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German Pages 286 Year 2023
Lukas Mairhofer Bertolt Brechts Interferenz mit der Quantenphysik
Literatur- und Naturwissenschaften
Publikationen des Erlangen Center for Literature and Natural Science/ Erlanger Forschungszentrums für Literaturund Naturwissenschaften (ELINAS) Herausgegeben von Aura Heydenreich, Christine Lubkoll und Klaus Mecke Editorial Board Jay Labinger, Bernadette Malinowski, Arkady Plotnitsky, Dirk Vanderbeke
Band 8
Lukas Mairhofer
Bertolt Brechts Interferenz mit der Quantenphysik Das moderne Theater und die moderne Physik
ISBN 978-3-11-054634-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-054635-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-054653-8 ISSN 2365-3434 Library of Congress Control Number: 2022917154 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Beugungsmuster entstanden durch die Quanteninterferenz von Molekülen. Zuerst abgedruckt in: Markus Arndt, Christian Brand et al.: An atomically thin matter-wave beam splitter, Nature Nanotechnology 10, 845‒848 (2015), DOI: 10.1038/nnano.2015.179. Verwendung mit freundlicher Genehmigung von Markus Arndt. Copyright © 2015, Springer Nature Limited. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt 1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.3 1.4
Präludium: Helsinki im Winter | 1 Gedankenexperiment und Simulation | 2 Frage, These und Methode | 5 Zwei Fragen | 5 Formans Thesen | 7 Methode: Interferenz versus Spiegelung | 11 Metaphorisierte Konzepte, Gestalt, Denkstil | 16 These: A-tom und In-dividuum | 23 Forschungsstand | 27 Übersicht über die Arbeit | 30
Teil I: Bertolt Brecht und die Quantenphysik: Eine Interferenz 2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3
Heisenbergs Mikroskop | 41 Anschaulichkeit | 43 Kontinuität: Spuren im Nebel | 47 Kausalität | 50 Bohrs Einwand | 50 Messproblem | 52 (In)dividualität | 54 Unteilbares Licht | 54 Teilbares Atom | 56 Unterscheidbarkeit | 58
3 3.1 3.1.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.4
Ästhetik: Schema von Wirkungsquanten | 60 Eingreifendes Denken | 61 Brechts Verfremdungseffekt | 63 Diskontinuitäten: Die Debatte mit Lukács | 66 Ästhetik und Naturphilosophie | 67 Die Kausalität der Krise | 69 Gesetz und Einzelfall | 71 „Die Wahrheit ist konkret“ | 74 Axiome und Atome | 75 Praktikabilität | 76 Modelle | 78 Ein Unfall | 83 Kleinste Einheiten | 84
VI | Inhalt 4 4.1 4.2
Schnittmengen | 98 Das Leben des B.B. und die Quantenmechanik | 98 Die Atomphysik und Das Leben des Galilei | 103
5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6 5.3 5.3.1 5.3.2
Oszillationen | 109 Feld: Ein Raum der Beziehungen | 110 Physikalische Felder | 110 Soziale Felder | 113 Schlachtfelder | 116 Statistik | 119 Probabilität und Spiel | 119 Astronomie und Fehler | 120 Soziologie und Mittelmaß | 121 Typus und Gesetz | 122 Thermodynamik und statistische Mechanik | 124 Quantenstatistik | 127 Kollektiv | 129 Kollektiv und Ensemble in der Physik | 131 Leben und Tod | 134
Teil II: Brecht und Reichenbach: Eine Nachbarschaft 6 6.1 6.2 6.3 6.3.1 6.4
Los Angeles im Herbst | 139 Hans Reichenbach: Ein Nachbar | 139 Begegnung mit der Frankfurter Schule: Totemisten | 143 Ursache und Zeichen: Niels Bohrs Hufeisen | 145 Induktion | 147 Logik: Ja und Nein | 151
7 7.1 7.1.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.5 7.2.6
Kausalität: „Is chance a fool’s name for fate?“ | 161 Der verlorene Vortrag Reichenbachs | 161 Einsteins zuckender Finger und der Heisenbergsatz | 161 Ein Manuskript | 164 „Laws and experience“ | 168 „Fate“ | 169 „Chance“ | 171 „Determinism“ | 173 Zufall und Schicksal | 174 Determinismus und Physik | 181
Inhalt |
7.2.7 7.2.8 7.2.9 8 8.1 8.2
VII
Indeterminismus | 184 Die Richtung der Zeit | 188 „Change the future“ | 190 Philosophie und Quantenphysik: „Mit der Feuerzange“ | 193 Max Plancks Vortrag | 194 Das Besondere und das Allgemeine: Morose Gedanken | 202
Teil III: Spiel und Experiment: Eine Verhaltenslehre 9 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5
„Die Spieler, die wir sind“: Eine Denkfigur | 209 Spieler*innen bei Brecht | 210 Wahrscheinlichkeit und Induktion: Reichenbachs „best bet“ | 212 Walter Benjamin: Spiel (mit) der Geschichte | 213 Von Neumanns Spieltheorie | 214 Eine Abgrenzung: Nietzsche und Huizinga | 217
10 Der Kaukasische Kreidekreis | 220 10.1 Spielerin Grusche | 221 10.2 Spielfeld Azdak | 224 10.2.1 Gesetz und Einzelfall | 225 10.3 Spiele | 229 10.4 Experimente | 231 10.4.1 Große Zusammenhänge, kleinste Einheiten | 237 10.4.2 Feld und Atom | 242 10.5 Kausalstruktur: Der große Zufall und das Happy End | 244 10.5.1 Zeit und Kausalität | 245 10.6 Ein Nachspiel: Unschärfen | 247
Teil IV: Anhang Aus dem Reichenbach-Archiv: Manuskript HR 040-02-09 | 253 Literatur | 263 Personenregister | 275
1 Präludium: Helsinki im Winter Helsinki im Winter: Das bedeutet vier Stunden Sonnenlicht am Tag, die Lufttemperatur bleibt fast durchgehend unter dem Gefrierpunkt des Wassers und eines der sehenswertesten Gebäude der Stadt ist der Bahnhof. In diesem Bahnhof treffen einander in Bertolt Brechts Flüchtlingsgesprächen die beiden deutschen Emigranten Kalle und Ziffel. Der Arbeiter Kalle, dem Konzentrationslager entkommen, und der Physiker Ziffel, von der Universität vertrieben, diskutieren bei einem Bier und einem Kaffee über den Zustand der Welt: Über den Zweiten Weltkrieg, der gerade ausgebrochen ist; über den Nationalsozialismus und über ihre Flucht vor der Verfolgung; dann kommt das Gespräch auf die Weltwirtschaftskrise, die all dem vorausgegangen ist. Hier, beim Gespräch über die Ökonomie, taucht in den Flüchtlingsgesprächen plötzlich die Quantenmechanik auf. Der Physiker Ziffel beschreibt das Problem, die Entwicklung dieser Krise zu verstehen: Der Untersuchung der Situation stellten sich eigentümliche Schwierigkeiten in den Weg. Ich muß hier an eine Erfahrung der modernen Physik denken, den Heisenbergschen Unsicherheitsfaktor. Dabei handelt es sich um folgendes: die Forschungen auf dem Gebiet der Atomwelt werden dadurch behindert, daß wir sehr starke Vergrößerungslinsen benötigen, um die Vorgänge unter den kleinsten Teilchen der Materie sehen zu können. Das Licht in den Mikroskopen muß so stark sein, daß es Erhitzungen und Zerstörungen in der Atomwelt, wahre Revolutionen, anrichtet. Eben das, was wir beobachten wollen, setzen wir so in Brand, indem wir es beobachten. So beobachten wir nicht das normale Leben der mikrokosmischen Welt, sondern ein durch unsere Beobachtung verstörtes Leben. In der sozialen Welt scheinen nun ähnliche Phänomene zu existieren. (Brecht [1967] Bd. 14, 1420)
Der Heisenbergsche Unsicherheitsfaktor, welcher hier angeführt wird, ist die Unschärferelation, die Werner Heisenberg 1927 formuliert hatte und für welche er 1932 den Nobelpreis erhielt. Heisenberg hat diese Relation durch ein Gedankenexperiment begründet, das sogenannte Heisenbergsche Mikroskop (Heisenberg [1927] 174ff.). Tatsächlich richtet das Licht in diesem Mikroskop gewissermaßen „Erhitzungen und Zerstörungen“ an; allerdings kommt es dabei nicht, wie Brechts Formulierung es impliziert, auf die Lichtstärke im physikalischen Sinn an, sondern auf die Wellenlänge des verwendeten Lichtes. Um sehr kleine Objekte im Mikroskop zu sehen, wird möglichst kurzwelliges Licht benötigt – oft wird das Gedankenexperiment deshalb auch als γ-Strahlen-Mikroskop bezeichnet. Niels Bohr betont, dass bereits in der klassischen Physik die Wechselwirkung des untersuchten Objekts mit seiner Umgebung das Verhalten des Objekts beeinflusst. (Heisenberg [1969] 147) In der Thermodynamik verfälscht der Messvorgang das Ergebnis – so ändert zum Beispiel das Thermometer die Temperatur einer Flüssigkeit, wenn es in diese Flüssigkeit getaucht wird, um ihre Temperatur zu messen: https://doi.org/10.1515/9783110546354-001
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Eine Temperaturmessung ist durch einen Wärmeaustausch definiert. (Heisenberg [1969] 147f) In der Quantenmechanik, wo Messapparat und Objekt beides von der Größenordnung der Atome sind, wird der Einfluss der Wechselwirkung aber so groß, dass er nicht mehr ignoriert werden kann.
1.1 Gedankenexperiment und Simulation Brecht hat die mathematische Herleitung der Quantenmechanik nicht rezipiert, diese lag deutlich außerhalb seiner Kompetenzen. Wir werden aber sehen, dass er die Debatten um die Interpretation der neuen Physik aufmerksam verfolgt hat. Eine wichtige Rolle spielen in seiner Rezeption Gedankenexperimente. Tatsächlich waren in den frühen Jahren der Quantenmechanik Gedankenexperimente oft die einzige Möglichkeit, die Konsequenzen der neuen Physik zu diskutieren. Aber diese Gedankenexperimente verdeutlichen nicht nur im Nachhinein die Konsequenzen der neuen Physik: Thomas Kuhn zeigt, dass Gedankenexperimente ein wichtiges Instrument sind, um das herrschende Paradigma zu unterwandern und die Konsequenzen eines Perspektivenwechsels herauszuarbeiten. (Kuhn [1978b]) Das Gedankenexperiment des Heisenbergschen Mikroskops wendet Brecht auf soziale Phänomene an. Gedankenexperimente eignen sich besonders für einen Transfer zwischen den Wissensgebieten: „Der Form nach verbinden Gedankenexperimente [...] Literarizität und wissenschaftliche Experimentalität: Sie bedienen sich zwar narrativer Formate, aber diese ‚dokumentieren‘ eine Versuchsreihe“ (Krauthausen [2010] 316) Sie werden gleichmaßen von Wissenschaft, Philosophie und Literatur verwendet, wie der Sammelband Science & Fiction (Macho und Wunschel [2004]) zeigt. Allerdings beschreiben die Herausgeber*innen Gedankenexperimente als rein literarische Fiktion, sie sind qua der Präposition des „Gedanken-“ anti-performativ geworden: Denn im Gedankenexperiment verschmilzt der Plan, die mentale Versuchsanordnung, mit seiner Durchführung, dem empirischen Experiment. Wir haben nämlich gar keine Möglichkeit, die realen Konsequenzen in einer kontrafaktischen Annahme, einer strategischen Verfremdung, anders zu überprüfen als im Kopf; und wir können diese Konsequenzen in keiner anderen Form dokumentieren und überprüfbar machen als durch irgendeine Art von Erzählung. (Macho und Wunschel [2004] 11)
Diese strikte Trennung des Gedankenexperiments vom realen Experiment steht in einer langen Tradition der Wissenschaftsphilosophie – von Francis Bacon über Ernst Mach und Thomas Kuhn bis zu Ian Hacking. (Krauthausen [2010] 291–295) Doch in der Physik hat die Entwicklung der technischen Möglichkeiten und experimentellen Praxis uns in den letzten vier Dekaden erlaubt, im Labor eine gan-
1.1 Gedankenexperiment und Simulation | 3
ze Reihe von Gedankenexperimenten zu realisieren, die in den frühen Jahren der Quantenmechanik entwickelt wurden. So sind Experimente mit Heisenbergs Mikroskop mittlerweile Gegenstand von Doktoratsprojekten (Dopfer [1998]). Die Gedankenexperimente der Quantenmechanik haben heute Marktreife erreicht. Verschränkte Quantensysteme sind die Grundlage von Quantenkryptographie (Ekert [1991]) und werden uns andererseits in absehbarer Zeit erlauben, asymmetrische Verschlüsselungen wie RSA-Schlüssel problemlos zu knacken (Shor [1997]). Doch noch immer betreffen diese Experimente die Beschaffenheit der Welt und unsere Möglichkeiten, sie zu erkennen. Daher wagen es einige Physiker*innen mittlerweile, von „experimenteller Metaphysik“ (Shimony [1984] 36) sprechen. Gedankenexperimente stehen in engem Zusammenhang mit Simulationen und wissenschaftlichen Modellen. Wissenschaftliches Erkennen besteht stets in einer Rückkopplung zwischen Theorie und Experiment. Aus der Anwendung der Theorie auf eine konkrete Situation entsteht ein Modell. Dieses untersucht die Auswirkungen bestimmter Einflüsse, während andere ignoriert werden. Die Kunst des Experimentierens besteht darin, diese vernachlässigten Einflüsse so weitgehend auszuschalten, dass der Ausgang des Versuchs tatsächlich weitgehend unabhängig von ihnen ist. Die Simulation ist dadurch gekennzeichnet, dass das Experiment nicht in jenem physikalischen System durchgeführt wird, welche die Theorie beschreibt, sondern auf einer Plattform, die das ursprüngliche System ersetzt. Im Fall von analogen Simulationen ist diese Plattform ein physikalisches System, das so arrangiert wird, dass aus seinem Verhalten auf das simulierte System geschlossen werden kann. Oft werden heute Simulationen aber auch numerisch durchgeführt, und das simulierte physikalische System wird in ein logisches System übersetzt. Simulationen übersetzen wie Modelle zwischen Theorie und Experiment. In manchen Fällen werden sie selbst Teil des Experimentalsystems. So werden bei den Messungen an den Teilchenbeschleunigern des CERN bekannte und daher uninteressante Ereignisse sofort aus den Daten aussortiert und verworfen. Dies geschieht auf der Grundlage von Simulationen, welche diese Ereignisse und ihre Häufigkeit vorhersagen. Nur so lässt sich unter den enormen Datenmengen das oft verschwindend kleine Signal einer neuen Entdeckung identifizieren. Dabei müssen die Simulationen aber auch die Eigenschaften des Messapparates selbst berücksichtigen. (Dippel und Mairhofer [2017] 74) Damit entsteht eine epistemische Schleife: Die Simulation übersetzt die Theorie in eine Prognose von Ergebnissen und wird dabei selbst Teil des Messapparates. Gleichzeitig werden auch die Messinstrumente simuliert und dadurch in das theoretische Modell zurückübersetzt. Die Simulation nimmt so eine dritte Position neben und zwischen Theorie und Experiment ein. (Dippel und Warnke [2022]) Ihre Gültigkeit gewinnt sie nicht daraus, dass sie die Struktur der Theorie reproduziert, sondern nur daraus, dass ihre
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Vorhersagen mit den Prognosen der Theorie und den Ergebnissen des Experiments übereinstimmen. Dabei können in der Simulation auch Annahmen gemacht werden, welche der simulierten Theorie widersprechen. (Michielsen und de Raedt [o.J.]) Heutzutage werden zunehmend Quantensysteme in Simulationen eingesetzt. Denn diese taugen zur Imitation der Natur viel besser als klassische, binäre Computer. Richard Feynman hat dies vorhergesagt: „Nature isn’t classical, dammit, and if you want to make a simulation of nature, you’d better make it quantum mechanical ...“ (Feynman [1982] 486) Das epische Theater war dem Quantencomputer weit voraus. Die Trennung zwischen Gedankenexperiment und Simulation ist ausgesprochen unscharf. Man könnte Gedankenexperimente durchaus als Simulationen verstehen, die eben im Kopf durchgeführt werden. In diesem Sinn lässt sich das Epische Theater als ein Simulator verstehen, in dem gesellschaftliche Prozesse durchgespielt werden. Brecht arbeitet lange vor den Quantenphysiker*innen an der Realisierung von Gedankenexperimenten. Er überträgt die epistemologische Funktion des Experiments in der Physik auf ästhetische Probleme und bringt mit dem Epischen Theater die epistemologische Struktur der Quantenphysik auf die Bühne. Als Metapher für Wahrheit und Erkenntnis steht Heisenbergs Mikroskop in der langen Tradition von Bildern, welche das Licht als Ausdruck des Wissens verwenden. Diese Tradition lässt sich in der westlichen Philosophie von Plotin (Dijksterhuis [1983] 52 – Jammer [1993] 36f) bis Hegel (Hegel [1970] 111–125) verfolgen: „For ancient authors, to know means to see.“ (Pomian [1998] 211) Das Licht spielt eine prominente Rolle im Diskurs des enlightenment, der Aufklärung. Krzysztof Pomian zeigt, dass in der Aufklärung optische Instrumente beginnen, eine zentrale Rolle in diesem Verhältnis einzunehmen. Wissen ist damit nicht mehr unmittelbar durch das Sehen gegeben, sondern wird aktiv produziert. (Pomian [1998]) Im 20. Jahrhundert wird in Foucaults Panoptikum, dem total überwachten Gefängnis, statt des Lichts die Vision zentral. Wahrheit wird zur Machtfrage und mit der Fähigkeit zur vollständigen Erkenntnis das totalitäre Regime assoziiert (Foucault [1979]). Mit der Lichtmetapher der Wahrheit geht eine Abbildtheorie der Erkenntnis einher, die ebenfalls eine lange Geschichte hat. Mit recht unterschiedlichen Implikationen findet sie sich in Platons Höhlengleichnis, das unsere Erkenntnis als Schatten der reinen Ideen beschreibt (Platon [1962] 224ff.) und in der WachsMetapher bei Aristoteles, in welcher die Dinge ihre Eindrücke in uns hinterlassen wie in einer Wachsplatte (Aristoteles [1990] 133–135, 429b29–430a2). Descartes greift die Metapher des Wachses in den Meditationes wieder auf (Descartes [2011] 156–160), und Lenin vertritt die Widerspiegelungstheorie mit einer zu Platon ganz konträren Intention im Empiriokritizismus: „Die Anerkennung der objektiven Ge-
1.2 Frage, These und Methode | 5
setzmäßigkeit der Natur und der annähernd richtigen Widerspiegelung dieser Gesetzmäßigkeit im Kopf des Menschen ist Materialismus.“ (Lenin [1970] 176)
1.2 Frage, These und Methode 1.2.1 Zwei Fragen Hans Blumenberg hat eine derartige Übertragung physikalischer Theorien anhand der kopernikanischen Revolution als Metaphorisierung eines naturwissenschaftlichen Konzeptes beschrieben (Blumenberg [2010] 99–107). Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Die kopernikanische Revolution, die Blumenberg untersucht, fand nicht unter den Bedingungen einer hochgradigen Spezialisierung der Wissenschaften statt. Die Geschichte dieser Spezialisierung ist vielschichtig und in verschiedenen Wissenskulturen unterschiedlich verlaufen (Daston [1998]). Doch im beginnenden 20. Jahrhundert war die Trennung der Wissensgebiete Literatur und Physik in Deutschland vollständig vollzogen. Daraus ergeben sich die beiden Forschungsfragen dieser Arbeit: Wie kann eine solche Übersetzung zwischen Physik und Literatur in der Moderne überhaupt funktionieren? Und wie lässt sich eine solche Übersetzung aufspüren, verfolgen und nachweisen? Brecht selbst scheint uns davor zu warnen, ihn allzu ernst zu nehmen: „wie wenig aufgeschnapptes wissen gehört dazu, auf der bühne den anschein tiefer wissenschaft zu erwecken.“ (Brecht [1973] 205) Dient Brechts Referenz auf die Quantenphysik bloß dazu, seine Figur etwas reicher zu gestalten und dem Text den Anschein einer gewissen Tiefe zu verleihen? In seiner berühmten Rede-Lecture von 1953 konstatiert der Schriftsteller und Naturwissenschaftler Charles P. Snow, dass sich in der academia „Zwei Kulturen“ (Snow [1964]) der Erkenntnis entwickelt haben, die miteinander weder kommunizieren wollten noch könnten. Frustriert notiert Snow, in welch geringem Maß Kultur mit Naturerkenntnis assoziiert wird: A good many times I have been present at gatherings of people who, by the standards of the traditional culture, are thought highly educated and who have with considerable gusto been expressing their incredulity at the illiteracy of scientists. Once or twice I have been provoked and have asked the company how many of them could describe the Second Law of Thermodynamics. The response was cold: it was also negative. Yet I was asking something which is about the scientific equivalent of: Have you read a work of Shakespeare’s? I now believe that if I had asked an even simpler question – such as, What do you mean by mass, or acceleration, which is the scientific equivalent of saying, ‚Can you read?‘ – not more than one in ten of the highly educated would have felt that I was speaking the same language. So the great edifice of modern physics goes up, and the majority of the cleverest people in
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the western world have about as much insight into it as their Neolithic ancestors would have had. (Snow [1964] 14f)
Und seit Alan Sokals gelungenem „Scherz“ mit der Postmoderne (Sokal [1996a]; Sokal [1996b]; Sokal und Bricmont [2001]) scheint die Kluft zwischen diesen beiden Kulturen der Evidenz tiefer denn je zu sein. Sokal hat die namhaften Herausgeber*innen einer Literaturzeitschrift gehörig hinters Licht geführt und ihnen physikalisch unhaltbare Aussagen mit postmoderner Rhetorik als kulturell gerechtfertigt verkauft. Damit hat er darauf aufmerksam gemacht, dass die Postmoderne wissenschaftliche Sorgfalt gegen klingende Phrasen getauscht hat. Keineswegs ist aber sein Schluss gerechtfertigt, damit sei hinreichend demonstriert, dass die Physik eine objektive Wissenschaft und völlig unabhängig davon ist, welche Fragen die Gesellschaft formuliert und welche Antworten sie akzeptiert. Dieser Zusammenhang ist wissenschaftlich nicht herleitbar, da die Fragen nicht zusammenhängen. Wenn sonst ein waghalsiger Begründungszusammenhang einen Bedeutungszusammenhang nicht ins Wanken bringen kann, dann gilt hier umgekehrt, dass ein gültiger Bedeutungszusammenhang den Begründungszusammenhang nicht beweist. Snow und Sokal haben aber natürlich nicht ganz unrecht. Wer zum Beispiel an der Universität Wien frühmorgens in einer Physikvorlesung sitzt und spätnachmittags in einem Seminar zur Philosophie, bekommt schnell eine Vorstellung davon, wie umfassend der Unterschied in Denkstil und Methode ist. Nachmittags trifft man auf Leute, die weitgehend allein und beinahe ausschließlich mit Texten arbeiten. Die Fragen, um die es im philosophischen Diskurs geht, sind fundamental und betreffen die Existenz der ganzen Welt und die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Erkenntnis. Das hier entwickelte Wissen muss stets in sich widerspruchsfrei und möglichst ein systematisch organisiertes Ganzes sein – auch wenn der Anspruch, ein geschlossenes System zu schaffen, im 20. Jahrhundert aufgegeben worden ist, betrifft dies nicht die methodische Geschlossenheit. Vor dem Mittagessen hingegen herrscht ein kooperativer Arbeitsstil, denn kaum jemand kommt mit den Anforderungen des Physikstudiums wie auch der experimentellen Arbeit später alleine zurecht. Das Wissen ist ein praktisches, auf konkrete Anwendungen orientiert und so vielfältig und widersprüchlich wie diese Anwendungen selbst. Das Sammelsurium an Methoden ist einigermaßen eklektisch: Worin bestünde etwa die methodische Geschlossenheit in den Tätigkeiten eines Experimentalphysikers, welche das Drehen eines Gewindes in einen Aluminiumstab, das Bedienen eines Lasers oder einer Vakuumpumpe, die Auswertung von Daten mit MatLab und die Abschätzung der Größenordnung einer Wechselwirkung umfasst? Eklektisch ist auch der Umgang mit den Modellen, von denen nur gefordert wird, dass sie die untersuchte Situation hinreichend erfassen, die aber untereinander nur bedingt
1.2 Frage, These und Methode | 7
vereinbar sind. Eine gewisse Vorsicht herrscht vor unzulässigen Verallgemeinerungen. Die Experimentalsysteme der Grundlagenforschung sind oft überraschend fragil und die Physiker*innen verbringen den Großteil ihrer Zeit damit, sie zu reparieren und instandzuhalten. Im Vergleich dazu erscheinen die Texte und Thesen der Philosoph*innen überraschend robust. Die Realität bricht nur selten in sie ein. Diese Unterschiede in Ausbildung, implizitem Wissen und wissenschaftlicher Kultur werden durch das gegenwärtige System des wissenschaftlichen Publizierens und der Forschungsförderung verschärft und perpetuiert. Interdisziplinarität ist ein Buzzword geworden, das oft notwendig ist, um an Fördermittel zu kommen. Doch während auf dem Papier Interdisziplinarität gefordert und gefördert wird, wissen die Förderstellen mit nur selten, wie sie mit interdisziplinären Anträgen umgehen sollen – zumindest dann, wenn die Disziplinen weiter voneinander entfernt sind und nicht wie etwa Chemie und Quantenphysik historisch eng verbunden sind und in einem ständigen Austausch stehen. Die interne Struktur der Förderagenturen folgt eben jener Trennung in unterschiedliche Fachgebiete, deren Überwindung sie angeblich anstreben. Erfolgreiche interdisziplinären Einreichungen entstehen oft aus der Kooperation zwischen eng verwandten Gebieten wie Chemie und Physik. Ehrliche Ratgeber*innen werden deutlich aussprechen, dass die Chance eines Förderantrags, der sowohl Philosophie als auch Physik adressiert, verschwindend gering sind. Ein Grund dafür ist der Prozess des Peer Reviews selbst. Da der fachliche Hintergrund der einzelnen Gutachter*innen meist auf ein Gebiet beschränkt ist, wird er/sie meist wenig mehr als die Hälfte das Antrags verstehen. Dies erschwert die Vermittlung des Forschungsziels und der Methoden oft erheblich, und die Überschreitung der disziplinären Grenzen ruft bei Gutachter*innen bisweilen offene Feindseligkeit hervor. Eine Spannung zwischen den Wissensgebieten entsteht auch durch die unterschiedlichen Kulturen des Publizierens. Während in den meisten Naturwissenschaften kurze Artikel die Ergebnisse oft jahrelanger Forschungsarbeit verkünden, werden in den Geistes- und Kulturwissenschaften Monographien viel höher bewertet. Dieser Mangel an gegenseitiger Anerkennung von Publikationen blockiert Karrierewege, die sich zwischen den Disziplinen bewegen.
1.2.2 Formans Thesen In seinen berühmten Thesen bringt Paul Forman die Aufgabe der strikten Kausalität in der Quantenmechanik mit dem spezifischen kulturellen Umfeld der Physiker*innen in der Weimarer Republik in Verbindung. Sein Ansatz steht in
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scharfem Kontrast zum Konzept einer Interferenz zweier Wissenskulturen, das ich zur Beschreibung der Wechselwirkung zwischen Brecht und der Quantenphysik anwende. Durch diesen Kontrast werden die Konsequenzen dieser methodischen Entscheidung deutlicher. Der verlorene Erste Weltkrieg hatte die Physik in Deutschland diskreditiert, da ihr eine kriegsentscheidende Rolle zugesprochen worden war. Die Wissenschaftler*innen waren, so Forman, nach dem Krieg gezwungen, sich an die Denkmuster einer soziokulturellen Umgebung anzupassen, die „von den Physikern entschieden als feindlich empfunden“ (Forman [1994] 75) wurde. Leider reduziert Paul Forman diese Denkmuster weitestgehend auf Spenglers Untergang des Abendlandes und die Lebensphilosophie. Er behauptet, daß in den akademischen Kreisen der Weimarer Zeit eine neoromantische, existentialistische Lebensphilosophie vorherrschte, die – als Nachwirkung der deutschen Niederlage – in Krisen schwelgte [...] Verdeckt oder auch ganz offen wurde der Physiker zum Prügelknaben und zur Zielscheibe unablässiger Ermahnungen zur geistigen Erneuerung, während der Begriff [...] Kausalität zum Symbol all dessen wurde, was an dem wissenschaftlichen Unterfangen verhaßt war. (Forman [1994] 64)
Den Nachweis dieser Vermutung bleibt er aber schuldig. Die viel komplexeren philosophischen und ideologischen Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik werden ignoriert. Der Marxismus ist in seiner Analyse schlicht inexistent. Die „auf Erfahrung und logisch-atomistischer Analyse der begrifflichen Strukturen ausgerichtete wissenschaftliche Weltauffassung“ (Forman [1994] 79) des Wiener Kreises habe ihren Einfluss erst lange nach der Entstehung der Quantenmechanik entfaltet (Forman [1994] 81). Die Kontinuitäten zwischen der Philosophie Machs und dem logischen Empirismus negiert Forman. (Forman [1994] 107f). Dabei übersieht er aber, dass sich die Auseinandersetzung um die Kausalitätsproblematik in der Quantenmechanik sich bis weit in die 1930er Jahre zog – wenn man sie überhaupt als abgeschlossen betrachten kann. Dennoch behauptet Forman, dass man sich an die Entwicklung der neuen Physik gemacht habe, nachdem der Großteil der deutschen Physiker*innen diese Bekehrung vollzogen hatte (Forman [1994] 161). So habe das kulturelle Umfeld der Weimarer Republik entscheidend zur Entwicklung der Quantenmechanik beigetragen: Wollte der Physiker sein öffentliches Ansehen heben, mußte er zuerst und vor allem die Kausalität aufgeben, den strengen Determinismus [...] Und dies benötigten die Physiker gerade zur Lösung der im Brennpunkt des physikalischen Interesses stehenden Probleme der Atomphysik. (Forman [1994] 67)
1.2 Frage, These und Methode | 9
John Hendry hält aber fest, dass die Aufgabe der Kausalität keineswegs, wie Forman behauptet, aus wissenschaftsinternen Fragestellungen heraus völlig ungerechtfertigt gewesen ist – im Gegenteil: „Es bestanden in der Tat starke fachliche Gründe für eine Ablehnung der Kausalität“ (Hendry [1994] 210), die etwa aus Bohrs Atommodell resultierten. Davon abgesehen verwechselt Forman statistische Kausalität mit völliger Akausalität und verleiht der letzteren einen quasi-religiösen Charakter (Forman [1994] 154). Wenn in dieser Akausalität Wirkungszusammenhänge gedacht werden, so würden im Sinn der Lebensphilosophie statt mechanischer strenger Kausalität nun organischer Prozess und teleologischer Zweck favorisiert (Forman [1994] 76– 78). Aus einem Paradigmenwechsel in der Physik wird bei Forman eine „Bekehrungswelle zur Akausalität“. (Forman [1994] 148) Dabei gilt ihm der Physiker und Philosoph Hans Reichenbach als besonders extremes Beispiel für den Übergang zur Akausalität: Was die Plötzlichkeit der Akausalitätsbekehrung, ihre ausgesprochene Unabhängigkeit von den neueren Entwicklungen in der Atomphysik und ihre offenkundige Beziehung zur Unterwerfung unter die existentialistische Lebensphilosophie anlangt, ist der Fall von Reichenbach gewiß ungewöhnlich. (Forman [1994] 154)
Forman meint, dass „der notorische Existenzialist [sic!] Reichenbach“ (Forman [1994] 152) uns seine „existenzialistische [sic!] Philosophie, als logischer Empirismus getarnt“ (Forman [1994] 153) verkauft, und zwar in seinem Aufsatz Wahrscheinlichkeitsgesetze und Kausalgesetze von 1925. Woran genau sich die „existenzialistische Philosophie“ bei Reichenbach festmachen lässt, führt Forman allerdings nicht aus. John Hendry widerlegt in seiner Kritik Formans Konversionsthese für jeden einzelnen der diskutierten Physiker – interessanterweise mit Ausnahme Reichenbachs (Hendry [1994] 213–224). Liest man Reichenbachs Artikel Wahrscheinlichkeitsgesetze und Kausalgesetze (Reichenbach [1925]), so fällt es schwer, Formans Beschreibung nachzuvollziehen. Reichenbach bezieht sich ausdrücklich auf das Bohrsche Atommodell, entwickelt sein Argument also keineswegs unabhängig von den neueren Entwicklungen der Atomphysik. Es sei umstritten, so Reichenbach, ob es möglich ist, eine streng kausale Erklärung der Vorgänge in diesem Atommodell zu finden: „Gewiß können wir heute nicht schon für die eine oder andere Auffassung Partei nehmen.“ (Reichenbach [1925] 792) Die Philosophie könne aber nicht a priori verlangen, dass ein strenges Kausalgesetz existiert, die Physik müsse diese Frage klären. Das ist das Radikalste, was Reichenbach in diesem Artikel sagt – wenn das der ungewöhnlichste Fall einer „Bekehrung“ zur Akausalität sein sollte, den Forman vorbringen kann, so ist sein Argument wohl gescheitert. Reichenbachs Auffassung fällt keineswegs vom Himmel – bereits in den
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Jahren zuvor hatte er sich auf diese Art von Kants Raumkonzept distanziert. Wir werden weiter sehen, dass Reichenbach das Denken in Kausalzusammenhängen nicht abgelehnt hat, auch wenn er über den ganz einfachen Fall der eindeutigen Verknüpfung einer Ursache mit einer Wirkung hinausgegangen ist (siehe Teil II). Wir werden aber eine scharfe Kritik teleologischer Prinzipien bei ihm finden, was zu einem existentialistischen Lebensphilosophen so gar nicht passen mag. Mit Formans verknappter Analyse der Kultur der Weimarer Republik und seiner Identifikation von strengem Determinismus mit Kausalität überhaupt lässt sich meiner Meinung nach weder die komplexe Diskussion um das Kausalitätsproblem in der Quantenmechanik hinreichend erfassen, noch das historische Umfeld der Physiker*innen beschreiben. Formans Tendenz, radikale Behauptungen nicht zu belegen, überschreitet bisweilen die Grenze zur Unwissenschaftlichkeit. Dennoch ist sein Ansatz, die Entwicklung der neuen physikalischen Denkweise in ihr kulturelles Umfeld einzubetten, von großem Wert. Allerdings ist diese Erkenntnis nicht ganz neu – schon Erwin Schrödinger hat im Februar 1932 in einem Vortrag über Die Stellung der Naturwissenschaften im Kulturmilieu die These vertreten, dass die Erkenntnisse der Physik nicht isoliert von ihrem kulturellen Umfeld entstehen (Meyenn [1994] 11f). Und Bertolt Brecht selbst bemerkt: „Die Physik verdankt, wie mir scheint, sehr viele physikalische Beobachtungen ihrer sozialen Umwelt.“ (Brecht [1967] Bd. 15, 279) Karin Knorr-Cetina begreift unterschiedliche Wissensgebiete als epistemische Kulturen (Knorr-Cetina [2002]). Die Wissenschaften sind selbst Kulturen, welche Netzwerke von Symbolen erzeugen, die ihre Bedeutung in den kollektiven Praktiken erhalten, die ihnen korrespondieren. Paul Formans Analyse hingegen kennt nur eine Richtung der Determination und ignoriert, auf welche Art Physik selbst Bedeutung erzeugt. (Carson et al. [2008]). Peter Galison bezeichnet die Felder, auf denen unterschiedliche epistemische Kulturen einander begegnen und ihre Konzepte und Praktiken miteinander aushandeln als „trading zones“ (Galison [1997], Galison und Jones [1998]). Dieses Konzept setzt relativ stabile Wissensgebiete voraus, die miteinander in einen marktförmigen Austausch treten. Zur Beschreibung der Interaktion zweier neu entstehender Wissenskulturen ist es wenig geeignet. Eine physikalische Theorie entwickelt sich genauso wie ein Theaterstück in einem Feld vielfältiger Wechselwirkungen. Forman untersucht eindimensional nur die Wirkung des Milieus auf die Physik. Wir werden in Brechts Galilei einen ganz anderen Gedanken kennenlernen: Die Naturwissenschaft entwickelt ihrerseits Denkfiguren, welche revolutionär wirken, wenn sie auf die Gesellschaft übertragen werden (siehe Kapitel 4.2). Nicht selten verwendet Brecht dieses Verfahren in seinen theoretischen Schriften selbst. Und Reichenbach wird uns darauf hinweisen, dass Krieg, soziale Umwelt und kulturelles Milieu in enger Wechselwirkung mit der ökonomischen Sphäre stehen (siehe Kapitel 7.2.5). So wurde die Unsicherheit der
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Erwartungen und Voraussagen in der Weimarer Republik auf drastische Weise im ökonomischen Bereich erfahren. Die Interaktion zwischen Wissensgebieten wurde als „co-production“ (Jasanoff [2004]) beschrieben, welche „boundary objects“ (Star und Griesemer [1989]) erzeugt. Auch das Konzept der „Assemblage“ (Collier und Ong [2008]) mag als eine brauchbare Grundlage für eine Studie der Oszillation von Begriffen und Methoden zwischen den Disziplinen erscheinen. Doch während diese Ansätze in seinem eigenen Feld fruchtbar sind, gehen sie von scharf getrennten und etablierten, stabilen Disziplinen aus. Heisenbergs Mikroskop entsteht aus einer anderen Form der Wechselwirkung zwischen epistemischen Kulturen – aus einer Wechselwirkung, in der sich die Wissensgebiete erst gegenseitig konstituieren.
1.2.3 Methode: Interferenz versus Spiegelung Mit Heisenbergs Mikroskop problematisiert Brecht den Status unserer Erkenntnis: Die Objekte können darin nicht objektiv erkannt werden, weil das erkennende Subjekt Teil der Experimentalanordnung ist und in das Ergebnis eingeht. Brechts Freund, der Komponist Hanns Eisler, beschreibt später in einem Interview die große Rolle, die das Gedankenexperiment in den Gesprächen zwischen ihm und Brecht gespielt hat: Sie wissen: die berühmte Unschärfe-Theorie ist für uns geradezu ein Leibgericht. Wenn er [Heisenberg, L.M.] sagt, daß sich das zu Erkennende durch die Methode der Erkennung verändert, so daß wir es nicht genau erkennen können – das stimmt ungefähr genau –, ja das ist für uns ein einfaches Volksfest. (Bunge [1970] 153)
Die Metaphorisierung des γ-Strahlen Mikroskops bricht mit der klassischen LichtMetapher, die auf eine reine und absolute Wahrheit abzielt. Wahrheit ist in Heisenbergs Mikroskop eine produzierte, keine durch Erleuchtung oder aber durch Widerspiegelung gegebene; und gerade weil sie eine experimentell hergestellte, ist sie auch eine unsichere Wahrheit. Sie ist also performativ und nicht reflexiv. Brecht hat seine Kritik an der Theorie, dass die Wirklichkeit im Subjekt widergespiegelt wird, bereits Anfang der 1930er formuliert und festgehalten, dass sowohl Objekt als auch Subjekt in das Ergebnis einer Beobachtung eingehen: Die Philosophen sind auch nicht wie mit Wasser gefüllte Eimer, die immer den gleichen Mond spiegeln, und zwar so klar, wie sie als Wasser eben klar sind. Aus einem Vergleich des Gespiegelten und des Spiegels kann man weder die Welt noch den Kopf erkennen, und zwar hauptsächlich, weil die Köpfe gewisser Zwecke wegen die Welt, die ja immer verschieden ist, noch dazu in ihrer Darstellung, veränderten. (Brecht [88ff] Bd. 21, 564)
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Abb. 1.1: Simulation der Interferenz der beiden Wellen, die sich hinter einem Doppelspalt bilden. Bild zur Verfügung gestellt von Lookang unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en) auf wikimedia.
