällt« und »was ziert und schmückt«, »der sorglich gepflegte Efeu am Gitterdraht« an seiner vorgesehenen Stelle bleibt »und Bank und Laube [...] ihren bestimmten Platz [haben]« (WMB 10, S. 53). »Der Brunnen, das Bienenhaus, Kleines und Großes fügt sich malerisch in das Ganze ein« (WMB 10, S. 53), der Gesamteindruck ist genau durchdacht, geordnet und konstruiert, jedes Detail ist beabsichtigt und auf den Rest abgestimmt, wie bei einem Gemälde zu einem stimmigen Ganzen »malerisch gruppiert« (WMB 10, S. 121).

4.4. Fontanes Konzept des ›Malerischen‹

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Im Gegensatz dazu wird die unbebaute, in ihrem Naturzustand belassene Landschaft der Mark als »ziemlich reizlose Öde« bezeichnet, so dass eine »Fahrt, die sehr malerisch beginnt, [...] sehr bald ihren Charakter [verliert]« (WMB 10, S. 350). Das Land ist »sandig und unfruchtbar und [...] ohne allen malerischen Reiz« (WMB 9, S. 15), sein Anblick »weder schön und malerisch, noch verrät er eine besondere Fruchtbarkeit; gegenteils, das Vorland [...] macht kaum den Eindruck eines gehegten Stück Wiesenlands« (WMB 10, S. 18). Umgekehrt stört auch zu viel Zivilisation, Industrialisierung und menschliche Realität den Eindruck des ›Malerischen‹: So verliert ein eigentlich viel versprechendes Dorf an Reiz, denn es schieben sich doch überall in das alt-dörfliche Leben die Bilder eines allermodernsten frondiensthaften Industrialismus hinein, und die schönen alten Bäume, die mit ihren mächtigen Kronen so vieles malerisch zu überschatten und zu verdecken verstehen, sie mühen sich hier umsonst, diesen trübseligen Anblick dem Auge zu entziehen. (WMB 11, S. 437)

Die zu düstere Sicht auf »die Lehmstube mit dem verklebten Fenster, die abgehärmte Frau mit dem Säugling in Loden, die hageren Kinder, die lässig durch den Ententümpel gehen« (WMB 11, S. 437), passt nicht in ein harmonisch gefügtes, poetisches Gesamtbild. Auch ein Zuviel an Ordnung, Sauberkeit, Zweckmäßigkeit und Nüchternheit verhindert den Eindruck des ›Malerischen‹: Eine Kirche, die »schlicht und einfach, wohlhabend, sauber, eine wahre Bauerndorfkirche« ist, hebt sich nur durch ihren historischen Gehalt von anderen ab, diese jedoch »zeichnen sich [...] durch nichts als durch eine äußerste Kahlheit aus, durch die Abwesenheit alles Malerischen und Historischen« (WMB 11, S. 331). Auch einem ganzen Stadtteil, der nichts als gepflegte, nüchtern prosaische Ordnung vorzuweisen hat, fehlt »in erschreckender Weise [...] der Sinn für das Malerische«: Überall ein Geist mäßiger Ordnung, mäßiger Sauberkeit, überall das Bestreben, sich nach der Decke zu strecken und durch Fleiß und Sparsamkeit sich weiterzubringen, aber nirgends das Bedürfnis, das Schöne, das erhebt und erfreut, in etwas anderem zu suchen, als in der Neuheit eines Anstrichs, oder in der Geradlinigkeit eines Zauns. [...] Nützlichkeit und Nüchternheit herrschen souverän und nehmen der Erscheinung des Lebens allen Reiz und alle Farbe. (WMB 11, S. 153)

Die Verwendung des Begriffs ›malerisch‹ in den Wanderungen zeigt damit teils ähnliche Charakteristika, wie sie in den poetologischen Schriften des poetischen Realismus der Malerei in Abgrenzung zur Photographie zugeschrieben wurden: Die Zusammenstellung eines geordneten Ganzen beherrscht beide Vorstellungen, »das nackte Wiedergeben alltäglichen

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

Lebens, [...] seines Elends und seiner Schattenseiten«,125 also eine rein prosaische und unverklärte Wirklichkeit (wie die unkultivierte, Natur belassene Landschaft der Mark oder ein schlichtes, rein pragmatisch angelegtes Dorf ohne Verschönerungen) gilt nicht als ›malerisch‹, und wäre in der Poetologie der Photographie zugeordnet. Nur leicht ästhetisierte Anordnungen, in denen sich menschliche (Bau)Kunst und Natur vermischen (so bei von Zierpflanzen umrankten Häusern) bzw. die Natur künstlerisch gestaltet wird (wie in Parkanlagen und gepflegter Vegetation) werden als ›malerisch‹ geschätzt. Diese Wertschätzung der künstlerisch ästhetisierten Natur erinnert an die für den Realismus geforderte »Widerspiegelung alles wirklichen Lebens [...] im Elemente der Kunst«,126 nur dass hier eine Erhöhung der Wirklichkeit selbst durch die Kunst vorliegt. Auch die Einschätzung eines einfachen, ursprünglichen, volkstümlichen Lebens als ›malerisch‹ ließe sich mit poetologischen Vorstellungen in Übereinstimmung bringen, wenn man an die von Goethe übernommene Formulierung »Greif nur hinein ins volle Menschenleben« und die Betonung der Bedeutung des »Wirklichen« und » ›frischen Lebens‹ « denkt, denn genau dieses scheint Fontane im Volksleben zu sehen.127 Die Verwendung des Adjektivs ›malerisch‹ in den Wanderungen entspricht damit in diesen Aspekten Ansichten der Wirklichkeit, die Fontanes Kunstauffassung des poetischen Realismus nahe kommen, indem sie die Realität selbst bereits so darbieten, wie er sie in der Kunst gestaltet sehen möchte. Andere Bestandteile des ›Malerischen‹ in den Wanderungen gehen darüber hinaus, so die Einschätzung von verfallenden Ruinen, Gotischem oder Ursprünglichem und Altem als ›malerisch‹. Diese Vorstellungen weisen in eine sentimental-poetische Richtung und erinnern an Vorlieben der Romantik. Sie zeigen mit der Alters- und Verfallsthematik eine Parallele zur Assoziation von Vergänglichkeit und Tod mit Gemälden sowie der mit ihnen verknüpften Geschichte. Damit zeichnen sich diese Aspekte deutlich als Bestandteile des Fontaneschen ›Malerischen‹ ab, da sie sowohl bei der Behandlung von Gemälden als auch in seiner Anwendung des Begriffs selbst ins Auge fallen. Es liegt nahe, dass diese vielschichtige Nutzung des Begriffs des ›Malerischen‹ in den Wanderungen durch das Mitte bis Ende des 18. Jahrhunderts aufgekommene und bis ins 19. Jahrhundert tradierte englische Konzept des ›Picturesque‹ angeregt wurde, das Fontane während der vorangegangenen Englandreisen kennen gelernt hatte. Belegbar ist diese Bekanntschaft durch seinen Gebrauch der deutschen Version des _____________ 125 HFA III/1, S. 240. 126 HFA III/1, S. 242. 127 Ebd.

4.4. Fontanes Konzept des ›Malerischen‹

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Adjektivs, ›pittoresk‹, für Objekte, die den von William Gilpin und in seiner Nachfolge Uvedale Price Ende des 18. Jahrhunderts aufgestellten Kriterien entsprechen (s.u.). Gilpin propagierte das ›Picturesque‹ im Anschluss an Edmund Burkes Definition des Erhabenen und des Schönen als Kategorie, die sich in der Mitte zwischen diesen beiden Konzepten befinde.128 Als ›picturesque‹ galten ihm Objekte bzw. insbesondere Landschaften, die dazu geeignet seien, gemalt zu werden, wozu der Maler das in der Natur Erblickte auswählen und zu einem charakteristischen Bild kombinieren, also künstlerisch in die Natur eingreifen müsse, um den Gesamteindruck, das ›Ganze‹ wiederzugeben – die Parallele zu Fontanes Nutzung des ›Malerischen‹ ist offensichtlich. Vom Schönen mit seiner Glätte und Zierlichkeit sowie vom Erhabenen mit seiner Einfachheit in Farbe und Kombination unterscheidet sich Gilpins ›Picturesque‹, dadurch, dass es durch Rauheit, Unregelmäßigkeit, Variation und Kontrast (etwa von Farben oder Licht und Schatten) sowie Bewegung Interesse weckt, während die beiden Extreme eher Langeweile hervorriefen. Die Vorliebe für Variation und Kontrast – die auch Price besonders betont und mit der unterschiedlichen Einwirkung von Zeit und Zufall auf die Natur verknüpft – ließ sich bei Fontane ebenfalls beobachten.129 Weiter teilt er mit Gilpin die Neigung zum ständigen Wechsel, der überraschende Ansichten bietet,130 und widmet sich in seiner »malerischen Reise«131 neben der Landschaft auch Kunstwerken. Auch in der Wertschätzung von Ruinen bzw. generell den Auswirkungen von Alter und Verfall stimmt Fontane mit Price überein, und ebenso findet man bei letzterem die Ansicht, der Betrachter werde »angeregt, mit Kunst, Geschichte, Literatur zu assoziieren«132 – wiederum ein signifikantes Kennzeichen des Fontaneschen Textes. Weiter stimmen die Wanderungen insgesamt in ihrer Motivwahl mit dem Inventar des ›Picturesque‹ überein, etwa wenn Fontane Orte aufsucht und beschreibt, die als ›picturesque‹ angelegt wurden.133 Fontane jedoch _____________ 128 Auch Fontane trifft diese Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem ›Pittoresken‹: »Die Frage nach dem Maß der Schönheit wird [bei einem alten Herrenhaus, N.H.] gar nicht laut; alles ist charaktervoll und pittoresk, und das genügt« (WMB 10, S. 192). 129 Vgl. Kapitel 4.2.2. der vorliegenden Arbeit. 130 Vgl. Kapitel 4.2.1. der vorliegenden Arbeit. 131 Christina Schwichtenberg-Winkler, Das Pittoreske und die römische Vedute um 1800, 2 Bde., Aachen 1992, S. 157. 132 Ebd., S. 174f. 133 Solche Orte sind etwa die Pfaueninsel, Sanssouci und Schloss Glienicke (vgl. David Watkin, The English Vision. The Picturesque in Architecture, Landscape and Garden Design, London 1982, S. 171ff). Auch schätzt Fontane deren Architekt, Schinkel, der als Vertreter des ›Picturesque‹ gilt (vgl. ebd.), generell und benennt in folgender Passage auch dessen Stil und das entsprechende Gebäude explizit als ›pittoresk‹: »Das Schloß, in seiner gegenwärtigen Gestalt, wurde nach einem Schinkelschen Plane ausgeführt. Es zeigt eine Mischung von italienischem Kastell- und englischem Tudorstil, denen beiden die gotische Grundlage ge-

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

deklariert nicht alle diese Aspekte selbst als ›malerisch‹ oder ›pittoresk‹, so dass sie zwar für eine Beeinflussung der Gesamtgestaltung der Wanderungen durch das Konzept des ›Picturesque‹ sprechen, jedoch nicht ohne weiteres als Bestandteil seiner eigener Verwendung des Begriffs ›Malerisch‹ gelten können. Ausnahmen bilden die explizite Benennung als ›picturesque‹ geltendender Objekte – eines ästhetisch geordneten Gesamteindrucks sowie von Ruinen und Trachten – als ›malerisch‹ und Fontanes Abwertung von Objekten, die dem ›Picturesque‹ nicht entsprechen, als ›unmalerisch‹ – so Anzeichen des Industriellen oder des rein praktischen Lebens. Dennoch stimmt das Fontanesche ›Malerische‹ – so weit es sich in Ermangelung einer klaren Definition, wie Gilpin und Price sie geben, allein aus der Nutzung erschließen lässt – trotz solcher Überschneidungen nicht komplett mit dem ›Picturesque‹ überein. Die – nicht immer eindeutigen – Unterschiede zwischen den Begriffen zeigen sich darin, dass Fontane sie passagenweise recht austauschbar nutzt, an anderen Stellen jedoch nach unterschiedlichen Zusammenhängen differenziert, wie im Folgenden erläutert wird. Bei Price gelten folgende Objekte als ›picturesque‹: »ruins, Gothic architecture, hovels, the inside of old barns, old mills, rough-hewn park fences, broken surfaces of water, shattered oaks, worn-out carthorses, shaggy goats, angry lions, gypsies and beggars«,134 hinzu tritt »humble and rustic life«.135 Diesem Konzept entsprechend nutzt auch Fontane das Adjektiv ›pittoresk‹ für alte, im Verfall begriffene Gemäuer, die von der Natur langsam wieder eingenommen werden oder umgeben sind.136 Im gleichen Zusammenhang spricht er auch, wie oben dargelegt, vom ›Malerischen‹, wobei er bisweilen recht beliebig zwischen den Bezeichnungen wechselt: die Ruinen anderer märkischer Klöster machen einen tieferen und poetischeren Eindruck, teils weil die Trümmer selber pittoresker, teils weil ihre Umgebungen

_____________ meinsam ist. Der Bau, wie er sich unter Efeu und Linden darstellt, wirkt pittoresk genug« (WMB 11, S. 387). 134 Malcolm Andrews, Introduction. In: Ders. (Hrsg.), The Picturesque. Literary Sources and Documents, Bd. 1: The Idea of the Picturesque and the Vogue for Scenic Tourism, Mountfield 1994, S. 23. 135 Ebd., S. 24. 136 ›Pittoresk‹ sind in den Wanderungen »Ruinen«, wo »die efeuumrankten Mauern, die storchnestgeschmückten Giebel, vielleicht auch die Hügellage zwischen den Seen [...] einen romantischen Reiz« leihen (WMB 10, S. 147); ein altes Herrenhaus, das dem entspricht, »was unsere Phantasie sich auszumalen liebt, wenn wir von ›alten Schlössern‹ hören. [...] Rosenbäume wachsen über die Glastür hinaus, die von der Halle her in Park und Garten führt« (WMB 10, S. 192); oder eine »Kirche, die in allen ihren Teilen deutlich erkennbar, mit Säulengang, Langschiff und Etagenturm, aus dem bunten Gemisch von Dächern und Obstbäumen emporwächst« (WMB 11, S. 235).

4.4. Fontanes Konzept des ›Malerischen‹

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[...] ansprechender sind. [...]. Kloster Lindow ist schöner gelegen, vielleicht auch malerischer in sich selbst, aber Kloster Friedland ist besser erhalten. (WMB 10, S. 147)

Ähnlich synonym werden beide Adjektive im Folgenden verwendet:137 Die Kirche kann als eine frei behandelte Basilika gelten, bei der [...] ›pittoreske Wirkung‹ die Hauptaufgabe bildete. [...] Die Zusammenstellung der Formen mußte vor allem auf malerische Wirkung berechnet sein. (WMB 13, S. 393f)

Weitere Nutzungsbereiche des ›Picturesque‹ – neben ruinenartigen Bauwerken – spart Fontane in seiner Verwendung des Begriffs ›pittoresk‹ allerdings aus. Stattdessen nennt er solche Objekte teils ›malerisch‹ – wie Gotisches, verwitterte Eichen und Volkstümlich-Dörfliches.138 Damit grenzt er das ›Pittoreske‹ stark ein – auf Ruinen – während andere Elemente des priceschen ›Picturesque‹ in seine weiter gefasste Auffassung des ›Malerischen‹ eingehen. Andere pricesche Elemente wiederum, insbesondere Tiere und Menschen, entfallen bei Fontane komplett, wogegen die Landschaft selbst ihm häufig als ›malerisch‹ gilt. Ein weiterer Unterschied in der Verwendung beider Begriffe in den Wanderungen liegt darin, dass das ›Malerische‹ durchweg positiv besetzt ist, während Fontane das ›Picturesque‹ bzw. ›Pittoreske‹ auch kritisch beurteilt, ähnlich wie viele englische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts139 oder der Kunsttheoretiker John Ruskin. Diese nahmen gegen das Konzept Stellung, da es die rein ästhetische Rezeption ärmlicher Verhältnisse propagiere und damit Mitgefühl und soziale Verantwortung für schlechter gestellte Schichten unterbinde.140 Fontane allerdings erläutert seine Vorbehalte im Gegensatz zu den Genannten nicht genauer, sondern bringt sie recht unbegründet zum Ausdruck: An Freienwalde lobt er, dass »es von dem bedenklich-pittoresken Vorrechte derartiger Bergstädte keinen allzustarken Gebrauch macht«, das darin besteht, dass die »Häuser, überall ein ›bestes Plätzchen‹ suchend, [...] mehr Gassen und Winkel [schaffen] als eigentliche Straßen« (WMB 10, S. 47). Ein anderer »Bau, wie er sich unter Efeu und Linden darstellt, wirkt pittoresk genug, ohne daß er im übrigen besonders zu loben wäre« (WMB 11, S. 387), ein weiterer zeigt »etwas wenig Künstlerisches, aber dafür etwas Pittoreskes« (WMB 13, S. 126) – das ›Pittoreske‹ erfüllt also an sich nicht alle Ansprüche, die Fontane an _____________ 137 Noch in Fontanes letztem Roman, dem Stechlin, begegnet diese Synonymität: »Eben diese zwei Pfeiler bildeten denn auch mit dem Podest und der in Front desselben angebrachten Rokokouhr einen zum Gartensalon [...] führenden, ziemlich pittoresken Portikus, von dem ein [...] Architekt mal gesagt hatte: sämtliche Bausünden von Schloß Stechlin würden durch diesen verdrehten, aber malerischen Einfall wiedergutgemacht« (DS, S. 26). 138 Siehe die Ausführungen zu Beginn des Kapitels. 139 Beispielsweise äußerten sich Charles Dickens, Jane Austen und George Eliot kritisch zum ›Picturesque‹. 140 Vgl. Andrews, Introduction, S. 26–35.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

eine Ansicht stellt, während das ›Malerische‹ offensichtlich umfassender und uneingeschränkter als positiv gewertet wird und an sich Wertschätzung hervorruft.141 Nach dieser Annäherung an Fontanes Konzept des ›Malerischen‹ durch seine eigene Nutzung des Begriffs soll im folgenden Kapitel auch sein in den Wanderungen gestaltetes Verhältnis zur Malerei selbst anhand der Analyse seiner Beschreibungen betrachteter Gemälde bzw. Bezugnahmen auf sie beleuchtet werden.

4.5. Gemäldebeschreibungen Bezugnahmen auf Gemälde – explizite Systemreferenzen vom Typ 3.2.1. – beschränken sich in den Wanderungen oft auf eine kurze Benennung der abgebildeten Personen (vgl. WMB 9, S. 498f; 10, S. 341), so dass man kaum noch von Gemäldebeschreibungen oder Ekphrasen im engeren Sinne142 sprechen kann, da sich die Angaben in Informationen über die Abgebildeten erschöpfen, ohne weiter auf den genaueren Inhalt, die Gestaltungsweise oder den Maler einzugehen. Während die Ekphrasis als Transfer des als ›stumme Poesie‹ verstandenen Bildes in die als ›blindes Bild‹ verstandene Sprache seit jeher als unproblematisch galt, da die ›Verwandtschaft‹ und gegenseitige Ergänzung beider Medien im Vordergrund stand, verlor die Annahme, dass Sprache um der besseren Überzeugungskraft willen bildhaft sein müsse und Bilder erzählen könne, im 18. Jahrhundert ihre Geltung.143 Der Paragone, der Wettstreit der Künste, verschärfte sich und die Unterschiede zwischen ihnen wurden stärker betont, so etwa in Lessings Laokoon.144 Dennoch nahmen im _____________ 141 Vgl. zu den gesamten Ausführungen über das ›Picturesque‹ Schwichtenberg-Winkler, Das Pittoreske, S. 138–188 und Andrews, Introduction. 142 Ekphrasis wird in der vorliegenden Arbeit – im Anschluss an die Definition in der aktuellen Forschung – verstanden als verbale Repräsentation einer visuellen Repräsentation (vgl. Laura M. Sager Eidt, Writing and Filming the Painting. Ekphrasis in Literature and Film, Amsterdam/New York 2008, S. 13). 143 Vgl. Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer, Einleitung. Wege der Beschreibung. In: Dies. (Hrsg.), Bildkunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 9. 144 Vgl. ebd. Während die Antike Bilder als überlegen in Bezug auf die mimetische Zuverlässigkeit einschätze, betonte das Mittelalter den höheren Wert der Schrift, da sie moralische und religiöse Werte besser transportieren könne. Im 15. Jahrhundert und der Renaissance wurde die Malerei erneut aufgewertet, da sie die Imagination stärker anspreche, bis Lessing schließlich 1766 im Laokoon wiederum eine strikte Trennung der Aufgabengebiete bildlicher und textlicher Repräsentation vornahm und dabei der Schrift den höheren Stellenwert zusprach. Die Malerei als statische Kunst könne nur einen einzigen ›fruchtbaren Augen-

4.5. Gemäldebeschreibungen

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19. Jahrhundert, insbesondere in Realismus und Naturalismus, literarische Beschreibungen wieder stark zu.145 Gelungene Ekphrasen erschöpfen sich jedoch nicht in der reinen Wiedergabe der im Bild dargestellten Objekte, sondern beinhalten auch dessen Wirkung, »ein Gefälle zwischen Fakten und Affekten«:146 [S]ie sagen, was ›ist‹, sie sagen zugleich aber auch wie es ›wirkt‹, sie rekurrieren auf Sachverhalte und auf die dem Bild eigentümliche Form des Vollzugs. Ohne Rücksicht auf das Faktische käme der manifeste Gehalt zu kurz, ohne Rücksicht auf den Prozess würden die Latenzen, der ikonische Zeigegestus ausgeblendet.147

Während bei der Mehrzahl der in den Wanderungen beschriebenen Porträts der Bildinhalt mit einer Namensnennung nur sehr knapp erfasst wird, entfällt der Einbezug ihrer Wirkung komplett (vgl. WMB 13, S. 113, 119f). Andere Bilder, die etwa historische Szenen oder allegorische Darstellungen zeigen, werden teils ebenfalls rein vom Inhalt her beschrieben (vgl. WMB 13, S. 140f). Die Gemälde werden in diesen Fällen nicht als Kunstwerke in ihrer künstlerischen Darstellung und Wirkung gewürdigt, sondern es geht hauptsächlich um die Nennung der Porträtierten, wie etwa wenn eine gesamte Gemäldebeschreibung sich in folgender Aussage erschöpft: »Als Wandbilder (von Wilhelm Gentz herrührend), erst der alte Johann Christian, dann Alexander Gentz, dann der erste Torfmeister, der erste Förster, der erste Brenner, der erste Inspektor« (WMB 9, S. 498). Meist folgt eine kurze Erwähnung der Geschichte der Abgebildeten, so an der Stelle über die Bilder des Urgroßvaters und Großvaters des jetzigen Besitzers, von denen wir den ersteren als stattlichen und reich verheirateten Oberstleutnant bei der Garde, den andern als Vater des Junkers vom Regiment von Kalkstein bereits kennengelernt haben. Er wurde bei Kolin durch Arm und Leib geschossen. (WMB 9, S. 30)

Das gleiche Verfahren findet auch bei Bildern Anwendung, die historische Szenen darstellen, und kann sich in diesem Stil über mehrere Seiten hinweg ausdehnen. Folgendes Zitat etwa bildet den Auftakt zu einer gleichartigen Behandlung von insgesamt fünf Gemälden über vier Seiten hinweg, von denen sich jeweils nur die ersten paar Zeilen auf das Bild selbst beziehen, während der Rest aus der Lebensgeschichte der Abgebildeten besteht: _____________ blick‹ wiedergeben, der Dichtung dagegen sei die Repräsentation zeitlich aufeinander folgender Handlung vorbehalten (vgl. Sager Eidt, Writing and Filming, S. 11f). 145 Vgl. Albert W. Halsall, Beschreibung. In: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1, Darmstadt 1992, S. 1505. 146 Gottfried Boehm, Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache. In: Ders. und Pfotenhauer (Hrsg.), Bildkunst – Kunstbeschreibung, S. 34. 147 Ebd., S. 30.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

I. Tableau. Hans Christoph Graf von Königsmark, geb. am 4. März 1600 auf Schloß Közlin in der Priegnitz, erobert am 26. Juli die Kleinseite von Prag. Schlußakt des Dreißigjährigen Krieges./ Hans Christoph, schwedischer Generalfeldmarschall und Graf zu Westerwyk und Stegholm, wurde, nach erfolgtem Friedensschlusse, zum Gouverneur der schwedisch gewordenen Herzogtümer Bremen und Verden ernannt und baute sich ein Residenzschloß zu Stade, das er seiner Gemahlin, der schönen Agathe von Lehsten zu Ehren, die Agathenburg nannte. Sein Tod aber erfolgte nicht zu Stade, sondern zu Stockholm, am 8. März 1663. Er starb daselbst an den Folgen einer Hühneraugenoperation, nachdem er in vierzig Schlachten und Belagerungen allen Gefahren glücklich entgangen war. Er soll eine jährliche Rente von 130000 Talern gehabt haben. Für jene Zeit eine enorme Summe. (WMB 13, S. 114; vgl. a. WMB 13, S. 302ff)

Wie bedeutungslos bei solchen Namensnennungen der Abgebildeten inklusive ihrer Kurzbiographie künstlerische Aspekte der Gemälde sind, wird auch daran ersichtlich, dass Fontane exakt dasselbe Verfahren an einer Textstelle anwendet, an der es sich nicht um gemalte, sondern um photographische Porträts handelt.148 Bilder werden ebenso wenig als Kunstwerke detailliert gewürdigt, wenn sie bei Zimmerbeschreibungen nur als Ausstattungs- und Dekorationsstücke neben anderen Gegenständen genannt werden: »Über dem Schreibpult im selben Zimmer hängt ein sehr gutes Crayonporträt des Feldmarschalls, und auf einem Tischchen daneben steht ein porzellanenes Schreibzeug« (WMB 9, S. 30); »Außer diesen Bildern interessiert zumeist eine Rokokokommode« (WMB 9, S. 298). Wenn sie Fontane nicht nennenswert scheinen, übergeht er sie rasch: »An Bildern weist es [das Empfangszimmer, N.H.] nichts von besonderem Interesse auf, außer einer Ansicht von dem in der Nähe von Salzwedel gelegenen Schloß Tilsen, dem alten Familiensitze der Knesebecks« (WMB 9, S. 29). An anderer Stelle heißt es: »Über die Familienbilder, untermischt mit mehr oder minder gleichgültigen Stichen, geh’ ich hinweg« (WMB 13, S. 127). Sehr große Gemäldesammlungen werden teils einfach katalogartig und kommentarlos abgehandelt: Es sind Federzeichnungen, sowie Bilder und Skizzen in Tusche und Gouache. Federzeichnungen: 1. Kopie nach Rembrandt. 1796. 2. Medaillonkopf Friedrichs des Großen. 3. Juno. Wahrscheinlich aus 1796 oder 1797. 4. Pallas Athene. Wahrscheinlich aus 1796 oder 1797.

_____________ 148 »Die Zahl der Porträts [...] ist nicht groß. Ein besonderes Interesse wecken mehrere größere Photographien, Bildnisse früherer persönlicher Adjutanten« (WMB 13, S. 333), deren Namen und kurzgefasste Lebensdaten folgen. Sein »besonderes Interesse« begründet Fontane nicht explizit, noch lässt es sich eindeutig aus dem Zusammenhang erschließen. Möglicherweise rührt es daher, dass sie zuverlässiger als Gemälde zu sein scheinen.

4.5. Gemäldebeschreibungen

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5. Porträt. Wahrscheinlich aus 1796 oder 1797. 6. Zwei Köpfe. Wahrscheinlich aus 1796 oder 1797. 7. Säulenkapitäle, dorische, ionische, korinthische. 8. Rousseau-Grotte. 9. Die Kränzliner Kirche. 1804. (WMB 9, S. 46)

Laut Henrik Karge hat sich Fontane bei solchen Auflistungen »an der Darstellungsart zeitgenössischer Galerieführer orientiert« und möglicherwiese Anregungen zur »Verbindung von Reisebeschreibungen und inventarartigen Aufzählungen« durch Gustav Friedrich Waagens Kunstführer für England und Paris erhalten.149 Auch in Jacob Burckhardts Cicerone (1850) und seiner Baukunst der Renaissance in Italien (1860) – im 19. Jahrhundert weit verbreiteten Schriften – sind teilweise Beschreibungen »auf das Allerwesentlichste beschränkt, woraus sich ein eigentümliches Staccato ergibt«.150 Ganz zufrieden scheint Fontane mit dieser Darstellungsweise nicht gewesen zu sein, da er sie anscheinend eher als Notbehelf gewählt hat, denn an einer anderen Textstelle hält er fest, dass er aufgrund der Masse an Gemälden gezwungen sei, »an drei Vierteln des Vorhandenen vorüber zu gehen« und sich mit »einer bloßen Aufzählung der Bilder und Skizzen« begnügen zu müssen, die sich ähnlich wie die eben zitierte ausnimmt (WMB 9, S. 164; vgl. a. WMB 9, S. 297f). Er fügt entschuldigend hinzu, auf einige Stücke verzichtet zu haben »um diesem Aufsatz nicht über Gebühr einen katalogartigen Charakter zu geben« (WMB 9, S. 166). Dass ein solches »Inventarverzeichnis [...] in der Trockenheit der Aufzählung keinerlei Konzessionen an die literarischen Bedürfnisse der Leserschaft macht«,151 ist Fontane also durchaus bewusst. An den dennoch gegebenen Katalogen wird seine Abneigung gegenüber zu massenhaften Ansammlungen von Kunstwerken deutlich,152 denn seine Überforderung von der Aufgabe, diese im Text adäquat wiederzugeben, zeugt davon, dass er ihrer nicht mehr Herr werden kann, weder in ihrer Rezeption noch in ihrer Vermittlung an der Leser. Genau diese Überwältigung Fontanes überträgt sich in der Lektüre der langen, abgehakt und rasch aufeinander folgenden Aufzählungen auf den Rezipienten, der diese ebenso wenig verarbeiten kann wie Fontane die visuellen Eindrücke. Der Leser wird ebenfalls dazu tendieren, solche Passagen nur noch oberflächlich zu überfliegen, so wie Fontane sich den einzelnen Gemälden nicht mehr eingehend widmen kann: »Museumsmassenschätze staunt man an _____________ 149 Karge, Poesie und Wissenschaft, S. 272. 150 Stefan Kummer, Kunstbeschreibungen Jacob Burckhardts im ›Cicerone‹ und in der ›Baukunst der Renaissance in Italien‹. In: Boehm und Pfotenhauer (Hrsg.), Bildkunst – Kunstbeschreibung, S. 359. 151 Karge, Poesie und Wissenschaft, S. 272. 152 Vgl. Kapitel 3.2.2. der vorliegenden Arbeit.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

und geht mit dem trostlosen Gefühl daran vorüber, ›dieser 10000 Dinge doch niemals Herr werden zu können‹ « (WMB 9, S. 332). Oft gesellen sich zu solchen knappen Nennungen der Bilder kurze Wertungen mit Hinweis auf die künstlerische Technik,153 wie: das »sehr gute Crayonporträt« (WMB 9, S. 30), »das vortrefflich ausgeführte Ölbild« (WMB 9, S. 30), »reizende Aquarellbildchen« (WMB 9, S. 257) oder »eine höchst vorzüglich in Blei und schwarzer Tusche ausgeführte Zeichnung« (WMB 9, S. 178). Allerdings folgen keine weiteren kunstkritischen Ausführungen oder Begründungen für diese Einschätzung (vgl. a. WMB 9, S. 297f), so dass solche Textstellen Fontanes technische Kenntnis und kunstkritische Urteilsfähigkeit nur sehr oberflächlich durchscheinen lassen und keine Hinweise auf seinen Wertungsmaßstab für Kunstwerke geben. Bisweilen wird auch auf den Maler verwiesen, meist ebenfalls nur sehr knapp und ohne ausführliche Stellungnahmen, wie: »Wandbilder (von Wilhelm Gentz herrührend)« (WMB 9, S. 498) oder: »Das Porträt zeigt in seiner linken Ecke den Namen: ›Steuben; Paris, 1814‹, kurze Worte, die genugsam für den Wert des Bildes sprechen« (WMB 9, S. 30f). Eine solche Ausführung kann bisweilen auch mehr in die Tiefe gehen und Fontanes Kunstkenntnisse belegen, beispielsweise wenn er zu einem Porträt, das angeblich vom Landschaftsmaler Philipp Hackert stammt, feststellt, dass es seiner Ansicht nach eher dessen berühmterem und als Porträtmaler bekannten Bruder Wilhelm zuzuschreiben sei (vgl. WMB 9, S. 435f). An anderer Stelle zeigt Fontane seine eigenständige Beurteilung in Bezug auf Maler und Stil, wenn er beobachtet: »Diese einundzwanzig Bilder, wenn ich recht gesehen habe, rühren nicht von derselben Hand her, obschon sie derselben Zeit zu entstammen scheinen [...]. Lukas Cranachsche Schule« (WMB 9, S. 398). Im Weiteren folgt sein selbstbewusst geäußertes Werturteil, einige der Gemälde seien »frisch im Kolorit und nicht ganz ohne Wert«, andere dagegen »völlig bedeutungslos« (WMB 9, S. 398). Die gleiche Sicherheit des Urteils zeigt sich auch in seiner Feststellung zu einem Bild Bernhard Rodes, den er als »Schnellmacher« bezeichnet mit dem Zusatz, »die Mängel seiner Arbeiten« seien evident, dennoch zeichne er sich wie »die wirklichen Meister« durch »eine völlig selbständige Vortragsweise« aus (WMB 9, S. 398). Auffällig ist an dieser Aussage auch die Übertragung eines sonst für das Medium des Textes gebrauchten Terminus (»Vortragsweise«) auf ein Gemälde, während sonst _____________ 153 Sie erinnern etwas an Feststellungen Jacob Burckhardts, denn auch dieser »beläßt es [...] bei einzelnen, meist wertenden Feststellungen: ›prachtvoll schweres Kranzgesims‹, ›höchst majestätische Wertung‹, ›leichter und schwungvoller‹ etc.« (Kummer, Kunstbeschreibungen, S. 360) und liefert – im Gegensatz etwa zu Franz Kugler – ebensowenig umfassende Angaben zu genaueren historischen Hintergründen und Zusammenhängen bestimmter Kunstformen (vgl. ebd.).

4.5. Gemäldebeschreibungen

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eher das umgekehrte Verfahren, die Benennung des Textes mit Vokabular aus dem Bereich der Malerei, auffiel. Bisher wurde festgestellt, dass Fontane in den Wanderungen viele Gemälde eher oberflächlich behandelt bzw. mehr auf die Geschichte der in ihnen Abgebildeten eingeht als auf die Bilder selbst, oder nur kurze Hinweise auf Maltechnik, den Maler und seine – meist nicht näher begründete – Wertung der Bilder gibt. Allerdings zeigen auch diese kurzen Kommentare schon seine Kenntnisse und Urteilsfähigkeit auf dem Gebiet der Malerei sowie sein Selbstbewusstsein in Stellungnahmen zur qualitativen, historischen und stilistischen Einordnung der Gemälde. Auch seine Wertschätzung der Maltechnik, die er durchaus vom Inhalt trennen und die ihn unabhängig von diesem erfreuen kann, geht aus dem Text hervor: Über bestimmte Tiergemälde, die »meistens Monstrositäten« darstellen, ihn inhaltlich also nicht ansprechen, schreibt er, nun neben der inhaltlichen auch die andere Seite der Ekphrasis, die Wirkung des Bildes einbeziehend, und sie zudem an der Darstellungsweise begründend: »Daß sie dennoch mehr interessant als häßlich wirken, ist ein Beweis der ausgezeichneten Technik, mit der sie gemalt wurden. Alle [...] lassen die brillante niederländische Schule leicht erkennen« (WMB 13, S. 307f). An anderer Stelle bringt er Interesse am historischen Malstil zum Ausdruck, wenn er sich darüber äußert, dass Gemälde »eine gute Vorstellung von der Bildnis- und Geschichtsmalerei jener Epoche [des 15. Jahrhunderts, N.H.]« (WMB 13, S. 45) vermitteln. Wirklich deutlich wird die Kunstbegeisterung Fontanes jedoch erst in Passagen, in denen er sich einzelnen Gemälden und ihrer Wirkung auf ihn ausführlich widmet, und die in starkem Gegensatz zu den katalogartigen Abhandlungen stehen: »Was bei Fontane jedoch besonders auffällt, ist das verbindungslose Nebeneinander von poetischen Schilderungen subjektiver Kunsteindrücke und trockenen Kurzbeschreibungen von Kunstwerken«.154 Diese verschiedenen Beschreibungsweisen Fontanes erinnern an unterschiedliche Strömungen der Kunstbeschreibung: Die einen ähneln zu Fontanes Zeit bereits veralteten, das 18. Jahrhundert dominierenden Darstellungen,155 die »einfühlend und sprachlich und literarisch vergegenwärtigend« arbeiteten, die anderen knüpfen an die im 19. Jahrhundert aktuelle, »distanzierende, objektivierende Betrachtung« an.156 Neben und konträr zueinander stehen damit bei Fontane »einfühlende Verlebendigung« und die »Distanz des Überblicks«, _____________ 154 Karge, Poesie und Wissenschaft, S. 272f. 155 Vgl. Helmut Pfotenhauer, Winkelmann und Heinse. Die Typen der Beschreibungskunst im 18. Jahrhundert oder die Geburt der neueren Kunstgeschichte. In: Boehm und ders. (Hrsg.), Bildkunst – Kunstbeschreibung. S. 318. 156 Ebd., S. 327.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

in der »die formale Machart, die Bezüglichkeit der Teile« betont werden.157 Begründen lässt sie dies damit, dass Fontane allein die wissenschaftlichobjektivierenden Festlegung von Kunstwerken nicht genügte, womit er einigen Scharfblick bewies, denn auch die kunstwissenschaftliche Forschung bestätigt: Die ästhetischen Beschreibungen scheinen verabschiedet und sind es doch nicht ganz. Die Beschreibungsweisen scheinen sich vielmehr zu fordern und zu komplettieren; die eine, die wissenschaftliche, [...] überholt die andere und doch nur bedingt.158

Diese gegenseitige Ergänzung beider Darstellungsweisen findet sich bei Fontane noch nicht als ausgewogenes Miteinander, sondern getrennt voneinander bilden sie »so etwas wie eine literarische Collage, die zuweilen etwas befremdlich wirkt«.159 So erstaunt der Leser der Wanderungen, wenn neben sehr trockenen Aufzählungen plötzlich ausführliche, subjektive Beschreibungen stehen, wie beispielsweise diejenige des Kupferstichs über Ruppina und Berolina, deren Bildinhalt Fontane recht wortreich wiedergibt. Dabei fließt deutlich sein persönlicher Eindruck ein, denn die Figuren ›scheinen‹ ihm bestimmte Gefühle zu haben, manche Bildelemente sind ihm »rätselhaft« und das Bild wirkt auf ihn »wunderlich«, »sinnreich, amüsant und von guter Technik, vor allem auch (was ich nicht gering anschlage) kühn und naiv zugleich« (WMB 9, S. 183). Aus dem subjektiven Eindruck ergibt sich die Wertung »mehr Karikatur als Kunst« vor sich zu haben, auch entgegen ihm bekannten zeitgenössischen kunstkritischen Einschätzungen: Chodowiecki gilt als ein Meister ersten Ranges, und das Rokoko, das er vertritt, tritt eben jetzt wieder in die Mode. Gut; ich unterwerfe mich den Tatsachen, den Konsequenzen einer natürlichen Entwicklung. Und doch wäre es hart, wenn es hundert Jahre nach Schinkel wieder dahin käme, daß die Berolina (die »Menschenliebe« wie eine Stoßlokomotive hinter sich) der nackt in Asche daliegenden Ruppina das Füllhorn ihrer Gnaden in Gestalt einer Pfefferkuchentüte darbringen und dabei der künstlerischen Zustimmung des Zeitalters sicher sein dürfte. (WMB 9, S. 182f)

Generell tendiert Fontane dazu, allegorische Darstellungen mit recht spitzen Kommentaren aus Gründen des persönlichen Geschmacks rein vom Inhalt her abzuwerten, der dann relativ ausführlich beschrieben wird, ohne dass dabei noch auf die Technik eingegangen würde (vgl. WMB 9, S. 560f). In anderen Beschreibungen dagegen kann der wiedergegebene subjektive Eindruck bis zu emphatischen Gefühlsäußerungen und einem Schwelgen in den ergreifenden Eindrücken reichen, welche die Bilder auf _____________ 157 Ebd., S. 329. 158 Ebd., S. 330. 159 Karge, Poesie und Wissenschaft, S. 278.

4.5. Gemäldebeschreibungen

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Fontane machen. So begeistert er sich bei der Besichtigung der Radenslebener Galerie mit: »Kunst, echte Kunst überall« und preist den »Zauber italischer Ferne« mit der tiefen Empfindung: »Wie schön!« (WMB 9, S. 40f). Nachdem sich »die goldenen Tore des Südens immer herrlicher« vor ihm aufgetan haben, schildert er entzückt die Gemälde und die Maler, die zu ihm »sprechen«, erfreut sich an Madonnen, die »Freudigkeit und Hoffnung in unser Herz [lächeln]«, und schließt seine poetische Schilderung enthusiastisch mit: »Wo Madonna weilt, da weilt auch die Schönheit« (WMB 9, S. 41). Hier zeigt sich Fontanes persönliche, emotionale Ergriffenheit von den Gemälden. Zusätzlich erfolgt eine Bewertung der Kunstwerke, die von Malern stammten, »die groß waren, ehe die größeren kamen« (WMB 9, S. 41). Die eigene Begeisterung und die Einschätzung des hohen Kunstwerts gehen also Hand in Hand. Sollte dies jedoch einmal nicht der Fall sein, betont Fontane die Bedeutung der persönlichen Ergriffenheit gegenüber dem Rang eines Werks. Er formuliert dies zwar für Denkmäler, doch sein Umgang mit Gemälden in den Wanderungen entspricht demselben Grundsatz: »Es kommt nicht immer auf den Kunstwerth dessen an, was zu uns spricht; der Appell an unser Herz bleibt immer die Hauptsache« (WMB 9, S. 535). So schreibt er über ein auf einer Ausstellung mit einem Preis ausgezeichnetes Bild von Gentz, dass er es, so sehr er »es schätze, doch nicht zu W. Gentz’ vorzüglichsten oder vielleicht richtiger nicht zu den mir sympathischen Arbeiten zählen [kann]. Mir persönlich ist er als afrikanischer Landschafter am liebsten« (WMB 9, S. 163). Ausdrücklich formuliert Fontane hier seinen persönlichen Zugang zu den Gemälden, keine offiziellen, kunstkritischen oder -historischen Aussagen über ihren Wert. Dass dieser »Kunstwerth« für Fontane dennoch von Bedeutung ist, zeigt sich an den Textstellen, in denen er seine Bewertung von Gemälden ausführlicher darlegt. So stellt er fest, dass es in einem »Ruhmessaal« ausgestellten Bildern »an dem Kunstmaße gebricht, das man, glaub’ ich, heutzutage bei Neuschöpfungen der Art fordern darf« (WMB 13, S. 118). Er betont in der bekannten Wertschätzung des Historischen, dass man aus alter Zeit übernommene Gemälde »gelten zu lassen« und, »wie gering auch ihr Kunstwert sein möge, sich ihrer aufrichtig zu freuen« habe (WMB 13, S. 118). Wenn man jedoch ein solches »Ruhmesmuseum« neu schaffen möchte, »so muß es eine Gestalt annehmen, die den Kunstanforderungen unserer Zeit und dem Reichtum der Familie gleichmäßig entspricht«, das heißt, nur die »besten Künstler wären zur Verherrlichung dieser Königsmarckschen Historie gerade gut genug gewesen« (WMB 13, S. 118). Fontanes Kommentar erstreckt sich hier auf die zeitgenössische Verwendung von Kunst, die er als Mittel der »Verherrlichung« und Darstellung des eigenen Ruhmes sowie als Wertobjekt erkennt, das zum einen den

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

»Kunstanforderungen« der Zeit entsprechen und den richtigen Geschmack treffen, zum anderen den »Reichtum« der Auftraggeber repräsentieren muss. Weitere Kritik am zeitgenössischen Umgang mit Kunst zeigen Fontanes Ausführungen darüber, dass Gemälde durch »plump aufgetragenen Firnis an Wert und Ansehen verloren« (WMB 9, S. 81) oder »durch Übermalung« »gelitten haben« (WMB 13, S. 308). Kritisch äußert er sich auch über das anscheinend häufiger geübte Verfahren, Teile von Gemälden aus Platzgründen einfach abzuschneiden: »Die Transponierung [aus einem Kniestück, N.H.] in ein Bruststück erfolgte, wie mir der gegenwärtige Besitzer vertraulich mitteilte, lediglich unter Anwendung einer großen Zuschneideschere« (WMB 9, S. 81). Im Falle, wo dies nötig war, »weil die ganze untere Partie der Kaiserin schwer gelitten hatte« (WMB 9, S. 81), fällt noch keine allzu negative Wertung. Wo das »Coupieren mit der Schere« jedoch von jemandem vorgenommen wurde, der »alles eigentlich historischen Sinnes [entbehrte]«, und sie nur »nach dem jeweiligen Bedürfnis einer neuen Zimmereinrichtung« zurechtschnitt, zeigt sich Fontanes Entrüstung: »Er kannte dabei kein anderes Gesetz als das der Symmetrie, der zuliebe die stattlichen Vollbilder in Brustbild oder Kniestück umgewandelt wurden« (WMB 13, S. 308). Zur gesellschaftlichen Funktion von Kunst nimmt Fontane zudem in seinem ausführlichen Kommentar über die »ziemlich kläglich[en]« (WMB 9, S. 136) »Berliner Kunstzustände der ersten vierziger Jahre« (WMB 9, S. 134) des 19. Jahrhunderts Stellung (vgl. WMB 9, S. 134ff), ebenso in seinen Ausführungen zum Ruppiner Bilderbogen von Gustav Kühn. Er erkennt dessen Stellung, seine »zivilisatorische Aufgabe« (WMB 9, S. 121) als »Missionar, der überall hin vordringt« (WMB 9, S. 122) an – der Bilderbogen war in vielen Teilen der Welt und der Bevölkerung bekannt und informierte »[l]ange bevor die erste ›Illustrierte Zeitung‹ in die Welt ging« (WMB 9, S. 122) über das aktuelle Tagesgeschehen. Einen künstlerischen Wert spricht ihm Fontane zwar ab, dafür hebt er seine Bedeutung als Verbindung »mit der Welt draußen« (WMB 9, S. 123) hervor. So reichen die Beschreibungen von Kunstwerken in den Wanderungen von extrem knappen Hinweisen, in denen kaum auf den Gemäldecharakter eingegangen wird, über eigenständige kunstkritische Wertungen und Beurteilungen der Maltechnik bis hin zu enthusiastischen Schilderungen persönlicher Ergriffenheit durch Gemälde und kritischen Stellungnahmen zum zeitgenössischen Umgang mit Kunst.

4.6. Zusammenspiel und Bewertung der Medien Text und Bild

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4.6. Zusammenspiel und Bewertung der Medien Text und Bild Nachdem mit den Gemäldebeschreibungen bereits auf eine spezielle Form des Text-Bild-Bezugs eingegangen wurde, sollen im Folgenden die generellen Beziehungen zwischen Bild und Text in den Wanderungen geklärt werden. Im Zusammenhang mit der Verbindung zwischen Bildern und Geschichte wurde bereits der von Fontane thematisierte Prozess dargestellt, dass ein Bild nachträglich zum Zeichen wird, indem es die Erdichtung mit ihm verbundener Ereignisse auslöst160 und damit die Entstehung von Text bewirkt. Eine solche im Nachhinein hinzukommende, erfundene Geschichte wertet der Autor als »Märchen« (WMB 9, S. 249), »Fabel« (WMB 9, S. 249) oder »Sage« (WMB 10, S. 87, 88) gegenüber der realen Geschichte ab. Die Beweisführung, dass die aus den Bildern hervorgegangenen Geschichten nicht der Wahrheit entsprechen, vollzieht er anhand der Bildbeschriftungen: »In der Hoffnung auf näheren Aufschluß, unterzog ich mich einer Entzifferung der Umschrift« (WMB 9, S. 249) und: »Das Bildnis selbst belehrt uns in seiner Umschrift« (WMB 10, S. 88). Damit wird der Schrift die dem Bild fehlende Fähigkeit zugesprochen, Wahrheit zu enthüllen und zu vermitteln. Das Bild verweist auf das Imaginäre, die Schrift dagegen in ihrer größeren Eindeutigkeit auf die Realität, was sie als »Beweis« (WMB 10, S. 88) nutzbar macht. Fontane plädiert dementsprechend dafür, reinen Anblicken schriftliche Erläuterungen zur Seite zu stellen, um dem Betrachter deren ganze oder wahre Bedeutung zu erschließen, die sich ihm durch das Sehen allein nicht enthüllt. Damit stellt er genau das Verfahren dar, das er selbst in den Wanderungen mit seinen Aufzeichnungen für den Anblick der Mark verfolgt. Nachdem er beschrieben hat, wie Inschriften an einer Kirchenwand die Geschichte des Gebäudes erläutern, schlägt er vor: Dies Verfahren, durch Inschriften zu beleben und anzuregen, sollte überhaupt überall da nachgeahmt werden, wo man zur Restaurierung alter Baudenkmäler schreitet. Selbst Leuten von Fach sind solche Notizen gemeinhin willkommen, dem Laien aber geht erst aus ihnen die ganze Bedeutung auf. (WMB 9, S. 50)

Erst wenn Bilder oder Anblicke durch einen Begleittext in den richtigen Zusammenhang eingebettet sind, können sie nach Fontane angemessen und richtig verstanden werden. Sowohl Texte als auch Bilder oder visuell Wahrgenommenes können zwar Geschichten erzählen, doch nur im Text erfüllen diese für ihn auch den Anspruch der Wahrheit und des Realitätsbezugs. Möglicherweise wurde diese Haltung Fontanes durch zeitgenössische Diskussionen über den Wahrheitsgehalt der Photographie angeregt, wo _____________ 160 Vgl. Kapitel 4.3.1. der vorliegenden Arbeit.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

die Position vertreten wurde, dieses Bildmedium repräsentiere Realität und Wahrheit völlig unverfälscht und könne so auch die Vergangenheit bzw. Geschichte speichern. Damit wurde der Status der Schrift als Vermittler von Wahrheit abgewertet und ihr zudem die Rolle als Medium historischer Aufzeichnungen abgesprochen. Fontane als Schriftsteller und – zumindest in den Wanderungen – Geschichtsschreiber misst dagegen in seiner Aufwertung schriftlicher Dokumente als Garanten einer eindeutigen und wahren Aussage über vergangene Geschehnisse dem Text einen höheren Wert bei als den vieldeutigen, die Phantasie zu ›falschen‹ Geschichten verleitenden Bildern. Dieser Grundsatz der besseren Wahrheitsvermittlung durch das Medium des Textes gilt anscheinend nicht nur dann, wenn es sich um Geschichten handelt. Entsprechend der Zuordnung der Wiedergabe von Geschichte oder Handlung mit zeitlicher Komponente zum Text könnte man – in der Nachfolge von Lessings Laokoon, der »gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allgegenwärtig« und »so etwas wie ein ästhetisches Hausbuch des Bildungsbürgertums«161 war – diejenige von Gegenständen oder Körpern, nur dem Äußeren eines Objekts oder einer Person, zum Medium des Bildes erwarten. Doch Fontane misstraut dem Wahrheitsgehalt der Bilder und Werke der bildenden Kunst auch in diesem Fall, was sich etwa zeigt, wenn er eine Statue Zietens verurteilt, weil es ihr an »Lebenswahrheit« (WMB 9, S. 18) mangele und sie nicht die Persönlichkeit selbst darstelle, sondern nur die Vorstellung des Künstlers von einem typischen Charakter: »Schadow hat nicht den Husarenvater als Porträt, sondern das Husarentum als solches dargestellt« (WMB 9, S. 18). Auch ein weiteres »Marmordenkmal des alten Helden reicht an ihn selber nicht heran; es entspricht ihm nicht« (WMB 9, S. 22), in diesem Fall jedoch nicht wegen mangelnder Ähnlichkeit, sondern wegen der Zieten zur Seite gestellten antiken Göttinnen, »überkommenen Typen« (WMB 9, S. 22). Die bildende Kunst wird in diesen Fällen in Fontanes Einschätzung der Aufgabe der Wirklichkeitswiedergabe nicht gerecht, da sie nicht realitätsgetreu genug vorgeht, sondern zu sehr typisiert und mythisiert. Für die Wiedergabe von Äußerlichkeiten beurteilt Fontane daher ebenfalls die Schrift als zuverlässigeres Medium: »Sind diese Bildnisse [die Porträts von Kattes, N.H.] zuverlässig? Keines stimmt mit der charakteristischen Personalbeschreibung, die sowohl Pöllnitz wie die Markgräfin von von Katte gegeben haben« (WMB 10, S. 297). Den Wahrheitsgehalt der schriftlichen Beschreibungen aufgrund der Gemälde anzuzweifeln, ist für Fontane keine Option, sondern er geht wie selbstverständlich davon aus, dass eher die Texte die Realität unverfälscht wiedergeben. Die Schrift _____________ 161 Willems, Anschaulichkeit, S. 339.

4.6. Zusammenspiel und Bewertung der Medien Text und Bild

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ist also in jedem Fall – sowohl für die Darstellung von Geschichten als auch für die von Körpern – für Fontane höher angesiedelt als das Bild, da sie seiner Ansicht nach wahrheitsgetreuer ist. Darüber hinaus wird der Text dadurch gegenüber dem Bild aufgewertet, dass er es durch Beschreibung in sich aufnehmen und vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen lassen kann, was umgekehrt nicht oder nur bedingt möglich ist. Eine Möglichkeit, Handlung in Gemälden auszudrücken, liegt darin, sie bildlich in mehrere Abschnitte aufzuteilen, wie es in den Wanderungen auf zweifache Art beschrieben wird. Einmal, indem Fontane wiedergibt, wie er auf einundzwanzig Bilder aufgeteilt »nach Art der ›Stationen‹, aber über diese hinausgehend, die Leidensgeschichte Christi« (WMB 9, S. 397) dargestellt findet, ein anderes Mal, indem er beschreibt, wie die Handlung innerhalb eines einzigen Gemäldes in mehrere Bilder zerlegt wird: Verschiedene Scenen, die in Wirklichkeit der Zeit nach aufeinander folgen, folgen sich hier dem Raume nach und die zeitlichen Zwischenräume von 5 oder 10 Minuten werden durch räumliche Zwischenräume von 5 bis 10 Zoll Durchmesser ausgedrückt. Sinnreich genug. (WMB 9, S. 560)

Die von Fontane stammenden Hervorhebungen im Text sowie sein abschließender Kommentar lassen erkennen, dass dieses Verfahren einen gewissen Eindruck auf ihn gemacht hat. Dennoch ermöglicht es dem Bild nicht die gesamten Möglichkeiten eines Textes – wie etwa Reflexionen und differenzierende Kommentare – sondern erlaubt allein die Wiedergabe der Handlung, die Fontane an der zitierten Stelle mit den Worten kommentiert: »An Naivität läßt das Ganze nichts zu wünschen übrig« (WMB 9, S. 561). Allerdings ist beispielsweise mit den Mitteln des bei Klaus-Peter Schuster beschriebenen und nach seinen Ausführungen Fontane geläufigen ›disguised symbolism‹ auch Gemälden eine gewisse Anspielungs- und Reflexionsebene möglich. So können auf den ersten Blick unauffällige Gegenstände, die auf einer Ebene realistische Objekte eines Bildes sind, auf einer zweiten Ebene symbolische Bedeutungen transportieren und dem Gemälde eine chiffrierte Aussage hinzufügen.162 Der Text kann Fontanes Ansicht nach das Bild nicht nur in sich aufnehmen, sondern – ebenso wie das Bild auf den Text in Form der Geschichte verweist – Bilder oder visuelle Wahrnehmungen als mentale Bilder der Vorstellung und Erinnerung direkt hervorrufen, ohne sie exakt beschreiben zu müssen, und hat auch darin die gleiche Fähigkeit wie das Bild. Das gelingt ihm jedoch nicht über die Geschichte, sondern durch den Namen, der die unwillkürliche, bildhafte Erinnerung an Gesehenes bewirkt: »Buckow hat einen guten Klang hierlands, [...] und bei bloßer _____________ 162 Vgl. Schuster, Theodor Fontane. Effi Briest, S. 10–48.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

Nennung des Namens steigen freundliche Landschaftsbilder auf« (WMB 10, S. 90). Ähnlich heißt es zu Tamsel: [B]ei bloßer Namensnennung überfliegt ein Lächeln ihre Züge, [...] der Ausdruck [...] einer freundlichen Rückerinnerung an Park und Schloß, an Wasserpartien und Feuerwerke, an allerlei bunte Landschaftsbilder überhaupt, die bei dem freundlichen Klange noch einmal an dem inneren Auge vorüberziehen. (WMB 10, S. 304)

Fontane strebt mit den Wanderungen denselben Effekt bei seinen Lesern an, »daß in Zukunft jeder Märker, wenn er einen märkischen Orts- und Geschlechternamen hört, sofort ein bestimmtes Bild mit diesem Namen verknüpft«.163 Dem Text wird damit die Aufgabe zugeschrieben, Bilder – sowohl Landschaftsansichten als auch Gemälde – zu speichern und zu vermitteln, womit er gegen die Tendenz des 19. Jahrhunderts ankämpft, diese Funktionen der Dokumentation, Repräsentation und Archivierung an die Photographie abzutreten. Bezeichnenderweise hat Fontane die Wanderungen ohne Illustrationen veröffentlicht, da der Text selbst in der Lage ist, die nötige Anschaulichkeit zu vermitteln und dazu nicht auf Bilder angewiesen ist. Der Text hat darüber hinaus die Fähigkeit, mentale Bilder von Objekten vor dem inneren Auge des Lesers entstehen zu lassen, die in der Wirklichkeit nicht mehr vorhanden sind. Er vervollständigt so mit Worten die Teile eines ›Wahrnehmungsbildes‹, die in der Realität nicht mehr zu sehen sind. Die gegenwärtig erblickte Ansicht wird durch den Text um das in der Vergangenheit Existierende ergänzt. Bei der Beschreibung des in der Gegenwart des Textes betrachteten Freundschaftstempels heißt es: »Es war ein kleiner Kuppelbau, auf dessen Hauptkuppel noch ein Kuppelchen saß; über dem Eingang aber ein Frontispiz. Frontispiz und Kuppeln existieren nicht mehr« (WMB 9, S. 260). Weitere Beispiele bieten die Passage, an der Fontane nur noch die »Überreste des Klosters« Chorin erblickt, die ihm genügen, um sich selbst und seinen Lesern »ein Bild des Baues zu geben, der hier stand«, und folgende Textstelle (WMB 11, S. 87): Am Westrande des Teichs bemerken wir den zersplitterten Stamm eines vom Winde abgebrochenen Baumes. Das sind die Überbleibsel der ›Herzogsweide‹, die hier stand. [...] Die Zweige des Baumes hingen in den Teich nieder, das blaugraue Laub war doppelt schön auf einem Hintergrunde dunkler Erlen, und der an der Wurzel sieben Fuß dicke Stamm teilte sich höher hinauf in zwei Stämme. (WMB 10, S. 122)

Ebenso wie Ansichten kann der Text auch Gemälde ergänzen, die nicht mehr zu sehen sind: Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts befand sich noch eine [...] Bretterwand in der Kirche, worauf neun Figuren – ›vier Manns- und fünf Weibsbilder‹ wie

_____________ 163 Theodor Fontane an Ernst von Pfuel, HFA IV/2, S. 115.

4.6. Zusammenspiel und Bewertung der Medien Text und Bild

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Bekmann schreibt – in Temperafarben gemalt waren. Alle diese Figuren trugen Unterschriften, von denen die Mehrzahl im Jahre 1750 noch zu lesen war [...]. All dies ist jetzt fort. (WMB 13, S. 85)

Explizit ersetzt Fontane weiterhin ein nicht mehr vorhandenes Porträtgemälde durch eine zeitgenössische Beschreibung: »[M]it Hilfe dieser Aufzeichnung erneuern wir auf Momente das Bild und führen es an des Lesers Auge vorüber« (WMB 9, S. 181), so wie der Führer in Schloss Rheinsberg den Besuchern mit Worten mittlerweile nicht mehr vorhandene Gemälde vermittelt (vgl. WMB 9, S. 251). Text und Bild vermischen und ergänzen sich und sind keine klar von einander zu trennenden Kategorien mehr, da Beschreibungen des tatsächlichen bildanalog Wahrgenommenen sich mit ergänzenden, nur noch im Medium des Texts vorhandenen Darstellungen überschneiden. Dieses Phänomen begegnet auch, wenn während einer Bildbetrachtung die Geschichte dazu erzählt wird: Unter solchen Betrachtungen sind wir das Mittelschiff hinaufgeschritten und werden nunmehr, unmittelbar zur Linken des Altars, jenes Görtzkeschen Steinbildes gewahr [...]./ Ein kurzer Lebensabriß des ›Paladin‹ möge zunächst hier seine Stelle finden. (WMB 10, S. 194)

Nach der Erzählung der Biographie heißt es: »So viel über den ›Paladin‹. Aber zurücktretend von seinem Bilde, werden wir bei weiterer Umschau gewahr, daß andere jetzt an dieser Stelle zu Hause sind« (WMB 10, S. 198). Die Geschichte wird praktisch vom Bild eingerahmt, das vor ihrem Beginn und nach ihrem Ende genannt und anscheinend während der Erzählung betrachtet wird. Das Sehen des Bildes ist so nicht von der Geschichte zu trennen und die Kategorien Bild und Text gehen ineinander über.164 Sie benötigen und bedingen einander gegenseitig: Das Gemälde allein würde nicht beschrieben, wenn Fontane nicht auch eine Geschichte dazu erzählen könnte, diese wiederum braucht einen Anknüpfungspunkt, den ihr das Gemälde bietet. Dabei nimmt allerdings die erzählte Geschichte weit mehr Platz ein als die kaum vorhandene Beschreibung des Bildes, so dass trotz der Vermischung und dem Zusammenspiel beider Medien die Erzählung als das Hauptanliegen Fontanes erscheint. Text und Bild treten noch auf andere Weise miteinander verzahnt auf, wenn sich an Bildern Texttafeln befinden. Teilweise werden beide von Fontane möglichst genau wiedergegeben, der Text als Zitat, das Bild durch detaillierte Beschreibung, so dass beide Medien gleiche Beachtung und Behandlung erfahren (vgl. WMB 9, S. 182f, 257, 553f, 560f; WMB 10, S. 88f, 434f; WMB 13, S. 45f). Dabei betont Fontane die Bedeutung des _____________ 164 Ein ähnliches Vorgehen ist zu erkennen in WMB 10, S. 192ff.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

erklärenden Begleittextes, ohne den man sich manche Gemälde nicht erschließen könne: »Drei derselben veranschaulichen wenig bekannte Szenen aus dem vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert, weshalb es schwer ist, sich ohne Kommentar oder Führer in ihnen zurecht zu finden« (WMB 13, S. 113). Auch erleichtern mündliche Ausführungen es, großer Gemäldesammlungen »Herr werden zu können«, wenn »ein Kundiger abermals auszuscheiden und den verbleibenden Rest durch begleitende kleine Vorträge mehr und mehr zu veranschaulichen versteht« (WMB 9, S. 332). Aufgrund dieser tragenden Rolle werden Texte oft bevorzugt wiedergegeben, während die Bilder weniger Berücksichtigung finden, wie im Folgenden, wo deren Inhalte mit der Nennung der abgebildeten Person extrem knapp zusammengefasst werden (vgl. a. WMB 10, S. 341): Man hat hier alles in Bild und Schrift beisammen [...]. Als Wandbilder (von Wilhelm Gentz herrührend), erst der alte Johann Christian, dann Alexander Gentz, dann der erste Torfmeister, der erste Förster, der erste Brenner, der erste Inspektor. Dazu Versinschriften. Zwischen den beiden Gentz, Vater und Sohn, stehen folgende Reime: [...] [Hier wird das Gedicht zitiert, N.H.]. Dieser längeren Reiminschrift gegenüber stehen folgende kurze Sprüche: [...] [Hier wird das Gedicht zitiert, N.H.]. (WMB 9, S. 498f)

Darüber hinaus können das Erzählen einer Geschichte und die Beschreibung einer Landschaft – beziehungsweise in Fontanes Worten eines ›Landschaftsbildes‹ – an den gleichen Textstellen auftreten: Entweder wird die Zeit während des Wanderns oder Fahrens mit der Schilderung des Gesehenen gefüllt – den in Kapitel 4.2.1. behandelten ›bewegten Bildern‹ – oder mit der des Gehörten, der vom jeweiligen ortsansässigen Begleiter wiedergegebenen Anekdote (vgl. WMB 11, S. 113). Reisen setzt sich für Fontane aus Bildern und Geschichten zusammen, die beide seinen Weg unablässig begleiten. Bei ihm »erhellen sich Landschaft, Dichtung und Historie wechselseitig, um zu einem einheitlichen Bilde zu führen«.165 Das Ineinander-Übergehen beider Medien äußert sich noch in weiteren Phänomenen: Der gesamte Text der Wanderungen gibt nicht nur viele Bilder oder Gegenstände durch Beschreibungen wieder (vgl. z. B. WMB 9, S. 42ff), sondern versteht sich teilweise selbst als Bild und hebt damit seine Fähigkeit hervor, das Bildhafte nachahmen zu können. Zugleich zeigt er damit seine Absicht, ebenso anschaulich wie das Bild zu sein, so dass diese Eigenschaft, die sonst als Vorzug des Bildes vor dem Text angesehen wird, auch dem Text möglich ist. Ebenso wird Bilderläuterungen zugetraut »zu beleben und anzuregen« (WMB 9, S. 50), was generell wohl eher umgekehrt als Aufgabe von Bildern in einem Text angesehen wird. Figuren geben erzählend »ein anschauliches Bild« (WMB _____________ 165 Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 476.

4.6. Zusammenspiel und Bewertung der Medien Text und Bild

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9, S. 102) oder »ein klares und bestimmtes Bild« (WMB 10, S. 33); ein »Manuskript«, eine »literarische Behandlung«, ist »ein Zeit- und Sittenbild« (WMB 9, S. 506). Nach Abschluss einer anderen Geschichte, über Schloss Oranienburg, schreibt Fontane, er habe »die Bilder aufgerollt seines Glanzes und seines Verfalls« (WMB 11, S. 148), und eine ihm erzählte Anekdote gilt ihm als »Winterbilde [...], das unser Führer eben vor uns entrollt hatte« (WMB 11, S. 108). Damit verwendet er für Erzählungen dieselbe Metapher des ›Bildaufrollens‹, die er auch für bildhafte Landschaftsbeschreibungen wählt (vgl. WMB 9, S. 6f). Dabei unterstreicht Fontane den Bezug zur Malerei, wenn er eine Familiengeschichte in »Genrebildern« (WMB 9, S. 402), einer speziellen Gemäldegattung, erzählen will, oder über den Maler Wilhelm Gentz schreibt, seine Anekdoten seien ›Bilder‹: »Das war so ein in Worten gemaltes Gentzsches Bild« (WMB 9, S. 170). Weiter heißt es, Gentz nähme das Wort, um ein figurenreiches Bild einzuschieben. Er ist dann holländischer Maler mit dem Wort und malt heitere Genreszenen, die mich, in ihrer farbenfrischen Anschaulichkeit, immer an humoristische Schilderungen aus Achim von Arnim erinnert haben. (WMB 9, S. 169)

Damit wird der Text zum einen als Gemälde benannt, dieses zum anderen wiederum mit Literatur verglichen, so dass kaum noch eine Unterscheidung zwischen beiden Medien auszumachen ist. Das Selbstverständnis des Texts als ›Bild‹ ist derart ausgeprägt, dass es auch die Kritik zur Aussage veranlasst: »Fontane malt mit Worten Bilder«.166 Während so dem Text einerseits wichtige Merkmale des Bildes zugesprochen werden, ergänzt Fontane ihn andererseits in seltenen Fällen mit abstrakten Zeichnungen – womit eine Medienkombination nach Typ 2.1. vorliegt –, wodurch er implizit zugesteht, dass diese einen höheren Grad an Anschaulichkeit oder Genauigkeit aufweisen können als die Beschreibung, die auf umständlichere und zeitraubendere Art dennoch nicht den gleichen Effekt hätte. Während auf der einen Seite daher der Text das Bild braucht, bedürfen auf der anderen Seite Fontanes Zeichnungen der erklärenden Schrift, um verstanden zu werden. Ebenso formuliert der Philosoph Vilém Flusser: »Die Texte erklären zwar die Bilder, um sie wegzuerklären, aber die Bilder illustrieren auch die Texte, um sie vorstellbar zu machen«.167 Die aus wenigen Strichen bestehende Zeichnung eines Wagens, die dessen Beschreibung vorangeht, ist an mehreren Punkten mit dem Buchstaben ›a‹ versehen, der im dazugehörigen Text erklärt wird (vgl. WMB 9, _____________ 166 Andreas Teltow, Lehret uns Erinnerung, damit wir lernen, schlummernden Reichtum zu erschließen. Fontanes Blick auf die Mark – Variationen eines Themas. In: Stiftung Stadtmuseum Berlin, Fontane und sein Jahrhundert, S. 216. 167 Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, 6. Aufl., Göttingen 1992, S. 11.

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4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

S. 180) – ebenfalls eine Medienkombination vom Typ 2.1. Ebenso geht Fontane bei der Beschreibung eines Tales vor, dem eine mit im Text erklärten Buchstaben beschriftete Abbildung eines Omega als Abbildung seiner ungefähren Form folgt (vgl. WMB 10, S. 53). An anderen Stellen entfällt die literarische Beschreibung ganz. Dort werden die Zeichnungen direkt in den Text eingebaut, so als seien sie selbst eine Art Satzglied, wodurch die Grenze zwischen Bild und Text fast völlig aufgehoben wird und die Medienkombination zur Medienvermischung von Typ 2.2. gesteigert wird: [D]er Lauf des Flusses, der bis dahin etwa diese Gestalt [...] [Hier folgt eine Zeichnung, N.H.] gehabt hatte, sollte durch ein neues Bett nunmehr einfach eine gerade Richtung erhalten. [...] [Hier folgt eine Zeichnung, N.H.]. (WMB 10, S. 28)

Auch in den nächsten beiden Beispielen wird so verfahren, wobei hier nicht ganz von Zeichnungen zu sprechen ist, sondern eher von einer Nutzung der Schriftzeichen nicht als Zeichen mit Inhaltsseite, sondern als Bilder, wie sie schon im Omega begegnet ist, so dass schließlich Typ 2.3. der Medienmischung vorliegt: Auch Wusterhausen besteht aus einer Haupt- und einer Nebenstraße, die hier aber keinen einfachen Haken ( _| ), sondern etwa eine Form wie diese |– bilden. (WMB 9, S. 395). Und daraufhin entstand 1875 ein Anbau, der rechtwinklig auf die Mitte des alten Baues gerichtet, aus dem einfachen Langhaus (▬) ein Haus in Form eines lateinischen T ( T ) herstellte. (WMB 13, S. 301).

Andere Zeichnungen werden etwas weniger stark in den Textfluss integriert, dennoch aber nicht völlig von ihm isoliert, da sie direkt in einen Satz aufgenommen werden: »Die Stellung bei Freund und Feind war um fünf Uhr die folgende: [Es folgt eine Zeichnung, N.H.]« (WMB 12, S. 265). [B]evor noch unsere Kolonnen auf halbem Wege heran waren, hatten die Truppenteile seines Korps folgende gutgewählte Stellungen inne: [Es folgt eine Zeichnung, N.H.]. (WMB 12, S. 267)

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Fontane zwar einerseits dem Text gegenüber dem Bild eine gewisse Vorrangstellung zugesteht, insbesondere was den Wahrheitsgehalt betrifft, andererseits aber beide Medien einander in ihren Möglichkeiten und Aufgabenbereichen annähert. Bild und Text ergänzen sich in den Wanderungen gegenseitig als Illustrationen und Erklärungen und nähern sich zugleich einander an, so dass die Grenzen zwischen ihnen verwischen, wenn Bilder Geschichten erzählen, der Text sich als Bild definiert und beide im Textfluss ohne besondere Kennzeichnung direkt auf- bzw. ineinander folgen. A. W. Halsalls im Folgenden zitierte Feststellung trifft demnach auch auf Fontane zu:

4.7. Zusammenfassung

175

Offenbar war Lessings sorgfältige Trennung zwischen Malerei und Dichtung nur eine vorübergehende Gültigkeit beschieden. Am Ende des 19. Jh. fallen Theoretiker der B. [Beschreibung, N.H.] in die alte unklare Abgrenzung zwischen Dichtung und Malerei zurück.168

4.7. Zusammenfassung Die Analyse der Wanderungen konnte einige Grundzüge Fontanescher Beschreibungsarten sowie Themenkomplexe aufzeigen, die für ihn mit Bildern verbunden sind. Typische Arten der Wahrnehmung und Beschreibung, die jeweils an bestimmte zeitgenössische Bildmedien erinnern, sind das Sehen ›bewegter Bilder‹ aus der Fahrt heraus mit seinen Parallelen zu Moving Panorama und dem späteren Film, der dem gleichnamigen Bildmedium verwandte Panoramablick und ausschnitthafte Sehweisen, meist in Form von Fensterblicken. Insbesondere die Fensterblicke erfüllen hierbei die generellen, rein äußerlichen Merkmale eines bildanalogen Blicks, während die anderen Wahrnehmungsweisen sich ebenso wie die damals beliebten Gemäldeinszenierungen gerade durch ihre Abweichung von diesen Grundmerkmalen bildanaloger Wahrnehmung auszeichnen und an Attraktivität gewinnen. Es handelt sich hierbei um Ausschnitt (bei Malerei und Photographie, bei letzterer zusätzlich mit dem Merkmal der Zufälligkeit, beim Panorama dagegen nicht vorhanden), Schärfenbereich (vor allem bei der Photographie), Immobilisierung (bei Malerei und Photographie, beim Diorama dagegen nur eingeschränkt, beim Moving Panorama gar nicht vorhanden), die Beschränkung auf das Sehen (bei Malerei und Photographie, beim Moving Panorama nur eingeschränkt gültig), einen festgelegten, privilegierten Beobachterstandpunkt (bei Malerei und Photographie) und Detailgenauigkeit (speziell bei der Photographie). Ergänzt wurden diese generellen Merkmale des ›Bildhaften‹, die sich auf die rein visuellen Gegebenheiten der Beschreibung beschränken, um durchgängig mit Bildern verknüpfte Themenkomplexe. So assoziiert Fontane mit Bildern oft die Kopiethematik, die allein bei Gemälden eine Rolle spielt, nicht jedoch bei Beschreibungen. Während sie im zeitgenössischen Diskurs stärker an Photographien gebunden ist, wird sie in den Wanderungen hauptsächlich anhand der Malerei abgehandelt bzw. greift auf weitere Bereiche über. Ähnlich verhält es sich mit dem nächsten zu ergänzenden Element des Unheimlichen oder an Tod und Vergänglichkeit gemahnenden Eindrucks, das bei bildhaften Beschreibungen unbewegter Objekte, Fensterblicken und Porträtgemälden auftritt, im damaligen Gedankengut _____________ 168 Halsall, Beschreibung, S. 1505.

176

4. »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

jedoch vor allem mit der Photographie assoziiert wurde. Mit ihm verbunden ist die Wiederkehr von Vergangenheit durch das Bild oder eine bildliche Beschreibung. Sie zeigt sich bei den Gemälden im Eindruck, die Abgebildeten seien weiterhin anwesend, und tritt sowohl bei Gemälden als auch Landschaftsbeschreibungen auf, wenn der Anblick Erzählungen historischer Ereignisse auslöst, die gesehenen Objekte nicht mehr an sich von Bedeutung sind, sondern in ihrer Zeichenfunktion als Verweise auf die dahinterliegenden Geschichten. Die Vergangenheit wird in Bildern gespeichert, ist jedoch erst durch Worte wieder greifbar zu machen. Neben solchem historischen Gehalt wird Bildern auch die Eigenschaft zugeschrieben, fiktive Geschichten zu erzeugen. In beiden Fällen drängen die Bilder danach, zu Sprache zu werden, werden zu bildlichen Zeichen mit Verweis auf sprachliche Referenten – auch dies ein Merkmal, das Zeitgenossen vor allem bei Photographien empfanden, das in den Wanderungen jedoch Gemälden zugeordnet wird. Viele der Themenkomplexe, die Fontane in den Wanderungen mit Verweisen auf Gemälde und bildhaften Beschreibungen verbindet – insbesondere Historie, Tod und Kopie – erinnern damit deutlich an den zeitgenössischen Diskurs über Photographien und könnten durch ihn angeregt sein. Aufgrund dieser möglichen Übertragung der Assoziationen von einem Bildmedium auf ein anderes und da in den Wanderungen kaum Photographien vorkommen, wurden die festgestellten Merkmale zunächst als Konstituenten von Fontanes Bildkonzept generell angesehen. Eine anschließende Untersuchung seiner eigenen Nutzung des Begriffs des ›Malerischen‹ zur Abgrenzung gegenüber dem Konzept des ›Photographischen‹ ergab, dass das ›Malerische‹ in den Wanderungen für Fontane zum Teil ähnliche Charakteristika aufweist, wie sie in der Poetologie der poetischen Realisten der Malerei – im Gegensatz zur Photographie – zugeschrieben werden: Als ›malerisch‹ gilt ihm eine von menschlicher bzw. künstlerischer Hand gestaltete und zu einem ästhetisch geordneten Ganzen gefügte Natur, ebenso wie das als natürlich bzw. ursprünglich und volkstümliche empfundene Dorfleben – gleichfalls eine Mischung aus Natürlichkeit und menschlicher Zivilisation. Andere Komponenten seines Konzepts des ›Malerischen‹, wie die Wertschätzung von alten und verfallenden Bauwerken, stehen in größerer Nähe zu einem romantisch-poetischen Vorstellungskreis. Da der Themenbereich Vergänglichkeit und Tod damit sowohl von Fontane selbst als ›malerisch‹ benannt als auch mit Bildern verknüpft wird, zeichnet er sich als zentraler Bestandteil des ›Malerischen‹ bei Fontane ab. Im Weiteren wurde Fontanes Verhältnis zur Malerei selbst anhand der Gemäldebeschreibungen der Wanderungen analysiert. In den wenigen Fällen, wo Gemälde nicht mit einer knappen Nennung ihres Inhalts oder

4.7. Zusammenfassung

177

katalogartig abgehandelt werden, zeigen seine Gemäldebeschreibungen neben seiner Kunstkenntnis seinen -enthusiasmus, zugleich aber auch Kritik an zeitgenössischen Umgangsweisen mit Gemälden, wie etwa ihrer massenhaften Rezeption. Schon bei der Analyse der Gemäldebeschreibungen sowie der Untersuchung der Verbindung zwischen Bildern und historischen sowie fiktiven Geschichten klangen kurz die engen Text-Bild-Beziehungen an, die grundsätzlich eine Bevorzugung des Textes vor dem Konkurrenzmedium Bild erkennen lassen. Zum Abschluss wurden diese gesondert untersucht, wobei sich zeigte, dass nicht nur der Text mit seinen bildhaften Beschreibungen teilweise Aufgaben des Bildes übernimmt, sondern umgekehrt auch Bilder dem Text angenähert werden, wenn sie wie Satzglieder direkt zur Illustration in ihn eingebaut werden. Beide Medien treten häufig gemeinsam auf – so wenn betrachtete Gemälde und erklärende Unterschriften oder Gedichte gemeinsam beschrieben werden, oder wenn Fontane im eigenen Text illustrierende Zeichnungen mit Beschriftung versieht – und sind zur gegenseitigen Ergänzung aufeinander angewiesen. Die klare Grenzziehung ihrer Aufgabenbereiche, wie sie Lessing propagierte, wird hierbei wieder aufgeweicht. Ein besonders gewichtiges Aufgabengebiet der damaligen Malerei, das Fontane in den Wanderungen zum Ziel seines Textes erklärt, ist die Wahrnehmungsschulung des Rezipienten. Diese wollte der Autor durch die immer wieder auf ähnliche Weise musterhaft wiederholte Beschreibung von ihm selbst praktizierter Sehweisen auf die bereiste Landschaft ebenso erreichen, wie zeitgenössische Maler durch die Betrachtung ihrer Bilder. Fontane steht damit in der Tradition des Reiseberichts, der sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vom rein beschreibenden »Erfahrungsmedium hin zur Schule der Ästhetik«169 und des ›richtigen‹ Sehens entwickelte, wobei besonderer Wert auf die genaue Schilderung neu entstehender Wahrnehmungsweisen gelegt wurde. Während frühere Reiseberichte noch ein ›objektives‹ oder ›reines‹ Sehen vermitteln wollten, wusste Fontane bereits entsprechend den neuesten Erkenntnissen der damaligen Wahrnehmungstheorie um die grundsätzliche Subjektivität des Sehens und war daher bestrebt, seinen Rezipienten nicht nur bestimmte äußere Wahrnehmungsbedingungen (wie etwa Standpunkt und Lichtverhältnisse) nahezulegen, sondern zugleich ein spezifisches Vor- bzw. Hintergrundwissen und Assoziationsfelder an die Hand zu geben, durch die das Wahrgenommene mit einer zusätzlichen Verweisebene aufgeladen und zeichenhaft lesbar wurde. _____________ 169 Jost, Das poetische Auge, S. 64.

178

Wie sich diese Auseinandersetzungen Fontanes mit Bildern, der Bedingtheit jeglicher Wahrnehmung und dem Verhältnis zwischen Text und Bild in seinem Romanwerk niederschlugen, ist ebenso Thema der folgenden Einzeluntersuchungen wie eine genauere Bestimmung dessen, was in seinem Werk als ›das Photographische‹ bzw. ›das Malerische‹ zu gelten hat.

5. Analyse der Romane

5. Analyse der Romane Die zentrale Bedeutung des Sehens für Fontane, die anhand der Wanderungen aufgezeigt wurde, soll bei der Analyse der Romane den ersten Schwerpunkt bilden. Die verschiedenen, im vorigen Teil dargestellten Sehweisen und die mit ihnen verbundenen Assoziationen werden vor allem daraufhin untersucht, wie sie zur Charakterisierung der Figuren, ihrer Welt- und Selbstwahrnehmung sowie ihrer Beziehungen untereinander eingesetzt werden. Nicht das Gesehene, sein Symbolgehalt und seine Bedeutung für die Figuren sollen behandelt werden, sondern die Art und Weise des Sehens selbst, denn die »Blicke der Personen verweisen als Identitätsaufhänger oder Indices deutlicher auf ihren Charakter als [Figuren-, N.H.]Beschreibungen«1. Beschreibungen der von den Figuren betrachteten Landschaften oder Objekte erfolgen nicht allein zur Darstellung des Handlungsortes, sondern geben »[d]eren Sichtweise [...] wieder und deren Art, sich auf ihre Umgebung einzulassen«.2 Die individuell gestaltete Sprache der Figuren Fontanes als »ein mit großer Kunstfertigkeit eingesetztes dominierendes Mittel der Figurencharakterisierung gehört zu den alten, aber immer noch aktuellen Erkenntnissen der FontaneForschung«.3 Die unterschiedliche Sehfähigkeit der Figuren dagegen beginnt erst seit Kurzem, die Forschung zu beschäftigen,4 so dass ihr hier nachgegangen werden soll. In den Romanen ist das Sehen bestimmter Figuren sowohl durch die Malerei geprägt – wie schon für den Erzähler der Wanderungen festgestellt – als auch durch die Photographie: Das Auge wird gegen Ende des Jahrhunderts zu einem Analogon des Photoapparats und somit zu einem deutlichen Zeichen dafür, wie weit der Einflußbereich der Photographie mittlerweile reicht. Wenn selbst das Auge photographiert, kann

_____________ 1 2 3 4

Brunner, ›Effi Briest‹ von Theodor Fontane, S. 151. Weber, ›Au fond sind Bäume besser als Häuser‹, S. 141. Bettina Plett, ›L’Adultera‹ ›…kunstgemäß (Pardon)…‹ – Typisierung und Individualität. In: Christian Grawe (Hrsg.), Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 1995, S. 68. Auseinandersetzungen mit dem Thema finden sich vor allem in Untersuchungen zu Cécile, den Arbeiten Maria Elisabeth Brunners zu Effi Briest, John Osborne, Vision, Supervision, and Resistance. Power Relationships in Theodor Fontane’s ›L’Adultera‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 70 (1996), S. 67–79; John Osborne, Theodor Fontanes ›Stine‹ – Ein ›Schauspiel für Männer‹?. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 120/Supplement (2001), S. 128–152 und den Texten Sabina Beckers, die sich mit dem männlichen Blick auf weibliche Figuren beschäftigen.

180

5. Analyse der Romane

auch die Wahrnehmung nicht ohne die Photographie bestimmt werden. Das ›Neue Sehen‹ ist ein photographisches.5

Im Folgenden soll unter Rückgriff auf die in Kapitel 3.3.3. zusammengestellten und in Kapitel 4.2.4. anhand der Wanderungen modifizierten und erweiterten Kriterien dargestellt werden, wodurch sich malereianaloges und photographieanaloges Sehen in Fontanes Romanen auszeichnen und welche Charaktereigenschaften mit diesen Wahrnehmungsarten ausgestattete Figuren aufweisen. Daneben bildet die Behandlung von Bildern als Motiven den zweiten Schwerpunkt. Richard Brinkmann6 führt Bilder neben vielen anderen Gegenständen als bedeutsame Requisiten in den Romanen an, ohne dabei zwischen verschiedenen Bildarten wie Gemälden, Photographien oder auch Spiegelbildern zu differenzieren. In der vorliegenden Arbeit dagegen sollen gerade die Unterschiede bei der Verwendung verschiedener Bildarten analysiert werden, mit ihnen verbundene Themenkomplexe, ihre Funktionen innerhalb der Handlung und ihre Nutzung zur Figurencharakterisierung. Die Fontaneforschung beschäftigt sich seit einigen Jahren verstärkt mit der Bedeutung der Bildenden Kunst im Werk Fontanes, die in vielen Romanen als Zeugnis für »Ahnen, Kunst, Besitz, Kennerschaft, guten Geschmack, [...] Schmuck«7 oder als Auslöser von Handlungen oder Gesprächen dient. Die Rolle der Photographien dagegen wurde bisher so gut wie gar nicht untersucht,8 da deren scheinbar nebensächliches Auftreten im Text von vorneherein darauf zu deuten schien, dass sie kaum von Belang seien: Der Befund, [...] daß in den Poggenpuhls eine photographische Ahnengalerie Erwähnung findet oder sich in L’Adultera Ebenezer Rubehn brieflich mit einem Visitkartenportrait vorstellt, zeugt zwar von der mittlerweile erheblichen lebensweltlichen Bedeutung der Photographie, ist aber kaum ausreichend, um von ihm ausgehend eine Textinterpretation zu unternehmen.9

Diese These ist jedoch anzweifelbar, zumal auch die Feststellung, dass der Sachverhalt in L’Adultera anders liegt – nicht Rubehn schickt seine Photographie, sondern van der Straaten lässt sie sich von einem Dritten ohne Wissen Rubehns zusenden, was für die Interpretation durchaus einen Un_____________ 5 6 7 8

9

Stiegler, Philologie des Auges, S. 396. Vgl. Brinkmann, Der angehaltene Moment. Ebd., S. 435. In manchen Arbeiten, die sich hauptsächlich mit anderen Thematiken befassen, finden sich höchstens als Fußnote oder innerhalb eines Absatzes kurze Erwähnungen der Photographien (vgl. Brunner, ›Effi Briest‹ von Theodor Fontane, S. 153; Sehen und Erkennen, S. 424; ›Man will die Hände des Puppenspielers nicht sehen‹, S. 42; Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹, S. 132f). Stiegler, Philologie des Auges, S. 216; vgl. a. Krauss, Photographie und Literatur, S. 139ff.

5.1. »Cécile«

181

terschied macht10 – für eine wenig gründliche Auseinandersetzung mit den Texten spricht. Wie Phillip Frank nach dem bekannten Zitat aus Frau Jenny Treibel über die Wichtigkeit des Nebensächlichen – als welches die Photographie in Fontanes Werk von Bernd Stiegler abgetan wird – schreibt, »besitzt diese Aussage in vielen Fällen auch für das Technikthema Gültigkeit, denn deren Bedeutung ist in den einzelnen Werken oft umso weitreichender, je unauffälliger ihre Erscheinung ausfällt«.11 Die zumindest zum Teil dem Bereich der Technik zuzuordnende Photographie verdient damit zumindest eine genauere Untersuchung, bevor ihr jegliche Bedeutung abgesprochen wird. Daher werden im Folgenden neben den Gemälden insbesondere die in den Texten vorkommenden Photographien auf ihre Funktion im Textzusammenhang sowie für die Charakterisierung der Abgebildeten und der Bildbetrachter untersucht. Schließlich soll das Verhältnis zwischen Bild und Text betrachtet werden, das vor allem anhand der engen Verbindung der Photographien mit Schriftstücken deutlich wird, und sich zudem an der Entstehung von Geschichten aus Bildern zeigt, wie sie aus den Wanderungen bekannt ist.

5.1. »Cécile« Cécile gilt als der Roman Fontanes, der sich am intensivsten mit visueller Wahrnehmung und Beobachtung auseinandersetzt: »Cécile ist [...] ein Roman, der sich konsequent mit dem Thema Optik befaßt«.12 Des Themas haben sich daher bereits einige Forscher von verschiedenen Ansatzpunkten her angenommen. Eda Sagarra betont vor allem die Verfälschung des Gesehenen durch die Voreingenommenheit des Betrachters Gordon.13 Sascha Kiefer untersucht den Bezug des Romans zur Theorie des poetischen Realismus, die das Thema der Subjektivität von Wahrnehmung mit weniger Problembewusstsein behandle.14 Bettina Plett betrachtet das Werk als »Roman über das Problem der Versprachlichung von

_____________ 10 11 12 13 14

Vgl. Kapitel 5, Fußnote 429. Frank, Theodor Fontane und die Technik, S. 15. Daragh Downes, ›Cécile‹. Roman. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 568; vgl. a. Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹, S. 126. Vgl. Eda Sagarra, Kommunikationsrevolution und Bewußtseinsänderung. Zu einem unterschwelligen Thema bei Theodor Fontane. In: Wolzogen und Nürnberger, Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts, Bd. 3, S. 112. Vgl. Kiefer, Der determinierte Beobachter, S. 180.

182

5. Analyse der Romane

Betrachtung«,15 womit sie auf die Beziehung zwischen Text und Bild verweist. Sie macht zudem darauf aufmerksam, dass die vorkommenden Bilder in Beziehung »zu anderen Genres von Bild und Bildlichkeit«16 gesetzt werden müssen, um sie in ihrer gesamten Bedeutung zu erfassen, ohne allerdings das Genre Photographie zu berücksichtigen. Hubertus Fischer schließlich geht verstärkt auf das Bildhafte des Textes ein und legt an mehreren Beispielen dar, dass Fontane für bestimmte Passagen Gemälde als Vorlage gedient haben.17 Neben der Bedeutung der Wahrnehmung wurde auch die der Gemälde für den Roman anerkannt. Hiltrud Bontrup thematisiert, wie in Cécile durch »Elemente der Kunst – Bilder, Bildergespräche, Imaginationen etc.«18 veranschaulicht wird, wie Figuren entgegen den Projektionen und Typisierungen durch andere versuchen, sich ein eigenes Selbstbild zu konstituieren. »Bildprojektion und -produktion« stellten in diesem Roman »– mehr als in anderen Texten Fontanes – selbst ein zentrales Thema dar« und dienten neben »der Inszenierung von Machtverhältnissen [...] zur Reflexion künstlerischen Schaffens«, wobei sie »eng verknüpft mit den Themen Krankheit und Tod« seien.19 Im folgenden Kapitel soll unter Rückgriff auf die bei der Analyse der Wanderungen gewonnenen Erkenntnisse herausgearbeitet werden, welche Wahrnehmungs- und Beschreibungsweisen im Text vorkommen. Weiter werden die Zuordnung bestimmter Sehgewohnheiten zu den Figuren und die sich daraus ergebenden Rückschlüsse auf deren Charakter behandelt. Im Zentrum der Untersuchung stehen der vom militärisch-panoramatischen Herrschaftsblick geprägte St. Arnaud, die ›blinde‹ Cécile, der mit photographieanaloger Sichtweise ausgestattete Beobachter Gordon und die einfühlsame Beobachterin und Malerin Rosa Hexel. In Cécile verfolgt Fontane »die Dominanz des Gesichtssinns in den sinnlichen Relationen zwischen Mensch und Mensch erzählerisch«,20 so dass es sich anbietet, durch die Blicke der Figuren Aufschluss über ihre Beziehungen zueinander und gegenseitigen Einschätzungen zu erlangen. Wie Fontane die Subjektivität und Begrenztheit von Wahrnehmung, die u.a. auf der unreflektierten Fehlinterpretation visueller Zeichen und der Gleichsetzung der eigenen Auslegung mit der äußeren Realität beruht, als Hauptthema _____________ 15 16 17 18 19 20

Bettina Plett, Rahmen ohne Spiegel. Das Problem des Betrachters bei einem ›Mangel an Sehenswürdigkeiten‹ in Fontanes ›Cécile‹. In: Sabina Becker (Hrsg), ›Weiber weiblich, Männer männlich‹? Zum Geschlechterdiskurs in Theodor Fontanes Romanen, Tübingen 2005, S. 160. Ebd., S. 163. Vgl. Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹. Hiltrud Bontrup, ›…auch nur ein Bild‹. Krankheit und Tod in ausgewählten Texten Theodor Fontanes, Hamburg 2000, S. 112. Ebd., S. 113. Brüggemann, Das andere Fenster, S. 208.

5.1. »Cécile«

183

des Romans gestaltet und welcher Art die wahrnehmungsverändernden Einflüsse sind, wird unter anderem an den Nebenfiguren der beiden Berliner dargestellt. Schließlich soll die Funktion der Photographie Clothildes analysiert werden, zum einen in Verbindung mit ihrem Brief für die Interpretation der Handlung, zum anderen als Mittel der Figurencharakterisierung. Auch weitere Bildarten – mentale Bilder in den Köpfen der Figuren, Porträtgemälde und das nicht vorhandene Spiegelbild Céciles – werden behandelt, wobei auch das Verhältnis zwischen Bild und Text beleuchtet wird. 5.1.1. Figurenspezifische Arten der visuellen Wahrnehmung Die in den Wanderungen festgestellten Formen der Wahrnehmung finden sich auch in Cécile wieder. Dabei verhalten sich die einzelnen Figuren auf je eigene Art zu den verschiedenen Wahrnehmungsarten, wobei ihnen meist eine als typisch zugeschrieben wird, die ihre unterschiedlichen Sehgewohnheiten und Erkenntnisfähigkeit symbolisiert, denn »[d]er ›Erzähler‹ mißt den Perspektiven der Einzelfiguren ein unterschiedliches Recht zu«.21 Gleich im ersten Kapitel begegnet man dem bewegten Bild im Blick aus dem Fenster des fahrenden Zuges, den Brinkmann sogar als besonders deutliches Beispiel für diese Beschreibungsart bei Fontane anführt. Dabei verwendet Brinkmann die von anderen Seiten her häufig zu ähnlichen Passagen in den Wanderungen geäußerten Vergleiche mit dem Film und der Camera obscura: »Die Camera obscura oder Laterna magica bewegt sich fort, und was vorbeizieht ist wie ein Film vor der Erfindung des Films, in Bewegung geratenes Panorama. Man muß die lange Passage am Anfang von Cécile nachlesen«.22 Auch hier schildert Fontane den Blick aus dem fahrenden Zug so, als ändere sich das Gesehene, nicht der Standort des Betrachters: Cécile »sah in die Landschaft hinaus, die beständig wechselte: Saaten und Obstgärten und dann wieder weite Heidestriche« (CE, S. 315f). Die Verdichtung des Gesehenen durch die für damalige Verhältnisse sehr schnelle Fahrt sowie die Vielfalt des sich im Auge des Betrachters verändernden Bildes spielen ebenfalls die aus den Wanderungen bekannte Rolle: [I]n immer rascherem Fluge ging es erst an Brandenburg und seiner Sankt-Godehards-Kirche, dann an Magdeburg und seinem Dome vorüber. [...] Das Land, das man passierte, wurde mehr und mehr ein Gartenland, und wie sonst Kornstreifen

_____________ 21 22

Helmut Kreuzer, Zur Erzähltechnik in Fontanes ›Cécile‹. In: Ders., Aufklärung über Literatur. Gesammelte Aufsätze, Bd. II: Autoren und Texte, Heidelberg 1993, S. 128. Brinkmann, Der angehaltene Moment, S. 444.

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5. Analyse der Romane

sich über den Ackergrund ziehen, zogen sich hier Blumenbeete durch die weite Gemarkung. (CE, S. 317)

Wie in den Wanderungen begegnet dem Leser auch hier die Verwandlung des Raumes in ein Tableau oder eine panoramatische Bilderfolge, die er [der Reisende, in diesem Fall also Cécile und St. Arnaud, N.H.] durch die Apparatur, das maschinelle Ensemble hindurch wahrnimmt.23

So entsteht zugleich eine Verknüpfung des Sehens mit der Technik, eine durch die technische Errungenschaft der Eisenbahn möglich gewordene neue Wahrnehmungsweise. Damit nimmt dieser Blick durch das Zugfenster mehrere Aspekte des Sehens und der Wahrnehmung vorweg, die im weiteren Verlauf des Romans von Bedeutung werden: Zum einen die Subjektivität der Wahrnehmung, die falsche Eindrücke der Wirklichkeit vermitteln kann – so dass das Gesehene sich bewege, nicht der Betrachter – zum anderen ein durch die Technik geprägtes, neues Sehen – das später bei Gordon, dessen Sehweise durch die Photographie geprägt ist, wieder begegnen wird, wie Kapitel 5.1.1.3. nachweisen wird. Zudem wird das Sehen durch die häufige Betonung in dieser Szene – ein »Einblick« wird möglich, Objekte werden »sichtbar« oder »ersch[ei]nen« (CE, S. 314) – gleich zu Beginn als zentrales Thema des Romans etabliert, auch dadurch, dass Cécile auf Gesehenes zeigt oder St. Arnaud sie wiederholt auf das von ihm Erblickte hinweist (vgl. CE, S. 315, 317). Objekt des Sehens ist hier allerdings nicht wie in den Wanderungen nur die Landschaft, sondern vor allem die Stadt und der »Einblick in die Rückfronten der Häuser und ihre meist offenstehenden Schlafstubenfenster« (CE, S. 314). Der Öffentlichkeit wird so Einblick in die Privatsphäre gewährt, womit ein weiteres Thema des Romans anklingt, der Blick, der von außen in die verborgenen Geheimnisse eines Menschen einzudringen versucht. St. Arnaud nutzt den Blick aus dem Abteilfenster zusammen mit seiner Karte zur »Orientierung« (CE, S. 314), während Cécile sich auf ihrem Platz zurücklehnt und den sich bietenden Ansichten kaum Aufmerksamkeit schenkt. Entweder sie schließt ihre Augen oder blickt nur abwesend in »apathische[m] Träumen« (CE, S. 316) hinaus, ohne wirklich etwas zu sehen oder es gar zu genießen. Damit zählt sie zu »all jene[n] Angehörigen des 19. Jahrhunderts, [...] die nicht fähig sind, eine dem neuen Transport entsprechende Wahrnehmung zu entwickeln. Stumpfsinn und Langeweile ist die Reaktion«.24 Durch dieses unterschiedliche Interesse am Blick aus dem Zug wird das Paar von Beginn des Romans an _____________ 23 24

Brüggemann, Das andere Fenster, S. 209. Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 56.

5.1. »Cécile«

185

in erster Linie durch seine unterschiedliche Art des Sehens und des Blicks charakterisiert. [...] Zwischen dem stechenden Blick der Männerfigur und dem apathischen, matten, an nichts Konkretem haftenden Blick der Frauenfigur wird [...] ein Antagonismus aufgebaut.25

Als zweite Wahrnehmungsform der Wanderungen ist auch der Panoramablick in Cécile häufig anzutreffen, mit den gleichen Hinzufügungen des ›Malerischen‹ oder Bildhaften, zu dem sich die als Einheit wahrgenommene Landschaft fügt, und ebenfalls oft als ›Bild‹ bezeichnet: Vom Balkon des Hotels aus sehen Besucher ein »vor ihnen ausgebreitete[s] Landschaftsbild« (CE, S. 317) und Cécile erfreut sich »an dem ihr zu Füßen liegenden Bilde« (CE, S. 318). Die »Landschaft [...] erscheint [gegliedert] nach Vorder- und Hintergrund, rechts und links, Nähe und Ferne« und zeichnet sich durch ihren »Bildcharakter«26 aus. Wie in den Wanderungen scheinen Objekte extra so angeordnet worden zu sein, dass sie eine gute, bildanaloge Ansicht ermöglichen – etwa »gruppenweis, von ersichtlich geschickter Hand, in dies Grün hineingestellt[e]« Bäume – und auch hier »drängten sich allerlei Ziersträucher zusammen«, womit die Zusammenschau als typisches Merkmal des Panoramablicks gegeben ist (CE, S. 318). Die Figuren suchen extra Orte wegen des dort möglichen Panoramablicks auf, wie etwa die Roßtrappe – beziehungsweise das gleichnamige Hotel –, einen »bevorzugten Aussichtspunkt[…]« (CE, S. 331), dessen »Weitblick« (CE, S. 332) Rosa betont, während St. Arnaud ihn mit den Worten anpreist: »[D]er Blick ist schön, und man sieht meilenweit in die Ferne« (CE, S. 319). In Altenbrack lässt sich St. Arnaud das »Aussichtstempelchen« (CE, S. 404) zeigen und sieht »in die Landschaft hinaus«, auf das »ihnen unmittelbar zu Füßen liegende Bild« (CE, S. 404). Sogar der Esstisch wird »der bessern Aussicht halber« (CE, S. 406) umplatziert. An anderen Stellen sitzen Cécile und St. Arnaud auf einer Bank und betrachten die vor ihnen »ausgebreitete Landschaft [...] [,] ein Bild voll eigenen Reizes« (CE, S. 301; vgl. a. CE, S. 364). Untersucht man diese Orientierung und Übersicht gebenden Panoramablicke auf Maite Zubiaurres These hin, die »[p]anoramic vision as a predominantly male chronotope in realist fiction«27 bezeichnet, so fällt auf, dass es in der Tat hauptsächlich St. Arnaud – Näheres zu dessen Vorliebe für Panoramablicke in Kapitel 5.1.1.1. – und nach ihm Gordon sind, die diese Aussicht suchen. Cécile dagegen, die schon den Blick aus dem Zug nicht schätzte, bringt – in Verstärkung des Kontrastes zwischen ihrer Sehweise und derjenigen St. Arnauds – auch für Panoramaansichten kein _____________ 25 26 27

Bontrup, ›…auch nur ein Bild‹, S. 115. Hubert Ohl, Bilder, die die Kunst stellt. Die Landschaftsdarstellung in den Romanen Theodor Fontanes. In: Wolfgang Preisendanz (Hrsg.), Theodor Fontane, Darmstadt 1973, S. 451. Zubiaurre, Panoramic Views, S. 253.

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5. Analyse der Romane

großes Interesse auf (vgl. CE, S. 318f). Als sie doch einmal einen »Blick auf das Gebirge [...] [und] die weiten Gartenanlagen hatte, die sich, im Halbkreis, um die Schloßfundamente herumzogen« (CE, S. 353), nutzt sie diesen nicht, sondern fixiert nur ein Hundegrab in ihrer Nähe. Rosa hingegen zeigt sich begeistert von Panoramaansichten – sie äußert: »Weitblicke machen einem die Seele weit und sind recht eigentlich meine Passion in Natur und Kunst« (CE, S. 332). Sie wird jedoch vom Text als emanzipierte Frau ohne erotischen Reiz präsentiert und ist damit – im Gegensatz zu Cécile – keine Repräsentantin damals als typisch weiblich empfundener Eigenschaften. Zubiaurres These scheint dementsprechend für Cécile zuzutreffen. Die »Weitblicke« liebende Rosa erklärt der Text zur »sympathischen und unabhängigen Beobachterin«,28 die »nie genug hören oder sehen konnte« (CE, S. 344), so dass sich bei ihr die »Fähigkeit zur weiten und freien Sicht [...] mit der Gabe [verbindet], die Dinge der Umwelt, speziell der zwischenmenschlichen Beziehungen, genau und kritisch zu sehen«.29 In ihrer Sehweise auf die Natur spiegeln sich so ihre generelle Wahrnehmungs- und Reflexionsfähigkeit, wie in Kapitel 5.1.1.4. ausführlich dargelegt wird. Gordon dagegen wird von seinem Vorhaben, »des freien Umblicks vom Plateau her voll zu genießen« (CE, S. 385) schnell durch den Blick auf den direkt neben ihm stehenden Eseljungen abgehalten. Schon zuvor wandert bei seinen ersten Beobachtungen Céciles sein Auge vom fernen Gebirge schnell in seine Nähe zurück: »Zuletzt ruhte sein Blick auf dem Vordergrund« (CE, S. 321). Dies ist bezeichnend für sein Interesse am Detail und dafür, dass sein Blick eher in der Nähe verweilt als in die Ferne zu schweifen und die damit verbundene Übersicht und Erkenntnis des Ganzen, das heißt größerer Zusammenhänge, zu erlangen. Dass dieses Zurückschweifen des Blicks aus der Ferne in die Nähe gleich zu Beginn seiner Beobachtungen Céciles beschrieben wird, kann als Zeichen dafür gelesen werden, dass ihm die Fähigkeit zu Weitblicken vor allem in Bezug auf die Protagonistin fehlt. Was Zubiaurre für die Figur Don Francisco feststellt, trifft auch auf Gordon zu: Seine »fixation with minute details [...] tragically keeps him from seeing reality«.30 Wenn er dennoch die »Betrachtung aus der Vogelperspektive« (CE, S. 427) bisweilen erlangt, so ist sie nicht mit einem umfassenden Rundblick verbunden, sondern erfolgt ausschnitthaft durch ein Fenster. Näher eingegangen wird auf die _____________ 28 29 30

Eda Sagarra, Vorurteil im Fontaneschen Erzählwerk. Zur Frage der falschen Optik in ›Cécile‹. In: Roland Berbig (Hrsg.), Theodorus victor. Theodor Fontane, der Schriftsteller des 19. am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine Sammlung von Beiträgen, Frankfurt am Main/New York 1999, S. 122. Schwan, Die Zwiesprache mit Bildern, S. 177. Zubiaurre, Panoramic Views, S. 260f.

5.1. »Cécile«

187

Verbindung der Sehweisen Gordons mit seiner generellen Welt- und Personenwahrnehmung in Kapitel 5.1.1.3. Schließlich begegnet auch die Form des ausschnitthaften Sehens der Wanderungen als »a common practice in realist fiction”31 in Cécile wieder, vor allem bei Gordon, dessen Beobachtungsweise Phillip Frank dementsprechend als »mikroskopisch ausschnitthaft«32 bezeichnet. Frank stellt fest: »Schon die erste nähere Beschäftigung [Gordons, N.H.] mit dem St. Arnaudschen Paar erfolgt durch die Rahmung [...] einer Hecke [...]. Beim nächsten Mal ist die Sehanordnung ähnlich, nur ist es diesmal das rahmende Grün eines Blumenstraußes«.33 Gordon schlägt dieser Vorliebe für eine ausschnitthafte oder gerahmte Blickweise entsprechend auch einen Wanderweg aus dem Grund vor, weil dieser »die schönsten Durchblicke« (CE, S. 329) biete. Auch der aus den Wanderungen bekannte und für Fontane typische Blick auf von Bäumen verdeckte Objekte liegt vor, etwa auf einen »Hausgiebel [...], der in geringer Entfernung aus einer Baumgruppe hervorragte« (CE, S. 365) oder ein – von Gordon wahrgenommenes – Denkmal, das »zwischen den Bäumen« »blitzt« (CE, S. 428). Vor allem aber kommen gerahmte Blicke in Form von Fensterblicken vor, welche mehrere Figuren tätigen, auch hier allen voran Gordon, der – vor allem in der zweiten Hälfte des Romans – häufig an ein Fenster tritt und durch es hindurch nach draußen blickt, während er seinen Gedanken nachgeht (vgl. CE, S. 358, 418, 421, 427f, 457, 476). Dieser Wahrnehmung in Ausschnitten, die ihn vor den anderen Figuren auszeichnet, entspricht sein nur bruchstückhaftes Sehen der Wirklichkeit, das vor allem für seine Wahrnehmung Céciles von Bedeutung ist. Im Gegensatz zum Privatgelehrten Eginhard Aus dem Grunde hütet Gordon sich gerade nicht »vor Zersplitterung und einer damit zusammenhängenden Oberflächlichkeit« (CE, S. 387) sondern verliert sich im Detail. Der Blick durch Fenster in ein Haus hinein liegt ebenfalls vor, als »Berührung mit Räumen, denen ein vergangenes Geschehen gleichsam noch innewohnt, aus denen ein vergangenes Geschehen in Zeichen und Bildern spricht«.34 Ähnlich wie in den Wanderungen wird dieser Fensterblick ins Innere neben der Vergangenheit auch mit dem Tod verbunden: Gordon und Cécile blicken in eines von drei »todstill« daliegenden Häusern des Ortes Todtenrode: Keine Gardine war da, kein Vorhang, überhaupt nichts, was auf Bewohnerschaft hätte deuten können, und doch war unverkennbar, daß dies Haus in der Öde sehr

_____________ 31 32 33 34

Zubiaurre, Panoramic Views, S. 254. Frank, Theodor Fontane und die Technik, S. 193. Ebd., S. 193. Brüggemann, Das andere Fenster, S. 214.

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5. Analyse der Romane

bewegte Tage gesehen haben mußte. Polsterbänke zogen sich um panelierte Wände, dazu Schenktisch und schwere Stühle. (CE, S. 394)

Wahrgenommen wird ein verlassenes Zimmer, das noch Reste des ehemals dort stattgefundenen Lebens zeigt, ebenso wie beim Betsaal der Wanderungen.35 Dasselbe unheimliche Gefühl überkommt auch hier die Betrachter: In Gordons Erinnerung tauchen »die gespenstischen Fenster« (CE, S. 465) auf. Schon an einer früheren Textstelle wird der Blick von außen auf ein Fenster (allerdings nicht durch es hindurch) mit dem Tod verbunden, wenn Gordon erzählt: »Es geht ein finsterer Geist durch dieses Haus, und sein letzter Bewohner erschoß sich hier, an dem Fenster da« (CE, S. 331). In beiden Fällen weist Gordon als erster auf diese Fenster hin, wodurch er mehr als die anderen Figuren mit dem Tod in Verbindung gebracht wird. Die Fensterblicke lassen sich als Vorausdeutung auf seinen eigenen Tod sowie auf den durch ihn mitbewirkten Selbstmord Céciles lesen, denn im obigen Zitat schauen beide zusammen durch das Fenster. Dieser gemeinsame Blick kann zudem als Vorausdeutung auf das sich zwischen beiden entwickelnde Verlangen, mehr als nur Blicke zu teilen, gelesen werden. Zugleich wird der Blick durch ein Fenster in einen Raum hinein mit dem Blick ins Innere einer Figur assoziiert,36 da er im übertragenen Sinn eine Verbindung zwischen Innen- und Außenwelt herstellt. Damit symbolisieren diese Fensterblicke Gordons seine Versuche, von außen in Céciles Inneres zu sehen und ihr Geheimnis durch seine Beobachtungen zu ergründen. Aufschlussreich ist auch die Reaktion der anderen Figuren auf Gordons Hinweis über den Selbstmord des ehemaligen Bewohners am Fenster: »Cécile zählte nur die Maschen des vor ihr ausgespannten Drahtgitters, während der Oberst sein Lorgnon nahm und die Fenster mit einer Art ruhiger Neugier musterte« (CE, S. 331). Wieder ist Cécile nicht am Blick in die Ferne interessiert, sondern betrachtet abwesend in der Nähe Befindliches, während St. Arnaud sich ähnlich wie Gordon als Beobachter zeigt, der extra ein optisches Hilfsmittel zur Hand nimmt. Eine Untersuchung der Beschreibungen in Cécile auf photographietypische Wahrnehmungsweisen ergibt, dass vor allem die Wahrnehmungen Gordons häufig neben der behandelten Ausschnitthaftigkeit auch die anderen bisher erarbeiteten Kriterien erfüllen. Vor allem der Detailreichtum fällt auf, etwa wenn Gordon sich daran freut, »wie sich das Sonnenlicht in den Tropfen brach« (CE, S. 428) oder an folgendem Beispiel (vgl. a. CE, S. 429): _____________ 35 36

Vgl. Kapitel 4.2.3. der vorliegenden Arbeit. Vgl. Brüggemann, Das andere Fenster, S. 214.

5.1. »Cécile«

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[E]r erschrak fast, als er in sein Wohnzimmer trat und sich hier umsah [...]: Wäsche, zerstreut über die Stühle hin, Überzieher und Fracks an Schrankecken und Fensterriegel gehängt, und der Koffer selbst halb aufgeklappt zwischen Tür und Ofen. Am buntesten aber sah es auf dem Sofatisch aus, wo Nagelscheren und Haarbürsten, Eau-de-Cologne-Flaschen und Krawatten ein Chaos bildeten, aus dessen Zentrum ein rotes Fez und als Überraschung ein Markt-Astern-Bouquet aufragte, das die Wirtin [...] in eine blaue Glasvase mit Silberrand hineingestellt hatte. Nirgends ein Zollbreit Platz. (CE, S. 427)

Zugleich finden sich hier auch die weiteren Kriterien: der Schärfenbereich – da jede Kleinigkeit gleich scharf wahrgenommen wird – ebenso wie die Beschränkung auf das Sehen und die Immobilisierung. Weniger deutlich wird der privilegierte Beobachterstandpunkt, immerhin aber erfolgt die Wahrnehmung von einer festgelegten Stelle aus. Die meisten Beschreibungen in Cécile zeichnen sich vor allem durch Immobilisierung und Beschränkung auf das Sehen aus, wie etwa folgende: [S]ie [...] hielten vor einer von einem Plankenzaun eingefaßten und hoch in Gras stehenden Wiese, darauf nichts sichtbar war als, in einiger Entfernung, drei ziemlich gleich aussehende Häuschen, die todstill und wie verwunschen in der grellen Mittagssonne dalagen. Keine Grille zirpte, kein Rauch stieg auf; um den Zaun herum aber ging in weitem Bogen der Weg, anstatt die Wiese kurz und knapp zu durchschneiden. (CE, S. 393)

Häufig treten nach Abschluss solcher Beschreibungen Bewegung oder weitere Sinneseindrücke wie das Hören hinzu, so dass der Textfluss erst völlig unterbrochen und ein starres Bild geschaffen wird, das sich dann langsam belebt, woraufhin die Handlung wieder aufgenommen wird: Zuletzt ruhte sein Blick auf dem Vordergrund und verfolgte hier die Kieswege, die sich, in abwechselnd breiten und schmalen Schlängellinien, durch die Parkwiese hinzogen. Eins der Bosquets, das dem Sonnenbrand am meisten ausgesetzt war, zeigte viel Gelb, und er sah eben scharf hin, um sich zu vergewissern, ob es gelbe Blüten oder nur von der Sonne verbrannte Blätter seien, als er aus eben diesem Bosquet die Gestalten des St. Arnaudschen Paares hervortreten sah. (CE, S. 321) Und wirklich, es war ein Bild voll eigenen Reizes./ Der Abhang, an dem sie saßen, lief, in allmählicher Schrägung, bis an die durch Wärterbuden und Schlagbäume markierte Bahn, an deren anderer Seite die roten Dächer des Dorfes auftauchten, nur hier und da von hohen Pappeln überragt. Aber noch anmutiger war das, was diesseits lag: eine Doppelreihe blühender Hagerosenbüsche, die zwischen einem unmittelbar vor ihnen sich ausdehnenden Kleefeld und zwei nach links und rechts hin gelegenen Kornbreiten die Grenze zogen. Von dem Treiben in der Dorfgasse sah man nichts, aber die Brise trug jeden Ton herüber, und so hörte man denn abwechselnd die Wagen, die die Bodebrücke passierten, und dann wieder das Stampfen einer benachbarten Schneidemühle. (CE, S. 381)

Wie in den Wanderungen kann man somit bei Cécile von einer gegenseitigen Durchdringung von Text und Bild sprechen, da der Text immer wieder

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5. Analyse der Romane

Bilder entstehen lässt, die dann in den chronologisch fortschreitenden Text der Handlung übergehen. 5.1.1.1. Der kontrollierend überschauende St. Arnaud St. Arnauds Blickweise ist gekennzeichnet durch seine besonders starke Affinität zu Panoramablicken, die dadurch betont wird, dass er als einziger extra das »Aussichtstempelchen« (CE, S. 404) aufsucht. In der Art und Weise, wie er dann seine Begeisterung von der Aussicht dem dort wohnhaften Präzeptor gegenüber formuliert, zeigt sich, welche Aspekte ihn besonders für die panoramatische Sehweise einnehmen: »Beneidenswerter, Sie [...] [,] König Polykrates auf seines Daches Zinnen« (CE, S. 404). Neben dem Streben nach Übersicht und Orientierung verbindet St. Arnaud diese Blickweise also mit dem Eindruck, das Überschaute zu beherrschen oder zu besitzen. Der Text spricht dementsprechend von ihm als »dem Manne der Determiniertheiten«, und stellt fest: »Gefürchtet zu sein, einzuschüchtern, die Superiorität, die der Mut gibt, in jedem Augenblick fühlbar zu machen, das war recht eigentlich seine Passion« (CE, S. 490). Die Verbindung dieses Herrschaftsgefühls mit dem Sehen wurde im 19. Jahrhundert durch die Einrichtung des Panoramas hervorgerufen, das dieses Erlebnis des tatsächlichen Betrachtens der Landschaft von einem erhöhten Punkt aus simuliert: »Es lässt sich leicht vorstellen, daß der Besucher des Panoramas, wenn er von der erhöhten Plattform herabblickte, sich dem Eindruck hingeben konnte, die dargestellte Wirklichkeit zu beherrschen«.37 Zudem muss speziell beim Oberst a. D. die militärische Komponente des Panoramablicks mitbedacht werden, die sich umso mehr aufdrängt, als die durchgängige metaphorische Verwendung von Militärbegriffen im Roman38 stets auf diesen Hintergrund St. Arnauds verweist. In der Kriegstechnik Napoleons – die rasch durch die Preußen übernommen wurde – war der panoramatische Blick ein zentraler Bestandteil der stragetischen Kriegsplanung und -führung,39 wie sie dem ehemals als Kriegsberichterstatter tätigen Fontane bestens bekannt waren. Er gestattete den Überblick über einen weiten Kriegsschauplatz und die genaue Einschätzung der feindlichen Truppen, auf die dann flexibel reagiert werden konnte, wobei der planende Beobachter mit dem »Vorteil _____________ 37 38

39

Buddemeier, Panorama, Diorama, Photographie, S. 24. Gordon entwirft einen »Schlachplan« (CE, S. 347) zur Besichtigung Quedlinburgs; Cécile sucht eine »Hülfstruppe« (CE, S. 379), um dem Vortrag des Privatgelehrten zu entrinnen; nach Altenbrak macht man »den Marsch in zwei Kolonnen« (CE, S. 383) (vgl. a. Osborne, Theodor Fontane. Vor den Romanen, S. 158). Vgl. Köhnen, Das optische Wissen, S. 294f.

5.1. »Cécile«

191

der unsichtbaren eigenen Organisation bei gleichzeitiger Beobachtung der feindlichen Truppen«40 eine Macht- und Überlegenheitsposition innehatte. Dass St. Arnauds Blick ein solcher militärisch geprägter ›Herrschaftsblick‹ ist, zeigt sich auch an Céciles Bemerkung: »In Thale waren wir unter deinen Augen« (CE, S. 489), die zum Ausdruck bringt, wie er mit seinem Blick die Beziehung zwischen seiner Ehefrau und Gordon kontrolliert hat. Zusätzlich hervorgehoben wird dieses Verlangen St. Arnauds nach Übersicht und Beherrschung des Gesehenen dadurch, dass er »die Kartenpassion« (CE, S. 368) hat, denn Karten ermöglichen – wie Photographien – die »optische[...] Inbesitznahme der Welt«,41 indem sie sie in verkleinertem Maßstab abbilden und als Bild transportierbar machen. Auch hier liegt die Assoziation mit dem Militär und der dortigen Nutzung von Karten zur strategischen Planung von Feldzügen nahe, wo das abgebildete Gebiet im Anschluss an die Planung mithilfe der Karte tatsächlich erobert und unterworfen werden soll. Schon im ersten Kapitel beginnt er während der Bahnfahrt, zur »Orientierung« »eine mit dicken Strichen gezeichnete Karte zu studieren, die die Bahnlinien in der unmittelbaren Umgebung Berlins ang[ibt]« (CE, S. 314). Später hat er vor, »sich in eine Harz-Karte zu vertiefen, Cécile dagegen wollte ruhen« (CE, S. 369), oder er bietet mit den Worten: »Du wirst nicht orientiert sein« (CE, S. 367) an, seiner Frau etwas auf der Karte zu zeigen. Indem sie dies ablehnt, wird nochmals – vgl. die Ausführungen im vorangegangenen Kapitel zum Blick aus dem Zugfenster und dem Panoramablick – ihr Desinteresse an solchen Überblicken seinem Eifer kontrastierend gegenübergestellt. Ähnlich wie die in Panoramablicken oder auf Karten erfasste Landschaft St. Arnaud beherrschbar erscheint, glaubt er, einen Überblick über Céciles Vergangenheit und Persönlichkeit zu haben und fasst sie hauptsächlich als seinen Besitz auf. Dies zeigt sich beispielsweise, wenn er von Gordons Zudringlichkeiten erfährt und betont, die an Cécile begangene Beleidigung träfe vor allem ihn, und seine Konsequenzen dementsprechend ohne Rücksicht auf Cécile zieht (vgl. CE, S. 489ff).42 Er setzt sich nur wenig mit ihr auseinander und macht sie stattdessen zeitweise zum (kontrollierbaren) Objekt seiner Blicke. Zugleich symbolisiert die Assoziation mit Karten ein weiteres Merkmal seiner generellen Weltwahrnehmung sowie auch speziell derjenigen Céciles: Ebenso wie Karten die Realität nur vereinfacht und schematisiert abbilden und Einzelheiten beim Panoramablick durch die Entfernung oder beim Blick aus dem fahrenden Zug durch die Bewegung _____________ 40 41 42

Ebd., S. 295. Hämmerle, Schattenriss, S. 138. Laut dem Gesetz des wilhelminischen Kaiserreichs galt tatsächlich »die Frau als das Eigentum des Ehemannes” (Sabina Becker, ›Wiederhergestellte‹ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit. Theodor Fontanes Roman ›L’Adultera‹. In: Dies., ›Weiber weiblich, Männer männlich‹?, S. 134).

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5. Analyse der Romane

verschwimmen (vgl. die Ausführungen dazu im vorigen Kapitel), nimmt auch er seine Umwelt nur reduziert und in groben Umrissen wahr. Insbesondere seine Ehefrau kann er nicht als individuelle Persönlichkeit sehen und wertschätzen, sondern typisiert sie als schutzbedürftige, schwache und nervenkranke Frau, was auch sie selbst kritisch bemerkt (vgl. CE, S. 340, 342): ›Werden auch deine Nerven ausreichen?‹ fragte der Oberst, ›oder nehmen wir lieber einen Tragstuhl? [...]‹/ Der schönen Frau blasses Gesicht wurde rot, und Gordon sah deutlich, daß es sie peinlich berührte, den Schwächezustand ihres Körpers mit solchem Lokaldetail behandelt zu sehen. Sie begriff St. Arnaud nicht, er war sonst so diskret. (CE, S. 340) ›St. Arnaud, müssen Sie wissen, macht sich gelegentlich interessant mit meinen Nerven, was er besser mir selber überließe. [...]‹ (CE, S. 342)

Neben dem Streben nach Orientierung und Herrschaft sowie der Schematisierung spiegelt sich in seinen Sichtweisen auch seine distanzierte Haltung gegenüber dem Betrachteten, denn im Kartenstudium lässt der Betrachter nicht mehr die Natur selbst auf sich wirken, sondern nur noch abstrakte Abbildungen, während im Panoramablick die Landschaft in die räumliche Ferne rückt. Dadurch verlieren sich Einzelheiten und treten nicht mehr deutlich und nah an den Betrachter heran, sondern verschwimmen zu einem ästhetisch konsumierbaren Gesamteindruck. Gerade bei der militärischen Nutzung tritt diese distanzierende Funktion besonders hervor, denn der beobachtende Feldherr ist dem eigentlichen Schlachtgeschehen an seinem sicheren Ort entrückt und in der Betrachtung des »Kriegstheaters«43 nicht am Leiden des einzelnen Kämpfers interessiert, sondern an der Schlacht als ganzes, als strategische Operation. Das Probematische einer solch distanzierten, reinen Beobachterhaltung dem Kampfgeschehen gegenüber thematisiert Fontane in seinen Reflexionen über die eigene Situation als Kriegsberichterstatter, in der er erlebt, wie Kampfgräuel nurmehr als ästhetisch interessantes Schauspiel wahrgenommen werden.44 Ebenso schwer wiegt der Abstand, der den Oberst _____________ 43 44

Köhnen, Das optische Wissen, S. 295. Dabei unterscheidet sich Fontanes Position natürlich von derjenigen eines aus strategischen Gründen nicht nur beobachtenden, sondern auch danach handelnden und insofern stärker involvierten Militärs dadurch, dass er mehr auf den ästhetischen Reiz dieser wie in einem »Theater« rezipierten »große[n] Sehenswürdigkeit« ausgerichtet war: »[D]as in einem früheren Kapitel beschriebene Theater […], was war es neben diesem Amphitheater?!« (HFA III/4, S. 768); bei der Kriegsbeobachtung könne sich »selbst das Auge eines Laien […] an der Sicherheit der Bewegungen, an dem poetischen Schwunge der Linien« (Theodor Fontane, Wanderungen durch Frankreich. Erlebtes 1870–1871, hrsg. von Günter Jäckel, Berlin 1970, S. 400; zitiert in Köppen, Im Krieg, S. 61) erfreuen. Doch im Anschluss an den distanzierten ästhetischen Genuss bedenkt Fontane, was für eine schreckliche Bedeutung das Gesehene für die Kämpfenden selbst hat, wenn er, von einem auf einem »Plateau« er-

5.1. »Cécile«

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von Cécile trennt, über deren Geschichte er zwar informiert ist, um die er sich jedoch kaum kümmert, so dass keine emotionale Verbundenheit zwischen beiden entsteht. Sein auf sie gerichteter Blick enthält nicht allein »Aufmerksamkeit und Teilnahme«, sondern zusätzlich »Herbheit, Trotz und Eigenwillen« (CE, S. 315) und drückt damit wenig ernsthaftes Interesse an Cécile aus, noch tiefere Gefühle für sie oder die Bereitschaft, sich tatsächlich auf sie einzulassen. Der Text äußert dementsprechend Kritik an St. Arnauds Wahrnehmungsweise, indem der Erzähler sein Kartenstudium während der Bahnfahrt folgendermaßen kommentiert: »Er kam aber nicht weit mit seiner Orientierung«, und kurz danach »schien« er sich nur zurechtzufinden (CE, S. 314f). Seine Annahme, seine gesamte Umwelt kontrollierend überblicken zu können, stellt sich als Illusion heraus, denn ihm entgehen aufgrund seiner Distanziertheit Ereignisse aus seiner nächsten Umgebung bzw. deren Tragweite, wenn er das Ausmaß der Beziehung zwischen Gordon und Cécile verkennt. Angespielt auf diese mangelhafte Wahrnehmung wird auch in der Feststellung, dass er »einen kleinen Fehler am linken Auge« (CE, S. 314) habe. »[S]ein scharfer und beinah stechender Blick« (CE, S. 314), der von Gordon als »unheimlich« (CE, S. 363) empfunden wird und für Helmut Kreuzer ein Zeichen dafür ist, dass »von dem Obersten Gefahr ausgeht«45 – denn später wird er Gordon beim Duell töten – wird dadurch sogar »noch gesteigert« (CE, S. 314). Seine Reaktion, als er Kenntnis von Gordons Fehlverhalten erhält, wird demenstprechend in Verbindung mit seinen bedrohlich wirkenden Augen beschrieben: »Dabei schoß sein Auge heftige Blicke« (CE, S. 490), womit der Gordon im folgenden Duell treffende, tödliche Schuss vorweggenommen wird. Die Gefährlichkeit St. Arnauds hängt somit mit seiner Wahrnehmungsweise zusammen: Wäre diese weniger auf kontrollierende Distanz ausge_____________

45

richteten »Beobachtungsgerüst« aus hinabschauend (HFA III/4, S. 768) kommentiert: »Für den Philanthropen traurig, für den Maler entzückend. […] Lachendstes, friedlichstes Bild! Aber in diesem Augenblick blitzte es unten von Bajonetten« (HFA III/4, S. 769, vgl. a. Osborne, Theodor Fontane. Vor den Romanen, S. 153f; Hebekus, Klios Medien, S. 135). Auch an folgender Passage aus den Kriegsberichten schwenkt er vom ästhetischen Genuss des Panoramablicks auf ein Schlachtfeld hin zur die Distanzierung aufhebenden Einsicht in das Bedrohliche des Anblicks: »Von dem Hochplateau zwischen Chlum und Lipa aus, bot sich den Unsrigen jetzt ein prächtiger Anblick. Fast zu Füßen der Höhe […] erblickte man […] die imposanten Massen der österreichischen Reserve-Corps […], dahinter eine zahlreiche Cavallerie […] und eine gleiche Anzahl von Batterien; […] gegen Problus zu, sah man bei dem heller gewordenen Wetter den aufsteigenden Dampf scharfen Geschützfeuers und bekam dadurch eine Anschauung von dem Umfange des Kampfes. Ein prächtiger Anblick! Aber doch zugleich auch ein Anblick, der Bedenken erregen konnte« (Theodor Fontane, Der deutsche Krieg von Jahre 1866, Bd. I: Der Feldzug in Böhmen und Mähren, Berlin: Decker, 1870–71, S. 569, zitiert in Pacholski, Das ganze Schlachtfeld, S. 168). Kreuzer, Zur Erzähltechnik, S. 132.

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5. Analyse der Romane

richtet, sondern ließe emotionale Involviertheit zu, wäre er zu einem so kühlen Verhalten gegenüber Cécile und dem Duell mit Gordon, das schließlich seine Frau in den Selbstmord treibt, nicht fähig. 5.1.1.2. Die ›blinde‹ Cécile Ein charakteristisches Merkmal der Protagonistin ist ihre mangelnde Wahrnehmungsfähigkeit: »Céciles eigener Name ist dem Lateinischen caecus [=blind, N.H.] verwandt und sie hat selber einen Augenfehler«.46 Wenn Zubiaurre in Bezug auf Fontane feststellt: »In realist fiction, blindness and lack of vision are usually considered female flaws«,47 so trifft dies in besonderem Maße auf Cécile zu: Sie hat einen »genierten Blick« (CE, S. 364) und »[i]hre Augen stehen scharf nach innen, wie wenn sie sich suchten und lieber sich selbst als die Außenwelt sähen« (CE, S. 361). So beschreibt Gordon ihren Blick und zugleich ihr Wesen, da die Augen zum einen für die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit stehen, zum anderen schon seit dem Mittelalter als »Fenster der Seele« oder »Spiegel der Seele« gelten, in dem das Innenleben eines Menschen erkennbar ist.48 Céciles nach innen gerichtete Augen symbolisieren dementsprechend, dass sie für die Welt um sie herum nur eine begrenzte Seh- und Wahrnehmungsfähigkeit besitzt und sich stattdessen auf der Suche nach dem eigenen Selbst befindet. Eine eigenständige Wahrnehmung wird ihr dadurch verwehrt, dass ihr Blick häufig von außen gelenkt wird, vor allem durch ihren Ehemann. Während der Zugfahrt im ersten Kapitel weist er sie mehrmals auf den Blick aus dem Fenster hin: »Sieh, Cécile, das sind die Elefantenhäuser« (CE, S. 315); »Sieh, Cécile [...] [.] Ein Teppich legt sich dir zu Füßen« (CE, S. 317). Auch später behält er dieses Verhalten bei: Mit: »Aber sieh nur [...] [.] Sieh nur« (CE, S. 368) lenkt er ihre Aufmerksamkeit auf vom Wind hoch gewirbelte Rosenblätter; sein: »Sieh nur, wie das Mondlicht drüben auf die Felsen fällt« (CE, S. 416) leitet sie ebenfalls in ihrer Blickrichtung an. Ihr Ehemann steuert Céciles Blick, wenn dieser in eine falsche Richtung geht, etwa als sie über die Felsen Hexentanzplatz und Roßtrappe sprechen und Cécile zunächst den falschen für die Roßtrappe hält (vgl. CE, S. 319). An anderer Stelle heißt St. Arnaud Cécile, den Blick von einem ihr unheimlich erscheinenden Vogel weg zu wenden: »Sieh nur, da drüben hängt noch das Abendrot und kommt schon der Mond herauf [...]. _____________ 46 47 48

Sagarra, Kommunikationsrevolution und Bewußtseinsänderung, S. 112f. Zubiaurre, Panoramic Views, S. 263. Hämmerle, Schattenriss, S. 77.

5.1. »Cécile«

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Laß die Schwarzdrossel« (CE, S. 413). Wenn der Oberst nicht von vorneherein festlegt, was seine Frau betrachten soll, so erklärt er ihr doch das, was sie gerade sieht, und lenkt dadurch ebenfalls ihre Wahrnehmung durch seine Einschätzung oder sein Wissen über das Gesehene. Beispielsweise belehrt St. Arnaud die der Landschaftsbetrachtung hingegebene Cécile »in wohlmeinendem Erklärungseifer« (CE, S. 318) über das Gesehene. An anderen Passagen stellt sie Vermutungen über zwei beobachtete Schwalben an, worauf er wieder seine Erklärungen anbringt (vgl. CE, S. 319), oder sie kommentiert das Verhalten gesehener Schmetterlinge, was St. Annaud veranlasst, deren von ihr vage vermutete Bedeutung genau festzulegen (vgl. CE, S. 383). St. Arnaud äußert zwar ihr gegenüber, als sie ihre Unwissenheit in Kunstfragen zeigt: »[D]u könntest dich etwas mehr kümmern um diese Dinge, vor allem mehr sehen, mehr lesen« (CE, S. 343), verhindert dies aber, indem er vor- und beschreibt, was sie wie zu sehen hat.49 Cécile ist diese Anleitungen und Korrekturen schon so gewohnt, dass sie teilweise ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr vertraut, den Versuch, selbstständig etwas zu sehen, gleich unterlässt, und stattdessen von vorn herein darum bittet, in ihrem Blick geleitet zu werden: ›Was ist es?‹ fragte Cécile, während St. Arnaud, nach rechts hin, auf einen in Büchsenschuß-Entfernung über den Weg kommenden und im selben Augenblick auch wieder im Unterholz am Bergabhange verschwindenden Hasen zeigte. (CE, S. 382)

Beim Ausflug nach Altenbrak stellt Cécile fest: »Die Chaussee läuft hier wie mit dem Lineal gezogen, und doch seh ich niemand«, und der Text fährt fort mit: »In der Tat, Cécile sah niemanden und konnte niemanden sehen« (CE, S. 386). Zwar wird festgestellt, dass dies nicht an Cécile liegt, sondern daran, dass tatsächlich keiner dort ist, doch die dreimalige Wiederholung des Nicht-Sehens Céciles ist auffällig. Zudem ist es bezeichnend, dass hier ihr Blickwinkel gewählt wird und nicht derjenige Gordons, der neben ihr reitet – folglich dasselbe wie sie wahrnimmt – und sonst fast immer derjenige ist, durch dessen Augen die Welt dem Leser geschildert wird. Als die drei vorangegangenen Herren sichtbar werden, ist es dementsprechend auch wieder Gordon, der sie zuerst sieht und Cécile darauf hinweist (vgl. CE, S. 395). Die Betonung der mangelnden Fähigkeit Céciles, die Außenwelt wahrzunehmen, erfolgt zusätzlich dadurch, dass ihr Blick häufig eingeschränkt ist, entweder durch Fenster (vgl. CE, S. 366, 385) oder Gitter (vgl. CE, S. 384), oder sie die Augen gar nicht erst erhebt, um sich umzusehen, _____________ 49

Auch in Bezug auf Céciles Leseverhalten geht St. Arnaud so vor, was am Fortgang des zitierten Gesprächs deutlich wird, denn auf Céciles Einwand: »Ich lese viel« entgegenet er: »Aber nicht das Rechte« und setzt ihr auseinander, dass die von ihr ausgewählte Literatur »gesellschaftlich« irrelevant sei (CE, S. 49).

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5. Analyse der Romane

sondern »verlegen vor sich nieder« (CE, S. 452) oder »vor sich hin« (CE, S. 422, 440, 489) blickt. Am deutlichsten wird die Eigenart ihres Blickverhaltens darin, dass es stellenweise über sie heißt, sie ›starre‹ auf etwaS. Dieses ›Starren‹ kennzeichnet den nach innen gerichteten Blick im Gegensatz zum nach außen gerichteten, der eher wandernd durch die Gegend streift und versucht, Eindrücke aufzunehmen: »Cécile starrt’ darauf [auf die im Wind flatternde Gardine, N.H.] hin, als ob sie den Tiefsinn dieser Zeichen erraten wolle« (CE, S. 315); »Cécile starrte verwirrt und verstimmt vor sich hin« (CE, S. 440). Auf der Zugfahrt, während der St. Arnaud häufig aus dem Fenster sieht, zieht sie als erstes nach einem von Kopfschütteln begleiteten Hinweis auf die erblickte Siegessäule die Gardine zur Hälfte vor ihr Fenster und verschlechtert dadurch ihre Sicht, die sie ohnehin kaum nutzt, da sie stattdessen lieber ganz die Augen schließt (vgl. CE, S. 315). Anstatt ihre Außenwelt wahrzunehmen, geben ihre Augen ihr Inneres Preis: »[I]n ihrem Auge, darin es von Glück und Freude leuchtete, lag doch zugleich auch ein Ausdruck ängstlicher Sorge. Denn ihr Herz und ihr Wille befehdeten einander« (CE, S. 470). St. Arnaud (vgl. CE, S. 316), der Hofprediger (vgl. CE, S. 435) und vor allem Gordon (vgl. CE, S. 348, 384, 412, 421) entnehmen so dem Blick Céciles ihr Denken und Fühlen. Der Text macht allerdings deutlich, dass es sich dabei um Interpretationen seitens der anderen Figuren handelt, die nicht immer zuverlässig tatsächlich das sehen, was in Cécile vorgeht, und dass Blicke ohnehin nicht eindeutig sind: »Ein Blick, von dem schwer zu sagen war, ob mehr schmeichelhafte Huld oder naive Kinderfreude darin vorherrschte, belohnte Gordon« (CE, S. 384). Umgekehrt jedoch mangelt es Cécile selbst meist an dieser Fähigkeit, in den Augen oder am Gesichtsausdruck anderer etwas zu erkennen: Sie »übersah ein nervöses Zucken, das bei der einen oder anderen dieser Fragen um den Mund ihres Gatten spielte« (CE, S. 333). Nur wenn die Zeichen so deutlich werden, dass sie nicht mehr zu übersehen sind, kann auch Cécile sie wahrnehmen: »Dabei schoß sein [St. Arnauds, N.H.] Auge heftige Blicke« (CE, S. 490). »Cécile las in seiner Seele« (CE, S. 491). Céciles Rolle ist nicht die des sehenden Subjektes, sondern die des gesehenen Objektes, womit im Roman die traditionelle Zuweisung genderspezifischer Blickweisen, wie sie etwa bei Laura Mulvey und John Berger beschrieben ist,50 vorliegt: Cécile als Frau ist das passive Objekt männlicher, aktiver Blicke. Sie hat diese Rolle seit ihrer Kindheit gelernt, denn für ihre Mutter stand fest, »daß eine junge schöne Dame nur dazu da sei, zu gefallen, und zu diesem Zwecke sei wenig Wissen besser als viel« _____________ 50

Vgl. Kapitel 2.1. der vorliegenden Arbeit.

5.1. »Cécile«

197

(CE, S. 462). Cécile wurde dazu erzogen, einen schönen Anblick zu bieten, selbst aber nicht mit Bildung ausgestattet, die ihr eine eigene Wahrnehmung ermöglicht hätte, und verhält sich nun dementsprechend, indem sie es »eitelkeitshalber« darauf anlegt, »zum Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit« zu werden (CE, S. 417). St. Arnaud und Gordon befürworten diesen mit Eitelkeit und ›Blindheit‹ für ihre Außenwelt einhergehenden Bildungsmangel Céciles und nehmen sie gern als reinen Anblick: St. Arnaud stellt fest: »Wenn ich dich so vor mir sehe, so gehörst du zu denen, die sich’s [=Bildung, N.H.] schenken können« (CE, S. 343), weshalb er auch ihre Fragen nach mehr Wissen – etwa über den Hintergrund von Rosas Spitznamen (vgl. CE, S. 342f) – unbeantwortet lässt. Gordon erklärt ebenfalls, sie benötige keine Bildung (vgl. CE, S. 386) und findet zudem, ihr nach innen gerichteter Blick, der für ihre mangelnde Außenwahrnehmung steht, »gibt ihr aber entschieden etwas Apartes« (CE, S. 361) und steigere sogar ihren »Reiz« (CE, S. 364). Daß dieser Augenfehler den Reiz der äußeren Erscheinung Céciles nach Gordons Geschmack sogar noch steigert, läßt darauf schließen, daß die Frauenfigur sich gerade aufgrund ihrer Unfähigkeit zur Selbsterkenntnis und zum Einsatz ihrer Augen als Instrument aktiven Handelns zu einer Stilisierung zum Kunstwerk durch andere eignet.51

Céciles Selbstwahrnehmung wird durch die Blicke anderer Figuren auf sie und deren – oft typisierende – Meinung von ihr beeinflusst. Besonders stark trifft sie ausgerechnet der Blick eines Toten, der bewirkt, dass sie sich schwört, ihr Leben zu ändern: »[W]o der erschossene Dzialinski lag und mich mit seinen Totenaugen ansah, als ob er sagen wollte: ›Du bist schuld‹, da hab ich’s mir in meine Seele hineingeschworen« (CE, S. 486). Deutlich zeigt sich an diesem Sonderfall, welche Macht die Blicke der anderen über Cécile haben.52 Andere Figuren, allen voran Gordon, aber auch der Erzähler, schließen auf physiognomische Art anhand des Gesehenen darauf, was in bestimmten Momenten in der Protagonistin vorgeht und wie sie generell ist, was »augenscheinlich« (CE, S. 318, 345, 362, 418) ihr Wesen ausmacht. Damit legen sie Cécile auf die von ihnen selbst bereits angefertigten oder noch entstehenden mentalen Bilder53 fest. In Gordons Vorstellungen von Cécile taucht sie etwa am Ende einer sich allein durch seine Einbildungs_____________ 51 52

53

Bontrup, ›…auch nur ein Bild‹, S. 125. Diese Bedeutung des Blicks eines Toten hängt möglicherweise mit der in den 1870er Jahren aufkommenden Diskussion darüber zusammen, »ob das Auge eines Toten das letzte, noch zu Lebzeiten wahrgenommene Bild aufzeichnet« (Stiegler, Philologie des Auges, S. 388). »Tote sind zu Sehenden geworden, die auf den erkennenden Blick der Lebenden warten« (ebd., S. 393). Cécile interpretiert dementsprechend diesen Blick des Toten als Appell an sie. Vgl. Plett, Rahmen ohne Spiegel, S. 165.

198

5. Analyse der Romane

kraft konstituierenden »Bilderreihe« (CE, S. 473) auf. Céciles Ausrufe: »Ich kann Bildergespräche nicht leiden« (CE, S. 344) und »Bilder und immer wieder Bilder. Wozu? Wir hatten mehr als genug davon« (CE, S. 357) sowie ihre Einschätzung von Rosas Bildersammlung als »unheilvolle[...] Mappe« (CE, S. 338) schließen daher neben dem Eingeständnis ihres Desinteresses und ihrer Unbildung auf dem Gebiet der Malerei »einen intuitiven Protest gegen die Fixierung ein [...], die mit der Portraitierung einer Person in einem Bildnis gegeben ist«.54 Ein Teil dieser mentalen Bilder Céciles ist deutlich durch Gemälde beeinflusst, wie etwa Gordons Assoziation Céciles mit einem »Bild von Queen Mary« (CE, S. 421) zeigt, womit der »Topos der ›schönen, schuldigen Frau‹ abgerufen und auf die Frauenfigur projiziert« wird.55 Auch in Gordons Erinnerungsprozess wird Cécile wie ein Bild unter anderen eingereiht, wenn er sich ihre Erscheinung im Anschluss an die Gemäldereihe der Fürstabbatissinnen »[aus]malte« (CE, S. 385), und Cécile als Typus solchen Frauen mit zweifelhafter Vergangenheit gleichsetzt. Darüber hinaus bringen nicht nur andere Figuren Cécile in Verbindung mit Gemälden, sondern auch sie selbst übernimmt dieses Verhalten, wenn die Betrachtung derselben »Schönheitsgalerie« (CE, S. 356) und insbesondere des Porträts der Gräfin Aurora, einer ehemaligen Geliebten des Kurfürsten, sie an ihre eigene Vergangenheit als Fürstengeliebte erinnert. In ihrem Selbstmord schließlich inszeniert sie sich laut Bontrup nach dem Muster gemalter Magdalenen, indem sie die typischerweise auf solchen Bildern dargestellten Kennzeichen Kruzifix und Buch in ihrer Nähe drapiere.56 Damit versuche Cécile, den Rollenvorbildern, welche die sie umgebenden Männer ihr nahelegen, zu entkommen. Indem sie mit der Büßerfigur eine entgegengesetzte Rolle einnehme, begehe sie jedoch denselben Fehler wie die anderen Figuren, da sie sich selbst mit einem durch die Kunst festgelegten Weiblichkeitsbild typisiere.57 Mit »dem Suizid [...] [wird] der mortifizieren_____________ 54

55 56 57

Plett, Rahmen ohne Spiegel, S. 166. Fontane scheint selbst der Ansicht gewesen zu sein, dass Frauen sich selten wirklich für Malerei begeistern können, denn bei der Beschreibung des Gemäldes Kaiser Karl V. hebt dem Tizian den Pinsel auf stellt er fest: »[V]on den zwei Frauengestalten aber erscheint uns die eine mit einem seltenen Maß von Kunstenthusiasmus ausgestattet – sie betrachtet nämlich ein Tiziansches Bild und läßt Kaiser Kaiser sein. Ein Fall, der nicht oft vorkommen dürfte, namentlich bei Frauen« (NFA 23/1, S. 191). Die in vielen seiner Romane wiederkehrende Abwehr weiblichen Figuren gegen Gemäldeausstellungen oder Gemälde sind damit nicht ausschließlich im übertragenen Sinn als Abwehr gegen Rollenzuschreibungen zu lesen, sondern mögen teils auch nur als ›typisch weibliche‹ Eigenschaft gedacht sein, die zur anschaulicheren Figurencharakterisierung beitragen soll. Claudia Liebrand, Das Ich und die anderen. Fontanes Figuren und ihre Selbstbilder, Freiburg im Breisgau 1990, S. 166. Vgl. Bontrup, ›…auch nur ein Bild‹, S. 180f; vgl. a. Renate Böschenstein, Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel. Beobachtungen zu Fontanes Namengebung. In: Fontane Blätter 62 (1996), S. 47. Vgl. Bontrup, ›…auch nur ein Bild‹, S. 182.

5.1. »Cécile«

199

de Akt der Bildproduktion wiederholt« und »vervollkommnet«.58 Diese auch von Renate Böschenstein festgestellte Verbindung zwischen dem Suizid Céciles und Magdalenengemälden – wie Fontane etwa eines in Vor dem Sturm beschreibt59 und auf die Gordon nach dem Besuch in Quedlinburg anspielt (vgl. CE, S. 356) – ist sicher vom Autor intendiert, um dem Leser ein weiteres, gegensätzliches Bild zu Cécile zur Auswahl zu stellen. Cécile selbst allerdings, mit ihrer mehrfach betonten Unbildung gerade auf dem Gebiet der Malerei, ist eine gezielte Nachstellung solcher Gemälde kaum zuzutrauen. Dennoch liegt in der Art ihres Todes durchaus etwas Inszeniertes, mit dem sie sich wiederum selbst auf eine Rolle festlegt. Die genannten, auf Gemäldevorlagen beruhenden mentalen Bilder Céciles sind als explizite Systemreferenzen von Typ 3.2.3. einzuordnen, wobei die Verweise auf die Malerei hier der Verdeutlichung des dargestellten Prozesses dienen. Fontane thematisiert mentale, endogene Bilder und Rollenzuschreibungen mit Bezugnahme auf exogene Bilder – in diesem Fall Gemälde – und stellt damit auch einen Bezug zwischen beiden Bildarten her, zeigt die Beeinflussung der Vorstellungsbilder durch gesehene Gemälde auf. Zugleich enthält die Darstellung dieses Prozesses auch den Verweis auf das eigene Medium, den Text, denn als Rollenvorbilder für Cécile fungieren – sowohl in der Vorstellung anderer als auch in ihrer eigenen – nicht nur Gemälde, sondern auch die mit ihnen verbundenen Texte. Die Bilder stehen nicht für sich allein, sondern rufen literarische Assoziationen wach, wie man es aus dem Wanderungen kennt, wo Bilder untrennbar mit der zugehörigen Geschichte verbunden sind: Gordons Gedanken über Cécile wandern über ein Gemälde Queen Marys in fließendem Übergang zu Schillers Maria Stuart (vgl. CE, S. 420f),60 was ein Zeichen dafür ist, dass seine gesamte Realitätswahrnehmung von Kunsterlebnissen überlagert wird: die Wahrnehmung Céciles durch ein Gemälde Maria Stuarts, dieses wiederum durch das Drama Schillers. Auch das Gemälde Auroras übt auf Cécile nur deshalb eine so starke Wirkung aus, weil sie die dahinter liegende Geschichte der Abgebildeten aus einem »historischen Roman«, den sie »mit besonderer Teilnahme gelesen hatte« (CE, S. 355) kennt. Das Bild ist wie in den Wanderungen also nicht an sich von Bedeutung, sondern nur in Verbindung mit der zugehörigen Geschichte. Erst das Hintergrundwissen über die Abgebildete enthüllt den tieferen Grund für Céciles Betroffenheit, ihren unerfüllten Wunsch nach sozialem Ansehen, wie es Aurora auch nach ihrer Mätressenschaft gezollt _____________ 58 59 60

Ebd., S. 183. Vgl. VdS 2, S. 226. Vgl. a. Peter James Bowman, Theodor Fontane’s ›Cécile‹. An Allegory of Reading. In: German Life and Letters 53/1 (2000), S. 31; Liebrand, Das Ich und die anderen, S. 166.

200

5. Analyse der Romane

wurde, Cécile aber, da sie in einer anderen Zeit lebt, von der Gesellschaft verweigert wird.61 Die Rollenzuschreibungen und Typisierungen Céciles erfolgen demnach durch künstlerische Bilder und Texte, genauer Porträtgemälde, die gleichzeitig in Form von Drama und historischem Roman Geschichten transportieren. Damit erfolgt eine doppelte mediale Vermittlung; die durch Literatur und Gemälde entstandenen Vorstellungen, die sich andere Figuren – und in Folge dessen auch sie selbst – von Cécile machen,62 sind zweifach von einer unvermittelten Wirklichkeit entfernt. Diese Realitätsferne betont den Konstruktcharakter und die Künstlichkeit der Rollenbilder, in denen Cécile als lebendige, individuelle Persönlichkeit nicht aufgehen kann. Neben die genannten – Queen Mary, Aurora, Magdalena – treten zahlreiche weitere Typisierungen Céciles, die größtenteils ebenfalls aus dem Bereich der Kunst stammen, jedoch nicht ausschließlich.63 Hinzu kommt die Festlegung auf das im 19. Jahrhundert gängige Weiblichkeitsbild der Hysterikerin durch Gordon und St. Arnaud (vgl. CE, S. 328; 340; 342; 362): »Hysterie ist in jenen Jahren Bestandteil einer von Männern imaginierten Weiblichkeit und damit Teil der Bebilderung von Frauen«.64 An der Hysterie zeigt sich zweierlei, zum einen die Festlegung Céciles auf einen Typus durch die Männerfiguren, zum anderen ihr Protest gegen diese Festlegung. Céciles Hysterie ist »als Folge und Abwehrreaktion auf diese Typisierung in Bildern«65 zu verstehen, als »Rebellion des weiblichen _____________ 61 62

63

64 65

Vgl. Liebrand, Das Ich und die anderen, S. 75. Die Rollenzuschreibungen und Projektionen Céciles treten im Roman in den Vordergrund, doch auch andere Figuren sind von solchen Typisierungen betroffen, auch männliche. Während Cécile hauptsächlich mit Bildern assoziiert wird, teils jedoch auch mit Vorbildern aus der Literatur (z. B. Lady Macbeth (vgl. CE, S. 414)), entstammen die für Männer genannten Vorbilder nie der Malerei, sondern fast ausschließlich der Literatur: Gordon sieht St. Arnaud als Bothwell aus Maria Stuart (vgl. CE, S. 421), St. Arnaud (vgl. CE, S. 452) und die Berliner (vgl. CE, S. 329) erblicken in Gordon die gleichnamige Figur aus Wallenstein; die Berliner assoziieren St. Arnaud gleichzeitig mit Buttler (vgl. ebd.). Hedemeyer dagegen vergleicht Gordon mit Masetto (vgl. CE, S. 483). Auch Frauen tätigen solche Zuschreibungen auf Männer: Clothilde vergleicht Gordon mit Wallenstein selbst (vgl. CE, S. 460) und Rosa neckt ihn als Don Juan (vgl. CE, S. 356). Damit spiegelt sich im Text der Befund Walter Erhards, dass im 19. Jahrhundert Männlichkeit durch Literatur und narrative Strukturen konstruiert wurde, Weiblichkeit dagegen durch Bilder und statische Strukturen (vgl. Erhart, Das zweite Gesicht, und Kapitel 2.1. der vorliegenden Arbeit). Cécile wird etwa mit den Typen Hure und Heilige (vgl. CE, S. 322) und ›femme fragile‹ assoziiert (vgl. Inge Stephan, ›Das Natürliche hat es mir seit langem angetan.‹ Zum Verhältnis von Frau und Natur in Fontanes ›Cécile‹. In: Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.), Natur und Natürlichkeit. Stationen des Grünen in der deutschen Literatur, Königstein im Taunus 1981, S. 131, 139) oder als Donna Elvira aus Don Giovanni imaginiert (vgl. CE, S. 365). Sabina Becker, ›Wer ist Cécile?‹. Der ›Roman einer Phantasie‹. Theodor Fontanes ›Cécile‹. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (2002), S. 136. Bontrup, ›…auch nur ein Bild‹, S. 129.

5.1. »Cécile«

201

Körpers gegen männlich diktierte Normen«66 und die von Männern »zudiktiert[e]« (CE, S. 469) Krankheit. Mit der Hysterie versuchten Frauen des 19. Jahrhunderts, der »disziplinierende[n] Strenge des ärztlichen Blicks«67 zu entkommen. Der Blick des Arztes »durchbohrt gewissermaßen vergeblich den Körper, um hinter der körperlichen Erscheinung den Ursprung der Krankheit zu entdecken. Der hysterische Körper tritt aus der Eindeutigkeit der Repräsentation heraus«.68 Die Hysterie Céciles steht damit dafür, dass sie eindeutigen Zuschreibungen durch die sie umgebenden Männer entkommen will und sich gegen deren Versuche auflehnt, aus ihrem Äußeren ihr Inneres zu lesen. Neben Céciles negativer Äußerung über Bilder und der Hysterie als Anzeichen des Protests gegen Rollenzuschreibungen ist die Episode im Quedlinburger Schloss von »werkerschließender Bedeutung«,69 in der sie »sich gern in dem Kristallspiegel gesehen« (CE, S. 353) hätte, von dem jedoch nur noch der Rahmen vorhanden ist. Zusätzlich zur Assoziation des Spiegels mit Eitelkeit, die durchaus auch als Beweggrund für Céciles Wunsch gelten kann, drückt diese Passage für Louis Gerrekens Céciles »illusorischen Wunsch aus, sich ebenfalls einen Platz in der Bildergalerie zu erkämpfen«,70 was gleichbedeutend wäre mit der Erlangung der gesellschaftlichen Anerkennung, die die Porträtierten im Gegensatz zur Protagonistin genossen haben. Hauptsächlich jedoch zeigt sich an dieser Szene Céciles vergebliche Suche nach einem eigenständig konstituierten Selbstbild. Sie möchte nicht die Außenwelt sehen, sondern sich selbst, und zwar mit eigenen Augen, nicht mit denen anderer, weshalb ihr Blick normalerweise nach innen gerichtet ist und sie in diesem Fall ihr Spiegelbild sucht. »[I]m Spiegel, wo das Ich sich unmittelbar reflektiert wahrnimmt, sucht Cécile eine Entsprechung ihrer Person und ihrer Welt«,71 »ein authentisches Bild«72 von sich selbst, denn die Bildung von »Identität ist [...] in einem bisher unterschätzten Ausmaß an visuelle Vorstellungen gebunden«.73 Doch ebenso, wie ihr ein eigener Blick auf die Welt verweigert wird, indem andere – vor allem ihr Ehemann – ihre Wahrnehmung _____________ 66 67 68 69 70 71 72 73

Becker, ›Wer ist Cécile?‹, S. 132. Marie Schuller, ›Weibliche Neurose‹ und Identität. Zur Diskussion der Hysterie um die Jahrhundertwende. In: Dietmat Kamper und Christoph Wulf (Hrsg.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt am Main 1982, S. 183. Ebd. 183f. Liebrand, Das Ich und die anderen, S. 71. Louis Gerrekens, ›Sie sind in der falschen Rolle‹ – Fontanes ›Cécile‹. Existentielle Kunstrezeption und Selbstverständnis des Romans. In: Robert Leroy und Eckart Pastor (Hrsg.), Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch, Frankfurt am Main/New York 1991, S. 292. Downes, ›Cécile‹, S. 573. Plett, Rahmen ohne Spiegel, S. 172. Guschker, Bilderwelt, S. 350.

202

5. Analyse der Romane

beeinflussen, ist ihr auch derjenige auf sich selbst nicht möglich. »[I]hr fehlt die Selbsterkenntnis, deren Instrument von der romantischen Dichtungstradition her gerade der Kristallspiegel ist«.74 Sie sieht sowohl die Außenwelt als auch sich selbst durch die Augen anderer, die sich jeweils verschiedene, subjektive Bilder von Cécile gemacht haben und auf sie projizieren. Zum einen ist der fehlende Spiegel ein Zeichen dafür, dass Céciles Blick seine eigene Subjektivität versagt ist, weil sich zu viele von anderen erstellte Bilder vor ihre Wahrnehmung schieben, zum anderen steht er für die generelle Unmöglichkeit eines objektiven Bildes. Daran, dass St. Arnaud und Gordon die vom Kastellan über die Abwesenheit des Spiegels erzählte »Geschichte lieber als der Spiegel« (CE, S. 353) ist, zeigt sich, dass es ihnen sehr recht ist, dass Cécile sich kein eigenes Selbstbild konstruieren kann, so dass sie weiterhin ihre Bilder auf sie projizieren können. Während der für die objektive Wiedergabe der Realität stehende Kristallspiegel nicht mehr im Quedlinburger Schloss besichtigt werden kann, können die Besucher einige Porträtgemälde betrachten, durch eine Person von einer anderen angefertigte Bilder, die den subjektiven Eindruck des Malers wiedergeben und die dargestellte Person meist typisieren. Ebensolche Bilder von Cécile liegen in den Köpfen der sie umgebenden Figuren vor, während ein eindeutiges, objektives Bild von ihr ebenso wenig existiert wie der Spiegel. Weiter zeigt sich an dieser Textstelle auch die bekannte Verbindung zwischen Spiegelbild bzw. Fensterblick und Tod: Nachdem Céciles Wunsch, in den Spiegel zu sehen, sich nicht erfüllen kann, schaut sie stattdessen zum Fenster hinaus, wo sie durch dessen Rahmung den Grabstein eines Schoßhündchens erblickt. Danach klopft sie verwirrt an die Stelle, an der der Spiegel gehangen hatte. Das Spiegelbild wird mit einem an den Tod gemahnenden »Denkmal« (CE, S. 354) ersetzt, der Rahmen, der ursprünglich den Spiegel umgeben hat, rahmt im Textverlauf den Blick Céciles auf das Grab ein. Dadurch enthält der Blick durch das Fenster ähnlich wie bei Gordon75 eine Vorausdeutung auf Céciles Tod, da sie anstelle eines Spiegelbildes ihrer selbst mit dem Grabstein ein Bild des Todes erblickt. Weiter wird durch diese Blickfolge das als objektiv angesehene Spiegelbild mit dem Tod assoziiert. Dass der Text dieses betont ausspart, lässt sich als poetologische Aussage lesen: Der Roman, der ein solches Bild nicht wiedergibt, will auch selbst, entsprechend den Grundsätzen der poetischen Realisten, die Wiedergabe der platten, ›nackten‹ Wirklichkeit vermeiden.76 _____________ 74 75 76

Böschenstein, Caecilia Hexel, S. 46. Vgl. Kapitel 5.1.1.3. der vorliegenden Arbeit. Vgl. Plett, Rahmen ohne Spiegel, S. 173.

5.1. »Cécile«

203

5.1.1.3. Der photographieanaloge Beobachter Gordon Während Cécile sich durch Blindheit auszeichnet, wird Gordon das Gegenteil zugeordnet: Gleich bei seinem ersten Erscheinen wird er als geübter Beobachter eingeführt, noch bevor irgendetwas anderes von ihm bekannt ist.77 Von nun an werden die Romanwelt und vor allem Cécile aus seiner Sicht präsentiert, wobei der Leser Cécile schon vor seinem Auftreten aus einer ähnlichen Beobachterposition wahrnimmt, zunächst noch durch den Erzähler gelenkt in externer Fokalisierung auf die Figuren: Der Roman selber nähert sich so zu Beginn seiner Heldin von außen, mit den Augen der Gesellschaft, und der Erzähler gibt vor, nicht mehr und nichts anderes zur Verfügung zu haben als deren Wahrnehmungs- und Deutungsmuster.78

Zum Ausdruck kommt diese Außenperspektive des Erzählers etwa darin, dass er anfangs die Protagonisten noch nicht beim Namen nennt, sondern als »Herr« und »Dame« bezeichnet, bis ihre Namen im Gespräch fallen (CE, S. 313). Weiter zeigt sie sich in Ausdrücken, die das Sehen als einzige Informationsquelle betonen – St. Arnaud hat »allem Anscheine nach« (CE, S. 313) einen anderen Grund zur Unruhe als die Platzfrage; Cécile ist »sichtlich gleichgiltig« (CE, S. 318) – oder verdeutlichen, dass es sich bei seinen Aussagen nur um aufgrund des Gesehenen angestellte Vermutungen handelt – St. Arnaud handelt, »wie wenn er jemand erwarte« (CE, S. 313), oder »schien [...] sich zurechtzufinden« (CE, S. 315). Sobald Gordon in der »Rolle als rationaler Beobachter und Detektiv«79 auftritt, folgt der Leser meist dessen persönlicher Wahrnehmung und Interpretation der visuellen Zeichen, die weniger vorsichtig formuliert wird, da Gordon sich seiner Wahrnehmungen – zu Unrecht – sicher ist, während der Erzähler deutlich erkennen lässt, dass er nur Vermutungen äußert. Dabei gehen Null- und externe Fokalisierung und die interne Fokalisierung durch Gordon oft ineinander über oder vermischen sich sogar so weit, dass kaum noch zwischen ihnen zu unterscheiden ist, etwa bei der Beschreibung der Unterhaltung der St. Arnauds auf dem Balkon im zweiten Kapitel. Zunächst scheint sie aus Nullfokalisierung zu erfolgen, nachträglich lässt sie sich jedoch durch die Bemerkung, dass Gordon »von der andern Seite des Balkons her das distinguierte Paar schon seit lange beobachtet hatte« (CE, S. 319) als interne Fokalisierung durch Gordon lesen, allerdings ohne dass diese Festlegung eindeutig gegeben wäre. Als sich kurz darauf die St. Arnauds nach einem Spaziergang wieder dem Hotel nähern, deutet zwar der Hinweis, dass Gordon sie beobachtet, _____________ 77 78 79

Vgl. Kiefer, Der determinierte Beobachter, S. 173. Brüggemann, Das andere Fenster, S. 207f. Kiefer, Der determinierte Beobachter, S. 176.