Die Physikerin und Wissenschaftstheoretikerin Karen Barad schlägt vor, die weitverbreitete Metapher der Erkenntnis als Abbild des Objekts durch die Metapher einer Interferenz zwischen Subjekt und Objekt zu ersetzen. (Barad [2007] 71ff.) Damit greift sie ein Konzept auf, das Donna Haraway formuliert hat, um den Repräsentationscharakter der Sprache zu kritisieren (Haraway [1992]). Barad bleibt damit bewusst bei der optischen Metaphorik des Erkenntnisprozesses (Barad [2007] 86), aber sie weist nachdrücklich darauf hin, dass sie von der klassischen Optik zur Quantenoptik übergeht (Barad [2007] 81, 85). In der Quantenoptik ist die Wahrheit eine „performative“ (Barad [2007] 33), stellt sie fest. Das Abbild im Spiegel wird als neutrale Repräsentation des Objekts gedacht, bei welcher der Spiegel höchstens störenden Einfluss haben kann – je nach dem wie „klar“ (Brecht [88ff] 564) er eben ist. Diese epistemologische Position wird mit Heisenbergs Mikroskop höchst problematisch, denn nun hängt das Ergebnis vom Zweck der Untersuchung ab: In the twentieth century, both the representational or mimetic status of language and the inconsequentiality of the observational process have been called into question. (Barad [2007] 97)
In der Quantenmechanik scheinen die Eigenschaften des Untersuchungsgegenstandes erst im Prozess der Beobachtung realisiert zu werden. Das Ergebnis ist das Resultat einer Interferenz von Subjekt und Objekt. Interferenz entsteht durch die Überlagerung von Wellen, wobei sich an einigen Stellen die Wellen gegenseitig verstärken, an anderen auslöschen. Sie kann also nur zwischen Entitäten stattfinden, die nicht strikt voneinander getrennt sind, sondern
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eine Superposition bilden können. Den Ursprung der einzelnen Wellen können zum Beispiel Steine bilden, die wir in einen See werfen. Die Wellen können sich aber auch hinter den dünnen Spalten einer Maske bilden, an welcher eine einfallende Welle gebeugt wird (siehe Abb. 1.1). In der quantenmechanischen Beschreibung ist die Wechselwirkung zwischen dem Lichtteilchen und dem Elektron in Heisenbergs Mikroskop ein Beispiel für ein Interferenzphänomen. Weil in das Interferenzbild sowohl die Eigenschaften der Welle als auch der Maske eingehen, können mit seiner Hilfe Eigenschaften der Welle bestimmt werden, wenn die Maske gut bekannt ist, und umgekehrt kann die Maske untersucht werden, wenn man die Welle kennt. Das liegt daran, dass bei der Interferenz Erkenntnisgegenstand und Erkenntnismittel gleichermaßen in das Bild eingehen. Der Gegenstand mit seinen Eigenschaften wird hier nicht als seiner Untersuchung vorausgesetzt und von dieser unabhängig aufgefasst. Die Annahme einer fixierten Verteilung der Rollen beruht auf einer Abstraktion. Ein Beispiel für die Problematik solcher leerer Abstrakta ist die Analyse Paul Formans (Forman [1994], vgl. den Exkurs 1.2.2), welche die Quantenmechanik in der Kultur der Weimarer Republik ertränkt. Im Gegensatz dazu soll bei der Interferenz Brechts mit der Quantenphysik das Bild durch die Überlagerung zweier gleichberechtigter Wissenssysteme gewonnen werden. Beide können als Heisenbergsches Mikroskop dienen, durch welches wir das andere Objekt betrachten – man könnte sagen: Beide können als Folie dienen, gegen welche das andere Wissensgebiet gelesen wird. In einem ähnlichen Sinn spricht auch die Literaturwissenschaftlerin Franka Köppe von einer „Interferenz [...] zwischen poetischer und wissenschaftlicher Produktion“. (Köpp [2002] 78) In der Brechtschen Spielweise, Haltungen und Gesten zu zitieren und zu demonstrieren, sieht Köppe den „Interferenzpunkt“ (Köpp [2002] 214) zwischen poetischer und außerpoetischer Kommunikation. Allerdings entwickelt sie den Interferenzbegriff nicht weiter und begründet ihn auch nicht als methodisches Konzept. Interferenz wird in der Kulturwissenschaft auch in einem weiteren Sinn verwendet: Der Philosoph Richard Heinrich etwa spricht von den „Interferenzen“ (Heinrich [2009] 9) der vielfältigen Hinsichten eines Begriffs. Das Konzept der Interferenz hat seine Bedeutung für mich während meiner Arbeit an einem Kapitza-Dirac-Talbot-Lau-Interferometer für Materiewellen (KDTLI) entfaltet (Cotter et al. [2015], Mairhofer et al. [2017], Geyer et al. [2016], Mairhofer et al. [2018], Fein et al. [2020]). Im KDTLI werden komplexe Moleküle in eine sorgfältig präparierte Umgebung gebracht, in der keine Pfadinformation über sie vorliegt. Deshalb verhalten sich die Moleküle nicht mehr so, als wären sie scharf lokalisiert und die Bewegung ihres Massenmittelpunkts kann als Materiewelle beschrieben werden. Diese Materiewellen werden an einem Gitter gebeugt, was voraussetzt, dass jede Welle zumindest zwei Spalten der Maske gleichzeitig passiert, ein Verhalten welches im klassischen Teilchenbild ausgeschlossen ist. Jeder Spalt
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Abb. 1.2: Ebene Wasserwellen treffen auf ein Hindernis. Hinter einem Spalt bildet sich eine runde Wellenfront aus. Befinden sich im Hindernis mehrere Spalten, überlagern sich die runden Wellenfronten und es kommt zu Interferenz. In diesem Fall bildet den Schirm, auf dem das Interferenzmuster abgebildet wird, der Sandstrand, an dessen Verlauf deutlich die Maxima und Minima der Intensität der einfallenden Wasserwellen zu erkennen sind.
in der Maske ist nun die Quelle einer Welle und diese Wellen überlagern sich so, dass sie sich an einigen Stellen auslöschen, an anderen verstärken. Das Ergebnis der Interferenz muss nun aber tatsächlich abgebildet werden. Diesen Schritt vernachlässigt Karen Barad. Sie spricht von einer Intra-Aktion zwischen Welle und Maske, bei welcher ein Schnitt gesetzt werden muss, der entscheidet, was zum Apparat und was zum Untersuchungsgegenstand gehört. Ich denke, dass das Setzen des Schnittes selbst eine Abbildungsfunktion ist und Repräsentation nicht vermieden werden kann. Es werden aber viele Abbildungen möglich. Nach meinem Verständnis kann dieser Schnitt nur in der Projektion auf ein Drittes, den Schirm, gesetzt werden. Dabei entsteht ein Interferenzmuster, das vom Abstand zwischen der Maske und dem Schirm (gemessen an Wellenlänge und Gitteröffnung) abhängt. Abhängig von diesem Abstand lassen sich zwei Bereiche unterscheiden, die fließend ineinander übergehen. Im Nahfeld überlagern sich die einzelnen Wellen so chaotisch, dass ihre Interferenz nicht exakt beschrieben werden kann sondern durch numerische Verfahren näherungsweise berechnet wird. (Case et al. [2009]) Dennoch treten auch hier Regelmäßigkeiten auf – es formt sich ein sogenannter Talbot-Teppich und die Form der Maske wird in regelmäßigen Abständen reproduziert. Hier wird also gerade die Maske, das Instrument abgebildet. Im Fernfeld bildet sich wieder eine gemeinsame Wellenfront heraus und das Interferenzbild besteht aus mehreren Maxima, deren Intensität zum Rand hin abnimmt. Die Maske
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Abb. 1.3: Das linke Bild zeigt den Übergang vom Nah- zum Fernfeld. Im Nahfeld wird in bestimmten Abständen, Vielfachen der Talbot-Länge Lt , die Maske abgebildet. In größeren Abständen entwickelt sich das Fernfeld-Interferenzmuster mit Haupt- und Nebenmaxima. Das Close-up auf der rechten Seite zeigt den Talbot-Teppich im Nahfeld. Bilder aus Hornberger et al. [2012].
wird hier niemals scharf abgebildet, die Nebenmaxima führen dazu, dass ihre Grenzen unscharf und mehrdeutig werden (Barad [2007] 75). Zunächst scheint es, als würde Luhmanns Systemtheorie einen solchen Ansatz ausreichend rechtfertigen, so dass ein Rückgriff auf die Interferenzmetapher nicht notwendig ist (Dilmac [2012]). Tatsächlich besteht eine gewisse Übereinstimmung. Autonome Subsysteme bilden ein Gesamtsystem, wobei jedes Subsystem die Umwelt der anderen Subsysteme bildet. Sie können also ihre Rollen als System und Umgebung tauschen, wie dies auch die Interferenzmetapher formuliert. Entscheidender Unterschied ist jedoch, dass diese Systeme als abgeschlossen und selbst-generierend gedacht sind: „Die Gesellschaft genauso wie ihre einzelnen Teilsysteme sind autopoietische Systeme, deren Operationen Kommunikationen sind.“ (Dilmac [2012] 44) Jedes Teilsystem hat seine spezifische Kommunikationsweise, einen bestimmten Code, der nur in diesem System auftritt. Dieser Code ist binär gedacht und enthält die grundlegende Operation, die durch das System reproduziert wird. So arbeitet die Wissenschaft etwa mit dem Code von wahr/falsch und die Kunst mit dem Code schön/hässlich. Bei einer Übersetzung zwischen zwei Systemen ändert sich die Codierung. So interessiert sich etwa die Literatur nach diesem Konzept nur für die ästhetischen Aspekte der Wissenschaft. Dies reicht nicht aus, um Brechts Ansatz zu erfassen. Denn bei Brechts Metaphorisierung des Heisenbergschen Mikroskops geht es um die Übertragung des Wahrheitskonzepts aus der Quantenmechanik in die Ästhetik, wie wir sehen werden. Dabei bleibt der Code von wahr und falsch erhalten. Umgekehrt vermutet Brecht, dass die Physik selbst mit ästhetischen Kategorien operiert:
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Es könnte ja heute sogar eine Ästhetik der exakten Wissenschaften geschrieben werden. Galilei schon spricht von der Eleganz bestimmter Formeln und dem Witz der Experimente, Einstein schreibt dem Schönheitssinn eine entdeckerische Funktion zu, und der Atomphysiker R. Oppenheimer preist die wissenschaftliche Haltung, die ‚ihre Schönheit hat und der Stellung des Menschen auf Erden wohl angemessen scheint.‘ (Brecht [1967] Bd. 16, 662)
Er berichtet, dass die Physiker*innen selbst den ästhetischen Aspekt in ihren Arbeiten suchen und geht noch weiter – auch der politische Aufstand hat seine Eleganz: Nach der Lektüre eines neuen physikalischen Aufsatzes von Niels Bohr rief Einstein: ‚Das ist höchste Musikalität auf dem Gebiet des Denkens!‘ – Ebensogut hätte man von dem Aufsatz wohl sagen können: Ein Aufstand, schön geplant und mächtig durchgeführt! (Brecht [1967] Bd. 20, 335)
Die Unterscheidung in binäre Codes scheint die Trennung der Wissenschaften erst zu begründen, welche die Systemtheorie dann aufzuheben versucht. Ulrich Sautter vertritt die These, dass Brecht Wissenschaft und Kunst nicht als getrennte Disziplinen zu verbinden suchte, sondern „beide Formen als Ausdruck ein und derselben intellektuellen Betätigung und desselben systematisch operierenden Erkenntniswillens ansah.“ (Sautter [1995] 688) Im Gegensatz zur Systemtheorie schlägt die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston vor, nicht nur die Beziehung zwischen Naturwissenschaften und der sie umgebenden Kultur zu betrachten, sondern Naturwissenschaft selbst als Kultur aufzufassen. (Daston [1998] 17) Wenn Wissenschaft eine Kultur ist, heißt das, daß die Wissenschaft eigene Werte und Bedeutungen kreiert und solche nicht lediglich aus anderen Sphären entlehnt. (Daston [1998] 29)
1.2.4 Metaphorisierte Konzepte, Gestalt, Denkstil Nicht nur Maske und Welle können ihre Rollen als Instrument und Objekt der Untersuchung tauschen: In klassischen Interferenzexperimenten werden Lichtwellen an materiellen Gittern gebeugt, im KDTLI hingegen wird die Maske von einer stehenden Lichtwelle geformt und bei der Wechselwirkung der Materiewelle mit dem Kosinus-Potential der stehenden Laserwelle entsteht eine Entität, die durch einen gemeinsamen Hamiltonian beschrieben werden kann (Meystre [2001] 68ff.). Nach der Wechselwirkung wird ein Interferenzbild als Nachweis des Wellenverhaltens der Moleküle aufgenommen. So wie hier Licht und Materie ihre Rollen tauschen, sollte auch bei der Beugung zweier Denksysteme aneinander ihre Rolle austauschbar sein. Der Schnitt (Barad [2007] 175, 178) zwischen dem System, welches als
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Gitter fungiert und jenem, welches gebeugt wird, ist performativ gesetzt und hängt von der Fragestellung der Untersuchung ab. Neben den Eigenschaften von Maske und Welle hängt das Interferenzbild auch vom Abstand des Schirmes ab, also davon, wo wir die Entwicklung der gemeinsamen Entität abbrechen. Unterschiedliche Schnitte erzeugen verschiedene Bilder. Damit integriert das Interferenzkonzept die Abbildungen widersprüchlicher Aspekte eines Vorgangs auf unterschiedlichen Skalen. Man könnte hoffen, dass die Metapher von Heisenbergs Mikroskop eine solche Projektion einer Interferenz ist, von der sich noch viele andere Bilder finden lassen. Kann es gelingen, ein und dieselbe Interferenz sowohl in vergessenen Manuskripten zu suchen als auch in der Zirkulation der Begriffe durch die Wissensgebiete, in den Textspuren, welche sie in einem Drama hinterlassen haben, ebenso nachzuweisen wie in der gemeinsamen Geschichte der Vertreibung durch den Nationalsozialismus? Anders als die Konzepte des Abbildes und der Spiegelung vermeidet Interferenz die Erzeugung von Analogie und Homologie. Diese Konzepte beruhen auf einem Vergleich von strikt getrennten Begriffen. Bei einer Interferenz hingegen wird nicht Existierendes an einem Existierenden gespiegelt, sondern es entsteht in der Wechselwirkung eine Entität, in welche beide Momente eingehen. Bei ihrer Beobachtung muss die Entwicklung dieser Entität abgebrochen und der momentane Zustand fixiert werden. Abhängig davon, wo dieser Schnitt gesetzt wird, werden bestimmte Aspekte der aus der Wechselwirkung entstandenen Entität sichtbar. Dabei entstehen Spuren, deren Fährte wir folgen können (Barad [2007] 164). Sie sind aber nur möglich, wenn Welle und Maske bestimmte Bedingungen erfüllen, die ihre Wechselwirkung ermöglichen. In unserem Fall sind dies gemeinsame Konzepte, Methoden und Probleme in beiden Wissensgebieten und ihr gemeinsames historisches, soziales und kulturelles Umfeld. Unter einer Metapher versteht man ein sprachliches Bild, bei dem die Bedeutung aus den Bildelementen und ihren Beziehungen entwickelt wird. Es muss aber nur die Richtung dieser Projektion umgekehrt werden, um die Metapher in eine Allegorie zu verwandeln (Blumenberg [2010] 16f) – daher ist bei ihrer Analyse eine gewisse Vorsicht geboten: Jedes Element der Metapher muss entsprechend seiner Funktion interpretiert werden (Blumenberg [2010] 126). Die Methode der Ikonologie wurde zur Interpretation der bildenden Kunst entwickelt. Als Bildanalyse kann sie uns aber auch Hinweise zur Interpretation von Metaphern geben. Erwin Panofsky unterscheidet zwischen zwei Ebenen des „Sinnverstehens“ bei der Entschlüsselung der Bedeutung eines Bildes. (Panofsky [o.J.] 186f) Dies ist unmittelbar die Frage nach der symbolischen Bedeutung der einzelnen Elemente des Bildes, der dargestellten Akteure (im Sinne Latours, Latour [2010] 54) und ihrer Beziehungen. Doch damit diese Decodierung möglich ist, müssen die beteiligten Entitäten erst einmal identifiziert werden. Ein Bild, so
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folgert Panofsky, muss „nicht nur aufgrund der unmittelbaren Wahrnehmungen am Einzelobjekt, sondern auch aufgrund eines Wissens um allgemeine Gestaltungsprinzipien“ (Panofsky [o.J.] 186) beschrieben werden. Diese allgemeinen Gestaltungsprinzipien fasst er als Stil des Bildes zusammen, der die Identifikation der Symboleinheiten ermöglicht. Gestalten sind „in sich organisierte Ganzheiten“ (Köhler [1971] 7) oder „funktionale Strukturganzheiten“ (Köhler [1971] 69) – das Ganze ist nicht bloß mehr als die Summe seiner Teile, sondern etwas grundsätzlich anderes, bemerkt Caroll Pratt im Vorwort zu Köhlers Buch. Die wahrgenommenen Phänomene sind Gestalten, nicht isolierte Empfindungen. Sie bestehen bereits aus Beziehungen zwischen Einzelmomenten, die eine Form ergeben, aber auch zwischen Lauten bei der Bildung von Worten, zwischen Worten bei der Bildung von Sätzen und zwischen Tönen, deren Verhältnis Melodien und Rhythmen erzeugt. (Köhler [1971] 16). Kurt Koffka argumentiert mit den zeitgenössischen Ergebnissen der Molekülphysik, um zu zeigen, dass nicht Substanz sondern Funktion entscheidend ist: „H, H2 and H2 O have all different properties which cannot be derived by adding properties of H’s and O’s.“ (Koffka [1962] 57) Die für die chemischen Eigenschaften entscheidende Struktur der Elektronenorbitale eines Wassermoleküls ergibt sich nicht einfach als Kombination der Orbitale des Wasser- und Sauerstoffs: „It is wrong to say that this system consists of two hydrogen atoms and one oxygen atom.“ (Koffka [1962] 57) Die Zerlegung in Wasser- und Sauerstoff trennt das bestehende System auf in zwei vollständig davon verschiedene; die Übereinstimmung besteht darin, dass die Masse erhalten wurde – keineswegs aber die weiteren Eigenschaften. Thomas Kuhn hält in der Einleitung zu seinen Scientific Revolutions fest: Effective research scarcely begins before a scientific community thinks it has acquired firm answers to questions like the following: What are the fundamental entities of which the universe is composed? [...] What questions may legitimately be asked about such entities. (Kuhn [1970] 4f)
Damit ist nicht nur festgelegt, welche Entitäten das Universum enthält, sondern auch, welche Entitäten nicht existieren können. (Kuhn [1970] 7) Diese fundamentalen Entitäten sind die Gestalten, mit denen ein Wissensgebiet operiert. Während Kuhn hier sein Universum von den Entitäten her aufbaut, ist es durchaus denkbar, dass die Entitäten sich erst in ihren Beziehungen – gewissermaßen im Universum – konstituieren. Diese Beziehungen entsprechen denkbaren, realisierbaren, erfahrbaren Strukturen. Der Mikrobiologe und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck spricht daher von einem Denkstil, der in jedem wissenschaftlichen Paradigma enthalten ist und dem bestimmte Denkfiguren entsprechen, denen bestimmte experimentelle Prakti-
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Abb. 1.4: Albrecht Dürer, Ritter, Tod und Teufel (1513). Bild zur Verfügung gestellt unter der Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication Lizenz auf wikimedia.
ken korrespondieren, die aber auch ethische und ästhetische Implikationen haben. Fleck betont damit eine ästhetische Komponente, die dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess ebenso a priori ist wie die angewandten Konzepte und die ihnen zugrundeliegenden Begriffe und ihre Logik. Seine Überlegung bezieht er explizit auf die Gestalttheorie. Diese beschreibt die Haltung, welche das Subjekt aktiv in den Erkenntnisprozess einbringt und damit seiner Erkenntnis aufprägt: Der Denkstil bedingt ein selektives „Gestaltsehen.“ (Fleck [1935] 100) So entsprechen jedem Stil bestimmte konkrete Denkfiguren, mit denen die Wissenschaftler*innen operieren. Kuhn versteht einen Paradigmenwechsel als Übergang zwischen zwei Denkstilen, als „Gestalt-switch.“ (Kuhn [1970] 120) Die Bedeutung des Stils für die Organisation unserer Wahrnehmung, für unsere Erfahrung der Welt lässt sich vielleicht am deutlichsten anhand der bildenden Kunst diskutieren, etwa anhand dreier Gemälde von Pferden und Reiter*innen aus verschiedenen Epochen. Albrecht Dürers Kupferstich Ritter, Tod und Teufel oder auch Der Reuther aus dem Jahr 1513 zeigt uns ein dichtes Gedränge von Figuren und Symbolen (Abb. 1.4). Die Hauptaufgabe der Betrachter*innen bei der Interpretation des Bildes besteht darin, diese Symbole und Figuren zu „lesen“, ihre Bedeutungen zu entschlüsseln.
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Abb. 1.5: Édouard Manet, Les Courses à Longchamp (1867). Gemeinfreies Bild zur Verfügung gestellt auf wikimedia.
Denn trotz ihrer überwältigenden Dichte können die einzelnen Elemente des Bildes leicht voneinander unterschieden werden können. Die Abbildung versucht so realistisch und naturgetreu zu sein, wie eine Abbildung des Teufels sein kann. Obwohl auch im schwarz-weißen Original die Farbe fehlt, um die Entitäten voneinander abzuheben, ist selbst im Gewirr der Beine die Zuordnung eindeutig. Dazu ist es erforderlich, dass das Bild ist räumlich organisiert ist. Die Figuren und Objekte sind hintereinander gestaffelt und in der Tiefe der Landschaft liegt weit entfernt eine Burg. Zur gleichen Zeit, als Galilei mit seinen Experimenten die Grundlagen der klassischen Physik und Astronomie legte, wurde in der Malerei die Zentralperspektive entwickelt. Diese weist den auch Betrachter*innen eine klar definierte Position innerhalb des Bildes zu und bestimmt die Ordnung der Dinge. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommt es in einer Reihe von epistemische Kulturen zu einem „Gestalt-switch“. (Kuhn [1970] 120) Dieser betrifft nicht nur die beobachteten Objekte und ihre Beziehungen, sondern auch die Beobachtung selbst, das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt. Diese epistemische Revolution wurde zuerst in der bildenden Kunst sichtbar. (Berger [1972]). Im 19. Jahrhundert richtet der Impressionismus die Aufmerksamkeit auf die Maler*innen als erzeugende Beobachter*innen. Die Gemälde sollen nicht mehr ein unmittelbares Abbild der Wirklichkeit darstellen, sondern zeigen, wie die Wirklichkeit für den oder die Künstlerin ist. In Édouard Manets Bild eines Pferderennens sind die einzelnen Elemente des dichtgedrängten Pferdebulks keineswegs mehr deutlich unterscheidbar, auch wenn das im farbigen Original leichter fällt. Ich denke, in diesem Bild gibt es nur eine zentrale Entität, und das ist die Wahrnehmung Manets von der beeindruckenden Wucht und Geschwindigkeit der herannahenden Pferde und Reiter. Diese Wahrnehmung ist jedoch noch streng nach der Zentralperspektive organisiert.
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Abb. 1.6: Jean Metzinger, La Femme au Cheval (1911/12). Bild zur Verfügung gestellt auf wikimedia, Bildrechte: Statens Museum for Kunst, Kopenhagen.
Kaum fünfzig Jahre später bricht der Kubismus radikal mit der Tradition der Zentralperspektive (Kemp [1992], Kemp [2016]). Die Darstellung zeigt nun die Objekte aus vielen Perspektiven gleichzeitig und die Betrachter*innen müssen aus ihren Eindrücken aktiv das Bild organisieren, welches sie sehen. Jean Metzingers La Femme au Cheval (siehe Abb. 1.6) aus dem Jahren 1911/12 macht diese Verschiebung in der epistemischen Beziehung sichtbar. In diesem Bild sind die Objekte nicht mehr eindeutig voneinander getrennt, die Beobachter*innen müssen erst Grenzen zwischen ihnen ziehen. Erst in diesen Abgrenzungen werden die Entitäten des Bildes jedes mal neu und jedes mal auch anders konstituiert. Auch der Raum selbst entsteht nun als Beziehung der Entitäten untereinander, und ist ihnen nicht wie ein Behälter vorausgesetzt. Jean Metzinger war einer der wichtigsten theoretischen Vordenker des Kubismus, und hatte 1915 gemeinsam mit Albert Gleizes das Manifest Du Cubisme veröffentlicht. Anfang der 1930er Jahre erwirbt der Niels Bohr Metzingers La Femme au Cheval für sein Arbeitszimmer. Der Wissenschaftshistoriker und -philosoph Arthur Miller vermutet, dass Bohr sich mit Metzingers ästhetischer Theorie auseinandergesetzt hat und dass dies Bohrs Verständnis der Quantenphysik stark beeinflusst hat::
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He took great pleasure in explaining Metzinger’s painting to visitors [..] The lecture was meant to parallel the lessons painfully learned by atomic physicists ... (Miller [2001] 258)
Bohr hat seine eigene Interpretation des Gedankenexperiments von Heisenbergs Mikroskop, die in Kapitel 2.3.1 genauer besprochen wird. Die Inkommensurabilität kinematischer und dynamischer Größen sieht er als Ausdruck einer grundlegenden epistemischen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt. Heisenberg beschreibt, dass die Beobachtung im Mikroskop den Zustand des Objekts stört, also zum Beispiel seinen Ort verändert. Bohr hingegen ist der Ansicht, dass das Elektron vor der Beobachtung überhaupt keine Ort hat – unsere Beobachtung stellt diesen Zustand überhaupt erst her. Da die experimentellen Verfahren der Beobachtung von Ort und Impuls einander aber ausschließen, können einem Objekt nicht gleichzeitig für beide exakte Werte zugeordnet werden. Dies bezeichnet Bohr als Komplementarität. Auch das kubistische Gemälde Metzingers enthält mehrere komplementäre Darstellungen, die von den Betrachter*innen aktiv organisiert werden müssen und nicht gleichzeitig sichtbar sind. Die Betrachter*innen der kubistischen Gemälde werden zu Beobachter*innen, die entscheidender Teil dessen sind, was Gesehen wird. Brecht überträgt Heisenbergs Gedankenexperiment auf das Theater, um diese epistemische Beziehung zwischen Beobachter*innen und Beobachtung zu thematisieren. Bei der Metaphorisierung eines wissenschaftlichen Konzeptes erhalten dessen Grundelemente und ihre Verbindungen eine allgemeinere Bedeutung. Doch daneben muss auch eine entsprechende ästhetische Komponente übertragen werden: Um das Bild erfolgreich auf andere Situationen anzuwenden, muss die Erkenntnishaltung, die es hervorgebracht hat, ebenfalls transferiert werden. Diese Haltung enthält neben einer bestimmten Rezeptionserwartung auch bestimmte Handlungsmöglichkeiten: Der Denkstil besteht, wie jeder Stil, aus einer bestimmten Stimmung und der sie realisierenden Ausführung. (Fleck [1935] 105) Die Metaphorisierung eines wissenschaftlichen Konzepts versucht nun, eine bestimmte Denkfigur auf Probleme weit außerhalb ihres ursprünglichen Geltungsbereiches anzuwenden. Dies ist aber nicht unproblematisch. Die Denkfiguren haben ihre Bedeutung immer in einem ganzen System an Praktiken und Konzepten und lassen sich nicht einzeln übersetzen. Daher kommt einer Denkfigur eine historische Wahrheit zu, die sich nur aus ihrem Zusammenhang verstehen lässt. Blumenberg geht wie Fleck – und auch Brecht, Bohr, Reichenbach und Heisenberg – davon aus, dass Aussagen über die absolute Wahrheit einer Aussage sinnlos sind. Er schlägt vor, die historische Wahrheit der zahlreichen Wahrheitsmetaphern in der Praxis zu suchen, die ihnen korrespondiert: „Die Wahrheit der Metapher ist eine verité à faire.“ (Blumenberg [1960] 21) Die Wahrheit der Metapher liegt in der implizierten Verhaltenslehre.
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Das metaphorisierte Konzept leistet also die Übertragung der beiden Momente dessen, was Fleck als Denkstil in den Wissenschaften bezeichnet, und der Denkstil wird zu einer Haltung der Welt gegenüber: By providing a point of orientation, the content of absolute metaphors determines a particular attitude or conduct [Verhalten]; they give structure to a world, representing the nonexperienceable, nonapprehensible totality of the real. (Blumenberg [2010] 14)
Oder in Brechts Worten: „Die Philosophie lehrt richtiges Verhalten.“(Brecht [1967] Bd. 20, 127)
1.2.5 These: A-tom und In-dividuum Hans-Thies Lehmann und Helmut Lethen nennen in einem vielbeachteten Artikel drei Quellen der Kritik Brechts an der „idealistische[n] Fiktion des Subjekts“. (Lethen und Lehmann [1980] 157) Bei Marx ist das Individuum Ensemble widersprüchlicher gesellschaftlicher Verhältnisse; bei Freud bildet es den Schnittpunkt widerstreitender psychischer Instanzen; bei Nietzsche schließlich entwickelt sich der/die Einzelne im Spannungsverhältnis von Leib und Geist. Ich möchte zu diesen Quellen die Quantenmechanik hinzufügen, insofern als sie ihre grundlegenden Entitäten in ihren Wechselwirkung konstituiert und nicht diesen voraussetzt. Damit muss auch die Kausalität dieser Beziehungen neu bestimmen muss. Denn Brecht negiert die Kontinuität des Subjekts und lässt es erst aus seinen Beziehungen entstehen. Dabei bezieht sich Brecht ausdrücklich auf die moderne Physik. Gideon Freudenthal hat in Atom und Individuum im Zeitalter Newtons untersucht, wie sich das Konzept des unteilbaren Atoms als Voraussetzung der Newtonschen Physik synchron mit dem unteilbaren Individuum als Grundlage der bürgerlichen Theorie des Gesellschaftsvertrages entwickelt und durchgesetzt hat. (Freudenthal [1982] 265ff.) Sowohl die klassische Mechanik als auch die bürgerliche Gesellschaftstheorie beruhen auf der Annahme, dass die Eigenschaften der fundamentalen Entitäten von ihrer Zugehörigkeit zu einem System unabhängig sind. (Freudenthal [1982] 160f) In der aristotelischen Physik gab es einen einzigen ausgezeichneten Standpunkt, von welchem aus die physikalischen Vorgänge beschrieben werden konnten: Die im Mittelpunkt des Universums ruhende Erde. In Newtons Theorie hingegen gibt es viele solche Standpunkte, die Inertialsysteme. Es ist vom jeweiligen Standpunkt abhängig, welche Phänomene einem Vorgang korrespondieren, wie das Ereignis aussieht. Doch die unterschiedlichen Beobachtungen können ineinander übersetzt werden. Dies setzt in Newtons Mechanik allerdings die Existenz eines absoluten Raumes voraus, der einen bestimmten Standpunkt auszeichnet. Es ist bemerkenswert, dass diese Theorie sich während
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der Glorious Revolution entwickelt, die mit der Proklamation einer konstitutionellen Monarchie endet. In der konstitutionellen Monarchie werden im Parlament unterschiedliche Standpunkte abgeglichen, während der König bzw. die Königin weiterhin die ausgezeichnete Position eines absoluten Standpunktes einnimmt. Das bürgerlich-humanistische Individuum, das dem Gesellschaftsvertrag vorausgesetzt ist und von Freud, Marx und Nietzsche aus ganz unterschiedlichen Richtungen attackiert wird, hat sich im Ersten Weltkrieg auch in der Praxis als „idealistische Valorisierung des Individuums“ (Lethen und Lehmann [1980] 157) erwiesen. Brecht notiert: Der Krieg zeigt die Rolle, die dem Individuum in Zukunft zu spielen bestimmt war. Der einzelne als solcher erreichte eingreifende Wirkung nur als Repräsentant vieler. (Brecht [88ff] Bd. 21, 436)
Bereits 1926, als die ersten mathematischen Formulierungen der Quantenmechanik soeben erst gefunden sind, vergleicht Brecht die Figuren seiner Stücke mit den Entitäten der Physik: Auch wenn sich eine meiner Personen in Widersprüchen bewegt, so nur darum, weil der Mensch in zwei ungleichen Augenblicken niemals der gleiche sein kann. [...] Das kontinuierliche Ich ist eine Mythe. Der Mensch ist ein immerwährend zerfallendes und neu sich bildendes Atom. (Guillemin [1975] 198)
Hier klingt zunächst die radikale Kritik des Wiener Physikers und Wissenschaftshistorikers Ernst Mach an, der nur die Existenz von Sinneswahrnehmungen anerkennt. Mach fasst als Hauptaufgabe der Wissenschaft die ökonomische Beschreibung der Abfolge unserer Sinneseindrücke auf und bestreitet die Möglichkeit einer Abbildung der Objekte selbst. Er wendet sich gegen jede „metaphysische“ Spekulation, die über Sinnesdaten hinausgeht. (Janik und Toulmin [1973] 134) Aus diesem Grund lehnt Mach die Annahme der Existenz grundlegender Einheiten ab und „zertrümmert“ (Brecht) sowohl Atom als auch Individuum. Unter den Physiker*innen ist dieser Ansatz umstritten. Ludwig Boltzmann und Heinrich Hertz folgen der Kritik Machs an der Aufladung abstrakter physikalischer Begriffe wie Kraft und Atom mit ontologischen Existenzansprüchen. Das bedeutet aber nicht, dass die Realität der beiden Momente der Beobachtung, die Existenz der Subjekt- wie der Objektseite an sich aufgegeben werden muss. Hertz begreift die physikalischen Theorien als Modelle, mit denen wir uns auf die Wirklichkeit beziehen und in deren Rahmen die abstrakten Begriffe ihre Bedeutung gewinnen dadurch, dass sie in experimentellen Verfahren auf die Wirklichkeit bezogen werden. In Machs Konzept sind die erkennenden Subjekte passive Beobachter*innen, auf welche die Sinneseindrücke aktiv einwirken. Nach Hertz’ Überlegungen hingegen stellen wir unsere Darstel-
1.2 Frage, These und Methode |
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lungen der Wirklichkeit aktiv her. (Janik und Toulmin [1973] 140) Eine wesentliche Differenz betrifft die Bestimmung der Anwendbarkeit einer Theorie: Das Modell enthält die Reichweite seiner Anwendung bereits selbst, sie ist durch seine Struktur gegeben. Im Gegensatz dazu führt Mach mit dem Ausschluss der „Metaphysik“ eine externe Grenze der Theorie ein. (Janik und Toulmin [1973] 145f) Die Konsequenzen dieser Differenz sind weitreichend: Während Mach die Annahme der Existenz von Atomen ablehnt, leiten Hertz und Boltzmann sie gerade aus Machs Prinzip der Denkökonomie her. (Janik und Toulmin [1973] 143) Auch Brecht bleibt bei der Kritik Machs nicht stehen. Er entwickelt eine Reihe von Modellen der Konstitution des Individuums, das seine Einheit gerade in seinen Widersprüchen entwickelt, denn: „Wer sagt nicht einmal so, einmal so?“ (Brecht [1967] Bd. 15, 194). Diese Modelle erprobt er am Theater, wo sich seine Figuren im Lauf der Handlung aufbauen und das Individuum in seinen Beziehungen entsteht. Niels Bohr hingegen, der seine Entitäten nicht mehr in Teilchen und Wellen unterscheidet, bezeichnet sie nun als „individuals“. (Bohr [1961] 59) „Ich“ und „Atom“ sind auch in Bohrs Argumentation gleichermaßen prekäre Entitäten: In particular, the apparent contrast between the continuous onward flow of associative thinking and the preservation of the unity of the personality exhibits a suggestive analogy with the relation between the wave description of the motions of material particles, governed by the superposition principle, and their indestructible individuality. (Bohr [1961] 99f)
Mit der Bestimmung der fundamentalen Entitäten ist aufs Intimste verknüpft die Bestimmung der Beziehungen, welche diesen Entitäten möglich sind. Denn die Entitäten bestimmen sich in ihren möglichen Eigenschaften. Diese Eigenschaften beschreiben, welche Wirkungen sie auf andere Einheiten haben können und welche Wirkungen auf sie ausgeübt werden können. Wenn die Individuen und Atome ihren Wechselwirkungen nicht vorausgesetzt sind, sondern erst in diesen entstehen, so sind nun diese Wechselwirkungen selbst die grundlegenden Einheiten, aus denen die Welt besteht. Damit wird aber ein Problem virulent, dem wir in Heisenbergs Mikroskop bereits begegnet sind und welches in der Frage nach den fundamentalen Entitäten bereits angelegt war. Es betrifft die Verbindung zwischen Subjekt und Objekt und die Ebene, auf welcher den Einheiten ihre Eigenschaften zugeschrieben werden: Die möglichen Wechselwirkungen zwischen Subjekt und Objekt in der Erkenntnis werden durch die möglichen Eigenschaften der Subjekte und Objekte festgelegt. Denn auch Erkenntnis besteht in einer Beziehung zweier Entitäten, des erkennenden Subjekts und des erkannten Objekts. Die Bestimmung des Objekts und seiner möglichen Kausalbeziehungen bestimmt auch, welche epistemologischen Relationen möglich sind.
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In diesem Verhältnis entsteht die Frage, ob die Eigenschaften der fundamentalen Entitäten Kausalbeziehungen zwischen den Entitäten selbst auf der ontologischen Ebene beschreiben, oder ob diese Eigenschaften Beziehungen zwischen den empirischen oder logischen Repräsentationen der Objekte bezeichnen: Sind Kausalbeziehungen Relationen zwischen logischen Sätzen, zwischen empirischen Daten oder zwischen ontologischen Objekten? Doch unabhängig davon, wie diese Frage beantwortet wird, lässt sich die Bestimmung der fundamentalen Einheiten nicht von der Bestimmung ihrer Kausalbeziehungen trennen. In der Quantenmechanik wird nicht nur der Teilchencharakter der Atome in Frage gestellt, sondern auch die Kontinuität der Vorgänge im Atom, ihr strenger Kausalzusammenhang und ihre Anschaulichkeit (Kojevnikov [2012]). Mit den Entitäten ändern sich auch ihre möglichen wechselseitigen Relationen. Statt diese Beziehungen bereits vollständig bestimmt einzugehen, konstituieren sie sich nun in ihrer Funktion. Eine Verschiebung in der Bestimmung der „Einheit“ (Kant [1968] 118, B106) mit welcher der Denkstil operiert, ändert daher notwendigerweise den gesamten Denkstil grundlegend. Die Entitäten erweisen sich als a priori der jeweiligen Erkenntnis, wie schon Kant postuliert hat, aber dieses a priori kann nicht a-historisch und nicht rein logisch verstanden werden. Denn Erkenntnis besteht in einer Rückkopplung zwischen Erkanntem und Gegenstand in der Praxis, und ändert in dieser Rückkopplung ihre eigenen Voraussetzungen. Dabei wird das Modell der Einheiten und ihrer Relationen mit den wirklichen Einheiten und ihren Relationen in der Praxis vermittelt, in der Anwendung des Modells in unseren Handlungen. Die Wechselwirkung zwischen den Verschiebungen im Begriff des Individuums und des Atoms wird in dieser Arbeit am Beispiel der Interferenz Brechts mit der Quantenmechanik untersucht werden. Diese Interferenz wird durch vier Bilder beschrieben, die durch verschieden gesetzte Schnitte erzeugt werden und mit unterschiedlichen Methoden untersucht werden müssen: Die biographischen Schnittpunkte zwischen den Physiker*innen und Brecht, um die sich das Stück Leben des Galilei kristallisiert hat, die Oszillation von Methoden und Begriffen welche die Kommunikation zwischen Physik und Literatur erst ermöglicht hat; die konkreten Spuren der Interaktion zwischen Brecht und Reichenbach, die sich im Archiv finden und die ethischen und ästhetischen Konsequenzen der Quantenmechanik, die im Kaukasischen Kreidekreis nachgewiesen werden. In der Physik ist eine notwendige Bedingung für das Entstehen von Interferenzbildern, dass die interferierenden Wellen kohärent sind. In diesem Sinn möchte ich die Ähnlichkeit zwischen dem Atom der Quantenmechanik und dem Individuum bei Brecht als Kohärenz beschreiben. So wenig sich bei Brecht ein einziges Konzept des Individuums fixieren lässt, so verschieden interpretieren die Quantenphysiker*innen ihren mathematischen For-
1.3 Forschungsstand |
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malismus und ihre Experimente. Als Gemeinsamkeit erweist sich vorerst, dass die grundlegenden Entitäten, mit denen sie operieren, in mehreren Richtungen hochproblematisch geworden sind: Es zeigt sich zusehends, dass der Einzelfall nicht streng den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten folgt; die Beobachter*innen beeinflussen den Vorgang, und seine Übersetzung in ein formales System wird mehrdeutig. Die Kontinuität der Vorgänge wird durchbrochen, die Individualität der grundlegenden Entitäten aufgehoben. Daher stellt sich die Frage, ob diese Entitäten noch eindeutigen Kausalzusammenhängen unterliegen. In beiden Wissensbereichen gerät die Annahme unveränderlicher, widerspruchsfreier und jeder Interaktion vorausgesetzter Grundeinheiten in Kritik.
1.3 Forschungsstand Obwohl Brecht in seinen Stücken, vor allem aber in seinen theoretischen Überlegungen immer wieder explizit auf Quantenmechanik und Atomphysik verweist, wurde dieser Aspekt erstaunlicherweise von der Brechtforschung bisher weitgehend vernachlässigt, auch wenn Elisabeth Emter festhält: „Seine Beschäftigung mit der modernen Physik konnte die Literaturwissenschaft nicht ignorieren.“ (Emter [1994] 164) Tatsächlich sind die Publikationen zu diesem Thema überschaubar (Schatzberg et al. [1987] 346f) und gehen in der umfangreichen Literatur zu Brechts Leben und Werk, die wohl mehrere hundert Regalmeter füllt, schlichtweg unter. In den 1970er Jahren geriet das Verhältnis Brechts zur Naturwissenschaft für kurze Zeit ins Blickfeld zweier Größen der Brechtforschung: 1973 führte Werner Mittenzweis Beitrag bei der Brecht-Woche der DDR (Mittenzwei [1973]) zu einer unergiebigen und staubtrockenen Diskussion. Jan Knopf notierte fünf Jahre später Brechts Referenz auf die Quantenmechanik bei den Brecht-Tagen (Knopf [1978]), ohne die Frage weiter zu verfolgen. Recht unvermittelt bringt Knopf in seinem Brecht-Handbuch erneut Brechts Roman-Fragment Die Geschäfte des Julius Caesar mit der statistischen Kausalität der „Mikrophysik“ in Verbindung (Knopf [1996] 395, siehe Kapitel 3.4). 1976 erschien auch Meinhard Adlers umfangreiche Zusammenstellung von Brecht-Zitaten zur Naturwissenschaft, die aber leider sehr wenig zu einer Interpretation beiträgt (Adler [1976]); Allen Hye schrieb eine kurze Untersuchung über den Einfluss der Atomphysik auf Brechts Dramen (Hye [1996]) und die meisten Arbeiten gelten dann auch Brechts Stück Das Leben des Galilei (Schatzberg et al. [1987] 346f), dessen Nähe zur Atomphysik in Kapitel 4.2 dargestellt wird. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erschienen wieder einige kurze Beiträge zu diesem Thema. Elisabeth Emters Literatur und Quantenmechanik von 1995 ist bisher die einzige Arbeit, die umfassend den Zusammenhang
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von Quantenmechanik und (deutschsprachiger) Literatur darstellt. Sie stellt ganz allgemein fest: Wenn man die reichen Forschungsergebnisse zur Wechselbeziehung zwischen den klassischen Naturwissenschaften und der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts betrachtet, verwundert es um so mehr, daß die Einflüsse der modernen Naturwissenschaft auf die Ästhetik und Literatur im 20. Jahrhundert nur unzureichend erforscht sind. (Emter [1994] 9)
Dabei ist es ihr Anspruch, einen solchen Zusammenhang überhaupt einmal nachzuweisen. Daher werden die einzelnen Autor*innen nur kursorisch abgehandelt. Näher auf den Einfluss des probabilistischen Kausalitätskonzepts auf Brechts Ästhetik und Erkenntnistheorie gehen Helga Schreckenberger in den Ästhetiken des Exils von 2003 und Thomsen, Müller und Kindt in Ungeheuer Brecht (2006) ein. Die Konsequenzen, die Brecht aus der Quantenmechanik für das Verhältnis von Masse und Individuum zog, diskutiert einzig ein kurzer Aufsatz von Ines Langemeyer von 1998 über die Einflüsse Kurt Lewins und der modernen Physik auf Bertolt Brecht (Langemeyer [2011]). Dieser Aufsatz wurde später im Brecht-Jahrbuch publiziert (Langemeyer [2017]). Die mangelnde Berücksichtigung dieses Bezugs mag einerseits an fachlichen Schwierigkeiten liegen, andererseits aber hat die Beziehung Brechts zur Quantenmechanik schlicht nicht in das Bild von Brecht gepasst, das lange Zeit durch die zwei Blickwinkel des Kalten Krieges geprägt war und Brecht auf eine marxistisch-leninistische Philosophie reduziert hat. Ulrich Sautters Artikel Der Logische Empirismus Bertolt Brechts kritisiert diese einseitige Interpretation Brechts als linientreuen Leninisten und betont die Nähe seines Denkens zur Philosophie des Berliner Kreises. Diese Nähe Brechts zum logischen Empirismus wird Mitte der 1980er erstmals von Lutz Danneberg und Hans-Harald Müller thematisiert (Danneberg und Müller [1987], Danneberg und Müller [1990]). Sie betonen einerseits die persönliche Bekanntschaft Brechts mit Neurath, Korsch und Reichenbach und bilden besonders mit dem Hinweis auf letzteren einen wichtigen Ausgangspunkt dieser Arbeit. Sie zeigen weiter, dass Brecht sich auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht in der Nähe des Wiener Kreises bewegt und weisen auf Ähnlichkeiten in den Überlegungen zur Kausalität hin. Drittens weisen sie auch poetologische Spuren des logischen Positivismus nach: Brecht erzeugt in seinen Texten durch logische Operationen Verfremdungseffekte, etwa durch Kombination von Teilsätzen, die jeweils die Prämissen von Aussagen bilden, die zunächst unausgesprochen bleiben, einander aber widersprechen. Die BrechtForschung hat die Nähe Brechts zur Physik bei einer Tagung in Berlin erneut aufgegriffen (Hippe und Ißbrücker [2017]). Schließlich finden sich mehrere Bücher, die das Weltbild Brechts und dabei auch den Kausalitätsbegriff behandeln: W. F. Haugs Philosophieren mit Brecht und
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Gramsci (1996) (Haug [1996]) und Christof Subiks Philosophieren als Theater aus dem Jahr 2000 (Šubik [2000]). Elkana Yehuda greift Bertolt Brechts epistemisches Konzept auf und wendet es auf die Philosophie an. Er beschreibt die „Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft“ (Elkana [1986]). Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist eine scharfe Kritik der strikten Unterscheidung von Beobachtung und Theorie, da jede Beobachtung theoriegeleitet und jede Theorie beobachtungsgestützt ist. Dieser hermeneutische Zirkel tritt zunächst in Relativitätstheorie und Quantenphysik deutlich hervor, und wird in der Folge auch in Soziologie, Anthropologie und Soziologie zum Problem. Allgemein lässt sich in jüngerer Zeit eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Beziehungen zwischen Quantenmechanik und Kultur feststellen. Christina Vagt hat in ihrer Dissertation Geschickte Sprünge (Vagt [2013]) das Verhältnis Heideggers zur Quantenmechanik untersucht und legt einen Briefwechsel zwischen Heidegger und Heisenberg vor, den sie im Archiv entdeckt hat. Auch ein Briefwechsel zwischen dem Quantenphysiker Pauli und dem Psychoanalytiker Jung wurde gefunden (siehe Pauli und Jung [1992]). Betül Dilmac beschreibt in ihrer Dissertation Literatur und moderne Physik den Einfluss von Quantenmechanik und Relativitätstheorie auf zeitgenössische Autor*innen (Dilmac [2012]). Arthur I. Miller bringt Niels Bohrs Begriff der Komplementarität mit dem Kubismus in Zusammenhang (Miller [2001] 258, (Schinckus [2017]). Jean Capello weist den Einfluss der Quantenmechanik auf den Phantastischen Realismus nach (Cappello [1997]) Christian Gruber will im epistemologischen Problem der Quantenphysik eine Rezeptionstheorie der Literatur begründen. Doch Grubers Verständnis der Quantenphysik verzerrt diese bisweilen zur Unkenntlichkeit, so sehr er darauf besteht, „dass auch mit den Quanten alles stimmt in diesem Band.“ (Gruber [2005] 6). So scheint Gruber unter Beobachtung etwas grundlegend anderes zu verstehen als Physiker*innen. Er schreibt: „Selbst wenn verschiedene Beobachter das gleiche System unabhängig voneinander zur gleichen Zeit messen könnten, erhielte jeder ein anderes Ergebnis“. (Gruber [2005] 152) Es ist aber das wesentliche Merkmal physikalischer Messungen, dass unabhängige Beobachter*innen bei gleichzeitigen Messungen am gleichen System die gleichen Ergebnisse erhalten. Das Messproblem der Quantenphysik besteht eher darin, dass es jede Messung das System verändert und die Rede von Beobachter*innen, welche „das gleiche System unabhängig voneinander zur gleichen Zeit messen“ (Gruber [2005] 152) daher selbstkontradiktorisch ist. Es stimmt auch nicht, „dass ein bestimmtes Experiment, unzählige Male auf identische Weise wiederholt, kein zweites Mal zum gleichen Ergebnis führt.“ (Gruber [2005] 153) Denn es ist gerade kennzeichnend für den probabilistischen Charakter der Theorie, dass sie die Häufigkeit der Wiederholung der unterschiedlichen möglichen Ergebnisse beschreibt. Die Wahrscheinlichkeit der verschiedenen möglichen Ergebnisse eines Experiments wird in der Praxis gerade
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dadurch festgestellt, dass die Messung viele Male durchgeführt wird, um zu bestimmen, wie häufig die jeweiligen Ergebnisse sich wiederholen. Diese grundlegenden Missverständnisse rücken Grubers Arbeit leider eher in die Nähe von Sokals Hoax als einer ernstzunehmenden Literaturtheorie. Das zunehmende Interesse an den verwickelten Beziehungen zwischen Naturwissenschaften und Kunst wurde durch Peter Galison und Caroline Jones mit ihrem umfangreichen Sammelband Picturing Science, Producing Art befeuert (Galison und Jones [1998]). Sie gehen davon aus, dass es die selben Praktiken sind, welche Kunstwerke und wissenschaftliche Erkenntnisse produzieren. Die Begriffe von Wissenschaft und Kunst bestimmen sich gerade in ihrer Unterscheidung von voneinander. Es stellt sich daher die Frage, unter welchen Bedingungen etwas als Kunstwerk oder wissenschaftliches Artefakt angesehen wird. Das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft im Allgemeinen verhandeln die Beiträge im Sammelband Experiment und Literatur (Gamper [2010a]). Falko Schmieder zeigt, dass der Begriff des Experimentalsystems in den Naturwissenschaften ebenso wie in der Literatur- und Kulturwissenschaft angewandt wird, um die vielfältigen Agent*innen zu erfassen, die in einem Experiment eine Rolle spielen (Schmieder [2010]. Klaus Müller-Wille beschreibt den engen Zusammenhang zwischen dem Theater und physikalischen Experimenten (Müller-Wille [2010]). Nicht zuletzt hat aber das Erlanger Zentrum für Literatur und Naturwissenschaft (ELINAS) in den letzten Jahren eine Serie von Beiträgen zu diesem Thema herausgebracht und ist derzeit wohl das wichtigste Forum für einen Austausch zwischen Literatur- und Naturwissenschaften im deutschsprachigen Raum. Es freut mich daher außerordentlich, dass dieses Buch in der ELINAS-Schriftenreihe „Literaturund Naturwissenschaft“ erscheint.