204

5. Analyse der Romane

darauf, dass die anschließende Beschreibung aus seiner Sicht erfolgt, und auch sein sich an diese Beschreibung anschließender Kommentar – » ›Das ist Baden-Baden‹, sagte der vom Balkon aus sie Beobachtende« (CE, S. 321) – verweist darauf, dennoch ist es ebensogut möglich, dass die Beschreibung von einem Standort außerhalb erfolgt (vgl. CE, S. 321). Ähnliche Erzählsituationen, wo möglicherweise intern durch Gordon, eventuell aber auch extern oder nullfokalisiert erzählt wird, begegnen ebenso wie schnelle Wechsel zwischen diesen Formen auch im weiteren Verlauf des Romans.80 Der Erzähler beschreibt zwar fast ausschließlich Objekte, die Gordon gerade wahrnimmt, aber es ist nicht immer eindeutig, ob diese Beschreibungen tatsächlich aus seiner Perspektive heraus erfolgen. Ebensowenig lassen sich in solchen Passagen geäußerte Kommentare zum Gesehenen eindeutig als Ansichten Gordons oder aber des Erzählers einordnen. Daneben finden sich jedoch auch Passagen, in denen klar festgelegt wird, dass es sich um eine interne Fokalisierung durch Gordon (vgl. z. B. CE, S. 321) oder aber einen Erzählerkommentar

_____________ 80

So wird auch der Auftritt der Berliner zunächst von Gordon beobachtet, während der Darstellung ihres Gesprächs jedoch folgt kein weiterer Hinweis mehr auf ihn, so dass die Passage unmittelbar und nullfokalisiert wirkt. Erst im Anschluss daran wird Gordon folgendermaßen wieder als Fokalisierungsfigur etabliert: »Alles, was noch auf dem Balkon verblieben war, sah ihnen neugierig nach, auch Gordon, der ihren Weitermarsch bis ins Bodetal hinein verfolgt haben würde, wenn nicht der eben mit neuen Ankömmlingen eingetroffene Frühzug sein Interesse nach der entgegengesetzten Seite hin abgezogen hätte« (CE, S. 324). Danach wird erneut beschrieben, was er sieht, doch der Kommentar zu den Hochrufen der Sängervereine, dass »niemand recht wußte, wem sie galten«, ebenso wie die Beurteilung einiger Passanten als »lauter Durchschnittsfiguren« (CE, S. 324f) sind nicht eindeutig Gordons Bewusstsein zuzuordnen, sondern können auch als Erzählerkommentare gelesen werden. In der anschließenden Beschreibung zweier Neuankömmlinge wird der eine mit dem Hinweis darauf, dass er Gordon bekannt ist, als Emeritus benannt: Der Erzähler beschreibt also wieder mit interner Fokalisierung auf Gordon nur, was dieser sieht und weiß. Das vierte Kapitel beginnt erneut mit Nullfokalisierung (vgl. CE, S. 326), geht aber rasch wieder in diejenige Gordons über, wenn die St. Arnauds Platz nehmen »gegenüber Herrn von Gordon, der im selben Augenblicke, wo die Herrschaften Platz genommen hatten, auch schon die mit allerhand rotem Blattwerk zwischen ihm und Cécile stehende Vase zu verwünschen begann« (CE, S. 326). Diese Erzählhaltung wird mit Hinweisen darauf, dass gerade Gordons Wahrnehmungen und Ansichten wiedergegeben werden – »Gordon, auf bloße Beobachtung angewiesen« (CE, S. 327); »wie Gordon nicht entging« (CE, S. 327) – fortgesetzt, wechselt dann aber fast unmerklich wieder in Nullfokalisierung, die zunächst durchaus auch noch eine interne Fokalisierung auf Gordon sein könnte – »Alles lachte. Selbst der Oberst schien froh, aus der Tafel-Langweile heraus zu sein« (CE, S. 327). Da im weiteren Verlauf Gordon jedoch nicht mehr als Fokalisierungsfigur genannt wird und das Kapitel mit einem spöttischen Gespräch der beiden Berliner über ihn endet, das kaum in seiner Hörweite geführt werden würde, ist schließlich eindeutig wieder Nullfokalisierung erreicht.

5.1. »Cécile«

205

handelt.81 Letzterer ist dabei – im Gegensatz zu Ansichten Gordons – als recht zuverlässige Aussage über die Romanwirklichkeit zu werten, so dass es sich in Cécile nicht um einen unzuverlässigen Erzähler handelt, jedoch um oft wechselnde und vielfach uneindeutige Erzählsituationen und -perspektiven, »ein Ensemble von Figurenperspektiven, das oftmals durch die Perspektive eines Erzählers [...] ergänzt wird«.82 Diese Multiperspektivität83 grenzt an unzuverlässiges bzw. diskordantes84 Erzählen. Problematisch wird diese teilweise Unklarheit der Zuweisung von Aussagen zu Gordon oder dem Erzähler, wenn der Leser sich, verleitet von der Selbstverständlichkeit, mit der sie präsentiert werden, Gordons Beobachtungen und Meinungen unhinterfragt aneignet: Diese sind, trotz Gordons persönlicher Überzeugung von ihrer Richtigkeit, mit Vorsicht zu genießen, wie im Folgenden dargelegt wird. Als »der kühl Beobachtende, nüchtern Registrierende«85 versucht Gordon, durch genaue Betrachtung Céciles ihr Geheimnis zu entschlüsseln und ihre Geschichte zu erschließen. Damit übt er sich in einem ähnlichen Prozess des Zeichenlesens, wie er in den Wanderungen vorliegt, da er vom Gesehenen auf die Geschichte schließen will. Es handelt sich bei ihm aber nicht um diejenige Variante des Verfahrens, bei der die Vergangenheit bekannt ist und durch die visuelle Wahrnehmung wieder in Erinnerung gerufen wird, sondern um die, bei der vom Gesehenen ausgehend eine passende Geschichte erfunden wird. Bereits in den Wanderungen _____________ 81

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So liegt an folgender Stelle eindeutig Nullfokalisierung mit Erzählerkommentar vor: »So plaudernd, wurde das Durchblättern der Mappe fortgesetzt, freilich unter sehr verschiedener Anteilnahme. Der Oberst, ohne recht hinzublicken, beschränkte sich auf einige wenige, bei solcher Gelegenheit immer wiederkehrende Bewunderungslaute, während Cécile zwar hinsah, aber doch vorwiegend mit einem schönen Neufundländer spielte [...]. Nur Gordon war bei der Sache« (CE, S. 336). Vera Nünning und Ansgar Nünning, Von ›der‹ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte. Überlegungen zur Definition, Konzeptualisierung und Untersuchbarkeit von Multiperspektivität. In: Dies. (Hrsg.), Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts, Trier 2000, S. 13. Perspektive wird hier im Sinn Nünnings und Nünnings verstanden als »jeweils individuelle Wirklichkeitssicht der fiktiven Gestalten (Figuren und Erzählinstanzen) in narrativen Texten« (Ebd). Versteht man Multiperspektivität ausschließlich als Präsentation ein und desselben Geschehens aus mehreren verschiedenen Perspektiven, so trifft der Terminus im engeren Sinn bei Cécile nicht zu, denn hier werden in erster Linie unterscheidliche Sichtweisen auf eine Figur geschildert – dennoch läuft diese Darstellungsweise auf denselben Effekt der Perspektivenvielfalt und Unentscheidbarkeit hinaus. Fludernik unterscheidet zwischen Diskordanz – als Mangel an Objektivität oder ideologischer Verfremdung – und Unzuverlässigkeit – als faktisch falsche Darstellung (vgl. Monika Fludernik, ›Unreliability vS. Discordance‹. Kritische Betrachtung zum literaturwissenschaftlichen Konzept der erzählerischen Unzuverlässigkeit. In: Fabienne Liptay und Yvonne Wolf (Hrsg.), Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film, München 2005, S. 39–59). Magdalene Heuser, Fontanes ›Cécile‹. Zum Problem des ausgesparten Anfangs. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 92/Supplement (1973), S. 38.

206

5. Analyse der Romane

wertet Fontane auf diese Art und Weise entstandene, unwahre Geschichten ab und auch in Cécile werden sie als bloße »Mutmaßungen« (CE, S. 321) kritisiert. Auf den Unterschied zwischen diesen beiden Verbindungen von Gesehenem mit Geschichten wird zusätzlich dadurch verwiesen, dass der Harz für Gordon mit Hexengeschichten und Phantasiegestalten gesättigt scheint (vgl. CE, S. 338), während Eginhard feststellt, dort »predigt alles Kaisertum und Kaiserherrlichkeit« (CE, S. 378): Eginhard assoziiert mit dem Gesehenen die tatsächliche Historie, Gordon hingegen fiktive Geschichten. Die Äußerlichkeiten, die er [Gordon, N.H.] an Céciles Erscheinung und Verhalten wahrnimmt, werden als Indizien ihrer Geschichte, ihrer Lebenssituation und ihres Charakters registriert, [...] um den ›Mangel [...]‹ an objektiv Erkennbarem [...], auszugleichen, ist auch er [...] auf das Mittel der Fiktionalisierung angewiesen: Mit Hilfe der ›Erzählkunst‹ konstruiert er ihre bzw. seine Geschichte.86

Gordon steht mit dieser Rolle nicht alleine da, denn Kiefer stellt fest, »dass die Kunst der Beobachtung, des Zeichenlesens und Indiziendeutens, wie Gordon sie erfolgreich zu praktizieren glaubt, zu den kulturellen Codes gehörte, die der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nur zu vertraut waren«.87 Nach der damals verbreiteten Ansicht drückt sich »[d]ie unendliche Vielfalt des Menschen in seiner moralischen Statur [...] in äußeren Erscheinungsformen aus, [...] durch unregelmäßige Anzeichen an Körper und Kleidung«.88 Diese bis in die Antike zurückreichende Idee der Physiognomik, dass man »nur in einem Gesicht oder einem Körper wie in einem aufgeschlagenen Buch zu lesen [braucht], um Aufschluss über den Charakter zu erhalten«,89 erreichte ab dem Ende des 18. Jahrhunderts und, bedingt durch die Photographie, im 19. Jahrhundert neue Beliebtheit.90 Dieser Verknüpfung zwischen Photographie und Physiognomik trägt Großklaus Rechnung, wenn er diese Tendenz des Herauslesens des Charakters aus äußeren Anzeichen, die er in der Literatur ab 1820 feststellt, als »vorphotographische, visuelle Methode«91 bezeichnet, da sie bereits vor Erfindung der Photographie auszumachen ist, ihr Vorgehen jedoch dem beim Betrachten einer Photographie verwendeten ähnelt. Typisch für das Verfahren in der Literatur sind Merkmale der Photographie bzw. Photographiebetrachtung wie »die visuelle Selektion, Detaillierung und Fixierung _____________ 86 87 88 89 90 91

Plett, Rahmen ohne Spiegel, S. 162. Kiefer, Der determinierte Beobachter, S. 179. Kemp, Vorwort, S. 16. Hämmerle, Schattenriss, S. 77. Vgl. zur Verbindung von Photographie und Physiognomik Kapitel 3.1.4. der vorliegenden Arbeit. Götz Großklaus, Wirklichkeit als visuelle Chiffre. Zur ›visuellen Methode‹ in der Literatur und Photographie zwischen 1820 und 1860 (E.T.A. Hoffmann, Heine, Poe, Baudelaire). In: Segeberg, Die Mobilisierung des Sehens, S. 191.

5.1. »Cécile«

207

eines Bildausschnittes«,92 zu denen sich mit der »Dechiffrierung der Zeichen auf der Oberfläche des Körpers«93 Merkmale der Physiognomik gesellen. Diese ließ sich anhand von Photographien besser erproben als an den Personen selbst, da die Bilder ein fixiertes Abbild enthielten, das sich eingehend studieren ließ, ohne dass gesellschaftliche Konventionen oder die Bewegung des Objekts die Betrachtung verhindert hätten. Als Ziel dieser Methode gibt Großklaus Folgendes an: »die visuelle Entschlüsselung einer privaten Geschichte; die Entmystifikation der Geheimnisbergenden Person; die Feststellung der verborgenen Geschichte in der Sichtbarkeit des Körperbildes«.94 All diese Aspekte lassen sich im Verhalten des »auf bloße Beobachtung angewiesen[en]« (CE, S. 327) Gordon erkennen, dessen Wahrnehmung Céciles daher – als transmediales Phänomen vom Typ 1.2. – als photographieanalog bezeichnet werden kann. Der Detailliertheit seiner Beobachtungen trägt Downes Formulierung Rechnung, er nehme »Cécile anhaltend unter die Lupe«,95 so wie man früher Photographien fasziniert durch die Lupe betrachtete, um mehr Details zu erkennen. Das Vorhaben der Enträtselung Céciles durch die Aufdeckung ihrer Geschichte wird betont, wenn Gordon bei ihrem ersten Anblick denkt: »Dahinter steckt ein Roman« (CE, S. 321), und sich von da an Vermutungen darüber hingibt, wie dieser beschaffen sein könnte. Das Verfahren der Physiognomik, das ursprünglich von Lavater allein auf die Deutung unveränderlicher Gesichtspartien ausgelegt war, die über grundsätzliche Charakterzüge einer Person Aufschluss geben sollten, ist verschoben worden. Anstatt genau die Linien von Céciles Gesicht zu interpretieren – es wird im Text nirgends beschrieben – weitet Gordon seine Betrachtungen auf die gesamte Erscheinung Céciles und ihr Umfeld aus sowie auf das Lesen ihrer Reaktionen, Mimik und ihres Augenausdrucks. Damit entfernt er sich von der Art Physiognomik, die Lavater als Wissenschaft verstanden sehen wollte, denn er untersucht gerade nicht die unveränderlichen Körpermerkmale des Knochenbaus, in denen sich nach Lavater der angeborene Charakter zeige, sondern übt mit der Analyse der »beweglichen und veränderlichen Teile des Menschen [...], also Ausdruck, Gestik, Mimik, Bewegungen etc.«96 die Pathognomik, der Lavater ausdrücklich einen Wissenschaftscharakter und Verlässlichkeit abspricht.97 _____________ 92 93 94 95 96 97

Ebd., S. 204. Diese Merkmale entsprechen den in Kapitel 3.3.3. und 4.2.4. der vorliegenden Arbeit aufgestellten photographischen Kriterien Ausschnitt, Detailgenauigkeit und Immobilisierung. Ebd., S. 205. Ebd. Downes, ›Cécile‹, S. 567. Breitenfellner, Lavaters Schatten, S. 24. Vgl. ebd.

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5. Analyse der Romane

Zudem versucht Gordon nicht, Céciles Charakter zu erschließen, sondern ihre Geschichte, was einige Kritiker dazu veranlasst, ihn als Detektivfigur98 zu verstehen99 während Peter James Bowman ihn als Leser einordnet, da er nach und nach Leerstellen seines Bildes von Cécile auffüllt, so wie ein Leser zum Verständnis von Romanfiguren vorgeht.100 Beide Varianten lesen damit Gordons Tätigkeit als literaturbezogene Anspielung: Im ersten Fall nähme Fontane Bezug auf eine andere literarische Gattung, im zweiten auf Literatur und ihre Rezeption generell. Indem Fontane Gordon jedoch kein Buch, sondern eine wirkliche Person ›lesen‹ lässt, setzt er die direkte Wahrnehmung der Welt und die fiktional vermittelte gleich. Damit verweist er darauf, wie stark die Wahrnehmung der Realität selbst schon – unter anderem durch von der Kunst vorgegebene Muster – beeinflusst ist, dass eine völlig unvermittelte, direkte Wahrnehmung der Wirklichkeit nicht möglich ist. Gordons interpretatorische Tätigkeit und sein subjektives, künstlerisches Zutun zeigen sich darin, dass er den »Roman« (CE, S. 321) hinter Cécile sucht und selbst in »Mutmaßungen« (CE, S. 321, 322) erdichtet. Damit wird der Anspruch auf objektiv betriebene Wissenschaftlichkeit untergraben, wie er in der Benennung seiner ›Analyse‹ Céciles als »Rechnen und Erwägen« (CE, S. 321) zum Ausdruck kommt. In seinen Entschlüsselungsversuchen vereinigt er in seinem ›Hinzudichten‹ die künstlerische und in seiner Wissenschaftlichkeit die technische Seite der _____________ 98

Setzt man Gordons Vorgehensweise in Anlehnung an seine Interpretation als Detektivfigur in Bezug zu Peirce’s Arten des Zeichenlesens und der Schlussfolgerung, wie es von Umberto Eco und Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Der Zirkel oder Im Zeichen der Drei. Dupin, Holmes, Peirce, München 1985, vorgeschlagen wird, ergibt sich für ihn ein ähnliches Bild wie für den bekannten Detektiv: Auch Gordons Verfahren muss als Abduktion verstanden werden, als die unsicherste und subjektivste Möglichkeit des Schlussfolgerns, verglichen mit Deduktion (als sicherste Methode der Ableitung logisch zwingender Konsequenzen für den Einzelfall aus vorgegebenen Prämissen) und Induktion (als zweitsicherste Methode, in der aus der Beobachung mehrerer Einzelfälle auf ein allgemeines Gesetz geschlossen wird). Bei der Abduktion handelt es sich um ein intuitives und kreatives Aufstellen reiner Hypothesen, die auf gesundem Menschenverstand und Wahrscheinlichkeit beruhen und daher erstaunlich oft zutreffen (vgl. Thomas A. Sebeok und Jean Umiker-Sebeok, ›Sie kennen ja meine Methode‹. Ein Vergleich von Charles S. Peirce und Sherlock Holmes. In: Eco und Sebeok, Der Zirkel, S. 35), dies aber keinesfalls zwingend müssen und deshalb immer der Überprüfung bedürfen, keinesfalls jedoch an sich als feste, objektive Ergebnisse bewertet werden dürfen. Während Sherlock Holmes ein ausgesprochen guter Beobachter und Menschenkenner ist, so dass seine Vermutungen mit erstaunlicher Genauigkeit so gut wie immer zutreffen, zeigt Fontane eine deutliche größere Skepsis gegenüber dieser Möglichkeit des Zeichenlesens und lässt Gordon, der sich zu stark auf seine ungeprüften Hypothesen verlässt, dabei betont in die Irre gehen. 99 Vgl. Heuser, Fontanes ›Cécile‹; Hermann Korte, Der Diskurs der Masken. Fontanes Zeitroman ›Cécile‹. In: Ders., Ordnung & Tabu. Studien zum poetischen Realismus, Bonn 1989, S. 101–125; Kiefer, Der determinierte Beobachter. 100 Vgl. Bowman, Theodor Fontane’s ›Cécile‹.

5.1. »Cécile«

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Photographie, die beiden gegensätzlichen Pole, um die sich zeitgenössische Diskussionen zur Einschätzung des Bildmediums drehten. So wie die Mehrheit der Bevölkerung an die Objektivität photographischer Aufnahmen glaubte und die technische Seite des Bildes betonte, beurteilt Gordon sein Sehen als objektives Registrieren. Fontane stellt wie damalige Photographiekritiker dar, dass eine solche Einschätzung nicht zutrifft, da sie die subjektive Seite des künstlerischen Hinzufügens ausspart, die bei Gordon in der Eigenaktivität seiner Phantasie bei der Konstruktion von Céciles Geschichte liegt. Die Photographie beinhaltet beide Seiten untrennbar voneinander: Eine kann zwar jeweils in den Vordergrund treten, doch die andere hat weiterhin Teil an der Entstehung des Bildes: Man kann einen Gegenstand so objektiv wie möglich photographieren [...]. Oder man hat eine subjektive Ansicht [...]. In der Spanne zwischen dem Objektiven (dem Wahrheitsgehalt, dem authentischen Dokument) und dem Subjektiven (den Bildern, die im Kopf entstehen und eine persönliche Ansicht wiedergeben) spielt sich Photographie ab.101

Ebenso stellt Gordons Sehen gleichzeitig die Aufnahme objektiver Tatsachen und deren Vermischung mit subjektiven Vorstellungen dar. Er kann daher dem seinen »Studien« (CE, S. 327) zugrunde gelegten Wissenschaftsanspruch nicht gerecht werden, denn er kalkuliert die Möglichkeit von Fehlern in seinen Schlussfolgerungen nicht ein. Als »Kind des Naturwissenschaftlichen Zeitalters« und »aufgrund seiner wissenschaftlichtechnischen Ausbildung und seiner Ingenieurstätigkeit«102 handelt er wie ein Naturwissenschaftler und definiert sein Vorgehen als zuverlässige »Wissenschaft« (CE, S. 418). In Parallelsetzung zu naturwissenschaftlichen Forschungsmethoden, wie Helmholtz sie im »Gesetz der erprobten und gelungenen Annahmen über das Wahrgenommene« propagiert, das auf dem »Hypothesencharakter des Wissens gegenüber der Welt, der stets neu handelnd auf die Probe gestellt wird« beruht,103 lässt er den detaillierten Beobachtungen seines Forschungsobjekts Cécile Nachforschungen folgen (durch Fragen an den Kellner und den Brief an die Schwester). Dann nimmt er eine Klassifizierung bzw. Typisierung vor (wenn er Cécile als Fürstengeliebte einordnet), bildet auf Basis dieser Grundlage Hypothesen (dass er Cécile ungestraft und erfolgreich bedrängen könne) und überprüft diese schließlich in einem ›Experiment‹ (indem er sich ihr eröffnet und dann den Ausbruch am Opernabend folgen lässt). Auch sein Ziel entspricht dem der Naturwissenschaft: So wie diese die Natur begreifen und beherrschen will, will er sich Cécile aneignen. Doch sein gesamtes Verfahren misslingt, denn sein Untersuchungsgegenstand ist nicht _____________ 101 Frecot und Gottschalk, Nachwort, S. 117. 102 Hubertus Fischer, Gordon oder Die Liebe zur Telegraphie. In: Fontane Blätter 67 (1999), S. 50. 103 Köhnen, Das optische Wissen, S. 361.

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5. Analyse der Romane

naturwissenschaftlicher Art, sondern eine lebendige, vielseitige und nicht berechenbare Person, womit Gordon den Fehler begeht, künstlerische und logische Induktion im Sinne Helmholtz’ zu vermischen.104 Schon bei Gordons Fehleinschätzung Eginhards stellt sich heraus, dass sein Glaube an die zuverlässige Wissenschaftlichkeit seiner Vorgehensweise ihn trügt, denn er wird durch die Widersprüchlichkeit der äußeren Anzeichen verwirrt, die auf verschiedene Menschentypen hinweisen, »einen Trapper, [...] einen Rabulisten und Winkeladvokaten« oder einen »Botaniker«, wofür sich Gordon dann letztendlich aufgrund der »Botanisiertrommel« entscheidet (CE, S. 325). Er tut diesen Schluss dem Portier gegenüber als sicheres Urteil kund, ohne auch nur den geringsten Zweifel an seiner Beobachtungsfähigkeit und seiner Schlussfolgerung zu äußern, wird jedoch von diesem, einem »Menschenkenner« (CE, S. 325), eines Besseren belehrt: Es handle sich um einen »Urnenbuddler«, »Archäologe« bzw. »[s]o drum herum« (CE, S. 325). Auch diese Einschätzung trifft nicht ganz zu, liegt aber immerhin näher an der Wahrheit, denn Eginhard wird sich als am Askaniertum interessierter Privatgelehrter herausstellen. Hier wird im Kleinen der Prozess vorgeführt, den Gordon im Verlauf des gesamten Romans auf Cécile anwendet, und deutlich gemacht, dass seine Einschätzungen aufgrund der »tendency to be too quick to classify« und der »inclination to generalise« keineswegs so zuverlässig sind, wie es ihm erscheint.105 Er selbst erkennt erst wesentlich später, dass sein Verfahren ihm möglicherweise nicht die erwünschte Klarheit – er äußert im Brief an seine Schwester, dass er vor etwas »Unklarem« stehe, dass er »aufgeklärt sehen möchte« (CE, S. 361), und später: »Ich glaube jetzt klar zu sehen« (CE, S. 441) oder: »Nun klärt sich alles« (CE, S. 465) – bringen kann: Als alles im Garten »in tiefem Schatten« steht, der nur von einem »Lichtstreifen« (CE, S. 418) aus dem Zimmer der St. Arnauds unterbrochen wird, heißt es: »Gordon sah darauf hin, als ob er die Geheimnisse der kleinen Welt, die Cécile hieß, aus diesem Lichtstreifen herauslesen wollte« (CE, S. 418). Dann stellt er selbst fest: »Ich glaube gar, ich werde der Narr meiner eigenen Wissenschaft und verfalle hier in Spektralanalyse. Poor Gordon! Die Sonne mag ihre Geheimnisse herausgeben, aber nicht das Herz« (CE, S. 418). Damit bemerkt Gordon, dass sein technisierter Blick nicht in das Herz Céciles vordringen kann, dass das Innere eines Menschen nicht aus dessen Äußerem zu erkennen ist. Seine eigene Wissenschaft des genauen Beobachtens benennt Gordon mit dem Bild der »Spektralanalyse«, einer 1858 in Weiterführung von Entdeckungen Fraunhofers durch Gustav _____________ 104 Vgl. Kapitel 3.4.1. der vorliegenden Arbeit. 105 Bowman, Theodor Fontane’s ›Cécile‹, S. 29.

5.1. »Cécile«

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Kirchhoff und Robert Bunsen entwickelten Methode, Flammen in ihre Spektralfarben zu zerlegen und dadurch die brennenden chemischen Elemente anhand ihrer charakteristischen Spektrallinien zu identifizieren. Durch die Zergliederung des Lichts ließen sich die chemischen Strukturen unbekannter Substanzen erschließen und so wurden die ›Geheimnisse der Sonne’ gelüftet: Die 1814 von Fraunhofer entdeckten und als Fraunhoferlinien bekannt gewordenen dunklen Linien im Sonnenspektrum konnten nun auf die verschiedenen brennenden Elemente zurückgeführt werden. Die rein optische Analyse des Sichtbaren gab damit Aufschluss über die sonst verborgene innere Zusammensetzung des brennenden Stoffes. Gordon setzt seine Betrachtung des aus Céciles Zimmer fallenden Lichtstrahls damit der Analyse der Flammen gleich, will gleichermaßen aus dem Licht die Geheimnisse Céciles herauslesen. Dieser Bezug seiner Wahrnehmung auf aktuelle naturwissenschaftliche Forschungsmethoden im Bereich der Optik legt die Assoziation seiner Sehweise mit der Photographie noch näher, da die »erste Fotografen-Generation [...] von der Tätigkeit und dem Ethos der Naturwissenschaftler geprägt«106 war. Insbesondere die Bereiche der optischen und der photographischen Forschung waren dabei untrennbar miteinander verbunden: Einerseits nutzten Wissenschaftler die Photographie schon früh für mikroskopische und teleskopische Aufnahmen oder auch zum Festhalten der Spektralfarben (was zum ersten Mal bereits 1843 gelang), andererseits enthielten zeitgenössische Anleitungen zum Photographieren optisches Grundwissen über die Zusammensetzung des Lichts und der Spektralfarben.107 Bedeutsam war für beide, Wissenschaftler wie Photographen, dabei die ohne die Photographie nur schwer erlang- und belegbare Erkenntnis, dass nur ein Ausschnitt des Lichts dem menschlichen Auge sichtbar ist, es jedoch zu beiden Seiten des Spektrums dem Menschen nicht sichtbare Bereiche gibt: [M]any of the first workers who investigated the daguerreotype process were trying to understand the nature of light and used daguerreotypes to record solar absorption spectra. Early experiments recording spectra on daguerreotypes confirmed the existence of the infrared and ultraviolet regions of the electromagnetic spectrum. […] Before the daguerreotype there was no easy way to detect this region of the spectrum, a spectral area beyond the sensitivity of human vision.108

Gordons Parallelisierung seiner Analyse Céciles mit der »Spektralanalyse« kann damit als Bild dafür stehen, dass er nur wenige Teile ihrer komplexen Persönlichkeit wahrnehmen kann. Die Verbindung zur Photographie _____________ 106 Kemp, Vorwort, S. 17. 107 Vgl. S. D. Humphrey, American Hand Book of the Daguerreotype, 5. Aufl., New York 1858. 108 M. Susan Barger und William B. White, The Daguerreotype. Nineteenth-Century Technology and Modern Science, Baltimore 2000, S. 95f.

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5. Analyse der Romane

wird an dieser Passage zusätzlich dadurch hergestellt, dass Gordons Feststellung auch Anklänge an die für die Frühzeit der Photographie typische Sonnenmetaphorik zeigt, nach der ein Bild durch die Sonne von selbst auf der photographischen Platte entsteht und die Natur so ihre Geheimnisse preisgibt.109 Auch die bedeutende Rolle von Licht und Schatten an der zitierten Textstelle weckt Assoziationen an die Photographie, in der Lichtverhältnisse besonders klar hervortreten. In Verbindung mit einer wissenschaftlichen und photographieanalogen Wahrnehmung wird Gordon zudem durch seine Kenntnis des naturalistischen Malers Wereschtschagins gebracht (vgl. CE, S. 337), denn Diskussionen um diesen kreisten im 19. Jahrhundert ebenfalls um den »Anspruch, den Gegenstand mit analytischem Blick und derselben Leidenschaftslosigkeit zu betrachten und darzustellen, wie sie auch der Naturforscher gegenüber seinen Objekten in Anschlag bringt«.110 Im Gespräch mit Rosa über dessen Gemälde zeigt Gordon einen ebensolchen ›leidenschaftslosen‹ und »analytischen Blick« auf die Bilder, wenn er deren »schreckliche Wirklichkeit« in den sich lausenden Tempelwächtern erkennt, anstatt das Bild wie sie als »Märchen« oder »Perle« zu poetisieren (CE, S. 337).111 Die explizite Systemreferenz vom Typ 3.2.1. und 3.2.2. dient damit hier dem Verweis auf eine Figurenwahrnehmung, die der Wahrnehmungs- und Darstellungsweise eines bestimmten Künstlers bzw. einer bestimmten Kunstrichtung – dem Naturalismus – entspricht. Ein weiteres Element des Photographischen in Gordons Sehweise legt Pletts Aussage nahe, Gordon präsentiere sich »als ein literarischer Vorfahre des Homo Faber, der in ähnlicher Weise von der Berechenbarkeit der Welt ausgeht«,112 denn beide Protagonisten weisen auch in der optischen Wahrnehmungsweise Parallelen auf: Faber betrachtet die Welt häufig distanzierend durch seine Filmkamera, während Gordon ohne Kamera als »Mensch[...] mit ›Bildblick‹ «113 ähnlich vorgeht. Er hält Cécile in gleicher Weise durch seine Beobachtungen auf Distanz, anstatt wirklich zu ihrem Wesen vorzudringen. Seine Position ist »die des Verhältnisse und Personen wie durch ein Perspektiv von außen Betrachtenden«.114 Diese Distanz bleibt auch nach dem Erhalt von Clothildes Brief bestehen, wenn Gordon sich Cécile nähern möchte und sich in ihre Geschichte verstrickt, _____________ 109 Vgl. Stiegler, Bilder der Photographie, S. 131. 110 Lothar Schneider, Verschwiegene Bilder. Zur Rolle eines deutschen Grafen und eines russischen Malers in Theodor Fontanes ›Cécile‹. In: Roland Berbig (Hrsg.), Zeitdiskurse. Reflexionen zum 19. und 20. Jahrhundert als Festschrift für Wulf Wülfing, Heidelberg 2004, S. 99. 111 Vgl. a. Schneider, Verschwiegene Bilder, S. 104. 112 Plett, Rahmen ohne Spiegel, S. 166; vgl. a. Korte, Der Diskurs der Masken, S. 124. 113 Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹, S. 120. 114 Heuser, Fontanes ›Cécile‹, S. 44.

5.1. »Cécile«

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entgegen Brüggemanns Feststellung, dass im Verlauf dieses Prozesses »die kontemplative Attitüde des von außen Beobachtenden sich wandelt und die Distanz zum Objekt seiner Beobachtung schwindet«.115 Obwohl Gordon Cécile weniger kühl und »kontemplativ« beobachtet und den Abstand zwischen ihr und ihm verringern möchte, bleibt ihr Wesen ihm ebenso fern wie zuvor. Die Distanz zwischen den Figuren wächst sogar, zum einen dadurch, dass Cécile sich in Folge seiner Annäherungsversuche von ihm zurückzuziehen versucht, zum anderen, weil Gordon sie von nun an aufgrund des durch den Brief Erfahrenen und seiner dadurch gefestigten Vorurteile weniger als zuvor wirklich in ihrer Individualität wahrnehmen kann. Kein anderer Sinn wahrt soviel Distanz zum Objekt seiner Wahrnehmung wie das Sehen und wirkt dementsprechend im Maße seiner Aktivierung distanzierend./ Die Verdinglichung des Sehens im Bild ist zweifellos eine weitere Stufe der Distanzierung.116

Was Reinhard Matz hier in Bezug auf die Photographie äußert, trifft genau auf Gordon zu, der Cécile durch seine Beobachtungen ›verdinglicht‹ und anstatt der komplexen Person vielmehr nur deren Oberfläche, ein Bild derselben betrachtet. »In Gordons Vorstellung fügen sich die Beobachtungen und die bruchstückhaften Informationen zu einem klaren Bild zusammen«,117 und so »droht aus der differenzierten, ›dreidimensionalen‹ Figur Cécile im Prozess des Erzählens über sie eine entindividualisierte, zweidimensionale Abbildung zu werden«,118 sie wird zu »einer Projektionsfläche reduziert«.119 Ebenso wie die Porträtgemälde in den Wanderungen die dargestellten Personen ersetzen können und wie in Cécile gleichermaßen auf Gemälde so referiert wird, als habe man die Abgebildeten selbst vor sich,120 läuft der Prozess hier in umgekehrter Richtung ab, sodass eine Person zu einem Bild ihrer selbst reduziert wird. Damit macht Gordon aus der lebendigen Cécile, die aus seinem »Blickwinkel als Kunstwerk«121 erscheint, als ein totes Abbild, so wie in jeder photographischen Aufnahme der Porträtierte zum Bild eines Toten erstarrt, da jeder _____________ 115 Brüggemann, Das andere Fenster, S. 213. 116 Reinhard Matz, Akkommodationen – Zur Veränderung des Blicks durch die Photographie. In: Dewitz und ders. (Hrsg.), Silber und Salz, S. 578. 117 Plett, Rahmen ohne Spiegel, S. 167. 118 Ebd., S. 165. 119 Downes, ›Cécile‹, S. 570. 120 Der Kastellan stellt fest: » ›Tierstücke haben wir in diesem Schlosse nicht. Wir haben nur Fürst-Abbatissinnen. [...] Und außerdem die Quedlinburger Geistlichen lutherischer Konfession [...]. Und hier ist die Prinzessin in Person.‹ Dabei wies er auf das Bild einer mittelalterlichen Dame« (CE, S. 355). 121 Bontrup, ›…auch nur ein Bild‹, S. 114.

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5. Analyse der Romane

Festsetzung im Bild »eine mortifizierende Tendenz eingeschrieben«122 ist. Bei seinen Studien stellt Gordon fest: »Ihr Profil war von seltener Reinheit, und das Fehlen jeder Spur von Farbe gab ihrem Kopfe, darin Apathie der vorherrschende Zug war, etwas Marmornes« (CE, S. 327). Auffällig an dieser Beschreibung ist die Leblosigkeit, in der Cécile durch die Augen Gordons wahrgenommen erscheint,123 und die auch in der von ihm verwendeten Bezeichnung »Gemmenkopf« (CE, S. 360) zum Ausdruck kommt. Er selbst thematisiert diese Assoziation des Todes mit Bildern generell, sowie auch das »Thema der symbolischen ›Tötung‹ der Frau durch Repräsentation«,124 wenn er feststellt, »daß es nichts Toteres gibt als solche Galerie beturbanter alter Prinzessinnen« (CE, S. 355), deren Namen »tote Namen« (CE, S. 355) sind. Gordon versucht, sich Cécile mit dem Bild, das er sich von ihr anfertigt, anzueignen, und befindet sich auf einer Art Jagd nach ihr: Er begreift »in seiner Beziehung zu Cécile menschliche Verhältnisse als Machtverhältnisse [...]. Sobald er nämlich ihre ›Geschichte‹ kennenlernt, wird sie für ihn zur ›Beute‹, zum ›Wild‹ «.125 »Cécile ist das Opfer dieser Jagd, die von allen Seiten auf sie gemacht wird«.126 Diese vom Text nahegelegte127 Jagdmetaphorik, welche die Kritik für das Verhältnis Gordons zu Cécile gebraucht, wenden auch Photographietheoretiker wie Vilém Flusser128 und Susan Sontag129 für den Akt des Photographierens an, bei dem es ebenfalls um die Aneignung eines Objekts geht. Diese Verbindung der Photographie mit der Jagd wird nicht erst von Theoretikern des 20. Jahrhunderts hergestellt, sondern entsprach schon den Vorstellungen der Zeitgenossen Fontanes, wie die Warnung vor »Gesichts-Jägern«130 in einem Zeitungsartikel von 1864 zeigt. Insbesondere seit der Entwicklung der Momentphotographie in den 1880er Jahren, für die Étienne Jules Marey einen wie eine Flinte gebauten Photoapparat entwickelte, mit dem er fliegende Vögel anvisierte, galt die Kamera als _____________ 122 Liebrand, Das Ich und die anderen, S. 127. 123 Vgl. Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹, S. 129. 124 Cornelia Blasberg, Das Rätsel Gordon oder: Warum eine der ›schönen Leichen‹ in Fontanes Erzählung ›Cécile‹ männlich ist. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 120/Supplement (2001), S. 117. 125 Sagarra, Vorurteil, S. 134. 126 Jung, ›Bilder und immer wieder Bilder…‹, S. 204. 127 In Cécile klingt das Thema Jagd mehrmals an (vgl. CE, S. 345, 367, 382, 416), und insbesondere Gordons Kommentar über den Herzog und sein Jagdschloss: »Erst die Strecke mit dem erlegten Wild, und dann Bacchus, und dann Eros« (CE, S. 395) lässt die Deutung von Gordons Verhalten gegenüber Cécile als eine Art Jagd zu. 128 Vgl. Flusser, Für eine Philosophie, S. 31. 129 Vgl. Susan Sontag, Über Fotografie, Frankfurt am Main 1980, S. 21. 130 Erich Stenger, Die Photographie in Kultur und Technik. Ihre Geschichte während hundert Jahren, Leipzig 1939, S. 75, zitiert in: Stiegler, Bilder der Photographie, S. 51.

5.1. »Cécile«

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Waffe.131 Patricia Anne Hämmerle beschreibt die zeitgenössische Ansicht folgendermaßen: »Anhand des fotografischen Abbildes glaubt man, das Objekt selbst zu besitzen, ähnlich dem Jagdzauber, über es verfügen zu können«.132 Ebenso möchte Gordon Cécile als »sein ›Material‹ souverän beherrschen«,133 »[e]r möchte das ›Original‹ besitzen und muß sich mit einem ›Bild‹ begnügen«.134 In Gordons Seh- und Wahrnehmungsweise finden sich damit folgende, im zeitgenössischen Denken mit der Photographie assoziierte Merkmale vereinigt: Sein Sehen zeichnet sich durch Detailliertheit aus, die als eines der herausragenden Merkmale der Photographie galt. Die durch seine Beobachtungen gestützte Suche nach Céciles Geschichte gestaltet sich immer mehr als Jagd auf sie selbst und als Wunsch, sie zu besitzen, so wie Photographen Jagd auf Objekte machen, die sie anschließend in Bildform als ihren Besitz mit sich nehmen. Statt eines photographischen fertigt Gordon sich ein mentales Bild von Cécile an, in dem die lebendige, vielseitige Person zu einem leblosen Abbild erstarrt, womit auch die mortifizierende Tendenz der Photographie sich in seinem Vorgehen zeigt. Weiter zeichnet Gordon sich durch sein Streben nach einer kühlen, rationalen, distanzierten Beobachtungshaltung aus, die Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Verlässlichkeit erhebt. Dies hängt insofern eng mit der Photographie zusammen, als in ihrer Frühzeit ihre Einschätzung zwischen der als Technik oder Kunst schwankte und man sie als wichtige Entdeckung für die Wissenschaft ansah. Darüber hinaus finden sich in Gordons Verhalten Merkmale der Physiognomik als Kunst, durch die richtige Interpretation visueller Zeichen aus dem Äußeren eines Menschen seinen Charakter zu erschließen. Der Bezug zur Photographie liegt hier darin, dass die Physiognomik durch diese neue Beliebtheit erlangte und ihren Anspruch, als Wissenschaft anerkannt zu werden, verstärkte. Ziel dieser Methode ist für Gordon, aus dem Gesehenen die Geschichte Céciles herauszulesen – so wie man sie sich zu betrachteten Photographien hinzudenkt –, ihr ihn faszinierendes Geheimnis zu enträtseln, das an die magische Wirkung früher Photographien erinnern mag. Doch die Kehrseite des physiognomischen Vorgehens und der Betonung der Objektivität und Wissenschaftlichkeit zeigt sich schon in zeitgenössischen Diskussionen um die Photographie als Kunst oder Wissenschaft, um den in ihr angelegten Gegensatz von Objektivität und Subjektivität. Gordon wird vom Text zwar zunächst als vertrauenswürdi_____________ 131 Vgl. Stiegler, Bilder der Photographie, S. 255. 132 Hämmerle, Schattenriss, S. 133. Vgl. zum Vergleich der Photographie mit der Jagd auch die Kapitel Beute und Waffe in Stiegler, Bilder der Photographie, S. 49–53, 254–259. 133 Plett, Rahmen ohne Spiegel, S. 169. 134 Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹, S. 131.

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5. Analyse der Romane

ger Beobachter eingeführt, durch dessen scheinbar unverzerrt registrierende Augen der Leser die Romanwelt erblickt, doch schnell zeigt sich, dass er den Objektivitäts- und Wissenschaftsanspruch nicht erfüllt. Dementsprechend tauchen Formulierungen, die seine Tätigkeit als Wissenschaft kennzeichnen, verstärkt zu Beginn des Romans auf (vgl. CE, S. 321, 327, 418, 473). Im zweiten Teil dagegen, nach der Rückkehr nach Berlin, als Gordon bereits emotional stark involviert ist und seine Bemühungen um objektive, distanzierte Betrachtungen fehl laufen, häufen sich Passagen, an denen er durch Fenster hinausblickt (vgl. CE, S. 358, 418f, 421, 427f, 457, 476), was für seine eingeschränkte Sichtweise steht, die sich mit objektiver Wissenschaftlichkeit nicht vereinbaren lässt. »The more emotionally involved Gordon becomes, the less ›scientific‹ his method«.135 Wie sehr seine Beobachtungsfähigkeit vom Grad seiner Emotionalität abhängig ist, zeigt sich schließlich in der Opernszene, wo er »ganz und gar seiner Eifersucht hingegeben« (CE, S. 479) keiner Wahrnehmung mehr fähig ist: »Aber er sah und hörte nichts mehr und starrte nur [...] nach der Loge hinüber« (CE, S. 479). Ebenso wenig wie eine Kamera objektive Bilder aufnimmt, ist dies Gordon möglich. Das scheinbar » ›objektive‹ Registrieren Gordons [wird] als ein deutendes Wahrnehmen gezeigt: [...] Vor die ›objektive‹ Wahrnehmung schieben sich vorgeprägte Muster, Klischees«.136 In seiner Beobachtung Céciles und Konstruktion ihrer Geschichte und ihres Wesens vereinigen sich die technische, zuverlässige, wissenschaftliche Seite der Photographie und die unbemerkte, subjektive, künstlerische des eigenen Zutuns. Gordon versäumt es ganz so wie die Theorie des poetischen Realismus, sich mit dieser Subjektivität seiner durch eigene Erfahrungen und Erwartungen geprägten Beobachtungen ernsthaft auseinanderzusetzen. Stattdessen nimmt er, »nicht zufrieden mit der wirklichsten Wirklichkeit« (CE, S. 356), das durch ihn von Cécile angefertigte »Bild für die Wirklichkeit« (CE, S. 477) und genießt sie »in effigie« (CE, S. 356), selbst wenn ihm zwischenzeitlich kurze Zweifel kommen mögen, wie bei der ›Spektralanalyse-Passage‹. Damit zeigt sich in Gordon der Zwiespalt, der die Seh- und Wahrnehmungstheorien des 19. Jahrhunderts durchzieht: Einerseits weiß er um die Subjektivität seiner Wahrnehmung, andererseits vertraut er weiter darauf, dass empirische Beobachtungen ihn zur ›Wahrheit‹ führen können.137

_____________ 135 Bowman, Theodor Fontane’s ›Cécile‹, 26. 136 Kiefer, Der determinierte Beobachter, S. 173. 137 Vgl. Kapitel 3.4.1. der vorliegenden Arbeit.

5.1. »Cécile«

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5.1.1.4. Die Malerin und Beobachterin Rosa Hexel Der Text referiert häufig auf Rosa als »Malerin« (z. B. CE, S. 333, 337, 339, 341, 342) und präsentiert sie auch bei ihrem ersten Auftreten malend (vgl. CE, S. 332), so dass ihre Rolle als Malerin ausdrücklich betont wird, womit eine explizite Systemreferenz vom Typ 3.2.2. vorliegt. Als Gegenfigur zur Protagonistin ist die Malerin Rosa keine schöne, kokettierende Frau und Projektionsfläche für die Bilder und Rollenvorstellungen anderer, sondern fertigt selbst Gemälde an. Mit ihrer »Vernünftigkeit und Selbstständigkeit, ihrer Kunst, Bildung und Beredsamkeit«138 stellt sie – im Gegensatz zur abhängigen, ungebildeten und eher schweigsamen Cécile – »eine moderne Möglichkeit weiblicher Existenz«139 dar. In Zusammenhang mit ihrer eigenständigen Selbstwahrnehmung steht ihre gute Weltwahrnehmung, so dass sie auch darin als Kontrastfigur zur schlecht sehenden Cécile konzipiert ist. Dies zeigt sich etwa, wenn Gordon Rosa ähnlich wie St. Arnaud Cécile auffordert: »Sehen Sie, meine Gnädigste, da zwischen den Klippen« (CE, S. 338) und sie dabei noch zusätzlich lenkt, indem er auf einen Habicht zeigt. Rosa, die schon im vorangehenden Gesprächsverlauf ihre eigene Meinung gegenüber derjenigen Gordons behauptet hat (vgl. CE, S. 337), reagiert jedoch – im Unterschied zu Cécile, die solchen Sehanweisungen meist stumm und widerspruchslos folgt – damit, ihre eigene Interpretation des Gesehenen zu äußern: »Rosa sah dem Fluge nach und bemerkte dann: ›Er fliegt offenbar nach dem Hexentanzplatz hin‹ « (CE, S. 338). Im Unterschied zu den Männerfiguren des Romans, die sich Phantasiebilder Céciles entwerfen, kommen sowohl Rosas Gemälde als auch ihre mentalen Bilder von anderen Figuren »der Realität weitaus näher [...] als die Gordons oder St. Arnauds: Sie malt Tierbilder, in denen Authentizität und Wirklichkeitsbezug angestrebt werden«.140 Dass ihre Beobachtungen und Erkenntnisse zuverlässiger und tiefer gehend sind als die anderer Figuren, zeigt sich durch den Handlungsverlauf und durch den Kontrast zu Gordon, der seine Informationen über Cécile zu großen Teilen von Rosa bezieht (vgl. CE, S. 443). Insbesondere ihre Aussagen über die St. Arnaudschen Gäste und die Gastgeber selbst kennzeichnen sie deutlich als genaue Beobachterin, die alles, was um sie herum vorgeht, genau wahrnimmt und die Hintergründe des Verhaltens andererer gut einschätzen kann (vgl. CE, S. 454ff). Gordon dagegen bleibt im Gespräch der beiden in Anschluss an die Gesellschaft hauptsächlich in der Zuhörerrolle und _____________ 138 Kreuzer, Zur Erzähltechnik, S. 126. 139 Böschenstein, Caecilia Hexel, S. 46. 140 Becker, ›Wer ist Cécile?‹, S. 154.

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5. Analyse der Romane

nimmt – ebenso wie der Leser – Rosas Aussagen über andere Figuren als zutreffende Charakterisierungen an. Deren Gültigkeit scheint Gordon sogar so sicher, dass er seine Meinung nach derjenigen Rosas ausrichtet und eigene Eindrücke relativiert, wenn sie denen Rosas zu widersprechen scheinen (vgl. CE, S. 467, 473f). Auch der Erzähler steht »mehr z. B. hinter den Urteilen Rosa Hexels als hinter denen Gordons«.141 Diese Nähe seiner Perspektive – sowohl im visuellen als auch im übertragenen Sinne – zu derjenigen Rosas könnte man etwa darin bestätigt sehen, dass Beschreibungen, die zunächst aus der Nullfokalisierung des Erzählers zu erfolgen scheinen, nachträglich auch als interne Fokalisierung durch Rosa interpretierbar sind, ohne dass eine eindeutige Festlegung möglich wäre. Folgende, sich an diese Beschreibung anschließende Worte lassen offen, ob Rosa nur dasselbe sieht wie der Erzähler, oder ob er ihre Sicht wiedergegeben hat: »Unter diesen Vorgängen, die nur von Rosa scharf beobachtet und mit Künstlerauge gewürdigt worden waren, waren alle vier in den Schloßflur eingetreten« (CE, S. 61). Doch solche Übereinstimmungen zwischen der Perspektive Rosas und derjenigen des Erzählers bedeuten nicht automatisch, dass Rosas Beobachtungen und Ansichten als eindeutig und objektiv zu verstehen wären, denn zum einen liegen solche möglichen Übereinstimmung auch bei Gordon vor, gegen dessen Wahrnehmung der Text deutlich Stellung nimmt, zum anderen tritt auch der Erzähler, wie beschrieben, meist nicht als völlig zuverlässige, die ›gesamte Wahrheit‹ und alle Hinter- und Beweggründe durchschauende Instanz auf. Nur in Ausnahmefällen durchbricht er seine externe Fokalisierung zugunsten interner bis Nullfokalisierung und wird kurzzeitig zu einer zuverlässigen und kenntnisreichen Instanz. Dies wiederum zeichnet Rosas Wahrnehmungen und Meinungen, da der Erzähler sich ihnen anschließt, als besonders glaubwürdig aus. Vor allem aber zeigt sich ihre gute Beobachtungsfähigkeit darin, dass von ihr getätigten Aussagen kaum andere – weder von anderen Figuren noch durch die dargestellten Handlungsweisen der Figuren – entgegengesetzt werden, sondern sie vielmehr mit dem Geschilderten übereinzustimmen scheinen. Symbolisiert wird diese gute Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit in Entgegensetzung zur ›Blindheit‹ Céciles durch die Einführung Rosas als Figur, die es versteht, den »landschaftlich anziehendste[n]« Aussichtspunkt zu wählen und die bekennt, Panorama- bzw. »Weitblicke« seien ihre »Passion in Natur und Kunst« (CE, S. 332) – womit sie auch auf den Zusammenhang von Kunst- und Weltwahrnehmung in Fontanes Figurenkonzeption verweist. Während bei St. Arnaud zur Zuordnung des Panoramablicks die »Kartenpassion« (CE, S. 368) tritt und sich in seiner Wahrneh_____________ 141 Kreuzer, Zur Erzähltechnik, S. 128.

5.1. »Cécile«

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mungsweise das Verlangen nach Überblick mit dem nach Herrschaft und Besitz verbindet,142 steht die Assoziation Rosas mit der Rundsicht tatsächlich für ›Weitblick‹ und Übersicht als Voraussetzungen tieferer Erkenntnis, da sie bei ihr mit der Malerei und einem Sinn für Ästhetik verbunden ist (vgl. CE, S. 397). Diese Zuordnung erinnert an die in der Poetologie der Realisten vorgenommene Gegenüberstellung von Photographie (der die Karten mit ihrer Realitätswiedergabe in verkleinertem Maßstab in gewisser Weise ähneln) und Malerei sowie die Bevorzugung der letzteren, da sie mit ihrer Möglichkeit der ›Verklärung‹ der Darstellung von Totalität und ›Wahrheit‹ näher kommt. Rosa »beobachtet« die »Vorgänge[...]« um sich herum »scharf« und würdigt sie »mit Künstlerauge« (CE, S. 350), dessen besondere Fähigkeit zu genauer und realitätsgetreuer Beobachtung Fontane schon in den Wanderungen preist.143 Damit vereinigt sie als einzige Figur des Romans die Begabung zu Weit- mit derjenigen zu genauen Detailblicken, und zwar nicht mit einem rein sachlich-objektiv registrierenden Blick, sondern mit einfühlsamer Anteilnahme und Verständnis. In Übertragung auf ihre Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit bedeutet dies, dass sie sowohl größere Zusammenhänge durchschaut, als auch bedeutsame Einzeilheiten und individuelle Hintergründe und Eigenheiten. Zudem beinhalten Panoramablicke, die »einem die Seele weit« machen, für Rosa im Gegensatz zu »Eingeschlossenheit und Enge« das Gefühl von Unabhängigkeit und Freiheit (CE, S. 332), den Grundlagen selbstständiger Sicht- und Urteilsweisen. Während die ›Panoramapassion‹ beim auf gesellschaftliche Normen achtenden St. Arnaud im Gegenteil die Unterwerfung des Gesehenen bedeutet, verweist sie bei Rosa auf die Freiheit, die sie als »emanzipiert[e]« (CE, S. 364) Künstlerin, die sich von den Zwängen der Gesellschaft gelöst hat, genießt – um so mehr, als sie als Frau »Tiermalerin« anstatt »Blumenmalerin« ist, wie »die Welt, der Anstand, die Sitte« es für »eine Dame« fordern würden (CE, S. 334). In ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Selbstwahrnehmung ist sie von der Meinung anderer unabhängig und erkennt und akzeptiert sowohl ihre Stärken als auch ihre Schwächen, zu denen sie auch nach außen hin steht: »Und hier sehen Sie, was ich kann und nicht kann« (CE, S. 333). Im Unterschied zu den anderen Figuren, insbesondere Gordon, ist sie sich darüber hinaus der Subjektivität von Wahrnehmung und ihrer Beeinflussung durch Vorwissen, vor allem durch gesehene Bilder, bewusst. Dies zeigt ihre Vermutung, dass Gordon Gemälde Wereschtschagins kenne und daher auf ihrem Bild Totenköpfe sehe (vgl. CE, S. 337), sowie ihr Kommentar zu Gordons Äußerung, hinter jedem Baumstamm scheine _____________ 142 Vgl. Kapitel 5.1.1.1. der vorliegenden Arbeit. 143 Vgl. Kapitel 3.3.2. der vorliegenden Arbeit.

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5. Analyse der Romane

eine Hexe hervorzusehen: »Nehmen sie sich in acht, Herr von Gordon. In Ihrem Hexenspuk spukt etwas vor. Das sind die inneren Stimmen« (CE, S. 338). Sabina Becker stellt fest, dass Rosa hiermit »Gordons Wahrnehmung als Imagination benennt und so zugleich die Differenzen zwischen imaginiertem Bild und Realität aufzeigt. Seine Hinweise auf Hexen entlarvt sie als Männerphantasien«.144 Rosa weiß demnach genau über Rollenzuschreibungen und durch sie verzerrte Wahrnehmungen Bescheid und erkennt, dass Gordon dieses Verhalten Cécile gegenüber an den Tag legt. Hinter ihrem scherzhaften Zuruf verbirgt sich damit eine ernst gemeinte Warnung vor seinem Vorgehen. Rosa dient Fontane so zur expliziten Thematisierung der Wahrnehmungsmechanismen und Rollenzuschreibungen Gordons, womit die Malerin im Text »als Sprachrohr Fontanes«145 eine Metaebene der Reflexion über die Gestaltung der Figurenwahrnehmung eröffnet und dem Leser einen ausdrücklichen Hinweis an die Hand gibt. Doch ihre Fähigkeit zu Selbstständigkeit, eigener Wahrnehmung und Reflexion über deren Bedingungen wird im Text mit der Schattenseite verbunden, dass sie auf Männer keine erotische Anziehung ausübt. Sie wird von ihnen nicht als begehrenswerte Frau wahrgenommen, da sie männlichen Vorstellungsbildern von Weiblichkeit nicht entspricht und keine Projektionen zulässt. So stellt Gordon auf Céciles Eifersuchtsanflug wegen seines Zusammenseins mit Rosa klar: »Mit Rosa könnte man um den Äquator fahren, und man landete genauso, wie man eingestiegen. [...] [W]enn ich statt ihrer selbst eines ihrer Bilder unterm Arm gehabt hätte, so wäre es dasselbe gewesen [...], ihr Charmantsein ist ohne Charme« (CE, S. 468) – damit setzt Gordon, der Cécile als eine Art Bild wahrnimmt,146 hier sogar explizit die Malerin mit ihrem Gemälde gleich. All diese Wesenzüge Rosas werden dadurch verstärkt, dass sie durch den Spitznamen »Rosa Malheur« mit ihrer »berühmten Namensschwester« (CE, S. 334) in Verbindung gebracht wird,147 worauf sie stolz zu sein

_____________ 144 Becker, ›Wer ist Cécile?‹, S. 152. 145 Sylvain Guarda, Theodor Fontane und das ›Schau-Spiel‹. Die Künstlergestalten als Bedeutungsträger seines Romanwerks, Frankfurt am Main/New York 1990, S. 50. 146 Vgl. Kapitel 5.1.1.3. der vorliegenden Arbeit. 147 Sagarra, Vorurteil, S. 136 hingegen sieht ein Vorbild Rosa Hexels in der irischen Schriftstellerin Lady Morgan, die während Fontanes dortigem Aufenthalt mit Thomas Moore in London war. Parallelen sieht Sagarra darin, dass auch diese »glückliche Natur« sich »in der Männerwelt durchzuschlagen verstand, ihr Brot selbst verdiente und aus dem Vorurteil der Gesellschaft, wie sie es sah, nicht viel Aufhebens machte« (ebd.). Sagarra verweist damit auf Charakterzüge, die auch auf Rosa Bonheur zutreffen, sodass beide Figurein als einander nicht ausschließende Vorlagen Rosa Hexels denkbar sind.

5.1. »Cécile«

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zugibt.148 Die französische Tiermalerin Rosa Bonheur ist St. Arnaud natürlich bekannt, auf Nachfrage Céciles nach dem Spitznamen ihrer Bekannten Rosa allerdings lässt er seine Frau nicht an diesem Wissen teilhaben (vgl. CE, S. 342f), vermutlich nicht nur aus dem Grund, weil er Cécile lieber ungebildet sieht, sondern auch, weil eine solche Malerin nicht seinen Vorstellungen von Weiblichkeit entspricht, denen Cécile nacheifern soll. Rosa Bonheur (1822–1899) war eine angesehene Künstlerin, doch mit der Anerkennung der künstlerischen Genialität einer Frau ging im 19. Jahrhundert einher, dass man sie für anormal oder bestenfalls für asexuell [hielt]. Die Attribute der Weiblichkeit waren denen des Genies diametral entgegengesetzt; eine Frau, die künstlerische Größe anstrebte, beging, so meinte man, Verrat an ihrer häuslichen Berufung.149

Die Laufbahn als Künstlerin einzuschlagen galt im 19. Jahrhundert als revolutionär, weshalb der Vater Bonheurs dies zunächst zu unterbinden versuchte, indem er seine Tochter den Beruf einer Näherin lernen ließ, der gängigen Vorstellungen von weiblicher Berufstätigkeit eher entsprach: »Frauen, die ihren Lebensunterhalt verdienen mußten, [wählten] das Kunsthandwerk, die dekorativen Künste oder das Design«.150 Rosa Bonheur als Namenspatin der Malerin in Cécile verkörperte nicht allein durch ihre Berufswahl ein neues Frauenbild, sondern trug zudem die Haare wie ein Mann kurz geschnitten, dazu Männerkleidung, rauchte, und lebte offen als Lesbierin zusammen mit ihrer Lebensgefährtin.151 Aufgrund ihrer deutlich nach außen getragenen Haltung als emanzipierte Frau und Feministin waren trotz ihres weit verbreiteten Ruhmes einige zeitgenössische Kritiker ihr, einem »nonconformist who transcended gender categories and painted, according to various critics, like a man«152 gegenüber negativ eingestellt. In einem zeitgenössischen Lexikon heißt es, sie sei als Kind »knabenhaft« gewesen und: »Als Weib von männlichem Charakter und energischer Bestimmtheit gehört sie zu der Klasse der

_____________ 148 Fontane kannte und schätzte im Übrigen die Tierstücke Rosa Bonheurs, wie sich seinem Tagebucheintrag vom 17.10.1856 entnehmen lässt, in dem er sie neben anderen Künstlern und deren von ihm gesehenen Gemälden nach der Wertung »[e]inzelne sehr schöne Sachen« kurz auflistet mit: »Rosa Bonheur (Viehstücke)« (GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 183f, vgl. a. NFA 23/2, S. 77, 123, 168, 465; HFA III/5, S. 465). 149 Higonnet, Bilder, S. 288. 150 Ebd., S. 291f. 151 Dass Fontane nicht nur über die Kunstwerke, sondern auch die Persönlichkeit Rosa Bonheurs informiert war, zeigt eine Textstelle aus den Wanderungen, wo es über eine Frau heißt: Sie »trug das Haar kurz geschnitten à la Rosa Bonheur« (WMB 11, S. 376). 152 Heather McPherson, Bonheur, (Marie-) Rosa. In: Jane Turner (Hrsg.), The Dictionary of Art, Bd. 4, London 1996, S. 318.

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5. Analyse der Romane

Emancipierten«.153 Rosa Hexel ist eine abgeschwächte Variante Bonheurs, weder so erfolgreich noch so gesellschaftlich anstößig, trägt jedoch alle Züge ihrer Vorlage in abgemilderter Form: Auch Hexel ist hauptsächlich Tier- und teils auch Landschaftsmalerin, »emanzipiert« und nach Céciles Ansicht »etwas zu sicher und selbstbewußt« (CE, S. 364f), eckt also gleichfalls bei ihren Mitmenschen durch ihre Art an. Ebenso wie die wirkliche Malerin unterhält auch die fiktive keine erotischen Beziehungen zu Männern, da sie von diesen nicht als attraktive Frau wahrgenommen wird. Kreuzer spekuliert über eine weiter reichende Parallele, indem er feststellt, Rosa, die einen Reim auf »unsre schöne Frau, der Perlen schönste Perle« (CE, S. 410) ausspricht, sei »für die sinnliche Schönheit Céciles nicht weniger empfänglich als die Männer [...]. Die Möglichkeit gleichgeschlechtlicher Liebe (Rosa Bonheur war Lesbierin) wird hier für einen kurzen Augenblick angedeutet«.154 Auch die Maltechnik Bonheurs und deren Wertung zur Zeit Fontanes sind aufschlussreich für eine Beurteilung Rosa Hexels: Man fand ihre »Naturwahrheit schlagend«,155 pries ihre »Sorgfalt im Detail«,156 und »grosse Treue«157 oder »Lebenswahrheit«.158 Andererseits urteilte man, dass ihren Gemälden »der künstlerische Reiz«159 oder »der poetische Reiz fehlt, und daß dem entsprechend auch ihre Landschaften oft eine gewisse nüchterne Leere«160 oder »nicht immer die rechte Stimmung«161 zeigten. Ihr »detailgenauer Naturalismus« oder ihre »detailed realistic manner«162 – die Urteile schwanken in der Zuordnung zu Realismus oder Naturalismus – war durch eingehende Naturbetrachtungen und -studien erarbeitet, sie betrachtete selbst Tiere in Schlachthäusern, um deren Anatomie genau zu studieren. Rosa Bonheur als Vorbild Hexels war also gleichfalls eine sehr gute, konzentrierte und detaillierte Beobachterin, die das Abzubildende in der Natur betrachtete und möglichst objektiv direkt auf die Leinwand brachte. Ebenso zeichnet sich die Malerin in Cécile durch Bemühungen um _____________ 153 Hermann Alexander Müller, Bonheur. In: Ders., Biographisches Künstler-Lexikon der Gegenwart. Die bekanntesten Zeitgenossen auf dem Gebiet der bildenden Künste aller Länder mit Angabe ihrer Werke, Leipzig 1882, S. 65. 154 Kreuzer, Zur Erzähltechnik, S. 127. 155 A. Seubert, Allgemeines Künstler-Lexikon oder Leben und Werke der berühmtesten bildenden Künstler, 1. Bd., Frankfurt am Main 1882, S. 149. 156 Felix Becker, Bonheur, Rosa. In: Ulrich Thieme und ders. (Hrsg.), Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, 4. Bd., Leipzig 1910, S. 290. 157 Seubert, Allgemeines Künstler-Lexikon, S. 149. 158 Müller, Bonheur, S. 64. 159 Seubert, Allgemeines Künstler-Lexikon, S. 149. 160 Müller, Bonheur, S. 65. 161 Seubert, Allgemeines Künstler-Lexikon, S. 149. 162 McPherson, Bonheur, (Marie-) Rosa, S. 318.

5.1. »Cécile«

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realitätstreue Malerei sowie ebensolche mentalen Bilder der anderen Figuren aus. Als Nachnamen der fiktiven Malerin wählte Fontane passend zum Spitznamen »Malheur« die Bezeichnung »Hexel«, in Anspielung auf eine Hexe als bedrohliche und Unglück bringende Frau. Die Hexenthematik durchzieht den Text in einigen Gesprächen über den Harz, und die Einordnung Rosas als Hexe163 erklärt von Rossow für zutreffend: » ›Wie heißt sie doch?‹/ ›Fräulein Rosa Hexel.‹/ ›Mit einem x?‹/ ›Ja, Herr General.‹/ ›Na, das paßt ja. [...]‹ « (CE, S. 453). Wenn man eine Hexe als weibliche Bedrohung für Männer auffasst, muss die selbstbewusste Malerin Rosa, die sich männlichen Weiblichkeitsvorstellungen widersetzt, tatsächlich aus der Perspektive dieser Männer als Hexe erscheinen. Von Rossow zeigt in seiner Benennung Rosas als Hexe ein ähnliches Vorgehen wie die »zahlreichen Hexendarstellungen um 1900«, in denen die ›Frauenfrage‹ ihren Niederschlag »in der künstlerischen Stigmatisierung der selbstbewußten, normenüberschreitenden Frau als Hexe«164 fand. Zum Hexenmotiv passt auch Rosas Verbundenheit mit der Natur, die sie als meist im Freien arbeitende Tier- und Landschaftsmalerin auszeichnet. Schließlich sind auch die besonders gute Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, die Rosa tiefere Einblicke in die Charaktere und Gefühle ihrer Mitmenschen ermöglichen als anderen Figuren, als hexenartige Fähigkeiten anzusehen, denn ein solch umfassendes Wissen über ihre Umgebung wurde für gewöhnlich Hexen zugeschrieben und als unnatürlich oder bedrohlich empfunden. In Zusammenhang damit steht Rosas Existenz außerhalb der Gesellschaft und der gängigen Normen, denn erst die Außenseiterposition – ein Kennzeichnen von Hexen – ermöglicht ihr diese Beobachterhaltung aus »ungewöhnlicher Unbefangenheit« und das »frank und freie Wesen« (CE, S. 332).165 _____________ 163 Für Böschenstein, Caecilia Hexel, S. 46 dagegen bezieht sich die Bezeichnung ›Hexe‹ auf Cécile als verführerische und daher den Männern gefährliche Frau und sei nur aus ästhetischen Gründen der Name Rosas: »Cécile ist eine Hexe wider Willen – und wieder nimmt der Autor, um dies anzudeuten, eine Verschiebung zu Hilfe. ›Hexel‹ heißt die Freundin Rosa«. Auch für Bontrup, ›…auch nur ein Bild‹, S. 180 wird Cécile als Hexe typisiert. Die vorliegende Arbeit dagegen plädiert dafür, Rosa selbst als Hexe anzusehen, da sich an ihr – wie im vorliegenden Kapitel dargelegt wird – durchaus hexenhafte Züge erkennen lassen, während die fragile, apathische Cécile wenig mit einer solchen gemeinsam hat. 164 Richard van Dülmen, Hexenbilder. In: Ders. (Hrsg.), Hexenwelten. Magie und Imagination vom 16.–20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1987, S. 409. 165 Umfassender und eindeutiger gestaltet Fontane dieses Thema der ›Hexe‹ als guter Beobachterin und gesellschaftlicher Außenseiterin in der Jeschke in Unterm Birnbaum. Während die restliche Dorfbevölkerung einander unablässig gegenseitig überwacht ohne die tatsächlichen Verhältnisse durchschauen zu können, ist allein ihre Wahrnehmung nicht durch gesellschaftliche Konventionen und Vorurteile eingeschränkt, so dass sie Hradscheck als Mörder erkennt und sich von seinen Ablenkungsmanövern nicht beirren lässt. Damit

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5. Analyse der Romane

Neben ihrer Funktion als Kontrastfigur zu Cécile bietet die Malerin Fontane eine Gelegenheit, sein Kunstverständnis zum Ausdruck zu bringen: »Die Kunst soll die Menschen erfreuen, immer da sein, wo sie gerufen wird, aber sich nicht wie die Schnecke furchtsam oder gar vornehm in ihr Haus zurückziehen« (CE, S. 332). Sylvain Guarda stellt zu dieser Passage fest: »Rosa erweist sich hier durchaus als Sprachrohr Fontanes, der die primäre Aufgabe der Kunst in der Unterhaltung des Publikums sieht«.166 Wenn, wie Christine Anton feststellt, in realistischen Romanen drei verschiedene Arten von Künstlern, namentlich »idealistische, naturalistische und realistische Künstlerfiguren«167 zu unterscheiden sind, so ist Rosa als Realistin anzusehen. Ihre Kunst besteht »nicht im bloßen Nachahmen, sondern im Einfühlen in die darzustellenden Gegenstände«,168 sie versucht nicht, ihre Objekte naturwissenschaftlich, objektiv und distanziert zu behandeln wie die Naturalisten, sondern das Wesen des Gesehenen zu erfassen und wiederzugeben. So äußert sie beim Anblick einer zu zeichnenden Kuh beispielsweise: »Ich möchte schwören, es [das liebe Vieh] habe Gemüt« (CE, S. 397). Auch in ihrer Lebensweise entspricht sie in etwa dem Ideal eines realistischen Künstlers, denn »der Idealtyp des Künstlers [vereint] beide Komplexbereiche – das Künstlerische und Bürgerlich-Gesellschaftliche – in seiner Person«, so wie der Realismus die Synthese »von subjektiver Erfassung der Realität und objektiver Naturnachahmung« sucht.169 Dementsprechend gehört die Malerin Rosa dem Bürgertum an170 und will der Gesellschaft nützlich sein, indem sie sie mit ihrer Kunst erfreut. Auch wenn sie aufgrund ihrer freien _____________

166 167 168 169 170

zeichnet sie sich einerseits durch ihr genaues Beobachten und Bescheidwissen aus, während sie andererseits mit der ihr zugeschriebenen Fähigkeit, sich unsichtbar machen zu können (vgl. UB, S. 210), den Blicken der anderen entgeht, denn deren Urteile können ihr, die außerhalb des gesellschaftlichen Bewertungssystems steht, nichts anhaben. Ähnlich verhält es sich mit anderen Hexen- und Außenseiterfiguren in weiteren Werken: Bei Hoppenmarieken in Vor dem Sturm wird dies darin symbolisiert, dass die ›Augen‹ ihres Haus seiner Bewohnerin den Blick nach draußen gewähren, während sie selbst sich im dunklen Inneren der Beobachtung durch andere entzieht (vgl. VdS 1, S. 207). Von einer weiteren Parallelfigur im Stechlin heißt es: »Ja, die Buschen, die weiß Bescheid. Versteht sich. Man bloß, daß sie ‘ne richtige alte Hexe is« (DS, S. 355). In Ellernklipp übernimmt der alte Melcher als Sonderling mit »Leuchteblick« und »Prophetengabe« (EL, S. 346) diese Rolle, dem man bestätigt: »Ihr seht alles« (EL, S. 308) bzw.: »Du seihst joa allens« (EL, S. 338). All diese Figuren zahlen für ihre durch Sehfähigkeit erlangten Kenntnisse, die ihnen gewisse Machtpositionen erlauben, ebenso wie für ihre relative Urteilsfreiheit einen hohen Preis: den Ausschluss aus der Gemeinschaft. Guarda, Theodor Fontane und das ›Schau-Spiel‹, S. 50. Christine Anton, Selbstreflexivität der Kunsttheorie in den Künstlernovellen des Realismus, New York u.a. 1998, S. 191. Guarda, Theodor Fontane und das ›Schau-Spiel‹, S. 50. Anton, Selbstreflexivität der Kunsttheorie, S. 193. Vgl. Guarda, Theodor Fontane und das ›Schau-Spiel‹, S. 53.

5.1. »Cécile«

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Art und eigenständigen Lebensweise nicht als völlig in die Gesellschaft eingegliedert betrachtet werden kann, so ist sie doch auch keine realitätsferne Außenseiterin wie der romantische Künstlertypus, sondern steht mit beiden Beinen im Leben ohne »zu sehr an der Dingwelt der Empirie haften«171 zu bleiben, wie es den Naturalisten vorgeworfen wurde. 5.1.2. Die Subjektivität der Wahrnehmung Wie seine Figur Rosa ist sich Fontane der Subjektivität der Wahrnehmung bewusst, auf die er zwar in seinen theoretischen Schriften nicht eingeht, die er jedoch seinen Lesern anhand von Gordon vorführt. Er hat damit Teil an der im 19. Jahrhundert einsetzenden Debatte über die Begrenztheit menschlicher Wahrnehmung, die unter anderem durch Erfahrungen mit der Photographie angeregt wurde. Anhand des neuen Bildmediums wurde ersichtlich, wie ein und dasselbe Objekt von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet ganz unterschiedlich wirkt und dass zwei Betrachter nie genau denselben Blickwinkel einnehmen, da verschiedene photographische Aufnahmen eines Objekts völlig andere Bilder zeigen können. Erweitert wurde diese Erkenntnis dadurch, dass man den im wörtlichen Sinn als lokalen verstandenen Standort des Betrachters auch in übertragenem Sinne begriff. So stellte Hermann von Helmholtz172 fest, dass die Unterschiedlichkeit der Wahrnehmung, »sich nicht den optischen, sondern den kognitiven Voraussetzungen [verdankt]. Das Gehirn ist ein Korrektiv der Sinnesdaten«.173 Genau dieses Phänomen der Veränderung des Gesehenen durch Vorwissen und Erfahrungen des Betrachters wird in Cécile hauptsächlich bei Gordon beschrieben, zeigt sich jedoch auch bei anderen Figuren und durchzieht den gesamten Text. Fast jede Figur beobachtet und beurteilt andere aus ihrer subjektiven Sicht und ist gleichzeitig selbst Objekt von Beobachtungen und Vermutungen, so dass das gesamte Romanpersonal zum »schaulustige[n] Publikum« (CE, S. 332) wird.174 _____________ 171 172 173 174

Anton, Selbstreflexivität der Kunsttheorie, S. 191f. Vgl. Kapitel 3.4.1. der vorliegenden Arbeit. Stiegler, Philologie des Auges, S. 83. Die Hotelgesellschaft inklusive Gordon sieht den Berlinern »neugierig« (CE, S. 342) nach, die Berliner wiederum betrachten und mutmaßen über Gordon und St. Arnaud (vgl. CE, S. 329, 332) oder Rosa und Cécile (CE, S. 341), der Hotelier beurteilt Cécile (vgl. CE, S. 320) und den Emeritus (vgl. CE, S. 352), Gordon schätzt den Emeritus nach seinem Äußeren ein (vgl. ebd.) und der Hofprediger liefert eine beispielhafte physiognomische Interpretation von Gordons Gesicht: »Er hat [...] einen eigensinnigen Zug um den Mund und ist mutmaßlich fixer Ideen fähig« (CE, S. 436), nimmt allerdings deren Geltung direkt zurück: »Alles, was ich gesagt habe, sind Sentiments und Mutmaßungen« (CE, S. 436).

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5. Analyse der Romane

Thematisiert wird die Problematik verzerrter Wahrnehmung explizit anhand der beiden Berliner, die sich ähnlichen Verfahren der Beobachtungen und Vermutungen wie Gordon hingeben. »So marginal die Berliner auftreten, so zentral ist ihre Funktion«.175 Sie liegt darin, zu Beginn des Romans verstärkt auf das Thema Wahrnehmung aufmerksam zu machen, auf die Fehlerhaftigkeit vorschneller, typisierender und durch Vorwissen und die Subjektivität des Betrachters verfälschter Urteile, wie sie bei Gordon begegnen. Nachdem die Berliner zwei in der Ferne liegende Türme zunächst mit bloßen Augen erblicken, stellen sie mit mehr oder weniger großer Sicherheit fest, um was für Türme es sich handeln muss: »Der nächste, das muß der Quedlinburger sein, das ist klar [...]. Aber der dahinter, der sich so in retiré hält! Ob es der Halberstädter ist? Es muß der Halberstädter sein« (CE, S. 335). Um diese Vermutung, die schnell zur Sicherheit wird, zu überprüfen, will der Sprecher diesen Turm »mit’s Perspektiv« bzw. dem »Opernkucker« »mal ein bißchen ranholen« (CE, S. 335). Damit übt er sich im gleichen Verfahren wie Gordon, der gleich nach seinem ersten Erblicken Céciles Vermutungen über sie anstellt und sie dann näheren Beobachtungen unterzieht, um diese zu verifizieren. Doch dass diese Betrachtungen nicht zur Wahrheit führen, sondern durch die Tätigkeit und Subjektivität des Beobachters verfälscht sind, zeigt sich am Fortgang des Gesprächs der Berliner, während der eine den Turm durch das Teleskop betrachtet: » ›Nu? hast du ‘n?‹/ ›Ja. Haben hab ich ihn. Und er kommt auch immer näher. Aber er wackelt so.‹/ ›Denkt nicht dran. Weißt du, wer wackelt? Du‹ « (CE, S. 336). Diese Unterhaltung verweist auf den Unterschied zwischen dem objektiv Sichtbaren und der Perspektive des Wahrnehmenden, denn es ist nicht der Turm, der näher kommt oder wackelt, sondern die Bewegung und subjektive Wahrnehmung des Betrachters selbst, die es so erscheinen lässt. Ebenso wie der Berliner das Gesehene durch das Vergrößerungsglas verändert wahrnimmt, ist der Blick Gordons durch seine Persönlichkeit sowie internalisierte Vorstellungen der Gesellschaft geprägt, die als »Wahrnehmungsfilter«176 ein objektives Sehen verhindern. Zusätzlich verweist das Teleskop auf die Photographie und Gordons photographisch-detaillierte Wahrnehmung Céciles, da Fontanes Zeitgenossen seinen Effekt mit demjenigen verglichen, der beim Betrachten einer Photographie durch eine Lupe eintritt.177 Schließlich sei noch in Erinnerung gerufen, dass allein die Verwendung des Telekops bereits auf das Thema der subjektiven Wahrnehmung verweist, denn als erstes _____________ 175 Blasberg, Das Rätsel Gordon, S. 123. 176 Kiefer, Der determinierte Beobachter, S. 173f. 177 Vgl. Buddemeier, Panorama, Diorama, Photographie, S. 80.

5.1. »Cécile«

227

optisches Instrument spielte es eine gravierende Rolle im Prozess der Erschütterung des Vertrauens in die Zuverlässigkeit der menschlichen Wahrnehmung. Allein anhand der nur mit seiner Hilfe möglichen Entdeckung und deren Interpretation bewirkte Galilei die bereits von Kopernikus eingeleitete komplette Umkehr des geozentrischen Weltbildes, wodurch die Relativität jeglicher Wahrnehmung deutlich wurde: Die Erde musste nun im Kontext komplett neuer Größen- und Bewegungsverhältnise gesehen werden, der Wahrnehmungsakt in seiner Relativität wurde erstmals auf spektakuläre Weise zu einem bewussteren, zu hinterfragenden Prozess. Zugleich wurde deutlich, dass alle Wahrnehmung und Erkenntnis nur fragmentarisch sein kann, da das durch Instrumente verbesserte Sehen das Wissen zwar erweiterte, aber auch zeigte, dass trotz zukünftiger Optimierungen doch immer Lücken bleiben würden.178 Auch die Rolle des Beobachters wurde bereits problematisiert, denn Galilei stellte Überlegungen an, wie umgekehrt die Erde beim Blick von einem anderen Stern aus wahrgenommen werden könnte, interessierte sich also für den gesamten Sehprozess und die Rollen von Sehendem und Gesehenem179 – auch dies ein Element, das in der Textpassage mit dem Teleskop anklingt, werden doch die beiden beobachtenden Berliner selbst wiederum von der Ausflugsgesellschaft kritisch beäugt. An einer früheren Textstelle äußern sie Vermutungen über Gesehenes, wenn sie ein Haus erblicken und aufgrund ihrer – wohl angelesenen oder gehörten – Vorkenntnisse annehmen, es sei die Roßtrappe, bis der Kellner sie über ihren Irrtum belehrt: ›Nicht wahr, Kellner, das rötliche Haus da oben, das ist die Roßtrappe?‹/ ›Nicht ganz, mein Herr. Die Roßtrappe liegt etwas weiter zurück. Das Haus, das Sie sehen, ist das ›Hôtel zur Roßtrappe‹.‹/ ›Na, das ist die Roßtrappe. Das Hôtel entscheidet [...]‹. (CE, S. 323f)

Hier wie auch im weiteren Verlauf des Gesprächs zeigt sich der Einfluss subjektiven Vorwissens auf die Wahrnehmung, die dadurch eingeschränkt und irregeleitet wird. Wie fehlgeleitet allein vom äußeren Anschein her angestellte Vermutungen sind, betont der Text durch die Häufigkeit, mit der die Berliner sich in ihren Annahmen irren, denn gleich darauf liegt einer der beiden ein zweites Mal falsch in der Vermutung, »da drüben, wo der Rauch zieht« (CE, S. 324), befinde sich eine Brauerei, worauf der Kellner dessen Wahrnehmung und Einschätzung erneut korrigiert: »Nein, hier mehr links. Die Schornsteine nach rechts hin sind die Blechhütte« (CE, S. 324). _____________ 178 Vgl. Köhnen, Das optische Wissen, S. 155–157. 179 Vgl. ebd., S. 152–155.

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5. Analyse der Romane

Im Roßtrappengespräch wird darüber hinaus die Vereinfachung und Generalisierung des Gesehenen thematisiert, da die Gäste – im Gegensatz zum Kellner – nicht zwischen Roßtrappe und Hotel unterscheiden wollen, sondern beides für dasselbe erklären. Ähnlich hatten sie direkt zuvor den Harz nicht als einzigartige Gebirgsform wahrgenommen, sondern ihn typisiert als »[m]erkwürdig ähnlich. Ein bißchen wie Tivoli« (CE, S. 323). Ebenso vereinfacht auch Gordon, der wie Eginhard einen »Hang[...] zu generalisieren« (CE, S. 377) hat, Cécile zu einer beliebigen ehemaligen Fürstengeliebten ohne Moral und einer »Frau [...] wie tausend andere« (CE, S. 441), anstatt ihre Individualität anzuerkennen und Unterschiede zu machen. Dass eine solche Behandlung den betreffenden Gegenständen und Personen nicht gerecht wird, spricht der Präzenptor aus, der sogar eine Auszeichnung ablehnte, weil sie ihm nicht individuell genug erschien: »[S]o geht alles nach Rubrik und Schablone, wonach ich mich nicht behandeln lassen wollte« (CE, S. 405). Auch über die von ihnen betrachteten Personen geben die Berliner sich ebenso wie Gordon Vermutungen und Typisierungen hin, wenn sie sich Gordon als Gordon-Leslie aus Wallensteins Tod vorstellen und St. Arnaud dementsprechend als Oberst Buttler. Als einer der beiden Zweifel an diesen Parallelen äußert, genügt dem anderen der Beleg durch das Aussehen: » ›Meinst Du?‹/ ›Freilich mein ich. Sieh dir ‘n mal an [...]‹ « (CE, S. 329). Bei ihrem nächsten Auftreten setzten sie diese Betrachtungen über Gordon fort: » ›Sieh nur, schon den Shawl überm Arm. Der fackelt nicht lange« (CE, S. 332). Thematisiert wird hier die Veränderung der Wahrnehmung durch als Vorbilder bzw. Typen genutzte Figuren der Kunst, in diesem Fall der Literatur, denen Personen gleichgesetzt werden. Speziell bei Gordon, der sich an mehreren Textstellen als Kenner der Malerei hervortut – beispielsweise durch sein Interesse an Rosas Bildern, das deutlich gegenüber dem geringeren St. Arnauds und Céciles abgehoben wird,180 oder in seiner Aussage: »Ach, wie viele solcher ›Galeries of beauties‹ hab ich gesehen« (CE, S. 356) – entstammen solche Typen oft Gemälden. Dies zeigt sich neben seiner Assoziation Céciles mit einem Gemälde von Queen Mary (vgl. CE, S. 420f) in seinen Betrachtungen zu einem Gemälde Rosas, das ein »aus vielen Feldsteinen aufgebautes Grabmal« (CE, S. 337) zeigt. Gordon erkennt in einigen Steinen »eine Totenkopfphysiognomie« und überlegt, ob »ein Steinkegel oder eine Schädelstätte« dargestellt sei, da er Skizzen zu Wereschtschagins Apotheose des Krieges kennt, auf dem in ähnli_____________ 180 Bei der Durchsicht von Rosas Mappe wird betont: »Nur Gordon war bei der Sache«, während St. Arnaud sich »ohne recht hinzublicken« auf allgemeine Bewunderung beschränkt und Cécile »zwar hinsah, aber doch vorwiegend mit einem schönen Neufundländer spielte« (CE, S. 336).

5.1. »Cécile«

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cher Weise aufgetürmte Schädel abgebildet sind (CE, S. 337). Auf diese Beeinflussung seiner Wahrnehmung macht Rosa explizit aufmerksam, indem sie nachfragt, ob er diese Bilder gesehen hat.181 Im Text erfährt man des Weiteren, Gordon sei »speziell von einem für landschaftliche Dinge geübten Auge« (CE, S. 333), womit er genau die Fähigkeit besitzt, die zeitgenössische Maler durch die Rezeption ihrer Gemälde und Fontane in den Wanderungen durch seine bildhaften Beschreibung zu schulen suchten. Damit ist davon auszugehen, dass Gordon sich diese Sehfähigkeit zum einen durch häufige Gemäldebetrachtungen angeeignet hat. Zum anderen ist eine von Gordons herausragenden Eigenschaften seine Vielgereistheit (vgl. CE, S. 337, 372, 385) und » ›bewusstes Sehen‹ [...] wird nach Fontanes Überzeugung erworben durch die Erfahrung der Fremde«.182 Eine weitere Beeinflussung erfährt Gordons Wahrnehmung durch Geschichten, wie sich bei seiner Assoziation des Bildnisses von Queen Mary mit Schillers entsprechendem Drama zeigt, von dem ausgehend er nicht nur Cécile als Mary Stuart sieht, sondern auch St. Arnaud als Bothwell (vgl. CE, S. 421). Dadurch, dass dieser im Drama Marias Liebhaber ist, der den Ehemann ermordet, in Cécile jedoch der Ehemann selbst, der später in Gordon einen nur vermeintlichen Konkurrenten tötet, verweist der Text darauf, wie sehr solche durch Geschichten beeinflussten Wahrnehmungen aufgrund von Typisierung und Generalisierung die Realität verfehlen.183 Gordon selbst thematisiert diese wahrnehmungsverändernde Wirkung von Geschichten: [D]ie Landschaft ist hier so gesättigt mit derlei Stoff [Hexengeschichten, N.H.], daß die Sache schließlich eine reelle Gewalt über uns gewinnt, und was mich persönlich angeht, nun, so darf ich nicht verschweigen: als ich neulich, die Mondsichel am Himmel, das im Schatten liegende Bodetal passierte, war mir’s, als ob hinter jedem Erlenstamm eine Hexe hervorsähe. (CE, S. 338)

Gordon glaubt aufgrund seiner Kenntnis von Hexengeschichten in der Harzlandschaft Hexen zu erblicken, Eginhard dagegen, der sich der Gegend mit ganz anderem Vorwissen nähert, stellt fest, dort »predigt alles Kaisertum und Kaiserherrlichkeit« (CE, S. 378). _____________ 181 Fontane thematisiert im Übrigen in Cécile nicht nur den Einfluss von Bildern auf die Wahrnehmung, sondern stellt auch den umgekehrten Verlauf dar, dass die Betrachtung eines Gemäldes durch die Kenntnis der darin abgebildeten Wirklichkeit verändert wird, denn Gordon erkennt im Wereschtschaginschen Gemälde Tür einer Moschee, dass die Tempelwächter sich lausen, da er dies in der Realität erlebt hat. Rosa dagegen kann nur die idyllische Oberfläche und gute Maltechnik sehen, da ihr dieses Hintergrundwissen fehlt (vgl. CE, S. 337; Schneider, Verschwiegene Bilder, S. 104). 182 Weber, ›Au fond sind Bäume besser als Häuser‹, S. 153. 183 Vgl. Liebrand, Das Ich und die anderen, S. 166.

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5. Analyse der Romane

Dass diese Einwirkung von Vorwissen auf die Wahrnehmung nicht unbedingt und grundsätzlich negativ zu werten ist, sondern teils auch eine bereichernde Notwendigkeit, wurde schon in den Wanderungen thematisiert, wo Fontane historisches Wissen als notwendig für die ›richtige‹ Wahrnehmung der Landschaft erklärt. Auch in Cécile finden sich nicht ausschließlich negative Auswirkungen, sondern, am Beispiel der ungebildeten Cécile, auch solche dafür, wie ein Mangel an Hintergrundwissen eine Verarmung der Wahrnehmung bedeuten kann: Sie gesteht, dass auch sie zu denen gehört, die von Eginhard kritisiert werden, weil sie den Askanischen Platz, ein »Denkmal und Erinnerungszeichen«, »passieren, ohne mit dem Namen derselben auch nur die geringste historische Vorstellung zu verknüpfen« (CE, S. 379). Das Aufladen des Gesehenen mit historischen Assoziationen ist ihr demnach nicht möglich. Angesichts des Klopstock-Hauses kann Cécile auf die Frage, wie es ihr gefalle, ebenfalls nur antworten: »Es ist so grün« (CE, S. 349), da sie Klopstocks Werke wahrscheinlich nicht kennt und so allein die Oberfläche des Hauses sieht, ohne eine Verbindung zum Dichter herstellen zu können. Céciles Mangel an Bildung und Hintergrundwissen ist ihrer Wahrnehmung daher ebenso abträglich wie dem gebildeten Gordon die aus dem Bereich der Kunst stammenden Typen, da in beiden Fällen die Realität reduziert wird, im einen Fall um unbekannte Hintergründe, im anderen um individuelle Einzelheiten. Fontane plädiert damit in Cécile nicht für eine ›reine‹, registrierende Wahrnehmung, die frei von jeder Subjektivität wäre, sondern will das Bewusstsein für Wahrnehmungsmechanismen wecken und verschiedene Arten der Beeinflussung und ihre Auswirkungen darstellen, um zur Reflexion über Wahrnehmung anzuregen. Seine Kritik zielt auf das unhinterfragte Verlassen auf die absolute Zuverlässigkeit der Wahrnehmung. 5.1.3. Das Text-Bild-Verhältnis In Gordons Äußerung über die von Hexengeschichten gesättigte Landschaft (vgl. CE, S. 338), die wie in den Wanderungen das Gesehene mit einer Geschichte verbindet, zeigt sich auch in Cécile das für die Wanderungen festgestellte enge Text-Bild-Verhältnis als Verknüpfung der betrachteten Landschaft mit der zugehörigen Geschichte. Weitere Beispiele dafür bietet der Text, wenn nach Erblicken des »Hexentanzplatz« benannten Plateaus vermutet wird: »wahrscheinlich ein Felsen mit einer Sage« (CE, S. 319) und der Betrachtung des »Roßtrapp-Felsen[s]« die Erzählung der »Geschichte seines Namens« (CE, S. 339) folgt. Wie in den Wanderungen stellen Landschaftsanblicke zwar die häufigsten Anknüpfungspunkte dar,

5.1. »Cécile«

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doch auch an andere Objekte, meist Bilder oder Kunstgegenstände, schließen sich Geschichten an, beispielsweise an den Postwagen mit dem askanischen Bären im Wappen eine Erläuterung der Historie der Postwagen und der Askanier (vgl. CE, S. 388f). Auch hinter den mit Cécile verbundenen Gemälden Auroras und Mary Stuarts stehen Geschichten, denn beide wecken bei den Betrachtern Assoziationen an literarische Texte über das Leben der Porträtierten (vgl. CE, S. 355, 420f). Während bei den Landschaftsbetrachtungen bildanaloge Eindrücke mit Sagen verbunden werden, also sowohl die Zuordnung zum Medium Bild als auch die zum Text nur bei einer weit gefassten Definition beider Medien möglich ist, liegt hier die greifbare und eindeutige Verbindung eines materiellen Bildes mit einem schriftlich fixierten Text vor, die beide dem Bereich der Kunst entstammen. Die häufige Wiederholung der Verbindung von Bildern mit Geschichten lenkt die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf das Text-Bild-Verhältnis, in dem Bilder oder Ansichten nicht für sich allein stehend von Bedeutung erscheinen, sondern erst in Zusammenwirkung mit Geschichten. Diese scheinen ähnlich wie in den Wanderungen oft das Hauptanliegen zu sein, während die Bilder eher als Mittel oder Vorwand dienen, auf diese Geschichten zu verweisen, und dementsprechend wie in den Wanderungen kaum in ihrer Eigenschaft als Gemälde beschrieben werden.184 Doch ohne die Vermittlung durch die Bilder, die den Betrachter direkter und unmittelbarer ansprechen und sich ihm besser einprägen, hätten die Geschichten allein nicht die gleiche Wirkmacht wie im Zusammenspiel mit den Bildern. Für deren eindringlichere und direkte Wirkung spricht, dass nicht der historische Roman über Aurora Céciles starke Betroffenheit auslöst, sondern erst der Anblick des Porträts. Cécile »war so hingenommen von dem Bilde, daß sie von der Unechtheit desselben nichts hören und alle dafür beigebrachten Beweisführungen nicht gelten lassen wollte« (CE, S. 355). In Anbetracht der starken emotionalen Wirkung des Gemäldes auf Cécile sind vernünftig erläuternde Worte machtlos. Allerdings ist nicht außer Acht zu lassen, dass das Bild nur eine so starke Reaktion auslösen kann, weil Cécile über die Hintergründe informiert ist und »vor kaum Jahresfrist einen historischen Roman« über die Gräfin »mit besonderer Teilnahme gelesen hatte« (CE, S. 355). Bild und Text bedingen sich damit gegenseitig in ihrer Wirkung auf die Protagonistin. Der Text liefert dabei im Bild nicht darstellbare Hintergrundinformationen, die diesem erst seine volle Bedeutung verleihen und Cécile den Bezug auf sich selbst ermöglichen. Das Bild dagegen spricht die Protagonistin mit seiner unmittelbaren Intensität emotional an, ohne dass sie sich ihm entziehen könnte, und _____________ 184 Vgl. Kapitel 4.5. der vorliegenden Arbeit.

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5. Analyse der Romane

bewirkt dadurch eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Geschichte, die es in Erinnerung ruft. Die größere Einprägsamkeit von Bildern gegenüber Text zeigt sich daran, dass Vorstellungen und Erinnerungen in Cécile als bildhaft beschrieben werden, nicht als die Wiederkehr von Worten bzw. Unterhaltungen, sondern als das Vorüberziehen innerer, mentaler Bilder.185 Als Gordon sich an Cécile erinnern will, ruft ihm der Gedanke an sie ein Gemälde von Queen Mary ins Gedächtnis (vgl. CE, S. 420f.) und seine spätere Vorstellung von ihr gestaltet sich als »Bilderreihe« (CE, S. 473). In »[h]undert Bilder[n]« (CE, S. 423) und durch Gesehenes ausgelöst erfolgt auch die Erinnerung Gordons auf der Zugfahrt, wenn er auf die Berge sehen möchte – was dadurch betont wird, dass er dafür extra seinen Platz wechselt – um der dort verbrachten Zeit zu gedenken.186 Dieser von Fontane dargestellte Bildstatus von Erinnerungen lässt plausibel erscheinen, dass sie einen so starken Einfluss auf neue Eindrücke seiner Figuren ausüben, da sie sich als bildhafte Objekte vor deren Wahrnehmung neuer Bilder schieben können. Explizit thematisiert wird das Text-Bild-Verhältnis bei der Besichtigung des Quedlinburger Schlosses, wo der Kastellan »durch Erzählkunst den absoluten Mangel an Sehenswürdigkeiten auszugleichen« (CE, S. 351f) bemüht ist. Da viele Gemälde oder andere Gegenstände nicht mehr vorhanden sind, ersetzt er deren Betrachtung durch ihre Beschreibung und betreibt so eine »kunstvolle[...] Inszenierung des Ehemaligen vor dem inneren Auge des Betrachters«.187 Diesem Verfahren begegnet man schon in den Wanderungen, wo ebenfalls jeweils noch Bruchstücke des einst zu Sehenden den Anknüpfungspunkt bieten, und wo auch die genaue Vorlage zu dieser Schlossführung nachgelesen werden kann.188 In Cécile sind solche Überreste etwa die fehlende Tapete an der Stelle, wo einst der beschriebene Thron stand, oder der Rahmen, in dem sich der Spiegel befand (vgl. CE, S. 352). Der Text in Form einer Beschreibung mit Hinzu_____________ 185 Stefan Guschker, Bilderwelt, S. 274 zufolge entspricht dies den tatsächlichen Abläufen: »Erinnerungen werden als Bilder (Bildgedächtnis) gespeichert«. Vgl. aber die in Kapitel 2.1. der vorliegenden Arbeit erwähnten Diskussionen um die Verarbeitung und Speicherung von Bildern und Text im menschlichen Gedächtnis, die bisher noch zu keinem eindeutigen Ergebnis geführt haben. 186 Vgl. als weitere Textstellen, an denen Bilder mit Erinnerung verknüpft werden: »Und so [...] folgte sein Auge dem sich bald nähernden, bald entfernenden Paare mit immer gesteigertem Interesse, während er zugleich in seinen Erinnerungen weiterforschte« (CE, S. 321); Céciles Erinnerung an ihre Vergangenheit beim Anblick des Porträts der Gräfin Aurora (vgl. CE, S. 355) und Gordons Erinnerung an Quedlinburg, bei der er die gesehenen Gemälde wieder vor Augen hat (vgl. CE, S. 358). 187 Plett, Rahmen ohne Spiegel, S. 161. 188 Diese Vorlage ist die Führung durch das Rheinsberger Schloss, die Kapitel 4.3.2. der vorliegenden Arbeit behandelt.

5.1. »Cécile«

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fügung »der historischen Anekdote« (CE, S. 351) tritt hier an die Stelle der Bilder und anderer Sehenswürdigkeiten und übernimmt gleichzeitig deren Funktion, das Vergangene hervorzurufen. Der »Wert« (CE, S. 351) des Textes liegt damit in seiner Fähigkeit, Bilder komplett ersetzen bzw. sogar noch mehr als diese leisten zu können, denn die Besucher ziehen sogar – abgesehen von Cécile – die Geschichte des Spiegels diesem selbst vor (CE, S. 353), wissen also die unterhaltsame Erzählung mehr zu schätzen als den bloßen Anblick eines Gegenstandes. Nach Großklaus gehört eine solche Ergänzung oder Ersetzung von Bildern durch Text zu den Zielen der vorphotographischen Methode, die »immer wieder die Auflösung des Bild-Textes in einen Erzähl-Text, das heißt immer wieder de[n] Code-Wechsel vom Ikonischen ins Narrative«189 anstrebt. Im Kastellan gestaltet Fontane damit eine Figur, die wie der Erzähler des Romans vorgeht und auf dessen Verfahren hinweist, den Textfluss immer wieder in bildhaften Beschreibungen erstarren zu lassen, um ihn anschließend wieder weiterzuführen. Der Kunstliebhaber Fontane weiß Bilder durchaus zu schätzen und erkennt ihre spezifische Wirkmacht an, die im Gemälde Auroras, bildhaften Erinnerungen und der Beeinflussung der Wahrnehmung durch gesehene Bilder zum Ausdruck kommt. Doch als Schriftsteller betont er verstärkt die Leistungen des Textes, die Wirkung von Bildern durch Geschichten oder Hintergrundwissen verändern und Bilder sogar komplett ersetzen zu können bzw. mit den Mitteln des Textes selbst besser produzieren zu können, da so direkt eine Erweiterung um die Ebene der Geschichte möglich ist. Im Medium des Textes wird gestaltet, wie Bilder und Texte untrennbar aufeinander bezogen sind. Diese Annäherung zwischen Bild und Text begegnet auch in der Verbindung der Photographie mit dem Brief, in der der Wahrheitsgehalt von Text und Bild, der in den Wanderungen bereits thematisiert wurde,190 erneut eine Rolle spielt. Ebenso wie dort enthält auch in Cécile der Text – in Gestalt des Briefs von Clothilde – zuverlässigere Aussagen über die Wirklichkeit als das Bild – in Form des optischen Eindrucks, den Gordon von Cécile hat – oder dessen Interpretation, doch der Sachverhalt gestaltet sich komplizierter, wie das folgende Kapitel beleuchtet. _____________ 189 Götz Großklaus, Wirklichkeit als visuelle Chiffre, S. 205. Gemeint ist hiermit nicht ›ikonisch‹ im Sinne der Semiotik von Charles Sanders Peirce, also im Sinne eines Ikon als Zeichen, das – im Unterschied zum Index und zum Symbol – eine Ähnlichkeitsbeziehung zu dem von ihm bezeichneten Objekt aufweist. Im bei Großklaus vorliegenden Zusammenhang meint ikonisch lediglich den ›bildhaften‹ Charakter beschreibender Textpassagen, das ›Zeigen‹ bzw. ›Zur-Schau-Stellen‹ im Unterschied zum ›Erzählen‹ bzw. ›Berichten‹. 190 Vgl. Kapitel 4.6. der vorliegenden Arbeit.

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5. Analyse der Romane

5.1.4. Die Photographie und der Brief Clothildes Gordons Schwester Clothilde ist im Text nur durch ihre Photographie und ihren Brief präsent, wodurch das Bild seine bereits bekannte Funktion als Stellvertreter einer Person einnimmt, die nun vom ›alten‹ Bildmedium des Gemäldes, dem sie in den Wanderungen noch ausschließlich eigen war, auf das neue der Photographie übergegangen ist. Zugleich ist das Bild wie üblich mit dem Medium Text – in Form des Briefs – verbunden, zumal die Photographie zusätzlich auf dem Deckel einer Schreibmappe angebracht ist (vgl. CE, S. 425). Während der Betrachtung von Clothildes Abbildung vergegenwärtigt Gordon sich die Schwester (vgl. CE, S. 425), so dass der Brief und die Photographie in dieser Hinsicht die gleiche Funktion erfüllen, denn beide »vernichten tendenziell räumliche und zeitliche Distanz«.191 Bei der Photographie erfolgt dies durch die bildliche Anwesenheit einer Figur, beim Brief durch die schriftliche Mitteilung ihrer Erlebnisse, Gedanken oder Gefühle. Clothildes Brief hebt zudem nicht nur die Distanz zwischen Schreiberin und Empfänger auf, sondern vermindert auch den Abstand zwischen Vergangenheit und Gegenwart durch die »Vergangenheit konservierenden Briefesworte«.192 Durch diese wird Céciles bisheriges Leben für Gordon in der Gegenwart wieder bedeutsam und beeinflusst sie nachhaltig. »Das tote Bildnis«, das Clothildes Beschreibung liefert, »überschattet und [...] erstickt [die lebendige Gegenwart]«.193 Weiter ist Brief und Photographie speziell in Cécile gemeinsam, dass sie einen gewissen Wahrheits- und Objektivitätsanspruch erheben. Zum einen macht diese Assoziation der Photographie mit der Darstellung der unverklärten Wirklichkeit sie laut Hubertus Fischer, der sich als einziger Forscher bisher der Photographie Clothildes angenommen hat, zum Zeichen dafür, »daß für Gordon im alltäglichen Umgang mit Cécile die Wirklichkeit ›wirklicher‹ werden wird«:194 Gordon sieht die Protagonistin nach dem Vorkommen der Photographie im Text die ersten Male in Berlin wieder, so dass sie realer für ihn wird als in der Zwischenzeit, in der er sie sich nur vorstellen konnte. Auch wirkt sie dadurch ›wirklicher‹, dass sie für ihn erreichbarer erscheint als in Thale. _____________ 191 Großklaus, Wirklichkeit als visuelle Chiffre, S. 202. Während Großklaus diese Funktion der Photographie zuschreibt, findet sich bei Honnefelder über die Funktion des Briefs in Fontanes Romanen eine sehr ähnliche Formulierung: »Der Brief [...] überwindet die in der Regel zwischen [...] [zwei Personen] liegende räumlich-zeitliche Distanz« (Gottfried Honnefelder, Die erzähltechnische Konstruktion der Wirklichkeit bei Theodor Fontane. Zur Funktion des Briefes im Roman. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 92/Supplement (1973), S. 4). 192 Alheide Schmidt-Supprian, Briefe im erzählten Text. Untersuchungen zum Werk Theodor Fontanes, Frankfurt am Main/New York 1993, S. 66. 193 Ebd., S. 66f. 194 Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹, S. 133.

5.1. »Cécile«

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Ja, die Cécile seiner Thalenser Tage war eine schöne, trotz aller Melancholie beständig nach Huldigungen ausschauende Dame gewesen, während die Cécile von heut eine heitre, lichtvolle Frau war, vor der der Roman seiner Phantasie ziemlich schnell zu verblassen begann. (CE, S. 441)

Zum anderen steht die Photographie durch die Assoziation mit Wirklichkeit und Wahrheit in direkter Verbindung mit der Enthüllung des Geheimnisses um Cécile, die bereits direkt nach dem Auftauchen des Bildes beginnt, wenn Gordon über St. Arnaud hört, »er habe eine schöne Frau, die schon einmal verheiratet gewesen sei (sehr hoch hinauf), und habe eines Duells halber den Abschied nehmen müssen« (CE, S. 426f). Der Sachverhalt ist zwar nicht ganz getroffen, denn Cécile war nicht verheiratet, sondern nur eine Mätresse, dennoch bringen diese Informationen Gordon schon näher an die Geschichte Céciles heran, als es ihm allein durch seine Vermutungen möglich war. Ihre tatsächliche Vergangenheit erfährt er später durch Clothildes Brief, der den begonnenen Aufklärungsprozess zu Ende bringt.195 Doch eine Photographie vermag nach Ansicht der Realisten eben gerade nicht die ›ganze Wahrheit‹ wiederzugeben, sondern verfehlt die Realität, weil sie bloße Tatsachen ohne größeren Zusammenhang und Idealisierung zeigt. Gordons Aussage, dass der Eindruck, den er bei der Betrachtung ihrer Photographie von seiner Schwester gewinnt, ein falscher sei, bringt diesen unerfüllten Wahrheitsanspruch zum Ausdruck: »Clothilde. Wie gut sie aussieht. Aber sie taugt auch nichts« (CE, S. 425). Ebenso wenig kann ihre Mitteilung dem erhobenen Wahrheits- und Objektivitätsanspruch genügen, denn sie gibt – so wie die vorangehenden Erklärungen von Gordons Freunden – nur ein verzerrtes Bild von Cécile. »Hinter den scheinbar sachlich und gerecht vermittelten Ergebnissen der schwesterlichen Recherchen verbirgt sich Konformität mit den Gesellschaftsnormen und sublime Bosheit«,196 stellt Schmidt-Supprian fest, wobei sie in der Annahme beabsichtigter Bosheit wohl etwas zu weit geht. Zuzustimmen ist ihr jedoch in Folgendem: Wahrnehmungs- und Erkenntnisgrenzen [...] [werden] durch die eingeengte Briefperspektive im Kontrast zur Überschaumöglichkeit des Lesers akzentuiert [...] und damit auf die Fragmentstruktur unseres Wirklichkeitsbildes197

verwiesen. Dieser Hinweis wird dadurch verstärkt, dass Clothildes Brief ein weiterer, deutlich subjektiver und fragmentarischer Bericht der Freundin Eva Lewinski über ihre Kindheitserinnerungen an Céciles Familie beigelegt ist. Zudem empfängt Gordon den Brief direkt nachdem er durchs Fenster gesehen hat und liest ihn auch dort (vgl. CE, S. 149f, _____________ 195 Vgl. Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹, S. 133. 196 Schmidt-Supprian, Briefe im erzählten Text, S. 66. 197 Ebd., S. 231.

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5. Analyse der Romane

461),198 was als weiterer Hinweis auf die Ausschnitthaftigkeit und das Fragmentarische nicht nur seiner Wahrnehmung sondern auch des Briefs dient, ebenso wie die Verbindung mit der Photographie, die sich durch dieselben Eigenschaften auszeichnet. Gordon übernimmt die subjektiven und von Vorurteilen geprägten Schilderungen aus Brief und Anlage als »Klarheit und Wahrheit«199 und ändert sein Verhalten ins Unpassende, indem er beginnt, Cécile zu bedrängen. So tritt mit der – zumindest in Bezug auf die Fakten ihres vergangenen Lebens – ›Wahrheit‹ über Cécile auch die über Gordon zutage und seine wirklichen Absichten werden offenbar. Letztendlich verursachen diese Enthüllungen das zu Gordons Tod führende Duell, so dass der Brief für Gordon »den Anfang seines Endes«200 bedeutet. Auch dieser Tod wird bereits in der Photographie Clothildes vorweggenommen, zum einen durch die Abgebildete, die Gordon »Clotho« (CE, S. 359) nennt, womit sie den Namen einer der drei Parzen trägt, die den menschlichen Lebensfaden spinnen und dann abschneiden,201 zum anderem durch die Verbindung zwischen Tod und Photographie. Clothildes Brief oder Name enthalten keine Aussagen über die Persönlichkeit der Briefschreiberin, ihre Bedeutung liegt im Inhalt des Briefs und seiner Rolle für Gordon.202 Ebenso wenig charakterisiert die Photographie die Abgebildete, sondern sagt vielmehr etwas über Gordon und den Fortgang der Geschichte aus. Sie weist durch ihre an den Tod gemahnende Eigenschaft auf den Tod Gordons voraus, denn nach Barthes enthält jede Photographie203 Zeichen des Todes generell, das heißt nicht nur des Abgebildeten, sondern auch des Betrachters.204 Auch Guschker stellt fest: »Die erste Todeserfahrung liegt demnach schon beim Betrachten von Fotos vor. [...] [S]ie sind eine Vorahnung des eigenen Todes«.205 _____________ 198 Bevor er den zweiten, beigelegten Brief liest, öffnet er in deutlicher Symbolik auch das zweite Fenster (vgl. CE, S. 461). 199 Schmidt-Supprian, Briefe im erzählten Text, S. 66. 200 Frank, Theodor Fontane und die Technik, S. 194. 201 Vgl. Kiefer, Der determinierte Beobachter, S. 176. Kiefers Feststellung, Clotho sei die Parze, die den Lebensfaden abschneide, was die Interpretation verstärkt unterstützen würde, trifft nicht zu; sie ist diejenige der drei, die ihn spinnt. 202 Vgl. Schmidt-Supprian, Briefe im erzählten Text, S. 81. 203 In seiner Untersuchung formuliert Barthes zwar diese Verbindung zwischen Photographie und Tod grundsätzlich, nennt aber als Beispiele nur solche Bilder, auf denen Menschen abgebildet sind. Er geht nicht darauf ein, ob diese Assoziation auch bei anderen Motiven vorhanden ist. Da im Rahmen dieser Arbeit nur Porträtphotographien behandelt werden, ist die These hier anwendbar. 204 Vgl. Barthes, Die helle Kammer, S. 108. 205 Guschker, Bilderwelt, S. 317.

5.1. »Cécile«

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Damit verdeutlichen und verstärken Brief und Photographie einander in ihren Funktionen der Vergegenwärtigung von räumlich und zeitlich Fernem, der Enthüllung von ›Wahrheit‹, auf deren Subjektivität sie zugleich verweisen, und der Vorausdeutung des Todes einer Figur bzw. dem Hervorrufen von Vorgängen, die schließlich in deren Tod münden. Die Photographie deutet dabei bereits auf den Brief als »Wendepunkt in der Geschichte«206 hin und antizipiert seine Funktionen und Wirkungen, so dass ihr durchaus eine bedeutsame Rolle zukommt. 5.1.5. Die kontrastive Charakterisierung durch Bildmedien Neben diesen Bedeutungen für Gordon und seine Beziehung zu Cécile dient die Photographie der Figurencharakterisierung, indem sie mit Clothilde einer Figur zugeordnet wird, auf die zeitgenössische Assoziationen mit der Photographie zutreffen: Die Photographie zeigt »ein ›realistisches‹ Bild, wie Schwester Clothilde selbst handfest, solide, realistisch ist. Man könnte von einem personenangepaßten Medium sprechen«.207 Gordon sagt über den Namen seiner Schwester: »Er hat etwas Festes, Solides, Zuverlässiges« (CE, S. 392), und so passt das Bildmedium der Photographie als – zumindest in der Auffassung der Realisten – unpoetisches, die Wirklichkeit unbeschönigt wiedergebendes zu ihr. Cécile dagegen wird häufig in Verbindung mit Bildern anderer Art gebracht, etwa mit mentalen Bildern der sie umgebenden Figuren, besonders Gordons, und der Malerei.208 Auf eine ziemlich versteckte Weise schreibt der Text ihr noch ein weiteres Bildmedium zu: Als Gordon sich aufgrund der Kenntnis ihrer Vergangenheit ihr gegenüber zu einem zu eindeutigen Ton hat hinreißen lassen, versinkt er in Gedanken an sie. »Dabei sah er Cécile beständig vor sich, die, wie ein hinschwindendes Nebelbild, ihn aus weiter Ferne her zu grüßen und doch zugleich auch abzuwehren schien« (CE, S. 476). Hier wird Cécile mit einem von einer Laterna magica ausgestrahlten Bild verglichen, das Mitte des 19. Jahrhunderts bevorzugt als »Nebelbild« bezeichnet wurde,209 da die Bilder zur Erhöhung der Illusionswirkung häufig auf Rauch projiziert wurden. Nachdem die Laterna magica seit ihren Anfangszeiten im späten 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein zur öffentlichen Vorspiegelung von Geistererscheinungen oder anderen Illusionen verwendet wurde – _____________ 206 207 208 209

Sagarra, Vorurteil, S. 135. Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹, S. 132f. Vgl. Kapitel 5.1.1.2. der vorliegenden Arbeit. Vgl. Mergenthaler, Sehen schreiben, S. 209.

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5. Analyse der Romane

womit sich Fontane interessiert befasst hat210 – wurde sie im 19. Jahrhundert für jeden Haushalt erschwinglich und zum verbreiteten Massenmedium. Sie stand für das Poetische und Imaginative211 und galt als romantisches und poetisches Medium par excellence, womit sie genau auf Cécile zugeschnitten ist, denn diese wird in Gordons Phantasie zu einer geheimnisvollen, poetischen Gestalt verklärt und vom Text als zarte, romantische Frauengestalt präsentiert. Die Laterna magica ist zum einen technisch eine umgekehrte Camera obscura bzw. ein umgekehrter Photoapparat, da sie ein Bild mit Hilfe einer Lichtquelle durch ein Linsensystem ausstrahlt, während der Photoapparat es von außen empfängt. Zum anderen stellt sie auch in Bezug auf zeitgenössische Assoziationen als Medium des Poetischen das genaue Gegenteil der Photographie dar. Die mit diesem Bildmedium assoziierte prosaische Gestalt Clothildes wird so kontrastiv der poetischen Figur Céciles und den ihr zugeordneten Bildmedien der mentalen Bilder, Malerei und Laterna magica gegenübergestellt, womit die Bildmedien eine »kontrastive Spiegelungsfunktion«212 bei der Figurencharakterisierung erfüllen.213 5.1.6. Fazit Bilder und Sehweisen sowie Wahrnehmung und Erkenntnisfähigkeit sind in Cécile von tragender Bedeutung, wobei externe Bilder mit mentalen Bildern sowie bestimmten Wahrnehmungsweisen verbunden sind. Den verschiedenen Bildmedien – insbesondere Malerei und Photographie _____________ 210 211 212 213

Vgl. WMB 11, S. 292ff. Vgl. Mergenthaler, Sehen schreiben, S. 203f. Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹, S. 133. In L’Adultera erfolgt auf ähnliche Weise eine Zuordnung beider Bildmedien zu konträren Figuren: Die Photographie wird mit dem eher praktischen, kühlen und distanzierten Rubehn assoziiert, die Malerei dagegen mit dem gefühlvolleren, weltfremderen und künstlerischer veranlagten van der Straaten. Hinzu tritt als weitere, in Cécile nicht genutzte Zuschreibung medienspezifischer Eigenschaften zu den Figuren die Differenz zwischen alt und neu: Der vielgereiste, von der ›neuen Welt‹ Amerika geprägte Rubehn ist nicht nur wesentlich jünger und eine moderner denkende Figur als van der Straaten mit seinen Wunderlichkeiten, sondern er wird auch zu Melanies zweitem, ›neuen‹ Ehemann und führt mit ihr eine auf fortschrittlicheren Grundsätzen beruhende Ehe (vgl. Kapitel 5.2. der vorliegenden Arbeit). Ohne den Gegenpol der Malerei findet sich die charakterisierende Zuordnung der Photographie zu einer Figur bei Lizzi in Frau Jenny Treibel (vgl. FJT, S. 420). In Verbindung mit dem extrem ordentlichen, gut erzogenen, sauberen Mädchen, das mehr wie eine Puppe denn wie ein lebendiges Kind wirkt, kommen vor allem der starre Bildcharakter, die Exaktheit und die Assoziation der Photographie mit dem Tod zum Tragen.

5.1. »Cécile«

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sowie dem mit ihr verbundenen Spiegelbild – sind dabei aufgrund des gemeinsamen Bildcharakters einige Funktionen und Assoziationen gemeinsam, in anderen hingegen stehen sie sich aufgrund medienspezifischer Eigenheiten wie in der Poetologie der poetischen Realisten konträr gegenüber. Zur Figurencharakterisierung nutzt Fontane unterschiedliche, aus den Wanderungen bekannte Sehweisen, die jeweils mit verschiedenen Bildmedien und den entsprechenden zeitgenössischen Assoziationen verbunden sind und insbesondere auf die generelle Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit der Figuren verweisen, darüber hinaus jedoch auch weitergehende Aussagen über den Charakter beinhalten können. Von besonderem Interesse ist Gordons photographieanaloge, konzentrierte, quasi-naturwissenschaftliche, ausschnitthafte und detaillierte Wahrnehmung, mit der er zwar die ›Wahrheit‹ aus einzelnen Zeichen herauszulesen versucht, dabei jedoch den Gesamtzusammenhang aus den Augen verliert und das Objekt seiner Blicke mortifiziert. Zudem verfehlt er die Realität aufgrund seiner subjektiven und durch Muster aus dem Bereich der Kunst verfälschten, typisierenden und generalisierenden Sehweise. Auch St. Arnaud mit seinem militärisch-panoramatischen Herrschaftsblick ist nicht der in der Lage, die Wirklichkeit tatsächlich zu erfassen. Im Gegensatz zu Gordon, der durch seine Gefühle für Cécile verblendet ist, konzentriert er sich in seiner übergroßen emotionalen Distanziertheit zu stark auf den umfassenden Überblick, wodurch ihm der Blick auf individuelle Einzelheiten verwehrt bleibt. Beiden Sehweisen gemeinsam ist jedoch eins: Sie zielen auf die Aneignung der Beobachteten. Dagegen wird die Beobachtungsund Erkenntnisfähigkeit der Malerin Rosa gesetzt, die in Vereinigung der positiven Merkmale beider Sehweisen sowohl zu Detail- als auch zu Überblicken fähig ist. Den Merkmalen des Distanzierenden und Mortifizierenden hingegen ist ihre Fähigkeit entgegengesetzt, sich emotional auf das Betrachtete einzulassen, ohne es vereinnahmen zu wollen. Im Gegensatz zu den anderen Figuren ist sie als einzige sich der sie umgebenden Bildzuschreibungen sowie der Subjektivität von Wahrnehmung bewusst. Differenziert wird also zwischen einem photographieanalogen, einem militärisch-panoramatischen und einem malereianalogen Blick, wobei allein der letzte positiv bewertet wird. Ein solch kontrastiver Einsatz von Photographie und Malerei begegnet auch beim Einsatz der Bildmedien selbst zur Figurencharakterisierung, wo das erste der prosaischen Clothilde zugeordnet wird, das zweite der poetisch-verklärten Cécile. Gemeinsam ist beiden Bildmedien die Stellvertreterfunktion für Personen, die Assoziation mit dem Tod und die Nutzung als Identifikationsmittel und Vorlage für Persönlichkeitsmuster und -rollen – wobei auch hier nach Medium unterschieden wird: Gemäldevorlagen liefern typisie-

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5. Analyse der Romane

rende Rollenvorstellungen, ein objektives, realistisches und unverfälschtes Spiegelbild als Selbstbild jedoch ist nicht vorhanden. Eine weitere Gemeinsamkeit liegt im jeweiligen Eingehen einer engen Text-Bild-Verbindung: Die Photographie bildet mit dem Brief eine funktionale Einheit, Gemälde sind mit literarischen Geschichten verknüpft, Landschaftsansichten dagegen mit Historie. Diese Gegenüberstellung fiktiver und realer Geschichten sowie die doppelte mediale Vermittlung der Vorstellungen, die sich vor die Wahrnehmung der Figuren schieben – durch Bilder, die wiederum auf Geschichten verweisen – betont die Realitätsferne ihrer von Typisierungen und Generalisierungen durchsetzten Wahrnehmung. Dennoch plädiert Cécile nicht für ein ›reines‹ Sehen, denn auch eine mangelnde Anreicherung des Gesehenen mit Hintergrundwissen, wie sie bei der ungebildeten Cécile vorliegt, die weder zu eigenständiger Weltnoch Selbstwahrnehmung in der Lage ist, wird als schädlich vor Augen geführt. Zudem stellt der Text die Unmöglichkeit objektiver Wahrnehmung dadurch dar, dass er keine Instanz präsentiert, deren Wahrnehmung völlig zuverlässig und umfassend wäre – selbst die Aussagen des Erzählers, der wie die Figuren bis auf wenige Ausnahmen auf Außensicht begrenzt ist, sind meist nur physiognomikartige Schlussfolgerungen. Desweiteren ist oft nicht eindeutig zu entscheiden, ob das Geschehen und Ansichten gerade aus der internen Fokalisierung durch eine Figur (vor allem Gordon, teilweise auch Rosa) präsentiert werden oder aus externer bzw. Nullfokalisierung, und schließlich wechseln auch die Perspektiven häufig. So soll der Rezipient ein reflektiertes Bewusstsein dieser Subjektivität und Bedingtheit der Wahrnehmung sowie der Mechanismen von Rollenzuschreibungen durch Bilder, wie Rosa es zeigt, entwickeln. Dies wird ihm dadurch nahe gelegt, dass er während des Lesens nicht nur die Konstruktivität der einzelnen Figurenwahrnehmungen erkennt, sondern auch seine eigene Vorstellung der Romanwelt und ihrer Figuren als Eigenleistung erkennt. Er setzt die verschiedenen aus Figuren- und Erzählerperspektive erfolgten Schilderungen entsprechend seiner eigen (u.a. literarischen oder künstlerischen) Vorkenntnisse für sich zu einem logischen Ganzen zusammen, dessen Korrektheit weder veri- noch falsifizierbar ist, da die Romanwelt ebenso wenig wie die Wirklichkeit objektiv und in ihrer Gesamtheit erkennbar ist.

5.2. »L’Adultera« Wie Cécile gilt auch der Roman L’Adultera, der schon im Titel auf ein Gemälde Tintorettos verweist und damit den Bezug des gesamten Textes auf das Gemälde suggeriert, als ein Werk, in dem Bilder und Wahrneh-

5.2. »L’Adultera«

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mung von zentraler Bedeutung sind. Sabina Becker stellt fest, er spiele wie andere Romane Fontanes auch »in einer Gesellschaft, in der es um das Sehen und Gesehen werden geht«214 und Winfried Jung erklärt »die Thematik des Sehens und des Gesehen-Werdens [...] zum Thema des Romans«.215 Während in Cécile das photographieanaloge Sehen Gordons untersucht wurde und neben den verschiedenen Wahrnehmungsweisen vor allem die Photographie den Untersuchungsschwerpunkt bildete, sollen in L’Adultera die Gemälde und die von der Malerei geprägte, typisierende Wahrnehmungsweise van der Straatens, die sich deutlich vom malereianalogen Sehen Rosas abhebt, ins Zentrum der Untersuchungen rücken. Insbesondere wird auf die Bedeutung der Gemälde für die Identitätskonstitution der Figuren eingegangen. Dabei soll der unter anderem anhand der Bilder aufgestellten These Walter Müller-Seidels nachgegangen werden, dass der »Gegensatz von Typus und Individualität, von Kopie und Original, [...] das zentrale Motiv der Erzählung«216 ist. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Betrachtung der engen Text-Bild-Verbindung, die für Gerhard Neumann eine Besonderheit des Romans ausmacht.217 5.2.1. Die typisierende Wahrnehmung van der Straatens Der Blick des »bilderschwärmende[n]« (LA, S. 155) van der Straaten ist durch seine Leidenschaft verändert worden, sein »von Natur gutes und durch vieles Sehen kunstgeübtes Auge« (LA, S. 131) nimmt die gesamte Realität auf eine durch die Bildbetrachtung geprägte Art und Weise wahr. Alles Gesehene setzt er in Beziehung zu ihm bekannten Bildern und kann so seine Umwelt mit seiner »bilderreichen Einbildungskraft« (LA, S. 181) nur noch als Kopie der Bildwelt wahrnehmen. Es mangelt ihm an der Fähigkeit, zwischen Kunst und Wirklichkeit zu trennen, so dass er einerseits die ihn umgebende Wirklichkeit wie seine Gemälde betrachtet, andererseits Bilder auf ihn sehr real wirken, wie sein Kommentar zu einigen Stillleben zeigt, »über deren absolute Naturwahrheit sich van der Straaten in der ein für allemal gemünzten Bewunderungsformel ausließ ›Es werd’ ihm, als ob er taschentuchlos über den Cöllnischen Fischmarkt gehe.‹ « (LA, S. 130f). Die Gemälde in L’Adultera dienen somit unter ande_____________ 214 Becker, ›Wiederhergestellte‹ Weiblichkeit, S. 136. 215 Jung, Bildergespräche, S. 56. 216 Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart 1975, S. 172. 217 Gerhard Neumann, Wahrnehmungs-Theater. Semiose zwischen Bild und Schrift. In: Ders. und Claudia Öhlschläger (Hrsg.), Inszenierungen in Schrift und Bild, Bielefeld 2004, S. 83.

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5. Analyse der Romane

rem dem Verweis darauf, dass die Wahrnehmung einer Figur von diesem Medium stark geprägt ist, womit eine der häufigsten Funktionen expliziter Systemreferenzen vorliegt.218 Die von van der Straaten vorgenommene Gleichsetzung von Malerei und Wirklichkeit – die stark an die Reaktionen früher Photographiebetrachter erinnert, für die Bilder ebenfalls der Wirklichkeit entsprachen – bzw. die Rezeption der Realität als bloße Reproduktion von Gemälden entnommenen Vorlagen geht einher mit der Unfähigkeit, Individuelles zu erkennen, das sich gerade in den von van der Straaten übersehenen Unterschieden äußert. Stattdessen nimmt er andere Menschen als Typen wahr, insbesondere Melanie, die er »lediglich als Typus einer (potentiellen) Ehebrecherin«,219 als »junge, bequem gebettete Frau« (LA, S. 207), »[s]üße Simplicitas« (LA, S. 126) oder einfach als typische Frau (vgl. LA, S. 206) betrachtet. Das führt sogar so weit, dass er sie im Gespräch nicht direkt als Einzelwesen anspricht, sondern sie mit einem allgemeinen, alle Frauen einschließenden »ihr« (LA, S. 206) adressiert und ohne jeden Zweifel davon ausgeht, dass seine generellen Urteile über Frauen auf sie zutreffen müssen. Für ihn ist die Welt in rigoros getrennte Typisierungen aufgeteilt. [...] Für ihn ist alles eine Alltäglichkeit, ein typischer, sich in identischer Weise wiederholender Vorgang, eine kongruente oder programmatisch-realistische Kopie, die sich immer schon ähnlich bereits einmal ereignet hat.220

Da alles für ihn nur vorgegebenen Mustern folgende Wiederholung ist, nennt er seiner Frau der Malerei entstammende sowie »biblische und literarische Vorbilder, die Melanie das Typische ihrer Situation beweisen sollen«.221 Mit diesen ständigen Typisierungen ignoriert er ihren Anspruch auf Individualität und übersieht, was Melanie von diesen Vorbildern unterscheidet und ihr eigenes Wesen ausmacht, wodurch sie sich in ihrem Entschluss bestätigt sieht, sich von ihm zu trennen. Selbst sein eigenes Schicksal, schließlich von ihr verlassen zu werden, ist für ihn nur Wiederholung und Kopie eines Immergleichen, unausweichlich Vorherbestimmten: »Es mußte so kommen, mußte nach dem van der Straatenschen Hausgesetz« (LA, S. 208). In der Figur van der Straatens gestaltet Fontane eine in seiner Zeit weit verbreitete Art der Wahrnehmung, denn angesichts der kontinuierlich zunehmenden Anforderungen an die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit – etwa durch die ständig wechselnden Wahrnehmungsimpulse in der Großstadt oder die rasche Geschwindigkeit bei Zugfahrten – entwickelten viele Stadtbewohner als Abwehr- und Bewältigungsstrategie eine gewisse _____________ 218 219 220 221

Vgl. Kapitel 2.2. der vorliegenden Arbeit. Doebeling, Eine Gemäldekopie, S. 6. Ebd. Jung, Bildergespräche, S. 208; vgl. LA, S. 209.

5.2. »L’Adultera«

243

Gleichgültigkeit.222 Wie Stefan Greif ausführt, widmet Fontane sich damit in seinem Roman mit dem Blick »auf eine der empfindlichsten Schwachstellen der modernen Gesellschaft – auf die Schwierigkeit, den sozialen, medialen und ethischen Veränderungen der modernen Kultur folgen zu können«,223 demselben Thema, das William Turner in seiner Malerei beschäftigte. Dass die Betrachtung von Turners Gemälden Fontane zu entsprechenden Reflexionen angeregt hat, ist durchaus möglich, jedoch nicht nachweisbar. Fontane kannte zwar die betreffenden Bilder aus Turners Spätwerk, schätzte an ihm »eine bewundernswerte Gabe der Perspektive« und stellt fest, dass Turner ihm »ebenso imponierte wie zum Nachdenken Stoff bot«, führt jedoch nicht genau aus, um was für eine Art von Gedanken es sich dabei handelte.224 Vor allem die hauptsächlich von Licht und Farbe getragenen Bilder des Turnerschen Spätwerks lehnte Fontane in Nachfolge Waagens ab, für den diesen »gegenüber nur noch von Vermutungen die Rede sein kann; man sieht nichts mehr und ahnt nur noch«.225 Für Fontane sind diese Auflösungen der Konturen »Mängel der Turnerschen Bilder«, nicht jedoch ihre Stärken, da sie eine bestimmte Wahrnehmungsweise festhalten.226 Mit Sicherheit festzustellen ist daher allein die Übereinstimmung in der Zielsetzung beider Künstler, des Malers und des Schriftstellers, die Rezipienten auf solche problematischen Wahrnehmungsveränderungen aufmerksam zu machen, was Fontane in einem Roman anstrebt, der sich in auffälliger Weise um Gemälde dreht. Zweck des in den Kunstwerken thematisierten Abstumpfens der Wahrnehmungsfähigkeit war in der damaligen Wirklichkeit der Schutz vor zu vielen auf den Betrachter einstürmenden neuen und flüchtigen Eindrücken, deren Verarbeitung eine Überforderung darstellte.227 Dadurch konnten jedoch feine Unterschiede zwischen gesehenen Objekten nicht mehr aufgenommen werden. Auch die Photographie hatte Anteil an dieser fortschreitenden Gleichsetzung des Gesehenen, denn sie schien die Realität ohne Unterschied zwischen Bild und Abbild aufnehmen und vervielfachen zu können. Betrachter früher Photographien mussten deren Wahrnehmung erst erlernen, denn »[d]ie Augen, die bei Bildern gewöhnt sind, nur Zeichen zu sehen, erkennen den Gegenstand in seinem bildlichen Simulakrum zuerst nicht wieder und suchen nach der Differenz zwischen _____________ 222 Vgl. Stefan Greif, Turner, Stifter und Fontane – Vom Lob der Zerstreuung. In: Der Deutschunterricht 59/6 (2007), S. 50. 223 Ebd., S. 57. 224 NFA 23/1, S. 25f. 225 Ebd., S. 134. 226 Ebd., S. 134. 227 Vgl. Greif, Turner, Stifter und Fontane, S. 50.

244

5. Analyse der Romane

Bild und Abgebildetem«,228 die anscheinend bei Photographien nicht gegeben ist. Wenn Walter Benjamin für das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit eine veränderte »Wahrnehmung, deren ›Sinn für das Gleichartige in der Welt‹ so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt«,229 konstatiert, bringt er diese abgestumpfte Wahrnehmung ebenfalls in Verbindung mit Bildern bzw. deren Kopien. Van der Straaten, der sein Haus mit Reproduktionen von Originalgemälden anfüllt, wird damit zugleich mit der Kennzeichnung als Liebhaber von Gemäldekopien auch als Figur mit undifferenzierter Wahrnehmungsfähigkeit dargestellt. Dies ist umso mehr der Fall, als auch Fontane selbst in seinen kunstkritischen Schriften230 und den Wanderungen231 davor warnt, dass gerade massenhafte Gemälderezeption dazu führt, dass für den von zu vielen Einzeleindrücken überwältigten Betrachter alles zu einer gleichförmigen Masse verschwimmt. Van der Straaten erkennt Einmaliges nicht mehr als solches, wenn er es sieht, sondern ordnet es direkt in Kategorien ein und betrachtet es nur als immer gleiche Reproduktion, was sein Ausspruch: »Denn es ist schließlich alles ganz egal und, mit Permission zu sagen, alles Jacke...« (LA, S. 139) auf den Punkt bringt. Dass diese Wahrnehmungsweise van der Straatens mit seiner Gemälderezeption verbunden wird, steht nicht dafür, dass Malereibetrachtungen grundsätzlich diese Auswirkungen haben müssen – im Gegenbeispiel Rosa Hexels aus Cécile wurde gezeigt, dass die Beschäftigung mit Malerei durchaus mit einer sehr guten Beobachtungsgabe verbunden sein kann bzw. diese hervorbringt232 –, sondern ist verbunden mit dem Hinweis darauf, dass van der Straaten eine falsche Form der Kunstrezeption ausübt, ihm ein tieferes Kunstverständnis fehlt. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass er Murillo und spanische Zwiebeln auf einer Ebene nennt – »Ich mache mir nicht viel aus Spanien, aber um zweierlei beneid ich es: um seine Zwiebeln und um seinen Murillo« (LA, S. 135) – oder den »Mißgriff« begeht, die Kopie der Hochzeit zu Cana zwischen zwei Stillleben zu hängen, »in deren derber Nachbarschaft [...] die abgewogene Intimität eines Veronese kaum zur Geltung kommen« kann.233 Auch van _____________ 228 229 230 231 232 233

Stiegler, Philologie des Auges, S. 348. Benjamin, Das Kunstwerk, S. 480. Vgl. Kapitel 3.2.2. der vorliegenden Arbeit. Vgl. Kapitel 4.5. der vorliegenden Arbeit. Vgl. Kapitel 5.1.1.4. der vorliegenden Arbeit. Schwan, Die Zwiesprache mit Bildern, S. 161. Fontanes feines Gespür für solch geschmacklose Zusammenstellungen und die Verurteilung, die er van der Straaten dadurch ausspricht, lässt sein Tagebucheintrag vom 22.06.1852 über eine Gemäldeausstellung ahnen: »kritiklos jede Schmiralie angenommen und das schlechteste neben das gute und beste gehängt« (GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 34). Ähnlich abwertend wirkt folgender Kommentar über ein Theater: »Das Haus neu, geräumig und nicht ohne Eleganz. Aber es ist die

5.2. »L’Adultera«

245

der Straatens Ausführungen zu Tizian fallen »weit hinter seine [Fontanes, N.H.] eigenen Beobachtungen vor Tizians Altarretabel zurück«, in denen »ein dem Kunstwerk gerechteres, kunstgeschichtlich motiviertes Bildverständnis« deutlich wird, das van der Straaten nicht möglich ist.234 Schließlich favorisiert van der Straaten mit Tintoretto und Veronese Maler, deren Werk Fontane »stets kritisierte«,235 da sie »teppichartig, durch Farbtöne wirken und im Uebrigen in klaren, äußerlich meisterhaften Compositionen historische Momente der Republik festhalten«, doch »wollen sie mehr sein«, so findet Fontane sie »erbärmlich«, »ohne Seele« und »tief langweilig«; »der Mangel an aller Innerlichkeit ist geradezu erschreckend«.236 Auch die Begeisterung van der Straatens für Murillos Madonnen teilt Fontane nur teilweise,237 so dass der Figur insgesamt ein vom Autor negativ bzw. als fragwürdig bewerteter Kunstgeschmack zugeschrieben wird. Van der Straatens defizitäre Wirklichkeitswahrnehmung ist demnach die Folge einer ebensolchen Kunstrezeption: Auch bei Gemäldebetrachtungen zielt er nicht auf ein konzentriertes Studium von Einzelwerken, sondern handelt meist mehrere Werke auf einmal ab – so drehen sich seine Ausführungen über Gemälde um mehrere Bilder eines Malers oder gleichen Motivs bei verschiedenen Malern gleichzeitig (vgl. LA, S. 135ff), und in seinem Zimmer hängen gleich mehrere Gemälde, was dadurch betont wird, dass sich in Melanies Zimmer nur ein einziges befindet (vgl. LA, S. 122). Zudem dienen ihm die Bilder mehr als Prestigeobjekte, als dass er sie um ihres künstlerischen Wertes willen schätzen würde, was sich in der Wahl seiner Lieblingsmaler zeigt, die laut Fontane intensiver Auseinandersetzung nicht standhalten. Er ist ein Vertreter des Kopiezeitalters, in dem die von Walter Benjamin beschriebene Akzentverschiebung in der Bewertung von Kunstwerken stattfand: Beim technisch reproduzierbaren Kunstwerk – zu dem Benjamin vor allem die Photographie zählt – ist nicht mehr der »Kultwert« ausschlaggebend, sondern der »Ausstellungswert des Kunstwerkes«.238 Van der Straatens Gemälde sind zwar nicht technisch, sondern noch durch manuelles Abmalen reproduziert, doch erfüllen die Kopien für ihn bereits die Funktion, die für technische _____________

234 235 236 237 238

Eleganz und Schmuckheit einer Kneipe, deren Besitzer reich geworden ist und nun Miene macht, ein Stück Kunst in seinen Branntweintempel einzuführen« (Tagebucheintrag vom 27.10.1855, ebd., S. 56). Wagner-Douglas, Alte Meister, S. 234f. Ebd., S. 233. Theodor Fontane an Karl und Emilie Zöllner, HFA IV/2, S. 478. Weitere negative Wertungen Tintorettos und Veroneses, die Fontane meist ›kalt lassen‹ oder ›langweilen‹, finden sich in NFA 23/2, S. 18f, 20f, 31, 71, 91f. Vgl. NFA 23/2, S. 29, 31, 32, 74; Tagebucheintrag vom 14.06.1853, GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 27. Benjamin, Das Kunstwerk, S. 482.

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5. Analyse der Romane

Reproduktionen zur Norm werden sollte. Die Gemälde – von denen immerhin mindestens zwei, L’Adultera und die Hochzeit zu Cana, biblischen Inhalts sind – werden nicht aus religiös-rituellen oder Kultgründen aufgehängt, sondern als » ›Sozialindikatoren‹ «.239 Dass Besucher sie dementsprechend wahrnehmen, zeigt Duquedes Einschätzung des van der Straatenschen Vermögens: »Sie [Melanie, N.H.] hat eine Villa und eine Bildergalerie« (LA, S. 143) und: »Ich taxier ihn [van der Straaten, N.H.] auf eine Million, seine Bilder ungerechnet« (LA, S. 144). In Jacobines Wiederholung von Elimars Feststellung » ›[d]as Hübscheste sei doch das Vergleichenkönnen‹ «, der sie hinzufügt: »Er meinte, glaub ich, in der Kunst. Aber die Frage beschäftigt mich seitdem, und ich glaube kaum, daß es sich auf die Kunst beschränkt« (LA, S. 228), wird als expliziter Hinweis an den Leser genau van der Straatens Vorgehensweise benannt.240 Der Text schafft mit dieser Figurenaussage eine Metaebene, auf der die in ihm dargestellten Verfahren thematisiert werden: Van der Straatens Tendenz zum Vergleichen bzw. zum typisierenden Sehen hat sich so wie die des Malers Elimar auf dem Gebiet der Kunst entwickelt und wird von ihm auf alle Lebensbereiche ausgedehnt. Sabina Beckers folgende Feststellung trifft somit insbesondere auf ihn zu: »[D]ie von den männlichen Romanfiguren geführte Diskussion über Realität bzw. Modell und Abbild, Bild oder Gemälde wiederholt die Bild-Original-Struktur ihrer eigenen Wahrnehmungsmuster«.241 Seine vorgefertigten Wahrnehmungsschemata machen van der Straaten blind für alles von ihnen Abweichende, insbesondere individuelle Züge, die sich nicht in seine vorgefertigten Kategorien einordnen lassen. Wenn er einen anderen Menschen sieht, so wird dieser seinen Rastern entsprechend eingeschätzt und eingeordnet, wonach keine weitere Auseinandersetzung mit ihm erfolgt, so dass ein einmal erschaffenes Bild zunächst ungeprüft bestehen bleibt. Van der Straatens auf Typisches und in Gemälden Vorgefertigtes ausgerichtete Sehgewohnheit wirkt sich dabei in zwei Richtungen aus: die des Ergänzens in der Realität nicht vorhandener Bestandteile und die des Übersehens nicht erwarteter Details. So wird an ihm die Erkenntnis Hermann von Helmholtz’ veranschaulicht: »Nur was gesetzmäßig ist, was wiederkehrt, kann wahrgenommen werden. Was sich der Gesetzmäßigkeit entzieht, bleibt der Wahrnehmung unzugänglich«.242 Typische und oft wiederholte Eindrücke verfestigen sich, Einzelphänomene dagegen werden eher übersehen, und neue Eindrücke werden auf der Basis bereits _____________ 239 Jung, Bildergespräche, S. 87. 240 Im Übrigen vergleicht auch Fontane selbst in seinen kunstkritischen Schriften grundsätzlich Maler und deren Stile miteinander, spricht also wohl aus eigener Erfahrung. 241 Becker, ›Wiederhergestellte‹ Weiblichkeit, S. 137. 242 Stiegler, Philologie des Auges, S. 85.

5.2. »L’Adultera«

247

bestehender modifiziert, was dazu führen kann, dass man Dinge zu sehen glaubt, die gar nicht vorliegen, die man aber gewöhnlicherweise in einem ähnlichen Zusammenhang erwarten würde.243 Dementsprechend heißt es im Text des von der damaligen Wahrnehmungsdebatte beeinflussten Fontane über die Wahrnehmung van der Straatens, dass dieser nur das sieht, was er aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen zu sehen erwartet: In seiner Scharfsicht oft übersichtig und Dinge sehend, die gar nicht da waren, übersah er ebensooft andere, die klar zutage lagen. Er stand in der abergläubischen Furcht, in seinem Glücke von einem vernichtenden Schlage bedroht zu sein, aber nicht heut und nicht morgen, und je bestimmter und unausbleiblicher er diesen Schlag von der Zukunft erwartete, desto sicherer und sorgloser erschien ihm die Gegenwart. Und am wenigsten sah er sie von der Seite her gefährdet, von der aus die Gefahr so nahe lag und von jedem andern erkannt worden wäre. (LA, S. 194)

Zu den Dingen, die van der Straaten übersieht, zählen neben der individuellen Persönlichkeit Melanies in Folge dieser Unkenntnis die sich entwickelnde Beziehung zwischen ihr und Rubehn sowie ihre Reaktionen auf die zu ungenierte Art ihres Ehemannes. So heißt es etwa, als er darüber sinniert, alles in der Welt außer den Frauen sei zum Fallen da: »Melanie zuckte zusammen, aber niemand sah es, am wenigsten van der Straaten« (LA, S. 169). Auch an folgender Stelle ist er nach seinem Kommentar darüber, dass Verleumdung jeden treffen könne, zu sehr in seiner eigenen Vorstellungswelt befangen, um Melanies Ablehnung wahrzunehmen: »Van der Straaten indes bemerkte nichts von dieser Verstimmung und klammerte sich nur immer fester an seinen Thusnelda-Stoff« (LA, S. 170). Weitere Beispiele dafür bieten folgende Stellen: »[W]as von Befangenheit blieb, wurde, die Freundin abgerechnet, von niemandem bemerkt, am wenigsten von van der Straaten, der mehr denn je seinen kleinen und großen Eitelkeiten nachhing« (LA, S. 191), und: »[U]nser kommerzienrätlicher Freund hätte bei mehr Aufmerksamkeit und weniger Eigenliebe stutzig werden müssen über das Lächeln und den Gleichmut Anastasias« (LA, S. 194). Hauptsächlich betroffen von seinem Einordnen in Kategorien und dem Übersehen individueller Reaktionen – das durch die immer wiederkehrende Betonung, nur oder vor allem ihm entginge etwas, anderen jedoch nicht, hervorgehoben wird – ist demnach Melanie. Es erstreckt sich allerdings auch auf andere Figuren, was sich zeigt, wenn es über seine Einschätzung Rubehns heißt: Doch auch hier wiederum stand er im Bann einer vorgefaßten Meinung, und zwar eines künstlich konstruierten Rubehn, der mit dem wirklichen eine ganz oberflächliche Verwandtschaft, aber in der Tat auch nur diese hatte. (LA, S. 194)

_____________ 243 Vgl. Kapitel 3.4.1. der vorliegenden Arbeit.

248

5. Analyse der Romane

Die direkt im Anschluss folgende doppelte Erwähnung der »vorgefaßten Meinung« (LA, S. 194f) betont dieses Verfahren van der Straatens, sich von anderen typisierte Bilder zu machen, »das Abbild für die Wirklichkeit zu nehmen und dabei die Realität zu verkennen«,244 so wie er auch keinen Unterschied zwischen Gemäldekopien und Originalen macht und beide sogar mit der Realität gleichsetzt. Die Verbindung dieser Wahrnehmungsart mit Gemälden wird auch in der Passage deutlich, in der die Wirtin von Löbbekes Kaffeehaus als »Thusnelda wie sie leibt und lebt« (LA, S. 169) bezeichnet wird. Diese Typisierung und Gleichsetzung mit der Figur des Gemäldes Thusnelda im Triumphzug des Germanicus Karl von Pilotys wird allerdings von Elimar ausgesprochen, nicht von van der Straaten. Doch letzterer will schon vorher die Wirtin in eine »Kategorie« (LA, S. 166) einordnen und kommentiert Elimars Bemerkung ausführlich. Dabei stellt er eine mangelnde Übereinstimmung zwischen der Wirtin und der gemalten Thusnelda fest und schlägt vor, sie stattdessen als »Venus Spreavensis und Venus Kallipygos« (LA, S. 170) zu betrachten, liefert also erneut dem Bereich der Kunst entstammende Typisierungen. Im »Porträt- und Genremaler« (LA, S. 129) Elimar wird in dieser Passage das Vorgehen van der Straatens widergespiegelt, so wie auch sein Ausspruch über die Bedeutung des Vergleichens ebenfalls auf van der Straaten zutrifft, so dass die Verbindung des typisierenden Sehens mit der Malerei festgeschrieben wird. Anhand der gewählten Bezugsgemälde sowie dem Vokabular und van der Straatens zweideutigen Abschweifungen, die Melanie immer wieder in Verlegenheit bringen, wird deutlich, dass solche Diskurse den Gesprächspartnern oft hauptsächlich dazu dienen, unter dem Deckmantel eines gebildeten Kunstgesprächs Frauenkörper mit verdecktem erotischen Interesse ausgiebig zu betrachten und zu beurteilen. Van der Straaten setzt seinen Kommentar über die Wirtin mit Anspielungen auf einen zweideutigen Vers fort, an den Melanie sich aus Scham und Peinlichkeit nicht zu erinnern vorgibt (vgl. LA, S. 170f). Zu Tizian stellt er fest: »Auf Frau Venus versteht er sich. Das ist seine Sache. Fleisch, Fleisch« (LA, S. 137), und über Murillos Madonnen schwärmt er: ›die berauschen mich, und ich fühl es in allen Fingerspitzen, als ob es elfer Rheinwein wäre. [...] Und so blickt sie [die Mutter Gottes, N.H.] brünstig, oder sagen wir lieber inbrünstig, gen Himmel, als wolle die Seele flügge werden in einem Brütofen von Heiligkeit.‹/ ›In einem Brütofen von Heiligkeit‹, wiederholte der Polizeirat, in dessen Augen es heimlich und verstohlen zu zwinkern begann. ›In einem Brütofen! Oh, das ist magnifique, das ist herrlich, und eine Andeutung,

_____________ 244 Sabina Becker, Literatur als ›Psychographie‹. Entwürfe weiblicher Identität in Theodor Fontanes Romanen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 120/Supplement (2001), S. 99.

5.2. »L’Adultera«

249

die jeder von uns, nach dem Maße seiner Erkenntnis, interpretieren und weiterspinnen kann.‹ (LA, S. 135f)

Um »eine jener Katastrophen« zu vermeiden, »wie sie bei den kommerzienrätlichen Diners eben nicht allzu selten waren«, versucht Melanie dann, »von dem heiklen Murillo-Thema loszukommen« (LA, S. 136). Durch ihre Reaktionen und van der Straatens Ignoranz ihrer Gefühle übt der Text weitere Kritik an seiner typisierenden und erotisierenden Blickweise.245 _____________ 245 Fontane thematisiert und hinterfragt hier zwar solche Gemälde- bzw. Frauenbetrachtungen, wie sie sich schon in der Kunstkritik des 18. Jahrhunderts, etwa bei Heinse finden lassen (Heise »veralltäglicht [...], erotisiert bewußt provozierend und damalige Tabus verletzend, er versinnlicht« (Helmut Pfotenhauer, Winkelmann und Heinse, S. 321)). Dennoch scheint auch Fontane selbst – zumindest in jüngeren Jahren – ebenfalls anfällig dafür gewesen zu sein, wie folgende Tagebucheinträge über Gemälde belegen: »[D]iese Leiber sind zum Anbeißen und es ist was drin von der Sinnlichkeits-Poesie der Troubadours, aber ich stelle diese Poesie nicht hoch und die Malerei, wenn sie nur das der Art Gegebene widergiebt nicht höher« (Eintrag vom 30.06.1852. In: GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 38) und: »[M]an weiß oft nicht, ob man sich über die Schöpfung der Kunst oder der – Natur begeisterter zu äußern hat. Ueber solche englische Lady geht doch keine andere Schönheit der Welt; die Italienerinnen haben mehr Fleisch und mehr Leidenschaft – beides vielleicht für den Maler das Wahre; aber sie haben nichts von dem Seelischen, das den Beschauer zu einem Seligen macht. ›Doch brrrr Freund! Sie sind verheirathet.‹ « (Eintrag vom 22.06.1852, ebd., S. 34, vgl. a. Eintrag vom 17.11.1881, GBA, Tage- und Reisetagebücher 2, S. 135). Beide Kommentare schränkt Fontane anschließend wieder ein, wenn er sich auch im zweiten Zitat nicht in einer generellen Verurteilung solchen Betrachtungen zur Ordnung ruft, sondern nur in seiner Eigenschaft als Ehemann. Dennoch durchziehen Bewertungen weiblicher Schönheit in auffälliger Häufigkeit und Deutlichkeit seine Aufzeichnungen, wenn nicht als Gemäldebetrachtungen quasi entschuldigt, dann unter dem Vorschub, eine Schauspielerin in ihrer Eignung für eine Rolle zu beurteilen: »Frau Stolte hat zuviel Busen und zu wenig Mädchenhaftigkeit für ein Clärchen« (Tagebucheintrag vom 02.06.1853, GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 23; vgl. a. Tagebucheinträge vom 09.10.1855, 05.01.1856, 05.02.1857, ebd., S. 54, 73, 222). Häufig jedoch spart sich Fontane in den Tagebüchern, die nicht für die Augen der Öffentlichkeit bestimmt sind, auch solche ›kunst-vollen‹ Begründungen und lässt sich unumwunden zum Selbstzweck über das Aussehen von Frauen seines Bekanntenkreises aus (vgl. z. B. die Tagebucheinträge vom 04.06., 18.06. und 29.06.1853, 07.09.1855, 27.02., 07.07., 20.07., 21.07., 27.07., 14.10. und 18.10.1856, ebd., S. 24, 29, 37, 51, 86, 138, 142, 142, 147, 180, 185). Auch im frühen Roman Ellernklipp, der ein Jahr vor L’Adultera erschien, gestaltet Fontane noch einen offenen und unverholen erotisch-begierigen Blick, wie er sonst in seinem Werk in dieser Eindeutigkeit nicht mehr vorkommt, sondern durch Kunstdiskurse kaschiert wird. In Ellernklipp betrachtet der Heidereiter die am Waldesrand schlafende Hilde: Er »sah andächtig und verworren dem Bilde zu, bis er sich heimwärts wandte. Neben ihm her aber ging das Bild, und als eine Stunde später die Hilde nach Hause kam, vermied er es, sie zu sehen, wie wenn er etwas Unrechtes getan und durch die zufällige Begegnung ihr Innerstes belauscht oder ihr Schamgefühl beleidigt habe. [...] [E]r mußte sich’s zuletzt, alles Sträubens ungeachtet, in seinem Herzen bekennen: er habe sie mit anderen Augen angesehen als sonst. Ja, das war es. Und er schämte sich vor sich selbst. Aber zuletzt bezwang er’s, und nur zweierlei blieb ihm in der Seele zurück: einmal, daß die Hilde keine Kind mehr sei, und zweitens und hauptsächlichst, daß sie sein Kind nicht sei« (EL, S. 239). Auch hier wirkt der Anblick der Frau wörtlich als »Bild« auf den Betrachter und ihre Rolle als Objekt des Se-

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5. Analyse der Romane

Doch nicht nur in seiner Wahrnehmung dienen Gemälde als Vorlagen zur Erfassung der Realität, die in Umkehrung des eigentlichen Entstehungsprozesses, bei dem das Bild nach der Realität angefertigt wurde, als Kopie des Bildes rezipiert wird. Auch der Text selbst scheint nach diesem Muster konstruiert zu sein, wenn man ihn als Reproduktion des L’Adultera-Gemäldes liest, womit sich das folgende Kapitel befasst. 5.2.2. Das Text-Bild-Verhältnis: Original vs. Kopie/Typus Das aus den Wanderungen bekannte Verfahren der von Bildern ausgehenden Entwicklung von Geschichten liegt in L’Adultera dem gesamten Roman zugrunde und wird auch von seinen Figuren verwendet. Angesichts des L’Adultera-Gemäldes etwa denkt sich Melanie »in die Ehebrecherin hinein, erfindet ihr eine Geschichte, die zum Ehebruch führte«,246 und ergänzt so das Bild um seine Geschichte. Auch van der Straaten »[produziert] Erzählungen um seine Bilder herum«.247 Schließlich wird bei Gesellschaften im Speisesaal das Gespräch thematisch häufig durch Gemälde bestimmt, was Melanie als selbstverständliche Reaktion auf Bilder ansieht: »Es [das Tintoretto-Gemälde, N.H.] wird den Witz herausfordern und die Bosheit, und ich höre schon Reiff und Duquede medisieren« (LA, S. 118). Gemälde bewirken also nicht nur die Erzählung der in ihnen in einen Moment gebannten Geschichten, die danach drängen, ihren vollen Umfang einzunehmen, sondern inspirieren darüber hinaus gehende Kommentare mit Bezug auf die Bildbetrachter oder besitzer. So nutzt van der Straaten, den es treibt, »angesichts dieses Bildes einmal aus sich herauszugehen« (LA, S. 119), das Bild »als Kommunikationsanalysator«,248 um von seinen Gedanken und Gefühlen zu erzählen. Dem Gemälde wird die Fähigkeit zugeschrieben, Figuren in ihrem Innersten stark bewegen und dadurch zu ihnen sonst nicht in dem Maße möglichen emotionalen Reaktionen und Bekenntnissen veranlassen zu können. Ruft man sich die enthusiastischen Schwärmereien angesichts von Gemälden aus den Wanderungen ins Gedächtnis,249 so erhält man eine Vorstellung davon, wie intensiv und aufwühlend manche Gemälde auf Fontane _____________

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hens wird dadurch vollkommen, dass die Augen der Schlafenden geschlossen sind, so dass sie dem Blick des Mannes komplett ausgeliefert ist und er sie sich aneignen kann. Dass ein solches Betrachten Grenzen überschreitet und eine Form der Verletzung des betrachteten Objekt darstellt, wird klar darin formuliert, dass der Heidereiter sich bewusst wird, »etwas Unrechtes« getan und »ihr Schamgefühl beleidigt« zu haben (ebd.). Althoff, Weiblichkeit als Kunst, S. 13. Doebeling, Eine Gemäldekopie, S. 7. Doebeling, Eine Gemäldekopie, S. 4. Vgl. Kapitel 4.5. der vorliegenden Arbeit.

5.2. »L’Adultera«

251

gewirkt haben und wie sich dies in seiner Schreibweise mitteilt. Selbst also mit dieser Wirkung von Gemälden vertraut, gestaltet der Autor in L’Adultera die Bildbetrachtung als Auslöser für die Enthüllung bisher verborgener Gedanken und Gefühle. Sie bringt die intimsten Befürchtungen und Wesenszüge der Figuren an die Oberfläche, da sie diese kommunizieren können, nachdem sie sich auf das Bild eingelassen haben. Angesichts des Bildes kann van der Straaten seine an Gewissheit grenzende Befürchtung, eines Tages von Melanie betrogen zu werden, äußern. Sie dagegen bringt Empathie und Verständnis für die Abgebildete auf, wodurch sie indirekt zu verstehen gibt, dass sie aus eigener Erfahrung die Lebenssituation und die damit verbundenen unerfüllten Bedürfnisse kennt, welche die gemalte Figur zu ihrer Handlungsweise führten. Die expliziten Systemreferenzen vom Typ 3.2.1. und 3.2.2. auf Gemälde zeigen so auf der Handlungsebene, wie Bilder durch die Vermittlung der Betrachter Textproduktion anregen können, das heißt wie ein Medium danach strebt, ins andere überzugehen. Dies kann in Form der Erzählung der abgebildeten Geschichte geschehen, in einem darüber hinausgehenden Kommentar, der den Bildinhalt zur Realität und den Betrachtern in Bezug setzt, oder schließlich in Geständnissen, die durch die emotional aufwühlende Bildbetrachtung ausgelöst werden und sonst verborgene Gedanken und Gefühle an die Oberfläche bringen. Dabei werden Gemäldebeschreibungen im engeren Sinne in L’Adultera ausgespart, denn Fontane weiß: »Bilder beschreiben ist immer mißlich«,250 da die Sprache nicht den Gesamteindruck eines Gemäldes wiederzugeben vermag und zudem der Beschreibung seit der Antike immer wieder vorgeworfen wird, nur überflüssiger und langweilender Schmuck zu sein.251 Auch kann er davon ausgehen, dass die genannten Gemälde gebildeten Lesern des Bürgertums bekannt sind, was detaillierte Ekphrasen unnötig macht, während deren Aussparung das Vertrauen auf die Bildung des Lesers beinhaltet. Auch sind die Darstellungsweise oder der exakte Bildinhalt des L’Adultera-Gemäldes für seine Funktion im Roman nicht von Belang, da diese allein auf dem generellen Motiv als Verweis auf die entsprechende Bibelstelle und die durch das Bild transportierte Geschichte beruht. Der Text beschränkt sich daher darauf, anhand der Reaktion der Figuren die starke Wirkung des Bildes und der dahinter liegenden Geschichte auf die Betrachter spürbar zu machen, die möglicherweise durch eine Beschreibung sogar an Plausibilität verlöre, da es dieser nicht möglich wäre, denselben intensiven Eindruck zu vermitteln wie das Gemälde selbst. _____________ 250 NFA 23/1, S. 410. 251 Vgl. Halsall, Beschreibung.

252

5. Analyse der Romane

Dieser enge Zusammenhang zwischen Bildern und ihnen zugrunde liegenden oder durch sie inspirierten Texten tritt am deutlichsten beim L’Adultera-Gemälde Tintorettos und Veroneses Hochzeit zu Cana zu Tage, und zwar nicht nur in Figurenkommentaren auf der Handlungsebene, sondern auch auf der Erzählebene als Mittel, die Handlung bzw. den Text des Romans in Gang zu setzen: Beide Gemälde besitzen die fast magisch zu nennende Fähigkeit,252 sich aus ihren Rahmen zu lösen und in der Romanhandlung Wirklichkeit zu werden. Diese Strategie, das vom Erzähler genutzte Verfahren auch die Figuren anwenden zu lassen, die bereits bei physiognomischen Betrachtungen in Cécile aufgefallen ist,253 macht auch hier den Rezipienten doppelt auf diese Charakteristik aufmerksam und verweist auf ihre tragende Bedeutung für das Verständnis des Textes. Die beiden genannten Gemälde verdanken als Illustrationen von Bibelstellen ihr Dasein wiederum einer (literarischen) Textvorlage, so dass der Wandel von einem Medium ins andere keine einmalige Aktion in einer festgelegten Richtung ist, sondern sich als immer wiederkehrender Kreislauf und Wechsel beider Medien darstellt. Für diese beständige beidseitige Abhängigkeit der Medien war der Schriftsteller Fontane durch seine ausgiebige Beschäftigung mit der Malerei sensibilisiert. Insbesondere präraffaelitische Gemälde, die selbst auf – oft biblischen – Textvorlagen beruhten, veranlassten ihn wiederum dazu, in seinen Gemäldebeschreibungen Geschichten zu erfinden254. Fontane läßt sich zu einer Geschichte anregen, die er über die unbestimmbare Bildaussage legt. [...]. Genau dies ist ein wesentliches Merkmal der Präraffaeliten: Ihre Bilder erzählen Geschichten, und sie fordern den Betrachter heraus, dieser Geschichte die eigene Erzählung überzustülpen./ Aber auch die Geschichten der Präraffaeliten sind nicht frei erfunden, sondern übergestülpte oder, um im Bild des Palimpsets zu bleiben, überschriebene Geschichten. Heute würden wir dieses Phänomen der Re-Interpretation von Mythen und Märchen, wie es für die Präraffaeliten typisch ist, als intertextuelles Verfahren kennzeichnen. Vor allem sind es die griechischen Mythen und Märchen, die mittelalterlichen Erzählungen

_____________ 252 In L’Adultera selbst wird Bildern etwas Magisches zugesprochen, wenn van der Straaten von »Murillo-Zauber« und »Hexerei« (LA, S. 139) spricht. 253 Vgl. Kapitel 5.1.1.3. der vorliegenden Arbeit. 254 Eine solche Art der Kunstbeschreibung als Auslegung durch das Erzählen einer passenden Geschichte wird bereits in der Kunstkritik des 18. Jahrhunderts praktiziert: »Die Beschreibungen mobilisieren die eigenen literarischen Potentiale, sie werden narrativ und psychologisch; aus dem Bild wird eine Geschichte, aus dem stillgestellten Moment visueller Darstellung wird bewegtes, handlungsträchtiges Seelenleben. Kunstbeschreibung gerät zur Beschreibungskunst. Die Namen Winckelmanns oder Diderots oder Heinses stehen dafür ein« (Pfotenhauer, Winkelmann und Heinse, S. 313). Schon beim älteren Winckelmann allerdings und dann deutlich im 19. Jahrhundert – etwa bei Jacob Burckhardt – tritt sie generell zugunsten einer um mehr Wissenschaftlichkeit, Sachlichkeit und Objektivität bemühten Beschreibungsweise zurück (vgl. ebd., S. 314–330).

5.2. »L’Adultera«

253

[...] und immer wieder die Bibel, von denen die Präraffaeliten sich inspiriert fühlen.255

Dieses Bewusstsein des beständigen Wechsels von Text und Bild bzw. des Erstarrens von Geschichten in konzentrierten Momentaufnahmen, die sich wieder in den Erzählfluss auflösen, gestaltet und thematisiert Fontane auf vielfache Weise in seinen Texten. So gilt der Wechsel zwischen bildhaft statischen Beschreibungen und fortschreitender Handlung generell als Merkmal Fontanescher Texte.256 Neben dieser Simulation des beständigen Medienwechsels durch Nachahmung des Bildhaften im Text – ein intermedialer Bezug vom Typ 3.1. – verweist Fontanes Romanwerk auch auf die enge Verbindung zwischen den Künsten, indem Malerei und Theater in seinen Texten inhaltlich oft tragende Rollen spielen und Gemälde, Theaterstücke sowie Maler-, Schauspieler- oder andere Künstlerfiguren in fast allen seinen Romanen auftreten. In L’Adultera erfolgt darüber hinaus durch den Einsatz des L’Adultera-Gemäldes ein Wechsel vom Bild zum Text und wieder zurück zum Bild, da mit ihm »die Geschichte (im 2. Kapitel) beginnt und auf der letzten Seite schließt«, was Fontane kommentiert mit: »Die Beziehungen ergeben sich von selbst. Ich bedurfte dieses Apparates, um die Geschichte nicht blos aufhören, sondern auch kunstgemäß (Pardon) abschließen zu lassen«.257 Im Text wird explizit auf diesen wechselseitigen Einfluss beider Medien und ihr ständiges Ineinanderübergehen hingewiesen, indem das Gespräch über das Tintorettogemälde sich schnell der entsprechenden Bibelstelle zuwendet, die mit: »Wer unter euch ohne Sünde ist« (LA, S. 118) ausschnittsweise zitiert wird. Indem Melanie feststellt, dass es »eigentlich ein gefährliches Bild, fast so gefährlich wie der Spruch« (LA, S. 118) ist, bezieht sie Bild und Text zusätzlich aufeinander und spricht ihnen ähnliche Wirkungsweisen zu. Das Drängen beider Medien hin zum jeweils anderen thematisiert sie – wenn auch nur für das Bild als Urheber des Textes – wenn sie vor dessen Macht, sich in der Realität zu reproduzieren, mit ihrer Feststellung warnt, »daß man den Teufel nicht an die _____________ 255 Anna Maria Stuby, Edward Burne-Jones, Sidonia von Borcke und die Präraffaeliten. In: Hubertus Fischer (Hrsg.), Klosterfrauen, Klosterhexen. Theodor Fontanes ›Sidonie von Borcke‹ im kulturellen Kontext, Neustadt am Rübenberge 2005, S. 142f. 256 Vgl. a. das Ende von Kapitel 5.1.1.1. der vorliegenden Arbeit. In Fassbinders Verfilmung Fontane Effi Briest von 1974 wird dieses Wechselspiel auf visuellem Weg nachempfunden, wodurch die Textstruktur Fontanescher Romane anschaulich wird, die den Wechsel mit rein sprachlichen Mitteln umsetzen. Im Film entsprechen Fontanes Beschreibungen vom vorgelesenen Originaltext begleitete Standbilder, in die nach einigen Sekunden Bewegung gerät, wenn sich zuvor still verharrende Schauspieler zu bewegen beginnen. Danach verharren die Darsteller wieder in ihren Positionen, sodass die Handlung erneut in ein statisches Bild übergeht. 257 Theodor Fontane an Julius Grosser, HFA IV/3, S. 73.