1.4 Übersicht über die Arbeit Teil 1: Interferenz Mittlerweile befinden wir uns schon tief im ersten Teil dieser Arbeit. Wir haben in Heisenbergs Mikroskop geblickt und haben darin seltsame Interferenzen entdeckt, die zwischen zwei Wissensgebieten auftreten, von denen wir meist annehmen, dass sie nichts miteinander zu tun haben. Heisenbergs Mikroskop Zunächst treten wir nun einen Schritt zurück, um uns dieses Mikroskop einmal selbst anzusehen. In diesem Gedankenexperiment werden die Konsequenzen der
1.4 Übersicht über die Arbeit | 31
Heisenbergschen Unschärferelation durchgespielt. Es zeigt sich, dass es an einem entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung der Quantenmechanik auftritt – als endlich die mathematische Formulierung der neuen Physik geglückt ist und gleichzeitig die erprobten epistemischen Verfahren ins Wanken geraten. In der Quantenmechanik werden durch den Einfluss der Beobachtung auf ihren Gegenstand zumindest vier Konzepte der klassischen Physik problematisch und können nicht gleichzeitig aufrechterhalten werden: die Anschaulichkeit der Theorie, die Kontinuität der Bewegung, der eindeutige Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung und die Individualität der Teilchen. Die Entwicklung der Quantenmechanik ist ausführlich untersucht worden und wird meist entlang ihres historischen Verlaufs besprochen. Hier bilden hingegen die Grundannahmen der klassischen Physik den Leitfaden der Darstellung. Schema von Wirkungsquanten Mit dem Verfremdungseffekt will Brecht die unmittelbare Anschaulichkeit der auf der Bühne dargestellten Vorgänge unterlaufen. Dieses Konzept bildet die Grundlage seiner ästhetischen Theorie. Die Fragmentierung der Fabel in eigenständige Einheiten der Erzählung, ihre Einteilung in „Wirkungsquanten“ (Brecht [1973] 206) soll das Publikum vom Geschehen distanzieren und den Schein eines notwendigen Kausalzusammenhangs der Handlung stören. Die Zuschauer*innen werden gezwungen, selbst über das Stück nachzudenken und ihm gegenüber eine Haltung einzunehmen. Die Handlung gewinnt ihre Bedeutung nur im Bezug auf das Publikum, das von einer passiv-betrachtenden Rolle zu aktiver Beobachtung übergehen muss. In dieser theoretischen Herangehensweise unterscheidet sich das Epische Theater deutlich vom sozialistischen Realismus. Diese Abgrenzung wird anhand einer Konfrontation zwischen Brecht und Lukács dargestellt. Wie in der Quantenmechanik ist die Wahrheit bei Brecht „konkret“ – Aussagen gewinnen ihre Bedeutung in der Anwendung auf die Welt, ihre Wirkmacht besteht im Eingriff in die Wirklichkeit. Brecht überprüft die Praktikabilität seiner Modelle, indem er das Theater als Experimentierfeld verwendet, auf welchem der Einfluss der einzelnen Faktoren auf den Vorgang ausgelotet werden kann. In dieser Simulation gesellschaftlicher Verhältnisse kann die Gültigkeit abstrakter Gesetzmäßigkeit für den Einzelfall überprüft werden. Dabei zeigt Brecht, dass das Individuum ebenso wie die Masse eine Abstraktion ist. Nur in ihrer konkreten gesellschaftlichen Funktion unterscheiden sich die Einzelnen voneinander – und werden in dieser Funktion auch ersetzbar, wie die Lehrstücke verhandeln. Doch Brecht versucht diese Austauschbarkeit in der reinen Funktion zu überwinden. Zwischen das abstrakte Individuum und die abstrakte
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Masse schiebt er das Kollektiv als jene Ebene ein, in dessen konkreten sozialen Beziehungen sich konkrete Personen (und Figuren) entwickeln können. Diese erweisen sich dabei als so widersprüchlich und zerrissen wie die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst. Schnittmengen Zwischen Quantenmechanik und Epischem Theater besteht eine enge historische, soziale und biographische Nähe. Beide entwickeln sich in der Weimarer Republik und Brecht ist ebenso wie viele Physiker*innen gezwungen, vor dem Nationalsozialismus zu flüchten. Leben und Lebenssituationen bilden die Knotenpunkte von Handlungen und Diskursen sowie gesellschaftlichen Interessenlagen und Machtverhältnissen. Brechts Drama Das Leben des Galilei verhandelt einen solchen Knotenpunkt. In der „Versuchsanordnung“ Müller [2004] des Stückes wird die soziale Verantwortung wie auch die soziale Bedingtheit der Naturwissenschaften „in Form eines Gedankenexperiments“ Müller [2004] verhandelt. Ebenso wichtig wie der Inhalt des Dramas ist für unsere Fragestellung jedoch, dass es selbst einen solchen Knotenpunkt von Biographien und historischen Situationen bildet. An der Entwicklung des Stücks zeigt sich, dass Brechts Episches Theater und die Quantenmechanik sich im gleichen historischen und kulturellen Umfeld entwickeln und in einem ständigen Austausch stehen. Dieser Austausch findet ebenso bei der Auseinandersetzung mit den aktuellen Entwicklungen der Quantenmechanik und den neuesten Textentwürfen von Dramen statt wie beim Schachspiel und in Gesprächen über die politische Situation. Die Arbeit an dem Stück beginnt im Exil in Kopenhagen. Dort untersucht zur gleichen Zeit die geflüchtete Physikerin Lise Meitner am Institut von Niels Bohr die Möglichkeit der Kernspaltung. Die Überarbeitung des Stückes in den USA kommt gleichzeitig mit dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki zum Abschluss und Das Leben des Galilei wird in den folgenden Jahren zu einem Symbol der Friedens- und Abrüstungsbewegung. Oszillationen Die Verständigung zwischen dem Theater Brechts und der Quantenmechanik baut auf einem gemeinsamen Bestand an Konzepten und Methoden auf. Die „Geschichte eines Wissensgebietes,“ schreibt Ludwik Fleck, besteht „aus vielen sich überkreuzenden und wechselseitig sich beeinflussenden Entwicklungslinien der Gedanken“, sie ist wie „ein erregtes Gespräch, wo mehrere Personen gleichzeitig miteinander und durcheinander sprachen, und es doch einen gemeinsamen herauskristallisierenden Gedanken gab.“ (Fleck [1935] 23) Zwei dieser Entwick-
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lungslinien und ihren Schnittpunkten werde ich in meiner Arbeit folgen. Es wäre aber verwegen, dabei all die anderen Stimmen zum Schweigen zu bringen: In actu findet, so scheint mir, eine ständige Oszillation des Wissens zwischen den „esoterischen“ Kreisen der Einzelwissenschaften statt. Dabei werden Methoden und Konzepte ausgetauscht und es kommt zu einer Synchronisation der Grundannahmen, die ansonsten die Tendenz haben, sich immer weiter voneinander zu entfernen. So wird bei der Wanderung des Wissens durch die Wissensgebiete das Verständnis der grundlegenden Einheiten und ihrer möglichen Beziehungen miteinander ver- und oft aneinander angeglichen. Drei Beispiele zeigen diese Oszillation des Wissens zwischen dem Epischen Theater und der Quantenphysik: Der Bewegung der statistischen Methode zwischen Soziologie und Physik, des Transfers des Konzepts des Feldes aus der Physik in die Soziologie sowie Psychologie und anhand der Übertragung des Konzepts des Kollektivs aus dem politischen Diskurs in die Physik und Mathematik. Dabei erweist sich erneut, dass diese gemeinsame Sprache sich nicht losgelöst von historischen Situationen und sozialen Verhältnissen entwickelt hat. Die Untersuchung dieser Wissenstransfers zeigt auch, dass trotz der von C.P. Snow konstatierten Distanz zwischen den Natur- und Humanwissenschaften (Snow [1964]) ständig stattfindet, was Bruno Latour als „Übersetzungen“ (Latour [2010]) beschrieben hat: Die Formulierung der eigenen Probleme und Interessen mit den Begriffen und Methoden anderer Disziplinen.
Teil 2: Nachbarschaft Los Angeles im Herbst Im zweiten Teil der Arbeit folge ich nicht mehr den großen Oszillationen des Wissens, sondern den „Spuren“ (Barad [2007]) eines konkreten Übersetzungsvorgangs. Die Fährte lässt sich in einigen Notizen aus Brechts Tagebuch, dem Arbeitsjournal aufnehmen. Wir begegnen Hans Reichenbach, einem wichtigen Gesprächspartner Brechts in den 1940er Jahren. Der Physiker und Philosoph Reichenbach war in der Weimarer Republik ein zentraler Denker des Logischen Empirismus und hat maßgeblich zur Entwicklung des Empirismus in den USA beigetragen. „Is chance a fool’s name for fate?“ Brecht berichtet von einem Vortrag Reichenbachs während des Zweiten Weltkriegs über determinismus [Brecht; 1973, 387] und skizziert ein Referat über den Kausalitätsbegriff in Relativitätstheorie und Quantenphysik. Zu Reichenbachs Vortrag existieren jedoch keine Unterlagen mehr. Anschließend kam es zu einer hitzigen
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Diskussion zwischen Reichenbach, Brecht sowie Horkheimer und Adorno. Auch diese – zweifellos höchst interessante – Diskussion ist nur spärlich dokumentiert. Im Archiv der Universität Konstanz habe ich auf den Mikrofilmen mit dem Material aus Reichenbachs Nachlass ein neunseitiges Manuskript mit Stichworten gefunden, welches aus dieser Zeit stammt. Es ist keineswegs klar, ob es sich um den gesuchten Vortrag handelt. Doch das Manuskript dokumentiert in für Reichenbach ungewöhnlich expliziter Form, wie dieser Physiker und Philosoph die historische Entwicklung des Kausalitätsprinzips verstanden hat und welche Verhaltenslehre er aus seiner Interpretation der statistischen Kausalität in der Quantenmechanik zieht. Ich analysiere es auf Grundlage veröffentlichter Schriften Reichenbachs sowie im Kontext anderer Dokumente aus dem Archiv. Ian Hacking hat darauf hingewiesen, dass bei der Entstehung der Probabilistik ihr Anwendungsbereich sowohl den Einzelfall als auch die Statistik umfasst hat. (Hacking [1975]) Bei Reichenbach erstreckt sich diese Spannung zwischen Konkretem und Allgemeinen auch auf das Verhältnis von Einzelfall und Gesetz. Bereits in der klassischen Physik beschreiben Gesetze nur unzureichend das Verhalten eines realen physikalischen Systems, weil sie stets von einigen der wirkenden Faktoren abstrahieren. Aus der Quantenmechanik zieht Reichenbach den Schluss, dass die Annahme streng kausaler Wirkungszusammenhänge aufgegeben werden muss. Reichenbach versucht, den deterministischen Ereignisbegriff der Relativitätstheorie mit der statistischen Kausalität der Quantenmechanik zu versöhnen und entwickelt einen Zeitbegriff, der davon ausgeht, dass eine offene Zukunft im Moment eines Ereignisses in eine determinierte Vergangenheit übergeht. Diese Verallgemeinerung erlaubt es Reichenbach, die statistische Kausalität aus der Quantenmechanik auf andere Probleme zu übertragen, insbesondere auch auf soziale Verhältnisse. Mit der Feuerzange In Brechts Notizen findet sich auch ein Hinweis auf ein Referat von Max Planck, das Brecht im Anschluss an den Vortrag Reichenbachs durchgearbeitet hat. Dieses Referat (Planck [1938]) steht in scharfem Kontrast zu Reichenbachs Auffassung. Planck setzt nicht nur den Schnitt zwischen Subjekt und Objekt ganz anders, er vertritt auch eine deterministische Interpretation der Quantenphysik. Zwischen den Positionen von Reichenbach und Planck spannt sich die ganze Vielfalt der Interpretationen der Quantenmechanik zu dieser Zeit auf. Interessanterweise bringen sowohl Reichenbach als auch Planck ihre jeweilige Auffassung über die Kausalität in der Physik mit ihrer Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Regime in Zusammenhang – es zeigt sich, dass die Physik in die symbolische Ordnung eingreift und nicht einseitig von dieser bestimmt wird.
1.4 Übersicht über die Arbeit | 35
Am Ende dieses Kapitels wende ich mich den Zeichen als Repräsentationen der Entitäten eines Wissensgebietes und ihrer kausalen Zusammenhänge zu. In der Quantenmechanik ist diese Repräsentation nicht eindeutig, weil einer Einheit viele mögliche Messergebnisse, also Übersetzungen in Symbole, entsprechen. Die Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik kappt daher jede Verbindung zwischen den Aussagen über die statistische Verteilung dieser Symbole und dem untersuchten Objekt. Reichenbachs empiristisches Paradigma erlaubt eine solche absolute Trennung von Objekt und Symbol nicht. Ich stelle den Versuch Reichenbachs dar, die logischen Probleme zu lösen, welche die Quantenphysik aufwirft. Dabei wird das Prinzip des tertium non datur aufgegeben. Ich postuliere, dass die resultierende mehrwertige Logik eine implizite Voraussetzung von Brechts Theorie des Verfremdungseffekts ist.
Teil 3: Verhaltenslehre Was fasziniert die deutschen Flüchtlinge im US-amerikanischen Exil an der Frage der Kausalität in der Quantenmechanik? Die Diskussion scheint seltsam abstrakt vor dem Hintergrund des tobenden Weltkriegs. Doch ich denke, es ist gerade die Reflexion auf ihre eigene Situation, die das Thema so spannend für die Emigrant*innen macht. Sie sind mit einer historischen Situation konfrontiert, die sich ihrem Einfluss entzieht und deren Entwicklung sie nur schwer vorhersagen können. Die Spieler, die wir sind Die Denkfigur des Spiels ist unter den deutschen Migrant*innen der USA erstaunlich verbreitet. Der Quantenphysiker von Neumann entwickelt mit dem Ökonomen Morgenstern eine neues sozioökonomisches Modell, welches das Verhalten von Akteur*innen in einer unsicheren, unvollständig bekannten Situation beschreibt: die Spieltheorie. Reichenbach hingegen verwendet das Glücksspiel als Modell wissenschaftlicher Erkenntnis. Schon in der klassischen Physik lässt sich das Ergebnis eines Experiments nur mit einer gewissen Unsicherheit vorhersagen, denn die physikalischen Modelle vernachlässigen notwendigerweise immer einige Faktoren, die zu unerwarteten Störungen führen können. In der Quantenphysik ist aber jede Prognose prinzipiell unsicher geworden, da sich aus der Theorie mehrere mögliche Ergebnisse ergeben. In dieser Situation kommt einem Induktionsschluss keine sichere Wahrheit mehr zu, er wird zum „best bet“ auf das Verhalten eines Systems.
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Brecht selbst beschreibt seine Situation im US-amerikanischen Exil als Roulettespiel. Schon im Werk von Brechts Freund Walter Benjamin hat das Spiel eine wichtige Rolle. Brecht greift diese Denkfigur nun auf. Im Leben des Galilei hatte Brecht ein Gedankenexperiment durchgeführt, das scheitert: Galileis Verhalten wertet Brecht als Verrat. Aus den Gedankenexperimenten der Quantenmechanik lässt sich eine Haltung gegenüber einer solchen kontingenten Welt entwickeln, die immer noch ein Eingreifen in die übermächtigen, schicksalhaft zufälligen Vorgänge erlaubt: die Haltung der Spieler*innen. Der Kaukasische Kreidekreis Unmittelbar nach seinen Diskussionen mit Reichenbach hat Brecht die Arbeit an seinem letzten großen Drama begonnen, dem Kaukasischen Kreidekreis. Mehr als ein Dutzend Spielszenen prägen das Stück. In der Tradition des Brechtschen Lehrstückes lässt sich das Stück als Experiment verstehen. Dies wird bei der Analyse der Figuren deutlich: der Sänger ist, wie die Beobachter*innen in Heisenbergs Mikroskop, Teil der Versuchsanordnung. Dies kommt auch im Stil seines Vortrags zum Ausdruck. Er trägt Sprüche vor, die den Charakter allgemeingültiger Gesetze haben. Doch diese Sprüche werden von konkreten Handlungsanweisungen durchbrochen. Der Sänger tritt als Experimentator auf und nicht etwa als Deklamator ewiggültiger Gesetze. In der Forschung wurde diese Kausalstruktur im Anschluss an Reinhold Grimms Rede von Brechts Rad der Fortuna (Grimm [1973]) mit einem vormodernen Zeitverständnis in Verbindung gebracht. Ich vertrete hingegen die These, dass das Verhältnis der Figuren und die Sprengung der Allgemeingültigkeit der Sprüche deutliche Indizien dafür bilden, dass die Struktur des Dramas auf einen sehr modernen Zeitbegriff verweist, nämlich Reichenbachs Konzept einer performativ erzeugten Zeitrichtung. Die Interferenz Brechts mit der Quantenmechanik hat im Kaukasischen Kreidekreis noch eine weitere Spur hinterlassen: eine bei Brecht einzigartige Auseinandersetzung mit den Emotionen der Figur. Eva Illouz beschreibt die Gefühlsebene als jenen wesentlichen Bereich des Selbst, in dem die kulturelle Ebene der Symbole mit jener der sozialen Beziehungen in Verhandlung tritt (Illouz [2007]). Die Nähe des Kaukasischen Kreidekreises zum quantenmechanischen Diskurs hat ethische Konsequenzen. In der Figur der Spieler*innen begegnet uns eine Haltung, die sich den Flüchtlingen in den Wirren des Weltkrieges ebenso empfiehlt wie den Naturwissenschaftler*innen in der Unsicherheit der quantenmechanischen Welt und den Politiker*innen und Militärs im Zeitalter der Atombombe. Die zentralen Figuren des Kreidekreises treten durchgehend in doppeltem Sinn als Spieler*innen auf: Es geht nicht nur um hohe Einsätze, es wird auch mit allen Mit-
1.4 Übersicht über die Arbeit | 37
teln der Täuschung gearbeitet. Die Spieler*innen stehen für eine Verhaltenslehre der Schicksallosen, die sich in einer hochgradig kontingenten Welt bewegen.
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Teil I: Bertolt Brecht und die Quantenphysik: Eine Interferenz In science, it’s known as the observer effect: the act of observing will influence the phenomen being observed. But, as the Commonwealth Games could soon discover, the same might also hold true for a phenomen not being observed [...] the Delhi Games are barely being watched. (Times of India, 9. Oktober 2010) Ein Teil dieser Arbeit ist in der Siedlung Kishanghar in Delhi entstanden, zu einer Zeit als die Commonwealth Games stattfanden, eine Art Olympiade im Zirkel des ehemaligen britischen Imperiums. In der Times of India ist mir dieser Verweis auf die Quantenmechanik begegnet, die den Physiker*innen gelehrt hat, dass ihre Objekte nicht unabhängig von ihren Beobachtungen beschrieben werden können. Im Gedankenexperiment des Heisenbergschen Mikroskops wurde diese Erfahrung verarbeitet. Es bildet den Ausgangspunkt unserer Untersuchung der Interferenz zwischen Brecht und der Quantenmechanik. Nach der Exposition von These und Methode werden die Konsequenzen dieses Gedankenexperiments sowohl für die Quantenmechanik als auch das Theater Brechts untersucht. Abschließend skizziert dieser erste Teil der Arbeit die historischen, kulturellen und sozialen Schnittpunkte zwischen Brecht und der Quantenphysik und zeigt, dass die Kommunikation zwischen den beiden Wissensbereichen auf einem Reservoir an gemeinsamen Begriffen und Methoden aufbaut.
2 Heisenbergs Mikroskop 1927 veröffentlicht Werner Heisenberg heimlich hinter dem Rücken seines Doktorvaters jenen Artikel, für den er wenige Jahre später den Nobelpreis erhalten wird. Darin formuliert er erstmals die Unschärferelation, welche die Annahme einer strengen Kausalität in der klassischen Physik in ihren Grundfesten erschüttert. In diesem Artikel führt er jenes Gedankenexperiment mit einem Mikroskop durch, das Brecht in den Flüchtlingsgesprächen verwendet, um die Darstellung einer strengen Kausalität im Theater in ihren Grundfesten zu erschüttern. Diese Unschärferelation zeigt, dass die Beziehung zwischen kinematischen und dynamischen Größen in der Physik kompliziert ist, und keinesfalls so unschuldig, wie die klassische Physik annimmt. Kinematische Größen verorten ein Objekt in Raum und Zeit, während dynamische Größen seine Bewegung beschreiben. (Reichenbach [1965] 11). In der klassischen Physik wird der Zustand einer Entität jeweils durch Paare beschrieben, die stets sowohl aus einer kinematischen als auch einer dynamischen Größe bestehen: Durch die Energie eines Systems zu einem bestimmten Zeitpunkt, durch den Impuls des Objekts an einem bestimmten Ort. Die physikalischen Gesetze etwa der Newtonschen Mechanik erlauben es dann, das zukünftige Verhalten der Entität vorherzusagen. Ein solches Paar wäre der Ort des Gegenstandes (kinematisch) und der Impuls (dynamisch). Sind diese Größen für einen bestimmten Zeitpunkt bekannt, so kann aus diesen Anfangsbedingungen der weitere Verlauf der Bewegung berechnet werden. Ein anderes Paar solcher Größen bilden beispielsweise Zeit und Energie. Die Bestimmung dieser Größen erfordert Messungen. In der klassischen Physik kommt es auf die Reihenfolge dieser Messungen nicht an und sie können auch gleichzeitig ausgeführt werden. Denn diese Messungen ergeben sich aus einer passiven Rezeption, welche die Objekte nicht beeinflusst. In der Quantenmechanik hingegen sind die Objekte, die wir messen, und die Objekte mit denen wir messen, von der gleichen Größenordnung. Das Ergebnis der Messung ist daher nicht mehr unabhängig von der Messung selbst. Bestimmte Größen lassen sich in der Quantenmechanik nicht gleichzeitig exakt bestimmen – es sind jene Paare kinematischer und dynamischer Größen, welche den Anfangszustand eines Systems festlegen. So gilt etwa ∆x∆p ≥ ℏ: Die Unschärfe des Ortes ∆x und die Unschärfe des Impulses ∆p können nicht gemeinsam kleiner als eine bestimmte Größe werden, nämlich das nach Planck benannte Wirkungsquantum ℏ. „At least one of the two values can only be characterized by an probability distribution.“ (Krüger [1987] 378) Daher ist auch die Reihenfolge der Messungen nicht gleichgültig: „... every experiment destroys some of the knowledge of the system which was obtained by the previous experiments“ (Heisenberg [1930] 20), schreibt Heisenberg. https://doi.org/10.1515/9783110546354-002
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Abb. 2.1: Illustration des γ-Strahlen-Mikroskops basierend auf Heisenbergs Zeichnung (in Heisenberg [1930] 21). Das Auflösungsvermögen eines Lichtmikroskops wird durch die Formel ∆x = λ/(2sinε) beschrieben, wobei ∆x die kleinste erkennbare Länge, λ die Wellenlänge und ε der halbe Öffnungswinkel des Objektivs ist. Bild zur Verfügung gestellt unter der Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication Lizenz auf wikimedia.
Heisenbergs Mikroskop soll die abstrakte Ungleichung in eine experimentelle Situation übersetzen. Wir können versuchen, den Ort eines Teilchens festzustellen, indem wir es im Mikroskop betrachten. Wir positionieren zum Beispiel ein Elektron unter der Linse und beleuchten es von der Seite. Damit das Elektron im Okular des Instruments sichtbar wird, muss ein Photon von dem Teilchen in das Linsensystem abgelenkt werden. Das Aufleuchten zeigt an, wo das Elektron war. Wie genau der Ort dabei bestimmt werden kann, hängt vom Auflösungsvermögen des Mikroskops ab. Das Auflösungsvermögen eines Mikroskops gibt den geringsten Abstand ∆x zwischen zwei Punkten an, der notwendig ist damit diese Punkte im Mikroskop unterschieden werden können. Es ist proportional zur Wellenlänge des Lichts λ: Die Position kann umso exakter bestimmt werden, je kürzer die Wellenlänge des Photons ist. Gleichzeitig geht aber Information darüber verloren, wohin sich das Elektron nach der Wechselwirkung mit dem Licht bewegt. Bei der Kollision der beiden Partikel wird ein Impuls auf das Elektron übertragen, es erhält einen Stoß. Wenn wir die Richtung des Photons kennen, nachdem es mit dem anderen Teilchen zusammengestoßen ist, können wir sowohl Ort als auch Impuls des Elektrons genau bestimmen. Das Problem ist aber, dass die Richtung, aus der das Photon kommt, im Linsensystem des Mikroskops unscharf wird: Alle Lichtstrahlen, die von einem Punkt aus unter verschiedenen Winkeln auf die Linse treffen, werden von dieser wieder in einem Punkt fokussiert – die einzelnen Strahlen im Bündel können nicht unterschieden werden. Es lässt sich also nicht entscheiden, aus welcher Richtung das Photon gekommen ist und daher weist auch die Richtung seines Impulses eine gewisse Unschärfe
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auf. Der Impuls des Photons wird unangenehmerweise umso größer, je kürzer die Wellenlänge des Lichtes ist. Doch je genauer wir den Ort bestimmen möchten, desto kurzwelliger muss das Licht sein.¹ Je kurzwelliger das Licht ist, desto stärker wird der nur ungenau bekannte Stoß, den das Elektron erhält. Daher wird der Impuls des Elektrons umso unbestimmter, je genauer sein Ort gemessen wird. (Heisenberg [1930] 21f) In der Version von 1927 betont Heisenberg die Änderung des Impulses des Elektrons durch den Zusammenstoß. Dieser ist für sich genommen aber noch nicht entscheidend: Der Vorgang der Compton-Streuung könnte mathematisch exakt nachvollzogen werden, wenn Einfalls- und Ausfallsrichtung des Photons exakt bekannt wären. (Jammer [1966] 331) Karl Popper, der als Vertreter eines physikalischen Realismus die von Bohr postulierten ontologischen Konsequenzen der Heisenbergschen Unschärferelation nicht akzeptieren wollte und daran festhielt, dass Ort und Impuls eines Objekts immer gleichzeitig exakt bestimmt sind (Jammer [1974] 447–465), hat viel später eine Umsetzung des Heisenbergschen Mikroskops mit verschränkten Teilchen vorgeschlagen – um Heisenberg zu widerlegen (Popper [2001] 33–36).
2.1 Anschaulichkeit Das Gedankenexperiment des γ-Strahlenmikroskops formuliert Heisenberg 1927 in seinem Artikel Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik. Der Titel ist bemerkenswert. Lange Zeit war die Anschaulichkeit einer physikalischen Theorie eine notwendige Voraussetzung dafür, dass sie überhaupt wahr sein kann. Auch bei Heisenberg spielt die Anschaulichkeit noch eine wichtige Rolle: Eine physikalische Theorie glauben wir dann anschaulich zu verstehen, wenn wir uns in allen einfachen Fällen die experimentellen Konsequenzen dieser Theorie qualitativ denken können, und wenn wir gleichzeitig erkannt haben, daß die Anwendung der Theorie niemals innere Widersprüche enthält. (Heisenberg [1927] 172)
Das Kriterium der Anschaulichkeit geht auf Kants philosophisches System zurück. Bei Kant ist der Raum die Form aller äußeren Anschauungen. Entsprechend müssen alle physikalischen Gesetze durch räumliche Verhältnisse oder durch Bewegungen im Raum veranschaulicht werden können. Im Anschluss an Kants Theorie des 1 Der Impuls, der auf das Elektron übertragen wird, liegt in der Größenordnung von hλ , er ist also indirekt proportional zur Wellenlänge, oder: Er wird umso größer, je kürzer die Wellenlänge ist. Wenn wir sehr kleine Winkel ε betrachten, bewegt sich der Wert des übertragenen Impulses zwischen − hλ ε und + hλ ε.
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Raums als Anschauungsform wird von allen physikalischen Theorien gefordert, dass sie anschaulich sein sollen. (Kojevnikov [2011] 330) 1925 entwickelt Heisenberg die erste konsistente mathematische Formulierung der Quantenmechanik. Zwar war bereits in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Zahl der Publikationen zu der neuen Physik exponentiell gewachsen (Kuhn [1978a] 208, 229). Dennoch hatte es der Quantenmechanik an konzeptueller Eigenständigkeit gemangelt: Die Probleme waren aus der klassischen Mechanik übersetzt und intuitiv an die Quantisierungsbedingungen angepasst worden. In Heisenbergs Formulierung kommt der dreidimensionale, euklidische Raum nicht mehr vor – gerade weil Heisenberg von der Forderung ausgeht, dass nur beobachtbare Größen in der Theorie verwendet werden sollen. Experimentell sind die Orte und Impulse der Elektronen im Atom aber nicht zugänglich. In der klassischen Mechanik sind dies hingegen die fundamentalen Größen, mit denen das Verhalten von Objekten beschrieben werden. Der Physiker ersetzt sie durch Wellenlänge und Intensität der Spektrallinien des Lichts, das Atome aufnehmen oder aussenden. Die Wellenlänge entspricht der Energiedifferenz zwischen zwei Niveaus, welche die Elektronen einnehmen können, und die Intensität der Wahrscheinlichkeit des Übergangs zwischen diesen Energieniveaus: It operates with manifolds of quantities which replace the harmonic oscillating components of the motion and symbolize the possibilities of transitions between stationary states in conformity with the correspondence principle. (Bohr [1961] 48)
Diese Übergangswahrscheinlichkeiten hat Heisenberg in Schemata aus Spalten und Zeilen organisiert. Später stellt man fest, dass diese Schemata dem mathematischen Konzept der Matrix entsprechen. (Jammer [1966] 196–205) Für das Rechnen mit Matrizen gelten ungewöhnliche Regeln: Während für zwei Zahlen die Reihenfolge bei einer Multiplikation gleichgültig ist, gilt dies für zwei Matrizen oder Vektoren A und B nicht: A ⋅ B ≠ B ⋅ A. Die Reihenfolge ihrer Anwendung beeinflußt das Ergebnis. Wenige Monate nach Heisenberg veröffentlicht Erwin Schrödinger eine zweite mathematische Formulierung der Quantenphysik, die Wellenmechanik. 1924 hatte der französische Physiker Louis de Broglie die Bewegung des Massenmittelpunktes eines Materieteilchens, etwa eines Elektron, durch die Ausbreitung einer Welle modelliert. Die Wellenlänge λ dieser Materiewelle hängt vom Impuls p des Teilchens ab und ist durch h quantisiert: λ = h/p. (de Broglie [1970]) Solche Materiewellen beugen wie Lichtwellen an einem Gitter, was die Grundlage unserer Interferenzexperimente im KDTLI ist. (Jammer [1966] 239–246) De Broglies Hypothese wurde rasch durch Experimente von Davisson und Germer bestätigt. (Jammer [1966] 249–
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Abb. 2.2: Überlagerung von Sinusschwingungen zu einem Wellenpaket. Die Interferenz der gleichförmigen Schwingungen ergibt eine modulierte Wellenstruktur. Bild von Glosser.ca zur Verfügung gestellt unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en) auf wikimedia. Modifiziert durch den Autor.
252) Bei diesem Experiment werden Elektronen an den äußeren Atomschichten eines Kristalls gestreut. Dadurch entsteht ein Interferenzmuster, das durch die Intensitätsverteilung der Elektronen nachgewiesen wird. (Davisson [1928]) Schrödinger verwendet einen Formalismus, den der Mathematiker William Rowan Hamilton entwickelt hatte, um sowohl die Ausbreitung von Lichtwellen in einem Medium als auch die Bewegung von Teilchen in einem Kraftfeld beschreiben zu können. (Jammer [1966] 236f) Damit kann Schrödinger die Ambiguität der Formulierung von Teilchen als Materiewellen auffangen. Die Welle wird durch eine Funktion Ψ(x, t) von Ort und Zeit beschrieben. Die Anwendung des HamiltonFormalismus auf die Wellenfunktion Ψ erlaubt es, die erlaubten Energieniveaus des Systems zu bestimmt. Dabei ist die Wellenfunktion selbst kontinuierlich. Die Quantisierungsbedingungen werden durch die äußeren Bedingungen – das äußere Potential – festgelegt (Cushing [1998] 286). Damit lässt sich die Schrödingergleichung HΨ = iℏδ/δtΨ formulieren, wobei H die Hamiltonfunktion ist. Die zeitliche Entwicklung der Wellenfunktion verläuft streng deterministisch und kontinuierlich. (Jammer [1974] 25f, Jammer [1966] 255–272) In der Wellenfunktion Ψ(x, t) kommen Ort und Zeit durchaus explizit vor. Schrödinger interpretiert die Wellenfunktion zunächst in Analogie zu elektromagnetischen Wellen und fasst Ψ als eine reale physikalische Größe auf. (Jammer [1974] 27) Doch während sich elektromagnetische Wellen im dreidimensionalen Raum ausbreiten, bewegen sich die
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Abb. 2.3: Ein ursprünglich scharf lokalisiertes Wellenpaket zerfließt entsprechend der Unschärferelation. Skizze in einem Manuskript von Hans Reichenbach (Reichenbach 040-02-15 [o.J.]).
Wellenfunktion der Quantenmechanik in einem abstrakten, vieldimensionalen Raum. Die Wellenfunktion enthält die möglichen Zustände, die ein System bei der Messung haben kann, als Elementarwellen. Die Überlagerung von Elementarwellen bildet ein Wellenpaket. Wellenpakete kennen wir nicht nur in der Quantenmechanik, sondern auch im Elektromagnetismus. Wenn etwa die Radiostationen nur auf genau einer Frequenz senden würden, wäre das, was wir empfangen, nur ein konstantes Summen und kein Konzert, keine Nachrichten und keine Werbung. Um eine Information, ein individuelles Signal zu übertragen, muss die Radiostation elektromagnetische Impulse auf einer gewissen Bandbreite senden, eine Überlagerung von Wellen rund um die zentrale Frequenz. Die Individualität des Signals erfordert also eine Unschärfe seiner Frequenz. An instructive illustration of this law [der Unschärfe, L.M.] is found in some problems of radio transmission. If the wave of a radio transmitter does not carry any sound, it is a pure sine wave of a sharply defined frequency. If it is modulated, however, i.e., if its amplitude varies according to the intensity of impressed sound waves, it no longer represents one sharp frequency, but a spectrum of frequencies varying continuously within a certain range. (Reichenbach [1965] 10f)
Auch in diesem Fall ergeben sich zwei komplementäre Situationen, die nicht gleichzeitig realisiert werden können: The principle of inverse correlation is here expressed in the fact that it is impossible to unite high fidelity and high selectivity in the same adjustment of the receiver. (Reichenbach [1965] 10f)
Im Gegensatz zum Elektromagnetismus ist in der neuen Physik aber unklar, was die Teilschwingungen sind, aus denen das quantenmechanische Wellenpaket besteht. Ein lokalisiertes Objekt entsteht in der Quantenmechanik, wenn sich einzelne Wellen mit jeweils scharf bestimmter Frequenz so zu einem Wellenpaket überlagern, dass sie sich durch Interferenz in einem bestimmten Raum verstärken und außerhalb dieses Raumes auslöschen. (Bohr [1961] 59f) Das Zentrum dieses Pakets
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kann mit dem Massenmittelpunkt eines Teilchens identifiziert werden und bewegt sich mit der sogenannten Gruppengeschwindigkeit. Doch diese Wellenpakete sind nicht stabil, sondern zerfließen, wenn sie nicht mit der Umgebung wechselwirken. Denn die einzelnen Elementarwellen des Pakets breiten sich mit unterschiedlichen Phasengeschwindigkeiten aus, die von der Gruppengeschwindigkeit des Zentrums abweichen. Dadurch eilt ein Teil der Elementarwellen dem Maximum immer weiter voraus, während ein anderer Teil immer weiter zurückbleibt. (Jammer [1974] 31f) Je schärfer das Wellenpaket anfangs lokalisiert war – je ausgeprägter als die Konzentration der Energie um das zentrale Maximum war – desto rascher zerfließt es. Eine stabile Lokalisierung im Raum setzt die ständige Wechselwirkung der Entitäten mit ihrer Umgebung voraus. Bohr stellt daher fest, dass eine vollständige raum-zeitliche Darstellung der atomaren Prozesse unmöglich und sein eigenes Modell der auf Bahnen kreisenden Elektronen mit der mathematischen Formulierung der Quantenmechanik überholt ist; eine Reihe von Quantenphysiker*innen gibt die raum-zeitliche Darstellung des Verhaltens der Elektronen im Atom auf. (Kojevnikov [2011] 330) Die Physik hat ihre Anschaulichkeit verloren.