254

5. Analyse der Romane

Wand malen soll« (LA, S. 120). Das ›gefährliche‹ Potential des Bildes liegt für sie somit in seiner Kraft, sich aus dem spannungsvollen, fest gebannten Moment zu lösen und als Geschichte weiter um sich zu greifen, dabei auch seinen fiktionalen Rahmen zu verlassen und Einfluss auf die Realität zu nehmen. Mit diesen eine Metaebene eröffnenden Figurenkommentaren schließlich erfolgt ein dritter Hinweis auf den beständigen Text-BildWechsel als Merkmal der Figurenhandlungen bzw. -aussagen sowie der Textstruktur und als Grundthema des Romans. Gerhard Neumann zufolge sind die Gemälde in L’Adultera dementsprechend nicht nur eine Vorwegnahme, sondern der »Treibsatz für den Fortgang der Romanhandlung«.258 Beide Bilder mache Fontane zu »strategischen Keimen der sich entwickelnden Ereignisse des Romans«,259 sie würden in ihrem »Duplizierungs-Charakter zu Auslösern und Leitmustern des erzählten Geschehens«.260 Aus dem Gemälde Tintorettos entwickle sich die Handlung, es löse sich aus seiner Erstarrung und bewirke die Geschichte, »die Konfiguration des im gemalten Bild gestellten Tableaus [verwandelt] sich Schritt um Schritt in Narration«.261 Auch das Veronese-Gemälde trete »aus dem Bildrahmen in den sozialen Erzählraum hinaus«262 und liefere den sozialen Hintergrund für die Geschichte, denn »mit seiner Darstellung von trinkenden, essenden und schwelgenden Figuren repräsentiert [es, N.H.] vordergründig den Traum des reichen Gründerzeitbürgers nach rauschenden Festen und fürstlichem Lebensstil«.263 Ähnlich urteilt auch Marion Doebeling, wobei sie neben der Bewertung der Bilder als Ursache für die Handlung das Thema der Kopie und Vervielfältigung in den Vordergrund rückt, denn die Bilder vervielfältigen sich ihrer Ansicht nach selbst in der Handlung.264 Übereinstimmend spricht Gabriele Althoff dem Tintoretto-Gemälde die Eigenschaft zu, die Handlung bewirkt zu haben, da sie die Zusendung des Miniaturgemäldes am Ende des Romans als Zugeständnis van der Straatens versteht, selbst durch das Bild die Ereignisse bewirkt zu haben. Sie schreibt, »daß es ohne dieses Gemälde keinen ›L’Adultera‹-Roman geben würde«.265 Erst durch die Betrachtung des Gemäldes beginne Melanie, die zuvor bei Betrachtung des Schneetreibens eine dumpfe Sehnsucht _____________ 258 259 260 261 262 263 264 265

Neumann, Wahrnehmungs-Theater, S. 84. Ebd. Neumann, Speisesaal und Gemäldegalerie, S. 142. Neumann, Wahrnehmungs-Theater, S. 84. Ebd., S. 85. Jung, Bildergespräche, S. 88f. Vgl. Doebeling, Eine Gemäldekopie. Althoff, Weiblichkeit als Kunst, S. 15.

5.2. »L’Adultera«

255

überkommt (vgl. LA, S. 116), ihre Gefühle konkreter zu empfinden.266 Laut Althoff hat Melanie Teil an der gemalten Ehebrecherin, was Althoff als ihre » ›Mimesis‹ im Sinne von ›Teilhabe‹ [...], Annäherung, Ähnlichkeitserfahrung [...], Vergegenwärtigung, Anverwandlung«267 bezeichnet. Aussagen über die gemalte träfen auch auf die literarische Ehebrecherin zu,268 die in dieser Auslegung beinahe völlig mit der Figur des Gemäldes gleichgesetzt wird und als deren bloße Kopie anzusehen wäre. Ob dies zutrifft und Melanies gesamte Handlungsweise und Persönlichkeit so bereits von vornherein auf ein reines Nachleben des Gemäldes festgelegt sind, wie ihr Ausspruch: »Und alles wie vorherbestimmt« (LA, S. 118) suggeriert, wird zu hinterfragen sein, zumal auch ihr späterer Kommentar die Ernsthaftigkeit dieses Prädestinationsglaubens in Frage stellt: »Und vorherbestimmt, sagt’ ich. Prädestiniert!... Aber vorherbestimmt ist heute, daß wir ausfahren. [...] Und ich war eigentlich eine Törin [...], daß ich alles so bitter ernsthaft genommen und dir jedes Wort geglaubt habe« (LA, S. 120). Das Thema von Kopie bzw. Nachahmung versus Original bzw. Authentizität durchzieht den gesamten im »Gesellschaftsraum einer Zitierund Kopier-Zivilisation wie der des preußischen Fin de siècle«269 spielenden Text. Schon die beiden Gemälde selbst, die sich in der Handlung und den Figuren des Textes vervielfältigen, sind bereits Kopien. Der Text betont dies durch mehrfache Benennung der Gemälde als Kopien und zudem durch Melanies Nachfrage: » ›Kopie?‹/ ›Freilich‹, stotterte van der Straaten etwas verlegen. ›Originale werden nicht hergegeben. Und würden auch meine Mittel übersteigen [...]‹ « (LA, S. 117). Diejenige also, die sowohl von ihrem Ehemann als auch von vielen Kritikern als bloße ›Kopie‹ betrachtet wird, spricht selbst das Thema Kopie an und scheint damit van der Straaten einen Vorwurf machen zu wollen, der darauf nur ›verlegen stottern‹ kann. Während er wie selbstverständlich nicht zwischen Original und Kopie unterscheidet und das Gemälde Melanie einfach als »[e]in Tintoretto« (LA, S. 117) präsentiert, voraussetzend, dass es sich »freilich« _____________ 266 Vgl. Althoff, Weiblichkeit als Kunst, S. 13. Kathrin Bilgeri dagegen sieht diese Konkretisierung von Melanies Sehnsüchten schon vor dem Eintreffen des Gemäldes, wenn Melanie direkt nach Betrachtung der Schneeflocken einen Kutscher erblickt und »sich in beinah erotischer Bewunderung« (Kathrin Bilgeri, Die Ehebruchromane Theodor Fontanes. Eine figurenpsychologische, sozio-historische und mythenpoetische Analyse und Interpretation, Freiburg im Breisgau, Univ. Diss, 2007, S. 43) für ihn ergeht. Dass sie diesen zum »Ideal eines starken, maskulinen und zupackenden Mannes« stilisiere, ließe vermuten, dass ihr Ehemann diesem Bild nicht entspreche, so dass ihre Sehnsucht schon hier als die »Sehnsucht nach einem Mann ihrer Träume« konkrete Formen annehme (ebd.). 267 Althoff, Weiblichkeit als Kunst, S. 31. 268 Ebd., S. 15. 269 Neumann, Wahrnehmungs-Theater, S. 85.

256

5. Analyse der Romane

um eine Kopie handelt, legt sie Wert auf diesen Unterschied und irritiert van der Straaten, der nie auf die Idee verfallen wäre, ein Originalgemälde Tintorettos zu erwerben, dadurch. Sein Hinweis darauf, dass er finanziell nicht in der Lage dazu wäre, streift die in den Wanderungen ausgesparte Thematik des materiellen Wertes von Originalen, doch sie bildet hier ebenso wenig wie dort den Schwerpunkt der Beurteilung oder den Grund für den Mehrwert eines Originals. Dass van der Straaten jedoch den von Melanie angesprochenen Unterschied zwischen Kopie und Original direkt auf den materiellen Wert bezieht, spricht ein weiteres Mal dafür, dass seine Gemälde für ihn Prestigeobjekte sind und er keine Reflexionen über die Bedeutung ihres Kopiestatus oder den seiner Umwelt und Mitmenschen als Kopien und Typen klassifizierenden Wahrnehmung anstellt. Ebenso wenig zielt die Erwähnung, dass es sich um eine Kopie handelt, in L’Adultera auf einen erkennbaren Mangel im Äußeren des Bildes ab, sondern alleine auf die Tatsache selbst, denn ähnlich wie in den Wanderungen kann eine Gemäldekopie, die Hochzeit zu Cana, »von Uneingeweihten auch wohl ohne weiteres für das Original genommen« (LA, S. 130) werden. Weiter spricht für die wichtige Rolle des Kopiestatus an sich, dass bei diesem Bild (eventuell absichtlich) nicht deutlich wird, welches der zwei möglichen Originale als Vorlage gedient hat, woraus sich schließen lässt, dass allein von Bedeutung ist, dass es sich bei dem Gemälde um eine Kopie handelt, gleichgültig von welchem Original.270 Beim L’AdulteraGemälde, zu dem zwei Vorlagen denkbar sind, wird zwar festgelegt, dass es sich um das in Venedig befindliche Bild handelt,271 dennoch klingt auch hier die Möglichkeit zweier Originalvorlagen an, so dass in beiden Fällen nicht einmal mehr die Urspungsbilder einmalige Originale sind. Zudem handelt es sich bei beiden Gemälden um beliebte Motive der Malerei, so dass jeweils mehrere Gemälde desselben Namens – Die Hochzeit und Cana und Cristo e l’Adultera – und ähnlichen Inhalts von verschiedenen Künstlern existieren. Eine weitere Betonung enthält das Thema Kopie und Vervielfältigung schließlich dadurch, dass am Ende des Textes van der Straaten Melanie eine verkleinerte Kopie der Kopie des TintorettoGemäldes schickt, als Zeichen für das unendliche Fortschreiten der Reproduktionsprozesse, in denen die Originalbilder nicht mehr auszumachen _____________ 270 Vgl. Neumann, Speisesaal und Gemäldegalerie, S. 147. 271 Neumann schreibt zwar, dass auch bei der L’Adultera-Kopie nicht klar sei, ob das Gemälde in Venedig oder das in Dresden als Vorlage gedient habe, aus dem Fontanetext jedoch geht hervor, dass ersteres gemeint ist, da dieses auf einer früheren Reise betrachtet wurde. Auch meint van der Straaten zu Melanie, es sei »[e]twas Venezianisches« (LA, S. 117), nennt einen italienischen Namen als Sender und stellt fest, dass er schon in Venedig diesen darum gebeten hat, eine Kopie anzufertigen.

5.2. »L’Adultera«

257

sind. Einmalig bzw. ›original‹ wäre bei einer solchen Bilderflut nur noch die Textvorlage der Bibel. Doch die Schlussfolgerung, dass der Schriftsteller Fontane sein eigenes Medium, den literarischen Text, gegenüber dem Konkurrenzmedium Bild aufwerten wolle, indem er nur ihm den Originalitätsstatus zuschreibe, kann nicht gezogen werden, denn die Behandlung des KopieOriginal-Themas beschränkt sich nicht auf die Gemälde, sondern dehnt sich auf weitere Gebiete aus, insbesondere auch auf das der Literatur. Zwar dürften vor allem die Photographie und das Zeitschriftenwesen ausschlaggebend für Fontanes Wahrnehmung der sich in der Gesellschaft ausbreitenden Kopierkultur gewesen sein,272 doch genau diese beiden nahe liegenden Formen nutzt er nicht zur Thematisierung in L’Adultera – möglicherweise weil dies dem ›Finessen‹ bevorzugenden Autor zu offensichtlich gewesen wäre. Zur Funktion der Photographie Rubehns in L’Adultera schreibt Rudolf Helmstetter dementsprechend: »Eigentlich ist dies ein Beispiel für die Nicht-Thematisierung medientechnischer Neuigkeiten bei Fontane, das Potential des Motivs wird nicht wirklich ausgespielt«.273 Zumindest in Hinsicht auf die Verwendung zur Thematisierung der Kopie ist dieser Aussage begrenzt zuzustimmen.274 Stattdessen werden neben den Gemäldevorlagen für die Figuren häufig literarische Vorbilder eingesetzt, beispielsweise wenn van der Straaten mit dem »Gutzkowschen Vanderstraaten« (LA, S. 112) und Hamlet (vgl. LA, S. 120) verglichen wird oder nicht wie »Leone Leoni [...] oder irgendein anderer großer Romanheld« (LA, S. 207) behandelt werden möchte. Damit beschreibt L’Adultera nicht nur, dass Bilder immer nur Kopien anderer Bilder oder nach Textvorlagen sind, auch literarische Texte wiederholen Motive vorangehender Texte bzw. – im Fall von L’Adultera selbst – von Gemälden. Ebenso nehmen die Figuren einander nicht nur als Typen nach Gemäldevorlagen, sondern auch nach literarischen Vorbildern wahr. Doch der Kopiestatus dehnt sich über den Bereich der Kunst hinaus auf die gesamte Romanwirklichkeit aus: Auch die Sprache des sich Redewendungen und Zitaten bedienenden van der Straaten ist ebenso wenig original wie seine Bilder. Selbst die Kinder gelten nicht mehr als eigenständige Geschöpfe, sondern sind Kopien der Eltern, »die jüngere des Vaters, die ältere der Mutter Ebenbild« (LA, S. 113). Van der Straaten drückt dies in seinen Worten an Heth aus: »Du bist deines Vaters Kind. [...] Lydia spielt schon die de Caparoux« (LA, S. 180). Auch das Kind Melanies und Rubehns wird von einem der beiden _____________ 272 Vgl. Kapitel 4.3.3. der vorliegenden Arbeit. 273 Helmstetter, Die Geburt des Realismus, S. 117. 274 Vgl. zur Funktion der Photographie Kapitel 5, Fußnote 429.

258

5. Analyse der Romane

über es sprechenden Herren als weiteres Abbild der Mutter gekennzeichnet: »’[S] isch d’Mutter, und lacht auch so, un hat dieselbe schwarze Haar« (LA, S. 249). Der andere dagegen betrachtet es nicht als Kopie Melanies, sondern nur als beliebigen Typus: »Es gibt mehr so. Un’s ischt e Kind aus ’m Dutzend« (LA, S. 249).275 An dieser Stelle sei an die in Kapitel 3.2.1. der vorliegenden Arbeit vorgestellte These Alison Byerlys über die Funktion expliziter Systemreferenzen vom Typ 3.2.1. in Texten des englischen Realismus erinnert: Gemälde erhielten in den Texten als Kunstwerke einen Status des Anders-Seins und der Unabhängigkeit vom Rest des Erzähltextes und teilten diesen so in zwei Realitätsebenen. Indem die Gemälde auf der Ebene des Fiktionalen anzusiedeln seien, wiesen sie der Romanhandlung selbst stärker den Stellenwert des Realen zu. Dies mag insofern zutreffen, als die Romanwelt der außerfiktionalen Realität dadurch gleichgesetzt wird, dass in ihr dieselben Kunstwerke vorkommen wie in dieser, denn ein Leser des Romans kann sich in seiner eigenen Wirklichkeit die Gemälde ansehen, die die fiktionalen Figuren des Romans betrachten. Besonders wenn es sich dabei um aktuelle Gemälde wie Pilotys Thusnelda im Triumphzug des Germanicus oder Siemiradzkis Die Fackeln des Nero handelt (vgl. LA, S. 169, 226), wird dieser Bezug zur eigenen Gegenwart des Rezipienten hergestellt. Dieser hängt jedoch nicht mit dem medialen oder Kunststatus der Gemälde zusammen, sondern wird auch dadurch erreicht, dass die Figuren sich an Orten bewegen, die denen der außerfiktionalen Realität exakt entsprechen. Doch indem Fontane seinen Text als aus dem Gemälde hervorgehend gestaltet und den ständigen Wechsel beider Medien sowie das beständige Kopieren der Inhalte sowohl von Texten als auch Gemälden beschreibt, vermischen sich die Realitätsebenen des Textes wieder. Eine klare Trennung zwischen einer fiktionaleren und einer realitätsnäheren Ebene, wie Byerly sie beschreibt, findet daher in L’Adultera nicht statt, vielmehr tritt eine gegenteilige Wirkung ein: Anstatt eine klar umgrenzte Öffnung zu einer als medial und künstlerisch markierten Welt zu erschaffen, ›durchlöchern‹ die vielen Verweise auf Kunstwerke die Realitätswelt des Textes wie ein Sieb und lassen durch die vielen Querverweise und Vernetzungen die gesamte Romanwelt als künstlerisches Konstrukt erscheinen. Da diese Romanwelt jedoch die außerfiktionale Wirklichkeit spiegeln soll, verweist diese Unterhöhlung darauf, dass auch die Wahrnehmung der außerfiktionalen Wirklichkeit auf Konzepten aus dem Bereich der Kunst beruht, dass die Realität ebenso als Kopie der Kunstwelt wahrgenommen wird, wie diese als Kopie der Realität. Auch für diese Vermischung von Kunst und Leben _____________ 275 Der Ausspruch es sei »e Kind aus ’m Dutzend« wird von der entrüsteten Magd wiederholt und dadurch hervorgehoben (vgl. LA, S. 249).

5.2. »L’Adultera«

259

mag Fontane – ebenso wie für die von Text und Bild – durch seine Auseinandersetzung mit den Präraffaeliten sensibilisiert worden sein, die häufig »mythologische und historische Sujets mit ihren eigenen Lebensumständen vermischten«,276 so dass Anna Maria Stuby eine »typische präraffaelitische Vermischung von Leben und Kunst«277 konstatiert. Alles im Text unterliegt Gleichsetzungen und Typisierungen, und sogar Melanie, die sonst Hauptgegenstand solcher Verallgemeinerungen ist, bedient sich dieses Verfahrens, wenn es um andere geht, etwa wenn sie vom Kutscher sagt: »Wie schön diese Leute sind [...] [.] So denk ich mir Simson« (LA, S. 116). Damit wird er zum einen nicht als Individuum wahrgenommen, sondern wie sein Wagen nur als »Exemplar [...], als Musterstück seiner Gattung«,278 und zum anderen als Kopie der Figur Simsons eingestuft. Melanie handelt demnach genauso wie van der Straaten und die anderen Figuren, die jeweils andere typisieren, selbst aber davon nicht betroffen werden wollen. Vor allem für die Frauenfiguren werden häufig Typisierungen verwendet; sie werden nicht als Individuen angesprochen oder behandelt, sondern nur als Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts, dem grundsätzlich bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden (vgl. LA, S. 133, 153, 167, 194, 206). Nicht nur die Männerfiguren nutzen im Übrigen diese Methode, sondern auch die Frauenfiguren selbst, inklusive Melanie (vgl. LA, S. 153, 167, 206, 245), mit deren Typisierung und Kopiestatus sich das folgende Kapitel auseinandersetzt. 5.2.3. Die kopierte Existenz Melanies Der Roman zeigt »das Prinzip der kopierten Existenz und das ihm komplementäre einer kopierten Identität«279 vor allem anhand der Identitätssuche Melanies, die sich ebenso wie von Gemälden von gesellschaftlichen Verhaltens- und Erwartungsmustern umgeben sieht. Aus ihnen heraus versucht sie, einen eigenständigen Weg zu finden, der keine bloße Wiederholung ist. Viele der sie umgebenden Rollenvorstellungen sind an Gemälde geknüpft, nicht nur an das titelgebende der L’Adultera, sondern darüber hinaus werden Frauenrollen etwa in der Diskussion über »kalte und warme Madonnen« (LA, S. 135) in Gemälden behandelt.280 Erneut _____________ 276 277 278 279 280

Stuby, Edward Burne-Jones, S. 150. Ebd., S. 157. Ebd. Neumann, Speisesaal und Gemäldegalerie, S. 142. Dieses Verfahren, Frauen auf in Gemälden festgehaltene Rollenbilder festzulegen und zu typisieren, wird in L’Adultera nicht nur auf Melanie angewendet, sondern beispielsweise

260

5. Analyse der Romane

zeigt sich wie schon in Cécile, dass Fontane Rollenvorbilder für männliche Figuren eher der Literatur entnimmt,281 die für Frauen dagegen hauptsächlich der Malerei. Hinzu treten weitere Typisierungen Melanies als »ganz und gar [...] das verwöhnte Kind eines reichen und vornehmen Hauses«, in dem »[a]lle Vorzüge französischen Wesens [...] vereinigt [erschienen]« (LA, S. 113); »’ne Fremde, französische Schweiz [...], und an allem Fremden verkucken sich die Berliner« (LA, S. 145); »[ä]gyptische Königstochter« (LA, S. 198), »[h]alb die Herzogin von Mouchy und halb die Beauffremont« (LA, S. 199); »[j]eder Zoll eine Französin« (LA, S. 199). Wenn diese Typisierungen Melanies auch im zweiten Teil, nach ihrer Trennung von van der Straaten, geringer werden, so bleiben sie doch nicht völlig aus. Stattdessen erfolgen sie nun nicht mehr durch den ersten Ehemann, sondern durch den zweiten, Rubehn, der Melanie schon bei der ersten Begegnung im Garten zur Venusgestalt stilisiert (vgl. LA, S. 154).282 Wie Müller-Seidel feststellt, »ist der Mann vorübergehend in Gefahr, in der Frau nur die Rolle und den Typ zu sehen – nicht ihre Individualität«.283 Doch das »vorübergehend« hält beinahe bis zum Ende des Romans an, denn solange bis Melanie beweist, dass sie tatsächlich arbeiten kann und will, sieht Rubehn sie weiterhin als Typus an, wenn auch dann nicht mehr in erster Linie als Venus. Erst im vorletzten Kapitel erkennt er den Irrtum, dem er mit seinem typisierten Bild Melanies erlegen war: »Aber wie sehr hatte er sie verkannt, sie, die viel, viel mehr war als ein bloß verwöhnter Liebling der Gesellschaft« (LA, S. 242f). Allerdings geschieht dies nur, um ihn erneut in Typisierungen fallen zu lassen: »[D]u warst immer ein Kind, und du bist es auch in diesem Augenblicke noch« (LA, S. 243). Melanie versucht, sich gegen solche Rollenvorgaben zu wehren. So setzt sie der von van der Straaten vorgegebenen und damit indirekt auch an sie herangetragenen Madonnenaufteilung in die Extreme ›kalt‹ und ›warm‹ – bei Murillo – eine dritte Gruppe entgegen, die der »temperierten« Madonnen Tizians. Auch weist sie die Ansicht zurück, ihr Verhalten oder ihre Situation seien anderen völlig vergleichbar, und besteht darauf, anders und besonders zu sein, eine eigene Identität zu besitzen, nicht nur eine kopierte. Als Christel Melanies Geschichte mit derjenigen der Vernezob_____________ auch auf »die Blondine« (LA, S. 169), die Elimar einer gemalten Figur gleichsetzt: »Ich wußte doch, ich hatte sie schon gesehen. Irgendwo. Triumphzug des Germanicus; Thusnelda, wie sie leibt und lebt« (ebd.). 281 Vgl. Kapitel 5.1.2. der vorliegenden Arbeit. 282 Vgl. Jung, Bildergespräche, S. 158. Rubehns Tendenz zur Typisierung lässt sich auch an folgender Textstelle belegen, in der er Polizeirat Reiff zu einem typischen Polizeirat erklärt, ohne dessen individuelle Persönlichkeit zu beachten: »Einer ist wie der andre. Nur ihre Manieren sind verschieden. Und Reiff hat die Harmlosigkeitsallüren. Aber vor dieser Spezies muß man doppelt auf der Hut sein« (LA, S. 225). 283 Müller-Seidel, Theodor Fontane, S. 178.

5.2. »L’Adultera«

261

res gleichsetzt, entgegnet Melanie: »Ich bin doch anders. Und wenn ich’s nicht bin, so bild ich es mir wenigstens ein« (LA, S. 204) – eine Einschränkung, die stark für Melanies Fähigkeit zur Selbstreflexion und zum Hinterfragen einfach und eindeutig erscheinender Sachverhalte und Typisierungen spricht. Van der Straatens Versöhnungsversuch lehnt sie daher ab, denn die Bedeutung ihrer Handlungen, »ihr Stolz, dies Einsetzen ihrer Existenz« (LA, S. 209), würde dadurch als gewöhnlich abgewertet: »Und nun plötzlich sollt’ es nichts sein, oder doch nicht viel mehr als nichts, etwas ganz Alltägliches« (LA, S. 209). Sie weiß, dass ihr Verhalten von anderen nach Mustern eingestuft und typisiert wird, mit Vorliebe nach Gemäldevorlagen, was sie zum Ausdruck bringt, wenn sie sagt: »[E]s muß beinah klingen, als sehnt ich mich danach, eine büßende Magdalena zu sein« (LA, S. 210). Doch aus diesen Schemata möchte sie ausbrechen und »Selbsttäuschung und [...] Komödienspiele« (LA, S. 210) hinter sich lassen im »Versuch der Selbstfindung und Selbstbestimmung als Befreiung aus Muster, ›Kopie‹ und Präfiguration«.284 Nach Sabina Becker entkommt sie als einzige der weiblichen Romanfiguren Fontanes der »Bilderfalle«,285 im Gegensatz zu Cécile und Effi, die in den Bildern und Vorstellungen gefangen bleiben, die von außen an sie herangetragen werden. Auch Müller-Seidel schreibt von einem »Ausbruch der Melanie van der Straaten [...] aus einer Gesellschaft, die nur noch Rollen, Typen und Kopien zu kennen scheint«.286 Doch einer solchen Interpretation widerspricht, dass die Protagonistin auch gegen Romanende noch durch ihren zweiten Ehemann in Kategorien, etwa als verwöhntes Kind, eingeordnet wird. Sie widerspricht ihm zwar – »Nein, nein, du hast unrecht. Und es liegt alles anders, ganz anders« (LA, S. 244) –, fügt sich aber zugleich in das ihr zugewiesene Bild mit der Bemerkung: »[D]ie Kinder, die Narren und die Poeten, die hätten immer recht. [...] Und ich bin eigentlich alles drei’s« (LA, S. 244). Auch Jungs Urteil widerspricht den bisher angeführten: Wie die anderen Fontaneschen Frauenfiguren folgt auch Melanie teils bewußt, teils unbewußt Vorbildern, die aus dem Bereich der Kunst und der Literatur stammen und die ihr in der Regel von anderen als Richtschnur des Handelns vorgegeben werden.287

Ob Melanie also tatsächlich den Bildern und Mustern entkommt, oder doch in ihnen gefangen bleibt, ist im Folgenden zu überprüfen. Mit Cécile teilt sie die auch bei dieser als Protest gegen die zugeschriebenen Rollen interpretierte Abneigung gegen Gespräche über Gemälde, legt laut Jacobine keinen Wert auf die Bildergalerie (vgl. LA, S. 143) und behauptet, sich _____________ 284 285 286 287

Plett, L’Adultera, S. 87. Becker, Literatur als ›Psychographie‹, S. 96. Müller-Seidel, Theodor Fontane, S. 178. Jung, Bildergespräche, S. 232.

262

5. Analyse der Romane

nicht mit Bildern auszukennen: »Ezel, du weißt ja, ich kenne keine Bilder« (vgl. LA, S. 143). Doch heißt es im weiteren Textverlauf, dass Melanie teilweise nur ihrem Ehemann zuliebe solches Unwissen vorspielt. Auch nennt sie selbst den Titel des ihr bekannten L’Adultera-Gemäldes, so dass van der Straatens Erwähnung Tintorettos, um »ihr zu Hilfe [zu, N.H.] kommen« (LA, S. 117), wahrscheinlich überflüssig ist und nur zeigt, wie sehr er Melanies Gemäldekenntnis unterschätzt. Schließlich kann sie bei der Madonnendiskussion ohne Probleme mitreden, was neben ihrem Wissen von einer eigenen Meinung über Malerei zeugt, die sie überzeugt gegen den Angriff durch ihren Mann verteidigt (vgl. LA, S. 136f). Zudem schreibt Fontane ihr mit der Vorliebe für Madonnen bzw. generell das Werk Tizians – sie äußert: »Ich lieb ihn überhaupt« (LA, S. 136) – einen Kunstgeschmack zu, der nur bei einer gewissen Kenntnis und Auseinandersetzung mit Bildern möglich ist und, im Gegensatz zu dem van der Straatens, mit dem des Autors übereinstimmt: Fontane schreibt in einem Brief, er zöge Tizians in Venedig besichtigte Himmelfahrt Mariä der in Verona gesehenen vor, da letztere »wie ein Vorläufer der Murillo-Manier«288 wirke. Während auf den ersten Blick das veronesische Bild »rascher Auge und Herz erobert«, gewinne das venezianische bei näherer Auseinandersetzung an Bedeutung: »[W]o man sich in der Erhabenheit der venetianischen ›Assunta‹ zurecht gefunden hat, versinkt das Veroneser Bild neben dem letzteren«.289 Insgesamt schätzte Fontane Tizian und dessen Marienbildnisse, zu denen er zunächst nicht direkt Zugang fand, später sehr,290 so dass Melanie nach Fontane einen Maler favorisiert, der sich erst bei genauerem Studium erschließt, van der Straaten mit Tintoretto, Veronese und Murillo dagegen auf den ersten Blick einnehmende, doch bei intensiver Auseinandersetzung ›langweilige‹ und ›seelenlose‹ Künstler.291 Melanies Umgang mit Kunst zeigt daher – ebenso wie der gegensätzliche van der Straatens – ihre bewusstere Wahrnehmungsweise, die sich eingehender auf das Wahrgenommene einlassen kann, und ihre negative Stellungnahme gegen oberflächliche Gleichsetzungen und Typisierungen. Sie ist sich über Bilder, deren Wirkungsweisen und durch andere vorgenommene Zuschreibung auf sie selbst bewusster als Cécile, was dafür spricht, dass es ihr eher gelingen kann, sich davon zu befreien und anstatt _____________ 288 Theodor Fontane an Karl und Emilie Zöllner, HFA IV/2, S. 479. 289 Ebd. 290 Vgl. NFA 23/2, S. 13f. Tizian ist für Fontane »[d]er alte venezianische Meister – ein rechter Malerfürst, dem wohl die Huldigungen der Seinen gebühren« (NFA 23/1, S. 193; vgl. a. NFA 23/2, S. 32, 41, 72f, 134f; Theodor Fontane an Karl und Emilie Zöllner, HFA IV/2, S. 479). 291 Vgl. Kapitel 5.2.1. der vorliegenden Arbeit.

5.2. »L’Adultera«

263

einer von außen an sie herangetragenen Identität eine eigene zu entwickeln. Andere Figuren schreiben Melanie allerdings denselben Wahrnehmungsfehler der mangelnden Trennung zwischen Kunst und Wirklichkeit zu, der ihren Ehemann auszeichnet: Riekchen gibt der Protagonistin zu bedenken, dass sie den »Ernst des Lebens« nie kennengelernt habe, denn »singen und erleben ist ein Unterschied« (LA, S. 231), und Rubehn äußert ganz ähnlich: »[D]ie gemalte Dürftigkeit sieht geradesogut aus wie der gemalte Reichtum. Aber wenn es aufhört, Bild und Vorstellung zu sein, und wenn es Wirklichkeit und Regel wird, dann ist Armut ein bitteres Brot und Muß eine harte Nuß« (LA, S. 244). Doch diese Ermahnungen stellen sich gegen Ende des Romans als ungerechtfertigt heraus; »Rubehn, der anfangs nur allzu geneigt gewesen war, den Eifer Melanies für eine bloße Opfer-Caprice zu nehmen« (LA, S. 246), hat sich in ihr getäuscht. Sie »nahm es ernst mit jedem Worte, das sie gesagt hatte« (LA, S. 246) und lebt unverblendet in der Wirklichkeit – was gleichfalls ein Zeichen dafür ist, dass ihre Selbstwahrnehmung ebenso authentisch sein kann wie ihre Weltwahrnehmung, selbst wenn dies nach außen hin für andere Figuren nicht ersichtlich ist. Im Laufe ihrer Identitätskonstitution widerstreiten in ihr die eigenen Wertvorstellungen mit denen der Gesellschaft: »[I]ch habe nur ein ganz äußerliches Schuldbewußtsein, und wo mein Kopf sich unterwirft, da protestiert mein Herz« (LA, S. 211). Sie entschließt sich jedoch, dem »Herz«, den eigenen Gefühlen, zu folgen und bleibt nicht in diesem Zwiespalt gefangen, richtet sich nicht nach den Vorgaben der Gesellschaft, sondern ihren eigenen. Doch auch dadurch gerät sie erneut in eine Typisierung als gefühlvolle Frau, der traditionell Herz und Emotionen zugeordnet wurden, im Kontrast zum Mann, der sich durch Geist und Vernunft auszeichne. So sehr sie sich auch immer wieder in ihren Aussagen dagegen wehrt, nur als Kopie oder Typus angesehen zu werden, und mit ihrer Bilderkenntnis und der gegen den Konsens der Gesellschaft getroffenen Entscheidung, van der Straaten für eine zweite Ehe mit Rubehn zu verlassen, das Potential zeigt, die durchschauten Prozesse zu durchbrechen, sie bleibt dennoch zum Teil in vorgegebenen Schemata befangen. Deutlich wird dies anhand des L’Adultera-Bildes, mit dem verglichen zu werden sie zwar am Romananfang ablehnt, an das sie jedoch immer wieder zurückdenkt und das sie im Laufe des Textes mehr und mehr als mit ihrer eigenen Lage übereinstimmend empfindet. Im Brief an die Schwester heißt es: »[U]nd das Bild, Du weißt schon, über das ich damals so viel gespottet und gescherzt habe, es will mir nicht aus dem Sinn. Immer dasselbe ›Steinige, steinige‹. Und die Stimme schweigt, die vor den Pharisäern das himmlische Wort sprach« (LA, S. 215). Am Ende schließlich

264

5. Analyse der Romane

ertönt auch diese versöhnliche Stimme symbolisch im Geschenk des Miniaturtintorettos von van der Straaten, der wieder mit einem Bild ausdrückt, was er nicht in Worte fassen kann. Da diese Gabe als Versöhnungsgeste gemeint ist, spiegelt sich schließlich das gesamte Bild in der Handlung wider. Als Melanie die Miniatur erhält, heißt es, sie »fühlte jetzt, daß das alles [was sie im zweiten Kapitel über das Tintorettogemälde gesagt hatte, N.H.] auch für sie selbst gesprochen war« (LA, S. 251). Damit erkennt sie sich am Ende des Romans im Gemälde selbst wieder und identifiziert sich nun doch mit der Rolle, die sie zu Beginn noch so strikt von sich gewiesen hatte,292 akzeptiert nun ihr eigenes Leben als ein – zumindest teilweise – kopiertes. Doch auffällig an der Thematisierung der Kopien und typischen Verhaltensformen in L’Adultera ist die vorgenommene Relativierung: Kaum etwas wird nur als Typus oder Kopie dargestellt, sondern meist tritt etwas von der Norm Abweichendes, Individuelles hinzu. Während einerseits Wendungen wie: »Es sei eben immer die alte Geschichte« (LA, S. 112); »Es ist nichts Neues« (LA, S. 120); »Es ist immer das alte Lied« (LA, S. 171; vgl. a. S. 209); »Un so was is jetzt alle Tage« (LA, S. 186); »Und is ooch immer dasselbe« (LA, S. 187) den Text durchziehen, finden sich andererseits in Bezug auf Melanie leicht korrigierende Bemerkungen wie: »Ich bin doch anders« (LA, S. 204); »[E]n bisschen anders is es immer. [...] Un Sie sagen, Sie sind anders. Ja, das is schon richtig, un wenn es auch nich janz richtig is, so is es doch halb richtig« (LA, S. 204). Für Riekchen verhält sich van der Straaten in manchen Dingen wie »alle reichen Leute«, aber er ist doch »besser« als die anderen, unterscheidet sich also doch von ihnen (LA, S. 151). Im Vergleich der Reaktionen der Gesellschaft auf Skandale formuliert Rubehn, wie schnell die Aufregung in London vergehe und schließt mit: »Hier dauert es etwas länger, weil wir etwas kleiner sind. Aber das Gesetz bleibt dasselbe« (LA, S. 229). Damit ist genau das Prinzip ausgesprochen, das den gesamten Roman beherrscht: die Gemeinsamkeit im Großen, das Typische, das jedoch im Kleinen bedeutsame Unterschiede aufweist. Melanie, die sich den gesamten Text hindurch gegen Typisierungen wehrt, sie aber gleichzeitig unbewusst hinnimmt und sogar selbst an anderen und sich vollzieht, gelingt es nicht, sich völlig aus ihnen und einer kopierten Existenz zu lösen. »[M[it den Bildern wird man nicht fertig« (LA, S. 217), wie sie selbst sagt, so dass sie ihnen verhaftet bleibt. Dabei bewahrt sie aber auch den von ihr so stark in ihrem Willen zum Anderssein betonten kleinen Teil Individualität, der sich nicht in Typisierungen auflösen lässt. Ganz so wie sie »sich bemühte, im Bild der _____________ 292 Vgl. Jung, Bildergespräche, S. 237.

5.2. »L’Adultera«

265

Ehebrecherin nicht nur einen typischen Fall zu sehen, sondern das Einmalige und Besondere des individuellen Falles«,293 ist auch sie selbst sowohl Individuum als auch Typus. Damit reflektiert der Text die ihm als Kunstwerk zugrunde liegenden Gestaltungsprinzipien, nach denen er den Lesern Figuren bieten muss, die diese in ihr Weltbild einordnen bzw. ihnen bekannten Menschentypen zuordnen können, die sich aber nicht im Typischen erschöpfen dürfen, um nicht völlig durchschaubar und vorhersehbar zu sein, sondern von Interesse und künstlerischem Wert zu bleiben. Wie Helmholtz, die poetischen Realisten und Fontane auf ähnliche Weise feststellen,294 muss der Künstler vom wirklichen Leben ausgehen, jedoch von individuellen Einzelheiten zum Allgemeineren, Idealeren oder umfassenderen Ganzen abstrahieren, was eine Typisierung beinhaltet. Diese Generalisierung bzw. Idealisierung soll jedoch nur bis zu einem gewissen Grad erfolgen, der Bezug zur Realität und individuelle Merkmale müssen bestehen bleiben. Zugleich verweist dieses poetologische Konzept auf generelle Bedingungen menschlicher Wahrnehmung, denn wie Helmholtz erkannte, ist es zur Erfassung der Welt notwendig, Wahrgenommenes in Kategorien einzuordnen und zu abstrahieren, denn die Verarbeitung jeder Einzelheit würde die menschliche Kapazität zur Informationsverarbeitung sprengen. Fontane erkennt diese Notwendigkeit in L’Adultera damit an, dass selbst Melanie als Figur, die nach größtmöglicher Individualität strebt, weiterhin von anderen als Typus wahrgenommen wird, dem Leser teils als typisch präsentiert wird und sogar selbst bisweilen unbewusst darauf verfällt, sich in Kategorien einzuordnen bzw. einordnen zu lassen. In der Betonung jedoch, dass sie in diesen Mustern nicht aufgeht, unterstreicht er die Notwendigkeit, die Wahrnehmung neben grundsätzlich nötigen Verallgemeinerungen nicht völlig abstumpfen zu lassen. Wer dagegen die komplette Geschichte und Person Melanies als reine Verdopplung des L’AdulteraGemäldes ansehen wollte, würde denselben Fehler wie van der Straaten begehen und neben den auf den ersten Blick deutlichen Übereinstimmungen die kleinen Unterschiede übersehen. Für einen solchen individuellen und einzigartigen Bestandteil der Persönlichkeit Melanies spricht unter anderem ihr Porträtgemälde, das Thema des folgenden Kapitels ist.

_____________ 293 Jung, Bildergespräche, S. 76. 294 Vgl. Kapitel 3.3.1., 3.3.2. und 3.4.1. der vorliegenden Arbeit.

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5. Analyse der Romane

5.2.4. Das Porträtgemälde Melanies Melanie besitzt ein Porträtgemälde von sich, das in ihrem eigenen Zimmer hängt, nicht wie die Bilder van der Straatens in den für gesellschaftliche Veranstaltungen genutzten Räumen des Hauses. Dadurch wird deutlich, dass dieses Gemälde speziell für die Protagonistin eine persönliche Bedeutung hat. Zudem verleiht ihm die Tatsache, dass es das einzige Gemälde in ihrem Zimmer ist – im Gegensatz zum von Bildern überladenen Zimmer ihres Ehemannes – besondere Bedeutung:295 Dieses Zimmer entsprach in seinen räumlichen Verhältnissen ganz dem ihres Gatten, war aber um vieles heller und heiterer, [...] weil die vielen nachgedunkelten Bilder fehlten. Statt dieser vielen war nur ein einziges da: das Porträt Melanies in ganzer Figur, ein wogendes Kornfeld im Hintergrund und sie selber eben beschäftigt, ein paar Mohnblumen an ihren Hut zu stecken. (LA, S. 122)

Jung betont den Gegensatz in der Beschreibung der Zimmer und Bilder van der Straatens und Melanies296 und legt die Funktion des Gemäldes als Verweis auf die Verbindung Melanies mit der Natur fest: Zentrales Thema des Porträts ist die ›Natur‹, die in Melanies Vorstellung eine Alternative zur Gesellschaft darstellt. Indem sie das Bild in ihren eigenen Räumen aufhängt, verdeutlicht sie ihr eigenes Selbstverständnis. Insofern bildet das Porträt Melanies einen deutlichen Kontrast zu Tintorettos ›L’Adultera‹-Gemälde.297

Kathrin Bilgeri dagegen stellt fest, dass das Gemälde nur »bei einer oberflächlichen Betrachtung« für Natur als Gegenstück zur künstlichen und unnatürlichen Lebenswelt Melanies stehe und Ausdruck für Melanies »inneren Wunsch nach Einfachheit und Natürlichkeit« sei.298 Bei genauerer Betrachtung zeige sich jedoch, dass die roten Mohnblumen für »ihre feurige Leidenschaft und ihr Verlangen nach Liebe«299 stünden. Sowohl Jungs als auch Bilgeris Interpretation des Gemäldes sind plausibel; entgegen Bilgeris Auffassung muss kein Widerspruch bestehen, denn das Gemälde »als eine künstlerische Abbildung ihres Äußeren und als Hinweis auf ihr verborgenes, seelisches Inneres zugleich«300 kann durchaus mehrere Aussagen beinhalten, so wie ihre Persönlichkeit sich aus verschiedenen Charakterzügen zusammensetzt. Je nach Interpretation lässt sich ein Beweggrund für ihre Handlungsweisen mehr in den Vordergrund stellen als der andere, doch was in der vorliegenden Arbeit vor allem interessieren soll, ist die Tatsache, dass Melanie dieses Gemälde überhaupt besitzt. _____________ 295 296 297 298 299 300

Vgl. Jung, Bildergespräche, S. 150. Vgl. ebd., S. 149. Ebd., S. 152. Bilgeri, Die Ehebruchromane Theodor Fontanes, S. 41. Ebd. Ebd., S. 40.

5.2. »L’Adultera«

267

Neben der verschlüsselten Darstellung ihres Wesens für den Rezipienten dient es auch derjenigen ihres eigenen Selbstverständnisses und steht damit im Kontrast zu den Gemälden van der Straatens, mit denen er ihr von außen Rollenbilder zuweist. Während Melanie sich gleich Cécile von Gemälden und Rollenvorstellungen umgeben sieht, die andere auf sie projizieren, und sich wie diese abwehrend dagegen verhält, besitzt sie im deutlichen Unterschied zu Cécile ein Bild ihrer selbst. Gegen die Gemäldekopien van der Straatens und deren Übertragung auf sie stellt sie ein einmaliges und unkopiertes Originalgemälde, auf dem sie selbst abgebildet ist. Anstelle einer typisierten Figur, die selbst im Originalgemälde meist nur die Reproduktion nach einer Textvorlage wäre und zudem nur eine von unzähligen Darstellungen der immergleichen Figur – insbesondere bei den diskutierten Madonnen trifft dies zu –, gibt es von ihr nur dieses eine Gemälde, das ihr innerstes Wesen und ihre Individualität ausdrückt. Offensichtlich gehört es ihr allein, da es sich in ihrem Privatzimmer befindet, nicht wie alle anderen Gemälde ihrem Ehemann, und wird hauptsächlich von ihr, nicht von ihm betrachtet. Da der Besitz eines Bildes symbolisch für denjenigen des Abgebildeten steht, zeigt sich schon am Anfang des Romans, dass Melanie trotz des äußeren Anscheines nicht als ›Eigentum‹ van der Straatens gelten kann, der sie wie seine Gemälde als seinen Besitz und Prestigeobjekt betrachtet. Stattdessen ist sie ihre eigene Herrin und hat ihren Ehemann sogar mehr in der Hand als er sie. Der Text nennt sie dementsprechend eine »stolze und siegessichere Frau, die mit dem Manne, dessen Spielzeug sie zu sein schien und zu sein vorgab, durch viele Jahre hin immer nur ihrerseits gespielt hatte« (LA, S. 200). Dass dieses im externen Bild des Porträtgemäldes symbolisierte mentale Bild ihrer selbst für sie unverzichtbar ist, zeigt sich daran, dass sie ihren Entschluss, van der Straaten zu verlassen, unter anderem damit begründet, dass sie sich ihre Vorstellung oder ihr Bild von sich selbst – und damit ihre eigene Identität – wieder herstellen will: »Ich will fort, nicht aus Schuld, sondern aus Stolz, und will fort, um mich vor mir selber wieder herzustellen« (LA, S. 210). Das Melanies Selbstkonzept symbolisierende Bild allerdings ist ein Gemälde, keine Photographie, und damit wie die übrigen Gemälde des Romans nicht ganz frei von typisierenden Elementen. Damit besitzt Melanie zwar durchaus eine eigene Vorstellung von sich selbst und eine eigene Identität, doch auch in ihr Selbstbild sind Typisierungen eingegangen. So spricht sie von »wir Frauen« (LA, S. 167, 245; vgl. a. S. 153, 206) in der Pluralform, wenn sie Feststellungen über sich selbst macht, und nennt sich im Gespräch mit Rubehn eine Mischung aus Kind, Närrin und Poetin (vgl. LA, S. 244). Relativiert wird auch die Aussage, dass dieses in ihrem Zimmer hängende Bild nur für sie selbst bestimmt ist, die dazu

268

5. Analyse der Romane

verführen könnte, zu glauben, ihr Selbstbild sei von ihr alleine und völlig ohne äußere Einflüsse und Ausrichtung auf die Gesellschaft entstanden: Melanies Zimmer dient als Durchgangsraum in das Speisezimmer, so dass die vorbeigehenden Gäste einen Blick auf das Bild werfen können (vgl. LA, S. 130), wenn dies auch nicht – wie bei den Gemälden van der Straatens – Hauptzweck des Bildes ist. Die Möglichkeit einer völlig eigenständigen und individuellen Existenz wird damit auf ein den gegebenen Bedingungen entsprechendes Maß relativiert, denn ganz ohne Aufnahme von anderen stammender Konzepte und die Identifikation mit bestimmten Menschenklassen oder -typen kommt kein Selbstbild aus. Nachdem Gemälde bisher hauptsächlich unter dem Blickpunkt der Original-Kopie/Typus-Thematik und im Bezug auf die Wahrnehmung und Konstitution einer individuellen Persönlichkeit betrachtet wurden, sollen im Folgenden weitere Aspekte betrachtet werden, die in L’Adultera mit den Gemälden verbunden sind. 5.2.5. Gemälde und Sehen als Kontrollmittel Van der Straaten will Melanie mit dem L’Adultera-Gemälde vor der Gefahr eines Ehebruchs warnen und auf die Probe stellen, womit er »das Gemälde als Kontroll- und Vergewisserungsinstanz«301 nutzt. Er versucht, sie »durch die Macht des Bildes zu beherrschen«,302 indem er ihr das Gemälde »als eine Kontrollinstanz«303 und tägliche Warnung vor Augen führt und »weist dem Kunstwerk die Funktion zu, etwas Typisches, etwas immer gleich Wiederkehrendes als ›Mahnung‹ zu fixieren«,304 nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Ehefrau. Neben der Thematik des Gemäldes, der Ehebrecherin vor ihren Anklägern und Christus, kommt nun auch der Art der Darstellung ein Hinweis auf die beabsichtigte Kontrollfunktion zu, denn auf dem Bild ist eine »Frau als Gegenstand des männlichen Blicks«305 abgebildet. Laut John Osborne zeigt sich in L’Adultera »Fontanes Einsicht sowohl in die Problematik des Betrachtens in der Malerei der Frühen Moderne als auch deren Beziehung zum Überwachungsapparat der ›disziplinären Gesellschaft‹ «.306 Die Bildergespräche des Romans zeichnen sich dementsprechend aus durch _____________ 301 302 303 304 305 306

Althoff, Weiblichkeit als Kunst, S. 11. Schwan, Die Zwiesprache mit Bildern, S. 172f. Becker, ›Wiederhergestellte‹ Weiblichkeit, S. 150. Jung, Bildergespräche, S. 76. Osborne, Vision, S. 67. Ebd.

5.2. »L’Adultera«

269

a clear understanding of the relationships inherent in the construction and interpretation of images, and specifically [...] the extend to which being seen means being encompassed by a right of supervision and [that, N.H.] a particular way of beholding claims a power of coercion on the object of vision. Over and above this they show a tendency to attribute this way of beholding to agents of social control and to identify it with a male gaze.307

Osborne definiert hier den ›männlichen Blick‹ auf eine Frau als Kontrollinstrument. Van der Straaten selbst, der Melanie zu denken gibt, sie habe es genossen, »eine junge, bequem gebettete Frau zu sein und der Augapfel ihres Mannes« (LA, S. 207), verweist zwar auf seine Kontrolle über sie, denn die Wendung ›etwas wie seinen Augapfel hüten‹ klingt an dieser Stelle an, nutzt jedoch selbst keinen solchen Kontrollblick, der stattdessen in L’Adultera der Gesellschaft zukommt. Osborne zufolge will van der Straaten das Bild ursprünglich deshalb neben seinem Schreibpult aufhängen (vgl. LA, S. 118), weil es dort »could obtrude on the vision of others, inviting them to join him in keeping an eye on the (potentially) adulterous woman«.308 Melanie vermutet diese indirekte Aufforderung an die Betrachter, den Inhalt des Bildes auf sie zu übertragen, wenn sie feststellt, das Bild werde, an einer so auffälligen Stelle platziert, boshafte Kommentare »vielleicht auf deine Kosten und gewiß auf meine« (LA, S. 118) herausfordern. Solche Reaktionen befürchtet sie vor allem von Reiff und Duquede, die »as representatives of two specific branches of the forces of surveillance and judgement in Wilhelmine society, most obviously correspond to the ›Pharisees‹ of Tintoretto’s painting«.309 Reiff wird tatsächlich später die nun mit Rubehn verheiratete Melanie »aushorchen« (LA, S. 225) und die Rolle als Beobachter und Kontrolleur ausfüllen. Weiter tritt Gryczinski »as the representative of a third mechanism (the military) within the discreet but all-embracing hierarchical system of permanent surveillance«310 als Kontrollinstanz hinzu, indem er seiner Ehefrau den Umgang mit ihrer Schwester untersagt. Dass Jacobine seine Vermessungstätigkeit als Arbeit mit Geräten, die wie große Malerstühle aussähen, beschreibt (vgl. LA, S. 232f), verweist laut Osborne auf »the novel’s theme of the conjunction of a certain kind of painter’s gaze and the technical act of surveillance«.311 Diese Überwachung Melanies durch die Gesellschaft wird weiter im Verhalten der Portiersleute dargestellt: »[S]ie hatten sich in die halbgeöffnete Souterraintür postiert und guckten einander über die Köpfe fort« (LA, S. 234). Auch Melanies Treffen mit ihren Kindern _____________ 307 308 309 310 311

Ebd., S. 69. Ebd., S. 70. Ebd., S. 70. Ebd., S. 72f. Ebd., S. 73.

270

5. Analyse der Romane

unterliegt den Blicken anderer, und zwar verständnisvollen von Seiten Riekchens, »ohne jede tiefere Bewegung« erfolgenden aber von Jacobine, die »das Ganze vom Standpunkt einer dramatischen Matinee« betrachtet (LA, S. 235). Schließlich muss Melanie selbst in der Kirche beobachten, »wie die kleinen Mädchen kicherten und sich anstießen und immer nach ihr hinsahen«, weil sie als »feine Dame« auffällt (LA, S. 240). Die Gesellschaft zeigt sich damit im gesamten Roman in ihren verschiedensten Vertretern als Entsprechung der auf dem Gemälde dargestellten Pharisäer und macht Melanie zum Objekt ihrer beobachtenden Überwachung und Verurteilung.312 Melanie ist sich nach der zweiten Eheschließung mit Rubehn dieses Status als »nine-days-wonder« (LA, S. 229) bzw. »Sehenswürdigkeit«, der ihr »immer das Schrecklichste« gewesen ist, bewusst (LA, S. 234).313 Sie _____________ 312 Den Mechanismus solcher gesellschaftlicher Kontrollblicke stellt Fontane eindringlich auch in Unterm Birnbaum dar. Dort überwacht sich die gesamte schaulustige und neugierige (vgl. UB, S. 259, 282, 283, 287, 289) Gemeinschaft permanent gegenseitig, womit der Kontrollaspekt des Sehens im Unterschied zu seiner einseitigen Ausformung in L’Adultera wechselseitig ist. In Unterm Birnbaum sind mehrere Wohnungen mit einem »Kuckloch« (UB, S. 206, 254) oder »Kuckfenster« (UB, S. 219) ausgestattet; und dass Kunicke gar in einer Villa »mit dem gläsernen Aussichtsturm« (UB, S. 258) wohnt, kann als Zeichen dafür gelesen werden, dass sich in diesem Dorf jeder der gegenseitigen Beobachtung und in Klatsch und Tratsch ausgetauschten Beurteilung hingibt und ihr zugleich unterliegt. Extra zur Beobachtung angebrachte Vorrichtungen in Wohnungen werden auch in anderen Romanen Fontanes häufig in Verbindung mit gesellschaftlicher Kontrolle und Tratsch genannt und teils ausführlich thematisiert: So steht in Vor dem Sturm die Zunzen, »eine alte taube Frau, die [...] Gott in der Welt nichts zu tun« hat und wegen ihrer »Klatschereien« gefürchtet ist, »sooft sie jemanden ins Haus treten und die letzte Treppe heraufkommen sah, immer hinter dem Kuckloch ihrer Doppeltür« (VdS 2, S. 43), in Schach von Wuthenow schaut ein Ladenbesitzer sicherheitshalber durch ein »Kuckloch« (SvW, S. 388), bevor er die Tür öffnet, und in Mathilde Möhring macht sich die Vermieterin »ein Kuckloch zurecht[...]« (MM, S. 513), um Mathildes Ankunft beobachten und darüber tratschen zu können. In Stine liegt mit dem »Dreh- und Straßenspiegel«, durch den die Witwe Pittelkow regelmäßig »aus bloßer Neugier und Spielerei« als »Quelle herzlichen Vergnügens« (ST, S. 181) hindurchschaut, noch ein raffinierteres Beobachtungsinstrument vor, dessen Wert der Vermieter genau erkennt: »[S]olange der da ist, so lange vermieten wir« (ST, S. 181; vgl. zum Symbolgehalt des Fensterspiegels in Stine Osborne, Theodor Fontanes ›Stine‹, S. 132). In Mathilde Möhring findet sich ebenfalls ein »Fensterspiegel« (MM, S. 507). All diese optischen Hilfsmittel dienen der Neugier und der Schau- und Klatschlust der Leute und stellen das Sehen als Mischung aus Unterhaltung und gesellschaftlicher Kontrolle dar. 313 Auch van der Straaten, der andere gern betrachtet und kategorisiert, entzieht sich selbst lieber fremden Blicken, etwa an seiner Lieblingsstelle im Palmenhaus, die später auch Melanie und Rubehn aufsuchen, um unbeobachtet zu sein: »Un da sitzt ooch immer der Herr Kommerzienrat. Un keiner sieht ihn. Un das hat er am liebsten« (LA, S. 189). Fontane lässt Melanie hier ähnliche Worte wählen, um ihre Situation zu beschreiben, wie er sie für seinen eigenen Status als zurückgekehrter Kriegsgefangener nutzte, in dem er sich gleichermaßen unwohl fühlte: »Meine Gefangenschaft hat mich zu einer Sehenswürdigkeit (Rhinoceros), zu einem nine-days wonder gemacht« (GBA, Tage- und Reisetagebücher 2, S. 38; vgl. a. Osborne, Theodor Fontane. Vor den Romanen, S. 141).

5.2. »L’Adultera«

271

ergibt sich jedoch schon zu Romanbeginn nicht der ihr von van der Straaten mit dem Gemälde zugedachten Position, sondern wehrt sich dagegen, zum kontrollierten Objekt der Blicke anderer zu werden, indem sie die Rollenverteilung umkehrt und ihrerseits im Gespräch mit van der Straaten über das Gemälde »kein Auge von ihm [ließ], denn sie wollte wissen, was in seiner Seele vorging« (LA, S. 119). Am Ende des Romans schließlich glückt es ihr, der ständigen Beobachtung durch die Gesellschaft zu entkommen. [I]n L’Adultera Fontane is concerned with the resistance to the coercive visuality that was a feature of the dominant contemporary culture, and so with the creation of a space free from surveillance. Melanie seems to find this, [...] she is – alone among Fontane’s heroines – re-integrated into that very society.314

Widergespiegelt wird die von Melanie praktizierte Umkehr der traditionellen Rollenverteilung in der blonden Wirtin, die sich das Recht nimmt, Männer zu betrachten und einzuschätzen, und deren Augen sich daran gewöhnt hatten, alle Männer in zwei Klassen zu teilen, in solche, denen sie zuzwinkerten: ›Wir treffen uns noch‹, und in solche, denen spöttisch nachriefen: ›Wir kennen euch besser.‹ Aber alles, was in diese zwei Klassen nicht hineinpaßte, war nur Gegenstand für Mitleid und Achselzucken. (LA, S. 163)

Die Wirtin lässt sich nicht zum Blickobjekt reduzieren, sondern nutzt ihre eigene Sehfähkeit, um zurückzublicken und die Männer nach deren von ihr bewerteten Attraktivität einzuteilen, handelt an ihnen demnach so, wie diese sonst an Frauen. Vom Blickpunkt der männlichen Romanfiguren aus ist daher etwas an ihren Augen bzw. ihrer Sichtweise »auszusetzen«.315 Sie wehren sich gegen eine solch ungewohnte Handlungsweise, indem sie ihren Blicken ausweichen (vgl. LA, S. 169) und versuchen, die ihnen geläufige Rollenverteilung wieder herzustellen, indem sie über das Aussehen der Wirtin urteilen, getreu van der Straatens Ansicht, man habe das Recht, alles und jeden anzusehen: »Sieht doch die Katz den Kaiser an. Und [...] was man ansehen darf, das darf man auch beschreiben« (LA, S. 115). Damit versuchen sie, »to re-establish the threatened (patriarchal) norm by making her body an object of visual coercion«.316 Sie vergleichen sie dabei mit Karl von Pilotys Thusnelda im Triumphzug des Germanicus und damit einem Gemälde, das wie Tintorettos L’Adultera eine Frau als Objekt männlicher Blicke zeigt. Die auf dem Bild dargestellte Thusnelda wehrt sich dagegen nur insofern, als sie ihre Rolle als betrachtetes Objekt zwar annimmt, sich aber zumindest ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend als stolze Germania und nicht – wie vom Betrachter Tiberius erwünscht – _____________ 314 Osborne, Vision, S. 78. 315 Ebd. 316 Ebd., S. 75.

272

5. Analyse der Romane

als besiegte Gefangene präsentiert.317 Dennoch beugt sie sich insofern dem traditionellen Schema, als sie seinen Blick nicht erwidert, sondern den ihren senkt, »looking modestly, ›femininely‹, downwards«318 – im Gegensatz zur selbstbewusst den Blickwechsel mit Rubehn suchenden Wirtin (vgl. LA, S. 169). Sie erinnert Osborne an eine von »Manet’s boldly staring, self-possessed women, the cool blond in the late Un Bar aux Folies-Bergère«.319 Ihm zufolge ist der Widerstand gegen »the power of the male gaze to situate the female in terms of the conventions of Renaissance painting«,320 den die Wirtin als Verdoppelung desjenigen Melanies zeigt, in vielen Gemälden Manets zu finden.321 Wie in Kapitel 2.1. der vorliegenden Arbeit behandelt, liegt eine solche Umkehr der Sehweisen, bei der die Frau zum sehenden Subjekt mit Blick auf den Bildbetrachter wird, der Mann dagegen seinen Blick abwendet, vermehrt in Gemälden des 19. Jahrhunderts vor. Fontane verweist damit zum einen mit dem L’Adultera-Gemälde und entsprechenden Blicken von Vertretern der Überwachungs-Gesellschaft auf Melanie auf die traditionelle Zuweisung der Rollen von Sehendem und Gesehener, wie sie üblicherweise in Gemälden gestaltet wurde. Zum anderen thematisiert er deren Umkehr, die sich in der zeitgenössischen modernen Malerei zu vollziehen beginnt. Damit befasst er sich mit derselben Thematik des kontrollierenden Sehens, dessen vormals klare Genderaufteilung sich zu lockern beginnt, wie die bildenden Künstler seiner Zeit.322 5.2.6. Fazit In der Textwelt materiell existierende oder auch nur in Gesprächen thematisierte Gemälde – explizite Systemreferenzen der Typen 3.2.1. und 3.2.2. – erfüllen in L’Adultera vielfältige Funktionen: Von van der Straaten werden sie als »Memento mori« (LA, S. 119) genutzt, um sich ein bevorstehendes Schicksal vor Augen zu halten, zur Ermahnung und Kontrolle Melanies und als Prestigeobjekte. Innerhalb der Handlung dienen sie als »Kommunikationsanalysator«323 sowie der Darstellung der Selbst- und Fremdbilder der Figuren. Vor allem aber werden sie zur Illustration der _____________ 317 318 319 320 321 322 323

Vgl. ebd., S. 78. Ebd. Ebd., S. 75. Ebd., S. 74. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 76. Doebeling, Eine Gemäldekopie, S. 4.

5.2. »L’Adultera«

273

den gesamten Roman beherrschenden Thematik von Original versus Kopie/Typus genutzt. Diese erstreckt sich von den Gemäldekopien über die Klassifizierung von Figuren als ›Kopien‹ nach Gemäldevorlagen bis hin zur Gestaltung der gesamten Romanhandlung als Reproduktion des Tintorettogemäldes – sowohl des Inhalts, der Ehebruchshandlung, als auch der Darstellungsweise der Blickkonstellation. Das Kopie/Typusthema wird so auf verschiedenen Ebenen durchgespielt und dabei als Wahrnehmungsproblem und als Text-Bild-Beziehung gestaltet, so dass Bilder und Wahrnehmungsweisen untrennbar miteinander verbunden sind. Das bei Zeitgenossen Fontanes um sich greifende Denken und Wahrnehmen in Kategorien, bei dem individuelle Unterschiede übersehen werden, wird zum einen bei van der Straaten kritisiert, zum anderen muss auch der Leser, der gleichermaßen die Geschichte als reine Reproduktion des Bildes liest, seine Wahrnehmung hinterfragen. Der Roman erkennt in der Gestaltung Melanies zwar an, dass Typisierungen unumgänglich sind, da die menschliche Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit auf der Zuordnung zu Schemata basiert, betont jedoch, dass Personen in solchen Kategorisierungen nicht komplett aufgehen, sondern ihre individuellen Besonderheiten bedeutsam sind und nicht übersehen werden dürfen. Darin ist auch die poetologische Aussage enthalten, dass die Figuren durchaus teils als Typen zu verstehen sind. Sie müssen Träger allgemeiner Charakterzüge sein, zum einen, um Identifikationsangebote für eine breit gefächerte Leserschaft zu enthalten, zum anderen, weil sie als möglichst wirklichkeitsnahe Figuren für die damalige Zeit kennzeichnende Eigenschaften besitzen und in aus der Realität bekannten Verhältnissen agieren müssen. Doch interessant, besonders und lesenswert werden diese teils typenhaften Figuren erst durch ihre individuellen Eigenheiten. Dieses Urteil trifft übrigens auch für den Roman selbst zu, der sich häufig dem Vorwurf des Klischeehaften stellen musste und teils als trivialer Liebesroman aufgefasst wurde. Auch er hat am Typischen einer Gattung Teil, um im literarischen Konkurrenzkampf zu bestehen, und zeigt zugleich Abweichungen von ihr: »Der Text erzählt nicht nur eine, wenn auch nicht gerade sensationelle, Emanzipationsgeschichte, er selbst emanzipiert sich von seinen Schemata, ohne rigoros gegen sie aufzubegehren«.324 Auch das Thema der Trennung zwischen Kunst und Wirklichkeit bzw. der Verschmelzung beider Ebenen ist nicht nur Teil der Figurenwahrnehmung van der Straatens und Konstruktionsprinzip des Romans, sondern zudem poetologische Aussage über den Status der Romanwelt sowie über die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Im Text werden die fiktive Kunstwelt der Gemälde oder literarischer Vorlagen und die Ro_____________ 324 Helmstetter, Die Geburt des Realismus, S. 124.

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5. Analyse der Romane

manwirklichkeit nicht klar voneinander abgegrenzt, sondern beeinflussen einander in der Wahrnehmung der Romanfiguren und vermischen sich. In sich ständig wiederholenden und potenzierenden Wechseln zwischen Text und Bild wird eine Metaebene der Reflexion über die Gemeinsamkeiten beider Medien und ihre gegenseitige Abhängigkeit und Bereicherung eröffnet und zugleich darauf verwiesen, dass die Weltsicht der Figuren grundsätzlich von beiden Medien vermittelt ist. Indem gezeigt wird, wie die Romanwirklichkeit von Kunstwerken entstammenden Mustern durchzogen ist, verweist der Roman einerseits darauf, dass er entsprechend den Grundsätzen des poetischen Realismus keine bloße oder ›nackte‹ Realität wiedergibt, sondern eine künstlerisch gestaltete. Zum anderen suggeriert die dennoch bestehende Ähnlichkeit zwischen Romanwelt und außerfiktionaler Wirklichkeit, dass auch die Wahrnehmung der Wirklichkeit mit ähnlichen medialen und künstlerischen Mustern durchsetzt ist, dass nicht nur das Kunstwerk Teile der Realität – auf poetisierende Weise – kopiert, sondern diese wiederum Teile der Kunstwerke. In L’Adultera thematisiert Fontane dieselben Themen wie zeitgenössische Maler – etwa William Turner, Manet oder die Präraffaeliten – und will seine Leser zu ähnlichen Reflexionen anregen, wie diese die Betrachter ihrer Gemälde. Neben der genannten Kritik an einer abgestumpften, typisierenden Wahrnehmung und der Warnung vor einer Vermischung von Kunst und Wirklichkeit trifft dies für das kontrollierende Sehverhalten der Gesellschaft zu. Während in traditionellen Gemälden Frauengestalten meist Objekte von männlichen, sie abschätzenden Blicken oder gesellschaftlichen Kontrollblicken sind, wie im L’Adultera-Gemälde, erhalten sie in vielen Gemälden des 19. Jahrhunderts einen eigenen Blick und begegnen dem des Bildbetrachters, anstatt sich nur ansehen zu lassen. Ebenso erleben Melanie und die Wirtin, ihre Spiegelfigur in Bezug auf Blickweise und Objektstatus, den Zustand, eine »Sehenswürdigkeit« (LA, S. 234) zu sein, über deren Körper männliche Figuren verhandeln und deren Verhalten von der Gesellschaft mit Blicken verfolgt und kontrolliert wird. Doch wie in zeitgenössischen Gemälden wehren sich die Frauenfiguren dagegen, indem sie zurückblicken, Männer zum Objekt ihrer Blicke machen und eigene Selbstbilder entwerfen statt diejenigen anderer zu übernehmen.

5.3. »Effi Briest« Auch in Effi Briest kommen Bildern, Blicken und Wahrnehmungsweisen tragende Funktionen zu, die von der Forschung zum Teil bereits erschlossen wurden. So wurde die Verbindung des Romans zur Photographie

5.3. »Effi Briest«

275

bereits von Koppen und Krauss gezogen, die – unter Verwendung der Kriterien Buddemeiers – detailliert für die Beschreibung HohenCremmens am Romananfang eine photographieanaloge Darstellungsweise nachgewiesen haben,325 so dass sich hier eine weitere Untersuchung photographieanaloger Beschreibungsweisen erübrigt. Krauss stellt darüber hinaus die These auf, dieses »Anfangsbild« sei den gesamten Text hindurch präsent und werde an entscheidenden Handlungspunkten immer wieder aufgerufen, während die Ereignisse, die sich zwischen diesen Bildteilen abspielten, »im Grunde nicht wichtig« seien:326 »Es sind photographische Bilder, die den Roman strukturieren. Die photographische Sehweise hat sich unversehens der Technik der Literaturherstellung bemächtigt«.327 Dieser These, welche die von Langen entwickelte Vorstellung eines Romans als Bilderkette wieder aufgreift328 – nun in der Parallelsetzung zu photographischen anstatt gemalten Bildern – lässt sich jedoch nur bedingt zustimmen. Zwar kehrt die Bildhaftigkeit des Anfangs an bedeutsamen Situationen wieder, doch die dazwischen liegenden Ereignisse – etwa Effis Eheleben in Kessin – sind keinesfalls als bedeutungslos zu betrachten; ebenso wenig sind »Innstetten, Crampas und all die anderen nur Randfiguren«.329 Eng mit der Photographie verknüpft ist auch das Thema kopierter bzw. wiederholter Beziehungen und Identitäten in Effi Briest: Mehrfach wird die Eheschließung zwischen Effi und Innstetten – unter Hinweis auf das in seinem Namen verborgene englische ›instead‹ – als Ersatzehe für die eigentlich angestrebte Verbindung mit der Mutter thematisiert.330 Dabei soll Effi als ›Kopie‹ der Mutter fungieren, kann diese Rolle jedoch nicht ausfüllen.331 Innstetten hingegen ist für Böschenstein »ein Revenant, _____________ 325 326 327 328 329 330

Vgl. Koppen, Literatur und Photographie; Krauss, Photographie und Literatur. Krauss, Photographie und Literatur, S. 78. Ebd. Vgl. Kapitel 3.2.1. der vorliegenden Arbeit. Ebd. Vgl. Heidy Margit Müller, Töchter und Mütter in deutschsprachiger Erzählprosa von 1885 bis 1935, München 1991; Martha Kaarsberg, Die ›verkaufte‹ Braut. Mütter geben ihre Töchter preis. In: Helga Kraft und Elke Liebs (Hrsg.), Mütter – Töchter – Frauen. Weiblichkeitsbilder in der Literatur, Stuttgart/Weimar 1993, S. 91–113; Matt, Peter von, …fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts, München/Wien 1983, S. 238–242; Gabriele Gross, Der Neid der Mutter auf die Tochter. Ein weibliches Konfliktfeld bei Fontane, Schnitzler, Keyserling und Thomas Mann, Frankfurt am Main/New York 2002, S. 117–140; Nora Hoffmann, Deficient Families in Theodor Fontane’s Novels. The Antithetic Roles of Father and Mother in Parent-ChildRelationships. In: Tina Karen Pusse und Katharina Walter (Hrsg.), Precarious Parenthood and the Performativity of ›Family‹ in Literature and Film. London/Berlin [im Druck]. 331 Dass Kinder als ›verdoppelte Ausgaben‹ ihrer Eltern gesehen werden, in dieser Rolle allerdings nicht komplett aufgehen, ist kein Einzelphänomen im Fontaneschen Erzählwerk (vgl. Hoffmann, Deficient Families).

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5. Analyse der Romane

ein lebendig Toter, wie der Chinese, dem ebenfalls seine Geliebte durch eine Konventionsheirat geraubt wurde«.332 Schon diese Formulierungen verstärken durch die zusätzliche Assoziation des Toten und Unheimlichen mit dem als Verdoppeltes Wiederkehrenden die Anklänge an die Photographie deutlich, umso mehr, als Böschenstein auch das Spukmotiv direkt mit der wieder neu auflebenden Beziehungen zwischen Innstetten und der Mutter in Verbindung bringt: »Es scheint mir zweifellos, daß der Spuk als Zeichen für jene zugleich tote und lebendige Beziehung zu lesen ist«.333 Den Bezug des Romans zur Malerei hingegen hat erstmals Klaus-Peter Schuster ausführlich behandelt und dabei herausgearbeitet, dass Fontane in Effi Briest das in der präraffaelitischen Malerei entwickelte Verfahren des ›disguised symbolism‹ verwendet, indem er Objekte, die zunächst einfache Bestandteile der realistisch geschilderten Romanwelt zu sein scheinen, mit symbolischem Gehalt auflädt und dem Text damit eine zweite Aussageebene hinzufügt.334 Auch Fontanes Motivwahl in Effi Briest zeige Anleihen bei der Malerei oder zumindest Parallelen zu ihr, ohne dass sich die Einflüsse eindeutig nachweisen ließen. So erinnere die Anfangsszene des Romans mit dem hufeisenförmig eingeschlossenen Garten und der wie Maria in Verkündigungsgemälden weiß und blau gekleideten Effi an entsprechende Mariengemälde.335 Übereinstimmungen sieht Schuster auch zwischen dem Fontane nachweislich bekannten Gemälde The awakening conscience von William Holman Hunt336 und August Leopold Eggs Triptychon Past and Present,337 die beide wie der Roman das Thema der gefalle_____________ 332 Böschenstein, Caecilia Hexel, S. 48, vgl. a. Renate Böschenstein, ›Und die Mutter kaum in Salz‹. Muttergestalten in Fontanes ›Vor dem Sturm‹ und ›Effi Briest‹. In: Irmgard Roebeling und Wolfram Mauser (Hrsg.), Mutter und Mütterlichkeit. Wandel und Wirksamkeit einer Phantasie in der deutschen Literatur, Würzburg 1996, S. 262–269. 333 Böschenstein, ›Und die Mutter kaum in Salz‹, S. 264. 334 Vgl. Schuster, Theodor Fontane. ›Effi Briest‹. 335 Die Bildhaftigkeit des Romananfangs hat demnach bei verschiedenen Kritikern zu Vergleichen mit der Photographie und der Malerei geführt, so dass die bei den Wanderungen bereits festgestellte Problematik, wie bzw. ob sich eine literarische Beschreibung eindeutig einer der beiden Bildarten zuordnen lässt, erneut auftritt. 336 Auf Hunts Gemälde ist dargestellt, wie eine »ausgehaltene Geliebte durch ein Lied, das ihr Verführer am Klavier singt, an das Heim ihrer unschuldigen Kindheit erinnert wird” und aus diesem Szenario ausbricht: »Mit weit aufgerissenen Augen springt sie vom Schoß des Mannes auf« (Forster-Hahn, ›Die Ehe als Beruf‹, S. 314). Ähnlich setze sich Cora kurz vor Effis Schlittenfahrt mit Crampas auf dessen Schoß, wodurch »Motive des Huntschen Gemäldes wie ein lebendes Bild nachgestellt« würden und bei Effi »jene Reflexion in Gang gebracht [werde, N.H.], die auch das Huntsche Gemälde illustriert« (Schuster, Theodor Fontane. Effi Briest, S. 79). Fontane erwähnt das Gemälde in seinen Briefen aus Manchester (vgl. NFA 23/1, S. 142). 337 Das Triptychon Eggs stellt auf dem mittleren Bild einen Mann dar, der den Beweis des Ehebruchs seiner Frau in Form eines Briefs in der Hand hält. Die Frau hat sich zu Boden geworfen, im Hintergrund spielen zwei kleine Mädchen. Die beiden Seitenbilder zeigen die

5.3. »Effi Briest«

277

nen Frau behandeln.338 Fontane gebe mit diesen Anspielungen »ein Bild von der Wirklichkeit seiner Zeit [...], indem er sie dem Bild der Kunst nachstellt«, da »eine bürgerliche Gesellschaft nichts lieber tue, als sich an den Meisterwerken der Kunst zu orientieren«.339 Damit läge in der Umsetzung dieser Gemälde in die Handlung ein ähnliches Verfahren vor wie in L’Adultera, doch im Gegensatz zu dort, wo das entsprechende Gemälde selbst im Text genannt wird, ist die suggerierte Eindeutigkeit solcher Bezüge in Effi Briest nicht nachweisbar. Daher ist Françoise Forster-Hahns Relativierung der Ergebnisse Schusters zuzustimmen: Trotz der Ähnlichkeit dieser und anderer Motive ist wohl kaum ein direktes, absichtliches Transportieren von Bild in Text anzunehmen. So verführerisch es sein mag, direkte Bezüge zwischen den präraffaelitischen Bildern und Fontane Text zu konstruieren, so vorsichtig müssen wohl solche Verbindungen über eine gemeinsame Faszination durch das Thema und eine künstlerische Affinität der Bildregie hinaus formuliert werden.340

Da die benannten Bezüge zu Photographie und Malerei in der Forschung bereits ausführlich dargestellt und diskutiert wurden,341 will sich die vorliegende Arbeit auf die Sehgewohnheiten der Figuren konzentrieren. Auf die große Wirkungskraft von Blicken in Effi Briest verweist etwa der Blick des sterbenden Crampas auf Innstetten, der dessen jahrelang aufrecht erhaltene, erstarrte Wertvorstellungen und damit seine gesamte Lebenseinstellung verändert.342 Einen weiteren Aspekt zur Bedeutung von Blicken _____________

338 339 340 341 342

aus dieser Situation hervorgehende Gegenwart: Auf dem rechten Bild sind die beiden Mädchen zu jungen Frauen herangewachsen, auf dem ist linken sieht man die verstoßene Ehefrau obdachlos unter einer Brücke. Ähnlich enthüllen auch in Effi Briest Briefe die außereheliche Affäre, und wie die Frauenfigur auf dem Gemälde wird Effi von ihrem Ehemann verstoßen und führt darauf ein Leben außerhalb der Gesellschaft. Auch Stuby, Edward Burne-Jones, S. 147 stellt fest: »Die ›fallen woman‹ [...] ist zentrales Thema viktorianischer Malerei und Literatur«. Ebd., S. 185. Forster-Hahn, ›Die Ehe als Beruf‹, S. 316. Das Thema kopierter Identitäten wurde zudem bereits im vorangegangenen L’AdulteraKapitel 5.2 ausgiebig behandelt. Innstetten liest aus diesem Blick die letzten Gedanken des sterbenden Crampas, die er nicht mehr in Worte fassen kann: »Wenn ich mir seinen letzten Blick vergegenwärtige, resigniert und in seinem Elend doch noch ein Lächeln, so hieß der Blick: ›Innstetten, Prinzipienreiterei... [...]‹ « (EB, S. 255). Dieser Blick des Sterbenden ist wahrscheinlich wirksamer, als die gesprochenen Worte hätten sein können, den Innstetten hat ihn danach »immer vor Augen« (EB, S. 299) und fühlt sich von ihm so sehr verfolgt, dass er sein Handeln ständig überdenkt und in Frage stellt. Er überlegt sich Handlungsalternativen und kommt zum Schluss: »[D]ann war das Glück hin, aber ich hätte das Auge mit seinem Frageblicke und mit seiner stummen leisen Anklage nicht vor mir« (EB, S. 255). Seitdem der Blick des Sterbenden Innstetten getroffen hat, schwindet ihm die Überzeugung von der Richtigkeit seiner Grundsätze: Er ist »etwas kritisch gegen derlei Dinge geworden. Er maß seitdem mit anderem Maße, sah alles anders an. Auszeichnung, was war es am Ende?« (EB, S. 299).

278

5. Analyse der Romane

arbeitet Jhy-Wey Shieh mit der Feststellung heraus: »Wenn man Crampas’ Annäherungsmanöver genau prüft, so stellt sich heraus, daß der ganze Vorgang durch den ›Blickkontakt‹ gekennzeichnet ist«,343 wobei Shieh die zunächst »scharf blickenden Augen [Effis, N.H.] als Abwehr und die geschlossenen Augen folglich als widerstandslose Ohnmacht«344 interpretiert. Ausführlichere Untersuchungen zu Blicken und Figurenwahrnehmung in Effi Briest hat Maria Elisabeth Brunner vorgelegt,345 die feststellt: »Detailliert beschriebene Blickwechsel und Studien des Sehens, Wahrnehmung und deren Funktion stehen also im Rahmen einer Phänomenologie des Sehens im Zentrum des Romans«.346 Auch »Wahrnehmungsstudien« finden sich darin als »taxierend-berechnende[r] Blick im Rahmen gesellschaftlicher Rollenspiele; als veränderte Wahrnehmung durch Eisenbahn und Photographie«.347 Auf diese Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten der Figuren soll im Folgenden genauer eingegangen werden. Dabei sind neben den Sehweisen der Protagonisten auch physiognomische Blicke zu untersuchen, die nicht nur von allen Figuren angewandt werden, sondern infolge der durchgehenden Außensicht des Erzählers auf die Figuren auch vom Leser praktiziert werden müssen, für den der Roman zu einem zu interpretierenden » ›Bündel‹ von Zeichen«348 wird. Weiter wird auf die Bedeutung der Photographien Effis eingegangen, die Innstetten direkt nach der Entdeckung der Briefe Crampas’ an sie betrachtet. Von diesen Photographien und Briefen ausgehend wird zudem das Text-Bild-Verhältnis berücksichtigt, ebenso die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Photographien und anderen im Roman genannten Bildarten. _____________ 343 344

345 346 347 348

Eine in ähnlicher Weise lebensverändernde Wirkung hat auch in Cécile der Blick eines Sterbenden bzw. Toten auf die Protagonistin (vgl. Kapitel 5.1.1.2. der vorliegenden Arbeit). Jhy-Wey Shieh, Liebe, Ehe, Hausstand. Die sprachliche und bildliche Darstellung des ›Frauenzimmers im Herrenhaus‹ in Fontanes Gesellschaftsroman ›Effi Briest‹, Frankfurt am Main/New York 1987, S. 137. Ebd., S. 138. Effi sieht Crampas an, nachdem er sich mit der Anrede »teuerste Effi« zu viel herausgenommen hat, worauf er sich in »gnädigste Frau« korrigiert (EB, S. 146); ihr Blick gilt ihm also als Warnung oder Abwehr. Kurz darauf sieht sie ihn nach seiner Anweisung, sie solle Innstetten nicht erzählen, dass er ein Glas eingesteckt habe, »scharf an. Dann aber schlug sie verwirrt und fast verlegen die Augen nieder« (EB, S. 149). Später heißt es nach der verhängnisvollen Schlittenfahrt durch den Wald, dass sie »die Augen wieder öffnete« (EB, S. 170), als sie den Wald verlassen, sie also während der Verführungsszene komplett geschlossen hatte, nachdem sie den Blick bei vorangehenden zweideutigen Anspielungen Crampas’ nur gesenkt hatte. Vgl. Brunner, ›Effi Briest‹ von Theodor Fontane; Sehen und Erkennen; ›Man will die Hände des Puppenspielers nicht sehen‹) Brunner untersucht ebenfalls die verschiedenen Wahrnehmungsarten der Figuren. Brunner, Sehen und Erkennen, S. 435. Ebd., S. 434. Geppert, Der realistische Weg, S. 96.

5.3. »Effi Briest«

279

5.3.1. Figurenspezifische Arten der visuellen Wahrnehmung Die Charakterisierung der Figuren durch ihre Sehgewohnheiten dehnt sich in Effi Briest bis auf die Nebenfiguren aus – man denke etwa an die Cécile ähnliche, eitle und wenig wahrnehmende Hulda mit ihren vorstehenden Augen349 oder an Crampas, dessen Blicke »als Zeichenträger (im Forsthaus oder beim Silvesterball) [...] deutlich erotische Konnotationen [transportieren]«,350 so dass sein Charakter als »Damenmann« und »Mann vieler Verhältnisse« (EB, S. 110) sich in seinen Sehgewohnheiten wieder findet.351 Besondere Aufmerksamkeit soll im Folgenden den komplexer angelegten Sehweisen der Protagonisten Innstetten und Effi zukommen. 5.3.1.1. Innstetten und Effi: Erziehung durch Bilder und Blicklenkung Ebenso wie St. Arnaud Céciles Blick lenkt, erscheint auch »Effis Erziehung durch Innstetten [...] als Kontrolle ihres Blicks«,352 der symbolisch für ihre Selbst- und Weltwahrnehmung steht. Dabei spielen Gemälde als Objekte dieser Blicklenkungen eine besondere Rolle, denn als »Kunstfex« (EB, S. 39) legt Innstetten gleich zu Beginn der Ehe fest, welche Bilder Effi zu sehen hat und »erklärt [...] [ihr, N.H.] alles« (EB, S. 42). Von der Hochzeitsreise in Italien aus beginnen Effis Karten immer mit: »Wir haben heute Vormittag die hiesige berühmte Galerie besucht« (EB, S. 43) und beinhalten gleichzeitig Hinweise darauf, dass Innstetten diese massenhaften Gemäldebetrachtungen, die Fontane als Wahrnehmungsüberforderung und falschen Umgang mit Kunstwerken kritisierte,353 für sich als richtige Form des Sehens betrachtet und daher auch für seine Frau als angemessen empfindet, ihr nicht entsprechen: Sie findet »alles sehr schön, aber anstrengend« (EB, S. 42) und ist eine »ganz berauschte[…]« (EB, S. 43) oder »glückliche, aber etwas müde Effi« (EB, S. 43). Auch der spätere Besuch des St.-Privat-Panoramas greift ihre Nerven an (vgl. EB, _____________ 349 Vgl. dazu Kapitel 5 Fußnote 414. 350 Brunner, ›Effi Briest‹ von Theodor Fontane, S. 152. 351 Am Silversterball mustert er die anwesenden Damen und weist seine Gesprächspartnerinnen »auf ein schönes Fräulein von Stojentin« hin, »wobei sein Blick übrigens Effi bewundernd streifte« (EB, S. 175). Des Oberförsters eitle Tochter Cora, die sich bewusst ist, »ein lebendes Bild zu stellen« (EB, S. 158), um die Blicke der Männer auf sich zu lenken, erreicht bei Crampas leicht ihren Zweck, wie Sidonies Kommentar zeigt: »Ganz unerträglich. Und dazu die Blicke von Ihrem Freunde Crampas! Das ist so die rechte Saat!« (EB, S. 160). 352 Brunner, Sehen und Erkennen, S. 421. 353 Vgl. Kapitel 4.5. der vorliegenden Arbeit.

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5. Analyse der Romane

S. 44),354 was verständlich wird, wenn man bedenkt, dass einige Besucher von Panoramen beim Betrachten des sie rundum umgebenden Bildes Schwindelgefühle entwickelten. So ist der Effekt dieser bilderreichen Hochzeitsreise nach Innstettens Vorstellung, dass Effi bei der Rückkehr, übersättigt von den ihr aufgedrängten visuellen Eindrücken, während der Zugfahrt direkt nach dem Einsteigen die Augen schließt, anstatt den Blick aus dem Fenster zu genießen oder zur eigenständigen Orientierung zu nutzen – immerhin fährt sie von Berlin aus nach Stettin, hätte also zunächst Gelegenheit, die anregende Großstadt aus dem Zugfenster heraus zu betrachten und im Weiteren die Möglichkeit, sich ein Bild von der ihr neuen Umgebung zu machen, in der sie als frisch gebackene Ehefrau heimisch werden soll (vgl. EB, S. 45). Die Effi von Innstetten unter anderem durch Bilder nahe gelegten Sichtweisen zeigen sich als den ihrigen entgegengesetzt und ihr schädlich, indem sie ihr eine eigene Wahrnehmung erschweren. Trotzdem ist sie bemüht, sich als gute Ehefrau seine Vorstellungen ebenso anzueignen, wie sie sich seinem Wunsch nach Bilderbesichtigung fügt, und sich nichts anmerken zu lassen. Besonders deutlich wird dies im weiteren Verlauf der Ehe beim sich zum Spuk auswachsenden Chinesenbild, dem »Angstapparat aus Kalkül« (EB, S. 140), mit dem Innstetten Effi zu kontrollieren versucht. Die Gemälde auf der Hochzeitsreise dagegen dienen zunächst noch Effis Kultivierung und Bildung und damit ihrer Formung nach Innstettens ›Bild‹ einer passenden, ihm entsprechenden Gattin. Zugleich wird durch den Umgang mit ihnen die in der Ehe künftig gültige Rollenverteilung mit Innstetten als Erzieher und Lenker der jungen Frau eingeleitet. Weiter festgeschrieben wird diese wiederum symbolisch durch Blicke während der ersten Anreise nach Kessin. Zu Beginn der Fahrt schaut Effi, »die durch alles, was sie sah, aufs höchste interessiert und schon deshalb bei bester Laune war« (EB, S. 46) sich noch neugierig und selbstständig um, wobei sie eigene Vermutungen über das Gesehene äußert, etwa zu einem Innstetten grüßenden Mann am Gasthof: » ›Wer war denn das? […] Er sah ja aus wie ein Starost, wobei ich freilich bekennen muß, nie einen Starosten gesehen zu haben« (EB, S. 46). Bereits in ihrer Spekulation allerdings nimmt sie die eigene Meinung wieder zurück, indem sie ihre Unkenntnis zugibt, und vereinfacht dem ortskundigen Ehemann so die geschickte Überleitung zu seiner genaueren Erklärung, bei der er Effi zunächst zustimmt und sie damit geneigt macht, sich seinen folgenden Ausführungen anzuschließen. Effi allerdings folgt ihm noch nicht ganz _____________ 354 Mit »St.-Privat-Panorama« ist die Ausstellung des Gemäldes Sturm auf St. Privat im National-Panorama in Berlin gemeint (vgl. Marie-Louise von Plessen, Der gebannte Augenblick. Die Abbildung von Realität im Panorama des 19. Jahrhunderts. In: Dies. (Hrsg.), Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, Basel/Frankfurt am Main 1993, S. 16).

5.3. »Effi Briest«

281

und widerspricht seiner negativen Wertung über den Gesehenen, indem sie die eigene Wahrnehmung dagegen hält: »Er sah aber gut aus« (EB, S. 46). Wieder nutzt Innstetten dasselbe Verfahren wie zuvor, stimmt ihr zu, beharrt dann aber auf seiner Meinung, die er auch ihr nahelegen will. Im weiteren Gesprächsverlauf erfragt Effi dann weitere Informationen von Innstetten und akzeptiert sie, wiederholt nun ihrerseits von ihm Gesagtes zustimmend, ohne Eigenes dagegen zu setzen. Dementsprechend verändert sich auch die Verteilung von Sehen und Hinweisen im Laufe der Fahrt, denn während zu Gesprächsbeginn noch Effi selbst sich umschaute und Gesehenes kommentierte, fordert gegen Ende nun Innstetten Effi mehrmals auf, seinen Blicken zu folgen, woraufhin sie sich jeweils nach seinen Anweisungen richtet und versucht, sich seine Blickweisen – im visuellen wie im übertragenen Sinne – anzueignen. Bei der ersten Sehanweisung auf ein Objekt inklusive dessen Beurteilung gelingt dies noch nicht ganz, denn ihre eigene Sicht der Dinge bleibt neben der Anerkennung der seinigen noch bestehen. Seiner Feststellung und Aufforderung: »Aber sieh mal den Mond da drüben. Ist es nicht schön?« (EB, S. 49) entsprechend betrachtet sie, Innstettens Blick folgend den Mond und stimmt auch seiner Wertung zu: »Ja, du hast Recht, Geert, wie schön« (EB, S. 50). Doch auch ihren eigenen Eindruck des Gesehenen, der dies Urteil wieder einschränkt, bringt sie noch zum Ausdruck, ähnlich wie zuvor Innstetten mit ihren Aussagen umgegangen ist, doch weniger selbstbewusst und schließlich mit einer Bitte um Erklärung an ihn gewendet: »[A]ber es hat zugleich so was Unheimliches. […] Woran liegt es nur?« (EB, S. 50). Es folgen weitere Blicklenkungen und Erläuterungen Innstettens: »Siehst du da vor dir das kleine Haus mit dem Licht? Es ist eine Schmiede. Da biegt der Weg. Und wenn wir die Biegung gemacht haben, dann siehst du schon den Turm von Kessin oder richtiger beide« (EB, S. 50).355 Hier wird deutlich, wie Innstetten Effis Blick schon im Voraus bestimmt, bevor sie selbst eine Möglichkeit erhält, ihre eigene Sicht auf die für sie neue Welt zu entwickeln. Anstatt im selbstständig frei umherschweifenden Blick die neue Umgebung den eigenen Interessen entsprechend selbst zu entdecken, vom unerwarteten Anblick nach der Biegung überrascht und zu eigenen Vermutungen angeregt zu werden, wird ihre Aufmerksamkeit nun durch die Hinweise Innstettens schon im Voraus auf bestimmte Objekte gelenkt, zu denen er ihr gleich die zutreffende Erläuterung liefert. Ihm ist die gesamte Umgebung bekannt und er möchte seine Sicht der Dinge _____________ 355 Vor allem bei der ersten Ankunft in Kessin zeigt sich die Steuerung von Effis Blick durch Innstetten, doch sie begegnet auch später im Text wieder, etwa wenn Innstetten Effi auf einen Kirchturm hinweist: »Aber sieh nur, Effi, da haben wir gerade den Kroschentiner Kirchturm dicht vor uns« (EB, S. 89).

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5. Analyse der Romane

direkt an Effi weitergeben, so dass er ihr während der Anreise zusammen mit den Sehanweisungen auch seine Beschreibung des sie erwartenden Kreises gibt, damit sie diese übernimmt. Bezeichnenderweise behält er dann am Ende des Gesprächs das letzte, erläuternde Wort, während Effis letzter Beitrag in einer Frage, einer Bitte um seine Erklärung liegt: » ›Hat es [Kessin, N.H.] denn zwei [Türme, N.H.]?‹/ ›Ja, Kessin nimmt sich auf. Es hat jetzt auch eine katholische Kirche.‹ « (EB, S. 50) In der folgenden Passage wiederholt sich diese Entwicklung von eigenständigen Sehversuchen Effis hin zur Lenkung durch Innstetten, die sich durch den gesamten Eheverlauf ziehen wird, erneut im Kleinen: Bei den Ankunft in Kessin stellt Innstetten seiner jungen Frau die Hausbewohner vor, während diese beginnt, die Umgebung selbst, unabhängig von seinen Ausführungen zu inspizieren: »Effi hatte während dieser Vorstellungsszene Zeit gefunden, sich umzuschauen.« (EB, S. 52) Sie ist nun nicht mehr alleine, wie zu Beginn der Kutschfahrt, »aufs höchste interessiert« (EB, S. 46), sondern sogar »wie gebannt von allem, was sie sah, und dabei geblendet von der Fülle von Licht« sowie den »viel[en], viel[en]« Gegenständen (EB, S. 52). Ihre eigene Wahrnehmungsfähigkeit beginnt beim Eintritt in das neue Heim in Anbetracht der Masse an »zum Teil sehr [s]onderbare[n]« (EB, S. 52) Eindrücken nachzulassen und unzuverlässig zu werden, wofür die Blendung und der fälschliche, vage Eindruck, dass »ein riesiger Fisch in der Luft zu schwimmen schien« (EB, S. 72; Herv. N.H) stehen. Effi allerdings kämpft gegen die anfängliche Blendung an und versucht, den überwältigenden Gesamteindruck durch die Konzentration auf einzelne Gegenstände zu bewältigen, zwar in eigener Auswahl des sie Interessierenden, doch mit Rückfragen um Erklärungen an Innstetten: ›Was ist das, Geert? ‹ fragte sie./ ›Das ist ein Haifisch.‹/ ›Und ganz dahinten das, was aussieht wie eine große Zigarre vor einem Tabaksladen?‹/ ›Das ist ein junges Krokodil. Aber das kannst du dir alles morgen viel besser und genauer ansehen; jetzt komm und laß uns eine Tasse Tee nehmen. […]‹ (EB, S. 72)

Innstetten geht knapp auf Effis Fragen ein, unterbindet aber ihre weitere Betrachtung und Erkundung des Hauses in ihrem eigenen Tempo und nach ihren Interessen am ersten Abend, sie auf den Folgetag vertröstend. Bevor sie ihre ersten Eindrücke richtig verarbeiten kann, überhäuft er sie bereits mit weiteren, indem er sie in sein »Wohn- und Arbeitszimmer« führt, wo sie »ähnlich überrascht wie draußen im Flur« ist (EB, S. 52f), aber ebenfalls nicht dazu kommt, ihre Wahrnehmungen zu ordnen. Sie kann sie nicht einmal mehr, wie noch im Flur, formulieren, bevor weitere visuelle Reizüberflutungen folgen, indem ihr nun nicht allein ein weiteres Zimmer gezeigt wird, sondern zudem der Fensterblick auf den Hof hinzutritt: »[A]ber ehe sie sich darüber äußern konnte, schlug Innstetten eine Portiere zurück, hinter der ein zweites, etwas größeres Zimmer, mit

5.3. »Effi Briest«

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Blick auf Hof und Garten, gelegen war.« (EB, S. 53) Effi zeigt sich dankbar und erfreut; dass die Eindrücke allerding dennoch etwas zu viel für sie sind, zeigt sich zwischen den Zeilen in ihrer diminutiven Bezeichnung ihrer selbst und der sprunghaften Anneinaderreihung der vielen Eindrücke: »Ich armes kleines Ding, wie du mich verwöhnst. Dieser Flügel und dieser Teppich, ich glaube gar, es ist ein türkischer, und das Bassin mit den Fischchen und dazu der Blumentisch. Verwöhnung, wohin ich sehe«. (EB, S. 53) Am folgenden Morgen schließlich wird der Text deutlicher, wenn es heißt: »Am Abend vorher war sie zu müde gewesen, um alles, was sie da halb fremdartig, halb altmodisch umgab, genauer in Augenschein zu nehmen«. (EB, S. 54) Erst am Folgetag verschafft sie sich, nachdem sie allein aufgewacht ist, mit ihren Blicken »von ihrem Bette aus eine bequeme Orientierung« (EB, S. 54) über das eigene Schlafzimmer. Auch zu Beginn des Frühstücksgespräches mit dem mittlerweile eingetroffenen Innstetten ist sie noch in der Lage dazu, »das Zimmer und seine Einrichtung« (EB, S. 57) zu ›mustern‹ und gegenüber Innstetten zu kommentieren, der sie allerdings mit ihren »Bilderbuch«-Assoziationen (EB, S. 57) nicht ganz ernst nimmt, sondern sich von ihrer Naivität entzückt zeigt. Und wie schon zuvor nimmt auch hier das Gespräch wieder den üblichen Verlauf, dass Effi Innstetten um Erläuterungen bittet und dieser ihre Einwände möglichst unauffällig und behutsam korrigiert.356 Abschließend dann ist auch die Blickregie wieder umgekehrt, denn Effi soll sich nun zwar im »Hauswesen erst umsehen«, aber »natürlich unter [s]einer Führung« (EB, S. 61) und Erklärung, die in der mehrfach vorgestellten Weise folgen, dass Effi die gezeigten Objekte kommentiert und Innstetten ihre Aussagen anzunehmen scheint, unterschwellig jedoch ignoriert oder korrigiert. Derselbe Prozess vollzieht sich also zu Beginn der Beziehung mehrfach in auffälliger Wiederholung, wobei bemerkenswerterweise Effi zu seinem Beginn recht hartnäckig immer wieder zur eigenen Wahrnehmungs- und Interpretationsweise der Welt zurückfindet. Diese hält allerdings nie lange vor, da Innstetten mit seiner halben Anerkennenung ihrer Ansichten und dabei doch mehr oder weniger unterschwellig erfolgenden Korrektur und seinen Erklärungen jedes Mal aufs Neue Effis Eigenstän_____________ 356 » ›Bloß Konsuln. Ich bitte dich, Geert, wie kannst du nur sagen ›bloß Konsuln‹. Das ist doch etwas sehr Hohes und Großes, und ich möchte beinah sagen Furchtbares. Konsuln, das sind doch die mit dem Rutenbündel, draus, glaub ich, ein Beil heraussah.‹/ ›Nicht ganz, Effi. Die heißen Liktoren.‹/ ›Richtig, die heißen Liktoren. Aber Konsuln ist doch auch etwas sehr Vornehmes und Hochgesetzliches. Brutus war doch ein Konsul.‹/ ›Ja, Brutus war ein Konsul. Aber unsere sind ihm nicht sehr ähnlich und begnügen sich damit, mit Zucker und Kaffee zu handeln oder eine Kiste mit Apfelsinen aufzubrechen, und verkaufen dir dann das Stück pro zehn Pfennige.‹/ ›Nicht möglich.‹/ ›Sogar gewiß. […]‹ « (EB, S. 59f).

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5. Analyse der Romane

digkeit verringert, so dass am Schluss seine visuellen und weltanschaulichen Blickweisen die allein für beide gültigen bleiben. Effi selbst versucht im Laufe der Beziehung immer wieder, sich Innstettens Sichtweisen zu eigen zu machen, denn, wie sie äußert: »Aber freilich, ich sehe wohl ein, ich muß mich bezwingen und ihm […] zu Willen sein...«. (EB, S. 78) Wie sehr ihr das anscheinend gelingt, zeigt sich später daran, dass sie im Brief an die Mutter seine Ausdrücke zitiert und mit dem Kommentar, er werde damit »wohl Recht haben« versieht oder gleich seine Ansicht anstatt einer eigenen mitteilt: »Geert meint, es sei krankhaft«. (EB, S. 103) Später übernimmt sie dann – zumindest nach außen hin – komplett Innstettens Ansichten und gibt sie direkt als eigene aus, wenn sie wiederholt, die Leute würden ihn belächeln, wenn er zu zärtlich ihr gegenüber wäre, obwohl sie »geradeso dachte« wie ihr Vater, der sich über Innstettens wenig liebevolles Benehmen wundert, »[s]ie mochte es aber nicht einräumen«. (EB, S. 126) Auch Michael Andermatt interpretiert die Blicklenkung Effis durch Innstetten als Aufdrängung seiner Weltsicht, seine Untersuchung befasst sich allerdings ausschließlich mit Effis (hauptsächlich visueller) Raumwahrnehmung in Kessin. Er kommt gleichfalls zum Schluss, dass Effi ihre eigene Wahrnehmungsweise nach anfänglichem Widerstreben zugunsten derjenigen Innstettens aufgebe. Dabei definiert Andermatt Effis ursprüngliche Sichtweise als poetisch-schwärmerisch, Innstettens hingegen als rational und nüchtern registrierend.357 _____________ 357 Andermatt schreibt, Innstetten verursache Effis Spukphantasien in der ersten Nacht in Kessin, indem er ihre Sichtweise zu verdrängen versuche. Aus Angst vor seiner Korrektur ihrer Wahrnehmungen praktiziere Effi am folgenden Morgen mit der genauen Registrierung ihres Zimmers das erste Mal seine Sichtweise, die ihr eigentlich fremd sei. Im anschließenden Gespräch, in dem sie vorschlägt, die Vorhänge zu kürzen, versuche sie, ihre verdrängte Sichtweise durchzusetzen, Innstetten jedoch ignoriere und entwerte ihre Spukwahrnehmung und nutze die anschließende Hausführung erneut dazu, seine rationale Sichtweise auf sie zu übertragen und ihr das Haus als ihr Gebiet zuzuweisen. Kurz vor der Kapitulation und Übernahme seiner Wirklichkeitssicht finde Effi im Chinesen Zuflucht, an den sie nun ihre schwärmerische Wahrnehmung zu knüpfen versuche, jedoch nur, um festzustellen, dass sie ihre alte phantastische Weltsicht nicht mehr so wie vor der Beeinflussung durch Innstetten anwenden könne. Sie stehe damit zwischen zwei verlorenen Wirklichkeitswahrnehmungen, zum einen ihrer ursprünglichen, schwärmerischen, zum anderen der rationalen, da sie Johannas Erklärung des Spuks durch die Vorhänge übernommen habe, Innstetten nun aber weitere Möglichkeiten hinzufüge und damit die Eindeutigkeit von Johannas Erklärung entwerte. Dadurch vom Selbstverlust bedroht, füge Effi sich schließlich in Innstettens Sicht der Dinge und seine vorgesehene Rollenverteilung (vgl. Michael Andermatt, Haus und Zimmer im Roman. Die Genese des erzählten Raums bei E. Marlitt, Th. Fontane und F. Kafka, Bern 1987, S. 77–168). Damit ist die im Romanverlauf erfolgende Entwicklung von Effis Sichtweisen allerdings noch nicht abgeschlossen, wie das folgende Kapitel zu Effi darlegen wird.

5.3. »Effi Briest«

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5.3.1.2. Innstetten: Kontrollblicke Die im vorigen Kapitel erläuterten, vor allem zu Anfang des Kessiner Lebens stattfindenden Blicklenkungen sind nicht Innstettens einziges visuelles Kontrollmittel. Hinzu treten Versuche, Effi in die Rolle eines Blickobjekts zu befördern, die etwa daran ersichtlich werden, dass er sie am ersten Tag im neuen Heim, gleich bevor der erste Besucher eintrifft, schon anweist, Gewicht auf ihr Äußeres zu legen: »Und dann machst du Toilette, nur ein ganz klein wenig, denn eigentlich bist du so am reizendsten – Toilette für unseren Freund Gieshübler«. (EB, S. 61) Als zentrale Maßnahme Innstettens schließlich fallen seine forschend auf Effi gerichteten Blicke auf, mit denen er sie durchschauen und damit beherrschen möchte. Vorweggenommen werden auch diese bereits zu Beginn der Ehe in den beobachtenden und beurteilenden Blicken des Hausmädchens Johanna, als Effi die in der ersten Nacht gehörten Geräusche beschreibt: »Johanna, während das Gespräch so ging, sah über die Schulter der jungen Frau fort in den hohen schmalen Spiegel hinein, um die Mienen Effis besser beobachten zu können.« (EB, S. 56) Innstetten selbst setzt sie erst dann ein, als er im weiteren Verlauf des Romans misstrauisch gegen Effi und das Ausmaß ihrer Verbindung zu Crampas wird. Wie Gordon versucht er dann, mit »scharf[en]« (EB, S. 170, 180) Blicken und Beobachtungen die Geheimnisse einer anderen Figur anhand äußerer Zeichen zu entschlüsseln358 und zeigt so gleichfalls Elemente des Photographischen in seiner Blickweise.359 Vor allem das Kühle und Distanzierte dieses ›Kamerablicks‹, eines beinahe schon technischen statt menschlich-emotionalen Sehens, wird bei Innstetten noch in stärkerem Maße als bei Gordon betont. Folgende Passage etwa verdeutlicht, wie sehr Innstettens Fähigkeit zu solchen Kontrollblicken mit emotionaler Kälte zusammenhängt, denn wenn er ausnahmsweise einmal von starken Gefühlen überwältigt wird, verliert er die Fähigkeit zu scharfer, photographieanaloger Beobachtung: »Innstetten war in einer ihm sonst fremden Erregung, und so kam es, dass er die Verlegenheit nicht sah, die sich in Effis Herzlichkeit mischte«. (EB, S. 188) Meist jedoch ist er »frostig wie ein Schneemann«, (EB, S. 70) »ohne rechte Liebe« (EB, S. 309) sowie »nüchtern und berechnend« (EB, S. 308). Diese Distanz zeigt sich auch in seiner Feststellung Effi gegenüber: »Ich will nichts als dich ansehen und mich freuen, daß ich dich habe« (EB, S. 153). Er bringt damit zum Ausdruck, dass ihm das Ansehen _____________ 358 Hauptobjekt solcher Kontrollblicke Innstettens ist Effi, doch nach Entdeckung der Crampas-Briefe wendet er sie auch auf die Tochter an – »Dann sah er das Kind aufmerksam an und entfernte sich« (EB, S. 243) –, an der er sich ebenso als strenger Erzieher zeigt wie zuvor bei ihrer Mutter (vgl. EB, S. 288f). 359 Vgl. Kapitel 5.1.1.3. der vorliegenden Arbeit.

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5. Analyse der Romane

als Beziehungsgrundlage genügt, während seiner Ehefrau Zärtlichkeiten und körperliche Nähe fehlen (vgl. EB, S. 70). Zudem zeigt er in dieser Aussage auch seinen Besitzanspruch, denn er betrachtet Effi als sein Eigentum, an dessen Anblick er sich erfreuen möchte, so wie auch St. Arnaud und van der Straaten sich zu besitzanzeigenden Blicken auf ihre Ehefrauen berechtigt fühlen. Ein weiteres Merkmal seiner Blickweise und Weltsicht ist das Berechnende: Er begründet zur Kontrolle des Objekts seiner Beobachtungen, Effi, den »Spuk aus Berechnung« (EB, S. 141), »eine Art Angstapparat aus Kalkül. Es fehlte jede Herzensgüte darin« (EB, S. 140). Diese Sehgewohnheiten Innstettens in Bezug auf Effi zeigen in ihrer Nüchternheit, Kälte und berechnenden Genauigkeit dieselben Komponenten, die Zeitgenossen mit der Photographie assoziierten. Im physiognomikartigen Versuch durch Betrachtung das Dahinterliegende zu entschlüsseln und dem Gefühl des Besitzes enthalten sie zudem Elemente, die das Betrachten von Photographien begleiteten. So ist es nur konsequent, wenn Innstetten seinem forschenden Blick schließlich Photographien Effis unterzieht.360 Das Stechende, Durchdringende und Bedrohliche dieser Kontrollblicke361 wird dadurch hervorgehoben, dass es Effi aus Angst, durchschaut zu werden, immer schwerer fällt, Innstettens Blicken zu begegnen, so etwa wenn sie ihm zuliebe lügt, sie wolle nicht so schnell wieder von ihm fort: »Und nun nahm sie sich zusammen und sah ihn an« (EB, S. 195) oder an folgender Textstelle: ›[...] [I]ch glaube, du verkennst ihn [Crampas, N.H.].‹/ ›Ich verkenne ihn nicht‹/ ›Oder mich‹, sagte sie mit einer Kraftanstrengung und versuchte seinem Blicke zu begegnen./ ›Auch dich nicht, meine liebe Effi [...]‹. (EB, S. 171)

Sie stellt auch mehrmals fest, dass sie etwas vor Innstettens Blicken und seiner Kontrolle verbergen muss: »Denn Innstetten darf es nicht sehen« (EB, S. 103); was gleichbedeutend ist mit: »Innstetten darf nicht davon wissen« (EB, S. 104). Er soll etwa nicht mitbekommen, dass sie sich einsam fühlt, Heimweh hat und den Spuk fürchtet (vgl. EB, S. 103), und direkt nach der Spuknacht sagt sie zu Johanna: »[E]r soll mich so nicht

_____________ 360 Vgl. Kapitel 5.3.3. der vorliegenden Arbeit. 361 Fontane selbst hatte solche stechenden, wie Waffen genutzten und als Verletzung empfundenen Musterungs- und Kontrollblicke während der Zeit als Kriegsberichterstatter erlebt, wo er zu seinem Zuspätkommen an der Table d’hôte in Amiens schreibt: »Mir war unter dem Bajonettangriff aller auf mich gerichteten Augen nicht anders zu Mut, als ob St. Privat nie gestürmt worden wäre« (HFA III/4, S. 793, vgl. a. Osborne, Theodor Fontane. Vor den Romanen, S. 154).

5.3. »Effi Briest«

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sehen« (EB, S. 79), da sie Angst hat, von ihm wegen ihrer Gespensterfurcht, die in seiner Weltsicht keinen Platz hat, ausgelacht zu werden.362 So verbirgt Effi ihm so gut sie kann, was er nicht sehen soll. Doch auch wenn er sie direkt anschaut, erweisen sich seine Versuche als vergeblich, mit seinem scharf beobachtenden Detektivblick die Wahrheit über ihre Beziehung zu Crampas zu entdecken. Dieser Blick dient ihm neben der Kontrolle auch zur Suche nach Beweisen denn ebenso wie Frau von Briest das glaubt, was sie »mit Augen gesehen« (EB, S. 226) hat, hält auch Innstetten Wahrheit für etwas Sichtbares. Doch Fontane zeigt »wie sich das Denken und Handeln Effis dem Blick Innstettens entzieht. Eindeutige Fremdwahrnehmung ist also nicht einmal über unzählige, akribischstrenge Kontrollblicke zu realisieren«.363 Beispiele für diese finden sich nach der Kutschfahrt Effis mit Crampas, wenn Innstetten Effi beim Aussteigen »scharf beobachtet« (EB, S. 170) oder wenn es nach Effis Ausdruck der Erleichterung über Crampas’ Abreise nach Stettin heißt: »Innstettens Blick flog scharf über sie hin. Aber er sah nichts, und sein Verdacht beruhigte sich wieder« (EB, S. 180). Trotz wiederholter Bemühungen gelingt es Innstetten nicht, an Effi Zeichen für eine zu intensive Beziehung zu Crampas zu entdecken bzw. sie richtig zu interpretieren. Während er gegenüber Johanna Vertrauen in die Lesbarkeit von Zeichen äußert,364 reflektiert er an anderer Stelle über das Ungewisse der Zeichenhaftigkeit. Ebenso wie Gordon erkennt, dass seine ›Wissenschaft‹ Céciles Geheimnisse nicht aufdecken kann, ist sich auch Innstetten des »provisorischen Status seiner Wahrnehmungsresultate«365 bewusst, ohne jedoch von seiner Methode abzulassen, und übersieht dabei ganz wie van der Straaten, was sich direkt unter seinen Augen abspielt: Innstetten hatte kein Auge von ihr gelassen und war jedem Worte gefolgt. [...] Und er fühlte seinen leisen Argwohn sich wieder regen und fester einnisten. Aber er hatte lange genug gelebt, um zu wissen, daß alle Zeichen trügen und daß wir in

_____________ 362 Eine ähnliche Konstellation wird in Ellernklipp gestaltet, wo sich Hilde vor ihrem Ziehvater, einem »Mann, der mit einem Blick besser erzieht als drei Frauen« (EL, S. 257) und »der Kontrolle seiner buschigen Augenbrauen« (EL, S. 311) fürchtet. Auch er sieht »Hilden scharf an« (EL, S. 276) nachdem er von ihrer Missachtung seines Verbots, sich den Brand ihres Hauses aus der Nähe anzusehen, erfahren hat. Nach dem Hinweis auf die Liebe zwischen ihr und Martin richtet er »einen eindringlichen Blick auf sie« (EL, S. 322), um Klarheit zu erlangen und sie zu durchschauen. Dementsprechend verstecken die Kinder sich vor ihm »um nicht gesehen zu werden« (EL, S. 287), denn Hilde weiß: »er darf es [die Liebe zwischen ihnen, N.H.] nicht sehen« (EL, S. 310), und fürchtet sich unter der ständigen Beobachtung: »[E]s ist mir oft, als ob die Wände Ohren hätten und als wär ein Auge beständig um mich und über mir, das alles sieht. [...] Aber das Auge, das ich seh, das ist nicht Gottes Auge, das ist seines und ist finster und glüht darin« (EL, S. 326). 363 Brunner, Sehen und Erkennen, S. 422. 364 Vgl. Kapitel 5.3.2 der vorliegenden Arbeit. 365 Brunner, ›Man will die Hände des Puppenspielers nicht sehen‹, S. 38.

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5. Analyse der Romane

unsrer Eifersucht, trotz ihrer hundert Augen, oft noch mehr in die Irre gehen als in der Blindheit unsres Vertrauens. [...] Und so, rasch alle Möglichkeiten ins Auge fassend, wurde er seines Argwohns wieder Herr. (EB, S. 192)

So versucht Innstetten einerseits, Effi zu durchschauen, scheut jedoch andererseits vor der Erkenntnis der Wahrheit zurück, der er eine eher unbewusste Selbsttäuschung vorzieht. Aufgrund des Gesehenen wird er immer wieder misstrauisch und beobachtet Effi daraufhin genauer, doch sein Wunsch, Effi möge ihm nicht untreu sein, nimmt ihm die Möglichkeit, die Zeichen richtig zu deuten. Obwohl er generell ein guter Beobachter ist – Kruse stellt fest: »der Herr [...]; der sieht alles« (EB, S. 183) –, scheint er mit Blindheit geschlagen, wenn es um Effi oder generell um Gefühle geht. Roswitha stellt zu ihrer Behauptung, Johanna sei in Innstetten verliebt, fest: »[E]in Glück, daß unser gnäd’ger Herr keine Augen dafür hat« (EB, S. 260). Selbst wenig emotional, kann er anderen ihre Gefühle nicht ansehen, denn in seiner Betonung des Rationalen verdrängt er die Wahrnehmungen von Emotionen – sowohl der eigenen als auch derjenigen anderer – und misstraut in einem aufgewühlten Zustand Gesehenem. Zugleich ist es ihm nicht möglich, das zu sehen und anzuerkennen, was er nicht sehen will. Damit grenzt er einen bedeutsamen Teil der Realität aus seinen Wahrnehmungen aus und unterzieht Effi vergeblich unangenehmen, »mit den Augen angestellten Kreuzverhöre[n]« (EB, S. 273). Die Bedeutung solcher durchdringender Blicke als Kontrollinstrument durchzieht in verschiedenen Variationen den Roman, so dass immer wieder auf das Thema verwiesen wird. Für Hermann Korte etwa tritt es in Innstettens Feststellung gegenüber Wüllersdorf auf, wegen dessen Mitwisserschaft die Affäre nicht mehr verbergen zu können. Hier zeige sich Innstettens »Angst, von den ›Blicken‹ eines Detektivs verfolgt zu werden oder dessen ›Kontrolle‹ ausgesetzt zu sein, dessen triumphierender Kenntnis der ›Geschichte‹ «,366 die Befürchtung also, denselben Blicken ausgesetzt zu sein, mit denen er Effi verfolgt. Im Text allerdings wird nicht explizit von Kontrollblicken Wüllersdorfs gesprochen, sondern nur von der Kontrolle durch seine Mitwisserschaft: Ich bin [...] von diesem Augenblicke an ein Gegenstand Ihrer Teilnahme (schon nicht etwas sehr Angenehmes), und jedes Wort, das Sie mich mit meiner Frau wechseln hören, unterliegt Ihrer Kontrolle, Sie mögen wollen oder nicht, und wenn meine Frau von Treue spricht [...], so weiß ich nicht, wo ich mit meinen Blicken hin soll. (EB, S. 248f)

Sich selbst beobachtet oder durchschaut fühlend, wäre es Innstetten nicht mehr möglich, unbefangen um sich zu sehen; er würde die Freiheit seines _____________ 366 Korte, Der Diskurs der Masken, S. 123.

5.3. »Effi Briest«

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Blicks verlieren, vom Subjekt des Sehens zum Objekt werden, wobei beide Rollen einander auszuschließen scheinen: Die Verlegenheit, in die er unter Beobachtung geriete, würde einen aktiven, eigenen Blick verhindern.367 Deutlicher als in dieser Passage tritt das Thema der Kontrollblicke im Roman in weiteren Konstellationen bei Ehepaaren auf, die das Verhältnis der Innstettens spiegeln und auf es zurückverweisen. So sucht Güldenklee »etwas ängstlich nach dem Auge seiner Ehehälfte« (EB, S. 69), wenn er vom starken Einfluss der Frau Napoleons auf ihren Mann erzählt und dann ergänzt: »An und für sich ist es übrigens noch gar nicht mal erwiesen [...], [...] ob nicht Frauenherrschaft eigentlich als ein Vorzug gelten kann« (EB, S. 69f). Er weiß sich folglich unter Beobachtung seiner Ehefrau und stellt mit der Erwähnung von ›Herrschaft‹, während sein Blick denjenigen seiner Frau sucht, eine deutliche Verbindung zwischen Sehen und Kontrolle oder Machtausübung her. Auch Crampas’ Frau lässt ihren Ehemann nicht aus den Augen, wenn er sich mit Effi unterhält, jedoch ohne dass sie ihn durch ihre Blicke tatsächlich kontrollieren könnte, denn sein Verhältnis zu Effi kann sie nicht verhindern: »[E]s war eine sehr peinliche Situation, denn Frau von Crampas beobachtete ihren Mann so, daß er in eine halbe und ich in eine ganze Verlegenheit kam« (EB, S. 110). Immerhin hat diese Beobachtung zur Folge, dass Crampas zumindest in ihrer Gegenwart sein Verhalten und seinen eigenen Blick kontrolliert: »Crampas war wie befangen dadurch und mied dich [Effi, N.H.] immer und sah dich kaum an« (EB, S. 153). An ihm zeigt sich deutlich, was Innstetten als Folge solcher auf einen gerichteten Kontrollblicke befürchtet: die Einschränkung des eigenen Sehens durch das Bewusstsein, unter Beobachtung zu stehen. In diesen Parallelsituationen beherrschen – in Umkehrung der traditionellen Zuordnung von Gender- und Sehrolle mit dem Mann als aktiv Sehendem, die zwischen Effi und Innstetten vorliegt – Frauen ihre Ehemänner durch Blicke. John Osborne schreibt, Fontane sei von Frauen, die allein mit ihren Blicken einen Haushalt durch Beobachtung regieren und unter Kontrolle halten, »geradezu fasziniert«368 gewesen. Osborne macht dies an einer Textstelle aus Fontanes Bericht über die französische Kriegsgefangenschaft fest, wo der Schriftsteller feststellt, es sei »sehr interessant, derartige Frauen zu beobachten«, in diesem Fall die »Beherrscherin dieser Räume [...] mit großen klugen Augen«, die »mitten im Geplauder den ganzen Haushalt [beherrschten], nichts entging ihr und man sah, daß alles ängstlich nach ihr hinüber fragte«.369 Es handelt sich _____________ 367 Genau dies geschieht im Laufe ihrer Ehe bei Effi, wie im folgenden Kapitel dargelegt wird. 368 Osborne, Theodor Fontanes ›Stine‹, S. 151. 369 HFA III/4, S. 621f.

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5. Analyse der Romane

hierbei um eine Frau, die »[v]on Jugend auf gewöhnt zu gefallen, Aufmerksamkeit zu erregen und eine Macht auszuüben« ist.370 Fontane benennt das Sehen in dieser Passage deutlich als Kontroll-, Herrschaftsund Machtmittel bestimmter, selbstbewusster Frauen, die ihn dadurch beeindrucken. Daher verwundert es nicht, Varianten solcher Frauengestalten mit eigenständigem, aktivem Kontrollblick in seinen Romanen zu begegnen, wenn es sich dabei auch meist eher um Nebenfiguren handelt, wie die in Effi Briest genannten Ehefrauen und die Zwicker oder die blonde Wirtin aus L’Adultera.371 Sie stellen Alternativmodelle zum ›Normalfall‹ dar, denn meist gehen solche Herrschaftsblicke in Fontanes Romanen wie bei Innstetten von Männerfiguren aus, entsprechend der traditionellen Zuweisung von Seh- zu Genderrollen. Die Frauenfiguren unterwerfen sich wie Cécile dem Angesehenwerden eher durch das Niederschlagen des eigenen Blicks anstatt selbst aktiv zurückschauen und sich dadurch zur Wehr zu setzen. Dass sie sich dabei jedoch in der Rolle als Betrachtete und Analysierte oder Kategorisierte deutlich unwohl fühlen und versuchen, sich dem Angesehenwerden zu entziehen, wurde an den Reaktionen Melanies372 und Effis deutlich. Inwiefern letztere wie Cécile373 ein rein passives Objekt solcher Blicke ist oder doch zu eigenständigem Sehen fähig, soll im Folgenden untersucht werden. 5.3.1.3. Die Entwicklung von Effis Sehfähigkeit Effis Sehgewohnheiten scheinen bei oberflächlicher Betrachtung in einigen Aspekten denen Céciles zu ähneln, so wie Innstetten Gemeinsamkeiten mit St. Arnaud und Gordon aufweist: Auch ihr Blick wird wie beschrieben teils von außen gelenkt, und sie ist ebenfalls mit geschlossenen Augen (vgl. EB, S. 276) anzutreffen oder unfähig dazu, sich aufmerksam umzusehen, etwa weil sie »geblendet von der Fülle von Licht« (EB, S. 52) ist oder »so erregt, daß sie nichts sah« (EB, S. 93). Sie selbst spricht von ihrer mangelnden Sehfähigkeit in ähnlich wiederholender Weise wie der Erzähler in Cécile über die gleichnamige Protagonistin: »Der Schloon? Was ist das? Ich sehe nichts« (EB, S. 166); »Ich bitte Sie, [...] ich sehe noch immer nicht klar« (EB, S. 167). Auch in Frau Paaschens Bemerkung findet sich die Einschätzung Effis als eine der jungen Herrinnen, die wenig wahrnehmen: »Die Jungen, und das ist eben das Gute, stehen immer bloß vorm Spiegel und zupfen und stecken sich was _____________ 370 371 372 373

Ebd. Vgl. Kapitel 5.2.5. der vorliegenden Arbeit. Vgl. Kapitel 5.2.5. der vorliegenden Arbeit. Vgl. Kapitel 5.1.1.1. der vorliegenden Arbeit.

5.3. »Effi Briest«

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vor und sehen nicht viel und hören nicht viel« (EB, S. 75). Schließlich spricht ihr Innstetten eine gewisse Beobachtungsgabe ab, wenn er erzählt, was sein Blick und seine Menschenkenntnis ihm mitgeteilt haben, Effi jedoch entgangen sei: ›[...] die arme Frau Crampas; das ist eine schreckliche Frau, gegen keinen freundlich, und dich hätte sie vom Erdboden vertilgen mögen.‹/ ›Ach, ich bitte dich, Geert, das bildest du dir wieder ein. Die arme Frau! Mir ist nichts aufgefallen.‹/ ›Weil du für derlei keine Augen hast [...]‹. (EB, S. 153)

Doch in Wirklichkeit nimmt Effi Frau Crampas’ Reaktion auf den Anblick ihrer selbst mit dem Major sehr genau wahr (vgl. EB, S. 110) und leugnet dies Innstetten gegenüber nur, um keinen Verdacht über ihr Verhältnis zu Crampas aufkommen zu lassen. Ihre Sichtweite ist zwar durchaus begrenzt, wie die Erzähleraussagen und ihre eigenen belegen, jedoch nicht im gleichen Maße wie die Céciles: Das Urteil ihrer Mitmenschen über ihre geringe Seh- und Erkenntnisfähigkeit trifft nicht in vollem Ausmaß zu. So finden sich im Text neben Aussagen über ihre schlechte Wahrnehmungsfähigkeit auch Beschreibungen Effis als aufmerksame Beobachterin, etwa, wie in Kapitel 5.3.1.1. dargelegt, als sie sich am ersten Tag in Kessin neugierig im Zimmer umsieht und im Weiteren Zimmer und Einrichtung gründlich mustert (vgl. EB, S. 54, 57f). »Effi versucht, Bilder selbstständig zu sehen und zu ordnen, die Wirklichkeit prüfend zu erkennen«.374 Ihr Blick ist stellenweise sogar so scharf, dass sie aus der Ferne für sie bedeutsame Einzelheiten ausmachen kann: »Auf dem Friedrichstraßen-Bahnhofe war ein Gedränge; aber trotzdem, Effi hatte schon vom Coupé aus die Mama erkannt und neben ihr den Vetter Briest« (EB, S. 201). Effi leugnet demnach bisweilen anderen gegenüber das Ausmaß ihrer Seh- und Wahrnehmungsfähigkeit, ebenso wie sie gewisse Ängste und Bedürfnisse vor Innstetten verbirgt. Grund dafür ist ihr Versuch, den Ansprüchen ihrer Umwelt zu genügen, denn eine zu unbefangene junge Frau mit eigener Wahrnehmung und Weltsicht, die nicht konventionell den Blick gesenkt hält, findet in der Kessiner Gesellschaft keine Freunde, wie sie schnell feststellen muss, und entspricht ebenso wenig den Wünschen ihres Ehemannes.375 Die auf den ersten Blick naheliegend erscheinende Vermutung, Fontane habe in Effi Briest dasselbe Schema wie in Cécile angewandt und einer scharf beobachtenden Figur eine schlecht sehende als _____________ 374 Brunner, ›Effi Briest‹ von Theodor Fontane, S. 148. 375 In Cécile erfährt Rosa Ähnliches, allerdings – im Unterschied zu Effi – ohne sich dadurch von ihrer aktiven Sehweise abbringen zu lassen (vgl. Kapitel 5.1.1.4. der vorliegenden Arbeit). Melanie aus L’Adultera dagegen verstellt sich ähnlich wie Effi, wenn sie ihre Gemäldekenntnis – als Zeichen für das Durchschauen der von ihrem Mann praktizierten Sehweisen und Rollenzuschreibungen – leugnet (vgl. Kapitel 5.2.3. der vorliegenden Arbeit).

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5. Analyse der Romane

Beobachtungsobjekt gegenübergestellt, hält demnach einer näheren Betrachtung nicht stand. Effis Seh- und Wahrnehmungsfähigkeit ist differenzierter gestaltet als die Céciles, variiert je nach Situation und Umständen und ändert sich zudem im Verlauf des Romans, wie bereits in Kapitel 5.3.1.1. angedeutet und nun im Folgenden genauer dargestellt wird. Zu Romanbeginn in Hohen-Cremmen lässt sich die Protagonistin noch unbeschwert ansehen, denn noch ist ihr eine Rolle als Anschauungsobjekt für männliche Blicke, wie ihre Freundin Hulda sie bereits lebt (vgl. EB, S. 36), relativ fremd. Der auf sie gerichtete Blick der Mutter entspricht noch nicht dem des späteren Erziehers Innstetten, denn diese findet ihr Kind so wie es ist »entzückend« (EB, S. 8) und erlaubt ihm ein relativ freies und unkontrolliertes Austoben, macht noch »keine Dame« (EB, S. 9) aus ihr. Zwar ist sich Effi bereits in der Anfangsszene dessen bewusst, dass sie betrachtet wird, doch noch spielt sie mit dieser Rolle als Blickobjekt bei ihren »absichtlich ein wenig ins Komische gezogenen Übungen« (EB, S. 8). Noch ist es auch nur die Mutter, welche die Tochter mit Blicken »mütterlichen Stolzes« (EB, S. 8) ansieht, wenn auch in ihren Betrachtungen bereits kritisches Potential liegt und ihre Kommentare Effis ungestümes Wesen einzuschränken und sie damit gesellschaftlichen Normen anzupassen versuchen: »Nicht so wild, Effi, nicht so leidenschaftlich. Ich beunruhige mich immer, wenn ich dich so sehe...« (EB, S. 9). Erst die Ankündigung von Innstettens Ankunft bewirkt, dass Effi als »das gnädige Fräulein« aufgefordert wird, »zu rechter Zeit auch Toilette« (EB, S. 14) zu machen und andere Figuren sie in Vorwegnahme seiner späteren Musterung quasi schon mit seinen Augen ansehen, wie Huldas und Frau von Briests Kommentare über Effis Außenwirkung – das heißt auf den erwarteten Innstetten – zeigen (vgl. EB 15f, 18). Auch Kontrollblicken durch die Gesellschaft ist Effi in Hohen-Cremmen noch kaum ausgesetzt, nur bei seltenen Verwandtschaftsbesuchen – wenn »Tante Gundel und Tante Olga mich mustern und mich naseweis finden« (EB, S. 33f) – lernt sie schon die beurteilende und abschätzige Musterung kennen, die sie später in Kessin in vollem Maße erfahren wird (vgl. EB, S. 68). Zugleich mit dem relativ freien Umgang mit der probeweisen Rolle als Blickobjekt ist Effi noch zu einer aktiven, eigenständigen Wahrnehmung fähig, wenn diese auch nicht völlig unbeeinflusst von gesellschaftlichen Vorstellungen ist. Ihre Weltsicht ist nicht mehr die eines naiven Kindes, sie spielt bereits mit zweideutigen Gedanken (»wenn dann die Rathenower herüberkommen, setze ich mich auf Oberst Goetzes Schoß und reite hopp, hopp. Warum auch nicht? Drei Viertel ist er Onkel und nur ein Viertel Courmacher«; EB, S. 9) und bekommt diese auch schon als

5.3. »Effi Briest«

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Vierzehnjährige zu hören (»Und die Wiener, die hab ich kennengelernt, in Karlsbad, vor vier Jahren, wo sie mir vierzehnjährigem Dinge den Hof machten. Was ich da alles gehört habe!«; EB, S. 143). Männer betrachtet sie aus weiblicher Perspektive (über Innstetten etwa berichtet sie den Freundinnen: »[E]r ist Landrat, gute Figur und sehr männlich«; EB, S. 10) und auch über eine zukünftige Heirat denkt sie schon nach (vgl. EB, S. 11) – doch all dies sind noch ohne sonderlichen Ernst betriebene Gedankenspiele, Erst die Heirat mit Innstetten hat zur Folge, dass Effi zum Blickobjekt wird und dafür ihre eigene Wahrnehmung schrittweise aufgeben muss. Diesen Prozess vorwegnehmend und symbolisierend wird sie erst, nachdem sie – sich Innstettens Vorstellungen fügend – zu viele Gemälde betrachtet hat, auf der Bahnfahrt so müde, dass sie die Augen schließen muss, anstatt den Blick aus dem Fenster zu genießen (vgl. EB, S. 45), der ihr mutmaßlich mehr Vergnügen bereitet hätte als die Kunstbilder, mit denen ihr Ehemann sie »quält« (EB, S. 39). Nach der Übernahme von Innstettens Wahrnehmung und Weltsicht ist ihr ein eigenständiges Sehen demnach nicht mehr möglich. In der Anfangszeit in Kessin zeigt sie sich zwar immer wieder bemüht, ihre eigene Sicht neben derjenigen Innstettens aufrechtzuerhalten,376 im weiteren Verlauf muss sie jedoch die Unvereinbarkeit beider Wahrnehmungsweisen – ihrer eher spielerisch-träumerischen, märchenhaften und Innstettens gesellschaftskonformer, kühl-rationaler – einsehen. Sie versucht daraufhin, die eigene Sichtweise derjenigen Innstettens unterzuordnen und wo ihr dies nicht gelingt, zumindest nach außen den Anschein zu wahren. Äußert sie eigene Wahrnehmungen, wird sie oft von verschiedenen Seiten mit abwehrenden Reaktionen konfrontiert: Das von ihr als Spuk erlebte Geräusch wird am ersten Tag in Kessin von Johanna rational erklärt, womit sie Effi das phantastische Element ihrer Wahrnehmung entzieht (vgl. EB, S. 56). Wie Effi befürchtet, nimmt auch Innstetten ihre wiederholte Spukwahrnehmung nicht ernst, weshalb sie ihm ursprünglich nicht davon erzählen will: »Er würde mich vielleicht auslachen« (EB, S. 79). Stattdessen wertet er sie zunächst Johanna gegenüber ab (»Und was hatte sie geträumt oder, meinetwegen auch, was hatte sie gehört oder gesehen?«; EB, S. 81) und wiederholt dann Effi gegenüber diese Abwertung als »Traum, Sinnestäuschung« (EB, S. 83). Am Ende des Gesprächs dann übernimmt sie schließlich sein Mißtrauen in ihre Einschätzung und bezeichnet sich selbst als »kindisch«, findet ihre Angst »zum Lachen« (EB, S. 86). Auf der anschließenden Fahrt, als sie das Chinesengrab entdeckt, bittet sie Innstetten direkt darum, ihr zu helfen, ihre nun von ihr selbst als falsch und phantastisch eigeschätzte Spukwahrnehmung zugunsten seiner _____________ 376 Vgl. Kapitel 5.3.1.1. der vorliegenden Arbeit.

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5. Analyse der Romane

Wirklichkeitseinschätzung abzulegen: »Erzähle mir das Wirkliche. Die Wirklichkeit kann mich nicht so quälen wie meine Phantasie« (EB, S. 88). Später dann bezeichnet Sidonie Effis Eindruck, einen feinen Ton zu hören, als »Sinnestäuschungen« (EB, S. 165). Als Ergebnis dieser vielen Zweifel weiß Effi nicht mehr, ob sie ihrer eigenen Wahrnehmung und Einschätzung noch trauen kann; weder kann sie komplett bei ihren Ansichten bleiben, noch die Sicht Innstettens völlig übernehmen, und so ist sie verunsichert über das Gesehene: »Ich hab ihn [den Chinesen, NH.] einmal wirklich gesehen, oder es ist mir wenigstens so vorgekommen« (EB, S. 105). An Effi wird so exemplarisch ein Zustand der Verunsicherung dargestellt, wie er vielen Zeitgenossen Fontanes bekannt sein musste, nachdem sie durch Helmholtz’ Theorien die Grundlagen ihrer Wahrnehmung und deren Zuverlässigkeit – und damit ihr gesamtes Selbst- und Weltbild – radikal in Frage gestellt sahen.377 Mit dem Verlust des Vertrauens in die eigene Wahrnehmungsfähigkeit einher geht Effis Wandlung vom sehenden Subjekt zum Objekt von Innstettens durchdringenden Beobachtungen sowie den urteilenden Blicken der Gesellschaft, die sie »links und rechts umlauert, hinten und vorn« (EB, S. 98) und vor der »sie sich als Hausfrau und noch dazu als erste Frau der Stadt zu zeigen hatte« (EB, S. 65). Bei »den pflichtschuldigen Besuch[en]« (EB, S. 68) in »Gesellschaftstoilette« (EB, S. 101) trifft sie auf Personen, die sie heimlich betrachten und beurteilen, die, während sie vorgaben, über Bismarck und die Kronprinzessin zu sprechen, eigentlich nur Effis Toilette musterten, die von einigen als zu prätentiös für eine so jugendliche Dame, von andern als zuwenig dezent für eine Dame von gesellschaftlicher Stellung befunden wurde. (EB, S. 68)

Auch die Einsicht, als Frau ein Objekt begehrlicher Blicke sein zu wollen, spricht Effi erst nach einer Weile ihres Ehelebens aus: »Wir müssen verführerisch sein, sonst sind wir gar nichts« (EB, S. 129). Dementsprechend ist Effi erst ab der Zeit in Kessin darauf angewiesen, »im Spiegel zu überprüfen, ob ihre Erscheinung den gesellschaftlichen Anforderungen entspricht«.378 Weder vorher noch am Ende in Hohen-Cremmen wird sie beim Anblick ihres Spiegelbildes dargestellt,379 denn nur während der Ehe mit Innstetten muss Effi äußerlich und innerlich mit Hilfe häufiger Spiegelblicke (vgl. EB, S. 56, 57, 178, 199) versuchen, ein Bild ihrer selbst zu präsentieren, das den von außen an sie gerichteten Anforderungen entspricht. Dadurch konzentriert sie sich in Kessin mehr auf ihr Aussehen als auf ihr Sehen und auch der bereits _____________ 377 Vgl. Kapitel 3.4.1. der vorliegenden Arbeit. 378 Liebrand, Das Ich und die anderen, S. 82. 379 Vgl. ebd., S. 82, 85.

5.3. »Effi Briest«

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zitierte Ausspruch, junge Herrinnen »stehen immer bloß vorm Spiegel und zupfen und stecken sich was vor und sehen nicht viel und hören nicht viel« (EB, S. 75) fällt zu Beginn der Kessiner Zeit. Im Spiegel, der Effi zum Objekt des eigenen Blicks macht, betrachtet sie sich mit den kritischen Augen anderer, kontrolliert sich nun selbst durch ihren Anblick, so wie Innstetten es bei ihr versucht, und wendet übernommene gesellschaftliche Konventionen auf ihre Selbsteinschätzung an. »Effi sieht und verurteilt ihr eigenes Tun mit den Augen der Öffentlichkeit, deren Maßstäbe sie verinnerlicht hat«.380 Daher erblickt sie im Spiegel auf der Suche nach ihrer Identität, die ihr zusammen mit der eigenen Wahrnehmung entzogen wurde, ein gespaltenes Bild ihrer selbst, in dem Fremd- und Selbstwahrnehmung einander überlagern: Als sie darüber erschrickt, wie leicht ihr »ein verstecktes Komödienspiel« (EB, S. 177) Innstetten gegenüber fällt, in dem sie sich selbst kaum noch erkennt, befragt sie den Spiegel: Einmal trat sie spätabends vor den Spiegel in ihrer Schlafstube [...] und im selben Augenblicke war es ihr, als sähe ihr wer über die Schulter. Aber sie besann sich rasch. ›Ich weiß schon, was es ist; es war nicht der‹, und sie wies mit dem Finger nach dem Spukzimmer oben. ›Es war was anderes... mein Gewissen... Effi, du bist verloren‹.( EB, S. 178)381

Zunächst glaubt sie, im Spiegel den Chinesen erblickt zu haben, »der für ihr Wunsch- und Triebleben steht«382 und zugleich ein Überbleibsel ihrer ursprünglichen, phantasiereichen Wahrnehmung ist. Doch da sie diese Seite ihrer Persönlichkeit, die ihr in einem Moment unkontrollierten Zurückfallens in ihr früheres und eigentliches Selbst entgegenblickt, nicht (mehr) annehmen kann, ›besinnt‹ sie sich: Sie unterwirft ihr Selbstbild den äußeren Ansprüchen, interpretiert gesellschaftskonform die Erscheinung als Gewissen und verurteilt sich. Auch vor der Niederschrift ihres letzten Briefs an Crampas schaut Effi als Mittel der »Selbstaffirmation und Selbstvergewisserung – ohne die sie sich nicht von Crampas lösen könnte«383 – in den Spiegel, »um ihr wahres Gesicht zu suchen«.384 Erneut zeigt der Spiegelblick »den inneren Zwiespalt Effis«,385 denn sie benötigt ihr Spiegelbild, um die Herrschaft über sich wieder zu erlangen, sich den Kontrollblick der Gesellschaft selbst zuzuwerfen und den gängigen Wertvorstellungen entsprechend handeln zu können. _____________ 380 Schmidt-Supprian, Briefe im erzählten Text, S. 141f. 381 In Böhmen glaubte man, dass jemand, der im Spiegel neben dem eigenen noch ein anderes Gesicht erblicke, bald sterben müsse (vgl. Siegfried Seligmann, Auge. In: Hanns BächtoldStäubli (Hrsg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 1, S. 682), so dass diese Stelle möglicherweise auch als Vorausdeutung auf Effis Tod gelesen werden kann. 382 Liebrand, Das Ich und die anderen, S. 84. 383 Ebd., S. 85. 384 Brunner, Sehen und Erkennen, S. 429; vgl. EB, S. 199. 385 Ebd.

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5. Analyse der Romane

Ebenfalls fast ausschließlich ihrer Ehezeit zugeordnet sind die für Effi typischen Fensterblicke (vgl. EB, S. 62, 64, 72, 112, 124f, 266),386 die zum einen – wie schon bei Gordon in Cécile387 – als Zeichen einer fragmentarischen Wahrnehmung zu lesen sind. Vor allem aber sind sie Ausdruck für Effis Distanz zu den Ereignissen außerhalb ihres begrenzten häuslichen Lebensraumes. Mit ihrer eigenen Wahrnehmung verliert sie einen authentischen Zugang zur Umwelt; die Übernahme von Innstettens Weltsicht grenzt sie aus dem ihr bisher bekannten zwanglosen Leben ebenso aus, wie die Existenz in Kessin sie von der Gesellschaft entfernt. Deutlich wird diese Distanz zum gesellschaftlich aktiven Leben dadurch, dass Effi durch die Fensterscheibe und räumliche Entfernung vom Wahrgenommenen abgetrennt ist, das sie durch die Rahmung nur noch als Bild rezipiert.388 »Der Fensterblick nach draußen [...] gestattet nur eingeschränkte Realitätserfahrung, eine reduzierte Teilnahme am Leben und Nicht-Authentizität des Erlebens«.389 Diese Fensterblicke bieten Effi Abwechslung von ihrem ereignislosen Alltagsleben: »[T]he window becomes identical with the distraction that is Effi’s credo«.390 Die Umwelt, an der sie nicht teilhaben kann, wird für sie so zu einem reinen »Schauspiel« (EB, S. 123), dem sie – die zu Romananfang noch selbst als Akteurin von der Mutter freudig betrachtet durch den Garten turnte – nun als Zuschauerin beiwohnt. Eine problematische Schiffseinfahrt, die für die Beteiligten einige Gefahr birgt, wird für Effi ebenso zur Attraktion – »Geert, da muß ich mit hinaus, das muß ich sehen« (EB, S. 176) – wie das Verfolgen einer Beerdigung vom Fenster aus.391 Der Erzähler präsentiert »durch Effis Blickkonstellation die Straße wie eine Art Schau-Bühne, Effi hinter dem Fenster hingegen als spionierendes Auge«.392 Das als Schauspiel oder Bild erfahrene Leben anderer muss Effi in Ermangelung eigener aufregender Erlebnisse Ablenkung und Zerstreuung von Eintönigkeit und Einsamkeit bieten. Dabei _____________ 386 Vgl. zum Fenstermotiv in Effi Briest auch Northcott 1985. 387 Vgl. Kapitel 5.1.1.3. der vorliegenden Arbeit. 388 Die Ansicht durch das Fenster wird beispielsweise an folgender Textstelle explizit als ›Bild‹ bezeichnet: »Effi stellte sich ans Fenster ihres Zimmers und sah auf das Wäldchen hinaus, auf dessen Zweigen der glitzernde Schnee lag. Sie war von dem Bilde ganz in Anspruch genommen« (EB, S. 72). 389 Brunner, Sehen und Erkennen, S. 427. 390 Kenneth S. Calhoon, Alchemies of Distraction. James’s ›Portrait of a Lady‹ and Fontane’s ›Effi Briest‹. In: Arcadia. Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft 34/1 (1999), S. 111. 391 Vgl. EB, S. 113. Auf ähnliche Weise verfolgt Schultze in Mathilde Möhring den Tod von Mathildes Vater distanziert und mit sachlichen Kommentaren durchs Fenster als etwas, dass ihn nicht persönlich betrifft: »Als man den Sarg auf den Wagen setzte, stand er am Fenster« (MM, S. 420). Wie Brinkmann feststellt, beschreibt Fontane Begräbnisse generell meist bildhaft, nicht nur wenn sie durch ein rahmendes Fenster wahrgenommen werden (vgl. Brinkmann, Der angehaltene Moment, S. 441). 392 Brunner, ›Effi Briest‹ von Theodor Fontane, S. 151.

5.3. »Effi Briest«

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betrifft sie die Betrachtung realer Ereignisse ebenso wenig wie das Ansehen der Bilder in einer Modezeitschrift: »Womit man sich nicht alles hilft! Eine hübsche Dame mit einem Muff und eine mit einem Halbschleier; Modepuppen. Aber es ist das Beste, mich auf andre Gedanken zu bringen« (EB, S. 187).393 Gleichfalls als Zeichen für Effis Langeweile, die sich durch die beginnende Distanzierung von der Außenwelt einstellt, sowie als Vorwegnahme ihrer schwindenden Wahrnehmung der Außenwelt lesbar sind die beiden Passagen zu Beginn des Kessiner Lebens, wo sie die Augen schließt, um sich den inneren Bildern ihrer Erinnerungen hinzugeben: Als sich das schon beim Fensterblick vorhandene »Gefühl der Einsamkeit« (EB, S. 73) durch die Lektüre des mütterlichen Briefes verstärkt und auch die Geschichte vom Bild und Spuk der weißen Frau Effi nur noch weiter aufwühlt, beschließt sie, statt in Reizen der Außenwelt Ablenkung zu suchen, lieber in sich zu gehen: »Ich will also lieber wieder die Augen schließen und mir, so gut es geht, meinen Polterabend vorstellen« (EB, S. 74). Einen ähnlichen Rückzug in die Erinnerung hat sie am selben Abend vor, nun gar bei offenen Augen unter absichtlichem Ausschluss der Wahrnehmung ihres gegenwärtigen Zimmers: Sie ließ das Licht brennen, weil sie gewillt war, nicht gleich einzuschlafen, vielmehr vorhatte, wie vorhin ihren Polterabend, so jetzt ihre Hochzeitsreise zu rekapitulieren und alles an sich vorüberziehen zu lassen. Aber es kam anders, wie sie gedacht, und als sie bis Verona war und nach dem Hause der Julia Capulet suchte, fielen ihr schon die Augen zu. (EB, S. 78)

Nach der Trennung von Innstetten steigert sich die soziale Isolation Effis sogar noch, so dass in Berlin nun in stärkerem Maße als in Kessin, wo sie immerhin noch einen begrenzten gesellschaftlichen Umgang etwa mit Gieshübler oder dem Landadel pflegte, »höchstens noch Fensterblicke der von der Gesellschaft ausgeschlossenen Effi eine äußerst eingeschränkte Teilnahme am Leben«394 erlauben. Auch die Qualität der Fensterblicke entwickelt sich entsprechend Effis Lebenslage zurück: Die Aussicht in Kessin – Effis stellt fest: »[W]ir haben bloß einen kleinen Garten hinter dem Hause, der eigentlich kaum ein Garten ist« (EB, S. 125) – steht wohl hinter dem Blick auf den Garten aus dem Fenster in Hohen-Cremmen zurück, und die Berliner Wohnung nach der Trennung bietet nur noch eine Sicht auf Bahndämme und den Friedhof. Zusammen mit ihrer finanziell, sozial und emotional schlechteren Situation und stärkeren Abgrenzung von der Außenwelt vermindern sich auch Effis Sehfähigkeit und ihr _____________ 393 Einem Kommentar Rubehns aus L’Adultera zufolge handelt es sich bei solchen Albenbetrachtungen um »die niedrigste Form aller geistigen Beschäftigung« (LA, S. 237) – ein Zeichen für das Ausmaß von Effis Langeweile. 394 Brunner, Sehen und Erkennen, S. 427.

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5. Analyse der Romane

Blickfeld. Sie muss nun von ihrer Dienerin Roswitha395 und dem Arzt Rummschüttel396 auf Dinge hingewiesen werden, die sie sehen soll, und würdigt »den Ausblick nicht genug« (EB, S. 272), während sie in Kessin noch ständig am Fenster stand.397 Erst gegen Ende des Romans, nach ihrer Rückkehr nach HohenCremmen, zeigt sich Effi, die sich nun getrennt von Innstetten keinen äußeren Wahrnehmungsanweisungen mehr beugen muss und als gesellschaftliche Außenseiterin nicht mehr Objekt beurteilender Beobachtungen durch andere ist, wieder am selbstständigen Sehen interessiert. Ihr »mit Passion« (EB, S. 280) angegangener Versuch, Malerin zu werden, lässt sich als Hinweis auf ihre Suche nach einer neuen, eigenen Sehweise und Weltwahrnehmung lesen. Die Fähigkeit zur genauen Beobachtung der Wirklichkeit allerdings, die zu dieser Tätigkeit notwendig wäre, kann Effi nicht mehr erwerben, was ihr auch bewusst ist,398 so dass sie schließlich ihre Ambitionen wieder aufgibt. Ebenso wenig kann sie zu ihrer Weltsicht aus der Zeit vor ihrer Ehe, die gleichfalls auf eine lebendige Realität ausgerichtet war, zurückfinden. Stattdessen orientiert sich ihre neue Blickweise bereits am Jenseits. Sie, die in Hohen-Cremmen beim Schaukeln oder Turnen in Gesellschaft von Mutter oder Freundinnen selbst noch in rascher Bewegung war und entsprechend schnell wechselnde Ansichten vor sich hatte, in Kessin doch zumindest noch Passanten beobachtete, entwickelt in der Zeit vor ihrem Tod den Blick auf eine vergleichsweise beinahe unbelebte Natur, auf ›stille Bilder‹: Sie bildete [...] die Kunst aus, still und entzückt auf die Natur zu blicken, und wenn das Laub von den Platanen fiel, wenn die Sonnenstrahlen auf dem Eis des kleinen Teiches blitzten oder die ersten Krokus aus dem noch halb winterlichen

_____________ 395 Diese geht ans Fenster und fordert Effi auf: » ›Sehen Sie, gnädige Frau, den [Rollo, N.H.] müssen Sie doch auch noch sehen.‹/ Und nun trat auch Effi heran« (EB, S. 278). 396 Rummschüttel meint: » ›[...] Ich glaube, Sie würdigen den Ausblick nicht genug.‹/ ›O doch, doch‹, sagte Effi; Rummschüttel aber [...] fuhr fort: ›Bitte, meine gnädigste Frau, treten Sie hier heran, nur einen Augenblick, oder erlauben Sie mir, daß ich Sie bis an das Fenster führe. [...] Sehen Sie doch nur die verschiedenen Bahndämme, drei, nein vier, und wie es beständig darauf hin und her gleitet... und nun verschwindet der Zug da wieder hinter einer Baumgruppe. Wirklich herrlich. Und wie die Sonne den weißen Rauch durchleuchtet! Wäre der Matthäikirchhof nicht unmittelbar dahinter, so wäre es ideal.‹/ ›Ich sehe gern Kirchhöfe‹ « (EB, S. 272). Rummschüttel weist Effi hier auf das zu Sehende hin und beschreibt es ihr zusätzlich, womit er ihre eigene Wahrnehmung auf das von ihm Genannte festlegt. Effi allerdings wehrt sich dagegen in ähnlicher Weise wie anfangs gegen Innstettens Seh- und Rezeptionsanweisungen, denn sie übernimmt das Urteil des anderen nicht, sondern widerspricht und hält ihre eigene Wahrnehmung dagegen. 397 Einen deutlicheren und differenzierteren Zusammenhang zwischen sozialer Situation und Sehfähigkeit gestaltet Fontane in Mathilde Möhring, wie in Kapitel 5.4.2. der vorliegenden Arbeit dargelegt wird. 398 Effi ist sich bewusst »über eine unterste Stufe des Dilettantismus nie hinauskommen zu können« (EB, S. 280).

5.3. »Effi Briest«

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Rondell aufblühten – das tat ihr wohl, und auf all das konnte sie stundenlang blicken und dabei vergessen, was ihr das Leben versagt oder, richtiger wohl, um was sie sich selbst gebracht hatte. (EB, S. 293)

Diese Sehweise steht für Effis nun totalen Rückzug aus dem Leben als Endstufe der immer stärkere Distanz und Isolation implizierenden Fensterblicke und symbolisiert ihre Entfernung von allen Menschen und der Gegenwart, die Entrückung aus der Realität in ein Reich des Vergessens und der Träume: Sie setzte sich, wenn sie müde geworden, auf einen Hürdenzaun und sah, in Träume verloren, auf die Ranunkeln und roten Ampferstauden die sich im Winde bewegten. (EB, S. 298) An allem freute sie sich, atmete beglückt den Duft ein, der von den Raps- und Kleefeldern herüberkam, oder folgte dem Aufsteigen der Lerchen und zählte die Ziehbrunnen und Tröge, daran das Vieh zur Tränke ging. Dabei klang ein leises Läuten zu ihr herüber. Und dann war ihr zu Sinn, als müsse sie die Augen schließen und in einem süßen Vergessen hinübergehen. (EB, S. 305)

Wie es in ähnlicher Form aus den Wanderungen bekannt ist, wird auch in Effi Briest der Anblick einer stillen Natur, in der fast alles erstarrt ist – meist bis auf eine Pflanze im Windhauch, die einzelne Bewegung eines Tieres o.ä., die vor einem nahezu immobilisierten Hintergrund die grundsätzliche Stille umso stärker spürbar machen –, mit Distanz und Tod assoziiert. In Effi Briest symbolisieren solche Ansichten die zunehmende Loslösung der Protagonistin vom Leben, die schließlich mit ihrem Tod endet. Wie in den Wanderungen wird auch im Roman das Thema Tod nicht nur mit leicht bewegten, sonst ›stehenden Bildern‹ sondern insbesondere mit Fensterblicken oder dem Motiv des Fensters selbst verbunden. Schon bei der Betrachtung der Beerdigung in Kessin durchs Fenster und in der Sicht auf den Friedhof von Effis letzter Wohnung in Berlin aus schwingt diese Assoziation mit.399 Zudem steht sie in engem Zusammenhang mit der Isolation vom Leben außerhalb des Hauses, die durch die trennende Fensterscheibe symbolisiert wird. Eindeutig thematisiert wird die Verbindung von Fenster(blick) und Tod dann kurz bevor Effi stirbt, wenn sie beim Blick aus dem Fenster Todesgedanken nachhängt: Effi hatte während dieser Nächte bis über Mitternacht hinaus am Fenster gesessen und sich nicht müde sehen können. ›Ich war immer eine schwache Christin; aber ob wir doch vielleicht von da oben stammen und, wenn es hier vorbei ist, in unsere himmlische Heimat zurückkehren, zu den Sternen oben oder noch drüber hinaus! Ich weiß es nicht, ich will es auch nicht wissen, ich habe nur die Sehnsucht‹. (EB, S. 306)

_____________ 399 Im Gegensatz zur Verbindung des Fensterblicks mit dem Tod in den Wanderungen und Cécile deutet hier nicht der Blick in einen Raum hinein sondern der nach draußen gerichtete auf das Sterben der Protagonistin voraus.

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5. Analyse der Romane

Auch den in der Fontaneforschung als Vorahnung ihres Todes gewerteten Ton der Platanen vernimmt sie jeweils während sie durch das Fenster sieht: Sie sah wieder in den Garten hinaus. Alles war so still, und ein leiser, feiner Ton, wie wenn es regnete, traf von den Platanen her in ihr Ohr./ [...] [N]ur der Mondschein lag noch auf dem Grasplatz, und nur auf die Platanen rauschte es nach wie vor wie leiser Regen nieder./ Aber es war nur die Nachtluft, die ging. (EB, S. 230) Effi [...] setzte sich an das offene Fenster, um noch einmal die kühle Nachtluft einzusaugen. Die Sterne flimmerten, und im Parke regte sich kein Blatt. Aber je länger sie hinaushorchte, je deutlicher hörte sie wieder, daß es wie ein feines Rieseln auf die Platanen niederfiel. Ein Gefühl der Befreiung überkam sie. ›Ruhe, Ruhe‹. (EB, S. 309)

Alle drei Fensterblicke finden nachts statt, so dass die von Effi durch die Rahmung des Fensters gesehene Welt noch stärker als im direkten Blick auf die Natur als dunkles, stilles, beinah unbewegtes Bild erscheint. Die hier geschilderte Blickweise Effis zeigt in ihrer relativen Immobilität, Distanz zum Leben und der Assoziation mit dem Tod Merkmale, die ursprünglich dem Betrachten von Photographien zugeordnet wurden und damit Bestandteile eines photographieanalogen Blicks. Kenneth Calhoon stellt noch eine weitere Verbindung mit der Photographie her, denn er setzt die Funktion des Fensters in der Literatur »as the site of a passage«400 mit derjenigen der Photographie gleich: »[T]he window gives literal form to the unhomely potential of the photograph, in which the dead may return«.401 So wie die Photographie zwei Welten miteinander verbindet, die der Vergangenheit mit der gegenwärtigen, und den Verstorbenen in der Gegenwart weiter anwesend sein lässt, verbindet in Effi Briest das Fenster die Welt des Lebens mit der des Todes. Effi, die sich so häufig an geöffneten Fenstern aufhält, überschreitet schließlich diese Grenze. 5.3.2. Physiognomische Blicke Die Beobachtung anderer, um über deren Äußeres ihr inneres Wesen zu erschließen, wird in Effi Briest nicht ausschließlich von Innstetten, dem sie in erster Linie als Kontrollmittel dient, angewandt, sondern erstreckt sich auf alle Figuren. Damit dient das an physiognomische Verfahren erinnernde Lesen äußerer Zeichen nicht allein der Charakterisierung eines bestimmten Protagonisten, sondern wird selbst zum Thema des Romans. _____________ 400 Calhoon, Alchemies of Distraction, S. 113. 401 Ebd.

5.3. »Effi Briest«

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Das Hausmädchen Afra etwa wendet es auf den verspäteten Postboten an, dessen Charakter ebenso wie der der Sprecherin für die Handlung kaum von Belang ist, wodurch deutlich wird, dass diese Passage auf die Darstellung des Verfahrens selbst abzielt, nicht auf die Charakterisierung der Kommentatorin oder des Beurteilten: »[E]r [...] hat keinen Schneid. Ich hab’s ihm auch schon gesagt, das sei die ›reine Lodderei‹. Und wie ihm das Haar sitzt; ich glaube, er weiß gar nicht, was ein Scheitel ist« (EB, S. 261). Noch deutlicher tritt das physiognomische Vorgehen in der Vermutung Wüllerdorfs über den Kellner in den Vordergrund, wo in ähnlicher Weise eine eher bedeutungslose Randfigur aufgrund ihres Aussehens eingeschätzt wird. Wüllersdorf selbst ironisiert sein Vorgehen durch einen scherzhaften Tonfall und Übertreibung: »Ich bezweifle nicht, daß mein Freund, der Oberkellner, drei Sprachen spricht; seinem Scheitel und seiner ausgeschnittnen Weste nach können wir dreist auf vier rechnen...« (EB, S. 251). In beiden Fällen handelt es sich um physiognomische Urteile im weitesten Sinne, nicht der feste Knochenbau des Gesichts wird eingehend betrachtet, sondern stark veränderliche und individuell beeinflussbare äußere Zeichen, die absichtlich zur Selbstinszenierung genutzt werden können. So achtet anscheinend der gepflegte und distinguierte Oberkellner durch sorgsames Kleiden und Frisieren sehr auf sein äußeres Erscheinungsbild, während der auch in seiner Berufsausübung säumige Postbote es vernachlässigt, was in beiden Fällen jeweils am ›Scheitel‹ abzulesen ist. Was hier praktiziert wird ist keine als Wissenschaft verstandene Physiognomik nach festen Regeln, sondern eine – zumindest im Fall Wüllersdorfs – als gesellschaftliche Unterhaltung geübte, sehr oberflächliche Form der Beurteilung anderer, die eher auf Menschenkenntnis beruht. Sie basiert auf der Annahme, dass man sich nach außen entsprechend seinem momentanen Befinden oder Zustand gibt, nicht aber darauf, dass einem Menschen bestimmte Eigenschaften angeboren und unabänderlich seiner Physiognomie eingeschrieben sind. Fontane hat das an seinen Mitmenschen beobachtete Verfahren der Interpretation äußerer Zeichen in seinem Text, der als Spiegel der Gesellschaft gedacht ist, demnach so wiedergegeben, wie er es erlebt hat und dabei distanziertironisch dargestellt, um seine Fragwürdigkeit zu zeigen. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Kirstin Breitenfellner in ihrer Untersuchung zu Physiognomik in Effi Briest, wenn sie feststellt, dort würden »physiognomische Urteile, die er [Fontane] seine Figuren fällen läßt, als klischeehaft und lächerlich entlarvt«402 und die physiognomisierenden Figuren »gerade nicht als Menschenkenner«403 dargestellt. Grundsätzlich trifft dies zu, doch _____________ 402 Breitenfellner, Lavaters Schatten, S. 171. 403 Ebd., S. 108.

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5. Analyse der Romane

teilweise wird diesen von Figuren gezogenen physiognomischen Schlüssen auch größeres Gewicht beigemessen, weshalb zu differenzieren ist, welche Figur in welcher Situation über wen urteilt. Das Verfahren wird zwar kritisiert und mit seiner Hilfe gewonnene Urteile als unzuverlässig dargestellt, dennoch dient es dem Autor auch als Mittel der differenzierten Darstellung von Figuren und ihren Beziehungen. So kommt solchen intuitiven Urteilen etwa dann eine gewisse Bedeutung zu, wenn Fontane ihr Ge- oder Misslingen beim ersten Aufeinandertreffen zweier Figuren oder in der Anfangsphase ihrer Beziehung dazu nutzt, die Verhältnisse zwischen ihnen vorwegzunehmen oder zu verdeutlichen. Das Sehen einer anderen Person – vor allem bei der ersten Begegnung – legt die Grundlage zur weiteren Art der Beziehung, und wo es bzw. das daraus gewonnene Urteil fehlschlägt, werden die Figuren einander auch im weiteren Verlauf des Textes verkennen und keinen tieferen Zugang zueinander finden. Das Misslingen von Effis physiognomikartigem Blick auf Crampas, dem sie bestimmte Eigenschaften nicht ansieht, ist beispielsweise als Zeichen dafür zu lesen, dass sie seinen wahren Charakter und seine Absichten nicht durchschaut.404 Er kann sie durch sein genau durchdachtes Verhalten täuschen und schließlich später verführen, ohne dass sie tiefere Gefühle für ihn entwickelt; die Beziehung beider beruht nicht auf einem wirklichen gegenseitigen Erkennen: 405 ›Hab ich doch inzwischen aus dem Briefe meines alchimistischen Geheimkorrespondenten erfahren, dass Sie [...] gelegentlich auch Dichter sind. Anfangs habe ich mich gewundert...‹/ ›Denn Sie haben es mir nicht angesehen.‹/ ›Nein [...]‹. (EB, S. 132)

Dagegen sehen Effi und Gieshübler, die im Folgenden eine gute Freundschaft verbinden wird, gleich beim Kennenlernen etwas Besonderes im anderen, dem sie direkt zugetan sind: Effi eröffnet ihrem Besucher: »Und dann sehe ich doch auch gleich, dass sie anders sind als andere, dafür haben wir Frauen ein scharfes Auge« (EB, S. 66), während er ihr anvertraut: »wie Sie sind, meine gnädigste Frau, das sehe ich« (EB, S. 65). Effis Entgegnung: »Wenn sie nur nicht mit zu freundlichen Augen sehen« (EB, S. 65) weist auf das Problematische einer solchen Beurteilung hin, die durch die subjektive Voreingenommenheit des Betrachters verfälscht ist. Dennoch macht sie weiterhin von dieser nur auf dem optischen _____________ 404 Auch Brunner, ›Effi Briest‹ von Theodor Fontane, S. 149 stellt fest, dass Effi »Crampas nie als den erkennen können [wird], der er wirklich ist«. 405 Effi nennt Crampas später »den armen Kerl [...], den ich nicht einmal liebte und den ich vergessen hatte, weil ich ihn nicht liebte. Dummheit war alles« (EB, S. 289). Er dagegen zeigt in seinen Briefen an sie, wie wenig Ernst es ihm mit ihr ist und spricht dies auch ganz offen aus, wenn er ihr schreibt: »Flucht. Unmöglich. Ich kann meine Frau nicht im Stich lassen, zu allem andern auch noch in Not. Es geht nicht, und wir müssen es leichtnehmen, sonst sind wir arm und verloren. Leichtsinn ist das Beste, was wir haben« (EB, S. 244).