2.2 Kontinuität: Spuren im Nebel Wenn physikalische Prozesse nicht mehr in einem dreidimensionalen Raum dargestellt werden können, wird der kontinuierliche Zusammenhang der einzelnen Zustände fragwürdig. In der Quantenphysik fragmentieren die Vorgänge und Entitäten. Auf der zweiten Seite des Artikels skizziert Heisenberg zwei Möglichkeiten, die Bahn eines Objekts zu verstehen (siehe Abb. 2.4). Auf der linken Seite zeigt Fig. 1 die Bahn eines Objekts, wie sie von der klassischen Physik beschrieben wird. Auf der vertikalen Achse ist der Ort eingezeichnet, auf der horizontalen die Zeit. Die Bahn besteht aus einer zusammenhängenden, kontinuierlichen Abfolge von Orten in der Zeit. Diese Abfolge von Orten ist unmittelbar anschaulich gegeben: Zu jedem Zeitpunkt sehen wir den Ort, an dem sich der Gegenstand gerade befindet. Dieses Sehen ist im Fall der Quantenobjekte aber ein komplizierter Vorgang geworden und hat die Unschuldigkeit der bloßen Betrachtung verloren. In Heisenbergs Mikroskop ist das Sehen ein aktiver Vorgang geworden, in dem das Subjekt nicht mehr passiv ist, sondern aktiv in den Vorgang eingreift und ihn dabei stört. Die Position des Objekts ist nun nur mehr zu jenen Zeitpunkten bestimmt, an denen wir diesen aktiven Eingriff vorgenommen und seinen Ort gemessen haben. Fig. 2 auf der rechten Seite zeigt die diskontinuierliche Abfolge von Ortsmessungen, aus der sich keine Bahn mehr ableiten lässt: Die Position zwischen den Messungen ist
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Abb. 2.4: In der klassischen Physik ergibt sich aus den Orten des Objekts zu den verschiedenen Zeitpunkten x(t) eine kontinuierliche Trajektorie (links). In der Quantenmechanik kann nur eine diskrete Abfolge von Orten x(t) festgestellt werden. Die Annahme, dass sich das Objekt zwischen diesen Orten auf einer kontinuierliche Bahn bewegt ist problematisch. Nach einer Skizze in (Heisenberg [1927] 173).
unbekannt. Man ist sofort versucht, auf die Positionen des Objekts zwischen den Messungen zu extrapolieren und die Punkte durch eine Linie zu verbinden. Heisenbergs Bild der Trajektorien zeigt nicht nur den Unterschied von klassischer Physik und Quantenmechanik. Es verweist auch auf die jahrhundertelange Auseinandersetzung zwischen zwei großen philosophischen Strömungen: dem Skeptizismus und dem Ansatz Kants. Während die kontinuierliche Bahn im linken Bild unmittelbar anschaulich gegeben ist, muss aus den einzelnen Beobachtungen im Bild auf der rechten Seite eine Bahn erst rekonstruiert werden. Für Kant ist es undenkbar, dass ein Objekt existiert ohne Raum einzunehmen, an einem Ort zu sein. Daher muss diese Rekonstruktion jederzeit möglich sein. Der Skeptizismus weist dies als Zumutung an die Natur zurück: Es ist unzulässig, aus unseren Beobachtungen auf Unbeobachtetes zu schließen. Die Spuren, welche die Dinge und Vorgänge hinterlassen, werden nicht einfach vorgefunden, sondern erweisen sich als erzeugt (Bock von Wülfingen [2017]). Der ontologische Status dieser Fakten, dieser erzeugten Spuren, ist im besten Fall fragwürdig: Bewegen sich die Objekte der Mikrophysik zwischen den einzelnen Punkten, an denen wir sie beobachten, tatsächlich auf einer kontinuierlichen, eindeutigen Bahn? In der klassischen Physik spielt der Begriff der Bahn eines Körpers eine zentrale Rolle. Mathematisch ergibt sich die Trajektorie als die kontinuierliche Kurve, auf der die Lösungen der Bewegungsgleichung liegen: Zu jedem Zeitpunkt t kann ein Ort des Teilchens x(t) angegeben werden. Die experimentelle Umsetzung dieser Definition wurde in der Quantenphysik hochproblematisch. Die miserable Photographie in Abb. 2.5 habe ich während meines Grundpraktikums für Physiker*innen aufgenommen. Der/die angehende Physiker*in sieht auf
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Abb. 2.5: Nebelkammer: Unter den Schlieren und Fuseln auf der Glasplatte sind die Bahnen der α-Partikel nur schwer zu erkennen. Bemerkenswerterweise haben nicht nur die Bilder der Kunst ihre Gestaltungsprinzipien: Wenn wir nicht gewohnt sind, die Kondensstreifen ionisierender Strahlung in einer Nebelkammer zu photographieren, werden die Aufnahmen miserabel. Und wenn wir es nicht gewohnt sind, solche Aufnahmen auszuwerten, fallen uns unter all den Kratzern die sogenannten Trajektorien der Teilchen unter Umständen gar nicht auf und die Frage nach der Bedeutung des Phänomens lässt sich nicht stellen. Stilgemäßes Abbilden und stilgemäßes Erkennen der Entitäten sind Voraussetzung der Auswertung unseres Experiments, der wissenschaftlichen Arbeit. Photographie: Lukas Mairhofer
der digitalen Aufnahme eine Nebelkammer, in die wir von oben durch eine Glasscheibe blicken. Die vertikal verlaufenden dünnen Linien bilden Drähte ab, die Abstände markieren. Der horizontale helle Balken rechts ist eine α-Strahlungsquelle, nämlich ein Radiumpräparat aus welchem als Spaltprodukte beim radioaktiven Zerfall zweifach positiv geladene Heliumkerne austreten, also zwei Neutronen verbunden mit zwei Protonen, denen die Elektronenhülle fehlt. Diese nackten Heliumkerne geraten in eine sorgfältig präparierte Umgebung: Der Boden des Tanks wird mit flüssigem Stickstoff gekühlt, während die Deckplatte Zimmertemperatur hat. In der Nähe der Deckplatte befindet sich ein Reservoir mit Methanol, welches verdunstet und in dem Temperaturgefälle nach unten sinkt. Durch die starke Abkühlung bildet sich ein übersättigter Methanoldampf. Ein übersättigtes System hat den Punkt, an dem ein Phasensprung stattfinden kann, bereits überschritten und ist höchst instabil – der Dampf kann beim geringsten Anstoß wieder kondensieren. Außerdem liegt an der Nebelkammer ein elektrisches Feld an, durch welches die Teilchen nach dem Austritt aus der Strahlungsquelle mit einer Saugspannung von 750 Volt beschleunigt werden. (Musiol [1988] 103–117) Keine Angst, wir rechnen diese Spannung später aus unserem Ergebnis wieder heraus – aber ohne sie würden
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wir kaum etwas von dem sehen, was auch jetzt unter den Schlieren und Fuseln des ersten Bildes wie zufällige Kratzer auf der Glasscheibe wirkt. Der feine Sprühregen, der aus dem Radiumpräparat auszutreten scheint – das sind die „Bahnen“ der Protonen-Neutronen-Paare. Diese Spuren der Teilchen werden in der Nebelkammer sichtbar, weil sie die Methanolmoleküle ionisieren, ihnen Elektronen entziehen. Dies lässt den übersättigten Dampf kondensieren – es bilden sich kleine Tröpfchen. Alle Verfahren, welche die Bahn eines Quantenobjekts sichtbar machen, arbeiten nach diesem Prinzip: „The essential point of these methods is that the position of the particle is indicated by the ionization of an atom;“ (Heisenberg [1930] 24) Die ionisierten Moleküle bilden aber weder eine kontinuierliche noch eine exakte Trajektorie, wie sie die klassische Physik annimmt. Die Tropfen hängen nämlich erstens nicht zusammen, sie bilden nur eine diskrete Abfolge von Orten; und zweitens sind sie viel größer als das Teilchen selbst, sie zeigen den Aufenthaltsort der Heliumkerne nur ungenau an. Um diese und ähnliche Situationen zu beschreiben, genügen ungefähre Angaben über Ort und Impuls des Teilchens: Wir hatten ja immer leichthin gesagt: die Bahn des Elektrons in der Nebelkammer kann man beobachten. Aber vielleicht war das, was man wirklich beobachtet, weniger. Vielleicht konnte man nur eine diskrete Folge von ungenau bestimmten Orten des Elektrons wahrnehmen. (Heisenberg [1969] 111)
Heisenbergs Unschärferelation postuliert, dass diese Ungenauigkeit in der Quantenmechanik prinzipieller Natur ist, also kein Experiment eine exakte Bestimmung der Trajektorie erlaubt, auch wenn es wesentlich elaborierter ist und präziser ausgeführt wird als jenes aus dem Grundpraktikum. Die „Bahn“ eines Quantenobjekts besteht aus einzelnen Ortsmessungen, sie entsteht als Ergebnis einer Wechselwirkung mit der Umgebung. Die Beobachtung der Bewegung verändert dabei die Bewegung des Objekts. (Heisenberg [1969] 110f)
2.3 Kausalität 2.3.1 Bohrs Einwand Die Veröffentlichung der Unschärferelation im Jahr 1927 endet mit einem Widerruf: Heisenberg merkt an, Bohr habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er „in einigen Diskussionen dieser Arbeit wesentliche Punkte übersehen“ (Heisenberg [1927] 197) hat. Diese betreffen hauptsächlich das Gedankenexperiment des γ-Strahlenmikroskops. Erst nach einer Revision des Gedankengangs wird die Argumentation schlüssig (Jammer [1966] 331).
2.3 Kausalität | 51
Bohr hat die Unschärferelation grundlegend anders verstanden als sein Student Heisenberg. In einem Artikel von 1927, The Quantum Postulate and the Recent Development of Atomic Theory, schlägt Bohr eine alternative Herleitung vor. Heisenberg nimmt an, dass die quantenmechanischen Objekte sehr wohl einen scharfen Impuls und Ort haben, aber die Messung immer eine Störung ist. (Heisenberg [1927]) Bohr hingegen geht davon aus, dass zwei unvereinbare Beschreibungen der Wirklichkeit möglich sind. Wellen- und Teilcheneigenschaften können nicht gleichzeitig realisiert werden: Teilchen sind lokalisierte Entitäten, Wellen hingegen Störungen, die sich in einem Medium oder Feld ausbreiten und viele Orte zugleich einnehmen; dabei sind sie auch nicht scharf gegeneinander abgegrenzt, sondern können überlappen. Die unvereinbaren Wellen- wie Teilcheneigenschaften sowohl des Lichts als auch der Materie führen dazu, dass in der Physik zwei logisch unvereinbare Theorien koexistieren. Bohr argumentiert, dass physikalische Konzepte insofern praktikabel sein müssen, als Begriffe nur Bedeutung haben, wenn klar ist durch welches Verfahren sie auf die Wirklichkeit bezogen werden können. (Bohr [1961] 46, 48) „For Bohr, the crucial point is the fact that wave and particle behaviors are exhibited under complementary – that is, mutually exclusive – circumstances.“ (Barad [2007] 106) Damit wird der logische Widerspruch zwischen Teilchen- und Welleneigenschaften bedeutungslos, weil diese nicht gleichzeitig realisiert werden können. Es gibt daher zwei mögliche Beschreibungen der Wirklichkeit, die einander aber gegenseitig ausschließen. Dies hat Bohr als Komplementarität bezeichnet, im Gegensatz zur Inkommensurabilität, der Nicht-Gemeinsam-Messbarkeit bestimmter Größen. Es geht also nicht nur um eine Störung des beobachteten Systems – der Messapparat legt auch fest, was überhaupt beobachtet werden kann. Ort und Impuls sind nach dieser Interpretation Größen, die erst bei der Messung selbst hergestellt werden – sie sind also Eigenschaften nicht nur der gemessenen Entität, sondern auch des Messapparates. Zu allen Observablen gibt es eine komplementäre Messung (Bohr [1961] 57), Observable sind daher kanonisch konjugierte Variable (Bohr [1961] 73). Das Plancksche Wirkungsquantum stellt eine Äquivalenz her zwischen Lichtquanten und Materiewellen. Das Produkt der komplementären Größen Energie E und Zeit τ, welche Lichtquanten beschreiben, ist gleich dem Produkt der komplementären Größen Impuls p und Wellenlänge λ, welche Materiewellen charakterisieren: Eτ = pλ = h. (Bohr [1961] 57) Die Ausdehnung eines lokalisierten Wellenpakets kann durch seine Wellenlänge beschrieben werden. Daher erhalten wir eine Beziehung zwischen Ort und Impuls: ∆t∆E = ∆x∆p x = h. Damit ist die größtmögliche Genauigkeit der Bestimmung von Energie und Impuls bereits gegeben, wobei es der Wellencharakter ist, welcher diese limitiert. (Bohr [1961] 59f)
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Mit diesen theoretischen Vorüberlegungen kritisiert Bohr nun das Gedankenexperiment von Heisenbergs Mikroskop. Heisenberg hat die Beziehung ∆t∆E = ∆x∆p x = h anders interpretiert. Er fasst kausale und raum-zeitliche Beschreibung nicht als zwei einander ausschließende Beschreibungen auf, sondern konstatiert lediglich, dass die Position und der Impuls nicht gleichzeitig und exakt gemessen werden können. Heisenberg fasse die Unschärferelation rein epistemologisch auf und klammere, so kritisiert Bohr, sämtliche Implikationen für den ontologischen Status der Gegenstände der Quantenmechanik aus. (Bohr [1961] 62f) Die Unschärfe entsteht, so Bohr, nicht durch die Diskretisierung des Energieaustauschs wie in Heisenbergs Überlegung, denn dieser hindert uns nicht prinzipiell daran, den beteiligten Entitäten vor und nach dem Stoß sowohl Position als auch Impuls zuzuordnen, auch wenn wir diese Größen nicht beide exakt kennen. Es wäre dann möglich, versteckte Variable einzuführen, die einen streng kausalen Ablauf sicherstellen, dessen Zusammenhang uns aber nicht zugänglich ist. In diesem Fall wäre die Quantenmechanik unvollständig, weil sie nicht alle Faktoren beschreibt, die in der Wirklichkeit Einfluss auf das Ergebnis einer Messung haben.
2.3.2 Messproblem Die Schrödingergleichung beschreibt, wie sich ein abgeschlossenes Quantensystem entwickelt, das nicht mit der Umwelt wechselwirkt. Diese Entwicklung verläuft kausal, spätere Zustände ergeben sich eindeutig aus den früheren. Eine Beobachtung des Systems setzt aber immer eine Wechselwirkung voraus, und während dieser Wechselwirkung ist das System zwangsläufig nicht mehr geschlossen. Die Theorie der Quantenmechanik enthält jedoch keine Beschreibung dieser Wechselwirkung und kann ihr Ergebnis nicht mit Sicherheit vorhersagen. Max Born entwickelt eine statistische Interpretation der neuen Physik. Dabei geht er zunächst von Korpuskelansatz aus, stark beeinflusst von den Elektronenstreu-Experimenten, die James Franck zu dieser Zeit durchführt. Born interpretiert die Wellenfunktion Ψ als eine Beschreibung von Wahrscheinlichkeiten. Im Gegensatz zum elektromagnetischen Feld hat diese Wellenfunktion weder Energie noch Impuls. Daher ist ihr Status als physikalische Entität fragwürdig. Sie kann nicht wie ein klassisches Feld durch einen Probekörper gemessen werden. Nach Borns Interpretation verhalten sich die einzelnen Objekte gemäß der probabilistischen Vorgaben dieser Wahrscheinlichkeitswelle, doch die zeitliche Entwicklung und räumliche Ausbreitung dieser Wahrscheinlichkeitswelle selbst ist strikt kausal und wird durch die Schrödinger-Gleichung beschrieben. (Jammer [1974] 39f). Der Mathematiker und theoretische Physiker John von Neumann schlägt vor, zwei Formen der Entwicklung von Quantensystemen zu unterschei-
2.3 Kausalität | 53
den. Ungestörte Systeme verhalten sich streng kausal gemäß der (zeitabhängigen) Schrödingergleichung EΨ = HΨ(x, t); diese Entwicklung kann umgekehrt werden. Bei der Wechselwirkung mit dem Messapparat entwickelt sich das System hingegen in die Überlagerung seiner (zeitunabhängigen) Eigenzustände, denen die möglichen Ergebnisse entsprechen, also in ∑ E n Ψ n = HΨ(x). In der Messung wird einer dieser Zustände festgestellt, ein unumkehrlicher Vorgang, der durch die Ausgangssituation nicht determiniert wird. (Breuer [2001] 78) Das Ergebnis der Messung wurde als Kollaps der Wellenfunktion in einen der Eigenzustände, die in ihr enthalten sind, beschrieben (von Neumann [1932]). Während klassische Theorien davon ausgingen, dass die physikalische Bedeutung des mathematischen Formalismus intuitiv verstanden wird, ist die operationale Bedeutung der Anwendung eines Projektionsoperators auf eine Wellenfunktion völlig unklar (vgl. Bohr [1961], Heisenberg [1927], Einstein et al. [1935]). Operationale Theorien haben den Messvorgang in der Quantenmechanik epistemisch interpretiert, wobei das Ergebnis entweder als objektives, interpersonelles Resultat aufgefasst wird (Bohr [1961], Heisenberg [1927]) oder als Bayesianische Aktualisierung subjektiver Zuschreibungen von Wahrscheinlichkeit (Fuchs und Schack [2013]). In beiden Fällen ist das Ergebnis einer quantenmechanischen Messung eine Eigenschaft des zusammengesetzten Systems von Beobachter*in und Objekt. Eine Messung ist immer eine physikalische Wechselwirkung. Während diese Wechselwirkung selbst kein Bewusstsein voraussetzt, impliziert der Übergang von „measurement to meaning“ (Wheeler [1983]), dass die Beobachter*innen ein das Ergebnis dieser Wechselwirkung interpretieren und kommunizieren. Beobachtung ist eine intentionale Praxis, und Wissenschaft ist ein soziales Unterfangen. (Pickering [1984]). David Mermin fordert daher: „put the scientist back into science“ (Mermin [2014]) In den Interpretationen der Quantenmechanik werden die Beobachter*innen oft als isolierte Subjekte beschrieben (z.B. Fuchs und Schack [2013]). Dies ignoriert jedoch die Bedingungen, unter denen diese Subjekte zur überhaupt in der Lage sind, zu beobachten. Denn dies benötigt unter anderem Sprache, um die Ergebnisse der Beobachtung zu formulieren und hochgradig spezialisierte Laborausstattung. Auch die Beobachter*innen selbst der Beobachtung sind das Ergebnis der Wechselwirkungen mit dem Experiment und seinem historischen, sozialen und kulturellen Kontext.
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2.4 (In)dividualität Der Ausgangspunkt der Quantenmechanik ist ironischerweise eine recht sinnliche Erfahrung: Das Spektrum des Sonnenlichts und des Lichts, das Atome absorbieren oder emittieren.
2.4.1 Unteilbares Licht Die Sonne wird in der Physik durch ein Modell beschrieben, das unerwarteterweise als Schwarzkörper bezeichnet wird. Ein Schwarzkörper emittiert die gesamte Energie, die er aufnimmt, wieder als Strahlung. Dabei hängt das Spektrum des abgegebenen Lichts aber nicht mit dem Spektrum des absorbierten Lichts zusammen, denn die gesamte abgegebene Strahlung ist thermisch: Die absorbierte Strahlung wird von dem Körper in Wärme umgewandelt: Ein Stein erwärmt sich im Sonnenlicht. Einen Teil der Wärme gibt der Körper als Strahlung ab. Je heißer der Körper, desto kurzwelliger und energiereicher wird die Strahlung: das Maximum des Spektrums bewegt sich mit steigender Temperatur von rot nach blau. Bei einer gewissen Temperatur liegt die Wellenlänge der Strahlung im sichtbaren Bereich, etwa wenn Metall zu glühen beginnt. Simulation des Spektrums von Schwarzkörpern bei verschiedenen Temperaturen findet man auf (PhET [2022a]). Wie alle physikalischen Modelle ist der Schwarzkörper eine Abstraktion, eine Fiktion, die in der Wirklichkeit eine näherungsweise Umsetzung findet. Beispiele für solche „wirklichen“ Schwarzkörper sind Rußpartikel, das menschliche Ohr und die Sonne: ihre Hülle wird von den Fusionsprozessen im Sonnenkern geheizt und setzt deren Energie in thermische Bewegung um. Ihre Temperatur beträgt etwa 6000° K. 1900 entwickelt Planck eine allgemeingültige Formel zur Berechnung des Spektrums der Strahlung, die ein Schwarzkörper abhängig von seiner Temperatur abstrahlt. Das bis dahin gültige Modell bestand aus zwei Formeln, die beide jeweils nur einen kleinen Bereich des Spektrums gut erklären konnten, sich aber gegenseitig in die Quere kamen. Bei der Herleitung seines Gesetzes muss Planck annehmen, dass die Strahlung nicht kontinuierlich, sondern nur in Paketen abgegeben wird – in diskreten Quanten der Energie E = hν. In dieser Formel ist ν die Frequenz der Strahlungsmode und h das Plancksche Wirkungsquantum. (Jammer [1966] 1-20) Plancks Quantisierung der Energie bezog sich zunächst nur auf die Emission von elektromagnetischer Strahlung durch Materie. Bald wurde jedoch auch diese Strahlung selbst als quantisiert beschrieben. Dies wurde bei der Untersuchung des photoelektrischen Effekts notwendig, der die Grundlage von Solarzellen ist. Wenn
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Abb. 2.6: Das theoretisch berechnete Spektrum eines Schwarzkörpers mit einer Temperatur von 5777° K und das Sonnenspektrum. Die vertikale Achse zeigt die Intensität [W/(m2 nm)], die horizontale Achse die Wellenlänge in [nm]. Bild zur Verfügung gestellt unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/bysa/3.0/deed.en) auf wikimedia. Modifiziert durch den Autor.
Licht von einer Metallplatte absorbiert wird, kann es soviel Energie übertragen, dass Elektronen aus dem Material gelöst werden. Wenn diese Energie vom Licht wie von einer Welle kontinuierlich auf die Metallplatte übertragen wird, sollte es nur darauf ankommen, wieviel Licht auf die Platte fällt, wie hoch also seine Intensität ist. Die Experimente zeigen aber, dass es auch auf die Wellenlänge des Lichts ankommt, auf seine Farbe. Je nach Material gibt es eine bestimmte Wellenlänge, ab welcher gar keine Elektronen mehr aus dem Material austreten. Albert Einstein zieht daraus 1905 den Schluss, dass das Licht selbst nur in Energiequanten auftritt. Die Energie E des einzelnen Lichtpakets hängt von seiner Frequenz ν ab und es ist wieder das Plancksche Wirkungsquantum h, das die Beziehung herstellt: E = hν. Diese Lichtquanten werden später als Photonen bezeichnet. Je röter das Licht, desto größer seine Wellenlänge und desto niedriger seine Frequenz. Ab einer gewissen Wellenlänge hat das einzelne Photon nicht mehr genug Energie, um überhaupt ein Elektron aus der Platte zu schlagen. Damit wird die lange Zeit gültige Wellenvorstellung des Lichts radikal in Frage gestellt. Sie hatte sich durch ihren Erfolg bei der Klärung von Brechungs- und Interferenzphänomenen gegen Newtons atomistische Vorstellung des Lichts als Partikel durchgesetzt. Allerdings kann Einsteins Modell nicht klären, was der Quantencharakter des Lichts für diese optischen Phänomene bedeutet. Einsteins Konzept wird daher heftig kritisiert. (Jammer [1966] 28–46)
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Auch die weitere Entwicklung der Quantenmechanik wird von sinnlichen Phänomenen vorangetrieben – von der Frage nach den unterschiedlichen Spektren des Lichtes, das verschiedene Atome absorbieren oder aussenden. Anders als Schwarzkörper, deren Spektrum kontinuierlich ist, geben Atome nur Licht mit ganz bestimmten Wellenlängen ab – das Spektrum des emittierten Lichtes zeigt scharfe Linien, die für jedes Element eine charakteristische Struktur haben. Umgekehrt absorbieren die Atome auch nur Licht bei diesen Wellenlängen, und im Absorptionsspektrum erscheinen dunkle Linien. (Jammer [1966] 62)
2.4.2 Teilbares Atom Dem Verständnis dieser Linien geht ein radikaler Umbruch im Verständnis der Atome voraus. Rutherford und sein Team führen um 1910 Experimente durch, in denen sich zeigt, dass die Atome keine kompakten und homogenen Objekte sind. In den Versuchen wird eine dünne Goldfolie mit elektrisch geladenen Teilchen bestrahlt und die Streuung der Partikel beim Flug durch die Folie gemessen. Eine Simulation des Rutherford-Experiments findet man unter (PhET [2022b]). Dabei zeigt sich, dass die gestreuten Teilchen unerwarteten Bahnen folgen. Diese lassen sich nur dadurch erklären, dass im Zentrum der Atome ein Großteil ihrer Masse konzentriert ist. Dieser Kern ist positiv geladen und in großem Abstand von leichten, negativ geladenen Partikeln umgeben. Das gesamte Atom ist elektrisch neutral, besitzt aber eine komplexe innere Struktur. Die unteilbaren Atome sind teilbar geworden. 1913 gelingt es mit dem Bohrschen Atommodell das Linienspektrum wenigstens für das einfachste Atom zu erklären, für den Wasserstoff, welcher nur aus einem Proton und einem Elektron besteht. Heisenberg beschreibt Bohrs Theorie: In ihr wurde – auf Grund entscheidender Experimente von Rutherford in England – das Atom als ein Planetensystem im Kleinen aufgefasst, in dessen Mittelpunkt der Atomkern steht, der fast die ganze Masse des Atoms trägt, obwohl er sehr viel kleiner als das Atom ist, und der von den erheblich leichteren Elektronen als Planeten umkreist wird. (Heisenberg [1969] 54)
Auf jedem Orbital hat das Elektron eine bestimmte Energie, die mit zunehmendem Radius steigt. Dabei muss nun angenommen werden, dass auch die Energie der Elektronen auf ihren Bahnen quantisiert ist. Denn die Vorstellung, dass sich die Elektronen auf Kreisbahnen um den Kern bewegen, steht in krassem Widerspruch zu den Grundlagen der Newtonschen Mechanik und der Maxwellschen Elektrodynamik. Im Gegensatz zu den Planeten sind die Elektronen geladen: Ein Objekt auf einer Kreisbahn ist immer beschleunigt, und beschleunigte Ladungen
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Abb. 2.7: Die sichtbaren Linien des Wasserstoff-Spektrums. Dies sind die beobachtbaren Größen, von denen die Physik auf die Struktur der Atome schließt: Jede Linie entspricht nach der Quantenmechanik einem Übergang des Elektrons zwischen zwei Energiezuständen. Das Spektrum ist diskret und die Linien haben unterschiedliche Abstände. Da die CCD-Kamera im UV-Bereich eine höhere Empfindlichkeit als das menschliche Auge aufweist, wird noch eine sechste Linie sichtbar. Bild unter der Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication Lizenz zur Verfügung gestellt auf wikicommons von Jan Homann.
strahlen Energie ab; das Elektron müsste daher in kürzester Zeit seine gesamte Bewegungsenergie verlieren und in den Kern stürzen. Daher postuliert Bohr, das nur solche Bahnen erlaubt sind, bei denen der Bahndrehimpuls L ein Vielfaches n des Wirkungsquantums ist: L = nℏ. Die kleinste Bahn ist in diesem Modell stabil, da wegen der Quantisierung ihr Radius nicht auf null reduziert werden kann. Damit hat die Quantisierung der Energie auch die Atome erreicht. Mit diesem Atommodell gelingt es nun, die Spektrallinien des Wasserstoffs zu beschreiben. Wenn das Atom ein Lichtquant aufnimmt, wechselt das Elektron auf ein höheres Orbital. Umgekehrt kann das Elektron Energie in Form eines Lichtquants abgeben und auf eine niedrigere Bahn springen. Dabei können nur solche Frequenzen absorbiert oder emittiert werden, deren Energie E = hν der Energiedifferenz zwischen den beiden Zuständen entspricht. Das Modell erreicht jedoch die Grenze seiner Gültigkeit dort, wo es um eine Beschreibung des Übergangs des Elektrons zwischen zwei Orbitalen geht. (Jammer [1966] 69–88) Damit war ein Modell gefunden, in dem die Spektrallinien gerade bei jenen Wellenlänge auftreten, die man misst. Es dauert aber noch drei Jahre, bis man versteht, warum manche Linien heller, manche kaum erkennbar sind. Einstein erkennt, dass manche Übergänge wahrscheinlicher, manche jedoch sehr unwahrscheinlich sind. Das Licht, welches wir wahrnehmen, besteht aus vielen Photonen, die in vielen solcher Übergangsprozesse von vielen Atomen emittiert wurden: Es ist ein statistisches Phänomen. Je wahrscheinlicher ein bestimmter Übergang ist, desto intensiver wird die entsprechende Spektrallinie. Man beobachtet, dass sich in äußeren elektrischen und magnetischen Feldern die Spektrallinien verschieben, aber auch aufspalten. Um dies zu erklären, muss der Zustand der Elektronen im Kern durch weitere Größen beschrieben werden. Diese Größen sind ebenfalls quantisiert. Die Hauptquantenzahl n gibt nun an, auf welchem Orbital sich das Elektron befindet. Die Drehimpulsquantenzahl, welche die Form der Bahn bestimmt, und das magnetische Moment des Elektrons, welches auf den Bahndrehimpuls projiziert wird. Die Elektronen streben danach, den
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Zustand niedrigster Energie einzunehmen. Doch die Experimente zeigen, dass unmöglich ist, dass sich bei größeren Atomen alle Elektronen auf dem innersten Orbital mit der niedrigsten Energie versammeln. Um das Verhalten der Elektronen besser zu beschreiben, macht Wolfgang Pauli zwei gewagte Annahmen. Einerseits wird postuliert, dass zwei Elektronen nicht den gleichen Zustand einnehmen können, d.h. einen Zustand mit lauter identen Quantenzahlen. Dies wird als PauliVerbot bekannt. Doch auf einem Orbital können sich, das zeigen die Messungen, zwei Elektronen befinden. Daher muss eine vierte Quantenzahl eingeführt werden. Die Interpretation der neuen Quantenzahl macht einige Probleme. Zunächst erfordert sie es, das Elektron neu zu konzipieren, das bisher als Punktteilchen gedacht wurde. Ein Punktteilchen hat nur drei Freiheitsgrade der Translation im Raum. Um zusätzliche Freiheitsgrade einzuführen, ist es notwendig anzunehmen, dass das Elektron selbst eine räumliche Ausdehnung besitzt. Dann kann es eine Rotationsbewegung um die eigene Achse durchführen. Dies wird als Spin bezeichnet. Allerdings sind für den Spin von Elektronen nur halbzahlige Quantenzahlen erlaubt. Dies stellt die Analogie zur Rotation erheblich in Frage stellt: Sie führt zu der Aussage, dass sich das Elektron zweimal um sich selbst drehen muss, um wieder gleich auszusehen. Mit dem Spin hatte man eine Eigenschaft der Quantenobjekte entdeckt, die keine Entsprechung in unserer Erfahrungswelt hat. (Jammer [1966] 133–156) Der Stern-Gerlach-Versuch zeigt jedoch, dass der Spin messbare Effekte hat.
2.4.3 Unterscheidbarkeit Die Frage nach dem Status der Atome zieht sich daher durch die Geschichte der Philosophie. Max Jammer beschreibt, dass deterministische, kontinuierliche Weltanschauungen wie jene der Stoiker die Existenz identer, ununterscheidbarer Teilchen verneinen – jedes Objekt ist einzigartig. Leibniz postuliert, dass zwei Individuen immer voneinander unterschieden werden können; es muss seiner Auffassung nach immer eine qualitative Differenz geben, wenn zwei Dinge sich an verschiedenen Orten befinden. Ansätze, die auf Kombination diskreter Teilchen bauen, zum Beispiel die Philosophie der Pythagoräer*innen, bejahen die Existenz gleichartiger Teilchen hingegen tendenziell. (Jammer [1966] 338–340) In der modernen Chemie wird Leibniz’ Prinzip aufgegeben. Jedes Element bezeichnet eine Menge gleichartiger Atome, deren unterschiedliche Lokalisierung kein Hinweis auf eine qualitative Differenz ist. Jedes Atom kann ein anderes ersetzen, indem es seine Stelle einnimmt. Bestimmt wird das Atom nun durch seine Funktion, seine Rolle in der Struktur des Moleküls. Die Atomtheorie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts geht von der qualitativen Identität der Atome aus, nimmt
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aber an, dass sie dennoch unterschieden werden können, weil ihre Bahn verfolgt werden kann. (Jammer [1966] 341) Max Jammer hält fest: „Even in the absence of an intrinsic difference of quality the extrinsic difference of kinematical behavior was a sufficient criterion for their identifiability.“ (Jammer [1966] 342) Mit der Erforschung der Radioaktivität wird ein anderer Aspekt der Identität der Atome problematisch: ihre Unteilbarkeit. Um 1900 stellt die Erforschung der Radioaktivität die Stabilität der Atome in Frage. Ernest Rutherford und seine Gruppe können nachweisen, dass Atome durch radioaktiven Zerfall in andere Elemente übergehen. Mit der Radioaktivität ergibt sich auch ein Kausalitätsproblem: Das Zerfallsgesetz beschreibt ein Massenphänomen, die statistische Rate radioaktiver Zerfälle. Es gibt aber keine Vorhersage für den Zerfall der einzelnen Atome, ein isoliertes Atom hat keine Halbwertszeit. Wie bei der Beschreibung der Absorption und Emission von Licht durch die Elektronen kann für den Einzelfall nur eine statistische Wahrscheinlichkeit angegeben werden. Die Erforschung der Radioaktivität bildet einen eigenen Zweig der Mikrophysik, der sich aber bis zur Arbeit an der Atombombe relativ unabhängig von der Quantenmechanik entwickelt. Die Quantenmechanik beschreibt Objekte, die sich nicht mehr anhand ihrer räumlichen Trennung unterscheiden lassen. Das Kriterium der Undurchdringlichkeit fällt, denn in der Beschreibung als Materiewellen können die Entitäten einander nun überlagern. (Jammer [1966] 342f) Die Individualität der Atome, die auf Undurchdringlichkeit, Unteilbarkeit und Unterscheidbarkeit begründet war, fällt also. Gleichzeitig erhalten aber die Vorgänge im Mikrokosmos selbst einzigartigen, individuellen Charakter. Denn auch die Wiederholung eines Vorganges unter identen Voraussetzungen führt im Allgemeinen nicht zum gleichen Ergebnis. Jeder Prozess kann nun so-oderso ausgehen. Niels Bohr betrachtet es als die „essence“ der Quantenmechanik, dass jedem „atomic process an essential discontinuity, or rather individuality“ zukommt. Diese Individualität sei „completely foreign to the classical theories and symbolized by Planck’s quantum of action.“ (Bohr [1961] 53) Karl von Meyenn stellt fest, dass sich damit der Status des Individuellen in der Naturwissenschaft grundlegend ändert. Einzelfall und Gesetzmäßigkeit müssen nun gemeinsam gedacht werden: Das Dogma der früheren Physik war, alles Einmalige sei unwesentlich [...], daher sei die naturwissenschaftliche Beschreibung der Welt durch Gesetze im Prinzip vollständig. Nun hat man aber die Fragestellung nach dem Reproduzierbaren mit dem statistischen Charakter der Naturgesetze bezahlen müssen und hat in dem (wegen der Komplementarität) gesetzlich bestimmbaren Resultat der Einzelmessung [...] bereits innerhalb der Physik des Unorganischen in der atomaren Mikrowelt das wesentlich Einmalige angetroffen. (Meyenn [1994] 9)
3 Ästhetik: Schema von Wirkungsquanten Heisenbergs Mikroskop hat weitreichende Konsequenzen für Brechts Theater. Ulrich Sautter stellt eine „strukturelle Affinität“ Brechts zur Mikrophysik fest: Ähnlich wie in der Quantenmechanik die Interaktionsweise von Quantenphänomenen nicht mehr durchgängig unter Rekurs auf den klassischen Teilchenbegriff beschreibbar ist, so ist für Brechts Dramentheorie der deterministische Entwurf eines Plots unter Rückgriff auf in ihrer Kausalrelevanz streng fixierbare Charaktere obsolet. (Sautter [1995] 703)
Wie in der Quantenmechanik erweisen sich die Kontinuität und Anschaulichkeit der Vorgänge, ihr deterministischer Kausalzusammenhang und die Individualität der grundlegenden Entitäten als problematisch. Aus dem Umstand, dass Subjekt und Objekt in das Ergebnis einer Beobachtung eingehen, schöpft Brecht Hoffnung: Die gesellschaftlichen Entwicklungen verlieren ihre objektive Notwendigkeit. Brecht denkt Erkenntnis als vorübergehende Unterbrechung und Fixierung eines Prozesses. Die Diskontinuität, welche dieser Schnitt mit sich bringt, macht eine Intervention in die Vorgänge möglich. Auch Georg Lukács geht von der Einheit von Subjekt und Objekt in der Erkenntnis aus. Er denkt diese Einheit jedoch organisch und schließt damit die Beziehung gegen ein Eingreifen ab. Zwischen Brecht und Lukács kommt es Ende der 1930er zu einer heftigen Debatte über das Verhältnis von Subjekt und Objekt und dessen ästhetische Konsequenzen. Die Darstellung des sogenannten „Expressionismusstreits“ in diesem Kapitel macht Brechts Marxismuskonzept deutlich und die zentrale Rolle, die der logische Empirismus darin spielt. Während Brecht den marxistischen Klassikern zugesteht, die Gesetzmäßigkeiten der Bewegung großer Menschengruppen zu erfassen, sucht er in der empirischen Philosophie nach Möglichkeiten, den konkreten Einzelfall in seiner Kontingenz zu denken. In der Zeit seines europäischen Exils vertritt Brecht die Auffassung, dass die „Unschärfe,“ welche das Verhalten der Einzelnen gegenüber den Gesetzmäßigkeiten historischer Vorgänge aufweist, aus einer Überdetermination des Verhaltens resultiert. Im Einzelfall wirken stets Faktoren, von denen das Gesetz abstrahiert. (Cartwright [2002]) In seiner Ästhetik stellt Brecht die Distanz zwischen Beobachter*in und Vorgang her durch den Einsatz von Montage im Dramenbau und eine Spielweise, in der gezeigt wird, dass gezeigt wird. Brecht bezeichnet dies als Verfremdungseffekt. Der Verfremdungseffekt soll den Zusammenhang zwischen dem Satz und seiner Bedeutung unterbrechen und einen anderen Verlauf der Handlung denkbar machen. Der Schein einer unmittelbaren Anschaulichkeit des Geschehens soll gestört werden. Dadurch wird die Notwendigkeit des Zusammenhangs zwischen einer Ursache und ihrer Wirkung aufgehoben und die Kausalität der Vorgänge https://doi.org/10.1515/9783110546354-003
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so dargestellt, dass „eingreifendes Denken“ möglich wird. Brecht baut in seinen Theaterstücken Modelle für soziologische Experimente. Seine Vorgehensweise bezeichnet Brecht als das Aufstellen eines „Schemas von Wirkungsquanten.“ (Brecht [1973] 206) Die „Atome“ der Texte Brechts sind Sätze, die „Atome“ seiner Inszenierungen sind Gesten. Die fundamentalen Entitäten der Handlung der Stücke sind die Figuren. Brecht fasst Masse und Individuum als Abstrakta auf. Er schiebt zwischen Einzelnes und Allgemeines das Kollektiv ein, welches als Besonderes die Abstrakta aufhebt. Dieses Aufheben wird aber nicht rein begrifflich erledigt, wie die Philosoph*innen es gerne tun. Es muss in den Stücken in aller Schmerzhaftigkeit vollzogen werden: Scheitert es, bleibt das Stück ein Fragment, wie im Fall des Fatzer. Dabei enthält die Lösung erneut einen Widerspruch, das Individuum oszilliert zwischen seiner Auflösung im Kollektiv und der Zusammenfassung vieler Kollektive im großen Individuum.
3.1 Eingreifendes Denken Die Bilder, die wir von der Wahrheit zeichnen, der unsere Handlungen gelten, haben weitgehende ethische und ästhetische Konsequenzen, betont Blumenberg: Ohne weiteres ist klar, daß sich solche Metaphern wie die von Macht oder Ohnmacht der Wahrheit nicht nicht verifizieren lassen und daß die in ihnen entschiedene Alternative theoretisch gar nicht entscheidbar ist. Blumenberg [1960] 19)
Die Metapher von Heisenbergs Mikroskop bei Brecht lässt sich als eine solche Wahrheitsmetapher lesen, als eine jener absoluten Metaphern, die „‚Übertragungen‘, die sich nicht ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen lassen“ (Blumenberg [1960] 9) sind. Sie stammt aus einem Gedankenexperiment, das ein physikalisches Konzept demonstrieren soll. Blumenberg hat eine derartige Metaphorisierung anhand der kopernikanischen Wende untersucht, die er als einen Umbruch des Weltbilds beschreibt, der durch die Metaphorisierung des kopernikanischen Systems ausgelöst wird. Er zeigt, wie dabei neue Wahrheitsmetaphern entstanden sind. (Blumenberg [1975]) Die Metaphern erhalten bei ihrer Übertragung einen Bedeutungsüberschuss, der ihre vollständige Auflösung in das wissenschaftliche Konzept, aus dem sie doch hervorgegangen sind, verhindert. Der Transfer wird begleitet von einer Transformation (Maasen und Weingart [1995] 22f). Bei der Metaphorisierung der kopernikanischen Astronomie wurden die neuen Relationen der Himmelskörper auf die Stellung des Menschen in Gesellschaft und Erkenntnisprozess übertragen (Blumenberg [2010] 100). Gemeinsam mit der Erde wird der Mensch aus dem Mit-
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telpunkt des Universums entfernt – und in den Mittelpunkt der Erkenntnis des Universums gerückt. Seine zentrale epistemologische Funktion ersetzt die zentrale Lokation. (Blumenberg [2010] 107) Die Quantenphysik belässt den Menschen in seiner zentralen Erkenntnisfunktion und erschüttert diese doch in ihren Grundfesten: Er wird in dieser Funktion stets ebenfalls Teil der Resultats der Beobachtung. Brechts Metaphorisierung der neuen Physik gilt wesentlich dieser Erschütterung. Die unscharfe Trennung von Objekt und Subjekt ist für Brecht der entscheidende Punkt an der Metapher von Heisenbergs Mikroskop. Er nähert sich dem Verhältnis von Beobachter*in und Vorgang eher als einem Problem als mit einer fertigen Antwort. Als Problem kennzeichnet es die Stelle, an der das Subjekt in die großen, objektiven Prozesse intervenieren kann – nicht nur in Naturvorgänge, sondern auch in die sozialen Entwicklungen. Die sozialen Verhältnisse sind vom Einzelnen abhängig, ihre Untersuchung verändert sie, „eingreifendes Denken“ (Brecht [88ff] Bd. 21, 415) wird möglich. Das interdependente Verhältnis von Subjekt und Objekt in der Erkenntnis erlaubt es Brecht, „den Fuß in die Tür des Objektivismus zu kriegen.“ [Haug; 1996, 52] Der Objektivismus, von dem Haug hier spricht, ist der Objektivismus des Parteimarxismus zu dieser Zeit, der ausgehend von Lenins Charakterisierung des Imperialismus als „parasitären oder in Fäulnis begriffenen Kapitalismus“ (Lenin [1983] 766) beginnt, von einem „objektiv notwendig“ (Schütz [1978] 364) bevorstehenden Sieg des Sozialismus zu erzählen. Gegen diese Interpretation stellt Brecht ein Bild des Theoretikers der Oktoberrevolution, in welchem jener in Heisenbergs Mikroskop blickt: Welche Sätze der Dialektik praktizierte Lenin bei der Kritik des Objektivismus-Subjektivismus? „Wenn du von einem Prozeß sprichst, so nimm von vornherein an, daß du als ein handelnder Behandelter sprichst. Sprich im Hinblick auf das Handeln! [...] Wenn du davon sprichst, was einen Prozeß determiniert, so vergiß nicht dich selbst als einen der determinierenden Faktoren!“ (Brecht [1967] Bd. 20, 70)
Diese Kritik am Objektivismus wendet sich aber auch gegen die zweite Denkschule, mit der sich Brecht intensiv beschäftigt hat, gegen den Positivismus des Wiener Kreises. Am Rand eines Artikels, den der Soziologe Otto Neurath 1931 in dem Organ des logischen Empirismus, der Erkenntnis, publiziert hat, finden wir eine Anmerkung in Brechts Handschrift. Diese Anmerkung kommt uns mittlerweile erstaunlich bekannt vor: „betrachtung“ bleibt, weil betrachtung p[h]änomenalistisch, also metaphysisch. wo bleibt selbsteinschaltung unter die determinierenden faktoren? (Wizisla et al. [2007] 488)
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Die ersten beiden Zeilen sind eine Ohrfeige für den Positivisten Neurath, der nichts so sehr vermeiden will wie Metaphysik. Betrachtung, die bei dem Soziologen „metaphysisch“ bleibt, weil sie die Verbindung von Betrachter*in und Objekt ignoriert, will Brecht durch das Konzept einer „Beobachtung“ ersetzen, in welcher das Subjekt zu den Faktoren gehört, die das Ergebnis bestimmen. Die Forderung nach der Berücksichtigung der „selbsteinschaltung“ der Beobachter*innen in jene Faktoren, die den beobachteten Vorgang bestimmen, konstituiert Heisenbergs Mikroskop als methodologisches Problem der Soziologie. Der Einfluss der Voraussetzungen der Beobachtung auf die Beobachtung selbst wird in einer Szene aus Brechts Leben des Galilei deutlich. Galilei will die Gelehrten von Florenz von seiner Entdeckung überzeugen, dass die Planeten von Monden umkreist werden. Dies ist im alten Modell, dem ptolemäischen, unmöglich, weil nach dieser Vorstellung die Planeten von massiven Kristallsphären getragen werden. Ein Blick durch die Linsen würde die Vertreter der Kirche zwingen, ihr altes Weltbild aufzugeben und einzugestehen, dass ihre bisherige Lehre falsch war. Doch dieser empiristische Zugang liegt der Obrigkeit gar nicht, die lieber über die theoretische Möglichkeit solcher Beobachtung im Rahmen eines „formalen Disputs“ spekuliert – „Thema: können solche Planeten existieren?“ (Brecht [88ff] Bd. 5, 219) Der Philosoph und der Mathematiker bestreiten diese Möglichkeit vehement, weil diese Planeten die „Harmonie“ des geltenden Modells stören würden. Der Blick durch das Teleskop wird verweigert, denn „man könnte versucht sein, zu antworten, daß Ihr Rohr, etwas zeigend, was nicht sein kann, ein nicht sehr verläßliches Rohr sein müßte, nicht?“ (Brecht [88ff] Bd. 5, 41) Hier spielt das Teleskop die Rolle einer optischen Metapher der Wahrheit. Vielleicht noch deutlicher als in Heisenbergs Mikroskop kommt in dieser Szene zum Ausdruck, wie sehr die Beobachter*in in das Experiment eingreift, und wie ein Denkstil bestimmt, was gesehen werden kann. Eng verknüpft mit der kopernikanischen Revolution verweist das Teleskop auf die Existenz vieler unterschiedlicher Bezugssysteme, von denen ein Vorgang beobachtet werden kann.
3.1.1 Brechts Verfremdungseffekt Die Möglichkeit des Eingreifens bildet eine zentrale Frage der Avantgardekunst in dieser Zeit. (Pastorello [1978] 117f) Dieses Problem dominiert auch in Brechts theoretischer Schrift zum Theater aus der Exilzeit, dem Messingkauf. Hier begegnen wir Heisenbergs Mikroskop wieder. Das Problem des Schnittes wird nun noch radikalisiert: Nicht nur die beobachteten Vorgänge und Objekte werden beeinflusst, sie wirken auf die Beobachter*innen zurück – Beobachtung besteht in einer Wechselwirkung:
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Die Physiker sagen uns, daß ihnen bei der Untersuchung der kleinsten Stoffteilchen plötzlich ein Verdacht gekommen sei, das Untersuchte sei durch die Untersuchung verändert worden. Zu den Bewegungen, welche sie unter den Mikroskopen beobachten, kommen Bewegungen, welche durch die Mikroskope verursacht sind. Andrerseits werden auch die Instrumente wahrscheinlich durch die Objekte, auf die sie eingestellt werden, verändert. Das geschieht, wenn Instrumente beobachten, was geschieht erst, wenn Menschen beobachten? (Brecht [1967] Bd. 16, 577)
In ihrem Bezug auf den konkreten Fall und ihrer Ablehnung des Objektivismus unterscheidet sich Brechts Erkenntnistheorie deutlich von der klassischen marxistischen Widerspiegelungstheorie, wie Haug betont (Haug [1996] 61). Erfahrung entsteht nach Brecht „durch einen Eingriff, bei dem die/der Erfahrende Subjekt oder Objekt des Eingriffs war.“ (Brecht [88ff] Bd. 22.1, 97) Der Verfremdungseffekt beruht darauf, dass der Vorgang der Beobachtung selbst thematisiert wird. „Die Methodik des wissenschaftlichen Erkennens wird hier in eine künstlerische verwandelt.“ (Kästing [1959] 75) Walter Benjamin hebt hervor, dass diese Methodik stets eine Diskontinuität der Vorgänge erzeugt: Das epische Theater gibt also nicht Zustände wieder, es entdeckt sie vielmehr. Die Entdeckung der Zustände vollzieht sich mittels der Unterbrechung von Abläufen. (Benjamin [1971] 19f)
Brecht selbst hält fest: „Prozesse kommen in Wirklichkeit überhaupt nicht zu Abschlüssen. Es ist die Beobachtung, die Abschlüsse benötigt und legt.“ (Brecht [88ff] Bd. 21, 523) Damit bewegt er sich in der Nähe Wittgensteins, der davon ausgeht, dass sich das Denken stets im Fluss befindet. Ein Buch zu schreiben heißt, diesen Fluss durch einen Gewaltakt zu unterbrechen, eine Grenze zu ziehen. Die Fragmentierung bestimmt auch die Struktur des Tractatus. (Heinrich [1993]) Das Ergebnis der Fragmentierung ist bei Brecht stets eine Überlagerung widersprüchlicher Momente: „Der Zustand, den das epische Theater aufdeckt, ist die Dialektik im Stillstand.“ (Benjamin [1971] 28) Der Verfremdungseffekt thematisiert diese Unterbrechung und erzeugt einen „Chock“ (Benjamin [1971] 37), einen „Ruck“ (Barthes [2006] 242). Fragmentierung und Montage von Text und Handlung sind wesentliche Elemente der Ästhetik Brechts, der wiederholt von einer Einteilung der Handlung in ein „Schema von Wirkungsquanten“ (Brecht [1973] 206; Brecht [1967] Bd. 15, 467) spricht. Brechts Stil schließt damit an einen bestimmten Diskurs an, der sich zwischen Sergej Eisensteins Filmen, Walter Benjamins Theorien und den Montagen der Heartfields bewegt und ausdrücklich auf die Fragmentierung und Rationalisierung der Arbeit im Fabriksystem Bezug nimmt. Roland Barthes hält fest, dass damit der kontingente Einzelfall sich gegen das abstrakte Gesetz durchsetzt:
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Diese Form verhindert das Entstehen einer ‚Maxime‘, die sich ja als Verbindendes, Gemeinsames durch das Stück ziehen würde. Die Maxime ist das objektive Gesetz: die Maxime [...] ist eine Aussage, von der die ‚Geschichte‘ abgezogen wird. Es bleibt der Bluff der ‚Natur‘. (Barthes [2006] 246)
Aber Brecht weiß, dass auch die Natur diskontinuierlich ist. Der Bluff der Naturnotwendigkeit zieht nicht mehr – im Mikrokosmos ist sie selbst kontingent geworden. „I want full light,“ habe Brecht bei den Proben seiner Stücke gefordert, erzählt mir eine Soziologin bei einer Tasse Chai in Indien, wo ich an meiner Dissertation schreibe. Von meiner Gefährtin bekomme ich später ein E-Mail aus Bulgarien, in dem sie mich auf eine entsprechende Stelle hinweist: heute war ich im park spazieren und hab ein paar seiten brecht gelesen. in den gedichten aus dem messingkauf gibt es ein gedicht über beleuchtung, das du vielleicht suchst für I want full light. Bd. 5 Gedichte aus dem Messingkauf, S. 265 DIE BELEUCHTUNG Gib uns doch Licht auf die Bühne, Beleuchter! Wie können wir Stückeschreiber und Schauspieler bei Halbdunkel unsere Abbilder der Welt vorführen? Die schummrige Dämmerung schläfert ein. Wir aber brauchen der Zuschauer Wachheit, ja Wachsamkeit. Laß sie in der Helle träumen!
Die klassische Dramentheorie geht von Aristoteles’ Lehre aus, in welcher das Drama bestimmt wird als „Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft.“ (Aristoteles [1982] 19) Das Durchleben dieser Gefühle soll beim Publikum zu einer Katharsis, einer Reinigung von diesen Gefühlen führen. Die Handlung des Dramas hat die Schicksale von unveränderlichen Charakteren darzustellen. Dabei muss notwendigerweise Glück in Unglück umschlagen. (Aristoteles [1982] 41) Die Schauspieler*innen sollen sich in ihre Rolle einfühlen und so die Einfühlung des Publikums bewirken: „der selbst Erregte stellt Erregung, der selbst Zürnende Zorn am wahrheitsgetreuesten dar.“ (Aristoteles [1982] 55) Im Gegensatz dazu soll das Publikum bei Brecht auf Distanz zu dem Geschehen auf der Bühne gehalten und seine emotionale Beteiligung minimiert werden. Das Geschehen selbst wird als kontingent dargestellt und die Figuren entwickeln sich erst im Lauf der Handlung. Dies ist der Zweck eines gewaltigen ästhetischen Manövers, welches Brecht als Verfremdungseffekt bezeichnet. Es ist ein wesentliches Element von Brechts Verfremdungseffekt, auf der Bühne nicht zu verstecken, was sie eben zu einer Bühne macht – Umbauarbeiten, Maschinerie, Bühnenbild. Alle realen Vorgänge, die sonst hinter Kulissen stattfinden, sollen sichtbar sein, damit nicht die Illusion entsteht, der gezeigte Vorgang sei real. So ist auch in den letzten Absätzen sichtbar geworden, was sonst unter der Oberfläche des Textes verborgen
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bleibt: Die zahlreichen Stimmen, welche in diese Arbeit eingehen, die Orte, an denen sie geschrieben wurde, die Gerüche, welche sie begleitet haben. Aber auch die Schauspieler*innen sollen ihre Darstellung so gestalten, dass deutlich wird, dass sie nur nachahmen. Es soll nicht verborgen werden, dass man sich im Theater befindet, sondern gezeigt werden, dass gezeigt wird. Im Arbeitsjournal hält Brecht über den Zweck des Verfremdungseffekts fest, „er besteht darin, daß die vorgänge des wirklichen lebens auf der bühne so abgebildet werden, daß gerade ihre kausalität besonders in erscheinung tritt ... “ (Brecht [1973] 137) Die Wirkungszusammenhänge zwischen den Einzelnen und ihrem sozialen Feld sollen „sichtbar“ werden (Brecht [1973] 137). Die Beobachtung ermöglicht die Veränderung der untersuchten sozialen Verhältnisse – „der v-effekt ist eine gesellschaftliche maßnahme.“ (Brecht [1973] 137) Dabei muss allerdings der bürgerliche Begriff des Individuums, der den Einzelnen seinen Verhältnissen voraussetzt, aufgegeben werden. Das Individuum bleibt Individuum, wird aber ein gesellschaftliches Phänomen, seine Leidenschaften etwa werden gesellschaftliche Angelegenheiten und auch seine Schicksale. (Brecht [1967] Bd. 16, 654f)
3.2 Diskontinuitäten: Die Debatte mit Lukács Die Anwendung der Metapher des Heisenbergschen Mikroskops in Brechts ästhetischen Überlegungen verweist auf die schwerwiegenden Implikationen dieser Metapher. Blumenberg vermutet, dass die Funktion, die Metaphern historisch gespielt haben, mittlerweile auf die Kunst übergegangen ist. Neben der historischen Analyse könnte es in einer Metaphorologie dann auch um eine Interpretation von „Aussagenelementen der Kunst“ (Blumenberg [1960] 20) gehen – also um die Analyse einer Ästhetik. Tatsächlich verknüpft Brecht im Messingkauf mit der Metapher von Heisenbergs Mikroskop ein neues Theaterkonzept. Niels Bohrs Erkenntnis, dass die Menschen keine passiven Betrachter*innen sind (Schlegel [1970] 66), wird vom quantenmechanischen Experiment auf das Verhältnis von Publikum und Bühne übertragen und als Argument in einem Streit um die Darstellung der Wirklichkeit im Theater eingesetzt: Die Rolle der Beobachter*innen ist zentrales Thema einer heftigen Auseinandersetzung, die Bertolt Brecht zwischen 1937 und 1939 mit einem Kreis von Exilant*innen austrägt, der sich in Moskau rund um Georg Lukács gebildet hatte. (Thomsen et al. [2006] 194) Die Debatte wurde nach dem Krieg vor allem in der DDR weitergeführt. Sie ist als Realismus- bzw. Expressionismus- oder Formalismusstreit bekannt geworden und wurde in der Brechtforschung ausführlich
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untersucht (Mittenzwei [1997] 694–705; Mittenzwei [1978]; Cohen [2003] 65–70; Völker [1966]).
3.2.1 Ästhetik und Naturphilosophie Lukács geht von Hegels Darstellung des Objekt-Subjekt-Verhältnisses und dessen Theorie der Einheit der beiden in der Erkenntnis aus. Er kritisiert daher zwei Tendenzen, die diese Totalität ignorieren wollen: Dem Naturalismus wirft er die Überbetonung des Objekts vor, dem Formalismus die Überbetonung des Subjekts (Ivernel [1978] 110). Um das Bild einer solchen hegelsch-organischen Einheit zu zeichnen, verwendet Lukács die Metapher eines Gewebes. Die lebendige Verwobenheit prägt nicht nur das Verhältnis von Erkenntnissubjekt und -objekt, sondern auch die Forderung nach einer organischen Komposition der Handlung (Ivernel [1978] 113). In dieser organischen Totalität ist eine Teleologie angelegt: Wo These und Antithese nur von ihrer Aufhebung in der Synthese her gedacht werden, wird der ganze dialektische Prozess von seinem Ende her gefasst und dieses Ende wird zur treibenden Kraft des Prozesses. Auch bei Friedrich Engels findet sich eine solche Denkstruktur. Im Anti-Dühring führt er Beispiele für das Konzept der Negation der Negation in der Dialektik an, die aus der Biologie stammen: Das Gerstenkorn wird beim Auskeimen negiert und wächst zu einer Pflanze heran, die sich wiederum in viele neue Gerstenkörner negiert (Engels [1972] 177f). Diese Beispiele übernimmt Engels von Hegel (Engels [1979] 76). Nicht ganz so offensichtlich ist die im Beispiel für das Gesetz angelegte Teleologie, wenn Engels die Differentialrechnung anführt, aber auch hier ist für ihn entscheidend, dass in der Negation der Negation die Pole aufgelöst werden. Denn indem wir die Differenzen dx und 0 dy gegen Null schicken, bleibt von ihrem Verhältnis nur dx dy = 0 , „dies Verhältnis zwischen zwei verschwundnen Größen“ (Engels [1972] 179f). Doch in der Quantenmechanik erhalten die Differenzen durch das Plancksche Wirkungsquantum h eine minimale Größe. Die Diskretisierung der Wirkung erfordert eine grundlegend andere Ontologie, hält Brecht fest: Wenn die Größe h für unsern Seinsentwurf nichts mehr hergibt (sie mag teilweise durch ihn, das heißt bei seiner Korrektur durch die empirisch wahrgenommene Realität errechnet worden sein), so beweist das nicht nur die Notwendigkeit, unsern Seinsentwurf zu korrigieren, bis die Größe h wieder hineinpaßt, sondern es ist bereits so, daß die Größe h (welche nur ein Verhalten gibt und anonym zu bleiben wünscht) jeden Seinsentwurf gleicher Funktion unmöglich und unnötig machen wird.
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Die neue Ontologie kann nicht mehr auf der Individualität der grundlegenden Entitäten aufbauen, da die „Größe h [...] zu bleiben wünscht“, sondern auf ihrer Funktion, „welche ein Verhalten gibt“. Brecht kritisiert, dass Engels’ Konzept von Gesetzmäßigkeit richtig sein mag, aber nicht praktikabel ist. Der Ansatz seiner Naturphilosophie kann erst in einer utopischen Gesellschaft umgesetzt werden, in welcher die Beobachter*innen in der Lage sind, ihre eigene Rolle im Erkenntnisprozess zu reflektieren: Was immer in dem Engelsschen Satz ‚Das Leben ist die Daseinsweise des Eiweißes‘ sich schon geändert hat oder sich noch ändern wird, die ihm zugrunde liegende Betrachtungsweise kann unter Menschen beibehalten werden, welche auf Grund einer von der unsern allerdings sehr verschiedenen Gesellschaftsordnung imstande sein werden, durch ihr Verhalten genügend Aufschluß über sich zu geben und zu erhalten. (Brecht [1967] Bd. 20, 161f)
Lenin hat die Naturphilosophie von Marx und Engels mit einem dicken Wälzer als eine Säule des Marxismus gegen positivistische Ansätze verteidigt, die auf die Philosophie Ernst Machs zurückgehen (Lenin [1970]). Brecht widmet der Bedeutung des Konzepts von Friedrich Engels für die „große Methode“ in seinem ganzen Werk hingegen nur wenige lakonische Sätze: „Einige behaupten, daß die Klassiker eine Naturphilosophie begründet hätten. Das ist aber nicht der Fall.„ (Brecht [1967] Bd. 12, 532) Und Walter Benjamin notiert nach einem Gespräch in Svendborg über Brechts Kritik:„ Auch sei es kein Zufall – wenn auch bedauerlich – daß Engels sich zuletzt der Naturwissenschaft zugewandt habe.“ (Benjamin [1971] 167) Statt nach Marx’ Tod den letzten Band des Kapitals zu vollenden, hat Engels sich mit Problemen der Naturphilosophie auseinandergesetzt. Im Gegensatz zum Leninismus bezieht sich Brecht durchaus positiv auf den logischen Empirismus. Auch in Brechts Verweis auf die Quantenmechanik bilden Objekt und Subjekt eine Einheit, wie in Lukács’ biologischen Metaphern. Doch im Experiment wird diese Einheit vom forschenden Subjekt hergestellt, sie ist nicht natürlich gewachsen; das Ergebnis ihrer Herstellung enthält eine unvermeidbare Kontingenz. Die beiden Pole Subjekt und Objekt gehen nicht in der Totalität auf, der Bruch wird gegen Kontinuität gestellt: In Brechts Ästhetik dominieren Montage, Unterbrechung, Quantisierung. die fortführung der fabel ist hier [im Theater Brechts, L.M.] diskontinuierlich, das einheitliche ganze besteht aus selbständigen teilen, die jeweils sofort mit den korrespondierenden teilvorgängen in der wirklichkeit konfrontiert werden können ... (Brecht [1973] 140)
Lukács will den Menschen und seine sozialen Praktiken „non comme une invention, mais comme une simple découverte“ (Ivernel [1978] 111) darstellen. Diese nackte Wahrheit des Romantizismus (Blumenberg [2010] 40–52), die nur ent-deckt werden
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muss, gibt es in Heisenbergs Welt freilich nicht mehr. Statt einer teleologischen Kausalität besteht hier nur ein höchst unsicherer, statistischer Zusammenhang zwischen Ursachen und ihren Wirkungen.
3.2.2 Die Kausalität der Krise Die Kausalität spielt eine wichtige Rolle in der Expressionismusdebatte zwischen Brecht und Lukács. Diskutiert wird darüber, was eine realistische Darstellung der Gesellschaft zu leisten hat. „Realistisch heißt,“ hält Brecht dabei fest, „den gesellschaftlichen Kausalkomplex aufdeckend ...“ (Brecht [1967] Bd. 19, 326) Dies ist das einzige Kriterium, das er anführt. Hier skizziere ich die Entwicklung des Kausalitätsbegriffs Brechts bis in die Mitte der 1930er, bevor ich auf seine Rolle in der Diskussion mit Lukács zurückkomme. Auch wenn die moderne Physik dabei bereits eine Rolle spielt, ist er geprägt von Brechts Auseinandersetzung mit der Ökonomie der Weltwirtschaftskrise. In Brechts frühen Stücken spielt die Kausalität der Zusammenhänge zwischen den Figuren eine seltsam untergeordnete Rolle. Die Gesamtbewegung der Handlung weist eine zyklische Struktur auf, die beispielsweise im Rad der Fortuna in Eduard II zum Ausdruck kommt, aber auch in Baals Rückkehr in die Wälder. Mit der Wirtschaftskrise beginnt Brecht sich für die Wirkungszusammenhänge in komplexeren sozialen Strukturen zu interessieren. Er sucht eine Technik, „die es ermöglichte, große finanzielle Geschäfte wahrhaft auf der Bühne darzustellen.“ (Brecht [88ff] Bd. 10, 1074) Die Börse ist untrennbar verbunden mit der Stadt, dem Lebensraum der Figuren Brechts. Die Recherchen Brechts gestalten sich ausgesprochen aufwendig. Die Versuche, die Abläufe an der Börse zu beschreiben, scheitern zunächst. Frustriert notiert er über seine Schwierigkeiten: Niemand kann erwarten, daß die Vorgänge auf dem Weizenmarkt in Chicago oder im Kriegsministerium in der Berliner Bendlerstraße weniger kompliziert sind als die Vorgänge im Atom, und man weiß, welch komplizierter Methoden es bedarf, halbwegs einfache Beschreibungen von den Vorgängen im Atom zu geben. (Brecht [1967] Bd. 15, 238)
Es ist kein Zufall, dass Heisenbergs Mikroskop in den Flüchtlingsgesprächen im Bezug auf die Wirtschaftskrise thematisiert wird. Die Dynamiken an der Börse sind hochgradig daran gebunden, dass sie beobachtet werden, die Spekulationen beeinflussen sich gegenseitig. Mit der Spieltheorie versucht der Quantenphysiker von Neumann später, ein Modell dieser gegenseitigen Abhängigkeit zu entwickeln (siehe Kapitel 9.4). Brechts Zeitgenosse Ludwik Fleck verwendet ein interessantes Bild für die Position eines erkennenden Subjekts, welches die Voraussetzungen ignoriert, die es selbst in die Erkenntnis einbringt:
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Oder besser ließe sich vielleicht eine Analogie zum Verhalten eines Menschen aufstellen, der an einer Massenbewegung teilnimmt, z.B. irgend eines simplen Börsenbesuchers, der die panische Baisse nur als äußere Gewalt, als reale Existenz empfindet und nicht weiß, wie sehr seine eigene Aufregung, deren er sich in der Menge gar nicht bewußt wird, sie mithervorruft. (Fleck [1935] 5f)
In der Heiligen Johanna der Schlachthöfe verarbeitet Brecht, was er über die Börse gelernt hat. Er stellt keine Gesetzmäßigkeit dar, welche alle Vorgänge umfasst. An einem Modell werden die verworrenen Kausalbeziehungen der ökonomischen Abläufe im Kapitalismus verhandelt: Der Fleischproduzent Mauler will sich aus dem Markt zurückziehen und seine Anteile an seinen Partner Cridle verkaufen. Dieser verlangt jedoch, dass zuvor der Konkurrent Lennox ausgeschaltet wird. Mauler ruiniert Lennox mit Dumpingpreisen, doch der Marktwert seiner Anteile sinkt damit weit unter den zuvor mit Cridle vereinbarten Verkaufspreis. Cridle ist ebenfalls ruiniert, und statt das Unternehmen zu verkaufen übernimmt Mauler die Anteile seines Partners. Im weiteren Verlauf kauft Mauler in großem Stil Fleisch auf, als ihm seine „Freunde in New York“ einen Absatzmarkt dafür bieten (Brecht [88ff] Bd. 3, 155). In einem zweiten Schritt kauft Mauler das gesamte Vieh von den Züchtern auf. Dadurch erlangt er eine Monopolstellung sowohl als Lieferant als auch als Abnehmer der Schlachthöfe und kann ihnen seine Bedingungen diktieren. Die Spekulanten klagen: Wehe! ewig undurchsichtig Sind die ewigen Gesetze Der menschlichen Wirtschaft! Ohne Warnung Öffnet sich der Vulkan und verwüstet die Gegend! (Brecht [88ff] Bd. 3, 187)
Die Beziehungen zwischen den Menschen entziehen sich dem Einfluss der Menschen, der freie Markt wird zur Naturgewalt: „Wie den unberechenbaren Naturkatastrophen der alten Zeiten stehen die Menschen von heute ihren eigenen Unternehmungen gegenüber.“ (Brecht [88ff] Bd. 23, 72) So geht denn auch Maulers Plan schief. Als die Viehpreise so hoch steigen, dass der Markt blockiert ist, schreiten die Bankhäuser ein und kaufen international Vieh auf, um es auf den Markt zu bringen. Das zusätzliche Vieh wird sofort von Maulers Agent Slift aufgekauft, um die Monopolstellung zu halten. Als die Preise weiter steigen, kollabiert das Finanzsystem: „still fielen in sich zusammen die Bankinstitute [...] Einstellend wie die Atmung jetzt die Zahlung.“ (Brecht [88ff] Bd. 3, 211) Die Schlachthöfe werden von Mauler übernommen. Doch damit sind die alten Verträge hinfällig und die Nachfrage nach dem Vieh bricht massiv ein. Der Marktwert fällt weit unter den von Mauler zugesagten Kaufpreis und Mauler ist bankrott. Sein wirtschaftlicher
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Sturz führt zu seiner Auflösung – mit der Funktion endet die Person: „So der ist aus.“ (Bd. 3, 204) Der Verlust der alten, zerrissen Individualität wird von einem tiefen „Aufatmen“ begleitet. Doch Maulers Bankrott muss zurückgenommen werden, da er das Wirtschaftssystem in den Abgrund zu reißen droht. Durch eine massive Kapitalvernichtung wird der Preis des Viehs wieder stabilisiert – ein Drittel der Tiere wird verbrannt. (Brecht [88ff] Bd. 3, 215)
3.2.3 Gesetz und Einzelfall Brecht sieht in den unterschiedlichen Auffassungen der Kausalität den wesentlichen Unterschied zwischen dem „alten“ aristotelischen, dem naturalistischen und dem epischen Theater. Während er sich mit Lukács über die Ablehnung des „alten“ Theaters einig ist, streitet man über die Form des neuen Theaters. Die Differenz der beiden Herangehensweisen verdeutlicht Brecht an Beispielen, die an die Physik angelehnt sind: Das naturalistisch-realistische Theater vergleicht er im Messingkauf mit einem Planetarium. Dessen Abbildungen der sozialen Beziehungen verhielten sich wie ein Planetarium zu den wirklichen Bewegungen der Planeten:¹ Wenn uns in den Planetarien das Gesetzmäßige der Gestirnbewegungen nicht eben menschlich vorkommt, so ist zu sagen, daß es auch nichts Gestirnmäßiges ist. Diese ingeniöse Apparatur hat noch einen Mangel, und zwar da, wo sie zu schematisch ist; ihre vollkommenen Kreise und Ellipsen geben die wirklichen Bewegungen nur unvollkommen wieder, da diese, wie wir wissen, unregelmäßiger sind.“ (Brecht [1967] Bd. 16, 541)
Im Gegensatz zum realistisch-naturalistischen dürfe das epische Theater die „Bewegungen der Menschen nicht als mechanische darstellen.“ (Brecht [1967] Bd. 16, 541) Es sei zwar unvermeidlich, bei der Beschreibung der sozialen Verhältnisse den Schematismus der großen Gesetze anzuwenden. Doch müsse man dabei den „mittleren summarischen Charakter“ dieser Gesetze betonen und dagegen das Besondere der konkreten Handlung abheben, „indem wir den Einzelfall, mit dem wir es in der Dramatik zu tun haben, als solchen bezeichnen, seine Abweichung vom ‚Gesetzmäßigen‘ immer wieder angeben.“ (Brecht [1967] Bd. 16, 541) Denn, so ermahnt Brecht an anderer Stelle die Schauspieler*innen: „Ihr stellt nicht Prinzipi-
1 Ich denke, dass Werner Mittenzwei sich irrt, wenn er dieses Beispiel als Beschreibung des epischen Theaters auffasst (Mittenzwei [1997] 694–705). Brecht wollte sich wohl kaum auf einem „morschen Boden“ bewegen, wenn er seine Stücke auf die Bühne brachte. Ich hoffe mit meiner Arbeit auch zu zeigen, dass er nicht so sehr an Newton als an Einstein und Schrödinger dachte, wenn er sich auf die Erkenntnisse der Physik bezog.
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en dar, sondern Menschen.“ (Brecht [1967] Bd. 16, 615) Gegenüber den abstrakten, allzu perfekten Gesetzen weist der Einzelfall eine gewisse Freiheit auf, er folgt ihnen nur mit einer Unschärfe. Brecht fasst die allgemeinen Überlegungen des Marxismus konkret, verhandelt sie in einer reicheren, weniger abstrakten Sphäre. „Bei Brecht gibt es keinerlei marxistischen Katechismus...“ (Barthes [2006] 241), schreibt Roland Barthes, „der apologetische Diskurs“ (Barthes [2006] 241) notwendiger Gesetzmäßigkeiten wird vermieden. Walter Benjamin stellt fest: Wenn Marx sich sozusagen das Problem gestellt hat, die Revolution aus ihrem schlechtweg anderen, dem Kapitalismus, hervorgehen zu lassen, ganz ohne Ethos dafür in Anspruch zu nehmen, so versetzt Brecht dieses Problem in die menschliche Sphäre: er will seinen Revolutionär aus dem schlechten, selbstischen Typus ganz ohne Ethos von selber hervorgehen lassen. (Benjamin [1971] 14)
Brecht selbst merkt ausdrücklich an, dass die allgemeinen Gesetze des Marxismus nicht ausreichen, eine Ethik zu begründen: „Die Klassiker geben dem einzelnen Arbeiter kaum je einen Wink für sein Verhalten, der nicht sein Verhalten zur Arbeiterschaft betrifft.“ (Brecht [1967] Bd. 12, 547f) Brecht bezieht sich mit seinem Konzept der Unschärfe des Einzelfalls nicht nur auf die Beschreibung der Bewegung von Atomen. In der Nichtaristotelischen Dramatik betont Brecht, dass die astronomischen Gesetze in Wirklichkeit nur einen Rahmen beschreiben, innerhalb dessen sich die Planeten bewegen: Die Gestirnbahnen werden, wie man uns sagt, nicht eben von den perfektesten Kreisen oder Ellipsen gebildet. Man kommt der wirklichen Bewegungsweise der Gestirne am nächsten, wenn man sie sich in riesigen Röhren kriechend vorstellt: die Röhren sind mathematische Figuren, aber die Gestirne haben in ihnen viel Freiheit, und sie nutzen sie aus. (Brecht [1967] Bd. 15, 279)
Diese Unschärfe im Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen muss auch auf dem Theater bedacht werden. Die bloße Darstellung von allgemeinen soziologischen Gesetzen auf der Bühne mag sich zwar gegen die alte Spielweise richten, welche die Kausalität schicksalhaft, undurchschaubar und unausweichlich über ihre Figuren hereinbrechen ließ – doch das reicht nicht aus: So neuartig wir uns als Dramatiker [...] verhalten mögen, wenn wir die Theater wie Planetarien verwenden, wir bewegen uns auf dem morschen Boden einer sehr alten Wissenschaft, der Newtonschen Mechanik. (Brecht [1967] Bd. 16, 541)
Zwei unterschiedliche (einander aber nicht ausschließende) Gründe können diese Unschärfe, mit welcher das Allgemeine das Besondere erfasst, erklären: Möglicherweise beschreibt das Gesetz nicht alle Ursachen, die im Einzelfall wirken.
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Die komplexen Bewegungen des gesamten Sonnensystems ergeben sich daraus, dass die Körper sich nicht nur im Gravitationsfeld der Sonne bewegen, sondern sich durch ihre Massen auch gegenseitig beeinflussen. Es wäre aber auch möglich, dass die Einzelfälle, welche das Gesetz beschreibt, prinzipiell nicht vollständig determiniert sind. In der Debatte mit Lukács geht Brecht vom ersteren Fall aus. In Brechts Parabelsammlung rund um die Figur Me-ti notiert er: Me-ti warnte davor, die Determiniertheit der Naturerscheinungen zu bestreiten oder von den Physikern bestreiten zu lassen. Die Tätigkeit der Naturwissenschaftler besteht darin, sagte er, möglichst viele Determinierungen festzustellen und den Menschen nutzbar zu machen. (Brecht [1967] Bd. 12, 568)
Brecht registriert die Diskussion um die Kausalität in der Quantenphysik aufmerksam. In seiner Auseinandersetzung mit Georg Lukács verbindet er diese Diskussion in der Physik mit den Fragestellungen des zeitgenössischen Theaters. In den 1930ern hat Brecht ein ähnliches Verständnis des Verhältnisses von Ursache und Wirkung wie Einstein, der die Unschärfe damit begründet, dass die Theorie nicht alle Ursachen der Vorgänge beschreibt, also unvollständig ist. Brecht betont, dass es ihm genauso wie der neuen Physik nicht um eine „Liquidierung des Interesses an der Kausalität“ gehe, sondern vielmehr darum, die Wirkungszusammenhänge in ihrer Gesamtheit zu erfassen – „Von Kapitulation ist gar nicht die Rede.“ (Brecht [1967] Bd. 15, 278) Brecht wehrt sich gegen den Vorwurf, dass mit der Einführung einer statistischen Kausalität der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung insgesamt verabschiedet wird. Diesen Vorwurf richtet Lukács weniger gegen das epische Theater selbst als gegen den logischen Empirismus. (Cohen [2003] 66f) Brecht hingegen verteidigt die Anwendung einer statistischen Beschreibung der Wirkungszusammenhänge sowohl in der Physik als auch im Theater. Die headlines der wissenschaftlichen Boulevards: ‚Die Kausalität aufgegeben!‘ sind Unsinn. Man ist lediglich bei einer neuen Definition der Kausalität angelangt. Zu dieser neuen Definition gehört, daß wir weder Voraussagen machen, wo wir keine machen können, noch alles Gebiet aufgeben, wo wir keine zuverlässigen Aussagen machen können. [...] In der Dramatik werden die Voraussagen, das Individuum betreffend, zunehmend unsicher. (Brecht [1967] Bd. 15, 278f)
Doch die Unschärfe hat als Denkfigur auch einen Haken – sie wird problematisch, wenn sie dazu führt, dass der Einzelfall gegenüber den Gesetzmäßigkeiten verabsolutiert wird. Darin folgt Brecht seinem Kontrahenten: Er wendet sich gegen eine ganze Reihe von Schriftstellern, auf die er sich sonst positiv bezieht, namentlich „Gide, Joyce, Döblin“. (Brecht [1967] Bd. 19, 297) Die Realität entzieht sich im modernen Roman zusehends der Darstellung, weil neben dem Gegenstand auch die Technik der Darstellung selbst dargestellt werden muss. (Knopf [1984] 394) Das
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Individuum wird im modernen Roman gerettet, weil es den einzigen „Garant für Realität im Angesicht der zerfallenden Objektwelt“ (Knopf [1984] 181) bildet. Dabei bezieht sich der moderne Roman auf die „Mikrophysik“. (Knopf [1984] 395) Dies bemerkt auch Brecht. Er schreibt über die Autoren des modernen Romans: Sie machen die ‚Fortschritte‘ der Physik mit. Sie verlassen die strenge Kausalität und gehen über zur statistischen, indem sie den einzelnen Menschen, als dem Kausalnexus streng folgend, aufgeben und nur über größere Einheiten Aussagen machen. Sie haben sogar den Schrödingerschen Unsicherheitsfaktor, auf ihre Weise. (Brecht [1967] Bd. 19, 297)
Der Begriff des „Kausalnexus“ verweist auf Wittgenstein (Wittgenstein [1963] Satz 5.136). Brechts Kritik ist ganz im Sinn von Lukács (wenn auch, wie Cohen meint „schlecht“ – Cohen [2003] 68f). Er gesteht diesen Autoren zu, dass sie „die Auspowerung, Entmenschung, Mechanisierung des Menschen durch den Kapitalismus wahrnehmen und bekämpfen.“ (Brecht [1967] Bd. 19, 297) Doch in ihrer Darstellung komme dieses Moment zu kurz. Sie betonen die Subjektivität ihrer Figuren und lösen sie aus ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang – die Unschärfe des Verhaltens der Einzelnen ergibt sich nicht mehr aus der Fülle ihrer Beziehungen: Wir bekommen bei diesen Autoren sehr verwickelte seelische Konstellationen vorgesetzt, nur ist weit und breit keine Kausalität zu entdecken, es sind von der Umwelt abgetrennte Psychen. (Brecht [1967] Bd. 19, 335)
Die Identifikation mit einer Figur muss daher auch dadurch erschwert werden, dass nur die für die Handlung relevanten Eigenschaften dargestellt werden. Die gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge dürfen nicht durch eine Flut psychologischer Details verschleiert werden. Denn dadurch, so wirft Brecht den drei Autoren vor, nehmen sie „dem Beobachter die Autorität und den Kredit und mobilisieren den Leser gegen sich selber, nur noch subjektive Aussagen vorlegend, die eigentlich bloß den Aussagenden charakterisieren.“ (Brecht [1967] Bd. 19, 297) Eine vollständige Identifikation mit der Figur ist unmöglich, wenn die Figur nicht vollständig identifiziert werden kann. Auf der Bühne setzt Brecht eine ganze Reihe von Mitteln ein, um das Publikum von der dargestellten Handlung und Haltung der Figuren zu entfremden, es auf Distanz zum Vorgang zu halten. (Brecht [1967] Bd. 16, 614).
3.3 „Die Wahrheit ist konkret“ Brechts ästhetisches Konzept des Verfremdungseffekts hat erstaunlich komplexe epistemologische Voraussetzungen. Im folgenden Kapitel stelle ich dar, wie Brecht
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mit dem Modellbegriff den Referenz- und Inferenzcharakter der Sprache erfasst, also den Bezug der Sätze untereinander ebenso beschreibt wie den Bezug der Sätze auf die außersprachliche Wirklichkeit. Damit wird Machs Reduktion aller Erfahrung auf Sinneswahrnehmung unterlaufen und Induktionsschlüsse werden wieder möglich. Mit den Begriffen des Modells und des Axioms schließt Brecht einerseits an Überlegungen David Hilberts und Ludwig Wittgensteins an, bezieht sich aber andererseits auch auf die Physiker Hertz und Boltzmann.
3.3.1 Axiome und Atome Die Atome der Texte Brechts werden, so Fredric Jameson, von Sätzen gebildet. Das einzelne Wort hat für sich noch keine anwendbare Bedeutung. Erst Sätze als Wortkollektive bilden „Wirkungsquanten“ (Brecht [1973] 206) – „‚Jeglichen Satzes Wirkung‘, heißt es in einem dramaturgischen Lehrgedicht von Brecht, ‚wurde abgewartet und aufgedeckt.‘“ (Benjamin [1971] 35) Diese Sätze werden beim „ausmathematisieren“ (Bunge [1970] 215) des Stoffes zueinander in Beziehung gesetzt. In der Fabel gehen die Sätze eine bestimmte Konstellation ein, in der sich ihre jeweilige Bedeutung ergibt. Dabei lassen sich zwei Ebenen unterscheiden: Grundlegende Sätze legen den Rahmen fest, innerhalb dessen die Wahrheit der konkreteren Aussagen bestimmt wird. Brecht spricht auch vom „Konstruieren eines axiomatischen Feldes“ (Brecht [88ff] Bd. 21, 525) und der Verwendung von „Axiomstafeln“. (Brecht [88ff] Bd. 21, 524) Davon ausgehend schlägt die Literaturwissenschaftlerin Franka Köppe vor, Brechts Axiomsbegriff im Sinne David Hilberts zu interpretieren. In der euklidischen Tradition und bis Ende des 19. Jahrhunderts werden Axiome als „evidente Wahrheiten“ aufgefasst. (Köpp [2002] 56) Sie sind anschaulich und ihre Wahrheit kann unmittelbar eingesehen werden. So stützten die antiken Rhetoriker ihre Argumente beispielsweise auf Axiome – Sätze, die auch die Gegner*innen zugeben werden. In der Moderne wird dieses Konzept problematisch. Die Entwicklung nicht-euklidischer Geometrien zeigt, dass das anschaulich gegebene Parallelenaxiom keineswegs notwendigerweise in jeder Geometrie gilt. Diese Räume erlangen physikalische Bedeutung zum Beispiel im gekrümmten Raum der allgemeinen Relativitätstheorie, aber auch mit dem unendlich-dimensionalen Hilbert-Raum der Quantenmechanik. (Köpp [2002] 58) Dessen Namensgeber, der Mathematiker David Hilbert, ist der herausragendste Vertreter des Versuches, in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Mathematik durch eine vollständige Axiomatisierung zu begründen. Dabei versteht er unter Axiomen die grundlegenden Sätze eines formalen Systems, aus denen alle Sätze des Systems abgeleitet werden können, die aber nicht mehr anschaulich sein müssen.