5.3. »Effi Briest«

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Eindruck beruhenden Einschätzung anderer Gebrauch. So liest sie Roswithas Charakter aus deren Augen: »Oh, die hab ich schon gesehen. Gute braune Augen, die einen treu und zuversichtlich ansehen. Aber ein klein bisschen dumm« (EB, S. 112). Auch der Dienerin selbst gegenüber stellt sie fest: »Sie sind eine gute, treue Person, das seh ich Ihnen an« (EB, S. 118). Innstetten stimmt mit seiner Frau überein: »[W]enn ihr Gesindebuch nicht zu schlimme Sachen sagt, so nehmen wir sie auf ihr gutes Gesicht hin. Es ist doch, Gott sei Dank, selten, dass einen das täuscht« (EB, S. 120). Sein Vertrauen in die Zeichenhaftigkeit und Lesbarkeit seiner Umwelt – das, wie dargelegt, ungerechtfertigt ist, denn er kann Effi nicht wie geplant durchschauen – drückt er auch in folgender Bemerkung an Johanna aus: »Sie wissen schon alles [...]. Es ist merkwürdig, was alles zum Zeichen wird und Geschichten ausplaudert, als wäre jeder mit dabeigewesen« (EB, S. 256). Johanna wiederum nutzt die Physiognomik in ihrer Verurteilung von Crampas: »Der ganze arme Major taugte nichts; wer solchen rotblonden Schnurrbart hat und immer wribbelt, der taugt nie was und richtet bloß Schaden an« (EB, S. 259). Damit legt sie den Major gleichzeitig auf einen bestimmten Typus fest, wodurch anklingt, dass physiognomischen Urteilen grundsätzlich die Annahme zugrunde liegt, Menschen ließen sich entsprechend äußeren Anzeichen bestimmten Kategorien zuordnen. Die von allen Figuren angewandten, in einem weiten Sinn physiognomischen Verfahren werden demnach unterschwellig grundsätzlich aufgrund ihrer Unzuverlässigkeit, Subjektivität und Typisierung kritisiert. Dennoch unterscheidet sich die Zuverlässigkeit der Beobachtungen je nach Objekt oder Subjekt des Sehens. Bei Roswitha etwa trifft die Beurteilung, in der Effi und Innstetten sich sofort einig sind, tatsächlich zu, was für ihren einfachen und offenen Charakter spricht. Crampas dagegen kann sich gut verstellen und schauspielern, wodurch sein von ihm manipuliertes Äußeres sein Wesen nicht zu erkennen gibt. Auch Effi als differenzierter angelegte Figur ist nicht leicht zu durchschauen, weshalb die verschiedenen Figuren bei ihren jeweiligen Versuchen zu unterschiedlichen Schlüssen gelangen, von denen keiner völlig zutrifft. Sidonie mit ihrem »Kassandrablick in die Zukunft« (EB, S. 161) sieht entsprechend ihrer eigenen negativen Einstellung in Effi nur eine verwerfliche Frau, der jede sittliche Entgleisung zuzutrauen ist (vgl. EB, S. 166). Sie ist sich in ihrem Urteil ebenso sicher, wie der gutherzige Gieshübler vom Gegenteil überzeugt ist, so dass diese physiognomischen Urteile eher den Charakter der Betrachter als den der beurteilten Person enthüllen.406 Neben diesen _____________ 406 Allerdings ist Gieshüblers Wahrnehmung nicht grundsätzlich von seinen positiven Gefühlen den Betrachteten gegenüber so stark beeinflusst, sondern speziell bei Effi, die er besonders schätzt. Bei anderen ihm lieben Personen kann er durchaus auch Schwächen er-

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5. Analyse der Romane

beiden Figuren, deren Wahrnehmung stark durch die eigene Persönlichkeit geprägt ist, präsentiert der Text noch geübte Beobachter, deren geschulte Wahrnehmungsfähigkeit zuverlässiger ist und die der Wahrheit näher kommen, ohne sie jedoch ganz zu erkennen, wie beispielsweise Rummschüttel, »ein[en] überaus lebensgewandte[n] Herr[n], der alles recht gut sah, aber nicht alles sehen wollte« (EB, S. 210). Nachdem er Effi »leicht, aber doch scharf beobachtet hatte« erkennt er ihre Verstellung und »sah, welche Verlegenheit sein Kommen der jungen Frau bereitete«, hat auch nach dem dritten Besuch ein auf Beobachtungen gegründetes, zutreffendes Urteil über Effi: »Hier liegt etwas vor, was die Frau zwingt, so zu handeln, wie sie handelt« (EB, S. 109ff). Auch Frau von Briest hält sich für eine gute Beobachterin und verlässt sich auf ihre Beobachtungsgabe mehr als auf die Auskünfte Effis – »Sie hat mir so was gesagt, und, was mir wichtiger ist, ich hab es auch bestätigt gefunden, mit Augen gesehen« (EB, S. 206). Andererseits allerdings gesteht sie im Gespräch mit Briest ein, dass ihrem Blick Dinge entgehen können: »[U]nd immer bist du wieder da mit deinem Alles-wissen-Wollen und fragst dabei so schrecklich naiv, als ob ich in alle Tiefen sähe« (EB, S. 225). Sie scheint zwar »ihre Umgebung mit berechnendem Auge aufund wahrzunehmen«,407 doch das Ausmaß von Effis Leiden in der Ehe mit Innstetten entgeht ihr, was durch ihre schwere Augenerkrankung408 symbolisiert wird: »Die Sehgewohnheiten von Effis Mutter haben sich also als Fehlleistungen erwiesen, denn ihre Wahrnehmung war nie ganzheitlich ausgerichtet«409 und zudem »nur den Konventionen verpflichtet«.410 Auch bei Frau von Briest liegt also trotz scharfer und scheinbar sachlicher Beobachtung eine subjektive und durch die Internalisierung gesellschaftlicher Vorstellungen sowie ihre eigenen Gefühle – immerhin verband sie einst eine tiefe Zuneigung mit Innstetten (vgl. EB, S. 13) – verfälschte Sicht vor. _____________

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kennen, wodurch seine Zuneigung zu Effi in besonderem Maße betont wird: »Gieshübler liebte seine Künstlerfreundin [die Tripelli, N.H.] enthusiastisch und dachte hoch von ihren Talenten; aber all seine Begeisterung konnte ihn doch nicht blind gegen die Tatsache machen, daß ihr von gesellschaftlicher Feinheit nur ein bescheidenes Maß zuteil geworden war« (EB, S. 94f). Allerdings kann der Grund für das Erkennen speziell dieser Schwäche zugleich auch wieder an seiner Persönlichkeit festgemacht werden, denn »diese Feinheit war gerade das, was er persönlich kultivierte« (EB, S. 95). Brunner, Sehen und Erkennen, S. 420. Dass es mit dieser Augenerkrankung eine besondere Bewandtnis haben muss, legen deren häufige Erwähnung sowie die Tatsache, dass Frau von Briest deshalb sogar eine Augenklinik aufsuchen muss, nahe (vgl. EB, S. 195, 202f, 205). Brunner, Sehen und Erkennen, S. 420. Ebd., S. 420f.

5.3. »Effi Briest«

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Crampas stellt ähnlich Frau von Briest fest, ein schlechterer »Seelenleser« (EB, S. 123) zu sein als Effi vermutet und sie nicht durchschauen zu können, denn »bei schönen, jungen Frauen, die noch nicht achtzehn sind, scheitert alle Lesekunst« (EB, S. 123). Auch auf Effis Frage nach Innstettens Beweggründen für das Erzählen von Spukgeschichten antwortet er ausweichend, nicht ins tiefste Innere anderer Menschen sehen zu können (vgl. EB, S. 139). Als sie insistiert, gibt er aber doch seine Meinung Preis, traut also wie Effis Mutter seinen Beobachtungen mehr, als er zugibt. Seine Aussage, nur »Gott sieht ins Herz« (EB, S. 139), kann als Position Fontanes gewertet werden, da es keiner seiner Figuren gelingt, andere völlig zu durchschauen. Er stellt damit die seinerzeit ausgiebig praktizierten Methoden der Physiognomik in Frage. In seinem Text tritt sie nicht als zuverlässige Wissenschaft auf, sondern als ein beliebig und unreflektiert von jeder Figur angewandtes Verfahren, das dem Menschen jedoch unmöglich ist, denn die Wahrnehmung anderer erfolgt grundsätzlich nur ausschnitthaft und durch die eigene Perspektive, »reduzierte Wahrnehmungsmuster und automatisierte Sehgewohnheiten«411 verzerrt. Effi stellt dementsprechend fest, »daß Kinder am besten beobachten« (EB, S. 202), da deren Blick noch nicht so stark durch gesellschaftliche Normen oder eigene Erfahrungen geprägt ist.412 Der Erzähler beschreibt in Übereinstimmung mit dieser Kritik an physiognomischen Verfahren das Aussehen und insbesondere die Gesichtszüge der Figuren als äußere Zeichen für ihren Charakter nur relativ zurückhaltend. Doch da er den Figuren – mit Ausnahme Effis, deren Spiegelblicke auch dem Erzähler bisweilen Einblick in ihr Inneres erlauben – ebenso wenig ›ins Herz sehen‹ kann wie die Romanfiguren, ist auch er darauf angewiesen, sie auf physiognomikartige Weise von außen zu betrachten und dem Leser zu präsentieren, wenn er ihre Gedanken und Gefühle vermitteln will. Zum Teil leitet er den Rezipienten, indem er ihm die Deutung des Äußeren gleich mitliefert, häufiger aber stellt er allein die äußeren Anzeichen dar. Beim ersten Erscheinen Effis etwa gibt der Erzähler dem Leser die Interpretation ihres Äußeren gleich mit an die Hand, wenn es heißt, dass »ihre lachenden braunen Augen eine große, natürliche Klugheit und viel Lebenslust und Herzensgüte verrieten« (EB, S. 8). Auch am Romanende lässt er den Rezipienten wissen, was ihr Blick bedeutet, wenn er bemerkt, _____________ 411 Brunner, ›Effi Briest‹ von Theodor Fontane, S. 149. 412 Diese Einschätzung über die besondere Sehfähigkeit von Kindern bringt Fontane auch in L’Adultera zum Ausdruck, wo die Tochter Lydia, deren Augen »ernst und schwermütig [waren], als sähen sie in die Zukunft« (LA, S. 113) gleich bei der ersten Begegnung Rubehn »ernst und beinah feindselig musterte« (LA, S. 155) und eine Abneigung gegen ihn, der später ihre Familie zerstören wird, entwickelt (vgl. LA, S. 156, 180).

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5. Analyse der Romane

»dass es nicht die helle Jugend, sondern eine Verklärtheit war, was der schlanken Erscheinung und den leuchtenden Augen diesen eigentümlichen Ausdruck gab. Alle, die schärfer zusahen, sahen dies« (EB, S. 293). Neben grundsätzlichen Charakterzügen oder längerfristigen Wesenseigenschaften lassen sich auch momentane Gefühle aus Effis Augen ablesen, wobei diese Blicke zwar bisweilen vom Erzähler aufgeschlüsselt werden, größtenteils aber vom Leser selbstständig gedeutet werden müssen: Bei der Begegnung mit Annie drücken sie Effis Zorn auf Innstettens Erziehung aus: »Und bei diesem dritten ›wenn ich darf‹ war das Maß voll; Effi sprang auf, und ein Blick, in dem es wie Empörung aufflammte, traf das Kind« (EB, S. 288). Sonst zeigt sich vor allem ihre Angst von einer Entdeckung ihrer Affäre in ihrem Blick, wenn sie Innstetten oder Roswitha in Gesprächen, bei denen sie deren Verdacht zu bemerken glaubt, »starr« (EB, S. 153) oder »groß« (EB, S. 154) bzw. »mit großen Augen«413 ansieht. Als Innstetten den Umzug aus Kessin ankündigt, sind ihre Emotionen so stark, dass sie sich nicht nur in ihren Augen spiegeln, sondern am ganzen Körper zeigen: »Effi sagte kein Wort, und nur ihre Augen wurden immer größer; um ihre Mundwinkel war ein nervöses Zucken, und ihr ganzer zarter Körper zitterte« (EB, S. 191). Effis gesamte Schuldgefühle und gedanken, ihr schlechtes Gewissen, ihre mangelnde Reue und die Angst vor Entdeckung sprechen aus ihren Blicken, im Falle der Reaktion auf die Ankündigung des Umzugs kommt sicher noch Erleichterung hinzu. Doch exakt lässt sich nicht definieren, was diese Blicke ausdrücken, der Leser muss wie die Romanfiguren zum Zeichenleser werden und die äußeren Anzeichen entsprechend seinen subjektiven Ansichten deuten. Zum Teil wird er zwar durch Hinweise des Erzählers gelenkt, doch diese erschöpfen sich meist in Andeutungen und sind selten explizit oder ausführlich. Der Leser wird so wie Innstetten zum Beobachter und Interpreten der größtenteils in Außensicht dargestellten Protagonistin. Wie für die Figuren sind verschiedene Charaktere auch für den Leser unterschiedlich gut durchschaubar: Während er aus Effis Augen meist ihre Gefühle lesen kann und so Zugang zu ihrem Innenleben erhält – was Innstetten nicht möglich ist –, kann er aus denen Innstettens für gewöhnlich ebenso wenig auf sein Inneres schließen wie Effi, außer in Fällen äußerster Erregung: Innstetten verfärbte sich. Was war das? Etwas, was seit Wochen flüchtig, aber doch immer sich erneuernd über ihn kam, war wieder da und sprach so deutlich aus seinem Auge, daß Effi davor erschrak. (EB, S. 191)

_____________ 413 Als Roswitha meint, Gott möge Effi vor solchem Unglück bewahren, wie es ihr widerfahren sei, heißt es: »Effi fuhr auf und sah Roswitha mit großen Augen an. Aber sie war doch mehr erschrocken als empört« (EB, S. 186).

5.3. »Effi Briest«

307

Die Augen sind meist Zeichen für momentane innere Regungen einer Figur, außer bei deren erster, einführender Beschreibung, wo sie ihren generellen Charakter – und damit oft zugleich ihre Wahrnehmungsweise – enthüllen. Zur Darstellung des Charakters nutzt Fontane noch weitere vom Leser zu entschlüsselnde äußere Merkmale, etwa die Kleidung – so Effis »Jungenskittel« anstatt »Staatskleider[n]« zu Romanbeginn, dessen Interpretation direkt durch den Kommentar Effis nahe gelegt wird (EB, S. 9), oder Gieshüblers sehr gepflegte und elegante Garderobe (vgl. EB, S. 64, 94). Sonst erfährt man über das Äußere der Figuren nur wenig, meist gerade noch Haarfarbe und eventuell Frisur.414 Als weiteres Merkmal der Physiognomik im weitesten Sinne, das nicht mehr Teil des Aussehens ist, kommt die charakteristische Handschrift zur Anwendung, anhand der Romanfiguren mit auffälliger Häufigkeit sofort erkennen, von wem Schriftstücke stammen, bevor sie den Text lesen (vgl. EB, S. 34, 131, 194, 243, 266, 299). Fontane dehnt die Physiognomik auf ihren weitesten Sinn aus und nutzt neben der Kleidung weitere äußere Faktoren, die nicht mehr mit dem Körper der Figuren zusammenhängen, bezieht deren gesamten Besitz und Wohnraum in ihre Charakterisierung mit ein.415 Dagegen spart er physiognomische Muster im engeren Sinn aus und lässt den Leser die Charaktere der Figuren mehr durch ihre Sprache, Sehweisen und Handlungen und erfassen als durch ihr Aussehen.416 Breitenfellner begründet dies damit, dass Fontane in Effi Briest die Macht der Gesellschaft und des Zufalls über das Individuum darstellen wolle, und daher keine physiognomischen Verfahren anwenden könne, weil diese von einer deterministisch festgelegten Persönlichkeit ausgingen.417 _____________ 414 Die Jahnkeschen Mädchen etwa eingeführt als: »Zwei der jungen Mädchen – kleine, rundliche Persönchen, zu deren krausem, rotblondem Haar ihre Sommersprossen und ihre gute Laune ganz vorzüglich paßten« (EB, S. 9f). Hulda wird als »eine lymphatische Blondine, mit etwas vorspringenden, blöden Augen, die trotzdem beständig nach etwas zu suchen schienen«, vorgestellt, die aussieht »als erwarte sie jeden Augenblick den Engel Gabriel« (EB, S. 10). Die großen, suchenden Augen stehen für ihre Eitelkeit (sie ist »eitel und eingebildet« (EB, S. 20) und sind zugleich in ihrer Selbstbezogenheit Ausdruck dafür, dass Hulda wenig von ihrer Umwelt mitbekommt: »Hulda, mit ihren großen Augen, sah wieder nichts« (EB, S. 17). Johanna tritt auf als »eine hübsche, nicht mehr ganz jugendliche Person, der ihre stattliche Fülle fast ebenso gut kleidete, wie das zierliche Mützchen auf dem blonden Haar« (EB, S. 51). Auch Briest als »ein wohlkonservierter Fünfziger« und Innstetten als »schlank, brünett und von militärischer Haltung« (EB, S. 19) werden auf eher spärliche Art vorgestellt, was ihr Aussehen betrifft. Gieshübler erscheint aus Effis Perspektive als »ein kleiner, schiefschultriger und fast schon so gut wie verwachsener Herr in einem kurzen eleganten Pelzrock und einem hohen, sehr glatt gebürsteten Zylinder« (EB, S. 64) und auch an weiteren Textstellen wird explizit auf seine elegante Kleidung hingewiesen (vgl. EB, S. 94). 415 Vgl. Breitenfellner, Lavaters Schatten, S. 125. 416 Vgl. ebd., S. 172. 417 Vgl. ebd., S. 67.

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5. Analyse der Romane

Neben physiognomischen Verfahren im weitesten Sinne liegen auch die von Graeme Tytler in seiner Arbeit über die Bedeutung der Physiognomik im Roman des 19. Jahrhunderts aufgezählten Merkmale einer physiognomischen Figurenbeschreibung in Effi Briest vor, auffälligerwiese jedoch nur zur Hälfte: Die ersten drei, die sich speziell auf Gesichtszüge beziehen,418 sucht man vergeblich, während die letzten vier, die eher generell auf physiognomische Verfahren verweisen, vorliegen: Insbesondere 4., die Beschreibung aus wechselnden Perspektiven – der des Erzählers sowie der verschiedener Figuren419 – mit Thematisierung der unterschiedlichen Beobachtungsfähigkeit420 fällt auf. Jede dieser Wahrnehmungen aus verschiedenen Perspektiven – auch die des Erzählers – erfasst nur einen Teil der Wirklichkeit, der zusätzlich durch subjektive Vorurteile oder Einstellungen verfälscht ist, und so bietet der Text keine eindeutige Darstellung der Figuren an. Der Leser muss sich sein Bild der Figuren aus den wenigen Erzählerbeschreibungen und -kommentaren und den zahlreichen, oft widersprüchlichen Figurenaussagen selbst zusammensetzen. Auch die weiteren Merkmale Tytlers sind zu finden, so 5., der Vergleich des Aussehens verschiedener Figuren421 und als Spezialfall dazu 6., die Feststellung von Familienähnlichkeiten:422 Effi ist »[g]anz die Mama« (EB, S. 209) und Annie gilt als »schön wie die Großmutter« (EB, S. 234). 7., die Beschreibung von Figurengruppen als physiognomisch homogene Menge423 trifft auf die Darstellung der Zwillinge zu (vgl. EB, S. 10) und liegt leicht abgewandelt oft in der Form vor, dass einzelne Figuren nicht als Individuen sondern als Vertreter einer solchen Menge typisiert dargestellt werden (vgl. EB, S. 46, 259). _____________ 418 Es handelt sich hierbei um: 1. die Beschreibung von Gesichtszügen, denen nach physiognomischer Ansicht bestimmte Charaktermerkmale entsprechen sollten, 2. die Unterscheidung zwischen dem momentanen Gesichtsausdruck und generellen Charakteristika, für die das Bewusstsein durch die Diskussion um Physiognomik (als Beschäftigung mit unveränderlichen Teilen des Körperbaus) versus Pathognomik (als Analyse beweglicher und veränderlicher Teile) geschärft worden war und 3. die Thematisierung der Harmonie zwischen einzelnen Gesichtspartien, durch die das Gesicht als Ausdruck einer geschlossenen Persönlichkeit interpretiert wurde (vgl. Graeme Tytler, Physiognomy in the European Novel. Faces and Fortunes, Priceton, N.J. 1982, S. 183). 419 Andermatt, Haus und Zimmer im Roman, S. 77–168, befasst sich detailliert mit den wechselnden Perspektiven bei der Raumwahrnehmung in Effi Briest. 420 Vgl. Tytler, Physiognomy in the European Novel, S. 186f. Die Beobachtung über unterschiedliche Beobachtungsfähigkeiten der Figuren trifft auch für andere Romane Fontanes zu, wie die in der vorliegenden Arbeit dargestellten Untersuchungen zu den verschiedenen Sehweisen der Figuren zeigen. Zudem kann die Feststellung der Relativierung von Figurenaussagen durch Polyperspektivik als Gemeingut der Fontaneforschung betrachtet werden, wenn auch bisher eher in Bezug auf die Figurenrede als auf ihre visuelle Wahrnehmung. 421 Vgl. ebd., S. 199. 422 Vgl. ebd., S. 201. 423 Vgl. ebd., S. 202.

5.3. »Effi Briest«

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Michael Niehaus’ Befund, im Realismus sei das physiognomische Verfahren verschoben worden und nicht mehr auf Gesichtszüge angewandt, sondern auf Äußerlichkeiten der Figuren in einem erweiterten Sinne, einen ›metaphorischen Körper‹, ausgedehnt worden,424 bestätigt sich damit bei Fontane, wie auch Breitenfellners Untersuchung bereits zeigte.425 Wie die Figuren muss auch der Leser sich auf solche veränderlichen Zeichen des Äußeren, die absichtlich modifiziert werden können, verlassen, und erhält – selbst wenn er bisweilen vom Erzähler gelenkt wird – keine klaren und eindeutigen Aussagen, wie sie an unveränderlichen Gesichtspartien markierbar wären. Fontane lässt seinen Erzähler das Verfahren der Physiognomik trotz Kritik an ihrer Unzuverlässigkeit nutzen und eröffnet damit mehr Möglichkeiten zur individuellen Interpretation und verstärkten Eigenleistung des Rezipienten. Dieser wird zugleich durch die Spiegelung des Verfahrens auf verschiedenen Ebenen – es wird auf der Figurenebene, vom Erzähler und schließlich vom Leser selbst angewandt – zur Reflexion seines Vorgehens angeregt. Damit setzt sich der Roman zugleich mit der Physiognomik auseinander – wenn auch nicht als Wissenschaft, sondern mit gesellschaftlich gängigen Formen des Verfahrens – und nutzt sie zur Figurencharakterisierung sowohl der Beobachter als auch der Beobachteten.426 _____________ 424 Vgl. Michael Niehaus, Physiognomie und Literatur im 19. Jahrhundert (von Poe bis Balzac). In: Rüdiger Campe und Manfred Schneider (Hrsg.), Geschichten der Physiognomik. Text, Bild, Wissen, Freiburg im Breisgau 1996, S. 452f. 425 Vgl. Breitenfellner, Lavaters Schatten, S. 135. 426 Als Sonderform der physiognomischen Blicke in Effi Briest lässt sich der antisemitische Blick anführen, den Effi, folgt man Michael Fleischer, ›Kommen Sie, Cohn.‹ Fontane und die ›Judenfrage‹, Berlin 1998, S. 264, dem Prediger zuwirft: »Er predigt ganz gut und ist ein sehr kluger Mann, und ich wäre froh, wenn ich das Hundertste davon wüßte. Aber es ist doch alles bloß, wie wenn ich ein Buch lese; und wenn er dann so laut spricht und herumficht und seine schwarzen Locken schüttelt, dann bin ich aus meiner Andacht heraus. […] Er spricht immer soviel vom Alten Testament. Und wenn es auch ganz gut ist, es erbaut mich nicht« (EB, S. 279). Dem physiognomisch und semiotisch geprägten Rezipienten zu Fontanes Zeit war dieser Prediger laut Fleischer anhand bestimmter äußerer Zeichen als Jude lesbar: »Mit der Anspielung auf Cassels schwarzen Locken [Fleischer versteht die Passage als Allusion auf Paulus Cassel, einen zeitgenössisch bekannten, aus einer jüdischen Familie stammenden und später getauften Prediger an der Berliner Christuskirche, N.H.] ist dem Leser von 1894 auch der äußere Erscheinungstyp des Juden erkennbar. Die Vorliebe des Predigers für das Alte Testament wirkt ebenso befremdlich auf Effi wie seine Sprache, seine Gestik und sein Äußeres« (Fleischer, ›Kommen Sie, Cohn.‹, S. 264). Nicht Effi übt sich also hier explizit in einer physiognomischen Blickweise (höchstens implizit, indem sie ablehnend auf das Gesehene reagiert, ohne jedoch die Gründe dafür zu benennen), sondern der Leser wird dazu angehalten, die vom Text gegebenen Zeichen ebenso wie die Figuren zu entschlüsseln. Im Gegensatz zu den sonstigen Passagen, an denen das Verfahren explizit gemacht und kritisch auf seine Angemessenheit und Zuverlässigkeit hin betrachtet wird, findet es hier unterschwellig und scheinbar unhinterfragt statt. Folgt man nun Fleischer, so hat Fontane auch diese Methode bewusst eingesetzt und seine Romane mehrfach absicht-

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5. Analyse der Romane

In dieser Thematisierung physiognomischer Blicke als Verfahren der Wirklichkeitserschließung durch die Interpretation visueller Zeichen spielt der Text zugleich auf seine eigene Konzeption an, denn auch der Romantext selbst ist Geppert, Der realistische Weg zufolge nur als Ansammlung von Zeichen für die in ihm dargestellte Wirklichkeit zu verstehen. Erst durch das Zutun des Lesers als Interpret werden diese entziffert, konträre Perspektiven gegeneinander abgewägt und die Weltsicht der Figuren als subjektiv und zeichenhaft geprägt erfasst, wodurch ein Gesamtbild der Romanwelt entstehen kann. Wie aber die einzelnen Figuren die Zeichen ihrer Umwelt immer nur subjektiv interpretieren können, muss auch der Leser sich bewusst sein, dass er die Zeichenhaftigkeit des Textes auf seine eigene, subjektive Weise entschlüsselt. Auch sein Verständnis der Textwirklichkeit kann keinen Anspruch auf objektive Gültigkeit oder ›Wahrheit‹ erheben, ebensowenig wie seine Erfassung der eigenen Wiklichkeit, die wie diejenige der Figuren aus Zeichen aufgebaut ist.

_____________ lich mit antisemitischen Anspielungen durchsetzt, zwar dezent, doch für den zeitgenössischen Leser deutlich genug (vgl. Fleischer, ›Kommen Sie, Cohn.‹, S. 247), indem er sie durch bestimmte äußere Merkmale und Zeichen »in ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihrer Verhaltensweise als eigene Gruppe von Menschen erkennbar« (ebd., S. 194) machte. Auch Benz spricht – allerdings in Bezug auf Fontanes private Äußerungen – davon, »daß der antisemitische Verständigungscode funktionierte« (Wolfgang Benz, Antisemitismus als Zeitströmung am Ende des Jahrhunderts. In: Wolzogen und Nürnberger, Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts, Bd.1., S. 166). So ist etwa Güldenklees Ablehnung der Ringparabel als Zeichen seiner Ablehnung des Judentums zu lesen. In der vorliegenden Arbeit ist jedoch nicht der Ort, sich mit Fontanes vieldiskutiertem » ›ganz normale[n]’ « (Fleischer, ›Kommen Sie, Cohn.‹, S. 262) »Alltagsantisemitismus« (Norbert Mecklenburg, Einsichten und Blindheiten. Fragmente einer nichtkanonischen Fontane-Lektüre. In: Text + Kritik, Sonderband, Theodor Fontane (1989), S. 153), seinen persönlichen Vorurteilen und deren Niederschlag in seinem Romanwerk auseinanderzusetzen, denn: »Man muß die persönlichen Erfahrungen, Einsichten und Schlußfolgerungen Fontanes in der ›Judenfrage‹ beachten, um vor diesem Hintergrund auch die Anspielungen auf das Judentum in seinen Werken sachgerecht zu interpretieren« (Fleischer, ›Kommen Sie, Cohn.‹, S. 262). Festzustellen ist hier lediglich, dass auch die antisemitischen Blickweisen einiger Figuren sich an äußere Zeichen heften und diese entsprechend gesellschaftlichen Codes physiognomisch entschlüsseln, wozu auch der Leser an entsprechenden Textpassagen aufgefordert ist, und dass gerade diese Art des problematischen physiognomischen Blicks im Text unterschwellig auftritt und nicht ausdrücklich thematisiert und kritisiert wird. Ohne eine weiter ausholende Analyse kann dies jedoch nicht als Befürwortung dieser Praxis durch den Autor ausgelegt werden, wobei der derzeitige Forschungsstand zu dieser Position neigt. Für eine weiterführende Lektüre sei auf Mecklenburg, Einsichten und Blindheiten, Fleischer, ›Kommen Sie, Cohn.‹ und Benz, Antisemitismus als Zeitströmung verwiesen, sowie auf die Aufsätze zum Thema Judentum in: Wolzogen und Nürnberger, Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts, Bd. 1.

5.3. »Effi Briest«

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5.3.3. Das Zusammenwirken von Photographien und Briefen Photographien und Briefe werden in Effi Briest noch deutlicher als in Cécile in einer funktionalen Einheit eingesetzt, wenn Innstetten nach Entdeckung und Lektüre von Crampas’ Briefen Photographien Effis mit physiognomischen Blicken, wie sie im vorangegangenen Kapitel erläutert wurden, betrachtet. Er lässt sich in der entsprechenden Passage von Johanna eine Lampe bringen, über die es im Text heißt: In dem grünen Schirm427 befanden sich halb durchsichtige Ovale mit Photographien, allerlei Bildnisse seiner Frau, die noch in Kessin, damals, als man den Wichertschen ›Schritt vom Wege‹ aufgeführt hatte, für die verschiedenen Mitspielenden angefertigt waren. Innstetten drehte den Schirm langsam von links nach rechts und musterte jedes einzelne Bildnis. Dann ließ er davon ab, öffnete, weil er es schwül fand, die Balkontür und nahm schließlich das Briefpaket wieder zur Hand.428

Die Briefe und die Photographien bilden hier in ihrer zentralen Funktion, die Wahrheit über die Vergangenheit zu offenbaren – entsprechend der zeitgenössischen Assoziation von Wahrheit mit der Photographie –, den Wendepunkt der Geschichte. Hervorgehoben und symbolisiert wird dieser Aspekt, ›das Licht der Wahrheit‹ in das Dunkel von Effis Vergangenheit bzw. ihre Affäre ›ans Licht‹ zu bringen, dadurch, dass Innstetten keine Papierphotographien, sondern die halb duchsichtigen Diaphanbilder im Lampenschirm betrachtet. Die Verbindung von Photographie und Wahrheit wird so durch die Lichtmetaphorik als Zeichen für Innstettens ›Aufklärung‹ beträchtlich verstärkt, zumal die Lichtsymbolik auf eine eindeutigere und positivere Wahrheitsfindung hindeutet als die Photographie mit ihrem zwiespältig einzuschätzenden Wahrheitsstatus. Sowohl die Photographien als auch die Briefe verweisen zeichenhaft auf sechs bis sieben Jahre zurück liegende und bereits in Vergessenheit geratene Ereignisse, welche in ihnen konserviert werden. Durch beide Medien wird ihnen eine neue Präsenz verliehen, womit sie die räumliche und zeitliche Distanz zwischen den Geschehnissen in Kessin und dem aktuellen Berliner Leben aufheben. Als Verbindungsglieder zwischen Vergangenheit und Gegenwart transportieren sie die an sie geknüpfte Geschichte429 und werden zu Erinnerungs- und Beweisstücken, womit _____________ 427 In EB, S. 244 dagegen heißt es »In dem grauen Schirm«. GBA kann hier als Korrektur der älteren Aufbau-Ausgabe angesehen werden und wird daher favorisiert. 428 GBA, Das erzählerische Werk 15, S. 274. 429 Eine zeitlich umgekehrte Nutzung der Photographie liegt in L’Adultera vor. Dort verweist die Photographie Gordons auf die folgende Geschichte, ruft keine Erinnerungen wach, da die Betrachter den Abgebildeten noch nicht kennen, sondern nimmt spätere Reaktionen auf die Person selbst vorweg: Auch hier will van der Straaten im Vertrauen auf den Wahrheitsgehalt und die Zuverlässigkeit der Photographie das Bild als Beweismittel nutzen, in

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5. Analyse der Romane

Fontane die Photographien so nutzt, wie es für damalige Literatur gängig war: als »Beweisstück, [...] als optische Beglaubigung der Wirklichkeit, [...] als Indiz in Liebes- und Eifersuchtsgeschichten«.430 Innstetten zumindest versucht, die Bilder als anschauliche Beweise heranzuziehen, um sich die durch die Lektüre der Briefe veränderte Vergangenheit neu anzueignen und visuell zu belegen, und wird damit in einer typischen Situation präsentiert, an der Photographien damals wie heute für das Leben des Betrachters bedeutsam werden: An Wendepunkten des Lebens oder in Krisensituationen greift man auf sie zurück, um das in ihnen Abgebildete mit einer andersartigen Aufmerksamkeit zu betrachten und nach Details zu suchen, die vorher kaum wahrgenommen wurden.431 Sabina Becker stellt gleichermaßen fest, Innstetten betreibe »eine Spurensuche, womit Fontane eine wesentliche Eigenschaft der Fotografie dieser Jahrzehnte zitiert«.432 So versucht er, die für ihn von einem Moment auf den anderen komplett umgeschlagene Vergangenheit neu zu begreifen und aus den Bildern eine andere Geschichte als bisher herauszulesen, sie mit den Briefen in Übereinstimmung zu bringen. Von den Photographien als objektive Bilder mit Wahrheitsanspruch erhofft er sich Aufschluss über die in ihnen gebannte Vergangenheit, da sie aus der Zeit stammen, in der Effis Beziehung zu Crampas begann. Bezeichnenderweise wurden die Aufnahmen während der Aufführung des Schritt vom Wege-Theaterstücks angefertigt, welches die folgende Affäre Effis mit Crampas symbolisch vorwegnimmt. Im alltäglichen Leben Effis sind die Photographien durch die Anbringung an der Lampe immer sichtbar und repräsentieren damit die immerwährende und unausweichliche Anwesenheit des Vergangenen, dem sie _____________ diesem Fall um seine Ehefrau vom einwandfreien Charakter des zukünftigen Gastes zu überzeugen. Melanie reagiert zunächst ablehnend, bevor sie erfährt, dass die Photographie nicht von ihm selbst geschickt wurde, was sie als unpassend empfunden hätte: »[N]un schickt er sein Bildnis, als ob es sich um ein Rendezvous handelte. Krugs Garten, mit einer Verlobung im Hintergrund« (LA, S. 125). Diese Aussage deutet darauf voraus, dass der Abgebildete später heimliche Rendezvous mit Melanie haben und sie schließlich heiraten wird, so wie der gesamte Umgang mit dem Bild die spätere Handlung um ihn vorwegnimmt: So wie die Photographie auf van der Straatens Wunsch zugeschickt wird, organisiert er auch den Besuch Rubehns, während Melanie sich gegen Bild und Besuch zunächst ablehnend zeigt. Die Photographie übergibt van der Straaten Melanie ebenso, wie später der Gast aus seiner Obhut in ihre übergehen wird. Als Melanie die Photographie genauer betrachtet, entwickelt sie Gefallen am Abgebildeten, und als sie ihn persönlich kennenlernt, lernt sie ihn schätzen, so dass ihr bei der Betrachtung der Photographie dahingesagtes: »Das lieb ich« (ebd.) als Vorwegnahme ihrer späteren Gefühle für Rubehn zu lesen ist. Die Photographie als Stellvertreter Rubehns tritt damit an seine Stelle und geht ihm in Umkehrung des gewöhnlichen Verhältnisses von Bild und Referenten voraus. 430 Koppen, Über einige Beziehungen, S. 236. 431 Vgl. Guschker, Bilderwelt, S. 335. 432 Becker, Literatur im Jahrhundert des Auges, S. 22.

5.3. »Effi Briest«

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eine Priorität einräumen, die es ohne die Bilder nicht hätte.433 Sie stehen damit für eine real weiterhin anwesende Vergangenheit, die ihren Einfluss auf die Gegenwart ausüben wird, und zeigen, dass sich das Vergangene entgegen Effis Wünschen nicht auslöschen lässt. Einerseits ist ihr dies bewusst, sie behält »die ewige Furcht: es kommt doch am Ende noch an den Tag« (EB, S. 230), und ihre Handlungen lassen sie innerlich nicht mehr los, da sie vergeblich die Scham über ihre Schuld bei sich sucht. Andererseits rückt für sie das Vergangene im Laufe der Zeit immer mehr in die Ferne: »Es war einmal gewesen, aber weit, weit weg, [...] und alles löste sich wie ein Nebelbild und wurde Traum« (EB, S. 233). Als ›Nebelbild‹ aber bezeichnete man im 19. Jahrhundert die Projektionen der Laterna magica, die als Medium des Poetischen, Romantischen und der Imagination im absoluten Gegensatz zur Photographie stand,434 so dass Effis Hoffnung auf ein Verblassen des Vergangenen durch die Verbindung mit diesem Medium als trügerisch entlarvt wird. Dies gilt umso mehr, als dem nur imaginierten Bild der Laterna magica, das mit diesem Wunsch assoziiert wird, die tatsächlich existierenden Photographien gegenübergestellt werden, die als Träger der Vergangenheit und unerbittliches Medium der Wahrheit und Objektivität galten: Effis frühere Handlungen lösen sich nicht auf wie die Bilder einer Laterna magica, sondern bleiben so real und präsent wie auf Photographien festgehaltene Momente. Allerdings sind durch die Anbringung der halbdurchsichtigen Photographien am Lampenschirm auch Parallelen zur Laterna magica gegeben, bei der Licht durch ein Bild geworfen wird, um dieses auf eine Wand oder künstlichen Nebel zu projizieren. Diese Übereinstimmung ließe sich dahin gehend interpretieren, dass Innstetten bei der Betrachtung der Bilder nicht objektiv vorgehen kann, sondern seine eigenen Vorstellungen und Imaginationen hinzufügt. Als Medium der absoluten Wahrheit erweisen sich die Photographien in Effi Briest daher als ebenso trügerisch, wie sie von zeitgenössischen Kritikern eingeschätzt wurden: Der Versuch des auf den Wahrheitswert des Bildmediums vertrauenden Innstetten, Effi in ihren Photographien, die ihm als Stellvertreter der Abgebildeten dienen, zu durchschauen, ist ebenso zum Scheitern verurteilt wie seine früheren Musterungen Effis selbst. Seine Blicke mit ihren Merkmalen des Photographischen enthüllen ihm auch in der Anwendung auf das entsprechende Medium nicht die gesuchten Aussagen und Beweise. Infolgedessen beginnt er nach ihrer Betrachtung erneut, nun allerdings im wörtlichen wie übertragenen Sinne im Lichte der Bilder, d. h. nachdem er sich mit Hilfe der Bilder im _____________ 433 Vgl. Guschker, Bilderwelt, S. 35. 434 Vgl. Mergenthaler, Sehen schreiben, S. 203f, 209.

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5. Analyse der Romane

Lampenschirm gedanklich und emotional in die damalige Situation zurückversetzt und sie erneut durchlebt hat, die Briefe durchzulesen, denn erst das Medium der Schrift kann ihm die gewünschte Klarheit verschaffen: »Nur die ›Zettel‹ mit ihrer eindeutigen ikonischen Referenzfunktion, die keiner Wahrnehmungsleistung bedürfen, enthüllen ihm die Wahrheit«.435 Allerdings zeigen auch die Briefe wie Photographien nur Bruchstücke der gesamten Affäre, da sie nur kurze zeitliche Abschnitte aus der jeweiligen Sicht eines der beiden Korrespondenten wiedergeben. Aufschluss darüber, was während dieser Photographiebetrachtung in Innstetten vorgeht, kann Roland Barthes’ Darstellung einer parallelen Situation geben: Da war ich nun, allein in der Wohnung, in der sie kurz zuvor gestorben war, und betrachtete unter der Lampe diese Photos meiner Mutter, eins ums andere, vergegenwärtigte mir Schritt für Schritt die Zeit mit ihr, auf der Suche nach der Wahrheit des Gesichts, das ich geliebt hatte.436

Barthes’ Erklärungen dieser Tätigkeit lassen sich auf Innstetten übertragen: »Was mache ich während der ganzen Zeit, die ich da verbringe, vor dem Bild? Ich betrachte es eingehend, als wollte ich mehr über die Sache oder die Person herausfinden, die es darstellt«.437 Ebenso trifft Barthes’ folgendes Fazit auf Innstettens Untersuchungen der Photographien Effis sowie die vorangehenden der Person selbst zu: »Die PHOTOGRAPHIE rechtfertigt diesen Wunsch [mehr über die abgebildete Person herauszufinden, N.H.], auch wenn sie ihn nicht erfüllt«.438 Heinz Buddemeier stimmt mit Barthes in der Rechtfertigung dieses Wunsches durch die Photographie überein, da ein »Vorzug der fotografisch hergestellten Wirklichkeit [darin] besteht, daß sie sowohl leichter als auch bequemer zu untersuchen ist als die faktische Wirklichkeit«.439 Zudem entfallen »normative Hemmnisse«,440 die ein zu langes Anstarren einer Person verbieten – in Effi Briest wird Sidonies eindringlich forschender Blick auf Effi dementsprechend als »beinahe ungezogen[...]« (EB, S. 166) bezeichnet – bei der Photographie, die man beliebig lange untersuchen kann. Daraus erklärt sich, dass Innstetten, dessen Beobachtungsgabe an der lebendigen Person Effi versagt hat,441 sich nun an der vermeintlich aufschlussreicheren Musterung ihrer Photographien versucht. Neben diese Erleichterungen durch die Photographie tritt aber, bedingt durch ihren Fragmentcharakter, das _____________ 435 436 437 438 439 440 441

Brunner, Sehen und Erkennen, S. 423. Barthes, Die helle Kammer, S. 77. Ebd., S. 110. Ebd. Buddemeier, Das Foto, S. 19. Guschker, Bilderwelt, S. 28. Vgl. Kapitel 5.3.1.2. der vorliegenden Arbeit.

5.3. »Effi Briest«

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Problem ihrer Vieldeutigkeit, »da alles, was vor oder nach der Aufnahme geschehen ist, nur gedacht werden kann«.442 Genau dieser unsicheren Tätigkeit des Hinzufügens der nicht abgebildeten Geschichte geht auch Innstetten nach, wenn er das Verhältnis zwischen Effi und Crampas oder ihre damaligen Gefühle aus den Photographien zu lesen versucht. »In Effi Briest können jedoch auch Photos ebenso wenig wie die ausschnitthafte Wahrnehmung das Wesen eines Menschen preisgeben«.443 Die Aufnahmen zeigen Effi während oder zumindest direkt vor oder nach der Aufführung eines Lustspiels; genau lässt sich dies nicht sagen, da Fontane – wie bei den meisten anderen Photographien und auch den Gemälden in seinen Romanen – abgesehen von der Feststellung, um wessen Bildnis es sich handelt, keine Beschreibung des genauen Inhalts gibt. Effi ist damit nicht als sie selbst abgebildet, sondern kostümiert bzw. als Schauspielerin in ihrer Rolle als Ella.444 Dadurch enthüllt die Abbildung doch mehr Wahrheit, als es auf den ersten Blick scheint: Nicht erst seit Beginn ihrer heimlichen Beziehung zu Crampas spielt Effi der Gesellschaft und ihrem Mann die Rolle der normkonformen Landratsgattin nur vor, wobei sie sich in »ewigen Lug und Trug« (EB, S. 230) und »ein verstecktes Komödienspiel mehr und mehr hineinlebte« (EB, S. 177), sondern bereits davor musste sie sich verstellen, um den an sie gestellten Ansprüchen zu entsprechen. Wenn Innstetten auf der Suche nach der wahren Vergangenheit eine Photographie Effis als Schauspielerin betrachtet, steht dies dafür, dass sie ihm ihr eigentliches Selbst nicht zeigen bzw. er es nicht erkennen konnte. Auch nachträglich noch sieht Innstetten nur ein verzerrtes Bild des Äußeren Effis, nicht jedoch ihre inneren Beweggründe, denn er setzt seine Frau mit der von ihr gespielten Rolle gleich und versucht, aus der kostümierten Effi ihr wahres Wesen heraus zu lesen, anstatt eine Photographie zur Hand zu nehmen, auf der sie unverkleidet abgebildet wäre. Dass es gerade solche Photographien einer verkleideten Effi sind, die als Element der Lampe einen Teil der zu bürgerlichen Repräsentationszwecken eingesetzen Einrichtungsgegenstände bilden, hebt dieses Existenz Effis als äußerliche Zurschaustellung der erwünschten Rolle besonders hervor. Auch privater Wohnbereich und Privatleben gelten der Aufrechterhaltung des richtigen Scheins. Ebenso wie Barthes betrachtet Innstetten die Bilder eines zuvor geliebten Menschen, der nun für ihn nicht mehr existiert: Effi als seine Ehefrau gehört der Vergangenheit an, worin die zeitgenössische Assoziation der Photo_____________ 442 Guschker, Bilderwelt, S. 35. 443 Brunner, ›Effi Briest‹ von Theodor Fontane, S. 153. 444 Beispiele für solche Photographien von Schauspielern, die in ihrem Kostüm und entsprechend ihrer Rolle posieren, wie sie damals häufig angefertigt wurden, finden sich etwa bei Schirmer, ›Der Herr hat heut Kritik‹, S. 121f.

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5. Analyse der Romane

graphie mit Vergänglichkeit und Tod zum Tragen kommt. »Als Innstetten Effis Photos [...] mustert, hat er sie als menschliches Wesen schon aus seinem Leben gelöscht«.445 Durch die Betrachtung der Bilder kann er sich von ihr distanzieren und sie innerlich für sich zu einer anderen machen, als sie es bisher war, so dass er nun nicht mehr die geliebte Ehefrau in ihr sieht, sondern eine Ehebrecherin. »Innstetten findet auch in den Photos nicht mehr das gewohnte Bild seiner Frau vor dem Ehebruch wieder, sondern nur eine Reproduktion ihrer Außenseite, die er lange mustert«.446 In den Photographien wird Effis gesellschaftlicher Tod durch die Trennung von Innstetten vorweggenommen, ebenso der darauf folgende physische Tod. Diese durch das Medium der Photographie suggerierte Auslöschung ihrer Existenz ist spätestens in Innstettens folgender Aussage klar: »[D]ie Frau kommt nicht wieder. [...] Annie darf nichts wissen, wenigstens jetzt nicht. [...] Sie müssen es ihr allmählich beibringen, dass sie keine Mutter mehr hat« (EB, S. 257). Auch über sich selbst spricht Innstetten damit eine Art Todesurteil, denn von nun an ist sein eigenes Dasein ebenfalls ohne Glück und Freude: Er »empfand schmerzlich, daß es ein Glück gebe, dass er es gehabt, aber dass er es nicht mehr habe und nicht mehr haben könne« (EB, S. 300). Als weitere zeitgenössische Assoziation mit der Photographie kommt ihr Fragmentcharakter zur Geltung, denn Innstetten nimmt, so wie die Photographien nur Ausschnitte zeigen, nur den Teil Effis wahr, der ihn betrogen hat, und ist auch in der Einschätzung seiner Handlungsoptionen nicht in der Lage, seine begrenzte Perspektive zu verlassen. Er sieht nur den Teil der gesellschaftlichen Realität, der ihm den Verstoß Effis vorschreibt, während er mögliche Alternativen, die ein weniger eingeschränkter Blick auf die Situation erschlossen hätte, nicht wahrnimmt. Seine Wahrnehmung wird damit als ebenso fragmentarisch entlarvt wie die Abbildungen. Schließlich spielt auch das photographische Element des Zufalls in die Szene hinein, denn nicht nur werden die Briefe allein durch eine Reihe von Zufällen entdeckt – Annies Sturz, das Hervorholen der Briefe aus dem Nähtisch bei der Suche nach der Binde und ihre Platzierung auf der Fensterbank, Innstettens Entdeckung der Zettel und schließlich das Wecken seiner Neugierde durch das zunächst noch halbbewusste Erkennen der Handschrift. Auch die Photographien gelangen anschließend wohl eher zufällig unter seine Augen, da Innstetten sich die Lampe vermutlich nur wegen der eingebrochenen Dunkelheit bringen lässt um die Briefe erneut zu lesen und erst dann zur Betrachtung der Photographien über_____________ 445 Brunner, Sehen und Erkennen, S. 424. 446 Brunner, ›Effi Briest‹ von Theodor Fontane, S. 153.

5.3. »Effi Briest«

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geht (vgl. EB, S. 243f). Ähnlich sieht dies auch Sabina Becker, für die Innstettens Bildbetrachtung zunächst der Ablenkung dient, also keine von vornherein geplante Studie der Bilder vorliegt, sondern die genaue Musterung jedes einzelnen Bildes erst bei ihrem zufälligen Vorliegen einsetzt.447 Das Moment des Zufalls spielt damit bei der gesamten Aufdeckung der Vergangenheit eine bedeutsame Rolle, wodurch Innstettens rigorose Handlungsweise, Effi zu verstoßen, in ein deutlich negativeres Licht gerückt wird. Hätte nicht reiner Zufall alles offengelegt, so hätte die Ehe unverändert weiterbestehen können, die von Innstetten gezogenen Folgen werden durch das betont Zufällige der gesamten Ereignisse umso bedenklicher, denn auch seine letztendliche Entscheidung ist schließlich alles andere als zwingend, wie das Gespräch mit Wüllersdorf unterstreicht. Diese Interpretation der Funktion der Photographien Effis wird durch die Verwendung von Photographien an einer weiteren Textstelle gestützt, an der auf Innstettens Vorschlag hin die Erinnerung an die italienische Reise mit Hilfe seiner Aufzeichnungen und der unterwegs aufgenommenen Photographien448 – ebenfalls eine Verbindung von Text und Bild – wachgerufen werden soll: [S]o wollten sie die italienische Reise, an der Hand seiner Aufzeichnungen, noch einmal durchmachen. Eine solche Rekapitulation sei eigentlich die Hauptsache, dadurch mache man sich alles erst dauernd zu eigen, und selbst Dinge, die man nur flüchtig gesehen und von denen man kaum wisse, dass man sie in seiner Seele beherberge, kämen einem durch solche nachträglichen Studien erst voll zu Bewusstsein und Besitz. [...] (es sollten sogar Photographien herumgereicht werden) [...]; Innstetten [...] fuhr fort: ›[...] [W]enn ich mir dann denke, dass wir den Canal Grande hinauffahren und hören dabei ganz in der Ferne die Gondoliere singen, während drei Schritte von uns Roswitha sich über Annie beugt und ›Buküken von Halberstadt‹ oder so was Ähnliches zum besten gibt, so können das schöne Winterabende werden [...]‹. (EB, S. 150)

Der Rekapitulation inklusive Photographiebetrachtung schreibt Innstetten die Fähigkeit zu, das Vergangene »dauernd zu eigen« machen zu können;449 eine Annahme, die ganz folgender Feststellung Stefan Guschkers entspricht: »Erzählungen werden verstanden als eine Aneignungsform von _____________ 447 Vgl. Becker, Literatur im Jahrhundert des Auges, S. 22. 448 Hierin zeigt sich, dass Fontane gut mit der aktuellen Entwicklung der Photographie vertraut war, denn erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, zur Entstehungszeit von Effi Briest, ermöglichten leichter zu handhabende Kameras eine weite Verbreitung der Amateurphotographie (vgl. Gisèle Freund, Photographie und Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 97f). 449 Ähnlich wie an diesen beiden Stellen in Effi Briest zugleich Texte und Bilder bemüht werden, um Erinnerungen lebendig zu machen, handelt auch Frau Leutnant Petermann in Mathilde Möhring: »Da hatt ich mir nu das Bäumchen angesteckt und sein Bild druntergestellt und wollte seine Briefe noch mal lesen« (MM, S. 463). Bei Fontane ist Erinnerung nicht nur immer mit Bildern verknüpft, sondern häufig zusätzlich mit Text, meistens Briefen.

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5. Analyse der Romane

Wirklichkeit, wobei [...] die Fotos einen Ausschnitt aus der relevanten Wirklichkeit darstellen«.450 Die Photographien regen Erinnerungen wieder an, die dann formuliert werden und sich dadurch festigen. Damit liegt der gleiche Prozess wie bei der Musterung von Effis Photographien vor, die ebenfalls die Neukonstruktion des Vergangenen für Innstetten unterstützen und ihm dabei helfen sollen, sich eine veränderte Sicht auf die Vergangenheit anzueignen. In beiden Fällen werden die Erinnerungsprozesse zusätzlich durch schriftliche Aufzeichnungen angeregt. Darüber hinaus wird das Erlebte im Erzähl- und Betrachtungsvorgang wieder präsent. Vor allem die letzten Zeilen des Zitats zeigen deutlich die Durchdringung der Gegenwart mit der Vergangenheit, wenn sich in Innstettens Vorstellung die durch die Bilder unterstützten Erinnerungen mit der gegenwärtigen Situation des Betrachtens vermischen. Auf sein Studium der Photographien Effis nach dem Lesen der Briefe von Crampas angewendet, stützt diese Textstelle die Aussage, Innstetten wolle sich auch dabei das früher Geschehene näher bringen. Das damit angestrebte Ziel legt er dar, wenn er feststellt, beim nachträglichen Rekapitulieren und Betrachten der Photographien könne man sich sogar mehr über Geschehnisse oder Sachverhalte der Vergangenheit bewusst machen, als man zur Zeit ihres Ablaufs oder Bestehens mitbekommen habe. So möchte er nachträglich aus den Photographien Effis ebenfalls mehr über die Zeit ihrer Entstehung und die damaligen Gefühle seiner Frau herauslesen, als er damals wahrnehmen konnte. Auch den Gedanken der ›Aneignung‹ des Geschauten, des ›Besitzes‹, spricht Innstetten aus. Für ihn bedeutet Sehen zugleich Beherrschen und Besitzen. Sein Betrachten Effis vor der Entdeckung ihrer Affäre mit Crampas beinhaltet dieses Denken noch im wörtlichen Sinne des Betrachtens seiner Ehefrau als sein Eigentum. Beim darauf folgenden Studium der Photographien zeigt sich dieser Aspekt in Form des Machtverhältnisses zwischen Betrachter und Betrachteter, denn Innstetten verfügt frei über Effi und ihre Zukunft. Die am Wendepunkt der Handlung platzierte explizite Systemreferenz auf Photographien erfüllt damit in Effi Briest vielfältige zentrale Funktionen, denn neben dem bereits bekannten Verweis auf die medial geprägte bzw. medienanaloge Wahrnehmung einer Figur – Innstettens – erweisen sich weitere zeittypische Assoziationen mit dem Medium als bedeutsam für das Verständnis der Textstelle und davon ausgehend die Interpretation der Handlungen Innstettens und seiner Beziehung zur abgebildeten Effi.451 _____________

450 Guschker, Bilderwelt, S. 244. 451 Ähnlich wie in Effi Briest betrachtet auch Graf Adam in Graf Petöfy eine Photographie Franziskas, nachdem er herausgefunden hat, dass sie und Egon etwas füreinander empfin-

5.3. »Effi Briest«

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5.3.4. Die Wirkungskraft von Text und Bild im Zusammenspiel Mit dem im vorangehenden Kapitel erläuterten Zusammenwirken der Crampasschen Briefe mit den Aufnahmen Effis sowie Innstettens Aufzeichnungen mit den Italienbildern liegt in Effi Briest eine enge TextBild-Verbindung beispielsweise in Form des Text-Photographie-Bezugs vor. Schriftlich Fixiertes und Photographien erfüllen ähnliche Funktionen und verstärken und ergänzen einander in ihrer Wirkung. Eine weitere Form bildet das Zusammenspiel des Chinesenbildes und desjenigen der ›Weißen Frau‹ mit den dazugehörigen Spukgeschichten. Text und Bild hängen hierbei verstärkt voneinander ab, denn in diesen Fällen ist die Wirkung des einen Mediums ohne das andere gar nicht möglich. Um Effi in Angst zu versetzen, genügt nicht das Chinesenbildchen allein, erst in Zusammenwirkung mit der mysteriösen Geschichte um das Verschwinden der Nichte oder Enkelin des Kapitäns und den Tod des Chinesen kann es seine Wirkung entfalten. Dass Effi dem Bild tatsächlich eine gewisse Macht zuschreibt, zeigt sich daran, dass allein der Transport des Bildes in die neue Wohnung sie befürchten lässt, es könne auch dort spuken, und dass sie als Gegenmittel darüber nachdenkt, Roswitha »ein Heiligenbild kaufen« (EB, S. 218) und bei sich tragen zu lassen. Eine ähnliche Einschätzung der starken Wirkung von Bildern zeigt Effi bei ihrer Einstufung von Bildern in Reisebüchern, wo sie ebenfalls von Text begleitet sind, als etwas »Gefährliche[s]« und in ihrem Beschluss: »[A]ber vor diesem Augenpulver, das ich hasse, wird ich mich schon hüten« (EB, S. 73). Sogar die Lektüre der Beschreibung eines Gemäldes der ›Weißen Frau‹ inklusive der zugehörigen Geschichte greift Effis Nerven an (vgl. EB, S. 73f), worin sich zusätzlich Fontanes positive Einschätzung der Möglichkeit zeigt, Bilder durch ihre Beschreibung so gut zu repräsentieren, dass der Text deren Wirkung hervorrufen kann. Eine weitere Verknüpfung beider Medien liegt in Gieshüblers Huldigungen an Effi, deren Vollendung sich im Zusammenspiel ausgewählter Bilder und Worte spiegelt. Effis »Wohlgefühl steigerte sich« beim Erhalt seines Briefs »in wundervoller Kanzleihandschrift«, den »ein aufgeklebtes rundes Bildchen« (EB, S. 84f) versiegelt und an Weihnachten schenkt er »ein zierliches, mit allerlei japanischen Bildchen überklebtes _____________ den – hier anhand des Ringes als verräterischem Zeichen anstelle der eindeutigen, schriftlich fixierten Briefe, weshalb er auch während der Photobetrachtung nochmals versuchen kann, sich über seine Erkenntnis zu täuschen. Wie Innstetten ruft er sich hierbei die gemeinsame Vergangenheit in Erinnerung, ebenso die ihm bekannte Franziska, die er in Übereinstimmung mit seinem neuen Wissen über sie bringen muss. Kurz danach geht der Graf in den Freitod, so dass auch hier die Photographie für Wahrheit, versuchte Selbsttäuschung durch die Ausblendung unliebsamer Aspekte der Wirklichkeit und Tod steht (vgl. GP, S. 187).

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5. Analyse der Romane

Morsellenkästchen, dessen eigentlichem Inhalt auch noch ein Zettelchen beigegeben war« (EB, S. 101f). Das darauf stehende Gedicht liest Effi »zwei-, dreimal und freute sich darüber. ›Die Huldigungen eines guten Menschen haben doch etwas besonders Wohltuendes [...]‹ « (EB, S. 102). Ebenso wie beim Chinesen Bild und Spukerzählung gemeinsam negativ auf sie wirken, haben Gieshüblers Bilder und Worte eine starke positive Wirkung auf Effi. Insgesamt scheint in Effi Briest Bildern im Verhältnis zum Text – zumindest in Bezug auf Effi – eine größere Wirkmacht zugesprochen zu werden als in anderen Werken Fontanes, dennoch stehen sie auch hier fast nie für sich allein, sondern meist in Verbindung mit Text. Welche Unterschiede dabei zwischen den Bildarten bestehen, ist Thema des folgenden Kapitels. 5.3.5. Die Gegenüberstellung von Malerei und Photographie Die Arten der Texte, die den gemalten bzw. photographischen Bildern jeweils zur Wirkungsverstärkung zugeordnet werden, unterscheiden sich deutlich voneinander: Das Chinesenbildchen (ebenso wie das es verdoppelnde der weißen Frau) wird von einer Sage, einer fiktiven Spukgeschichte mit unheimlichen, realitätsfremden Elementen begleitet. Besonders betont wird das Fiktive, Realitätsferne dieser Geschichte dadurch, dass es sich beim Chinesenbild um eine aus einer Fibel herausgeschnittene Abbildung handelt, die keinesfalls den tatsächlichen Chinesen aus Kessin abbilden kann, sondern die aus ihrem urprünglichen, vermutlich erzieherischaufklärerischen Originalzusammenhang herausgerissen wurde, um sie nachträglich mit den ins gegensätzliche Nebulöse und Phantastische gehenden Spukelementen aufzuladen. Weiter verstärkt wird diese Zuordnung des Irrationalen zu Gemälden durch Effis Wunsch nach einem machtvollen Heiligenbild als spirituelles Gegenmittel gegen das Chinesenbildchen. Den Photographien Effis (ebenso wie den sie verdoppelnden Italienphotographien) dagegen sind schriftliche Aufzeichnungen mit Anspruch auf Realitätsbezug zur Seite gestellt, denn immerhin ist die Intention der Texte über die Italienreise von vornherein keine andere, als die tatsächlichen Erlebnisse festzuhalten, und auch Crampas’ Briefe werden später als Zeugnisse für tatsächliche Geschehnisse, als Dokumente der Wirklichkeit genutzt. Diese konträre Gegenüberstellung der beiden Textarten findet sich gleichermaßen bei den ihnen jeweils zugeordneten Bildmedien Malerei und Photographie wieder, wenn das kleine, schema-

5.3. »Effi Briest«

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tisch und typenhaft gemalte Fibelbild des Chinesen452 im Gegensatz zu den Photographien nicht für Realität und Wahrheit, sondern für das Ungewisse und Unheimliche steht. Daneben zeigen sich auch gemeinsame Funktionen der Bilder, denn beide stellen eine Verbindung zu einer in der Vergangenheit liegenden Geschichte her: das Chinesenbild zur Geschichte des verstorbenen Chinesen, Effis Photographien zu ihrer früheren Affäre mit Crampas. Diese wird durch die Bilder wieder lebendig und beeinflusst das gegenwärtige Leben: das Chinesenbild, indem es Teil des Spuks ist, der Effi beständig in Angst versetzt, die Photographien, da Innstetten sich die vergangenen Ereignisse mit ihrer Hilfe erneut ins Gedächtnis ruft, verlebendigt und mit einer veränderten Bewertung wieder aneignet, bevor er die Entscheidung trifft, Effi zu verstoßen. Doch wenn auch beide Bildmedien auf vergangene Geschichten verweisen, unterschieden diese sich wiederum wie bereits dargelegt voneinander: Die nur mündlich weitergegebene Geschichte des Chinesen in ihrer Unklarheit und Mystifizierung entspricht der mit künstlerischen Mitteln arbeitenden Malerei, die reale und anhand der Briefe klar nachweisbare Vergangenheit Effis wird dem realistischen Bildmedium der Photographie zugeordnet. Eine weitere Gemeinsamkeit der Bilder liegt in ihrer Verknüpfung mit dem Tod, beim Gemälde rückbezogen auf den verstorbenen Chinesen, bei den Photographien als Vorwegnahme des symbolischen Todes von Abgebildeter und Betrachter. Auch das Element der Kontrolle durch Bilder erscheint bei beiden Bildmedien: Der mit dem Chinesenbild – das zudem aus einer Fibel herausgeschnitten wurde, also von vornherein im Umfeld erzieherischer Maßnahmen angesiedelt ist – verknüpfte Spuk soll Innstetten als Kontrollmittel dienen, und auch Innstettens während der Hochzeitsreise vorangegangene Besuche von Gemäldegalerien dienten bereits Effis Bildung und Erziehung: »Innstetten sucht die Frau, das unbekannte Wesen, durch die Macht des Bildes zu beherrschen«.453 Die Photographien Effis dagegen mustert er mit seinem Kontrollblick, um die Persönlichkeit Effis, die ihm nach der Lektüre der CrampasZettel in einem neuen Licht erscheint, für sich selbst wieder in ein stimmi_____________ 452 Schmitz-Emans, Gespenster, S. 309, interpretiert das Bild zwar als »das unheimliche photographische Bildchen eines toten Chinesen«, doch eine genaue Lektüre des Textes verweist deutlich darauf, dass es sich um ein relativ einfach und schematisch gemaltes Bildchen handelt: »[A]n die Lehne des einen [Binsenstuhls, N.H.] war ein kleines, nur einen halben Finger langes Bildchen geklebt, das einen Chinesen darstellte, blauer Rock mit gelben Pluderhosen und einen flachen Hut auf dem Kopf« (EB, S. 63). Auch Innstettens Kommentar, es sei »aus einer Fibel herausgeschnitten« (EB, S. 64) lässt eher an ein gemaltes Bild denken. 453 Schwan, Die Zwiesprache mit Bildern, S. 172f.

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ges, klares Bild zu bringen. Er will sich damit die vergangenen Ereignisse ebenso wie die der Italienreise auf neue Weise wieder »zu eigen« machen bzw. »voll zu Bewusstsein und Besitz« bringen, um sich selbst und sein Weltbild wieder in den Griff zu bekommen (EB, S. 150). Damit liegt eine gewisse Schnittmenge an Funktionen und Nutzungsmöglichkeiten vor, die beiden Bildarten durch ihren gemeinsamen Bildstatus möglich ist: die Verbindung mit Text, Geschichten und dem Tod, der zeichenhafte Verweis auf die Vergangenheit und die Nutzung als Kontrollmittel. Andere Aspekte hingegen sind jeweils nur einem der beiden Bildmedien zugeordnet, während dem anderen konträre Merkmale zugewiesen werden: Die Photographien stehen in Effi Briest für Wahrheit und Realität (wobei die eingeschränkte Gültigkeit dieses Wahrheitsanspruches bereits diskutiert wurde), das Gemälde des Chinesen (ebenso wie die Verdopplung im Bild der weißen Frau) dagegen für Mystisches, Irreales. 5.3.6. Fazit In Effi Briest wird das Sehen auf vielfältige Weise zur Charakterisierung der Figuren und als Zeichen ihrer sich wandelnden Weltwahrnehmung und Persönlichkeit genutzt. Während in den bisher behandelten Romanen die den Figuren zugeordneten Sehweisen relativ konstant bleiben, fällt hier ein gezielter Einsatz bestimmter Sehweisen an bestimmten Punkten der Handlung sowie eine Veränderung des Sehverhaltens entsprechend der Änderung der Persönlichkeit im Verlauf des Romans auf. So nutzt der ähnlich Gordon als photographischer Beobachter konzipierte Innstetten seine Kontrollblicke auf Effi verstärkt, wenn er sie einer Beziehung mit Crampas verdächtigt, und seine Blicklenkungen werden insbesondere zu Beginn der Ehe mit Effi beschrieben, als sie noch mehrfach ihre eigenen Sehweisen und Auslegungen der Wirklichkeit dagegen zu halten versucht. Später greift er neben Kontrollblicken und Blicklenkungen als weiteres Kontroll- und Machtinstrument zum Bild des Chinesen und dem Spuk. Die dadurch bewirkte Veränderung der Sehweise Effis symbolisiert seinen Einfluss auf ihre Wahrnehmung und Weltsicht: Zu Beginn des Romans zeigt Effi einen vergleichsweise unbeschwerten, freien und träumerischen Blick und erfährt sich noch nicht in erster Linie als Objekt von Blicken, sondern stärker als deren Subjekt. Das Aufzwingen der rationalen und gesellschaftskonformen Sichtweise Innstettens verunsichert sie völlig, so dass sie den eigenen Wahrnehmungen misstraut und gleichzeitig beginnt, sich als Blickobjekt zu erleben, da beide Sehrollen, Sehen und Gesehenwerden, einander in der Gestaltung in Effi Briest auszuschließen scheinen.

5.3. »Effi Briest«

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Sie sieht nun zur Überprüfung ihres Aussehens häufiger in den Spiegel, der dazu dient, ihr gespaltenes Selbstbild offen zu legen, da sie sowohl auf ihr Aussehen als auch auf ihr Inneres die Maßstäbe anderer anwendet und die eigenen verdrängt. Die Fensterblicke in Kessin stehen für die Distanz und Isolation der Protagonistin, für die das Leben zu einer Art ›Bild‹ oder ›Schauspiel‹ wird. Nach der Trennung von Innstetten verschlechtert sich diese begrenzte Aussicht entsprechend ihrem gesellschaftlichen Abstieg, so dass Wahrnehmungsweise und gesellschaftliche Position miteinander verknüpft werden. Erst am Ende in Hohen-Cremmen kann Effi in Blicken auf die stille Natur wieder eine selbstständige Wahrnehmung entwickeln, die jedoch nicht mehr die ursprüngliche Ausrichtung am Leben zeigt, sondern bereits ihre Jenseitsorientierung widerspiegelt. Damit tritt bei dieser Art des Sehens ebenso wie bei den Fensterblicken neben die Unbelebtheit und Distanziertheit die Assoziation mit dem Tod, so dass hier von einem photographieanalogen Sehen gesprochen werden kann. Physiognomische Blicke durchziehen in der Anwendung durch alle Figuren sowie den Erzähler den Roman und werden zu einem zentralen Thema, zumal der Leser ebenso wie die Figuren auf die Entschlüsselung äußerer Zeichen angewiesen ist, um deren Gedanken und Gefühle zu erschließen sowie die gesamte zeichenhaft vermittelte Romanwelt zu entschlüsseln. Fontane nutzt nicht die von Lavater als wissenschaftlich und zuverlässig propagierte Form der Physiognomik im engen Sinne, sondern eine sehr weit gefasste, deren Unzuverlässigkeit und Verfälschung durch die Subjektivität des Urteilenden und Typisierungen er im Text thematisiert. Damit regt er seine Leser nicht nur zur Hinterfragung der gesellschaftlich gängigen Ausübung von Physiognomik an, sondern weist sie zudem auf ihre eigene Interpretationsleistung bei der Lektüre seiner Texte hin. Er nutzt physiognomische Urteile der Figuren übereinander zur Verdeutlichung ihrer Beziehung sowie zu ihrer Charakterisierung: Zum einen enthüllen sie wahrnehmungsverzerrende Eigenschaften der Beurteilenden, zum anderen Eigenheiten der Beurteilten, da sie bei einfachen und offenen Charakteren eher zutreffen als bei komplexeren oder sich verstellenden Figuren. Die mit den Briefen in einer funktionalen Einheit auftretenden Photographien sind mit zeitgenössischen Assoziationen aufgeladen und erlauben Rückschlüsse auf die fragmentarische Wahrnehmungsweise des Betrachters Innstetten und die auf Besitzdenken und Kontrolle beruhende Beziehung zwischen ihm und der Abgebildeten. Zudem geben sie Ansatzpunkte zur Interpretation der Handlungen Innstettens und lassen den Fortgang der Geschichte erahnen, indem sie auf den – symbolischen bzw. physischen – Tod von Betrachter und Abgebildeter vorausdeuten. Die

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Enthüllungen durch die Photographien, von denen Innstetten sich die Erkenntnis der ›Wahrheit‹ über Effis Vergangenheit erhofft, schillern ebenso wie die Einschätzung des Bildmediums durch Fontanes Zeitgenossen zwischen Wahrheit und Unwahrheit, da Effi als Schauspielerin abgebildet ist – zum einen kann Innstetten daher nicht die ›wahre‹ Effi selbst betrachten, zum anderen kommt damit doch ein Stück Wahrheit an den Tag, da dies symbolisiert, wie Effi ihm als ›gute Ehefrau‹ eine Rolle vorspielen musste. Die im 19. Jahrhundert mit Realität und Wirklichkeit assoziierten Photographien sind den als poetisch und imaginativ geltenden Bildern der Laterna magica, die mit Effis Hoffnung auf ein Verblassen ihrer Vergangenheit verbunden sind, gegenübergestellt, als Zeichen der unauslöschbaren Anwesenheit des Vergangenen. Als Verweise auf reale Ereignisse bilden sie auch einen Gegenpol zum Chinesenbild, das der Sphäre des Unheimlichen und Unwirklichen zugeordnet ist, so dass Photographien und andere Bildmedien kontrastiv eingesetzt werden. Daneben sind den verschiedenen Bildmedien auch einige Merkmale gemeinsam, so die Verbindung mit der Vergangenheit, Geschichten und dem Tod und die Nutzung als Kontrollmittel. Text und Bild sind nicht nur im Falle der Photographien und Briefe bzw. Aufzeichnungen im Roman eng miteinander verknüpf und verstärken sich gegenseitig in ihrer Wirkung. Dabei weisen Bilder teilweise eine größere Wirkmacht auf als die dazugehörigen Texte, insbesondere auf Effi.

5.4. »Mathilde Möhring« Das posthum zunächst mit Bearbeitungen Josef Ettlingers veröffentlichte Werk, das erst seit 1969 nach modernen Editionsprinzipien herausgegeben vorliegt, hat bisher die Forschung eher wenig beschäftigt, zumal sein Fragmentcharakter Schwierigkeiten bereitet. Insbesondere die Einschätzung des Tauschs der Geschlechterrollen ist bisher widersprüchlich geblieben, vor allem bei der Bewertung Mathildes, die teilweise als negativ, berechnend und gefühllos, teils dagegen als positive, emanzipierte Frauengestalt eingeschätzt wird.454 Zwiespältig ist auch die Beurteilung ihrer Ver_____________ 454 Vgl. Alan Frederick Bance, Fontane’s ›Mathilde Möhring‹. In: Modern Language Review 69 (1974), S. 127; Günther Mahal, Fontanes ›Mathilde Möhring‹. In: Euphorion 69 (1975), S. 29f, 40; Gunhild Kübler, Theodor Fontanes ›Mathilde Möhring‹. Ein Beispiel frauenperspektivischer Literaturbetrachtung. In: Fontane Blätter 48 (1989), S. 97ff; Eda Sagarra, ›Mathilde Möhring‹. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 681.

5.4. »Mathilde Möhring«

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änderung am Romanende, die von einigen Forschern anerkannt,455 von anderen dagegen als nur oberflächlich eingestuft wird. Im Folgenden sollen diese Fragestellungen anhand der Zuordnung der Bildmedien und Sehweisen bzw. -fähigkeiten zu den Figuren, die auch in diesem Roman bis in die Nebenfiguren durchdacht sind,456 aufgegriffen werden. Gemälde, wie sie in den bisher untersuchten Gesellschaftsromanen eine herausragende Rolle spielen, sind in der unteren Gesellschaftsschicht, in der Mathilde Möhring spielt, nicht zu finden, stattdessen werden Photographien, die den Text einrahmen und an signifikanten Stellen auftreten – zu Beginn, jeweils bei der Einführung der beiden Protagonisten und schließlich am Ende – bedeutsam. Untersucht werden sollen weiterhin neue Aspekte der Sehfähigkeit von Figuren sowie Variationen des engen Text-BildVerhältnisses, welche die bisher vorgefundenen Funktionen und Formen ergänzen. 5.4.1. Der Geschlechterrollentausch in Bildmedium und Sehweise 5.4.1.1. Die kontrastive Charakterisierung durch Bildmedien Traditionell wurde die Photographie aufgrund ihrer ›maskulin‹ konnotierten Assoziationen wie Wissenschaftlichkeit, Nüchternheit und Distanziertheit im zeitgenössischen Denken und Fontanes Werk – so bei Rubehn in L’Adultera – meist Männern zugeordnet. In Mathilde Möhring dagegen wird sie zum Medium einer Frauenfigur, denn Mathilde, deren Name nach einem Kommentar in Cécile ebenso prosaisch und wenig feminin ist wie der Clothildes,457 wird wie diese mit der Photographie assoziiert. Sie ist »[m]ehr Gouvernante und Mutter als Braut«,458 »das Umsichtige, das Fleißige, das Praktische, das paßte zu dem Namen, den sie führte« (MM, S. 421), und auch sie selbst erklärt die »Prosa« (MM, S. 466), die sie Hugo näher bringen möchte, zu ihrem Gebiet. Diesen prosaischen Zügen entsprechend wird bei der Einführung Mathildes auf ihre Photographie _____________ 455 Vgl. Sabine Schmidt, ›fast männlich‹. Zu Genderdiskurs und Rollentausch in Theodor Fontanes ›Mathilde Möhring‹. In: Sabina Becker, ›Weiber weiblich, Männer männlich‹?, S. 231. 456 So grüßt etwa ein Hausmädchen, das »in den Hausflur hinunter [sah]«, während Hugo die Treppen hinaufsteigt, ihn im Vorübergehen »mit einem Gefühl von Überlegenheit« (MM, S. 475). Blick und Charakter entsprechen sich selbst bei dieser Randfigur; beide sind ›von oben herab‹. 457 In Cécile wird der Name Clothilde als »etwas schwer« bewertet, als unpassend »für eine Braut oder Geliebte«, dafür umso »mehr für eine Schwester«, denn »er hat etwas Festes, Solides, Zuverlässiges«. Der einzige Name »von ebenbürtiger Solidität« sei Mathilde (CE, S. 391f). 458 Sagarra, ›Mathilde Möhring‹, S. 684.

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verwiesen und ihr Aussehen zudem in einer für Fontane auffälligen, detaillierten und unbeschönigenden Weise vermittelt,459 die an Beschreibungen der Naturalisten mit ihrem Ideal der photographischen Treue erinnert.460 [D]a hörte sie [Mathilde, N.H.] ganz deutlich, daß einer der Kegelspieler sagte: ›Sie hat ein Gemmengesicht.‹ Von diesem Worte lebte sie seitdem. Wenn sie sich vor den alten Stehspiegel stellte, dessen Mittellinie ihr grad über die Brust lief, stellte sie sich zuletzt immer en profil und fand dann das Wort des Halenseer Kegelschützen bestätigt. Und durfte es auch; sie hatte wirklich ein Gemmengesicht, und auf ihre Photographie hin hätte sich jeder in sie verlieben können, aber mit dem edlen Profil schloß [es] auch ab, die dünnen Lippen, das spärlich angeklebte, aschgraue Haar, das zu klein gebliebne Ohr, daran allerhand zu fehlen schien, alles nahm dem Ganzen jeden sinnlichen Zauber, [...] Ihre Chancen auf Liebe waren nicht groß, wenn sich nicht jemand fand, dem das Profil über alles ging. (MM, S. 421)

Auffällig ist in diesem Abschnitt die im 19. Jahrhundert gängige Verknüpfung zwischen Spiegelbild und Photographie, wie man sie auch in den poetologischen Schriften der poetischen Realisten findet,461 und die darin begründet ist, dass beide die Wirklichkeit inklusive des Hässlichen wiedergeben, sie durch die Wahl einer festgelegten Perspektive jedoch nur ausschnitthaft und nicht in ihrer Gesamtheit zeigen. Mit diesen Eigenschaften verweisen die Medien auf Mathildes insgesamt unschönes Aussehen – sie ist »ganz ohne Reiz« (MM, S. 421) –, das jedoch in einer perspektivisch festgelegten, ausschnitthaften Wahrnehmung ansprechend erscheinen kann. Die Protagonistin betrachtet sich daher am liebsten nur im Profil, um ihr »Gemmengesicht« zu sehen und sich den Anblick und das Eingeständnis ihres an sich unschönen Aussehens zu ersparen. Die Assoziation _____________ 459 »Gegen Fontanes sonstige Gewohnheit beschreibt der überaus ungalante Erzähler in großer Detailfreude die äußere Erscheinung seiner Titelfigur, dazu fast die Hälfte des ersten Kapitels in Anspruch nehmend« (Sagarra, ›Mathilde Möhring‹, S. 681). 460 Diese Beschreibung kann als einer der Gründe für Bance’s, Fontane’s ›Mathilde Möhring‹, S. 123 Feststellung gelten, dass »the Naturalistic tendencies of the novel [...] [are, N.H.] stronger than in almost any other of his works«. Weitere naturalistisch anmutende Elemente sind die Schilderung des niedrigen Standes zusammen mit der Darstellung unschöner Gegenstände und teilweise recht gewöhnlicher Sprache. Fontane ist »von der sezierenden, naturwissenschaftlich-exakten Analyse der Naturalisten gar nicht so weit entfernt«, stellt auch Mahal, Fontanes ›Mathilde Möhring‹, S. 35 fest. Von »einem Stilwillen der Unparteilichkeit und Objektivität [...], der ihn hier am meisten in die Nähe des Flaubertschen Realismus rückt« (Werner Hoffmeister, Theodor Fontanes ›Mathilde Möhring‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 92/Supplement (1973), S. 146), hat Fontane zugleich auch die photographieanaloge Schreibweise übernommen. Der Erzähler befindet sich »in ganz ungewöhnlicher Distanziertheit«, zeigt eine »analytisch-kritische Passion«, stellt »sehr kühl[e]« Beobachtungen an und dringt mit »bohrende[m] Scharfblick [...] tief in die kleine Welt der Möhrings ein[...]« (Dietrich Sommer, Kritisch-realistische Problem- und Charakteranalyse in Fontanes ›Mathilde Möhring‹. In: Fontane Blätter 25 (1983), S. 337). 461 Vgl. Kapitel 3.3.1. der vorliegenden Arbeit.

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Mathildes mit Photographie und Spiegelbild steht damit zusätzlich zur Kennzeichnung als prosaische Figur für ihre eingeschränkte Fähigkeit zur Selbst- und Weltwahrnehmung, die neben der durch häufige Nennung (vgl. MM, S. 421, 427, 428, 431, 438, 451, 454) betonten Profilansicht zusätzlich dadurch unterstrichen wird, dass sie »einen kleinen Fehler am Auge« (MM, S. 438f), einen nüchternen und »prosaischen« »Blechblick« (MM, S. 422) hat. Sie thematisiert sogar selbst die absichtliche Selektivität ihrer Wahrnehmung: »Wir [...] sehen bloß, was wir sehen wollen« (MM, S. 429). Dies wird deutlich in der Theaterszene, wo sie Hugos ablehnendes Verhalten zwar sieht und daraufhin verunsichert wird – »Ob ich mich doch vielleicht irre?« (MM, S. 444f) – diese Zweifel aber direkt durch eine ihr passend scheinende Erklärung unterdrückt und »sich’s aber schließlich doch zum Guten zurecht[legte]«, ein schlechtes als »ein gutes Zeichen« nimmt (MM, S. 444). Damit leugnet sie sich selbst gegenüber ihr unangenehmes Wissen. Ihr »Sehfehler«462 in Bezug auf Hugo besteht darin, dass sie seine Wahrnehmung ihres manipulativen Vorgehens nicht mitbekommt, »sich an Hugos Lebens- und Zukunftspotential [versieht]«,463 selbst wenn sie seine Grenzen zu berücksichtigen versucht (vgl. MM, S. 479), und nur das wahrnimmt, »was für ihr eigenes Fortkommen vom [sic] Belang ist«.464 In ihrer Selbstwahrnehmung zeigt sich die begrenzte Sehfähigkeit darin, dass sie, wenn sich »ein gewisses Mißtrauen [...] in ihren Charme« (MM, S. 421) und das Bewusstsein ihrer mangelnden Reize einschleicht, diese Zweifel nicht wahrhaben will, sondern sich auf ihr gutes Profil besinnt. Dieser nur ausschnitthaften Anerkennung ihres Äußeren entspricht eine ebenso fragmentarische ihres Inneren, die in ihrem Spiegelbild symbolisiert wird: Der ihr Selbstbild reflektierende Spiegel, »dessen Mittellinie ihr grad über die Brust lief« (MM, S. 421), trennt den Kopf (als Ort des Geistes und des Kalküls) und das Herz (als Sitz von Emotionen) voneinander, so wie Mathilde zunächst keinen Zugang zu den Teilen ihrer Persönlichkeit findet, die vom Rationalen und Nüchternen hin zum wärmeren Menschlichen abweichen. Die Beschreibung ihres Spiegelbildes befasst sich ausschließlich mit ihrem Kopf, da sie zu Romanbeginn nur den berechnenden Teil ihrer selbst betrachtet und akzeptiert. Erst später kann sie durch Hugos Einfluss auch ihre emotionale Seite anerkennen. Hugo wird der mit Photographie und Spiegelbild verbundenen Mathilde kontrastiv gegenübergestellt und dementsprechend gleich beim ersten Auftreten in eine Gemäldebetrachtung versunken präsentiert (vgl. MM, _____________ 462 Hoffmeister, Theodor Fontanes ›Mathilde Möhring‹, S. 145. 463 Ebd. 464 Sagarra, ›Mathilde Möhring‹, S. 681.