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Ergänzend zu Köppes Ansatz möchte ich vorschlagen, Brechts Axiomsbegriff gegen Wittgenstein zu lesen – durchaus vermittelt über den logischen Empirismus Reichenbachs und des Wiener Kreises. Denn Eisler präzisiert: „Mathematisieren heißt bei ihm [Brecht, L.M.] ja nur auslogisieren.“ (Bunge [1970] 248) Brecht bezeichnet die Axiome als „Tatbestandsauffassungen“. (Brecht [88ff] Bd. 21, 349) Diese Formulierung bewegt sich in der Nähe der Bestimmungen, die Wittgenstein gibt: „Die Welt zerfällt in Tatsachen.“ (Wittgenstein [1963] Satz 1.2) Diese Fragmentierung wird durch die Herstellung von Sachverhalten aufgehoben: „Im Sachverhalt hängen die Gegenstände ineinander, wie die Glieder einer Kette.“ (Wittgenstein [1963] Satz 2.3) Ein Satz erhält nach Wittgenstein seine Bedeutung nur im Sachverhalt, im Zusammenhang mit anderen Sätzen: „Wo es einen Grundgedanken gibt, gibt es mehr als einen Gedanken.“ (Raatzsch [2008] 58) In den 1940ern spricht Brecht nicht mehr von Axiomen, sondern verwendet wiederholt die Wendung „system von gründen,“ die sich auf Wittgensteins Begriff der Wahrheitsgründe beziehen dürfte. Die Wahrheitsgründe eines Satzes sind im Tractatus durch jenes System von Elementarsätzen gegeben, in welchem der Satz wahr ist. (Wittgenstein [1963] Satz 5.101)
3.3.2 Praktikabilität Eine Intervention in den Zusammenhang eines Satzes ändert dessen Bedeutung. Davon ausgehend verfremdet Brecht mehrere Reden der nationalsozialistischen Propaganda: Statt die Sätze zu kommentieren oder den Text einer eigenständigen Kritik zu unterziehen, montiert Brecht weitere Sätze in die Rede. Dadurch kippt die Bedeutung ihrer Aussagen in ihr Gegenteil. (Brecht [88ff] Bd. 22.1, 90–96) Brecht hält über den Zweck dieser Sprachkritik und die Schwierigkeit ihrer Durchführung fest: Diese Begriffe [der Kriegspropaganda, L.M.] mußten nun zertrümmert werden. Und zur Zertrümmerung dieser Begriffe bildete die revolutionäre Dramatik zusammen mit dem revolutionären Theater bestimmte Methoden aus, die nicht viel weniger durchdacht sein mußten als die Methoden zur Zertrümmerung der Atome in der Physik. (Brecht [1967] Bd. 15, 234f)
Roland Barthes fasst Brechts ästhetisches Verfahren als das Erzeugen einer destruktiven Interferenz zweier Texte. Die Widerlegung erfolgt durch Wiederholung der Aussage, bis diese Wiederholung wie die Reflexion einer Welle eine stehende Schwingung in einer bestimmten Frequenz erzeugt. Der Angriff auf die Eigenschwingung des Diskurses besteht „darin, ihn zu diskontinuieren“. (Barthes [2006] 244f) Die Bedeutung der Begriffe entsteht performativ, sie ist „eine Wahrheit als Tat, eine produzierte“ (Barthes [2006] 244). Mit diesem performativen Verständnis
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von Aussagen grenzt sich Brecht vom Denken des Wiener Kreises ab, der bloß eine Verifizierbarkeit der Aussagen der Wissenschaft verlangt – in einem Brief an Korsch schreibt er Ende 1941: „Nun liegt mir ja ‚seit alters‘ die Praktikabilität der Analyse am Herzen, und die Verifizierbarkeit genügt mir nicht recht.“ (Brecht [88ff] Bd. 29, 217) Die Aussagen müssen anwendbar sein, durch eine korrespondierende Praxis auf die Wirklichkeit bezogen werden können. Im dänischen Exil formuliert Brecht als Ziele der Gesellschaft der Dialektiker die „Konstruktion von Ansichten, die ein Verhalten ergeben oder aus einem solchen kommen [...] und zusammenpassen.“ (Brecht [1967] Bd. 20, 147) Die Wahrheit eines axiomatischen Systems lässt sich nur an den Konsequenzen überprüfen, die es in der Praxis hat. Diese Praxis kann nicht neutral sein, sondern ist immer mit Interessen und Zwecken verbunden. So formuliert Brecht seine Sprachkritik in den folgenden Fragen, in denen einerseits das Referenzverhältnis auf andere Sätze, andererseits aber der Bezug des Satzes auf die Wirklichkeit in der Praxis zum Ausdruck kommt: 1) Wem nützt der Satz 2) Wem zu nützen gibt er vor? 3) Zu was fordert er auf? 4) Welche Praxis entspricht ihm? 5) Was für Sätze hat er zur Folge? Was für Sätze stützen ihn? 6) In welcher Lage wird er gesprochen? Von wem? (Brecht [88ff] Bd. 21, 426)
Brecht fordert, dass eine Aussage nicht nur sinnvoll sein soll, insofern sie sich auf die Wirklichkeit bezieht, sie müsse auch sinnvoll sein, indem sie die Wirklichkeit als veränderlich darstellt: Es soll „die Wirklichkeit so wiedergegeben werden, daß auf Grund der Wiedergabe ein gesellschaftlicher Eingriff in sie erfolgen kann...“ (Brecht [1967] Bd. 15, 314) Im Gedankenexperiment des γ-Strahlenmikroskops wollen Bohr und Heisenberg nur Konzepte zulassen, bei denen angegeben werden kann, durch welche experimentelle Praxis sie realisiert werden können. Dabei können komplementäre Fragestellungen auftreten. Die Wahrheit ist daher nicht bereits vorhanden, sondern wird in der Beobachtung hergestellt. Diese Produktion hat immer ein Ziel, daher gibt es keine objektive, absolute Wahrheit: „Jeder Satz ist in seiner Wahrheit vom Zweck abhängig.“ (Brecht [88ff] Bd. 21, 428). Die Wahrheit bezieht sich bei Brecht daher stets auf das Besondere, nicht das ganz Allgemeine. Der Satz „Die Wahrheit ist konkret“ dominiert die Werkstatt Brechts in Dänemark, wie Benjamin berichtet: Auf einem Längsbalken, der die Decke von Brechts Arbeitszimmer stützt, sind die Worte gemalt: ‚Die Wahrheit ist konkret.‘ Auf einem Fensterbord steht ein kleiner Holzesel, der mit dem Kopf nicken kann. Brecht hat ihm ein Schildchen umgehängt und darauf geschrieben: »Auch ich muß es verstehen.« (Benjamin [1971] 156)
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Robert Cohen zeigt, dass Brechts Formulierung auf Hegel und Lenin zurückgeht. (Cohen [2003] 60f). Doch Brechts Satz verweist auch auf Ludwig Wittgenstein, der im Tractatus schreibt: „Unsere Probleme sind nicht abstrakt, sondern die konkretesten, die es gibt.“ (Wittgenstein [1963] Satz 5.5563) Im Unterschied zu Brecht geht Lenin davon aus, dass es eine absolute Wahrheit gibt, welche über eine Reihe von relativen Wahrheiten unserer Erkenntnis zugänglich ist und die vollständig erschlossen werden kann (Lenin [1970] 151). Die Bedingung der Praktikabilität kennzeichnet auch Brechts Zugang zur Ethik. Ist die Verhaltenslehre zu abstrakt (etwa der Kategorische Imperativ Kants), dann ist sie nicht mehr praktikabel. Ob eine Maxime praktikabel ist, hängt nicht nur vom Ziel, sondern auch von der Situation ab. Brecht hat diese Kritik in der Dreigroschenoper zu der Formel „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ (Brecht [88ff] Bd. 2, 284) komprimiert. Benjamin notiert über den Dreigroschenroman, die Fortsetzung der Oper in Prosaform: Peachum zum Beispiel sagt sich, daß Strafen auf Morden stehen. »Aber auf dem Nichtmorden«, sagt er sich, »stehen auch Strafen und furchtbarere ... Ein Herunterkommen in die Slums, wie es mir mit meiner ganzen Familie drohte, ist nicht weniger als ein Inszuchthauskommen. Das sind Zuchthäuser auf Lebenszeit!« (Benjamin [1971] 61)
Bei Brecht hat die Unterbrechung des Vorgangs durch die Beobachtung ethische Konsequenzen, da „die Menschen nicht ebenso fertig sind wie die Bildnisse, die man von ihnen macht und die man also auch besser nie ganz fertig machen sollte.“ (Brecht [88ff], Bd.22, 10) Der Satz soll ein Bild der Wirklichkeit geben, das auf diese zurückwirkt, denn auch der Mensch kann geändert werden, wenn man ihm ein gutes Bildnis vorhält. [...] Das Bildnis ist produktiv geworden, es kann den Abgebildeten verändern, es enthält (ausführbare) Vorschläge. (Brecht [88ff] Bd. 22, 10)
3.3.3 Modelle Mit der Forderung nach Praktikabilität wird die Wahrheit des Satzes in die Spannung einer doppelten Beziehung gestellt: Einerseits ist sie nur im Rahmen anderer Sätze gegeben, andererseits bezieht sie sich auf Sachverhalte in der Realität. Der Satz steht sowohl in einem Referenz- als auch in einem Inferenzverhältnis (Koschorke [2013] 343–352). Den Schnittpunkt dieser beiden Ebenen bildet das Modell (Köpp [2002] 228), in welchem kontingenter Einzelfall und allgemeingültige Gesetzmäßigkeit in einer probabilistischen Form vermittelt werden: „Modellbildung“ erlaubt „Wahrscheinlichkeitskalkulationen.“ (Köpp [2002] 242)
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Wir haben gesehen, dass Wittgenstein davon ausgeht, dass der Satz seine Bedeutung im Kontext von anderen Sätzen erhält. Im Tractatus hat Wittgenstein vor allem die wissenschaftliche Modellbildung betrachtet und geht davon aus, dass das Konzept der Demonstration grundlegend und unproblematisch war. (Janik und Toulmin [1973] 222) Die Beziehung der Sätze auf die Wirklichkeit, zwischen einem Zeichen und der korrespondierenden Tatsache, wird als unmittelbar einsichtig angenommen. Die Abbildung der Wirklichkeit auf die Sprache funktioniert direkt. Doch bereits im Tractatus schleicht sich der Verdacht ein, dass es ein Problem gibt: Das Verhältnis von Sprache und Welt kann nicht logisch gefasst werden, es kann nicht sprachlich erfolgen – denn die sprachliche Beschreibung des Außersprachlichen, Un-sagbaren ist nicht möglich – der Tractatus endet mit der Feststellung: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ (Wittgenstein [1963] Satz 7, 115) The relationship between a ‚simple sign‘ and that to which it corresponds in the real world was something that could be demonstrated or shown; but that demonstration (Erklärung) was in no sense a ‚definition.‘ This relation could be shown but not stated (gezeigt but not gesagt). (Janik und Toulmin [1973] 218)
Wittgenstein führt das Konzept des Bildes ein, um die Beziehung des Zeichens auf die Tatsache zu beschreiben. Die Bildtheorie hängt unmittelbar mit dem Modellbegriff zusammen, den Wittgenstein bei den Physikern Hertz und Boltzmann kennenlernt. Hertz interpretiert die klassische Mechanik als Beschreibung der möglichen Abfolge von Ereignissen (nicht bloß von Sinneseindrücken). Dieses Konzept beeinflusst Boltzmann, der die statistische Mechanik als die Beschreibung des Ensembles der möglichen Zustände eines thermodynamischen Systems begreift. (Janik und Toulmin [1973] 143) Wittgenstein verallgemeinert im Tractatus logicus Boltzmanns Ensemble-Interpretation: Der logische Raum enthält die Wahrheitsmöglichkeit der Sätze, und jede Kombination von Wahrheitswerten (wahr oder falsch) entspricht einem Zustand. Dies ist die Grundlage seiner Einführung der Wahrheitstafeln. (Janik und Toulmin [1973] 144) Allen Janik und Stephen Toulmin vermuten deshalb, dass der Tractatus oft und insbesondere vom Positivismus im Sinne Machs missinterpretiert wurde, tatsächlich jedoch stark auf dem Modellbegriff aufbaut. (Janik und Toulmin [1973] 145) Wittgenstein thematisiert im Tractatus das Problem, wie Sprache auf die Welt bezogen werden kann. Mach hingegen hatte diese Beziehung vollständig in die Sinneseindrücke verlegt. Im Anschluss an Mach fassen die Vertreter des Wiener Kreises dieses Verhältnis als gegeben und ursprünglich auf. (Janik und Toulmin [1973] 216f) Gleichzeitig wird jedoch ein unüberwindbarer Abstand zwischen den beiden Polen Subjekt und Objekt errichtet, da jeder Schluss über die Sinneseindrücke hinaus als Metaphysik
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verboten ist. Insbesondere werden Induktionsschlüsse unmöglich. Es gibt aber auch im logischen Empirismus andere Ansätze. So sucht etwa Hans Reichenbach nach einer Möglichkeit, mit Induktionsschlüssen Aussagen zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit herleiten zu können (siehe Kapitel 7). Tatsächlich wird die Bildtheorie im Tractatus nur in Ansätzen entwickelt und konnte so leicht ignoriert werden. Wittgenstein schreibt: „Wir machen uns Bilder der Tatsachen“ (Wittgenstein [1963] Satz 2.1) und konkretisiert: „Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit.“ (Wittgenstein [1963] Satz 2.12) Während Bilder ausschließlich räumliche Beziehungen enthalten, beschreiben Modelle allgemeiner eine logische Ordnung, sie erfassen gleichzeitig mit den Momenten auch deren Beziehungen: „Every model is at the same time a logical one.“ (Janik und Toulmin [1973] 184). Das Bild vermittelt die Tatsachen mit den Sätzen. Wittgensteins Konzept des Bildes verlangt noch eine Übersetzbarkeit des Modells in Anschauung. Doch in dieser Übersetzung tritt das erkennende Subjekt bereits als bestimmendes Moment auf. (Raatzsch [2008] 62) Als Modell wird das Bild selbst eine Tatsache, denn wir können mit den Elementen des Bildes wie mit wirklichen Momenten operieren: Wir können die Wirklichkeit simulieren. Eine Simulation können wir als die Anwendung des Modells auf eine konkrete Situation beschreiben. Dies setzt aber voraus, dass die Abbildungsfunktion ein Teil des Bildes wird. Die Position des Subjekts geht also in das Modell mit ein. Der Bezug des Satzes auf die Wirklichkeit ist über zwei Stufen vermittelt, die beide mit dem Modellbegriff beschrieben werden: Der Satz ist ein sprachliches Modell des Bildes, welches ein Modell der Wirklichkeit ist: „Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken“ (Wittgenstein [1963] Satz 4.01) Das Modell erfasst den doppelten Referenzcharakter des Satzes, der sich auf die Wirklichkeit bezieht, aber auch darauf, wie diese Wirklichkeit gedacht wird. Bei der Untersuchung von alltagssprachlichen Systemen und der Beobachtung des Spracherwerbs von Kindern wird Wittgenstein klar, dass die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit nicht so einfach und unmittelbar ist, wie er angenommen hatte. Bereits Hertz hatte betont, dass das logische Modell, das durch ein mathematisches System formuliert wurde, in der Physik mit den empirischen Fakten durch sehr exakt bestimmte Handlungen verknüpft wird: Das Modell verbindet die beiden Pole der Erkenntnis in der Praxis, welcher sie vermittelt werden. Wittgenstein lernt, dass ganz allgemein jeder sprachliche Ausdruck seine Bedeutung durch seine Verwendung erhält und bezeichnet in den Philosophischen Untersuchungen diese innige Verbindung von Zeichen und entsprechender Praxis als Sprachspiel, in welchem sich die Bedeutung des Zeichens erst ergibt. Damit ersetzt er die reine Abbildfunktion der Sprache durch die Bestimmung ihrer Funktion in der Praxis, welcher sie korrespondiert. Die Begriffe können ihre Bedeutung
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nun verändern, doch diese Verschiebung ist nur um den Preis einer geänderten Praxis zu haben. (Janik und Toulmin [1973] 184) Hier setzt Brechts Konzept des Verfremdungseffekts an. Seine Sprachkritik geht über die Analyse des Netzwerks von Aussagen hinaus, welche die Wahrheit eines Satzes begründen. Er betont am Modellcharakter des Satzes seinen Bezug auf die Realität: Der Mensch macht sich von den Dingen, mit denen er in Berührung kommt und auskommen muß, Bilder, kleine Modelle, die ihm verraten, wie sie funktionieren. Solche Bildnisse macht er sich auch von den Menschen: aus ihrem Verhalten in gewissen Situationen, das er beobachtet hat, schließt er auf bestimmtes Verhalten in anderen, zukünftigen Situationen. (Brecht [88ff] Bd. 22.1, 10)
Der Bau eines Modells entwickelt die allgemeine Gesetzmäßigkeit durch die Überprüfung von Hypothesen an konkreten Tatbeständen. Brecht orientiert seine Methode des Modells ausdrücklich an der Physik: Die Physiker aber [...] werden sich nicht gegen eine Überlegung folgender Art sträuben. Wir machen eine versuchsweise Annahme, unterstellen, ohne nach Beweisen zu suchen, [...] eine bestimmte Behauptung als wahr und untersuchen dann, ob in diesem Falle [...] gewisse nicht bezweifelbare, uns allen bekannte Erscheinungen verständlich würden. (Brecht [88ff] Bd. 21, 570)
Brecht schlägt hier ein Vorgehen vor, das der US-amerikanische Mathematiker und Philosoph Charles Sanders Peirce als Abduktion (oder auch als Hypothesenbildung) bezeichnet hat. Peirce führt die Abduktion als drittes Schlussverfahren neben der Induktion und der Deduktion ein. Die Abduktion ist eng mit dem Pragmatismus verbunden, den Peirce vertreten hat: Eine Annahme muss hinreichend plausibel sein, um akzeptiert zu werden. Die so erkannte Wahrheit ist niemals absolut. Reichenbachs Modell einer induktiven Axiomatik ist an dem epistemologischen Konzept von Peirce orientiert, das die drei Schlussformen in der von Brecht beschriebenen Weise kombiniert: Die Bildung der Hypothese erfolgt „instinktiv“ (Peirce) aufgrund einer konkreten Situation. Es kann keine allgemeine Regel für diese Schlussform angegeben werden, denn „Erklärungen, die abduktiv erschlossen werden, können und müssen je nach Kontext unterschiedliche Merkmale aufweisen.“ (Richter [1995] 174) Aus der Hypothese werden deduktiv Konsequenzen erschlossen, die dann in einem Induktionsschritt überprüft werden. Denn mit der Deduktion tatsächlicher Erscheinungen ist die notwendige Gültigkeit des angenommenen Modells noch nicht bewiesen, „es wäre erst noch nachzuprüfen, ob nur bei dieser Voraussetzung die uns bekannten Erscheinungen gerade so und nicht anders verlaufen müßten.“ (Brecht [88ff] Bd. 21, 570)
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Am Theater will Brecht die Modelle vom Verhalten der Menschen in kontrollierten Experimenten testen. Zwar sind die Methoden des Theaters „außerordentlich weniger exakt als jene der Physik, aber auch das Theater muß solche Beschreibungen der Umwelt geben können, daß der Zuschauer sich auskennt.“ (Brecht [1967] Bd. 15, 238) Brecht beruft sich dabei auf das Theater Shakespeares, der ebenso experimentiert habe wie zur gleichen Zeit Galilei und Bacon. (Brecht [1967] Bd. 16, 589) Interessanterweise beginnt umgekehrt im 17. Jahrhundert die theatrale Aufführung von Experimenten, etwa vor der Royal Society. Damit kommt es zu einer Trennung von Forschungs- und Demonstrationsexperimenten. (Müller-Wille [2010] 41–46). Während das Theater zu experimentieren beginnt, werden die Experimente theatralisiert. Brecht betont, dass es bei den Experimenten am Theater darum ging, die Kausalität der sozialen Dynamiken darzustellen: „den Mechanismus der Vorfälle [...] das Spiel von Ursache und Folge.“ (Brecht [1967] Bd. 16, 603) Auch Zola und im Anschluss an ihn die Naturalisten verstehen Theater als Experiment. Klaus Müller-Wille betont, dass diese Autor*innen nicht müde [werden, L.M.], auch ihre Dramen als Versuchsanordnungen zu bezeichnen, in denen sie verschiedene Charaktere wie in einer Laborsituation aufeinanderprallen lassen, um über die sich entspinnenden Handlungsfolgen Einblicke in verborgene physiobeziehungsweise sozio-psychologische Dynamiken zu erhalten (Müller-Wille [2010] 47)
Seine theoretische Schrift zum Theater der Exilzeit bezeichnet Brecht in Anlehnung an Bacons Novum Organon als Kleines Organon für das Theater (Haug [1996] 62). Besonders deutlich ist der Experimentalcharakter des Theaters Brechts in der kurzen Phase der Lehrstücke: Diese lehren, indem sie gespielt, nicht indem sie betrachtet werden. (Köpp [2002] 216) Das Theater Brechts behandelt die „Elemente des Wirklichen im Sinne einer Versuchsanordnung,“ bei der die Entitäten im Lauf des Experiments erzeugt werden und diesem nicht vorausgesetzt sind: „am Ende, nicht am Anfang dieses Versuchs stehen die Zustände.“ (Benjamin [1977], 522) Als Ziel der Experimente formuliert Brecht: „Zu lernen ist: Wann greift ein Satz ein?“ (Brecht [88ff] Bd. 21, 525) Experimentelles Theater erlaubt es, die „Beobachtungsparadigmen selbst zu beobachten“ (Müller-Wille [2010] 48), und dabei ganz im Sinne Brechts erlernte Wahrnehmungspraktiken in Frage zu stellen. Dabei zielt experimentelles Theater insbesondere darauf ab, die „Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum“ (Müller-Wille [2010] 50) zu überwinden. Dabei gehört in diesen Versuchen die Beobachtung notwendigerweise zu den Faktoren, die das Ergebnis beeinflussen: Das soziologische Experiment zeigt die gesellschaftlichen Antagonismen, ohne sie aufzulösen. Die Veranstalter müssen also in dem Kräftefeld der widersprechenden Interessen selber eine
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Interessentenstellung einnehmen [...] Nur das beteiligte, mittätige Subjekt vermag hier zu ‚erkennen‘. (Brecht [88ff] Bd 21, 512f)
3.3.4 Ein Unfall Ein berühmtes Modell Brechts für das epische Theater ist in eine Straßenszene, bei der an einer Straßenecke der Ablauf eines Verkehrsunfalls nachgestellt wird. Das Beispiel des Unfalls verweist auf Wittgensteins Modell-Begriff – ein Tagebucheintrag des Philosophen berichtet, dass er seinen Modellbegriff am bei der Darstellung eines Unfall entwickelt: Wittgenstein verdankt jedenfalls einen wichtigen Anstoß einem Zeitungsbericht darüber, wie in einem Pariser Gerichtsaal ein Unfall mit kleinen Figuren nachgestellt wurde. Wer der Szene mit Verständnis folgt, weiß, wie der Unfall abgelaufen ist. Eine solche anschauliche Schilderung des Unfalls kann zudem sehr viel übersichtlicher sein als ein verbaler Unfallbericht. [...] Auch das Nachstellen einer Szene ist eigentlich ein Abbilden. (Raatzsch [2008] 60)
In Brechts Konzept erhält die „Demonstration gesellschaftlich praktische Bedeutung“ (Brecht [1967] Bd. 16, 548), weil die Beteiligten des Unfalls konkrete Interessen und Sorgen um mögliche Folgen haben (etwa Schadenersatz, Strafe, Invalidität). Die Darstellung des Kausalzusammenhangs „greift gesellschaftlich ein.“ (Brecht [1967] Bd. 16, 548) Das Modell hat einen bestimmten Zweck. Wie ausführlich die einzelnen Aspekte des Unfalls dargestellt werden, welche Eigenschaften der Beteiligten zum Ausdruck kommen und welche vernachlässigt werden (die Stimme und Tonlage des Warnenden, die Übermüdung des Fahrers, ob „sein Mädchen“ neben ihm gesessen hat) hängt nur davon ab, ob diese Momente eine Rolle im Ablauf des Unfalls gespielt haben. Es geht daher nicht darum, den Charakter der Beteiligten möglichst vollständig darzustellen, im Gegenteil werden die „Charaktere ganz aus ihren Handlungen“ (Brecht [1967] Bd. 16, 551) abgeleitet, also aus ihrem Zusammenhang mit dem Geschehen. Damit proklamiert Brecht eine grundsätzlich andere Herangehensweise als das klassische Theater, in welchem die Handlung aus den Charakteren abgeleitet wird, die der Geschichte vorausgesetzt sind und so die „Atome,“ die grundlegenden Einheiten der Fabel bilden. Brechts Figuren werden hingegen im Verlauf des Stückes aus der Handlung „aufgebaut“ (Brecht [1967] Bd. 20, 60 und Brecht [1967] Bd. 16, 688). Die Verfremdung der Darstellung entsteht nun dort, wo der Ablauf der Handlung nicht eindeutig ist, wo ein bestimmter Kausalzusammenhang in Frage gestellt wird – „Bei dem Streit, ob er [das Unfallopfer, L.M.] wirklich den linken oder rechten Fuß zuerst auf die Straße setzte ...“ (Brecht [1967] Bd. 16, 554) Dabei kann der
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Kausalzusammenhang durch den Verfremdungseffekt in zwei Richtungen problematisiert werden. Einerseits ist das „soziale Feld“ (Brecht [1967] Bd. 16, 550, Hervorhebung im Original) widersprüchlich. Allgemeine soziologische Gesetzmäßigkeiten können die Situation nicht vollständig erfassen. In der Dramatik haben wir das Individuum der anarchistischen Produktionsweise als ein vielmotiviges zu gestalten, die Spannung entsteht bei der Frage: was gibt den Ausschlag? (Brecht [1967] Bd. 15, 279)
Andererseits wirken die Handlungen des Einzelnen auf den Vorgang zurück und beeinflussen ihn mehr oder weniger entscheidend. Der Philosoph Wolfgang Haug schreibt: „Die konsolidierten gesellschaftlichen Verhältnisse hängen freilich nur auf eine infinitesimale Weise vom Einzelnen ab...“ (Haug [1996] 52) – der Verkehrsunfall hingegen auf ganz entscheidende Weise. Daher diskutieren die Zeugen des Unfalls auch das Verhalten des Opfers: „Wenn der Verunglückte, wie sie es zeigen, den rechten Fuß zuerst auf die Straße setzte, dann...“ (Brecht [1967] Bd. 16, 553f) Der Verfremdungseffekt beruht auf einer Kausalität, die nicht nur eine Möglichkeit kennt. Irgendwann muss Brecht sich die Frage stellen, ob in diesem Wechselspiel von Ursachen und Wirkungen das Verhalten des/der Einzelnen wirklich streng durch seine soziale Situation determiniert sein kann (siehe Kapitel 8.2).
3.4 Kleinste Einheiten Der Bruch zwischen Publikum und Bühne, die Diskontinuität der Fabel und die offene, vieldeutige Kausalität der Handlung erfordern eine Neubestimmung der fundamentalen Entitäten, die im epischen Theater auftreten. Im Folgenden wird die Entwicklung des Konzepts des Individuums bei Brecht skizziert. Dabei stütze ich mich auf seine Dramen, die theoretischen Aufzeichnungen im Arbeitsjournal und anderen Schriften, etwa den marxistischen Studien. Dies soll einen Überblick über die Fragestellung Brechts geben. Man wird daher bei Weitem nicht alle Stücke oder gar Gedanken des Dramatikers wiederfinden. Bei der Lektüre sekundieren mir insbesondere Thomsen, Müller und Kindt mit ihrem Buch Ungeheuer Brecht. Zu einzelnen Stücken habe ich zusätzliche Literatur herangezogen. Die Hauptfigur in Brechts frühem Stück Der böse Baal, der Asoziale von 1918/19 tritt als Egoist auf, der die gesellschaftlichen Zwänge und Moralvorstellungen ablehnt und sich seine Lust auf Kosten anderer verschafft. In der Forschung ist unumstritten, dass der Baal stark von Nietzsche beeinflusst ist (Grimm [1973], Lethen und Lehmann [1980]). Das expressionistische Stück enthält keine kausal
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motivierte Handlung, sondern bringt „Baals Lebensgefühl“ (Thomsen et al. [2006] 26) zum Ausdruck, das in einem ständigen Ringen um die eigene Identität besteht: Wie soll die Vorstellungswelt etwa des Stückes ‚Baal‘ zur Wirkung gebracht werden können in einer Welt, in deren Vorstellung das Individuum keineswegs ein Phänomen sondern das Selbstverständliche ist. (Brecht [1967] Bd. 15, 140)
Das Phänomen Baal gerät rasch in eine Krise. Der Egoist vereinsamt in seiner Individualität, und am Ende seines Lebens geht er zurück in die Wälder, um dort zu sterben. Damit schließt sich der Kreis, denn Baal kam aus den Wäldern in die Großstadt. Während dem Fortgang der Handlung der kausale oder psychologische Zusammenhang fehlt, ist ihr Gesamtzusammenhang zyklisch. Baal endet ausgestoßen und sprachlos: „Hm.“ (Brecht [88ff] Bd. 1, 82) Mit den Stücken Trommeln in der Nacht und Dickicht der Städte beschreibt Brecht, wie sich nach dem Ersten Weltkrieg die Spannung zwischen Individuum und Masse vom Militär in die Großstädte verlagert. Helmut Lethen zeigt, dass Brecht in seinem Lesebuch für Städtebewohner eine „Verhaltenslehre der Kälte“ vertritt (Lethen [1994] 170–181). Es gilt die Panzerung des Ichs abzulegen: In einem Tank kommen sie nicht durch ein Kanalgitter Sie müssen schon aussteigen. (Brecht [88ff] Bd. 11, 162)
In der Anonymität der Großstadt ist Überleben nur um den Preis des Verlustes der Individualität zu haben. „Verwisch die Spuren“ (Brecht [88ff] Bd. 11, 157) rät uns Brecht. In Brechts Bearbeitung des Stückes Eduard II. wird die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft nun ausgearbeitet. Letztere wird in Form einer Soldatenmasse dem König gegenübergestellt. Die Masse tritt hier als dramatis personae auf, marschiert im Rhythmus von Trommelschlägen auf die Bühne. Als die Schlacht verloren geht, werden die Gesichter der Soldaten gekalkt und ihre Individualität geht unter der weißen Schminke verloren. (Lacis [1971] 41, Paskevica [2006] 247) Der Kalk steht für die Masse, aber gerade in der Zugehörigkeit zur Masse erhalten die einzelnen eine Funktion und damit eine Identität. Asja Lacis, die Brecht bei der Inszenierung des Stückes assistiert hat, beschreibt diesen Auftritt: „Soldaten gab es gegen 1000, Tommys, sie waren eine Masse, aber jeder bewahrte da seinen Namen.“ (Paskevica [2006] 247) Das Kalken der Gesichter maskiert den Einzelnen, lässt ihn in der Masse aufgehen. Gerade dadurch rettet er seine Individualität und behält so seinen Namen. Umgekehrt wird der König als Individuum dargestellt, der Konflikt mit seinem Gegner wird von der politischen auf die private Ebene verschoben. Dieses private Individuum geht jedoch in seinen Konflikten unter – Eduard II. wird hingerichtet.
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Mann ist Mann, das zwischen 1924 und 1927 entsteht, verhandelt das Verhältnis des einzelnen Soldaten zur Soldatenmasse. Galy Gay geht aus dem Haus, um „einen Fisch zu kaufen“ (Brecht [88ff] Bd. 2, 95) und trifft auf eine Gruppe von Soldaten, denen einer der ihren abhanden gekommen ist. Er wird überredet, sich dem Trupp anzuschließen und wird „wie ein Auto ummontiert“ zu Jeraiah Jip. Thomsen, Müller und Kindt meinen, dass es dabei nicht um den Verlust der Individualität geht, weil die Erfahrung eines solchen Umbaus auch eine Identität voraussetzt, von welcher aus die Veränderung erfasst werden kann (Thomsen et al. [2006] 57). Eine solche Identität weise Galy Gay aber gar nicht auf. Diese Interpretation wird jedoch durch eine Szene in Frage gestellt, in der es zu einer Doppelung der Person kommt. Galy Gay ist wegen des Diebstahls eines Elefanten zum Tod verurteilt worden und verleugnet seine Identität: „... ich bin einer, der nicht weiß, wer er ist. Aber Galy Gay bin ich nicht, das weiß ich. Der erschossen werden soll, bin ich nicht.“ (Brecht [88ff] Bd. 2, 136). Er wehrt sich nun dagegen, dass seine Identität nur über seine Funktion entsteht und beharrt auf seiner materiellen Identität: „Meine Mutter im Kalender hat verzeichnet den Tag, wo ich herauskam, und der schrie, das war ich. Dieses Bündel von Fleisch, Nägeln und Haar, das bin ich, das bin ich.“ (Brecht [88ff] Bd. 2, 141) Nachdem Galy Gays Erschießung inszeniert wurde, soll er als Jeraiah Jip die Grabrede auf sich selbst halten. Er weigert sich, in den Sarg zu blicken: Ich könnt nicht ansehen ohne sofortigen Tod In einer Kist ein entleertes Gesicht Eines gewissen, mir einst bekannt, von Wasserfläch her In die einer sah, der wie ich weiß, verstarb. Drum kann ich nicht aufmachen diese Kist. Weil diese Furcht da ist in mir beiden, denn vielleicht bin ich der Beide, der eben erst entstand. [...] Einer ist keiner. Es muß ihn einer anrufen. (Brecht [88ff] Bd. 2, 142)
Er hat sich unter Todesandrohung aus der Person des Galy Gay zurückgezogen und ist in eine eigenartige Superposition übergegangen. Wie die Katze in dem „burlesken“ Gedankenexperiment Schrödingers von 1935 (Schrödinger [1935] 812) befindet sich Galy Gay in einer Überlagerung aus totem und lebendigem Zustand, die durch die Beobachtung kollabiert. In dieser Unschärfe wird das Individuum ausgelöscht. Das Anrufen mag den Einzelnen stabilisieren – die Reaktion auf dieses Anrufen kann nur für große Gruppen vorausgesagt werden: „Einer ist keiner,“ heißt es bereits bei Galy Gays Anwerbung: „Man macht zuviel Aufhebens mit Leuten. Einer ist keiner. Über weniger als zweihundert zusammen kann man gar nichts sagen.“ (Brecht [88ff] Bd. 2, 117) In den marxistischen Studien, die er zwischen
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1926 und 1939 anstellt, führt Brecht diese Verkehrung von Individuum und Masse konsequent zu Ende. Er geht vom bürgerlichen Konzept des Gesellschaftsvertrags aus, das den Einzelnen der Gesellschaft voraussetzt: Unser Massebegriff ist vom Individuum her gefaßt. Die Masse ist so ein Kompositum; ihre Teilbarkeit ist kein Hauptmerkmal mehr, sie wird aus einem Dividuum mehr und mehr selber ein Individuum. (Brecht [1967] Bd. 20, 60f)
Die bürgerlichen Theorien des Gesellschaftsvertrags zwischen freien Individuen interpretieren die Masse als zusammengesetzt aus Einzelnen. Doch dieses „Kompositum“ Gesellschaft entwickelt eine eigene Dynamik, deren Gesetzmäßigkeiten nicht aus dem Verhalten der Einzelnen abgeleitet werden können. Brecht kritisiert, dass der Begriff des Individuums ebenso abstrakt bleibt wie jener der Masse, wenn die Masse nicht als eigenständige Entität begriffen wird: „Was sollte über das Individuum auszusagen sein, solang wir vom Individuum aus das Massenhafte suchen und somit aufbauen.“ (Brecht [1967] Bd. 20, 61) Teilbarkeit ist kein notwendiges Merkmal der Masse, denn: „Zum Begriff ‚einzelner‘ kommt man von dieser Masse her nicht durch Teilung, sondern durch Einteilung.“ (Brecht [1967] Bd. 20, 60f) Diese innere Differenzierung der Gesellschaft etwa in der Arbeitsteilung, die Einteilung ihrer Mitglieder in unterschiedliche Funktionen führt nicht zur Fragmentierung. Während Brecht so die Masse in ein Individuum transformiert, wird der Einzelne ein-teilbar: „Und am einzelnen ist gerade seine Teilbarkeit zu Betonen (als Zugehörigkeit zu mehreren Kollektiven).“ (Brecht [1967] Bd. 20, 60f) Masse und Individuum waren als abstrakte Begriffe aufgefasst worden und die dialektische Bewegung ihrer gegenseitigen Bestimmung hat sie in ihr jeweiliges Gegenteil verkehrt. Diese Bewegung ist bei Brecht nicht bloß eine Bewegung der Begriffe, sie wird im Übergang des Individuums ins Kollektiv schmerzhaft vollzogen: „In den wachsenden Kollektiven erfolgt die Zertrümmerung der Person.“ (Brecht [1967] Bd. 20, 60) Denn während die Funktion innerhalb der Gruppe um jeden Preis erfüllt werden muss, können die Träger*innen dieser Funktion ausgetauscht werden: „Ein Kollektiv ist nur lebensfähig von dem Moment an und so lang, als es auf die Einzelleben der in ihm zusammengeschlossenen Individuen nicht ankommt.“ (Brecht [1967] Bd. 20, 60) Andererseits konstituiert sich das Individuum im Kollektiv: Die Einzelnen werden unterscheidbar durch ihre Zugehörigkeit zu einer besonderen Konstellation von Kollektiven – „Wodurch wird die ‚Eigenheit‘ des einzelnen garantiert? Durch seine Zugehörigkeit zu mehr als einem Kollektiv.“ (Brecht [1967] Bd. 20, 61) Karl Marx hat in der 6. Feuerbachthese das Individuum als das „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Marx [1970a] 199) beschrieben. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse, präzisiert Brecht, bestehen in den tatsächlich praktizierten Bezie-
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hungen zu konkreten Gruppen. Umgekehrt vermittelt das Kollektiv den Einzelnen mit der Masse: Sie [die Masse, L.M.] enthält wieder Individuen, welche für das einzelne Individuum, von dem wir ausgingen, unterscheidbar wichtig sind. Also steht das Individuum nicht nur der Masse, sondern Gruppen innerhalb der Masse gegenüber. Es spricht zu Gruppen, und diese Gruppen erst sprechen zur Masse. Wer dies weiß, weiß die Voraussetzung zu jeder Art von Organisation. (Brecht [1967] Bd. 20, 61)
Von 1926 bis Mitte der 1930er Jahre arbeitet Brecht an einem Stück, das den Titel Der Untergang des Egoisten Fatzer erhält und zu dem ein umfangreicher Kommentar entsteht. In den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs desertieren vier Soldaten und verstecken sich in der Hoffnung auf einen Aufstand in einem Keller. Die FigurenKonstellation aus vier Soldaten übernimmt Brecht von Mann ist Mann, doch nun wird ein konkretes Kollektiv beschrieben und von einer der Figuren die Anpassung an die Gruppe verweigert. Der Individualismus Fatzers bedroht den solidarischen Zusammenhalt. Brecht [hatte] in seinen Dramen seit dem Baal in immer radikalerer Form vorzuführen versucht, dass ein Überleben unter den Bedingungen der Moderne allein um den Preis des Verzichts auf Individualität zu erreichen sei. [...] der Weg [...] ließ sich nicht bruchlos fortsetzen. (Thomsen et al. [2006] 69)
In den frühen Stücken hat Brecht seine Individuen durch den Bezug auf drei allgemeine Kategorien konstituiert: Natur (Baal, der in die Wälder geht, aus denen er kommt), Masse (Galy Gay, der ummontiert wird) und Religion (Mauler, der nach seinem Bankrott seine Individualität im Bezug auf die Kirche wiederherstellt). (Thomsen et al. [2006] 149) Brecht versucht im Fatzer, das Individuum in seinen konkreten Konflikten neu zu bestimmen, doch das Stück bleibt ein Fragment: Es gelingt Brecht nicht, die Spannung zwischen dem Egoisten Fatzer und dem Kollektiv der Soldaten, die mit ihm desertiert sind, zu lösen. (Knopf [1996] 173) Erstmals tritt hier bei Brecht ein Kollektiv als dramatische Person auf, zusätzlich ist der Einsatz von Chören geplant (Thomsen et al. [2006] 76ff.). Damit stehen drei Formationen von Figuren gleichzeitig auf der Bühne: Individuum, Kollektiv und Masse. Die Einschätzung des Verhältnisses dieser Formationen bleibt im Fatzer widersprüchlich. (vgl. die Stellen Brecht [88ff] Bd. 10.1, 445 und Brecht [88ff] Bd. 10.1, 473–474) Das Individuum kann in der Masse ausgelöscht werden, doch umgekehrt kann die Masse dem Individuum willenlos folgen. (Wilke [1998] 187) Auch die Rolle des Individuums bleibt zwiespältig. Von Anfang an plant Brecht, dass am Ende Fatzer zugunsten des Kollektivs getötet werden muss. Um diesen Schritt zu rechtfertigen, verwandelt er den Individualismus Fatzers zunehmend
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in einen Egoismus, der das Kollektiv gefährdet. Doch gleichzeitig lobt ihn sein Gegenspieler, der Koch: Daß er ichsüchtig ist, das ist Gut! Er hat ein großes Ich. Das reicht Für uns vier aus und für uns vier Ist er ichsüchtig! Der Kann uns helfen. (Brecht [88ff] Bd. 10.1, 441f)
In der Dreigroschenoper nimmt Mackie Messer die Rolle des Baal ein. Das Stück hat ein doppeltes Ende: Nachdem Macheath gehängt wurde, überbringt ein reitender Bote seine Begnadigung. Mackie Messer überlebt im zweiten Schluss des Stückes, weil er in die besitzende Klasse aufsteigen kann. Als Geschäftsmann repräsentiert er das kleinbürgerliche Individuum. Unter Androhung des Galgens löst er sich von seiner Gebundenheit an seine Natur, seiner „sexuellen Hörigkeit“ und wird schließlich im Dreigroschenroman in seine gesellschaftlichen Beziehungen aufgelöst. Den Gegenentwurf zur Fatzer-Figur legt Brecht mit dem Keuner vor, dem Protagonisten der Parabelsammlung Geschichten vom Herrn K. (Brecht [88ff] Bd. 18, 13–43) Die Individualität dieser philosophischen Figur löst sich weitgehend auf – der Keuner ist keine konkrete einzelne Person, wie der Bezug zum griechischen κωινωσ, koinós (das Allgemeine) ebenso klar macht wie jener zum bayrischen Dialekt mit dem Brecht aufgewachsen ist. In den Lehrstücken vollzieht Brecht in mehreren Hinsichten eine Wende. Einerseits gibt es keine klassischen Zuschauer*innen mehr, das Publikum soll in Form des Chores dauerhaft in das Stück integriert werden. Die Handlung dient den Schauspieler*innen als Material für eine Auseinandersetzung. In der Erarbeitung der Textvorlage tauschen die Akteur*innen immer wieder ihre Rollen, so dass Figur und individuelleR Darsteller*in getrennt werden. Viele der Lehrstücke sind für die Durchführung mit Schüler*innen geschrieben. Zweitens haben alle Lehrstücke die Auflösung des Individuums im Kollektiv zum Gegenstand. Schon im Titel des ersten Lehrstückes, Flug der Lindberghs, bezieht sich der Plural einerseits auf die Inszenierung, in welcher die Figur durch mehrere Personen gespielt wird. Andererseits aber ist das Kollektiv der Arbeiter, die das Flugzeug gebaut haben, im Stück durch dieses Flugzeug präsent und Teil der Unternehmung. Der Pilot deklamiert: Sie haben gearbeitet, ich Arbeite weiter, ich bin nicht allein, wir sind Acht die hier fliegen. (Brecht [88ff] Bd. 3, 13)
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Das Kollektiv tritt geschlossen auf und arbeitet gemeinsam am Ziel zunehmender Kontrolle über die physikalischen Vorgänge. Die kollektive, organisierte Beobachtung stellt Gott in Frage und damit auch die Metaphysik. Bereits im Lindberghflug kommt dies in der optischen Metapher des Mikroskops zum Ausdruck: „Unter den schärferen Mikroskopen // Fällt er.“ (Brecht [88ff] Bd. 3, 17) Doch damit verliert auch der Tod seine Transzendenz und muss nun gesellschaftlich ausgehandelt werden. Dies wird in den folgenden Stücken zum Thema. Im Badener Lehrstück vom Einverständnis ist die Atlantiküberquerung gescheitert, eine Gruppe von Fliegern abgestürzt und in Lebensgefahr. Das Stück verhandelt in drei Runden, ob die Expedition gerettet werden soll und kommt zu dem Schluss, dass die Hilfe ein noch größeres Problem schaffen würde. Die Abgestürzten werden nun aufgefordert, ihr Einverständnis zum Unterbleiben des Rettungsversuchs zu geben. Dies spaltet das Kollektiv. Der Großteil der Gruppe akzeptiert die Auslöschung und der Tod der Einzelnen führt zur Transformation der Gruppe in jenes Kollektiv, das im Lindberghflug bereits vorausgesetzt war. In diesem Kollektiv überleben die Einzelnen ihren Tod als historische Subjekte in ihren Produkten: „Denn nur // Das Erreichte ist wirklich.“ (Brecht [88ff] Bd 3, 42) Doch diese Transformation gelingt nur, wenn die Egoisten ausgeschlossen werden: „Der Flieger Nungesser besteht auf seiner Individualität und wird aus dem Kollektiv ausgetrieben.“ (Thomsen et al. [2006] 105) Dadurch verliert er aber gerade seine Individualität. Denn „sein Gesicht“ wurde Erzeugt zwischen ihm und uns, denn Der uns brauchte und Dessen wir bedurften: das War er. (Brecht [88ff] Bd 3, 43)
Mit ihrer Funktion in der Gruppe erlischt auch die Person: „Stirb jetzt, du Keinmenschmehr.“ (Brecht [88ff] Bd 3, 44) In Der Ja-Sager und der Nein-Sager wird die Frage nach dem Einverständnis in den eigenen Tod wieder aufgegriffen. Eine Expedition bricht ins Gebirge auf, sie besteht aus einem Lehrer, einem Knaben und drei Studenten. Als der Junge unterwegs krank wird und damit das Unternehmen in Frage stellt, wird er einem alten Brauch gemäß zurückgelassen. Der Brauch verlangt aber auch, dass er seiner Tötung zustimmt. Dies bildet den Ausgangspunkt einer Neufassung. Nun schreibt Brecht zwei Varianten – in einer davon verweigert der Knabe sein Einverständnis, wie dies auch die Nungesser-Figur bereits getan hat. Es gelingt ihm jedoch, die Studenten davon zu überzeugen, dass er sich damit nicht gegen das Kollektiv wendet, sondern gegen das Dogma, dem es folgt. Die Argumentation bleibt dabei
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streng rational und „wendet sich gegen überhistorisch gültige Bräuche in jeder Gestalt“. (Thomsen et al. [2006] 119) In der neuen Jasager-Variante leitet der Knabe aus der Situation die gleichen Konsequenzen ab wie das Kollektiv und verlangt, getötet zu werden. In der Neinsager-Variante hingegen entwickelt er aus seiner ganz persönlichen Situation eine Norm, deren Anerkennung er von den Anderen verlangt: Ich wollte meiner Mutter Medizin holen, aber jetzt bin ich selber krank geworden, es ist also nicht mehr möglich. Und ich will sofort umkehren, der neuen Lage entsprechend. [...] Und was den alten großen Brauch betrifft, so sehe ich keine Vernunft an ihm. Ich brauche vielmehr einen neuen großen Brauch, den wir sofort einführen müssen, nämlich den Brauch, in jeder neuen Lage neu nachzudenken. (Brecht [88ff] Bd 3, 71).
Mit der Auflehnung gegen die Norm vollzieht sich „eine Wiedergeburt des Ich.“ (Thomsen et al. [2006] 120). Doch die Absage an das Kollektiv muss gut begründet werden, wie das wohl radikalste Lehrstück Brechts, die Maßnahme, zeigt. In den beiden Fassungen der Maßnahme von 1930 und 1931 erhält die Expedition des Kollektivs ein politisches Ziel. Eine Gruppe von Agitatoren soll in China für die Revolution arbeiten. Vor dem Aufbruch hatten die einzelnen Mitglieder der „Auslöschung“ (Brecht [88ff] Bd. 3, 77) ihrer Individualität zugestimmt und ihre Gesichter mit Masken ebenso einheitlich wie unkenntlich gemacht. Sie sind nun „allesamt ohne Namen und Mutter, leere Blätter, auf welche die Revolution ihre Anweisungen schreibt.“ (Brecht [88ff] Bd. 3, 78) Doch gerade durch die Maskierung sind sie „von dieser Stund an nicht mehr Niemand“ (Brecht [88ff] Bd. 3, 78), sondern Mitglieder in einem Kollektiv mit einer bestimmten Aufgabe. Die Handlung beginnt mit der Rückkehr der Gruppe und ihrem Bericht an den „Kontrollchor.“ Die Gruppe ist nicht mehr vollständig. Ein „junger Genosse“ hatte im Verlauf der Reise das Kollektiv zunehmend in Gefahr gebracht. Er verlangt, den Einzelnen sofort zu helfen und gibt dafür das Ziel auf, an einer grundlegende Veränderung der Verhältnisse zu arbeiten. Schließlich löst er sich aus dem Kollektiv und zerreißt seine Maske. Dadurch wird er wieder identifizierbar – und setzt die ganze Gruppe der Verfolgung aus. Es kommt zu einer Diskussion, ob es einen Weg gibt, Reform und Revolution zu vereinen. Das Abweichen des jungen Genossen von der Kollektivmeinung rechtfertigt den Ausschluss noch nicht, denn: Wir können irren und du kannst recht haben, also Trenne dich nicht von uns! (Brecht [88ff] Bd. 3, 120)
Doch als es dem jungen Genossen nicht gelingt, sein Vorgehen rational zu begründen und eine Strategie daraus zu entwickeln, wird seine „Auslöschung“ beschlossen. Das Gesicht des Toten wird dann mit Kalk unkenntlich gemacht, sodass er
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seine Individualität endgültig verliert. Wie schon in Eduard II. wird die Auflösung des Einzelnen in der Masse ausgedrückt durch das Bedecken des Gesichts mit Kalk. Doch diesmal ist die Auflösung gescheitert, mit der Funktion wird auch die Identität gelöscht. Als Brecht ins Exil geht und er zusehends den Bezug zu seinen eigenen Kollektiven verliert, kommt es erneut zu einem Bruch in der Darstellung seiner Figuren. Thomsen, Müller und Kindt fassen die Entwicklung des Individuums bei Brecht folgendermaßen zusammen: Brecht hatte das Monster Baal kreiert und das Individuum in den folgenden Stücken in zäher Arbeit auf seine kleinste Größe reduziert, aus der es dann in den Lehrstücken ins sozialistische Kollektiv transformiert wurde – das alte bürgerliche Individuum hatte nur als asoziales überleben dürfen. [...] Das änderte sich am Ende der dreißiger Jahre – jetzt gewann die sozialistische Moral die Oberhand über die Wissenschaft, und das alte Individuum kehrt in Brechts Stücke zurück, allerdings mit neuen Aufgaben. (Thomsen et al. [2006] 321)
Damit schließen sie an die gängige Interpretation an, welche im Anschluss an Lukács davon spricht, dass es im Exil zu einer Rückwende Brechts zum humanistisch verstandenen, zum „alten“ Individuum kam. Ich werde in Teil III der Arbeit die These vertreten, dass keineswegs „die“ sozialistische Moral nun in Brechts Stücken dominant wird, sondern eine Verhaltenslehre, die sich an die Quantenmechanik anschmiegt – eine Verhaltenslehre des Spiels und der Schicksalslosigkeit. Brechts neues Individuum ist nicht der neue Mensch des Sozialismus, sondern nimmt eine Haltung ein, die das Überleben in „großen Zeiten“ ermöglicht. Die Entwicklung dieser Haltung wird nun kurz skizziert. In der Mutter Courage und ihre Kinder (1938/39) greift Brecht den Krieg wieder auf. Er notiert, dass der krieg als riesiges feld erscheint, nicht unähnlich den feldern der neuen physik, in denen die körper merkwürdige abweichungen erfahren. alle berechnungsarten des individuums, gezogen aus erfahrungen des friedens, versagen; (Brecht [1973] 221)
Der Feldbegriff spielt eine wichtige Rolle bei Brecht; darauf und auf die historische Entwicklung des Begriffs gehe ich in Kapitel 5.1.2 näher ein. Physikalische Felder werden nicht direkt sondern über den Einfluss, den sie auf einen Probekörper ausüben, gemessen. Dennoch sind sie eigenständige Entitäten, denen Energie und Impuls zugeschrieben wird. Um das Feld zu bestimmen, müssen die Eigenschaften des Probekörpers gut bekannt sein – in elektromagnetischen Feldern hat er zum Beispiel je nach seiner Polarität zwei mögliche Orientierungen. Brechts Probekörper in der Courage ist erneut ein Kollektiv in einer 3:1Konstellation, wie es seit dem Fatzer dominant ist. Die fahrende Händlerin Anna Fierling versucht mit ihren drei Kindern aus dem Dreißigjährigen Krieg Profit zu
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schlagen. Dabei sterben alle drei Kinder. Das Stück zeigt, wie das Feld mit dem Kollektiv über seine einzelnen Mitglieder wechselwirkt. Stets gibt es zumindest zwei mögliche Reaktionen auf eine Situation, und die tatsächliche Antwort ist Ausdruck der Einstellung des Einzelnen zum Feld, seiner „Haltung.“ Im Überlebenswillen der Mutter Courage „um jeden Preis findet sich zugleich die Haltung des Nicht-sterben-Wollens aus der Lehrstückphase wieder.“ (Thomsen et al. [2006] 250) Aber dieser Egoismus ist zwiespältig: Sie vertritt die Ethik der Kälte nach außen, um nach innen das Kollektiv zusammenzuhalten. Der Krieg bildet ein Problemfeld, schränkt die Handlungsmöglichkeiten massiv ein und setzt die Einheit in eine Reihe von Spannungen aus, die sie zunehmend zerstören. (Thomsen et al. [2006] 248) Der erste Sohn, Eilif, wird von Soldaten geworben und später standrechtlich erschossen. Wie Galy Gay lässt er sich bereitwillig ummontieren. Anna Fierling kippt aus der Haltung der Mutter in die Haltung der Geschäftsfrau und lässt sich durch den Handel um eine Gürtelschnalle von der Verteidigung ihres Sohnes gegen die Werber ablenken. Auch im Fall ihres zweiten Sohnes ist ihr Geschäftssinn tödlich. Schweizerkas will sich im Gegensatz zu Eilif gar nicht ändern: Er gerät in Kriegsgefangenschaft, aus Loyalität gegenüber seinem Heer verweigert er die Herausgabe der Kriegskasse, für welche er verantwortlich ist. Er wird erschossen, weil das Lösegeld seiner Mutter nicht rechtzeitig eintrifft. (Brecht [88ff] Bd. 6, 45) Die Tochter Kattrin hingegen stirbt aus Güte und schließt damit an den Jungen Genossen aus der Maßnahme an. Sie versucht mit lautem Trommeln eine Stadt vor einem nächtlichen Angriff zu warnen. Kattrin nimmt ihren Tod ausdrücklich in Kauf, und es ist nicht ihr Trommeln, sondern der letale Schuss, der die Stadt aufweckt. Wie in den Lehrstücken ist ihre Güte tödlich, aber in einer vollständigen Verkehrung der Lehrstücke wird sie nun zu der einzigen Haltung, die im Stück als sinnvoll dargestellt wird. Diese Haltung erweist sich aber auch in den folgenden Stücken als nicht überlebensfähig. Dies gelingt erst im Kaukasischen Kreidekreis (siehe Teil III). Thomsen, Müller und Kindt vermuten, dass in der Mutter Courage eine Fragestellung an eine neue Ethik formuliert wird, die sich auch aus Brechts unmittelbarer Erfahrung von Exil, Aufrüstung und Krieg und Schauprozessen in der Sowjetunion ergibt: Wie muss gehandelt werden, wenn gesellschaftlich verantwortliches Handeln die materielle Lebensgrundlage unmittelbar gefährdet und wenn zugleich die Methoden zum Überleben gesellschaftlich destruktiv sind, aber kein Kollektiv zur Verfügung steht, das sich der Veränderung der Welt widmet. (Thomsen et al. [2006] 268)
Unter dem Einfluss des Krieges kommt es zu einer Spaltung der Figur der Mutter Anna Fierling. Dies kommt aber im Stück nicht explizit zum Ausdruck, lässt sich
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aber literaturgeschichtlich erschließen: Der Titel stellt einen expliziten Bezug her zu Grimmelshausens Roman Trutz Simplex: Oder Ausführliche und wunderseltzame Lebensbeschreibung Der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche. (von Grimmelshausen [2010]) Die „Courasche“ bezeichnet hier das weibliche Geschlechtsorgan und nicht den Mut der Courage – die Hauptfigur des Trutz Simplex ist eine Prostituierte, die zahlreiche Ehemänner hat, aber unfruchtbar ist. In Brechts Stück taucht dieses Moment in der Figur der Prostituierten Yvette auf, die in entscheidenden Szenen den Gegenpart zu Anna Fierling spielt. So versucht sie etwa, die Mutter zur Zahlung des Lösegeld für ihren Sohn zu bewegen und dessen Freilassung zu vermitteln. So begegnet sich die Courage in ihrem Alter Ego wieder. Gerade weil Yvette keine Kinder hat, kann sie sich Güte leisten und ist nicht zur kalten, rationalen Kalkulation gezwungen. Anders als im Guten Menschen von Sezuan begegnen hier die beiden Personifizierungen eines Individuums einander auf der Bühne – und scheitern. Das Stück Der gute Mensch von Sezuan (1938 bis 1941) verhandelt nun ausdrücklich, wie die äußeren Kräfte die Person in zwei Figuren spalten, die gütige Shen-Te und ihren rücksichtslosen Vetter Shui Ta. Die zwei komplementären Verhaltensweisen werden „in einem sozio-ökonomischen Modell“ (Thomsen et al. [2006] 272) erprobt. Die egoistische Haltung, die notwendig ist, um in der Gesellschaft Erfolg zu haben, zumindest aber überleben zu können, und die altruistische Haltung der Güte sind unvereinbar und der Konflikt zwischen ihnen ent-zweit die Person: Die beiden Figuren Shen-Te und Shui-Ta werden von derselben Darsteller*in gespielt und treten nie gleichzeitig auf. Auch sind die Erfahrungen der einen Figur für die andere folgenlos. In dieser Konstellation wird das Kollektiv der Mutter Courage auf seine zwei wesentlichen Momente reduziert: Die kalte, kalkulierende Mutter und einfältige, gütige Kattrin. Die Bewegung der Kollektiv-Einheit Shen-Te-Shui-Ta wird in einem Experimentalfeld verfolgt, das aus zwei widersprüchlichen Fragestellungen besteht: Der Forderung nach gütigem Handeln unter unmenschlichen Bedingungen. Drei Götter begeben sich auf die Suche nach einem guten Menschen. Ihre letzte Hoffnung setzen sie auf „die Prostituierte Shen Te, die kann nicht nein sagen“ (Brecht [88ff] Bd. 6, 181). Sie wird mit Kapital ausgestattet und bekommt gleichzeitig die Anweisung, „Gut zu sein und doch zu leben.“ (Brecht [88ff] Bd. 6, 275) Shen Te investiert in einen Tabakladen und gerät rasch in den Konflikt zwischen ökonomischem und moralischem Überleben. Dreimal wird dieser Konflikt gelöst, indem sich Shen-Te in Shui-Ta verwandelt. Die Fragestellungen „Güte“ und „Überleben“ sind komplementär und erzeugen zwei verschiedene Entitäten. Bei der zweiten Verwandlung wird der Wechsel der Masken offen gezeigt, sodass die Superposition der beiden Zustände für kurze Zeit sichtbar wird. Die Götter agieren als Experimentatoren: Sie setzen den Prozess in Gang, indem sie Shen-Te mit Geld versorgen und einen Auftrag erteilen, sie haben in der
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Figur des Wang auch einen Berichterstatter, durch den sie Informationen über den Verlauf erhalten. Allerdings beharren die Götter auf einer Position, die ihren eigenen Einfluss als Beobachter ignoriert: „Ihr Wesen verbietet [...] das Eingreifen in jeglicher Form.“ (Thomsen et al. [2006] 275) Sie behaupten von sich: „Wir sind nur Betrachtende.“ (Brecht [88ff] Bd. 6, 242) Aus dieser Position kommen sie am Ende des Stücks zu dem Schluss, dass noch gute Menschen existieren und sehen von der Veränderung der Welt ab. Die Götter ignorieren nicht nur den eigenen Einfluss, sondern auch die sozialen Verhältnisse. Thomsen, Müller und Kindt vermuten, dass in diesem Stück die Zuschauer*innen nicht die Handlungen She-Tes und Shui-Tas kritisieren sollen, sondern die Kommentarebene der Götter – also die Haltung der Beobachter*innen, die nur passive Betrachter*innen sein wollen. Anders als die Götter ist das Publikum unmittelbar über die Vorgänge informiert: Es kennt die Identität der beiden Haltungen die von Shen-Te und Shui-Ta gegenüber den äußeren Feldern eingenommen werden. Am Ende des Stückes weist Shen Te die Götter auf ihre Identität mit Shui Ta hin, darauf also, dass sie sich im Experimentierfeld ganz anders verhält als in dem Feld, dem sie allgemein unterliegt. Die Urteile der Götter waren falsch, was das Publikum bereits weiß. Zwischen 1938 und 1945 entstehen mehrere Fassungen des Leben des Galilei, in dessen Zentrum die soziale Bedingtheit der naturwissenschaftlichen Beobachtung und ihre Rückwirkung auf die Gesellschaft stehen. Das Stück und seine Beziehung zu Brecht wie auch der Quantenmechanik wird in Kapitel 4.2 ausführlicher besprochen. Mit Galileo Galilei „kehrt [...] das in der Lehrstückphase entthronte ›große Individuum‹ in Brechts dramatisches Werk zurück“ (Thomsen et al. [2006] 209), bezeichnenderweise als Physiker. Er scheint zunächst keinem größeren Kollektiv anzugehören. Doch unter dem Druck der Inquisition wird deutlich, dass seine Individualität aus zwei Quellen resultiert, die sich nicht mehr vereinbaren lassen: Sein leibliches Wohl kollidiert mit seiner wissenschaftlichen Haltung. Der Widerruf seiner heliozentrischen Lehre erspart ihm die Folter und sichert ihm gutes Essen, doch durch die Aufgabe der Wahrheit wird er aus dem wissenschaftlichen Kollektiv ausgeschlossen. Galileis Widerruf wird im Lauf der Bearbeitung des Stückes immer schärfer kritisiert. Über die erste Fassung konnte Benjamin noch schreiben: Nicht auf dem Widerruf Galileis liegt der Hauptakzent des Stücks. Vielmehr ist der wirklich epische Vorgang in dem zu suchen, was aus der Beschriftung des vorletzten Bilds ersichtlich ist: »1633–1642. Als Gefangener der Inquisition setzt Galilei bis zu seinem Tode seine wissenschaftlichen Arbeiten fort. Es gelingt ihm, seine Hauptwerke aus Italien herauszuschmuggeln.« (Benjamin [1971] 33)
1944 lässt Brecht diese Entschuldigung nicht mehr gelten: „g[alilei] zerstörte schließlich nicht nur sich als person, sondern auch den wertvollsten teil seiner wissenschaftlichen arbeit.“ (Brecht [1973] 646)
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Parallel zu der ersten Fassung des Galilei arbeitet Brecht an einem Roman über Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar (1938–39). Der auf sechs Bände ausgelegte Text bleibt jedoch ein Fragment. Thematisiert wird das Verhältnis zwischen dem Einzelfall der individuellen Biographie und der Gesetzmäßigkeit historischer Prozesse. Wurde in den Lehrstücken das Individuum auf seine „kleinste Größe“ reduziert, so entfaltet Brecht im Cäsar das große Individuum in seinen komplexen Zusammenhängen. Einerseits beschreibt der Roman den Niedergang des Römischen Reiches: Die Sklaven („sie machten zwei drittel der bevölkerung italiens aus“ (Brecht [1973] 11) machen die Einführung von Maschinen in den Produktionsprozess unrentabel. Die Produktionsverhältnisse sind zu „Fesseln“ der Produktivkräfte geworden (Marx [1970b] 5035). Im Arbeitsjournal notiert Brecht: „überdies war die sklaverei in dieser epoche bereits ein hemmschuh für den weiteren ‚fortschritt‘.“ (Brecht [1973] 11) Jan Knopf liest aus der Handlung ab, dass Brecht in dem Roman nicht den Automatismus der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten zeigen will. Es ist der feudale kulturelle Überbau, welcher verhindert, dass die Sklavenhaltergesellschaft aufgegeben wird. Tatsächlich lautet Brechts Notiz weiter: all dies gerede davon, daß man sklaven brauchte, weil man keine maschinen hatte, ist ja so oberflächlich und unbegrenzt! man bekam schließlich auch keine maschinerie, weil man sklaven hatte. und wer ist ›man‹? brauchten die sklaven die sklaverei, weil sie keine maschinen hatten? (Brecht [1973] 11)
Die Haltung der „city,“ die auf der Sklavenhaltergesellschaft beharrt, führt zum wirtschaftlichen Ruin, weil sie die technisch bereits mögliche Einführung neuer Produktionsmittel verhindert: „im Krieg übrigens wendeten die Römer bereits recht komplizierte Maschinen an.“ (Knopf [1984] 391) Die gesellschaftlichen Vorgänge setzen sich also keineswegs von selbst, mit gesetzmäßiger Notwendigkeit durch, sondern werden zwischen komplexen Interessengruppen ausgefochten. Ein Teil dieses subjektiven Faktors ist Cäsar, dessen Aufstieg zum Diktator im Roman beschrieben wird. Julius Cäsar konstituiert sich als Individuum gerade in seinen „geschäftlichen Mißerfolgen.“ (Knopf [1984] 391) Durch seine gewaltigen Schulden ist er an zahlreiche Kollektive gebunden, die ihn mit „enormen Spekulationsbeträgen“ ausgestattet hatten. Cäsar mag ein Individuum sein, im Gegensatz zum Menschen in seiner kleinsten Größe. Aber er ist keinesfalls frei. Er steht im Schnittpunkt vieler Geschäftsinteressen und erhält nur aus diesem Grund wichtige politische Funktionen. (Knopf [1984] 392) Der große Imperator ist zunächst eine große Investition, und seine Individualität besteht darin, eine gute Investition zu sein: Das Individuum Cäsar, das in der bürgerlichen Historiographie als der große Geschichtsmacher auftritt [...] objektiviert sich nach Brecht allein in seinen Geschäften: nur in der
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Teilbarkeit, in der Dividualität, manifestiert sich die Individualität des großen Gaius. (Knopf [1984] 396)
Während der moderne Roman die Abbildung der Realität vollständig aufgibt, setze sich bei Brecht, so meint Knopf, „die äußere Realität“ (Knopf [1984] 395) durch. So einfach wie Knopf das an dieser Stelle formuliert, funktioniert das aber bei Brecht nicht: Die „Fakten“ (Knopf [1984] 395) sind keineswegs unabhängig von der Fragestellung. Knopf interpretiert auch Brechts „Analogie zur Mikrophysik“ (Knopf [1984] 395) anders als ich es vorschlage. Es gehe Brecht nicht darum, dass die Beobachtung selbst in den Erkenntnisprozess eingeht, sondern darum, „daß ‚Einzelnes‘ sich offenbar der direkten Abbildung entzieht, weil es in Zusammenhängen steht, die sich einfacher Abbildung entziehen.“ (Knopf [1984] 395) Ich denke aber, dass die Metapher von Heisenbergs Mikroskop zeigt, dass diese Interpretation zu kurz greift: Einer der Zusammenhänge, in dem „Einzelnes“ bei der Abbildung steht, ist eben der Abbildungszusammenhang.
4 Schnittmengen Ein Blick in Bertolt Brechts Biographie zeigt die zahlreichen Schnittpunkte seines Lebens mit der Entwicklung der Quantenmechanik. Das epische Theater und die neue Physik entstehen im sozialen, kulturellen und historischen Umfeld der ökonomischen und politischen Krisen der Weimarer Republik, geprägt von den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, dem Sturz der Monarchie und der Niederschlagung der Rätebewegung. Der Schriftsteller und ein Großteil der Physiker*innen flüchten nach der Übergabe der Macht an die Nationalsozialist*innen, teilen die Erfahrung des Exils und finden sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Abwurf zweier Atombomben aufgeteilt in die beiden Lager des Kalten Krieges. Die Biographie wird dabei nicht um ihrer selbst willen dargestellt: Yet our point is not that this life is thereby interesting, however difficult it may have been for the one who had to live it, but rather that each of these layers crystallized a series of works and expressions, or organized a stream of fragments around itself. (Jameson [1998] 7)
Die Protagonist*innen dieser Arbeit bilden die Knotenpunkte der gesellschaftlichen Verhältnisse, Diskurse und historischen Entwicklungen, in welchen Quantenmechanik und Episches Theater miteinander in Beziehung treten. Teile des folgenden Kapitels wurden in leicht veränderter Form in Mairhofer [2010] publiziert.
4.1 Das Leben des B.B. und die Quantenmechanik Bertolt Brecht wird 1898 in Augsburg geboren, beginnt bereits als Jugendlicher Gedichte und Zeitungsartikel zu schreiben und verfasst ein kurzes Drama, Die Bibel. (Völker [1976] 10ff.) Gegen Ende des Ersten Weltkrieges wird er als Hilfssanitäter eingezogen. Mit dem Stück Trommeln in der Nacht hat Brecht 1922 seinen ersten Bühnenerfolg. Im selben Jahr erhält er den Kleist-Preis, die wichtigste Auszeichnung für Dramatiker in der Weimarer Republik. 1923 erlebt Brecht während der Probenarbeiten zum Leben des Eduard II. den Hitler-Ludendorff-Putsch in München (Reich [1970] 251) und beschließt, rasch nach Berlin zu übersiedeln. Brecht arbeitet eng mit Schriftstellern wie Lion Feuchtwanger und Komponisten wie Kurt Weill und Hanns Eisler zusammen. Er entwickelt eine kollektive Arbeitsweise, bei der zahlreiche Mitarbeiter*innen an den Projekten beteiligt sind. Brecht hat offen polyamorös gelebt und mit vielen seiner Kollaborateurinnen eine Liebesbeziehung geführt. Zu ihnen gehören neben Helene Weigel unter anderem die Schauspielerin Carola Neher, Elisabeth Hauptmann, Margarete Steffin, die für lange Zeit die engste https://doi.org/10.1515/9783110546354-004
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Vertraute Brechts ist, und im Exil auch die dänische Schauspielerin Ruth Berlau. 1919 bringt seine junge Geliebte Paula Banholzer Brechts ersten Sohn Frank zur Welt, der von seinem Vater getrennt aufwächst und im Zweiten Weltkrieg als Soldat der Wehrmacht ums Leben kommt. 1922 heiraten Brecht und die Schauspielerin Marianne Zoff, kurz darauf kommt ihr gemeinsames Kind Hanne zur Welt. 1929 gehen Brecht und die Schauspielerin Helene Weigel, mit der er bereits seit 1924 eine Beziehung führt, eine Ehe ein. Brecht und Weigel haben zwei Kinder, Barbara und Stefan, und bleiben ihr Leben lang verbunden. (Knopf [2006] 11–70) Spätestens ab 1926 beginnt Brecht sich mit logischem Empirismus und Marxismus auseinanderzusetzen. Möglicherweise hat bereits davor Asja Lacis einen Einfluss in diese Richtung ausgeübt (Pachner [2008] 59ff.). Brecht studiert zunächst Marx’ Kapital und setzt sich mit dem Künstler Sergej Tretjakov und dem Soziologen Fritz Sternberg auseinander. (Völker [1976] 124, 159) Karl Korsch gilt dabei als Brechts wichtigster Ansprechpartner zu Fragen des Marxismus. In der Folge besucht er Einführungskurse in den Marxismus an der Berliner Marxistischen Arbeiterschule, wo er auch zwei Vorträge Albert Einsteins hört. Die zunehmende Repression führt dazu, dass sich viele Studienzirkel in Privatwohnungen verlagern. Ab Ende 1931 finden solche Treffen in den Wohnungen von Brecht und von Karl Korsch statt, an denen auch der Schriftsteller Alfred Döblin teilnimmt. (Völker [1976] 181) Trotz seiner intensiven Beschäftigung mit dem Marxismus war Brecht nie Mitglied einer Partei. Gleichzeitig beginnt Brecht, eine eigene ästhetische Theorie zu entwickeln, die er während seiner Arbeit an dem Stück Mann ist Mann erstmals als Episches Theater bezeichnet (Völker [1976] 123). Seine Konzepte sind stark von Walter Benjamins Überlegungen beeinflusst. Brechts Bruch mit dem klassischen Theater bildet den wahrscheinlich wichtigsten Ausgangspunkt des modernen postdramatischen Theaters (Lehmann [2008] 47ff.). Als der deutsche Reichspräsident von Hindenburg 1933 mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler der NSDAP die Macht übergibt, ist Brecht alarmiert. Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand verlässt er Deutschland, die Koffer waren bereits gepackt. (Völker [1976] 184) Brecht flüchtet über Prag, Wien, die Schweiz und Paris, bevor der Dichter mit seinem Kollektiv Ende 1933 in Dänemark für einige Zeit eine gewisse Ruhe findet. (Engberg [1974] 13–18) Sie lassen sich in einem großen Haus auf Svendborg nieder, dessen strohgedecktes Dach es zu einiger Berühmtheit gebracht hat. In Kopenhagen war zu dieser Zeit ein Großteil des Wissens und der Forschung zur Quantenmechanik konzentriert. Die deutschsprachige Naturwissenschaft war nach dem Ersten Weltkrieg von den Siegermächten gezielt isoliert worden. So entwickelte sich die Quantenmechanik in der Weimarer Republik in einem relativ abgeschotteten und eigenständigen Denkzirkel. Dänemark hatte in dieser Situation
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eine einzigartige Schnittstelle gebildet – nicht zufällig wird der erste Versuch einer physikalischen Interpretation des quantenmechanischen Formalismus als „Kopenhagener Interpretation“ bezeichnet: Über Kopenhagen fanden auch Verbindungen zu den Physikern der andren Staaten statt, die sonst wegen des Boykotts nur schwer mit den deutschen Wissenschaftlern verkehren konnten. Wahrscheinlich haben gerade die Behinderungen dazu geführt, daß Informationen über die verschiedenen Entwicklungen auf dem Gebiet der Atomphysik sich hier in Kopenhagen konzentrierten und schnellstens aufeinander abgestimmt werden konnten. (Meyenn [1994] 33)
Nicht nur Brecht, auch ein Großteil der innovativen Physiker*innen wurde vom Nationalsozialismus in die Emigration gezwungen. Dies hat die Entwicklung der Quantenmechanik in Deutschland abrupt beendet, auch wenn um Planck, von Weizsäcker und Heisenberg eine Gruppe von Quantenphysiker*innen in Deutschland verblieb. Vermutlich im Jahr 1934 hat Brecht die Haltung des faschistischen Regimes gegenüber der neuen Physik im Gedicht Als wir marschierten kommentiert: Und wenn es nicht auf Drill geht Dann bleibt es nur ein Vieh Feldwebel brüllen und stillsteht Die Quantentheorie (Brecht [88ff] Bd. 14, 251)
Nach dem Zusammenbruch der Forschung in Deutschland hat Dänemark für einige Jahre das Zentrum der Quantenmechanik gebildet. In Kopenhagen befand sich das Institut unter der Leitung des Nobelpreisträgers Niels Bohr, der ähnlich wie Planck und Einstein noch vor der mathematischen Formulierung der Quantenmechanik mit seinem Atommodell wesentlich zur neuen Physik beigetragen hatte. Etwa 30.000 Exilant*innen nutzten Dänemark als Brückenkopf zur Weiterreise in ein sicheres Land (Dähnhardt und Nielsen [1988] 14). Niels Bohr war im Vorstand des Den danske Komit tu Støtte fer landflygtige Aandsarbejdere (Dänischen Komitees zur Unterstützung geflüchteter Geistesarbeiter) aktiv (Dähnhardt und Nielsen [1988] 23). Auch die Arbeit am physikalischen Institut der Kopenhagener Universität wurde von diesem Flüchtlingsstrom nachhaltig beeinflusst. Eine der geflüchteten Geistesarbeiter*innen ist die österreichische Physikerin Lise Meitner, in der Wiener Heinestraße geboren, bloß ein paar Häuser von meinem Schreibtisch entfernt. Lise Meitner bricht 1938 ihre Arbeit am KaiserWillhelms-Institut für Chemie in Berlin ab, um überhastet das Land zu verlassen. Als theoretische Physikerin war sie an den Versuchen der Chemiker Otto Hahn und Fritz Straßmann beteiligt. So wie in mehreren führenden Forschungsgruppen in Europa wurden hier Uranatome mit Neutronen bestrahlt. Das Neutron war erst
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1932 entdeckt worden (Caufield [1989] 44). Damit stand ein Teilchen zur Verfügung, das in den Atomkern eindringen kann, ohne von der elektromagnetischen Abstoßung der Protonen aufgehalten zu werden. Die Experimente hatten zum Ziel, durch das Einfangen der Neutronen durch die Urankerne Elemente zu erzeugen, welche schwerer als Uran waren – Transurane. Dass bei dem Zusammenstoß mit dem Neutron der Kern „zertrümmert“ werden könnte, ist noch undenkbar. Ernest Rutherford, der selbst die Teilbarkeit der Atome in Kern und Elektronenhülle nachgewiesen hat, erklärt diese Möglichkeit für „meerest moonshine.“ (Dotzler [2004]) 150) Leo Szilard, der später so wesentlich zur Entwicklung des US-amerikanischen Atombombenprogramms beiträgt, dass er als „Vater der Atombombe“ bezeichnet wird, erhält keinen Laborplatz, als er diese Möglichkeit erforschen will (Dotzler [2004] 151). Als die junge Physikerin Ida Noddack 1934 die These formuliert, dass es sich bei den „Verunreinigungen“ die bei den Experimenten Fermis auftraten, um Fragmente der Uranatome handelt, werden ihre Überlegungen nicht publiziert (Caufield [1989] 44). Es ist daher einigermaßen erstaunlich, dass Brecht dem in Kapitel 3.3.2 bereits zitierten Fragment Über die deutsche revolutionäre Dramatik, das auf 1935 datiert wird, über „Methoden zur Zertrümmerung der Atome in der Physik“ schreibt. (Brecht [1967] Bd. 15, 234f) Er bezieht sich dabei, so vermute ich, auf die Kritik Ernst Machs an der Annahme der Existenz von Atomen und auf die Erkenntnis, dass die Atome nicht die kleinsten Objekte sind, sondern selbst aus Elektronen, Neutronen und Protonen bestehen. Auch im Labor des Kaiser-Willhelms-Instituts analysieren die Chemiker*innen, welche Elemente bei der Bestrahlung aus dem Uran entstanden sind. Sie erwarten, Radium zu finden, das schwerer als Uran ist. Aber ihre Analysen zeigen das viel leichtere Barium, welches sich noch dazu als radioaktiv erweist. Kurz nachdem Lise Meitner geflüchtet ist, publizieren ihre Kollegen Straßmann und Hahn die Entdeckung des Bariums, ohne seine Entstehung physikalisch erklären zu können. In Kopenhagen bekommt Meitner von Bohr die Mittel zur Verfügung gestellt, weitere Experimente durchzuführen. Die Physikerin erkennt rasch, was die Ergebnisse bedeuten. Damals wurde mit einem Konzept des Atomkerns gearbeitet, das auf einem Modell von Bethe und von Weizsäcker beruht, in welchem der Kern wie ein Tropfen Flüssigkeit beschrieben wird. Zwischen den Bausteinen der Atomkerne müssen enorme Bindungsenergien wirken, um zu verhindern, dass diese Kerne aufgrund der elektrostatischen Abstoßung der positiv geladenen Protonen auseinanderbrechen. Allerdings haben diese Bindungskräfte nur eine kurze Reichweite, denn sie können außerhalb des Kerns nicht festgestellt werden. In Meitners Modell wird der Flüssigkeitstropfen beim Zusammenstoß mit dem Neutron in heftige Schwingungen versetzt. Dabei kann der Abstand zwischen einzelnen Bereichen so groß werden, dass die Bindungskräfte mit ihrer geringen Reichweite die abstoßenden Kräfte nicht mehr kompensieren können und der Kern fragmentiert.
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Nicht nur an Niels Bohrs Institut in Kopenhagen beginnen unverzüglich die Experimente mit Uranisotopen. Entscheidend ist nun die Frage, ob es möglich ist, dass beim Auseinanderbrechen der Kerne Neutronen freiwerden, die selbst wieder zur Spaltung weiterer Atome führen. 1939 zeigen Forscher*innen unter der Leitung von Fermi und Szilard in den USA, dass eine solche Kettenreaktion theoretisch möglich ist, und Irène und Frédéric Curie kommen in Paris zum gleichen Schluss (Caufield [1989] 45). Im März des gleichen Jahres wird in den Experimenten nachgewiesen, dass bei der Spaltung eines Urankerns durch den Zusammenstoß mit einem Neutron mehr Neutronen freigesetzt als absorbiert werden. So kann es zu einer Kettenreaktion kommen, bei der sich die Kernspaltung selbst aufrecht erhält. Im jenem Jahr, als die Wehrmacht in der Tschechoslowakei einmarschiert, wird die enorme Bindungsenergie zwischen den Bestandteilen des Atomkerns für die Nutzung durch den Menschen zugänglich. Während 1939 noch über 100 wissenschaftliche Artikel zu dem Thema publiziert wurden (Caufield [1989] 45), wird die weitere Forschung zur Geheimsache (Simonyi [1990] 498). Über der Wissenschaft geht der „Uraniumvorhang“ (Brecht [1967] Bd. 20, 338) nieder. So hat Brecht ausgedrückt, was einen ganzen Weltkrieg später offensichtlich wurde: Das Wissen um die Atomphysik war zu einem Staatsgeheimnis geworden und 1939 begann der Kalte Krieg um die Atombombe. Bei ihrer Entwicklung spielen viele der aus Deutschland emigrierten Physiker*innen eine entscheidende Rolle. Als die Nachricht von der sich selbst erhaltenden Kettenreaktion bei der „Atomzertrümmerung“ um die Welt geht, hat Brecht soeben die erste Fassung seines Dramas Das Leben des Galilei fertiggestellt. Er notiert: Vor dem Krieg erlebte ich vor dem Radioapparat eine wahrhaft historische Szene: Das Institut des Physikers Niels Bohr in Kopenhagen wurde interviewt über eine umwälzende Entdeckung auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung. (Brecht [1967] Bd. 15, 295f)
Es ist umstritten, ob Brecht von der Kernspaltung bereits beim Verfassen des Leben des Galilei gewusst hat. Marianne Kästing stellt einen solchen Zusammenhang als eindeutig dar. (Kästing [1959] 91) Jan Knopf opponiert heftig gegen diese Möglichkeit und weist darauf hin, dass die Experimente erst nach der Fertigstellung der ersten Fassung des Galilei publik wurden. (Knopf [1996] 186f) Dies ist sicherlich richtig. Andererseits berichtet aber Brechts Mitarbeiterin Ruth Berlau, dass Brecht während seiner Arbeit am Stück Niels Bohr getroffen hat und von Assistenten des Physikers beraten wurde. (Bunge [1985a] 98) Dabei könnte Brecht wohl von den erfolgreichen Experimenten erfahren haben. Diese Diskussion scheint heute für die Einschätzung des Galilei nicht mehr so wichtig zu sein. Sie ist entstanden, als Brecht nach dem zweiten Weltkrieg in der Friedens- und Abrüstungsbewegung
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aktiv wurde und den Galilei zu einer Allegorie auf das Atomzeitalter zuspitzte, „juxtaposing Galileo and Oppenheimer ...“ (Jameson [1998] 16) 1939 flüchtet die Gruppe um Brecht vor den deutschen Truppen aus Dänemark zunächst nach Schweden und kurz darauf nach Finnland, wo sie von der Schriftstellerin Karin Michaelis aufgenommen werden. In den Flüchtlingsgesprächen reflektiert Brecht seine Situation. Die „Vorgänge auf dem Weizenmarkt in Chicago“ gemeinsam mit jenen „im Kriegsministerium in der Berliner Bendlerstraße“ hatten inzwischen zur Umstellung der deutschen Ökonomie auf Kriegswirtschaft, Aufhebung des parlamentarischen Systems, Verbot sämtlicher Arbeiter*innenorganisationen, organisiertem Terror gegen politische Gegner*innen, Jüd*innen, Roma und Sinti, Homosexuelle und Behinderte sowie zur Einrichtung der Konzentrationslager und Folterkammern der Gestapo und zum nächsten Weltkrieg geführt. Im letzten Moment erhält Brecht 1941 für sich, seine Familie und seine Mitarbeiterinnen Visa für die USA. Innerhalb weniger Tage wird die Sowjetunion mit der transsibirischen Eisenbahn durchquert. Dabei bleibt Brechts Kollaborateurin Margarete Steffin, die seit Jahren an Tuberkulose leidet, schwer krank in Moskau zurück und stirbt, noch bevor Brecht Wladiwostok erreicht. Von dort setzt das Kollektiv auf dem Frachter Anni Johnson nach Los Angeles über – unmittelbar bevor der Kriegseintritt der USA auch diese Passage unmöglich gemacht hat. Aus der Kälte Skandinaviens kommt Brecht in Hollywood in die Hitze der kalifornischen Spielhölle, wo er verzweifelt versucht, seine Arbeit zu verkaufen. Nach dem Kriegseintritt der USA wird Bertolt Brecht als enemy alien, später sogar als Sicherheitsrisiko eingestuft und massiv vom FBI überwacht. (Lyon [1980] 314f) Er wird aber auch von anderen Exilant*innen bespitzelt, etwa von dem Publizisten Friedrich Torberg, der später einen jahrelangen Boykott der Stücke Brechts in Österreich durchgesetzt hat. (Palm [2006] 161-163) Die merkwürdige Verknüpfung der Biographie Brechts mit der Atomphysik hat einen Strom von Fragmenten um sich herum organisiert zu dem Drama Das Leben des Galilei.
4.2 Die Atomphysik und Das Leben des Galilei Die Fabel des Dramas berichtet von den Erfahrungen der Physik mit dem Exil, die auch die Ziffel-Figur in den Flüchtlingsgesprächen thematisiert. Der Physiker Galileo Galilei lebt zunächst in der freien Stadt Venedig, wo sein Gehalt an der Universität aber nicht ausreicht, um sein Leben zu finanzieren. Er ist gezwungen, Privatunterricht zu geben. Hier kann er zwar frei über seine Forschungsergebnisse sprechen, aber es fehlen ihm die Mittel diese Forschungen auch zu betreiben.