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S. 422f). Welch ausgeprägte Bedeutung Gemälde für ihn haben, wird dann deutlich, wenn ihn die Abwesenheit einer bestimmten Art von Gemälden – von »Öldruckbilder[n]«, »gegen die er eine tiefe Aversion hatte« (MM, S. 424) – veranlasst, das Zimmer der Möhrings zu mieten. So wird ihm als »ästhetisch fühlenden und mit einer latenten Dichtkraft ausgerüsteten Menschen« (MM, S. 454), der im Vergleich zu Mathilde eine romantischere, verträumtere Gestalt darstellt und mit seiner Begeisterung für Literatur, Theater und Varieté die Sphäre des Künstlerischen repräsentiert, das Bildmedium der Malerei zugeordnet. Sonst mit Assoziationen wie Phantasie und Emotionalität eher als Medium weiblicher Figuren gewählt, wird die Malerei hier zum Bildmedium einer Männerfigur mit im zeitgenössischen Denken als eher ›feminin‹ geltenden Zügen wie Passivität und Verträumtheit, der »alle Attribute wilhelminischer Männlichkeit [fehlen]«.465 Zusätzlich zu dieser Charakterisierung verweist das Bildmedium auch bei Hugo auf seine Weltsicht: Während Mathilde aufgrund ihrer ausschnitthaften, rein rationalen Sichtweise die Realität verfehlt, nimmt er sie durch seine verträumte und schwärmerische Weltsicht nur verschwommen wahr, so wie sie in Gemälden nicht absolut naturgetreu sondern ästhetisiert abgebildet ist, denn »es braucht bloß ein bißchen Mondschein, so verklärt sich [ihm, N.H.] alles« (MM, S. 438). Auf diese Weise wird zwischen beiden Figuren durch die Zuordnung gegensätzlicher Bildarten ein – zumindest anfänglicher – Gegensatz zwischen Poetischem und Prosaischem geschaffen,466 womit Fontane ein für seine Zeit typisches Verfahren der Personencharakterisierung durch die Photographie nutzt, allerdings in Umkehrung der traditionellen Genderzuordnung. Sie diente damaligen Schriftstellern oft dazu, in der Charakterzeichnung erzählter Figuren die überkommene ›Herz‹ vs. ›Kalkül‹-Opposition zu potenzieren, indem der ›kalkulierende‹ Charakter, mit Merkmalen und Einstellungen des ›Photographischen‹ versehen, dem ›künstlerischtiefen‹ Subjekt voller Empfindung und Tugend entgegengestellt wurde.467

Doch eine ganz so einfache Polarisierung nimmt Fontane nicht vor, da zwar Mathilde die Kalkulierende ist, Hugo jedoch nur halbherzige künstlerische Ambitionen hegt und auch emotional keinen besonderen Tiefgang aufweist. Darüber hinaus erfolgt im Verlauf des Textes eine gegenseitige Einflussnahme, die durch die Photographie Hugos am Romanende symbolisiert wird:468 »Von Hugo Großmann wird selten gesprochen, seine _____________ 465 466 467 468

Kübler, Theodor Fontanes ›Mathilde Möhring‹, S. 98. Vgl. Bance, Fontane’s ›Mathilde Möhring‹, S. 130. Plumpe, Der tote Blick, S. 186. Dass Möhrings ›nur‹ eine Photographie von Hugo und kein Porträtgemälde aufhängen, birgt noch einen weiteren symbolischen Gehalt im Verweis auf ihre gesellschaftliche Schicht und Vermögenslage, denn während Gemälde von Familienmitgliedern dem Adel

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Photographie hängt aber mit einer schwarzen Schleife über der Chaiselongue, und zweimal im Jahr kriegt er nach Woldenstein hin einen Kranz« (MM, S. 522). Mathilde hat Hugo so sehr in ihre Richtung gelenkt, dass er ihr ähnlicher wurde, weshalb er nun im ursprünglich ihr zugeordneten Bildmedium repräsentiert werden kann; da er »stärker, ›männlicher‹, tatkräftiger, realistischer«469 wird, wird ihm ein ›realistischeres‹ Bildmedium zugeordnet. Gleichzeitig verdeutlicht die Photographie die umgekehrte Beeinflussung Mathildes durch Hugo, denn indem das Bild an der Wand des Wohnraums immer in ihrem Blickfeld liegt, symbolisiert es seinen fortdauernden und nachhaltigen Einfluss »affektiver Art«470 auf sie. Erst nach Hugos Tod wird Mathilde sich dieses Einflusses bewusst und beginnt, ihr kühl-distanziertes Rechnen und Kalkulieren zu hinterfragen, will nun stattdessen in seinem Sinne »hülfreich sein und für die Runtschen sorgen. Und wenn er das sieht, wird er mir’s danken. Aber er wird’s wohl nicht sehen« (MM, S. 516). Mit Hilfe der Photographie kann Mathilde immerhin die Überlegung anstellen, ob es Hugo nicht doch möglich sei, ihr Handeln zu sehen, da der Photographierte nach zeitgenössischen Vorstellungen den Betrachter anzublicken scheint. Ebenso wie sie sich aus Sparsamkeit zerteilte Zuckerkrümel »als Memento«471 in ein offenes Sekretärfach legt, _____________ vorbehalten waren, wurde die Photographie zum Repräsentationsmedium des Bürgertums, das sich damit Praktiken der höhergestellten Schicht annäherte. Erst nach den 1870er Jahren setzte mit sinkenden Kosten ihre stärkere Verbreitung als Massenphänomen ein, die nun auch unteren Schichten Bildnisse von Familienmitgliedern ermöglichte, weshalb das Medium als demokratisch und fortschrittlich angesehen wurde (vgl. Becker, Literatur im Jahrhundert des Auges, S. 47). Insofern kennzeichnet das demonstrative Aufhängen (»mit einer schwarzen Schleife über der Chaiselongue« (MM, S. 522)) des ursprünglich dem höheren Bürgertum vorbehaltenen Bildmediums durch Mathilde ihren Charakter auf bezeichnende Art und Weise, denn sie versucht, aus ihrer Schicht aufzusteigen und sich dementsprechend das Verhalten und die Gebräuche Bessergestellter anzueignen. – Im Falle der Poggenpuhls zeigt sich an den Bildmedien dagegen umgekehrt der finanzielle Abstieg. Dort heißt es über die »Ahnengalerie des Hauses Poggenpuhl«: »Drei oder vier dieser Bilder waren Photographien in Kabinettformat; die älteren aber gehörten noch der Daguerreotypzeit an und waren so verblichen, daß sie nur bei besonders günstiger Beleuchtung noch auf ihren Kunstwert hin geprüft werden konnten«. Als ältestes Bild tritt schließlich ein »Ölbild« hinzu, das, wenn auch nur »eine Kunstschöpfung dritten oder vierten Ranges, [...] den historisch bedeutendsten Moment aus dem Leben der Familie darstellte« (DP, S. 321). Hier geht die Entwicklung demnach vom alten Gemälde aus besseren Zeiten mit historischem Wert über Daguerreotypien, die immerhin noch einen »Kunstwert« haben, hin zu preiswerten Photographien. Darüber hinaus spiegelt sich in dieser Darstellung auch die im 19. Jahrhundert beginnende Ersetzung von Porträtgemälden durch Photographien. 469 Wittig-Davis, ›Von den anderen…hat man doch mehr‹, S. 222. 470 Elisabeth Strowick, ›Mit dem Bazillus is nicht zu spaßen‹. Fontanes ›Finessen‹ im Zeichen der Infektion. In: Der Deutschunterricht 55/5 (2003), S. 47. 471 Schmidt, ›fast männlich‹, S. 239.

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um an ihre eigene, nüchtern berechnende Art gemahnt zu werden,472 soll auch die Photographie Mathilde durch die Erinnerung an die wärmere, sentimentalere Art des Verstorbenen zur Mahnung dienen und verweist so auf seinen zuvor kaum deutlich gewordenen Einfluss auf die Protagonistin.473 Die Betonung, dass Mathilde beim Antritt ihrer neuen Arbeitsstelle nicht mehr wie bei der Rückkehr nach Berlin ein Fernglas bei sich trägt,474 lässt sich ebenfalls als Anzeichen für eine Änderung der Protagonistin lesen, deren Wahrnehmung und Wesen nun durch den Einfluss Hugos weniger kühl und distanziert sind.475 Neben dem wechselseitigen Einfluss beider Figuren aufeinander476 symbolisiert die Photographie noch einen weiteren Aspekt der Beziehung zwischen Mathilde und Hugo: Am Romanende besitzt Mathilde eine Photographie Hugos auf die gleiche Art, auf die sie zuvor ihn selbst durch die Lenkung seiner Handlungen im übertragenen Sinn ›besessen‹ hat – das Machtverhältnis Mathildes über das Bild spiegelt damit das vorige über Hugo selbst wider. Neben solchen Aussagen über Wahrnehmungsweise und Charakter der Figuren bzw. deren Veränderung im Laufe des Romans enthalten die konträren Bildmedien Photographie und Malerei in ihrer Zuordnung zu den Figuren auch versteckte poetologische Stellungnahmen, worauf die Verwendung der Begriffe ›Verklärung‹ und ›Finessen‹ hinweist, die sonst in poetologischen Texten Fontanes eine wichtige Rolle spielen: Rybinsky deutet im Gespräch mit Hugo über Lyrik an, »es braucht bloß ein bißchen Mondschein, so verklärt sich alles« (MM, S. 438), womit dem mit Malerei _____________ 472 Sie stellt fest: »Da habe ich es immer vor Augen und will dran lernen« (MM, S. 516). 473 Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass Rybinski Hugo um eine Photographie seines verstorbenen Vaters bittet, damit dessen Charakter über seinen Tod hinaus durch die Präsenz oder das Ansehen des Bildes auf den Betrachter übergehe: »Du mußt mir eine Photographie von deinem Vater schenken; den seh ich mir dann an, so vorbildlich« (MM, S. 435). Hugo entgegnet darauf: »Aber Hans, du willst doch nicht auch Burgemeister werden« (ebd.), womit er den Prozess der Einflussnahme eines Toten durch dessen Photographie beschreibt und anerkennt. Fontane selbst schreibt, dass Mathilde »– namentlich unmittelbar nach dem Tod Hugos – etwas von ihrer Prosa verliert und vorübergehend unter einen stillen Einfluß des Toten und seines milden Wesens kommt« (Theodor Fontane, Mathilde Möhring. Roman, mit einem Nachwort hrsg. von Gotthard Erler, München 1995, S. 116). 474 »Sie ging mutig ans Werk, hatte frischere Farben als früher und war gekleidet wie an dem Tage, wo sie von Woldenstein wieder in Berlin eintraf. Nur ohne Krimstecher« (MM, S. 521). 475 Vgl. zur Bedeutung des Fernglases als Symbol für Mathildes Wahrnehmung Kapitel 5.4.1.2. der vorliegenden Arbeit. 476 Die gegenseitige Einflussnahme beider Figuren aufeinander kommt auch darin zur Darstellung, dass Hugo während seiner ersten Krankheit im Zimmer der Möhrings untergebracht ist und Mathilde nach ihrer Rückkehr in seinem alten Zimmer wohnt (vgl. Bance, Fontane’s ›Mathilde Möhring‹, S. 133).

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und einer träumerischen Weltsicht assoziierten Hugo der Begriff der ›Verklärung‹ zugeordnet wird. Seine Weltsicht wird damit dem Prinzip des poetischen Realismus gleichgestellt, der erklärtermaßen ebenfalls eine ›malerische‹ Weltsicht anstrebt. Auch heißt im Text: »In seinem [Hugos, N.H.] ästhetischen Sinn, der sich an Finessen erfreuen konnte, sah er mit einem gewissen künstlerischen Behagen auf die [pädagogische] Methode, nach der Thilde verfuhr« (MM, S. 479), womit zum einen Mathilde mit dem Begriff der ›Finessen‹ ein Verfahren zugeschrieben wird, dessen sich der Autor bei der Gestaltung seiner Romane gern selbst bedient, zum anderen Hugo als wünschenswerter und aufmerksamer Rezipient solcher ›ästhetischen‹ bzw. ›künstlerischen‹ Methoden erscheint. Fontane spielt hier mit den Begrifflichkeiten und Bildmedien, denn der ironisch und eher negativ dargestellte und mit der Malerei verbundene Hugo kann kaum ernsthaft als Symbolfigur für die poetologischen Prinzipien des poetischen Realismus gewertet werden, sondern ist in seiner Überzeichnung und Realitätsferne eher als übertriebener Romantiker oder Idealist zu werten. Die mit der Photographie verbundene Mathilde dagegen wäre in ihrer Prosa und Berechnung eher naturalistischen Prinzipien zuzuordnen. Dass am Ende beide Figuren einander beeinflusst haben und die Bildmedien ebenfalls vermischt wurden, könnte daher als Vorstellung einer gegenseitigen Beeinflussung beider poetologischen Prinzipien, der Romantik und des Naturalismus, gelten, die schließlich zum poetischen Realismus führen würde. Dabei scheint aber der Tod Hugos und das Überleben Mathildes, die auch gegen Romanende trotz etwas größerer emotionaler Wärme deutlich stärker einer naturalistischen Weltsicht zugeneigt ist, dafür zu sprechen, dass sich Fontane gegen Ende seines Romanschaffens doch mehr an einer naturalistischen Schreibweise ausrichtet, wie sie auch im Roman selbst vorliegt, und die Prinzipien eines verklärenden poetischen Realismus für überholt erklärt. 5.4.1.2. Seh- und Wahrnehmungsweisen Auch in Bezug auf die traditionelle Zuschreibung von Sehweisen, nach der weibliche Figuren wenig sehen, während Weitblicke und Beobachtungsgabe männlichen Figuren vorbehalten sind, sind in Mathilde Möhring die Geschlechterrollen vertauscht: Hugo ist als wenig sehende Figur, Mathilde dagegen als gute Beobachterin gestaltet, wobei Seh-, Wahrneh-

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5. Analyse der Romane

mungs- und Erkenntnisfähigkeit der Figuren auch in diesem Werk zusammenhängen.477 Noch bevor Mathildes Name bekannt ist, wird sie – wie Gordon in Cécile – als gute Beobachterin eingeführt, die »scharfe Augen und viel Menschenkenntnis« (MM, S. 6)478 besitzt. Sie mustert andere Personen genau, um sich deren Wesen zu erschließen und zukünftige Handlungswiesen daraus ableiten zu können, schließt also vom Gesehenen in Gegensatz zu den meisten bisher behandelten Figuren nicht auf Vergangenes, sondern auf Zukünftiges.479 Ihre Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen empfindet sie als unumstößliche Tatsachen und gibt sie mit großer Sicherheit auch als solche aus480 – nicht ganz zu Unrecht, denn im Text wird nicht nur durch den weiteren Verlauf oft implizit gezeigt, dass Mathildes Beobachtungen richtig sind, sondern sogar formuliert: »Mathilde behielt recht« (MM, S. 426) und »alles kam genauso, wie Thilde vorausgesagt hatte« (MM, S. 489). Ihre scharfe, distanziert registrierende Beobachtungsgabe ist untrennbar mit ihrer nüchternen, berechnenden Art verbunden und wird durch den Vergleich der Protagonistin mit einem Reporter als ›mechanisch‹ oder ›apparathaft‹ gekennzeichnet: »[D]ie Reporter sind Maschinen und folgen bloß mit Ohr und Hand« (MM, _____________ 477 Im Text wird diese Verbindung in einer Anweisung zum Umgang mit dem erkrankten Hugo ausgesprochen, welche die das Sehen beeinflussenden Lichtverhältnisse und den geistigen Zustand gleichgesetzt: » ›Immer in Dämmer‹, sagte der Doktor, ›am besten ist es, wenn er auch in einem geistigen Dämmer bleibt‹ « (MM, S. 452). Auch darin, dass Mathilde viele ihrer Sätze mit: »Sieh« einleitet, und dies teils tatsächlich als Sehanweisung meint, teils im Sinne von ›Einsehen‹ oder ›Begreifen‹, klingt der Zusammenhang zwischen Sehen und Erkennen an (vgl. MM, S. 428, 435, 443, 471, 472, 473, 480, 484 u.a.). 478 Der hier festgestellte Zusammenhang zwischen Menschenkenntnis und Beobachtung findet sich auch in Effi Briest in folgender Aussage Effis wieder: »Ihr Offiziere seid keine guten Menschenkenner, die jungen gewiss nicht. Ihr guckt euch immer nur selber an oder eure Rekruten, und die von der Kavallerie haben auch noch ihre Pferde. Die wissen nun vollends nichts« (EB, S. 202). Der Blick und die damit verbundene Menschenkenntnis lassen sich durch Seherfahrungen – also etwa die Beobachtung möglichst vieler und verschiedener Menschen – schulen, ähnlich dem in den Wanderungen beschriebenen Prozess, bei dem sich die Landschaftswahrnehmung durch wiederholte und vielfätige Naturbetrachtung ändert. 479 Symbolisch für diese Vorgehensweise der Vorausdeutung durch Bilder oder die äußere Erscheinung ist das Bleigießen an Silvester (vgl. MM, S. 469). 480 Schon nach dem ersten Anblick glaubt Mathilde, mit völliger Sicherheit den Charakter des zukünftigen Mieters und seine Handlungsweisen zu kennen. Als ihre Mutter sich darüber wundert, stellt Mathilde fest: »Du siehst auch gar nichts, Mutter. Hast du denn nicht seine Augen gesehen? Und den schwarzen Vollbart und or’ntlich ein bisschen krauss. So viel musst du doch wissen, mit solchen ist nie was los« (MM, S. 426). Ähnlich verläuft der Dialog auch an folgender Stelle: » ›Ja, du bist immer so sicher, Thilde. Woraus willst du wissen, daß er bleibt?‹/ ›Ach, Mutter, du siehst auch gar nichts. Wo der mal sitzt, da sitzt er. [...]‹ « (MM, S. 429).

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S. 502).481 Auch der durch mehrmalige Nennung betonte »Krimstecher« (MM, S. 513, 514, 521),482 den sie bei ihrer Heimkehr nach dem Tod Hugos bei sich trägt, symbolisiert diese distanzierte Wahrnehmungshaltung, da das Glas die Sehende vom Betrachteten abtrennt. Zudem verschwimmt das in der Nähe Befindliche, während die Aufmerksamkeit sich auf die Ferne richtet, was zum einen als weiterer Hinweis auf ihre Distanziertheit zu verstehen ist, zum anderen dafür steht, dass ihre Wahrnehmung und Berechnungen sich von der unbefriedigenden Gegenwart weg unablässig auf eine bessere Zukunft richten. Gleichzeitig ist durch das Fernglas eine in ihrer Schärfe und Detailliertheit photographieanaloge Wahrnehmung möglich, wie sie die »scharfäugig[e]«483 Mathilde kennzeichnet. Ein Beispiel dafür bietet ihre Musterung von Hugos Zimmer, bei der sie jede Kleinigkeit genau untersucht und dabei an die Wahrnehmung der Details Vermutungen über den Untermieter anknüpft: Auf der Kommode lagen noch die Schnupftücher und die wollenen Strümpfe [...], alle ganz gleich gezeichnet und auch die Strümpfe und nicht mit Wolle gezeichnet, alle mit rotem Zeichengarn. Er muß eine sehr ordentliche Mutter haben oder Schwester, denn ein andrer macht es nicht so genau. Und die Stiefel auch in Ordnung. Er muß aus einer guten Ledergegend sein, das sieht man an allem [...]. Und die Bücher alle sehr gut eingebunden, fast zu gut, und sehen auch alle so sonntäglich aus, als ob sie nicht viel gebraucht wären, nur sein Schiller steckt voller Lesezeichen und Eselsohren. Du glaubst gar nicht, was er da alles hineingelegt hat, Briefmarkenränder und Zwirnsfaden und abgerissene Kalenderblätter. Und dann hat er englische Bücher dastehn, das heißt übersetzte, die muß er noch mehr gelesen haben, da sind so viele Ausrufungszeichen und Kaffeeflecke, und an mancher Stelle steht ›famos‹ oder ›großartig‹ oder irgend so was. (MM, S. 432)

Die Beziehung Mathildes zu Hugo beginnt dementsprechend damit, dass sie ihn genau betrachtet, um ihn einschätzen zu können: »Mathilde und der schöne Mann begrüßten sich und musterten einander, sie eindringlicher, er oberflächlich« (MM, S. 424). Hugo wird Mathilde als schlechterer Beobachter gegenübergestellt, während sie ihn auf Anhieb durchschaut. Weiter wird sie als Beobachterfigur gekennzeichnet, indem Hugo dem _____________ 481 Der Graf nimmt zwar seinen Vergleich Mathildes mit Reportern wieder zurück, dennoch verbindet er sie zunächst mit einer solchen Wahrnehmung. Die Assoziation dieser maschinenhaften Wahrnehmung und Textproduktion, bei der eine geistige Tätigkeit oder tiefere Durchdringung der Materie fehlt, mit Reportern enthält auch Fontanes folgender Tagebucheintrag vom 07.07.1857: »Dann u. wann avanciert ein Reporter zum wirklichen Schriftsteller, von der Maschine zu geistigem Schaffen, aber es kommt nur selten vor« (GBA, Tage- und Reisetagebücher 1, S. 252f). 482 In MM, S. 513, wird er zweimal erwähnt, einmal als »Krimstecher« und einmal als »Opernglas«. Gemeint ist in beiden Fällen ein Fernglas. 483 Hugo Aust, ›Mathilde Möhring‹. Die Kunst des Rechnens. In: Christian Grawe (Hrsg.), Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 1995, S. 280f.

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Leser größtenteils aus ihrer Perspektive präsentiert wird – in Umkehrung der Genderverhältnisse in Cécile, wo die Protagonistin aus Sicht Gordons dargestellt ist. Für Mathilde ist Hugo ein Typus, der mit bestimmten, ›lesbaren‹ Zeichen versehen ist, die sie nur zu entschlüsseln braucht,484 so dass in Mathilde Möhring im Unterschied zur sonst typischen Genderkonstellation ein Mann – und zwar »ein sehr schöner Mann« (MM, S. 488, vgl. a. MM, S. 424), während es sonst immer schöne Frauen sind – zum gelesenen und typisierten Objekt von Beobachtungen wird, während »die Titelheldin erstmals primär nicht durch die Perspektive eines männlichen Romanprotagonisten gesehen«485 wird. Anstatt sich von anderen eine Sichtweise ihrer selbst zudiktieren zu lassen, wählt Mathilde ihre eigene486 und hat ein eigenes, häufig durch Spiegelblicke bestätigtes Selbstbild (vgl. MM, S. 421, 427, 431) – wenn dies auch von außen, durch die Sicht eines Mannes auf sie, angeregt ist (vgl. MM, S. 421). Mathilde erfüllt nicht die Erwartungen anderer und eignet sich »nicht als Projektionsfläche für männliche Wunschträume«,487 weshalb »[v]on Männern entworfene Weiblichkeitsbilder [...] nicht mehr durch die am Romangeschehen beteiligten Figuren, sondern nur mehr als Zitat und bezeichnenderweise in Form von ›Bildern‹ präsent«488 sind, wie dem Porträt der kaum bekleideten Dame im Barockrahmen (vgl. MM, S. 422) und dem Plakat der »Tochter der Luft« (MM, S. 476) im leichten Kostüm. Darin, dass »die Kontrastierung solcher Imagines mit der Realität Mathildes ausgespart«489 werde, weil diese ›nur‹ in Bildern vorkommen, lässt sich Sabina Becker allerdings nicht zustimmen. Gerade dadurch, dass diese beiden Frauenfiguren in gemalten Bildern vorkommen, werden sie zu Kontrastfiguren der unattraktiven Mathilde, die mit der Photographie als Repräsentationsmedium prosaischer Figuren verbunden ist. Sie selbst allerdings muss sich tatsächlich nicht mit diesen Bildern auseinandersetzen, da nicht sie, sondern nur Hugo die Abbildungen betrachtet und dieser nicht die Anforderung an Mathilde _____________ 484 Aust, ›Mathilde Möhring‹, S. 280, schreibt: »Typische Merkmale sind Zeichen; sie zu sehen heißt ihre Sprache zu verstehen, heißt Menschenkenntnis zu haben [...]. Hugo gilt demnach [...] als ›so einer‹ [...], der [...] ›lesbar‹ erscheint«. 485 Sabina Becker, Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Theodor Fontanes Roman ›Mathilde Möhring‹. Versuch einer Neubewertung. In: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 10 (2000), S. 311. 486 Dies stellt auch Becker, Aufbruch ins 20. Jahrhundert, S. 311, fest: »Ging es ihm [Fontane, N.H.] in den vorangegangenen Romanen primär um fehlende weibliche Autonomie und Emanzipiertheit, um die Darstellung der Differenz [...] zwischen Fremdbild und Selbstbild, d. h. um die Diskrepanz zwischen männlichen Erwartungen und weiblichem Selbstverständnis, zwischen männlicher Imagination bzw. ›imaginierter Weiblichkeit‹ [...] und der Realität von Frauen, so bleibt in Mathilde Möhring ein traditionelles, von männlichen Romanprotagonisten imaginiertes Frauenbild ausgespart«. 487 Schmidt, ›fast männlich‹, S. 235. 488 Becker, Aufbruch ins 20. Jahrhundert, S. 313. 489 Ebd.

5.4. »Mathilde Möhring«

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stellt, diesen Bildern zu entsprechen.490 Ganz im Gegenteil fügt sich Hugo den Rollenvorstellungen seiner Frau – die ihm jedoch nicht durch Bilder nahe gelegt werden. Er beugt sich auch ihrer Kontrolle, die sie wie Innstetten durch das Sehen (bzw. ihr dadurch erlangtes Wissen) und Blicklenkungen ausübt, wie im Weiteren in diesem Kapitel dargestellt wird. Mit der Übernahme dieser sonst maskulin konnotierten, aktiven Sehrollen – photographischer Musterung, kontrollierender Blicklenkung und Rollenzuschreibung auf andere – geht ähnlich wie bei Rosa in Cécile einher, dass die unschön anzusehende Protagonistin selbst nicht zum Objekt begehrlicher männlicher Blicke wird. Wie in Effi Briest491 zeigt sich auch hier, dass die Rolle als Sehende/r und als Gesehene/r sich auszuschließen scheinen. Doch bedeutet dies im Falle Mathildes nicht mehr wie bei Rosa, dass sie für Männer gänzlich unattraktiv ist. So wie die zeitgenössische Kunst den aktiven Blick von Frauenfiguren positiv wertete492 und Fontane sich privat fasziniert von selbstbewussten Frauen zeigte,493 die durch Blicke dominieren, findet auch Mathilde im Text nicht trotz, sondern wegen ihrer forschen Art und Beobachtungsgabe Bewunderer, so dass hier eine deutlich modernere Position bezogen wird als noch in Cécile: Die Männerfiguren nehmen zwar durchgehend wahr, dass Mathilde nur in der Profilansicht schön ist, dennoch zeigen sie sich teils von ihrer Persönlichkeit beeindruckt, nehmen also die äußere Schönheit nicht mehr als ausschließliches Maß weiblicher Attraktivität, sondern erkennen auch andere Werte an: Rechnungsrat Schultze etwa stellt »den Möhrings überhaupt ein glänzendes Zeugnis aus[...]« und äußert positiv: »immer fleißig und grüßt sehr artig. Ein sehr gebildetes Mädchen« (MM, S. 420). Hugo heiratet Mathilde zwar teils von ihr geblendet, teils aber durchaus im Bewusstsein ihrer durchdachten Vorgehensweise, da er sieht, dass solch eine Ehefrau ihm nützlich sein kann. Für den Grafen ist sie schließlich sogar »[e]ine charmante Frau, kluge Frau, gar nicht ängstlich. Haben alles gesehn« (MM, S. 505) – er schätzt also an ihr explizit die gute Beobachtungsgabe –, weshalb er ihr nach Hugos Tod »eine Stellung als Hausdame« (MM, S. 512) anbietet. Welche Bedeutung Mathilde selbst ihrer guten Sehfähigkeit und der Möglichkeit zu ungestörter Beobachtung beimisst, zeigt sich daran, dass _____________ 490 Völlig unbeeinflusst von äußeren Frauenbildern und dem Wunsch, Hugo zu gefallen und einen schönen Anblick zu bieten, ist Mathilde allerdings doch nicht, zumindest nicht mehr während der Zeit in Woldenstein: Einmal heißt es, dass sie »merkwürdig gut aussah und sich ihm in einem neuen Kleide präsentierte« (MM, S. 475), später zeigt sich in ihrem Verhalten darin »ein kleiner Unterschied, daß sie sich zu einer gewissen Koketterie bequemte und auf Hugo einen gewissen Frauenreiz ausüben wollte« (MM, S. 500). 491 Vgl. Kapitel 5.3.1. der vorliegenden Arbeit. 492 Vgl. Kapitel 2.1. der vorliegenden Arbeit. 493 Vgl. Kapitel 5.3.1.2. der vorliegenden Arbeit.

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5. Analyse der Romane

sie ihre Beobachtungsgabe in Gesprächen mit der Mutter vielfach betont, einen Gegenstand verrückt, um besser sehen zu können, den Inhalt einer Schachtel ausschüttet, »damit man einen besseren Überblick hatte« (MM, S. 443), in einer Wohnung lebt, die so eingerichtet ist, »daß man eigentlich alles sehn muß« (MM, S. 464) und Hugo empfiehlt, er solle »immer auf dem Auskiek [sein, N.H.], immer sehen, was so dem Ganzen zugute kommt« (MM, S. 495). Um ihr Umfeld besser im Blick zu haben, greift sie zudem auf optische Hilfsmittel wie das Fernglas oder einen »Fensterspiegel« (MM, S. 507) zurück. Die Betrachtung von Hugos Büchern liefert ihr den »Beweis«, ob er studiert hat, und sie kann an ihnen »genau kontrollieren, was ihm gefallen oder seine Zweifel geweckt hatte« (MM, S. 439). Über seine Blicke gewinnt sie – wie Innstetten über die Effis – im Verlauf des Romans zunehmend Kontrolle, denn sie ist sich der starken Wirkung visueller Eindrücke auf Hugo bewusst.494 Deshalb plant sie auch in ihrem »pädagogische[n] Verfahren« (MM, S. 479) genau ein, was er wann sehen darf und was nicht. Kurz nach seinem Einzug gelingt es Mathilde noch nicht, Hugos Blick zu beeinflussen, wenn er beim Theaterbesuch trotz seines Versprechens nur ein einziges Mal zu ihr hin sieht (vgl. MM, S. 442, 444). Sobald sie später von seiner Abneigung gegen den Anblick der Haushaltshilfe weiß, sorgt sie dafür, »daß er die Runtschen nich zu sehn kriegt« (MM, S. 449) und veranlasst explizit seinetwegen, dass diese sich wenigstens besser kleidet (vgl. MM, S. 448). Auch von Mathilde selbst bekommt er nur das zu sehen, was er sehen soll, sie zeigt sich immer in »only one dimension, a fact expressed in visual correspondence by her Gemmengesicht, the noted profile, the one side of herself she takes care to show to the world”.495 So sollen die Teile ihres Lebens, die Hugo stören könnten, seinem Blickfeld und seinem Bewusstsein fern bleiben. Dabei zeigt sie Hugo gerade die Seiten ihrer selbst bzw. spielt sie ihm teils auch nur vor, die sie vor sich selbst verbirgt – menschlich-wärmere, weichere –, während sie ihm umgekehrt gerade die Aspekte verbirgt, die ihr selbst wichtig sind – das Kühl-Berechende, Pragmatische. Dadurch sieht der Leser, dem sowohl ihre eigene als auch Hugos Sichtweise geschildert wird, sie ebenfalls aus verschiedenen, konträren Perspektiven und wird verstärkt auf das Verfälschende dieser ausschnitthaften Wahrnehmung und Präsentation Mathildes aufmerksam. Auch Hugos Reaktionen auf ihm zugedachte Wahrnehmungen kalkuliert sie ein: »Er sieht dann, dass wir ihm unser Bestes geben, und wie ich ihn kenne, wird ihn das rühren« (MM, S. 452). Die Wahrnehmungssteuerung gelingt, denn Hugo reagiert _____________ 494 Das zeigt ihre Feststellung: »[W]enn er was Häßliches sieht, dann schlägt es [sein Herz, N.H.] besser [...]. [W]er so furchtbar gegen das Häßliche ist, der kommt auch zu Kräften, wenn er was sehr Hübsches sieht« (MM, S. 471). 495 Bance, Fontane’s ›Mathilde Möhring‹, S. 126.

5.4. »Mathilde Möhring«

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auf ihre Verstellungen hin tatsächlich wie geplant (vgl. MM, S. 456, 467) und übernimmt größtenteils das Bild Mathildes, das sie ihm präsentiert, was etwa in seinem falschen Urteil: »[A]lles an ihr ist so mädchenhaft« (MM, S. 456) zum Ausdruck kommt oder darin, dass er am Sterbebett in ihr »nichts als die rührige, kräftige Natur, die sein Leben bestimmt und das bisschen, was er war, durch ihre Kraft und Umsicht aus ihm gemacht hatte« (MM, S. 510), sieht. Dieser Prozess der Blicksteuerung symbolisiert die von Hugos gesamtem Leben und nimmt sie vorweg. Als er die Masern hat, wodurch er völlig unter Mathildes Einfluss gerät, warnt der Arzt dementsprechend vor einer drohenden Blindheit Hugos: »[D]er kleinste Fehler, und es wirft sich auf die Ohren oder, wenn er zu früh Licht kriegt, auf die Augen, und dann is er blind« (MM, S. 450). Nach der Krankheit hat Mathilde fast komplett die Kontrolle über seine Wahrnehmung gewonnen, denn bei der Verlobung weigert sie sich, mit Hugo durchs Fenster den Mond anzusehen und entzieht auch ihm den Ausblick, indem sie das Rouleau herablässt und ihn wegführt, um gegen seine romantischverträumte Seite anzugehen: »Ach, Herr Großmann, der Mond ist nichts für Sie« (MM, S. 455). Ebenso verweigert sie ihm später den seiner Natur entsprechenden Blick auf die »Luftkünstlerin«: »Ich sehe gern so was [...]. Wenn ich solche schöne Person durch die Luft fliegen sehe, bin ich wie benommen und eigentlich beinah glücklich« (MM, S. 474). Doch es gelingt Mathilde nicht, Hugos Wahrnehmungsfähigkeit komplett richtig einzuschätzen und zu beeinflussen, ihr Urteil über seine mangelnde Sehfähigkeit trifft nicht in vollem Ausmaß zu: »Weil du die Augen nicht aufmachst [...]. Du bist immer wie im Traum, Hugo« (MM, S. 493). Dies stimmt zwar insofern, als Hugo »nicht in der ›realen‹ Welt lebt, sondern in der Welt des schönen Scheins, der Literatur, des Theaters«496 und ein ›Träumer‹ ist, den sie teilweise über ihr wirkliches Wesen täuschen kann, aber sie unterschätzt, dass er dennoch sieht, wie sie mit ihm verfährt, es jedoch zulässt.497 Hugo weiß: »[D]abei hat mich Thilde in Händen; sie denkt, ich merke es nicht, aber ich merke es recht gut. Ich laß es gehen, weil ich es so am besten finde« (MM, S. 475). Hugo hat ein zutreffendes Selbstbild – »Seine Beurteilung seiner selbst war richtig« (MM, S. 454) – und ist anfangs noch wahrnehmungsfähig genug, um festzustellen, Thilde sei »einfach eine komische Figur« (MM, S. 439). Auch nach seiner Krankheit weiß er immer noch, dass »Thilde, so viel sah er wohl, auf Geburtsstolz verzichten mußte« (MM, S. 454), direkt im Anschluss an diese Beobachtungen jedoch hält er sie auf ihre Vorspielungen hin für ›mädchenhaft‹. Er schätzt Mathildes Wesen demnach _____________ 496 Sagarra, ›Mathilde Möhring‹, S. 687f. 497 Vgl. ebd., S. 685.

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5. Analyse der Romane

zunächst richtig ein, lässt sich aber immer wieder durch ihre Vorspielungen täuschen: »Und dachte, du wärest immer nur für Pflicht und Ordnung und Stundehalten [...]. Und nun sehe ich, dass ich eine heitre, lebenslustige Braut habe« (MM, S. 466). Später allerdings weiß er wieder »Thilde hat nichts Verführerisches. [...] Sie hat was Herbes, aber das kann angelegte Rüstung sein« (MM, S. 474). Man ginge zu weit, wollte man seine Vorgehensweisen und Beobachtungsgabe denjenigen Mathildes gleichstellen, wie Sabina Becker, die schreibt, »daß der männliche Romanprotagonist Hugo Großmann im gleichen Maße taktiert, strategisch denkt, plant, handelt«498 wie Mathilde. Während diese beinahe immer klar sieht – abgesehen davon, dass sie nicht mitbekommt, wie viel Hugo seinerseits wahrnimmt – und mit scharfen Augen und Fernglas assoziiert wird, schwankt die Zuschreibung von Seh- und Erkenntnisfähigkeit bei Hugo ständig. Auch wenn es einmal heißt, dass er gut sieht (vgl. MM, S. 491) oder mehr als gedacht, übersieht er doch viele Aspekte Mathildes, ist durch die Krankheit in Gefahr, zu erblinden, sieht »so genierlich vor sich hin« (MM, S. 464) und hat »den zögernden Blick des bequemlichen Mannes«.499 Zwar mag er die Methode Mathildes sehen, doch er erkennt nicht deren gesamte Tragweite, in der sich das berechnende Wesen und die Pläne Mathildes zeigen, sondern beobachtet sie eher als ästhetisch interessantes Phänomen.500 Die Untersuchung des Sehens der Figuren zeigt damit neben der Umkehrung der Zuordnung von Seh- zu Geschlechterrollen, dass sowohl das bereits von Becker angegriffene Urteil, Hugo sei »ein ›fremdbestimmtes‹ Opfer Mathildes«,501 als auch die Gegenposition, er sei Mathilde ebenbürtig, zu weit gehen, sondern dass eine angemessene Einordnung in der Mitte zwischen diesen beiden Positionen liegt. 5.4.2. Sozialer Stand und Sehfähigkeit In seinem Gespräch mit Mathilde stellt Graf Goschin über beider gegensätzliche Beurteilung Berlins fest: »[D]as macht die Stelle, wo man steht, von der aus man sieht« (MM, S. 504), was Mathilde als Anspielung auf die gesellschaftliche Stellung wertet. Auch wenn der Graf sie dahingehend korrigiert, dass er tatsächlich den lokalen Standort meine, wird mit ihrer Auslegung eine Verbindung zwischen Wahrnehmungsfähigkeit und sozia_____________ 498 Becker, Aufbruch ins 20. Jahrhundert, S. 301. 499 Sagarra, ›Mathilde Möhring‹, S. 682. 500 »In seinem ästhetischen Sinn, der sich an Finessen erfreuen konnte, sah er mit einem künstlerischen Behagen auf die Methode, nach der Thilde verfuhr« (MM, S. 479). 501 Becker, Aufbruch ins 20. Jahrhundert, S. 303.

5.4. »Mathilde Möhring«

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lem Stand angesprochen, die das Werk durchzieht. Sie beginnt bei der alten Runtschen aus der untersten Schicht, die von Mathilde zu den »kleinen Leute[n]« (MM, S. 473) gezählt wird, und deren Einäugigkeit und schlechte Sicht als bezeichnende Merkmale häufig thematisiert werden – etwa mit »sie rennt immer gegen, weil sie nich sehen kann« (MM, S. 485, vgl. a. MM, S. 447, 448, 461). An zweiter Stelle steht Mathildes Mutter, die immer in Angst davor lebt, aus dem Kleinbürgertum auf die Stufe der Runtschen hinab zu sinken. Sie sieht zwar besser als diese, aber schlechter als ihre Tochter, was einhergeht mit einer weniger zutreffenden Beurteilung des Gesehenen (vgl. MM, S. 426, 429, 430, 461f, 487). Auf der nächsten Stufe der sozialen Leiter befindet sich Mathilde selbst, die genaue Beobachterin, die »klarsah in allem« (MM, S. 465), und welcher der gesellschaftliche Aufstieg durch Heirat gelingt. Es folgt Hauswirt Schultze, dessen Stellung durch finanzielle Spekulationen über derjenigen der Möhrings liegt und der vom Fenster aus die Vorgänge in der Umgebung mit »skeptisch-beobachtenden Augen«502 im Blick behält (vgl. MM, S. 420, 475) und »sich seine Leute ordentlich an[sieht]« (MM, S. 461). Den höchsten Rang nimmt schließlich Graf Goschin ein, der sich durch eine extrem gute Wahrnehmungsfähigkeit und zutreffende Deutungen des Gesehenen auszeichnet, weshalb seine Augen stellvertretend für seine Sehweise als »listig« beschrieben werden. Er sieht mehr als jede andere Figur, selbst als Mathilde, deren physiognomikartige Vorgehensweise, vom Äußeren einer Person auf ihren Charakter oder ihre Zukunft zu schließen, er teilt: »Als er Hugo mit seinen listigen, etwas blutunterlaufnen Augen aber ansah, kam ihm doch ein Zweifel, ob Punsch hier Allheilmittel sei«, und so äußert er: » ›Woldenstein kann sich nach einem neuen Burgemeister umsehn.‹/ Die Landrätin lachte. ›Bei Ihnen draußen gedeiht das Zweite Gesicht.‹/ ›Nein. Aber ich sehe gut‹ « (MM, S. 506). Hugo, der vom Stand her zwischen Schultze und dem Graf einzuordnen wäre, fällt mit seiner eher schlechten Sehfähigkeit aus dieser Reihe heraus, dennoch ist auch bei ihm die Sehfähigkeit mit dem Stand verbunden, denn als er durch seine Krankheit unter den Einfluss Mathildes gerät und damit in Gefahr, aus der gehobenen Schicht des Bürgertums abzusinken, warnt der Arzt vor drohender Blindheit (vgl. MM, S. 450). In ähnlicher Weise verringert sich später nach seinem Tod kurz Mathildes Sehfähigkeit, wenn sie eine halbe Stunde sinnierend »auf den immer dunkler werdenden Marktplatz [...] hinaus[...]starrt« (MM, S. 511) anstatt wie sonst alles genau zu beobachten, was als Anzeichen für ihren bevorstehenden sozialen Abstieg gewertet werden kann. _____________ 502 Mahal, Fontanes ›Mathilde Möhring‹, S. 24.

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5. Analyse der Romane

Diese Zuordnung unterschiedlicher Grade an Sehfähigkeit zu verschiedenen gesellschaftlichen Schichten503 als Symbol der Wahrnehmungsfähigkeit mag dadurch begründet sein, dass sich Mitglieder niedrigerer Schichten in sozial und lokal eingeschränkteren Kreisen bewegen und daher weniger von der Welt sehen und begreifen können als besser gestellte Figuren, die weiter herumgekommen sind – entsprechend Fontanes Einschätzung, dass viele Reisen und Gemäldebetrachtungen die Sehfähigkeit schulen.504 5.4.3. Produktion und Rezeption von Texten und Bildern In Mathilde Möhring nimmt die enge Text-Bild-Verbindung die Form einer Verknüpfung ähnlicher Grade von Sehfähigkeit (als Fähigkeit, Bilder bzw. bildhafte visuelle Eindrücke aufzunehmen) und Sprach- bzw. Hörfähigkeit (als Fähigkeit, Texte zu produzieren oder rezipieren) der Figuren an, wird also von der Ebene der Medien selbst auf deren Produktion und Rezeption verlagert. So wird Hugo sowohl in Bezug auf die Qualität seiner visuellen Wahrnehmungs- als auch die seiner sprachlichen Ausdrucksfähigkeit ambivalent dargestellt. Einerseits sieht er schlecht, andererseits nimmt er an manchen Passagen doch mehr wahr, als man – insbesondere Mathilde – von ihm erwartet hätte.505 Ebenso spricht er meist nur wenig und scheint nicht gut mit Worten umgehen zu können, hält dann aber an zwei Stellen – bei der Verlobung und mit der Einführungsansprache als Bürgermeister – plötzlich lange, gut konstruierte Reden. Diese schwankende Zuschreibung von widersprüchlich scheinenden Eigenschaften lässt Hugos ungefestigten Charakter erkennen. Mathilde dagegen ist ebenso kontinuierlich der Sprache mächtig – selbst wenn sie dabei teilweise auf Sprichwörter zurückgreift anstatt ihre eigenen Gedanken auf individuelle Weise zu formulieren – wie der Beobachtung. »Mathilde wird Sprache verliehen, wohingegen die Heldinnen der vorangegangenen Romane Fontanes zumeist stumm bleiben«506 – wie etwa die zugleich wenig sehende Cécile. In ähnlichem Maße, wie Mathilde im Verhältnis zu den anderen Figuren für ihren Stand überdurchschnitt_____________ 503 Eine andere Variante des Zusammenhangs zwischen Sehfähigkeit und gesellschaftlicher Position gestaltet Fontane in Unterm Birnbaum, wo Sehfähigkeit und soziale Eingebundenheit bzw. Angepasstheit und Außenseitertum miteinander korreliert sind: Dort zeichnet sich allein die aus der Gemeinschaft ausgeschlossene und als ›Hexe‹ verschriene Außenseiterin Jeschke durch gute Beobachtungsfähigkeit aus (vgl. Kapitel 5, Fußnote 165). 504 Vgl. Kapitel 3.4.2. und 4.1. der vorliegenden Arbeit sowie Weber, ›Au fond sind Bäume besser als Häuser‹, S. 153. 505 Vgl. Kapitel 5.4.1.2. der vorliegenden Arbeit. 506 Becker, Aufbruch ins 20. Jahrhundert, S. 311.

5.4. »Mathilde Möhring«

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lich gut sieht,507 lässt »Fontane seine Mathilde sprachlich gewissermaßen ein wenig über ihre Verhältnisse leben«,508 während Hugo sich in beidem von ihr lenken lässt. Ihre Beeinflussung seines Blicks wurde bereits dargelegt,509 diejenige seiner Sprache zeigt sich etwa in ihrer Anweisung, was er als Bürgermeister zu sagen habe: » ›Und wenn es was Ordentliches ist, dann musst du sagen, da wollen wir Justizrat Noack fragen; ich halte den für einen scharfen Kopf...‹/ ›Ja, Thilde...‹ « (MM, S. 492f). Nicht nur Seh- und Sprachfähigkeit werden miteinander verknüpft, sondern auch Sehen und Hören, wie folgende Beispiele belegen: Hugo öffnet laut Mathilde weder Augen noch Ohren (vgl. MM, S. 493) und um ihm zu gefallen, behauptet sie, »[e]in Mädchen [...] dürfe nicht alles sehn und hören wollen« (MM, S. 453), ohne sich allerdings daran zu halten. Sie schließt Dinge »[a]us allem, was sie sah und auch aus Andeutungen von ihm selber hörte« (MM, S. 439). Eine letzte Möglichkeit der Text-Bild-Verbindung als Verknüpfung zwischen Schreiben und Hören gibt der Graf, wenn er feststellt: »Reporter sind Maschinen und folgen bloß mit Ohr und Hand« (MM, S. 502). Mathilde, von der ein Brief und eine das Dorf beeindruckende – wenn auch nur ab- bzw. umgeschriebene – Zeitungsmeldung wörtlich wiedergegeben werden, ist auch eine bessere Schreiberin als Hugo, der zwar viele Romane liest, selbst jedoch kaum schreibt – nur ein Brief an seine Familie findet beiläufig Erwähnung, wird aber nicht wiedergegeben.510 5.4.4. Fazit In Mathilde Möhring kehrt Fontane traditionelle Schemata der Zuordnung der Bildmedien Photographie und Malerei sowie von Seh- und Wahrnehmungsfähigkeit auf Männer- und Frauenfiguren um: Mathilde wird die Photographie als Zeichen ihres prosaischen Wesens und ihrer Wahrnehmungsweise zugeordnet, denn ihr Blick zeichnet sich durch photographische Merkmale wie Kälte, Berechnung, Distanzschaffung, Detailgenauigkeit, Fragmentarisierung und die Entschlüsselung des Gesehenen aus, das sie als Zeichen liest. Das Sehen dient ihr ähnlich wie Innstetten in Effi Briest vor allem zur Kontrolle und Beherrschung ihrer Umwelt bzw. vor allem Hugos, über den sie zusätzlich durch Blicklenkung Kontrolle aus_____________ 507 508 509 510

Vgl. Kapitel 5.4.2. der vorliegenden Arbeit. Hoffmeister, Theodor Fontanes ›Mathilde Möhring‹, S. 132. Vgl. Kapitel 5.4.1.2. der vorliegenden Arbeit. Auch Cécile als Vergleichsfigur zu Hugo sieht wenig und ist zugleich »voll Mißtrauen in ihre Rechtschreibung« (CE, S. 443) »keine passionierte Briefschreiberin« (CE, S. 425), während sie viele Mitteilungen von Gordon empfängt.

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übt. Dem Protagonisten dagegen wird anfangs die Malerei als Zeichen seines träumerischen und weltfremden Charakters sowie seiner dementsprechend durch phantastische und ästhetisierende Vorstellungen verfälschten Wahrnehmung zugeordnet. Durch Mathildes Einfluss jedoch ändert er sich so weit, dass am Textende sein photographisches Porträt stehen kann, als Symbol seiner Entwicklung in ihre Richtung, hin zu einem tatsachen- und zielorientierteren Leben. Zugleich verweist das Bild auf den bleibenden Einfluss des Abgebildeten auf Mathilde, die nun ihre menschlich-emotionale Seite stärker zulässt. Seh- und Wahrnehmungsfähigkeit verbindet Fontane in Mathilde Möhring mit dem sozialen Stand: Je besser eine Figur gestellt ist, desto mehr sieht sie; Figuren niedrigerer Stände dagegen, die wenig in der Welt herumgekommen sind und ihr lokal und sozial begrenztes Lebensumfeld nicht verlassen haben, sehen nur wenig. Situationen, in denen Figuren auf eine tiefere soziale Stufe abzusinken drohen, sind dementsprechend durch Sehschwächen oder -störungen gekennzeichnet. Die bekannte enge Text-Bild-Verbindung wird in Mathilde Möhring variiert, indem sie die Form einer Verbindung der Hör-, Sprach- und Schreibfähigkeiten der Figuren (als Rezeption und Produktion von Texten) mit ihrer Sehfähigkeit (als Rezeption von Bildern) annimmt.

6. Zusammenfassung und Ausblick

6. Zusammenfassung und Ausblick Die vorliegende Studie hat in der Verbindung von ›Visual Studies‹ und Intermedialitätsforschung visuelle Aspekte der als Sehschule konzipierten Wanderungen durch die Mark Brandenburg und des Romanwerks von Theodor Fontane herausgearbeitet. Dabei ermöglichte die Verknüpfung beider Forschungsfelder einen umfassenden Blick auf visuelle und mediale Phänomene, da nicht nur einzelne Bilder oder Sehweisen als Motive der Texte untersucht wurden, sondern auch Querverbindungen zwischen externen und mentalen Bildern, Bildern und Wahrnehmungsweisen, Visualität und Gender sowie Bildern und Texten. Die Einbettung in den historischen Kontext lieferte Informationen zu zeitgenössischen Assoziationen mit den verschiedenen Bildmedien und an ihnen erlernten oder neu erprobten Wahrnehmungsweisen wie beispielsweise der Physiognomik. Damit erschloss sie die Bedeutung des Visuellen im 19. Jahrhundert mit seiner Vielzahl neuer Bildmedien und dem erschütterten Vertrauen in die Zuverlässigkeit der menschlichen Wahrnehmung, das damit zusammenhängt, dass man die Welt als Ansammlung von Zeichen zu verstehen begann, so dass der Zugriff auf die Wirklichkeit nie unmittelbar erfolgen konnte, sondern nur über jeweils subjektiv zu interpretierende Zeichen vermittelt. Auch der enge Bezug zwischen Literatur und den Bildmedien zeigte sich, wobei die Konkurrenz zwischen Photographie und Malerei sich in den gegenläufigen poetologischen Konzepten der Naturalisten und der poetischen Realisten spiegelt. Wie die Auseinandersetzungen Fontanes mit den Bildmedien, dem Sehen und der Subjektivität und Zeichenhaftigkeit der Wahrnehmung sich in seinem literarischen Schaffen niederschlugen, wird resümierend anhand folgender Aspekte dargelegt: 1. seiner Konzepte des ›Malerischen‹ und des ›Photographischen‹, 2. der Bezugnahmen auf die Physiognomik, 3. genderspezifischer und 4. statusspezifischer Zuweisungen von Sehweisen und Bildmedien zu den Romanfiguren, 5. der Parallelen seines Schreibens zu Diskursen um die Photographie und zur zeitgenössischen Malerei und schließlich 6. der Text-Bild-Bezüge. 1. Eine Definition des ›Malerischen‹ und des ›Photographischen‹ bei Fontane hat verschiedenste Ebenen zu berücksichtigen, die von rein äußerlichen, objektiv nachmessbaren und generellen, relativ konstant gültigen Merkmalen bis hin zu subjektiven, schwer einzugrenzenden und stark wandelbaren Aspekten reichen. So müssen Besonderheiten der Bildent-

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6. Zusammenfassung und Ausblick

stehung, -betrachtung und -nutzung, kulturell und historisch wandelbare Assoziationen sowie bildimmanente bzw. medienspezifische Merkmale gleichermaßen erfasst werden. In einem ersten Schritt wurden dementsprechend grundlegende Kategorien des ›Bildhaften‹ bzw. bildanaloger Wahrnehmung erarbeitet und anhand der verschiedenen Wahrnehmungsund Beschreibungsarten der Wanderungen nachgewiesen und erweitert. Je nach Bezugsmedium – Panorama, Diorama, Moving Panorama oder Photographie – traten folgende Merkmale in unterschiedlich starker Ausprägung auf: Ausschnitthaftigkeit, spezifischer Schärfenbereich, Immobilisierung, die Beschränkung der Sinneswahrnehmungen auf das Sehen, ein festgelegter, privilegierter Beobachterstandpunkt und Detailgenauigkeit. Diese rein äußerlichen Merkmale wurden durch folgende, in den Wanderungen mit Bildern und bildhaften Beschreibungen verbundene Themenkomplexe ergänzt: der zeichenhafte Verweis auf historische und fiktive Geschichten, Kopie und Tod. Eine Zuordnung dieser Assoziationen speziell zu Malerei oder Photographie war in den Wanderungen noch nicht möglich, da erstens dort kaum Photographien vorkommen und zweitens viele dieser Assoziationen im zeitgenössischen Diskurs mit der Photographie verbunden waren, von Fontane jedoch auf Bilder generell angewendet wurden. Eine Analyse von Fontanes eigener Verwendung des Begriffs ermöglichte zumindest eine Annäherung an sein Konzept des ›Malerischen‹. Es zeigt zum Teil ähnliche Charakteristika wie sie in der Poetologie der poetischen Realisten der Malerei in Abgrenzung zur Photographie zugeschrieben wurden – so die Vorstellung eines ästhetisch geordneten Ganzen, in dem Natur bzw. Ursprünglichkeit und Kunst bzw. menschliche Eingriffe eine Verbindung eingehen. Andere Merkmale wie die Wertschätzung alter Bauten und Ruinen sind eher romantisch-poetischen Vorstellungen bzw. dem ›Picturesque‹ verpflichtet – mit dem Fontanes ›Malerisches‹ jedoch nicht komplett gleichgesetzt werden kann – und weisen Vergänglichkeit und Tod als zentrale Bestandteile des ›Malerischen‹ aus, da dieser Themenkreis von Fontane ebenfalls mit Bildern als Motiven verknüpft wird. In den Romanen finden sich die verschiedenen, anhand der Wanderungen herausgearbeiteten Typen bildanaloger Blickweisen ebenso wieder wie die mit Bildern verbundenen Themenbereiche, wobei die unterschiedlichen, mit verschiedenen Assoziationen aufgeladenen Sehweisen den einzelnen Figuren zur Symbolisierung ihrer Eigenschaften und Wahrnehmungsweisen zugeordnet werden. So zeigen einige berechnende bis kühldistanzierte Figuren, denen daneben oft auch das Medium selbst im Text zugeordnet wird (Gordon, Innstetten, Mathilde Möhring), einen photographieanalogen Blick mit folgenden, je nach Figur unterschiedlich stark ausgeprägten Merkmalen: Subjektivität, Detailgenauigkeit, Fragmentie-

6. Zusammenfassung und Ausblick

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rung, Selektion und Dechiffrierung der Zeichen, kühle Distanz, Vereinigung von Naturwissenschaft und Kunst, den Wunsch nach dem Besitz des Beobachteten und dessen Reduktion von einer lebendigen, vielseitigen Person zu einem toten Abbild. Andere Figuren, denen gleichzeitig auch Gemälde zugeordnet werden, weisen einen malereianalogen Blick auf, der in verschiedene Untertypen aufgegliedert werden kann. Handelt es sich dabei um Prägungen durch eine falsche, massenhafte und von Prestigedenken geleitete Malereibetrachtung, wie sie insbesondere bei van der Straaten dargestellt wird, so verschwimmt in dieser abgestumpften Wahrnehmung alles zu Kategorien und Typen.Als zweite Möglichkeit ist der für St. Arnaud dargelegte militärisch-panoramatische Blick zu nennen, in dem zusätzlich die Merkmale der Dominanz und Distanz besonders hervortreten. Im positiven Sinne dagegen ist die dritte Form des malereianalogen Blicks, die bei Rosa Hexel vorliegt, von einer ästhetischen, sich wertschätzend und emotional auf das Einzelbild einlassenden Rezeption geprägt und steht für eine besonders gute Beobachtungsgabe, denn er vereinigt die panoramatische Übersicht über größere Zusammenhänge mit derjenigen bedeutsamer Details. Explizite Systemreferenzen auf die Bildmedien Malerei und Photographie selbst überschneiden sich in den Romanen teilweise in ihren Assoziationsfeldern und Funktionen, so dass diese als Teil des ›Bildhaften‹ bei Fontane gelten können: Der Besitz beider Bildmedien versinnbildlicht den Wunsch, sich den Abgebildeten anzueignen und zu kontrollieren – was ebenso Teil der im negativen Sinne malereianalogen wie der photographischen Sichtweise ist. In der Funktion als Stellvertreter der Abgebildeten halten beide Bildmedien diese weiter präsent und stellen Verbindungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit her. Auch sind beide gleichermaßen mit dem Thema Tod verbunden, da sie entweder Verstorbenen eine weitere Einflussnahme ermöglichen, Betrachter zu Reflexionen über ihre Vergänglichkeit anregen oder auf den bevorstehenden Tod von Figuren verweisen. Ebenso dienen beide Bildmedien der Figurencharakterisierung und werden von diesen zur Konstitution von Identität genutzt, sowohl von Selbstbildern durch Selbstbetrachtung als auch von Fremdbildern durch Rollenzuschreibungen. Zugleich wird jedoch auch zwischen den Bildmedien unterschieden: Zur Figurencharakterisierung wird die als ›maskulin‹ geltende Photographie (und das ihr im 19. Jahrhundert oft gleichgesetzte Spiegelbild) rationalen, prosaischen, aber auch modernen Figuren zugeordnet. Die Malerei dagegen wird als Medium ›femininer‹, emotionaler und verklärt-romantischer Frauengestalten eingesetzt. Als Medien der Identitätskonstitution stehen Gemälde – wie die im negativen Sinne malereianaloge Wahrnehmungsweise – für typisierende, generalisierende und von subjektiven Meinungen verfälschte Persönlichkeitsbilder.

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6. Zusammenfassung und Ausblick

Photographien oder Spiegelbilder dagegen symbolisieren – wie die photographieanaloge Wahrnehmungsweise – einerseits realistischere und objektivere, andererseits aber auch fragmentarische und subjektive Vorstellungen. Einige der beiden Medien gemeinsamen Aspekte – die Stellvertreterfunktion sowie die Verbindung mit Vergangenheit und Tod –, die in den Wanderungen noch ausschließlich an Gemälde geknüpft sind, treten in den späteren Romanen hauptsächlich in Verbindung mit Photographien auf, worin sich der von Koppen festgestellte »Verzögerungseffekt«1 in der literarischen Bezugnahme auf neue Medien zeigt. An Fontanes Werk lässt sich damit gut nachvollziehen, wie gewisse Aspekte des ›Bildhaften‹ konstant bleiben, während sich die Merkmale des ›Malerischen‹ und ›Photographischen‹ wandeln. Als konstante Merkmale des ›Bildhaften‹ sind die generellen Kennzeichen des bildanalogen Sehens (Ausschnitt, Schärfenbereich, Immobilisierung, die Beschränkung auf das Sehen, der festgelegte, privilegierte Beobachterstandpunkt und die Detailgenauigkeit) um bei Fontane mit Bildern verknüpfte Assoziationen und Themenfelder zu ergänzen (Historie, Geschichten, Tod und Kopie) sowie um die Einsatzmöglichkeiten von Bildern in den Romanen (zur Identitätskonstitution der Figuren, zur Symbolisierung des Wunsches nach Herrschaft über die Abgebildeten und als Stellvertreter der Abgebildeten). Kennzeichen speziell des ›Malerischen‹ sind darüber hinaus: die Vorstellung eines ästhetisch geordneten Ganzen, in dem Kunst und Natur vereint sind, Emotionalität, Romantisch-Poetisches und Unheimlich-Irrationales. Im positiven Sinne sind weitere Aspekte des ›Malerischen‹ die einfühlsame Erfassung sowohl der Totalität als auch bedeutsamer Details. Im Negativsinn dagegen zählen hierzu auch Generalisierung, Typisierung und Idealisierung, Bestandteile einer im 19. Jahrhundert typischen, abgestumpften Wahrnehmungshaltung, die sich zum Schutz vor der kaum noch zu verarbeitenden Masse an Eindrücken, die auf einen Stadtbewohner einströmten, entwickelte. Als teils konträre Bestandteile des ›Photographischen‹ ergaben sich: Kälte, Distanz, Exaktheit, Rationalität, Prosaisches, Naturwissenschaft, Detailgenauigkeit, trügerischer Wahrheitsanspruch und Subjektivität, Fragmentarisierung und die Dechiffrierung äußerer Zeichen – Merkmale einer weiteren damals dominanten, durch den Aufschwung der Naturwissenschaften und die Photographie bedingten Wahrnehmungsweise. 2. Die letztgenannten Eigenschaften des photographieanalogen Sehens verbinden es mit dem physiognomischen Blick, den alle Figuren Fontanes anwenden, um durch das Lesen äußerer Zeichen das Innere _____________ 1

Koppen, Die Dichter, S. 103.

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anderer Figuren zu erschließen, teils mit wissenschaftlichen Ambitionen, teils mehr auf Menschenkenntnis beruhend. Solche Urteile dienen zum einen der Figurencharakterisierung, da ihr Zutreffen oder Nichtzutreffen Aussagen über die Beobachtungsfähigkeit des Beurteilenden, den Grad der Offenheit oder Aufrichtigkeit des Beurteilten oder die Intensität der Beziehung beider zueinander enthalten. Zum anderen thematisiert Fontane an ihnen die Unzuverlässigkeit der menschlichen Wahrnehmung und die Unmöglichkeit, einen anderen Menschen zu durchschauen, denn die erlangten Urteile werden als fragmentarisch und subjektiv, durch Vorwissen, Vorurteile und die einseitige Perspektive der Beobachter verfälscht dargestellt. Die Beurteilenden jedoch stellen die absolute Gültigkeit ihrer Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen kaum in Frage. Sie durchleben zwar kurze Momente des Zweifels, verdrängen diese jedoch erfolgreich durch Selbsttäuschung, denn sie können nur solche Wahrnehmungen und Erkenntnisse zulassen, die ihren Wünschen und ihrem Weltbild entsprechen. Eine objektive Weltsicht oder Wahrheit kann damit keine der Figuren beanspruchen. Selbst der Erzähler liefert keine eindeutigen und zuverlässigen Aussagen, da auch er nicht die gesamte Romanwelt in all ihren Zusammenhängen kennt und die Figuren meist in externer Fokalisierung beschreibt. Dabei äußert er teils ähnlich wie die Figuren selbst Vermutungen darüber, was in ihnen vorgeht, meist überlässt er die Interpretation allerdings dem Leser. Die Romane Fontanes zeigen damit – in Übereinstimmung mit zeitgenössischen Seh- und Wahrnehmungstheoretikern, insbesondere Hermann von Helmholtz – ein erschüttertes Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung und das Wissen um den starken Einfluss früherer Seherfahrungen und des Vorwissens. Den Anspruch der Physiognomik auf Wissenschaftlichkeit und Allgemeingültigkeit weisen die untersuchten Texte daher zurück. Stattdessen zeigen sie das Verfahren in seiner im 19. Jahrhundert gängigen gesellschaftlichen Anwendung, die mehr auf Intuition und Menschenkenntnis beruhte als auf wissenschaftlichen Berechnungen. Fontane warnt davor, solchen Urteilen blind zu vertrauen, da das Verkennen anderer Personen in seinen Romanen meist alle Betroffenen ins Unglück stürzt. Zugleich verweist die Thematisierung des physiognomischen Blicks auf die generelle Praxis des Zeichenlesens und -interpretierens als einzigen Weg zur Erschließung der Romanwelt durch den Leser, der – analog zur Erkenntnis der Realität – immer als Prozess mit subjektivem Eigenanteil verstanden werden muss. 3. Wie die ›Visual Studies‹ nahe legen, zeigten sich auch in der vorliegenden Studie Genderkategorien als zentrale Aspekte der Analyse von Sehweisen und Bildmedien, denn beider Zuordnung zu den Figuren erfolgt bei Fontane geschlechtsspezifisch. Zum einen folgt er dabei traditionellen Genderzuweisungen, wenn er die Photographie kühl-distanzier-

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ten Männerfiguren, die Malerei dagegen poetischen Frauenfiguren zuordnet. Gleichermaßen lässt er scharf beobachtende Männer Kontroll-, Besitz- und Herrschaftsblicke, bisweilen auch erotisch-begehrliche Blicke, deren eigentliche Absicht nur unzureichend durch Kunstdiskurse kaschiert wird, auf als passive Blickobjekte fungierende Frauen ohne eigenständige Sehfähigkeit richten. In der Lenkung des stellvertretend für die generelle Selbst- und Fremdwahrnehmung stehenden Sehverhaltens zeigt sich diese Genderaufteilung ebenfalls, denn oft steuern Fontanes Ehemänner die Blicke ihrer Frauen, wodurch sie deren eigene Wahrnehmungen und Selbstbilder verdrängen, so dass diese im Spiegel nach einem authentischen Selbstbild suchen. Zum anderen gestaltet er auch Abweichungen bis hin zu Umkehrungen, welche die klar gegeneinander abgegrenzten Genderkonzepte in Frage stellen. So nutzen einige Frauenfiguren ihre Rolle als Blickobjekt insofern aktiv zu ihren Gunsten, als sie sich bewusst als Anblick inszenieren. Andere zeigen eine aktive Sehfähigkeit und wehren sich gegen die Übermacht der Männerfiguren, indem sie deren Blicke erwidern und keine Rollenbilder von außen annehmen. Auch wird manchen Frauen die Photographie zugeordnet, so dass Fontane seinen Frauenfiguren sowohl als ›maskulin‹ geltende Sehweisen als auch Bildmedien zuschreibt. Dafür allerdings zahlen sie meist den Preis der Einbuße an Schönheit und Anziehungskraft auf Männerfiguren, worin sich zeigt, dass die Fähigkeit zu guter Beobachtung und der Status als beobachtetes Objekt einander auszuschließen scheinen. 4. Besonders deutlich wird dies bei verschiedenen Hexen- und Außenseiterfiguren, zu denen Rosa Hexel zu zählen ist. Sowohl ihre Beobachtungsgabe als auch ihre Freiheit und Resistenz gegen die kontrollierenden Blicke anderer hängen damit zusammen, dass sie als Außenseiterin von der Gesellschaft ausgeschlossen ist, wodurch weder deren Werte und Voreingenommenheiten ihre Sicht einschränken, noch deren Urteil sie trifft. Mitglieder der Gesellschaft dagegen stehen unter ständiger gegenseitiger Beobachtung, können jedoch die anderen nicht wirklich wahrnehmen, da sie selbst in den Kreis von Beobachtungen und Wertungen eingebunden sind. Ein anderer Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Beobachtungs- bzw. Wahrnehmungsfähigkeit zeigte sich in Mathilde Möhring, wo die Sehfähigkeit mit dem sozialen Stand verknüpft ist: Je höher eine Figur steht, desto mehr kann sie wahrnehmen, da sie mehr von der Welt gesehen und ihren Horizont erweitert hat. 5. Das besondere Interesse Fontanes an solchen Wahrnehmungsprozessen wurde möglicherweise neben seinen Seherfahrungen als Kriegsbeobachter und Theaterkritiker durch seine Auseinandersetzungen mit Photographie und Malerei geweckt, die sich beide mit der Subjektivität und

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Beeinflussbarkeit menschlicher Wahrnehmung auseinandersetzten. Die Photographie regte hierbei Diskurse über das Sehen und speziell physiognomische Blickweisen neu an, die Malerei nahm die Anregungen zeitgenössischer Wahrnehmungstheoretiker auf, befasste sich insbesondere mit der Abstumpfung und Subjektivität menschlicher Wahrnehmung und konzipierte sich als Wahrnehmungsschule. Parallelen insbesondere zur Malerei finden sich damit bei Fontane zum einen in seiner Anlage der Wanderungen als Sehschule, zum anderen auch auf thematischer Ebene im Motiv der gefallenen Frau und der Konzentration auf bestimmte Frauenbilder und -typen – Themen, die insbesondere in der Malerei der Präraffaeliten behandelt wurden. Weitere Parallelen liegen in der Darstellung traditioneller genderspezifischer Sehrollen und deren Umkehrung sowie schließlich auch in Gestaltung und Kunstkonzeption, wenn Fontanesche Texte das Verfahren des ›disguised symbolism‹ der Präraffaeliten aufweisen und er seine poetologischen Prinzipien anhand der zeitgenössischen Malerei entwickelt. 6. Dieser enge Bezug der Texte Fontanes zur Malerei und der gegenseitige Einfluss beider Medien aufeinander wird auch zum Thema seiner Literatur, in der er grundsätzlich enge Text-Bild-Beziehungen gestaltet. So wechseln in den Wanderungen immer wieder bildlich beschreibende und erzählende Passagen ab und ergänzen bis ersetzen einander, ebenso werden Zeichnungen bruchlos in den Textfluss eingebunden und umgekehrt Buchstaben als bildliche Zeichen verwendet. Auch in den Romanen verweist Fontane zum einen auf die gegenseitige Abhängigkeit beider Medien und die Möglichkeit positiver Ergänzung und intensivierender Zusammenwirkung. Zum anderen stellt er ihre Konkurrenz dar, etwa in Bezug auf Wahrheitsgehalt und Zuverlässigkeit oder Wirkungs- und Überzeugungskraft. Vor allem in L’Adultera wird in immer wiederkehrenden Wechseln und Überlagerungen das Zusammenspiel beider Medien gestaltet: Dort werden Gemälde mit Hintergrundwissen aus literarischen Texten aufgeladen und treten selbst wiederum in einem Roman auf, dessen Handlung als Variante des in ihm vorkommenden und ihn quasi einrahmenden L’Adultera-Gemäldes betrachtet werden kann. So verweist ein Medium grundsätzlich auf ein dahinter liegendes, das sich wiederum auf ein vorangehendes Medium bezieht, wobei das Ende dieser Rückverweise, das heißt das Original dieser zahllosen Reproduktionen, kaum noch auszumachen ist. Neben der gegenseitigen Abhängigkeit der Medien Bild und Text thematisiert Fontane damit zum einen den sich durch die Photographie ausbreitenden Kopierkult seiner Zeit, in dem Kunstwerke – und selbst Menschen – nur noch als Reproduktionen begriffen werden und ihre Aura im Sinne Walter Benjamins verlieren. Zum anderen verweist er darauf, wie sehr solche medialen Muster die Wahrnehmung

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der Wirklichkeit prägen und wie Kunst und Wirklichkeit ebenso schwer voneinander zu trennende Kategorien darstellen wie Bild und Text. Neben den genannten Text-Bild-Verbindungen spielt auch diejenige von Photographien und Briefen eine wichtige Rolle in den Romanen. Hierbei lassen beide Medien die Vergangenheit wieder lebendig werden und stehen einerseits für Wahrheit und Objektivität, andererseits für eine nur ausschnitthafte und subjektive Darstellung der Wirklichkeit, worin sich der für zeitgenössische Diskussionen um die Photographie typische Zwiespalt wiederfindet. Eine weitere Form des engen Text-Bild-Bezugs liegt in Mathilde Möhring in der Verbindung von Seh- und Sprachfähigkeit der Figuren vor. Am Ende dieses Überblicks erscheint die Vorgehensweise, bisher meist getrennte Untersuchungsgebiete zusammenzuführen – die ›Visual Studies‹ mit der Intermedialitätsforschung und die Analyse der Beziehungen zwischen Malerei und Literatur mit derjenigen der Verbindung zwischen Photographie und Literatur – und dabei auch kulturwissenschaftliche und genderorentierte Ansätze einzubeziehen, insofern gerechtfertigt, als sich so Aspekte erschließen ließen, die bei getrennten Analysen zu den einzelnen Untergebieten bisher nicht erfasst werden konnten. Die vorliegende Studie möchte daher dazu anregen, die von Rajewsky vorgenommene enge Eingrenzung der Intermedialitätsforschung zu überdenken und – nicht nur für die Analyse der Beziehungen zwischen Literatur, Malerei und Photographie – auch auf transmediale Phänomene auszudehnen, deren exakte Abgrenzung ohnehin kaum möglich ist und bedeutsame Aspekte ausschließt. Speziell für die Fontaneforschung eröffnen sich zudem weitere Fragestellungen auf dem Gebiet der Kunstgeschichte. So wäre es eine vielversprechende und anspruchsvolle Aufgabe, die Zusammenhänge zwischen Fontanes Art und Weise der Kunstbeschreibung und in kunstkritischen Schriften des 19. Jahrhunderts üblichen Methoden detailliert herauszustellen, zumal es bisher an Untersuchungen zum historischen Wandel in der Art und Weise der Beschreibung von Kunstwerken in der Kunstgeschichte mangelt.2 Weiter wäre eingehender zu untersuchen, inwiefern die von Fontane in den Wanderungen angestrebte Sehschule durch die Lektüre entsprechender kunstkritischer und kunsttheoretischer Schriften angeregt wurde. Lohnenswert wäre auch eine Analyse des Einflusses zeitgenössischer kunsthistorischer Debatten auf seine Wertschätzung bestimmter Künstler und Gemälde – so scheint seine häufige Erwähnung von Renaissance-Gemälden mit Jacob Burckhardts Neubesinnung auf die _____________ 2

Vgl. Kummer, Kunstbeschreibungen, S. 375.

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bildende Kunst der Renaissance zusammenzuhängen. Auch inwiefern kunsthistorische Diskurse Fontanes Wahrnehmung der Photographie und anderer Bildmedien lenkten, wäre genauer darzulegen. Des Weiteren sind die bisherigen Forschungsergebnisse zur Bedeutung der Photographie in Texten des poetischen Realismus – zumindest für Fontane – zu relativieren und zu ergänzen, die bis auf die neueste Studie Sabina Beckers von 2010 hauptsächlich die Rolle des Bildmediums in der Poetologie erwähnen, für die literarischen Texte selbst jedoch »Fehlanzeige melden«,3 hauptsächlich Beschreibungen und den »Einfluß der Photographie auf die Technik der Textherstellung«4 behandeln, oder zwar immerhin auch das Thema Wahrnehmung mit einbeziehen, die Bilder als Motive und Text-Bild-Beziehungen jedoch explizit ausklammern.5 Wünschenswert wären umfassende Analysen der in der vorliegenden Studie verfolgten Fragestellungen nach der Bedeutung von Blicken, Sehweisen und Wahrnehmungsformen sowie dem Umgang mit den Bildmedien Malerei und Photographie nicht nur für Fontane, sondern auch für weitere Autoren des poetischen Realismus. Für die Intermedialitätsforschung ergäbe sich hierbei eine weitere Perspektive, wenn dabei – sofern sich dies bei den entsprechenden Autoren anbietet – auch Untersuchungen von Medienkombinationen oder Medienwechseln als produktive Rezeptionen der Werke vergleichend herangezogen würden.6 Aufschlussreich könnten Fragestellung nach visuellen Phänomenen und speziell der Bedeutung der Photographie insbesondere bei Raabe sein, der nicht nur in Der Lar einen Photographen auftreten lässt, sondern auch in weiteren Werken häufig Photographien und Photographen erwähnt, und sich »besonders in den späteren Jahren, offenbar oft und gern [photographisch, N.H.] porträtieren«7 ließ.8 Lohnenswert wäre eine solche Herangehensweise auch bei Stifter, der zwar das Motiv ausspart, aufgrund _____________ 3 4 5 6

7 8

Plumpe, Der tote Blick, S. 165. Krauss, Photographie und Literatur, S. 136. Vgl. Stiegler, Philologie des Auges, S. 145–148. Viel versprechend scheint etwa eine Analyse von Fassbinders Verfilmung Fontane Effi Briest, die sich wegen ihrer Montage-Technik, der Einbindung von Textelementen und photographischen Einflüssen (etwa den zu Standbildern eingefrorenen Aufnahmen, die in die Filmsequenzen eingefügt sind) besonders für einen Vergleich hinsichtlich der Bedeutung von Blicken, Bildern und Fenster- bzw. Spiegelmotiven eignen würde. Vgl. Krauss, Photographie und Literatur, S. 158. Ansätze zur Untersuchung solcher Verweise auf die Photographie und tiefer greifender Zusammenhänge zwischen ihr und der Schreibweise Raabes geben etwa Michael Wetzel, Wilhelm Raabe und die Krisen der Moderne. In: Hubert Winkels (Hrsg.), Wolf Haas trifft Wilhelm Raabe. Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis – das Ereignis und die Folgen, Göttingen 2007, S. 30–52, und Bernd Stiegler, Philologie des Auges, S. 230ff.

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seiner Schreibweise aber »in Deutschland als der ›photographischste‹ Schriftsteller seiner Zeit angesehen« und »als Maler der Sprache oder aber als Photograph« bezeichnet wurde.9 Ebenso wie die beiden Genannten betätigte sich Keller, der zunächst Maler werden wollte, auch auf dem Gebiet der Malerei,10 so dass in seiner Literatur ebenfalls Spuren der Auseinandersetzung mit Photographie und Malerei zu erwarten sind, zumal er sich auch »in allen Einzelheiten mit der schwierigen Materie des Aufnehmens, des Zurichtens und des Vervielfältigens von Photographien auskannte«.11 Im Anschluss daran sind zusammenführende, übergreifende Darstellungen der vielzähligen Aspekte bei den verschiedenen Autoren nötig, deren von Stiegler beklagter Mangel bisher nicht behoben ist: »Es liegen vor allem Studien zu einzelnen Autoren oder Texten vor, übergreifende Studien fehlen aber oder untersuchen nur einen bestimmten Aspekt«.12 Solche könnten die Bedeutung des gesamten Themenkomplexes erschließen und die Anerkennung der tragenden Rolle von Malerei und Photographie für die Poetologie des poetischen Realismus, die immerhin in einigen Überblickswerken zum Realismus ansatzweise thematisiert wird,13 durch das Erfassen auch der Bedeutung der Bildmedien, ihnen analoger Blickweisen sowie der Wahrnehmungsproblematik ergänzen und in einen breiteren Kontext einbetten. Dabei wäre zudem interessant, inwiefern die Thematisierung der Subjektivität und Unzuverlässigkeit von Wahrnehmung mit unzuverlässigem Erzählen und Multiperspektivität korreliert. Hierfür könnte Nünnings und Nünnings Definition der Perspektive als »jeweils individuelle Wirklichkeitssicht der fiktiven Gestalten (Figuren und Erzählinstanzen) in narrativen Texten« fruchtbar gemacht werden, die impliziert, dass in einem Text »ein Ensemble von Figurenperspektiven, das oftmals durch _____________ 9 10 11 12 13

Stiegler, Philologie des Auges, S. 350f. Eine knappe Analyse zum Einfluss der Photographie und mit ihr verbundener naturwissenschaftlicher Diskurse auf Stifters Schreibweise findet sich ebd, S. 350–364. Vgl. Aust, Fontane und die bildende Kunst, S. 407. Krauss, Photographie und Literatur, S. 158. Stiegler, Philologie des Auges, S. 146. So enthält Plumpe, Theorie des bürgerlichen Realismus, S. 161–183, ein eigenes Kapitel mit zeitgenössischen Texten zur Photographie sowie poetologischen Bezugnahmen der Schriftsteller auf das neue Medium und Hugo Aust, Realismus. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart/Weimar 2006, 58f widmet zumindest ein kurzes Unterkapitel der Rolle der Photographie in der Poetologie – wobei in beiden Fällen leider auf eine Darstellung der entgegengesetzten Rolle der Malerei verzichtet wird. Krauss, Photographie und Literatur, S. 161 schließlich stellt gar etwas überspitzt fest: »[D]er bürgerliche Realismus [ist] nicht zuletzt eine Folge der Photographie«. Allein Bernd Balzer, Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus, Darmstandt 2006, S. 37–41, geht in einem kurzen Unterkapitel auf die Diskussionen der Realisten über Photographie und Malerei – speziell die der Präraffaeliten – ein, allerdings hauptsächlich bei Fontane, während andere Schriftsteller nur beiläufig erwähnt werden.

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die Perspektive eines Erzählers [...] ergänzt wird«, vorliegt.14 Sinnvoll scheint auch das Heranziehen der Differenzierung Fluderniks – ähnliche Unterscheidungen treffen auch Phelan/Martin und Cohn – zwischen der falschen Darstellung von Fakten (Unzuverlässigkeit) und einem Mangel an Objektivität oder ideologischer Verfremdung (Diskordanz).15 Somit könnten genauere Begriffsklärungen und Analysen der Zusammenhänge zwischen den genannten Phänomenen untereinander sowie mit der Darstellung der Wahrnehmungsproblematik auch der Narratologie neue Ansätze eröffnen.

_____________ 14 15

Nünning und Nünning, Von ›der‹ Erzählperspektive, S. 13. Vgl. Fludernik, ›Unreliability vs. Discordance‹.

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