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So verlässt der Physiker Venedig und zieht nach Florenz, wo er eine gut dotierte Anstellung erhält. Allerdings steht diese Stadt unter der Kontrolle der Kirche. Bereits in Venedig hatte einer seiner Schüler Galilei von der Erfindung des Fernrohres berichtet. Galileo Galilei hat dieses Wissen rasch zu Geld gemacht, indem er sich als dessen Erfinder ausgab. Nach diesem erfolgreichen Plagiat richtet der Physiker das neue Instrument nun auf den Himmel und entdeckt Unglaubliches: Auf dem Mond findet er Gebirge und Täler, also eine Landschaft, die der Erde gleicht. Und er sieht Monde, welche um andere Planeten kreisen. Nach dem damals herrschenden ptolemäischen Weltbild ist das aber völlig unmöglich. Es kommt zu einer Auseinandersetzung mit der kirchlichen Obrigkeit, welche die Möglichkeit der Entdeckungen Galileis bestreitet. Die Denkstile prallen aber nicht auf einem bloß akademischen Feld aufeinander: Es erweist sich bald, dass die Folterinstrumente der Inquisition ein wesentlich stärkeres Argument darstellen als die neuen optischen Instrumente der Physik. Galilei widerruft öffentlich seine Erkenntnisse und fügt sich dem kirchlich verordneten Schweigen. Er wird unter Hausarrest gestellt und verbringt seinen Lebensabend sattgegessen und gut bewacht. Der Physiker, der die physis studiert, ist mit der Gesellschaft zunächst unmittelbar über seinen Leib verbunden. Die Körperlichkeit Galileis, sein Hunger nach Genuss, zeichnet ihn als Physiker aus. Brecht bemerkt zu den Entwürfen für das Bühnenbild des Stückes: „der galilei selber ist ziemlich falsch, da viel zu ätherisch, das, was man sich gemeinhin unter einem sterngucker vorstellt, er müßte dick, sokratisch häßlich, auf festen beinen stehend, ein physiker sein.“ (Brecht [1973] 179) Gerade seine Körperlichkeit bringt den Physiker nun in Konflikt mit der Wissenschaft. Bereits in der Fassung die in Dänemark entstand macht sich Galilei wegen seines Verrats an der gesellschaftlich-revolutionären Funktion seiner Erkenntnisse schwere Vorwürfe: Das neue Denken über die physikalischen Objekte und ihre Beziehungen hätte es auch erlaubt, die Beziehungen der Menschen neu zu denken. Zentrale Aussage des Stückes ist: „Wer die Wahrheit nicht weiß, ist bloß ein Dummkopf. Aber der sie weiß und sie eine Lüge nennt, ist ein Verbrecher.“ (Brecht [88ff] Bd. 5, 90) Das Stück endet jedoch nicht mit dieser Selbstanklage. Es zeigt sich, dass Galileis Rückzug keineswegs nur eigennützig war. Am Schluss des Stückes verabschiedet sich Galileis Schüler Andrea von seinem alten Lehrer. Da überlässt Galilei ihm sein neues Buch, die Discorsi, in dem er zum Sturm auf das alte Weltbild bläst. Er bittet seinen Schüler dieses revolutionäre Werk über die Grenze zu bringen und in Europa zu verbreiten. „[N]och erscheint das weitergegebene Wissen [...] wichtiger als der wissenschaftliche Verrat.“ (Knopf [1996] 186) Der Intellektuelle darf unter bestimmten Bedingungen in die (innere) Emigration gehen, statt sich für das Kollektiv zu opfern – eine Verhandlung auch der eigenen Erfahrungen Brechts
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im Exil. Als Andrea Italien verlässt, notiert der Grenzwächter: „Ausreisegrund: Gelehrter.“ (Brecht [88ff] Bd. 5, 107) Brechts Galilei wurde 1943 am Zürcher Schauspielhaus von Schauspieler*innen, die vor dem nationalsozialistischen Regime geflüchtet waren, uraufgeführt. Kurz nach dieser Weltpremiere hat Brecht mit der Arbeit an einer zweiten Version des Stückes begonnen. Das Schweigen der Wissenschaftler*innen wird nun zum zentralen Thema. Galilei hatte sich der kirchlichen Obrigkeit unterworfen und seine Erkenntnis, dass sich die Erde um die Sonne dreht, öffentlich widerrufen. Brecht vergleicht dieses Verhalten mit jenem der Atomphysiker*innen, die nun unter strenger Geheimhaltung weiterarbeiteten: Lange bevor die Physik ihr Wissen um das Atom verschwieg (wie weiland ihr Erzvater Galilei sein Wissen um die Erddrehung), hatte die Technik den großen Maulkorb akzeptiert. (Brecht [1967] Bd. 19, 487)
Im Dezember 1944 beginnt Brecht, mit dem erfolgreichen Hollywood-Schauspieler Charles Laughton den Galilei Szene für Szene zu spielen. Im Zug dieser Dramatisierung wird der Text ins Englische übertragen. Mit einigen Pausen und Unterbrechungen nimmt die Arbeit an der englischen Version die nächsten dreieinhalb Jahre in Anspruch. (Brecht [1973], 714, 747, 755, 765; Lyon [1980] 171–173) Etwa 900 Meilen von Brechts Werkstatt in Santa Monica entfernt arbeiten die Physiker*innen in Los Alamos an jenem großen physikalischen Experiment, das den Prototyp des wissenschaftlichen Arbeitens im Zeitalter der Quantenmechanik bildet: Dem Bau der Atombombe. In kaum eineinhalb Jahren entwickelte sich aus einer universitären Forschungsgruppe mit 45 Beteiligten das Manhattan Project, „the biggest engineering task ever undertaken.“ (Caufield [1989] 47) Unter militärischer Leitung entsteht eine gewaltige industrielle Operation mit 40.000 Mitarbeiter*innen und einem Budget von zwei Milliarden Dollar (Caufield [1989] 47). Bei der Übersetzung des Galilei wird nun im Stück selbst die Übersetzung ein zentrales Thema – die Übersetzung der Beziehungen der Planeten in soziale Beziehungen. Damit verschärft sich die Frage nach der Rolle, die Intellektuelle in der Gesellschaft spielen. Es wird deutlich, so schreibt Brecht, dass außer dem thema, daß in dieser gesellschaftsform wissensdurst zu einer lebensgefährlichen eigenschaft wird [...], noch ein anderes erscheint, nämlich der entscheidende unterschied zwischen dem „reinen fortschritt einer wissenschaft“ und ihrem sozial revolutionären fortschritt. (Brecht [1973] 747)
Als 1945 die Arbeit an der Übersetzung weitgehend abgeschlossen ist, werden die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen und hunderttausende
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Menschen getötet. Brechts Reaktion ist gewohnt trocken; am 10. September, einen Monat nach der Explosion der Bomben, notiert er im Arbeitsjournal: die atombombe, mit der die atomarische energie sich zeitgemäß vorstellt, berührt die „einfachen leute“ als lediglich furchtbar. [...] (für einen augenblick befürchtet laughton ganz naiv, die wissenschaft könne dadurch so diskreditiert werden, daß ihre geburt ‚im galilei‘ alle sympathie verlöre). (Brecht [1973] 754)
Laughtons Befürchtung war keineswegs unbegründet. Die kritische Haltung der neuen Version wird mit der Atombombe brandaktuell. Das Wissen um den Einsatz der neuen Waffe mit einer Sprengkraft von hunderttausenden Tonnen TNT macht die Frage nach der „beziehung zwischen gesellschaft und wissenschaft zu einem leben-und-tod-problem“ (Brecht [1973] 755). Dieses „leben-und-tod-problem“ wird zu einem bestimmenden Moment der weiteren Arbeit Brechts. 1949 finden die ersten Atombombenversuche der Sowjetunion statt, und das Gleichgewicht des Schreckens ist hergestellt. Die Atomphysiker*innen werden wie Galilei gezwungen, ihr Wissen zu verschweigen im Sinne der Herrschaft ihres jeweiligen Regimes. Der Verdacht „Atomspionage“ zu betreiben, bedeutet akute Lebensgefahr, wie das tragische Beispiel des Ehepaars Rosenberg zeigt. Die beiden werden trotz weltweiter Proteste und obwohl sie unschuldig sind, 1953 in den USA hingerichtet. Brecht bemerkt dazu: Will in Zukunft ein Gelehrter den anderen in Lebensbedingungen bringen, die bisher nur Gefängnisinsassen kannten, braucht er ihm nur eine atomphysikalische Entdeckung nachzusagen. (Brecht [1967] Bd. 20, 338)
Während der kommenden fünfzig Jahre ist die Atombombe der wesentliche Akteur der Weltpolitik. Erst 1955 findet die erste Konferenz zur friedlichen Nutzung der Kernenergie statt, bei welcher die USA und die UdSSR einige grundlegende Daten veröffentlichen. (Simonyi [1990] 503) Doch das „leben-und-tod-problem“ der Beziehung von Gesellschaft und Wissenschaft bleibt auch in Friedenszeiten bestehen: Überall regnet der radioaktive Fallout der weltweit einsetzenden Atombombenversuche nieder. Im Februar 1955 lädt Brecht daher den Quantenphysiker Heisenberg ein, für das „Deutsche (ost-westliche) PEN-Zentrum“ einen Vortrag zu halten: „Thema: Nicht nur der Krieg, auch seine Vorbereitung ist jetzt tödlich geworden.“ (Brecht [88ff] Bd. 30, 306) Heisenberg lehnt die Einladung ab. Der Kreis um Brecht ist nach Kriegsende nicht sofort nach Europa zurückgekehrt, sondern blieb bis 1947 in den USA. Es war schwierig, die Papiere für die Heimkehr zu erhalten. Brechts Zögern hatte aber noch einen Grund. Er will das Leben des Galilei in den USA noch zur Aufführung bringen. Das Stück ist erfolgreich in Hollywood über eine kleine Bühne gegangen, die Premiere am Broadway steht
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bevor und die Visa für die Schweiz liegen bereit: Der Rückreise steht nichts mehr im Weg, da wird Brecht zu einer Aussage vor das House on Un-American Activities Committee (HUAC) vorgeladen. Die Folgen der Atombombe haben Brecht endgültig erreicht und er befindet sich nun mitten im Kalten Krieg. Der Ausschuss für unamerikanische Aktivitäten war bereits vor dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden. Nach 1945 wendet sich dieses Komitee einem neuen Gegner zu, dem Marxismus. In Hollywood geraten zahlreiche Künstler*innen in Verdacht, kommunistische Propaganda zu betreiben. Neunzehn Regisseure, Autoren, Schauspieler und Komponisten werden zum Verhör vorgeladen. Dabei wird auch die Frage nach der Mitgliedschaft in einer Kommunistischen Partei gestellt. Die Hollywood Ten verweigern darauf die Antwort und verweisen auf die US-amerikanische Verfassung, die ihnen Meinungsfreiheit garantiere. Diese Garantie erweist sich als fragil: Sie werden zu Haftstrafen von bis zu einem Jahr verurteilt. Aus dem gleichen Grund wird zum Beispiel auch der Quantenphysiker David Bohm verurteilt. Brecht verweigert die Antwort auf diese Frage nicht. Sie fällt deutlich aus: „No, no, no, no, never.“ (Lyon [1980] 333) Er sei ein Gast hier in den USA, argumentiert er seine Bereitschaft zur Aussage, daher könne er – im Gegensatz zu seinen Kollegen – die Gültigkeit der Verfassung nicht für sich beanspruchen. Den Rest seiner Antworten auf die einstündige Befragung gestaltet Brecht weniger klar. Sein ohnehin holpriges Englisch verschlechtert sich beim Gang in den Zeugenstand massiv. In den Medien wird jedoch seine Antwort auf die Frage nach der Parteizugehörigkeit als Kapitulation vor dem Ausschuss verkauft. (Lyon [1980] 322–335) Ruth Berlau erinnert sich, dass Brechts Aussage unter den Linken in den USA sehr kritisch aufgenommen wurde. (Bunge [1985a] 186) Am Tag nach dem Verhör steigt Bertolt Brecht in ein Flugzeug in die Schweiz und verlässt die USA für immer. Doch in dem Europa, in das Brecht zurückkehrt, waren neue Grenzen gezogen worden, welche bald die Fronten eines neuen, wenn auch kalten, Konfliktes werden sollten. Brechts lange Wanderung ist noch nicht zu Ende. „Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen“ heißt es in den Flüchtlingsgesprächen (Brecht [1967] Bd. 18, 197). Brecht wusste sehr gut, wovon er da schrieb: Von den Nazis ausgebürgert war er als Staatenloser von einem Land ins nächste geflohen. Nach dem Ende des Krieges ist Brecht begierig, nach 15 Jahren der Emigration endlich wieder an einem Theater zu inszenieren. Doch ohne Reisepass ist Brecht völlig von der Willkür der Behörden seines jeweiligen Gastlandes abhängig. Aufgrund seiner Ehe mit Helene Weigel und auf Betreiben des Komponisten Gottfried von Einem, der den Dramatiker für die Salzburger Festspiele gewinnen will, erhält Brecht 1950 die österreichische Staatsbürgerschaft. Seine Einbürgerung wird zum „größten Kulturskandal Österreichs.“ (Aktion, zit. nach Palm [1984] 82) Dieser „Kulturskandal“ bildet den Auftakt einer ersten breiten Kampagne gegen
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Brecht in Österreich. Brecht wird als „gefährlicher Agent“ (Linzer Volksblatt, zit. nach Palm [1984] 83) der Kommunist*innen bezeichnet und man warnt vor einer kommunistischen Unterwanderung der Kulturszene. Die regierenden Parteien SPÖ und ÖVP schieben sich gegenseitig die Schuld an Brechts Einbürgerung zu, von Einem wird plötzlich zur Schlüsselfigur einer Verschwörung – und aus den Salzburger Festspielen entfernt. Brecht sieht von einem weiteren Aufenthalt in Österreich ab und geht nach Ostberlin. Dort übernimmt er mit seinem Kollektiv die Leitung des Theaters am Schiffbauerdamm. Er engagiert sich gegen Aufrüstung und Krieg und stirbt im August 1956 an seinem Herzleiden.
5 Oszillationen An den – biographischen, sozialen, kulturellen, historischen – Schnittpunkten zwischen unterschiedlichen Wissensgebieten und Erkenntniskulturen entsteht ein lebhafter Austausch von Begriffen und Konzepten. In diesem Austausch kommen Begriffe bisweilen nach einer langen Wanderung durch andere Wissensgebiete wieder zurück in jenes Feld, in welchem sie zunächst geprägt wurden. Sie nehmen dabei die Erfahrungen ihrer Reise mit erproben ihre neuen und reicheren Bedeutungen nun in ihrem Ursprungsbereich. Dabei werden Erfahrungen gesammelt, die wiederum in andere Erkenntniskulturen übernommen werden. Die Begriffe und Konzepte fließen in diesem Austausch also nicht in eine einzige Richtung. Vielmehr oszillieren Sie zwischen den Wissensgebieten hin und her. Oszillationen beschreiben eine periodische Bewegung zwischen zwei oder mehreren Polen. Die Physiker*innen beschreiben mit diesem Begriff Schwingungen; das mathematische Modell des harmonischen Oszillators und das Modellsystem des Federpendels spielen in vielen Bereichen der Physik eine wichtige Rolle. So hat Heisenberg das Verhalten der Elektronen im Atom durch Zustände eines harmonischen Oszillators modelliert, wir können damit aber auch das Verhalten der Blattfedern berechnen, auf denen ein zwanzig Tonnen schwerer Güterwaggon über die Lücken zwischen zwei Schienen rumpelt. In der jüngeren Wissenschaftsforschung wird das Konzept der Oszillation verwendet, um einen Wechsel der Entscheidungskriterien in der Wissensproduktion zu beschreiben (Knorr-Cetina [2002] 77–82), es wird aber auch auf die Bewegung des Wissens zwischen den Disziplinen übertragen (Rheinberger [1997] 272). In diesem Sinne verwende ich auch hier den Begriff der Oszillation. Hans-Jörg Rheinberger betont, dass es bei diesem Wissenstransfer um ein „laterales Oszillieren zwischen verschiedenen Repräsentationsräumen“ (Rheinberger [1997] 272) geht, und nicht um eine Bewegung zwischen der Repräsentation und dem Repräsentierten. Allerdings zeigt sich im Folgenden, dass diese Oszillationen von Konzepten und Methoden zwischen den Wissensgebieten gravierende Verschiebungen in der Beziehung zwischen Symbol und Objekt hervorrufen. Diese Verschiebungen sind zu einem großen Teil der Neubestimmung der grundlegenden Entitäten und ihrer Beziehungen geschuldet. In diesem Kapitel wird die Oszillation von Begriffen und Methoden zwischen der Kunst und den Natur- und Sozialwissenschaften beschrieben. Die Begriffe des Feldes und des Kollektivs und die statische Methode spielen eine fundamentale Rolle sowohl in Brechts ästhetischen Konzepten als auch in der Quantenmechanik. Es zeigt sich, dass das Gespräch zwischen der Quantenphysik und dem epischen
https://doi.org/10.1515/9783110546354-005
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Theater Brechts auf gemeinsamen Begriffe, Methoden und Denkfiguren aufbaut. So wurde ein reger Austausch zwischen den beiden Wissensgebieten möglich. Das Konzept des Feldes wird in der Physik des 19. Jahrhunderts zur Beschreibung von elektromagnetischen Wechselwirkungen eingeführt und bald von der Gestalttheorie aufgegriffen und in die Psychologie und Soziologie übertragen. Der Kollektivbegriff spielt eine große Rolle im politischen Diskurs und wird von sowjetischen Physiker*innen bei der Beschreibung von Phänomenen in Festkörpern, die aus der Bewegung einer Vielzahl von Entitäten entstehen, angewandt. Die Geschichte der statistischen Methode reicht weiter zurück als jene der Konzepte Feld und Kollektiv. Die Wissenschaftsforschung hat die Entwicklung dieser Methode recht umfassend aufgearbeitet.
5.1 Feld: Ein Raum der Beziehungen 5.1.1 Physikalische Felder Mit der Entwicklung des Feldbegriffs verwandelt sich der Raum von einem starren Gefäß, in welchem sich die Gegenstände bewegen, in die Beziehungen der Objekte selbst. Diese Beziehungen konstituieren das Feld als eine eigenständige Entität, die selbst wieder auf die Objekte zurückwirkt. Damit löst sich die Physik von einem Paradigma der Newtonschen Mechanik, die von einer instantanen Fernwirkung zwischen isolierten, individuell existierenden Einheiten ausgeht. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts setzt sich die Physik intensiv mit Phänomenen der Elektrizität und des Magnetismus auseinander. Neue technologische Entwicklungen erlauben es nun, Spannungsunterschiede zu speichern, etwa in der Leydener Flasche, und mittels Batterien diese Spannungsunterschiede sogar künstlich herzustellen. Damit können kontrollierte Ladungsflüsse in Leitern erzeugt werden – durch Metalldrähte, aber auch durch tierische und menschliche Körperteile. Man erkennt bei diesen Experimenten auch, dass diese elektrische Ströme Kompassnadeln beeinflussen, es also einen Zusammenhang zwischen Elektrizität und Magnetismus gibt. Dieser Zusammenhang muss ein wechselseitige sein, denn man bemerkt bald, dass die Bewegung eines Magneten selbst einen Ladungsfluss hervorruft. Die magnetische Kraft kann sogar zwischen zwei Leitern vermitteln: Eine Zu- oder Abnahme des Stromes in einem ersten Leiter induziert einen Ladungsfluss in einem zweiten Leiter, auch wenn sich diese beiden Leiter gar nicht berühren. Es scheint, dass die Änderung des Stroms im ersten Leiter eine Änderung der magnetischen Kraft hervorruft, ähnlich der Bewegung eines Magneten –
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Abb. 5.1: Das Bild zeigt ein typisches Experiment Faradays: Eisenfeilspäne richten sich im Feld eines Magneten aus, der sich unter der Fläche befindet, auf der die Späne liegen. Dabei wird der Verlauf der Feldlinien sichtbar. Bild zur Verfügung gestellt von Berndt Meyer unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en) auf wikicommons.
allerdings muss nun kein Magnet vorhanden sein. Diese Kraft wirkt nun auf den zweiten Leiter und setzt in diesem Ladungen in Bewegung. Eine rätselhafte, unsichtbare Entität tritt auf, die eine magnetische Kraft hervorruft, ohne Magnete zu benötigen. Michael Faraday beschreibt diesen Magnetismus als Feld, in welchem sich die Wirkung des Stromes im Leiter ebenso wie die Wirkung eines magnetischen Körpers entlang von Feldlinien ausbreitet. Dabei bricht er mit dem dominanten Newtonismus, welcher Kräfte als Fernwirkung zwischen isolierten Körpern durch einen leeren Raum beschreibt: Faraday, in his mind’s eye, saw lines of force traversing all space where the mathematicians saw centres of force attracting at a distance: Faraday saw a medium where they saw nothing but distance ... (Maxwell [1954] ix)
Doch Faraday machte diese Vorstellung von Feldlinien bald auch sichtbar, indem er Eisenspäne in ein magnetische Feld bringt (siehe Abbildung 5.1). Es wird auch bald nachgewiesen, dass diese Wechselwirkung nicht instantan erfolgt, wie es die Fernwirkungsthese postuliert hatte, sondern dass die Ausbreitung der Wirkung durch das Feld eine gewisse Zeit benötigt. (Simonyi [1990] 344) James Clerk Maxwell entwickelt Mitte des 19. Jahrhunderts aus Faradays Beschreibung die mathematische Theorie des Feldes (Mey [1965] 19). Mit den vier Maxwell-Gleichungen werden elektrische und magnetische Felder zusammengefasst und eine mathematisch konsistente Formulierung des elektromagnetischen Feldes gegeben (Simonyi [1990] 345f). Nun emanzipieren sich nach dem Magnetismus auch elektrische Wechselwirkungen von Objekten als ihren Trägern. Die Felder werden selbständige Entitäten, die miteinander wechselwirken. Das zeitlich fluktu-
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ierende magnetische Feld erzeugt in Maxwells Beschreibung ein elektrisches Feld, das wiederum eine magnetische Erregung induziert – eine elektromagnetische Welle entsteht, die sich frei und ohne Medium ausbreiten kann. Die Wirkung eines Feldes auf materielle Körper ergibt sich aus Unterschieden der Feldstärke, welche als Dichte der Feldlinien dargestellt wird. Ein konstantes Feld hat keinen Effekt – deshalb fallen Vögel nicht tot der Hochspannungsleitung, auf der sie sitzen. Erst die Differenz in der Spannung etwa der Hochspannungsleitung zur Erde erzeugt eine potentiell unangenehme Wirkung. Um ein Feld zu messen, ist es notwendig, seine Wechselwirkung mit einem materiellen Objekt zu untersuchen. Dazu wird ein Probekörper in das Feld gebracht, der selbst möglichst wenig Einfluss auf das Feld ausüben soll. Während sich im Vakuum das Feld ungehindert ausbreitet, wird es durch die Wechselwirkung mit Materie verstärkt oder abgeschwächt. Umgekehrt beeinflusst auch das Feld die Materie, zum Beispiel wenn ein Körper magnetisiert wird. Felder führen also nicht nur zu Beschleunigungen, sondern können auch die interne Struktur der Objekte verändern. Wie im Fall der Interferenz Maske und Welle ihre Rollen als Untersuchungsobjekt und Apparat tauschen können, kann einerseits ein bekanntes Feld benutzt werden, um den Probekörper zu bestimmen (etwa die Verteilung der elektrischen Ladungen in einem Molekül) und umgekehrt ein wohldefinierter Probekörper der Messung des Feldes dienen (zum Beispiel eine Kompassnadel). (Koffka [1962] 42) Niels Bohr betont, dass in der Feldbeschreibung der Wechselwirkung eine strikt kausale Beschreibung beibehalten werden kann, aber nur unter der Bedingung, dass den Feldern selbst Energie und Impuls zugeschrieben wird. (Bohr [1961] 2f) Damit erhalten die Felder den ontologischen Status eigenständiger physikalischer Entitäten. Mit Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie ersetzt auch für die Gravitation ein Feld die instantane Fernwirkung, die Newton postuliert hatte. Der leere euklidische Raum wird abgelöst durch ein System von elektromagnetischen und gravitativen „strains and stresses“ (Koffka [1962] 42), einen Raum, der sich aus der Wechselwirkung der Körper ergibt. Brecht erkennt die Tragweite des Paradigmenwechsels in der Physik: „die relativitätsphysiker machen die eigenschaften des raums abhängig von der verteilung der materie“ schreibt er, „ich bin unfähig, solche sätze zu lesen, ohne an so was wie ‚soziale räume‘zu denken.“ (Brecht [1973] 352) Umgekehrt verwenden die Physiker*innen soziologische Beispiele für Felder: Irgendein Klatsch, der, sagen wir, in Washington aufgebracht wird, gelangt sehr rasch nach New York, wenn auch nicht eine einzige von den an der Weitergabe beteiligten Personen tatsächlich von der einen Stadt in die andere reist. Wir haben es gewissermaßen mit zwei ganz verschiedenen Bewegungen zu tun, der des Gerüchtes selbst, das von Washington nach New York vordringt, und der jener Personen, die das Gerücht verbreiten. (Einstein/Infeld zit. nach Mey [1965] 23)
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Abb. 5.2: Die Einschätzung der Helligkeit einer grauen Fläche hängt von ihrer Umgebung ab. Die Gestalttheorie geht davon aus, dass Entitäten stets in ihren Relationen wahrgenommen werden. Abbildung: Lukas Mairhofer
5.1.2 Soziale Felder Die Beschreibung sozialer Räume durch Felder geht von der Psychologie aus, die den Feldbegriff zunächst auf die Wahrnehmung anwendet. Bereits um 1900 greift die Gestalttheorie das Konzept des Feldes auf. Man bezieht sich dabei explizit auf Maxwell, den „bedeutendsten Physiker in der Entwicklung der Feldphysik.“ (Köhler [1971] 45) Die Gestalttheorie untersucht die Wahrnehmung von Bewegungen und Gegenständen (Köhler [1971] 25ff.). Die Begründer postulieren, dass nicht einzelne Elemente wahrgenommen werden, sondern immer Relationen zwischen solchen Elementen. Bei Maxwell und Faraday findet die Gestalttheorie ein physikalischmathematisches Verfahren, bei dem „man mit einem gegebenen ‚Ganzen‘ beginnt und zu den Teilen dann nur durch Analyse kommt“ (Köhler [1971] 45), statt wie bisher das Ganze von den Teilen ausgehend aufzubauen. Neben der Gestaltqualität, die dem Ganzen zukommt, erhalten auch die einzelnen Momente ihre Bedeutung aus ihren Beziehungen, ihrer Stellung im Ganzen. Tatsächlich finden sich viele entsprechende Beispiele, etwa wird ein Farbton vor einem dunklen Hintergrund anders eingeschätzt als vor einem hellen, wie Abbildung 5.2 zeigt. Aus dem Kontext ergeben sich „abhängige Teilqualitäten“ der Elemente, etwa die Bestimmung eines Tons als Grundton in einer Melodie. Die Stimmung oder das Gefühl, welches transportiert wird, entsteht aus der Beziehung der Elemente selbst und wird nicht in sie hineinprojiziert. Dabei ist die Beziehung wichtiger als ihre Elemente, die Elemente der Gestalten sind ersetzbar: Die gleiche Gestalt kann in allen Sinnesmodalitäten vorkommen, ein Rhythmus kann einer Melodie zukommen, aber auch einem Bild oder einer haptischen Erfahrung. (Köhler [1971] 18f) Auch Brecht verwendet den Feldbegriff, um die Abhängigkeit der Bedeutung eines Zeichens von seinem Bezug auf andere Zeichen zu beschreiben. Wir haben bereits in Kapitel 3.3.1 gesehen, dass Brecht ein System von Elementarsätzen als
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„axiomatisches Feld“ beschreibt. In ihren komplexen Referenzbeziehungen bilden die Zeichen Gestalten: Ende Oktober 1944 beschreibt Brecht im Arbeitsjournal eine Begegnung mit dem Komponisten Arnold Schönberg, dem Lehrer seines Freundes Hanns Eisler. Dabei bestimmt Brecht Gestalt als Gleichgewichtszustand eines Feldes und schließt damit an den Feldbegriff der Gestalttheorie an. „er [schönberg] definiert, als beispiel, form so: sie ist ein ruhezustand zwischen aufeinander einwirkenden kräften. (anscheinend ein feldbegriff)“ (Brecht [1973] 699) Von der Wahrnehmung überträgt der Psychologie und Soziologe Kurt Lewin den Feldbegriff auf die Beziehungen zwischen Individuen. Er wendet ihn zunächst an, um zu beschreiben, wie Gefühle und Motive der Einzelnen in ihre Beziehungen zu anderen entstehen. Unter dem Einfluss des Exils interessiert er sich zunehmend für sozialpsychologische statt individualpsychologische Probleme. Er betrachtet nun das Feld selbst, um die Dynamik von Gruppen zu untersuchen. Lewin hat bei Cassirer Philosophie studiert. Ab 1921 ist er am Berliner Institut für Psychologie tätig, wo er ab 1927 eine Professur hat. (Mey [1965] 85) Brecht hat die Arbeit Lewins vermutlich schon in der Weimarer Republik gekannt. Lewins Name findet sich auf einer Liste mit Vorlesungen der Berliner Gesellschaft für empirische Philosophie im Jahr 1932/33, auf der Brecht vermerkt, an welchen Veranstaltungen er teilnehmen will. Es gibt aber keinen Beleg dafür, dass er diese Vorlesungen auch besucht hat. Brecht dürfte auch Lewins Artikel Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie in der Zeitschrift Erkenntnis gekannt haben. Die Ausgabe mit diesem Artikel befand sich in der Bibliothek Brechts, und in seinen Unterlagen. (Sautter [1995] 689) Dokumentiert ist, dass Brecht den Psychologen Anfang 1943 in den USA kennenlernt: „neue bekanntschaft: kurt lewin“ (Brecht [1973] 568) notiert er im Arbeitsjournal. Während die Gestalttheorie der Wahrnehmung den Feldbegriff verwendet, um die Verbindung von Elementen zu einer Gestalt zu beschreiben, geht es Lewin meist um Konflikt-Felder, in denen sich die Individuen erst konstituieren: Lewin rügt an der traditionellen – von ihm »aristotelisch« genannten – Psychologie die Wahl der Person als unauflöslicher Einheit in Verallgemeinerungsversuchen. Die Person ist genausowenig letzte Einheit der Psychologie wie das (früher »unteilbar« genannte) Atom in der Physik. (Mey [1965] 34)
Als aristotelisches Theater bezeichnet Brecht das klassische bürgerliche Drama, von dem er sein episches Theater abgrenzt. Brecht notiert über den Begriff des Individuums in der Psychologie:
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Das Unteilbare, das Individuum, in seine Bestandteile zerfallend, erzeugte die Psychologie, die den Bestandteilen nachging, natürlich ohne sie wieder zu einem Individuum zusammenzubringen. (Brecht [88ff] Bd. 21, 435)
Bei Lewin wie bei Brecht befindet sich die Person ständig in einem Fluss, den die Beobachtung unterbricht. Die Abbilder der inneren Struktur der Person sind wie „Querschnitte eines fließenden Gewässers“. (Mey [1965] 50) Die Ganzheit „Person“, ihr Lebensraum, ist in Lewins Konzept innerlich strukturiert und steht in Wechselwirkung mit dem Außenfeld. Wenn sich das Individuum im Gleichgewicht mit dem psychologischen Feld befindet – zum Beispiel an einem sonnigen Tag auf einer Blumenwiese liegend – löst sich das Ich auf: „Even the differentiation of the Ego and its environment tends to become blurred.“ (Koffka [1962] 43) Denn genau wie in der Physik setzt Wirkung in der Gestalttheorie ein inhomogenes Feld voraus, aus dessen Potentialdifferenzen eine Kraft resultiert. (Koffka [1962] 43) Auch bei Brecht entstehen die Individuen erst in ihren Beziehungen: „Einer ist keiner. Es muß ihn einer anrufen.“ (Brecht [88ff] Bd. 2, 142) heißt es in Mann ist Mann. Die Person wird durch die Beziehungen, in denen es steht, aktiv hergestellt. Fünfzehn Jahre später, als er 1942 in Los Angeles an seiner Isolation als Emigrant verzweifelt, formuliert Brecht die Spannungen und Widersprüche, die in diesen Beziehungen stecken, noch expliziter – das „anrufen“ steigert sich zum „angehen“ und „anherrschen“. Er notiert in seinem Tagebuch, dem Arbeitsjournal: interessant, wie eine funktionsabdrosselung die person aufdröselt. das ich wird formlos, wenn es nicht mehr angesprochen, angegangen, angeherrscht wird. selbstverfremdung setzt ein. (Brecht [1973] 532)
Das innere Feld, die „Person“, verschiebt sich unter der Einwirkung äußerer Felder. Auch die innere Struktur des modernen Atoms wird unter äußeren Feldern verschoben und seine interne Dynamik ändert sich, wie die Zeeman- und Stark-Effekte zeigen. Die Ähnlichkeiten zwischen der grafischen Darstellung des psychologischen Induktionsfeldes zweier Personen bei Lewin und der Darstellung des Magnetfeldes durch Faraday sind frappierend. Aber der Bezug des Feldbegriffes Lewins auf jenen der Physik geht über graphische Analogien hinaus. Lewin verwendet zur mathematischen Beschreibung des Verhaltens einer Person eine Funktion, in welche wie in der Hamilton-Funktion sowohl die Eigenschaften des Körpers wie auch das äußere Potential eingehen. Diesen Ansatz überträgt Lewin auf das Verhalten einer Person in einer bestimmten Situation:
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Das Verhalten einer Person ist eine Funktion F der Beschaffenheit der Person (P) und der Umwelt (U): V = F(P, U) (Mey [1965] 46, vgl. auch Lewin [1939] 878)
Auch die Beschreibung des Feldes durch Vektoren ist zentral für seine Bedeutung bei Lewin, der meist „Spannungsfelder“ oder „Konfliktfelder“ (Mey [1965] 52) untersucht, in denen die Kräfte, die von den einzelnen Momenten ausgehen, eine klar definierte Richtung haben. Unter der Wirkung der äußeren Kräfte verschiebt sich nicht nur das innere Feld, das die Person konstituiert, bei der Bewegung im äußeren Feld ändert sich auch die Gesamtsituation, so dass ein dynamischer Verlauf entsteht, bei dem sich Außenfeld und Person ständig neu konstituieren. Um diese Dynamik zu beschreiben, führt Lewin in Anlehnung an die Differentialgleichungen der Physik „Geschehensdifferentiale“ ein (Lewin [1930] 458). Dies erlaubt es, eine konkrete Situation mathematisch zu modellieren und diese Modelle experimentell zu überprüfen, indem „jeweils ein Teil der Variablen fixiert, und die speziell interessierenden herausgegriffen und variiert werden“. (Mey [1965] 53) In seinem Artikel Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie verbindet Lewin den Feldbegriff explizit mit einem neuen Gesetzesbegriff, den er als „galileisch“ bezeichnet und vom „aristotelischen“ abhebt. Eine ähnliche Begrifflichkeit verwendet Brecht (etwa in Brecht [1967] Bd. 15, 232). Lewin will die dichotomische Struktur der aristotelischen Typologien durch Reihenbegriffe ersetzen, die Klassifikation soll nicht auf der Häufigkeit bestimmter Merkmale beruhen, sondern durch Bildung von Korrelationen geschehen; Funktionsbegriffe ersetzen dabei die Substanzbegriffe.
5.1.3 Schlachtfelder Das Feld steht mit dem Krieg in einer engen etymologischen Beziehung, auf welche Wendungen wie „ins Feld ziehen“ verweisen. Ulrich Sautter weist darauf hin, dass Brecht sich 1937 in seiner Notiz über Die Auswahl der einzelnen Elemente auf Lewins Schrift Kriegslandschaft von 1917 bezieht. Brecht notiert: „Die Psychologie sagt uns, dass je nach dem Gebrauch, den die Menschen von einem Ort machen, ein anderer Augenschein entsteht.“ (Brecht [88ff] Bd. 22.1, 251) Lewin beschreibt in dem Artikel seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, die er als Freiwilliger bei der Artillerie gemacht hat: Denn für gewöhnlich erlebt man die Landschaft auf diese Weise: Sie erstreckt sich, verhältnismäßig unabhängig von den durch die besondere Geländeform bedingten Sichtverhältnissen, weit über den Raum hinaus [...]; und diese Ausdehnung, – das ist wesentlich für die Friedens-
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landschaft – geht nach allen Richtungen gleicherweise ins Unendliche [...]. Die Landschaft ist rund, ohne vorne und hinten. Nähert man sich jedoch der Frontzone, so gilt die Ausdehnung ins Unendliche nicht mehr unbedingt. Nach der Frontseite hin scheint die Gegend irgendwo aufzuhören; die Landschaft ist begrenzt. (Lewin [1917] 441)
Neben der Grenze, welche die Frontlinie setzt und die eine Anisotropie im Raum erzeugt, entstehen ausgezeichnete Zonen, die voneinander isoliert sein können: freie Schusslinien, geschützte Stellungen, Nachschublinien. So ergibt sich die komplexe Landschaft des Gefechtsfeldes, eine Topologie in welcher die Objekte grundlegend neue Eigenschaften erhalten: „An irgendein Ding in dieser Zone Forderungen zu stellen, die man sonst nur Friedensdingen gegenüber erhebt, erscheint daher zunächst unsinnig.“ (Lewin [1917] 444) Wir haben bereits gesehen, dass Brecht in der Mutter Courage den Krieg als Feld beschreibt. Der Krieg demonstriert, dass die Bedeutung einer Handlung vollständig vom äußeren Feld abhängt: Brecht hat aufmerksam registriert, wie in der Weimarer Republik in zahlreichen Fällen aus heldenhaften Soldaten des Ersten Weltkriegs wahnsinnige Massenmörder wurden. Sie hatten die Umstellung auf die Friedenszeit nicht geschafft. Brecht reflektiert dies in der Mutter Courage: Eilif wird im Krieg für seinen brutalen Raub an den Bauern belobigt; als er im Frieden sein Verhalten fortsetzt, wird er hingerichtet. Der Krieg selbst ist paradigmatisch für Brechts Feldkonzept, denn im Krieg erfährt der Einzelne, dass er „nicht die Folge seiner Taten, nicht die Konsequenz seiner Gedanken,“ also keine „Persönlichkeit“ mehr ist. (Brecht [88ff] Bd. 21, 306) Die Individualisierung kann nur mehr als Probekörper gelingen, in welchem die Feldkräfte zum Ausdruck kommen. Dieses Verständnis des Feldes wird vom Krieg auf die Stadt als Lebensraum der modernen Gesellschaft übertragen. Walter Benjamin schreibt über das Gedicht „Verwisch deine Spuren“ in Brechts Hauspostille: „Städte sind Schlachtfelder. Man kann sich keinen Betrachter vorstellen, der stumpfer für landschaftliche Reize wäre als der strategisch geschulte einer Schlacht.“ (Benjamin [1971] 81) Zwar werden die Handlungen und ihre Bedeutung vom Feld bestimmt. Doch umgekehrt sind es die Handlungen der Einzelnen, welche das Feld erzeugen: Die historischen Bedingungen darf man sich freilich nicht denken [...] als dunkle Mächte (Hintergründe), sondern sie sind von Menschen geschaffen und aufrechterhalten [...]: was eben da gehandelt wird, macht sie aus. (Brecht [1967] Bd. 16, 679)
Das Feld wird ein Konfliktfeld und die Bewegung der Individuen erfährt darin „seltsame Abweichungen“ und weist daher eine „gewisse Unschärfe“ auf:
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die Kurve der Handlungen wird durch Fehlhandlungen kompliziert, das Schicksal ist keine einheitliche Macht mehr, eher sind Kraftfelder mit entgegenwirkenden Strömungen zu beobachten. (Brecht [88ff] Bd. 21, 303)
Im Zweiten Weltkrieg versucht Brecht seine Machtlosigkeit gegen den Krieg zu fassen und beschreibt zwei Vorgänge. Einerseits führt auf der Ebene der gesellschaftlichen Beziehungen gerade die Formierung einer homogenen, einheitlichen Masse zur „politischen atomisierung“, die Abstrakta Masse und Individuum werden realisiert. Gleichzeitig wird ein begrifflicher Rahmen bestimmt, innerhalb dessen die gesellschaftlichen Beziehungen gedacht werden können. es wird vielleicht in späteren zeiten schwierig sein, die ohnmacht der völker in diesen unseren kriegen zu begreifen. ihre ursachen sind vergänglich. da ist die politische atomisierung, resultat der militärisch-polizeilichen zusammenballung der riesenmassen. da ist das phänomen, das ich mangels eines plastischeren ausdrucks immer das feldphänomen nenne. (Brecht [1973] 103)
Dieses Feldphänomen erzeugt die „merkwürdige abweichungen“ welche die Menschen im Krieg erfahren, in dem „alle berechnungsarten des individuums, gezogen aus erfahrungen des friedens, versagen“. (Brecht [1973] 221) Die Gestalttheorie hält fest, dass die Eigenschaften der Individuen erst in ihrer Wechselwirkung mit der Umgebung, in ihrem Kontext, entstehen: Set a Frenchman on a deserted island, an Englishman on another, a German on a third, and so forth, then they will behave more or less alike; [...] But the Frenchman in France, the Englishman in England, the German in Germany will be very different people. (Koffka [1962] 58)
Ende 1940 notiert Brecht: „in wirklichkeit ist der neue mensch der alte mensch in den neuen situationen.“(Brecht [1973] 212) Den Feldbegriff verwendet Brecht also in einer Reihe von Zusammenhängen: er beschreibt damit sowohl soziale als auch begriffliche Beziehungen und ästhetische Konzepte. Der Feldbegriff erhält bei Brecht also bereits jene reiche Bedeutung, mit der ihn viel später Pierre Bourdieu in der Soziologie einführt – Bourdieu spricht etwa vom „politischen Feld“ (Bourdieu [94ff] Bd. 29), vom „religiösen Feld“ (Bourdieu [94ff] Bd. 11) und vom „literarischen Feld“ (Bourdieu [94ff] Bd. 4). Diese gesellschaftlichen Kräftefelder bilden in Bourdieus Konzept den Kampf- oder Spielplatz, auf dem die sozialen Akteur*innen einander begegnen, wobei ihr Spieleinsatz von ihrer jeweiligen Stellung in diesem Feld abhängt. Diese Felder unterscheiden sich in ihren Regeln und sind relativ unabhängig voneinander, so dass sie eine Eigendynamik entwickeln. (Fröhlich [2003] 117–120) Brechts episches Theater soll nun
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das Feld begrifflicher Beziehungen so gestalten, dass damit über das existierende Feld gesellschaftlicher Beziehungen hinausgedacht werden kann: ... wir brauchen Theater, das nicht nur Empfindungen, Einblicke und Impulse ermöglicht, die das jeweilige historische Feld der menschlichen Beziehungen erlaubt, auf dem die Handlungen jeweils stattfinden, sondern das Gedanken und Gefühle verwendet und erzeugt, die bei der Veränderung des Feldes selbst eine Rolle spielen. (Brecht [1967] Bd. 16, 678)
5.2 Statistik 5.2.1 Probabilität und Spiel Am Anfang der Wahrscheinlichkeitsrechnung steht die Beschäftigung mit Spielen und die Figur des Spiels ist gemeinsam mit den statistischen Methoden durch die Disziplinen gewandert. (Hacking [1975] 85, 92ff, 109) Die ersten konkreten Zahlenwerte für Wahrscheinlichkeiten, die sich in einem Druckwerk finden – der Port Royal Logic – beziehen sich auf ein Spiel (Hacking [1975] 77): „In order to represent epistemic probability on a numerical scale, the Port Royal Logic used gaming as its model.“ Hacking [1975] 85) Die erste umfassende mathematische Behandlung der Probabilität setzt sich mit dem Würfelspiel auseinander: Huygens De Aleae von 1657 (Hacking [1975] 58). Das Auftreten der Wahrscheinlichkeitstheorien im 17. Jahrhundert wurde durch eine gewichtige Verschiebung des mittelalterlichen Konzeptes der opinio möglich; neben der Autorität des Wortes kann nun auch empirische Erfahrung Evidenz erzeugen. Wahrscheinlichkeit und philosophischer Empirismus sind also eng verbunden. Diese Erfahrung wird als Lesen der Zeichen der Natur verstanden. Im Gegensatz zur Autorität des Wortes, der Sicherheit des konventionellen Zeichens, kommt den natürlichen Zeichen nur Wahrscheinlichkeit zu. (Hacking [1975] 179) Probability has two aspects. It is connected with the degree of belief warranted by evidence, and it is connected with the tendency, displayed by chance devices, to produce stable relative frequencies. (Hacking [1975] 1)
Einerseits beschreibt Probabilität das unsichere Verhältnis zwischen Zeichen und Bedeutung als epistemologisches Problem, andererseits erfasst sie konkret die Häufigkeit des Auftretens bestimmter Zeichen.
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Abb. 5.3: Sind die Fehler der einzelnen Werte voneinander unabhängig, so ergibt sich eine sogenannte Gauß- oder Normalverteilung. Die Verbindung der Werte ergibt dann eine Glockenkurve, die symmetrisch um den Mittelwert ist. Graphik zur Verfügung gestellt von Joxemai unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en) auf wikicommons.
5.2.2 Astronomie und Fehler Die Diskussion von Glücksspielen hatte es erlaubt, Glaubwürdigkeit in Zahlenwerten auszudrücken. Mit der Entwicklung der Fehlerrechnung wird dieses Verhältnis umgekehrt, denn bei der Abschätzung von Messfehlern geht es darum, einem Zahlenwert seine epistemische Wahrscheinlichkeit zuzuordnen. Die Fehlerrechnung entwickelt sich in der Astronomie. Diese benötigt einigermaßen korrekte Vorhersagen über die Bewegung von Himmelskörpern, um ihre Objekte über einen längeren Zeitraum verfolgen zu können. Doch schon die Messungen der exakten Position erweisen sich als ungenau und schwierig miteinander zu vergleichen, denn Linsenfehler, atmosphärischen Störungen und auch die Unterschiede und Fehler beim Ablesen der Instrumente verzerren die Ergebnisse. Es gibt noch einen zweiten Faktor, der die Beobachtung astronomischer Objekte erheblich erschwert – die Wechselwirkung der Himmelskörper untereinander. Im einfachsten Modell der Newtonschen Physik bewegen sich die Planeten unter dem Einfluss der Schwerkraft der Sonne auf einer elliptischen Bahn und die Sonne befindet sich in einem der Brennpunkte dieser Ellipse. Dabei werden allerdings die gravitativen Wirkungen der anderen Planeten im Sonnensystem sowie all der Monde und kleineren Gesteinsbrocken vollkommen vernachlässigt. Abhängig vom Abstand der Himmelskörper zueinander schwanken diese Kräfte erheblich und das Sonnensystem stellt ein Vielkörper-Problem dar: Es ist nicht analytisch lösbar, das heißt, die Trajektorien der einzelnen Körper können mathematisch gar nicht kontinuierlich nachverfolgt werden (man sieht aber eine kontinuierliche Bewegung in den Fernrohren). (Swijtink [1987] 268)
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1801 entdecken die Astronom*innen einen Himmelskörper, der später als Planet eingestuft und Ceres genannt wird. Er kommt ihnen aber bald wieder abhanden und kann auf keiner der vermuteten Bahnen wieder lokalisiert werden. Der Mathematiker, Astronom und Landvermesser Carl Friedrich Gauß berechnet seine Bahn durch eine Fehlerabschätzung. Seine Voraussage ist erfolgreich und Ceres wird wieder aufgespürt. Gauß hat seine Methode zur Abschätzung des Fehlers durch die Annahme gerechtfertigt, dass die Fehler einer bestimmten Verteilung folgen, wenn wir keinerlei Kenntnis über sie besitzen – der sogenannten Normalverteilung. Er definiert jenen Wert als den korrekten, der die geringste Abweichung vom Mittelwert aller Ergebnisse aufweist. (Gamper [2007] 324, Krüger [1987] 375) Dabei gerät die Fehlerrechnung keineswegs in Widerspruch zu einem strengen Determinismus – die Schwankung der Messresultate ergibt sich aus der Unkenntnis des tatsächlichen Wertes, nicht aus einem zufälligen Schwanken der Wirklichkeit.
5.2.3 Soziologie und Mittelmaß Die Fehlerrechnung ist rasch von der Soziologie aufgegriffen worden, die sich im 19. Jahrhundert als eigenständige Wissenschaft formiert. Schon lange wird die Statistik benutzt, um einen Überblick über Bevölkerung und Ressourcen eines Herrschaftsgebiets zu erhalten. Unter Statistik versteht man zunächst den systematischen Umgang mit großen Datenmengen, wie sie in der Verwaltung sozialer Strukturen entstehen. Anfang des 19. Jahrhunderts geht es nun darum, Ordnung in die Daten über die gesellschaftlichen Beziehungen zu bringen. (Gamper [2007] 305f) Dies geschieht durch die Anwendung des Konzepts der Normalverteilung der Astronom*innen auf die Daten der Statistiker*innen. Der belgische Astronom Adolphe Quetelet wendet die Verfahren der Fehlerrechnung auf die Gesellschaft an. Er untersucht ein breites Spektrum von demographischen Variablen wie Hochzeit, Geburt und Selbstmord oder auch die Körpergröße der Rekruten beim Militär. Dabei ist er bemüht zu zeigen, dass diese Variablen alle eine Normalverteilung um einen Mittelwert aufweisen, was sich als fragwürdiges Unterfangen erweist. Dabei kommt es zu einer kategorialen Verschiebung: Nun wird die Normalverteilung nicht mehr auf ein einzelnes Objekt angewandt, sondern auf viele Individuen. Dies setzt voraus, dass die Individuen zwar unterscheidbar, aber gleichartig sind und behandelt die Gesellschaft als „Masse unverbundener Atome“ (Gamper [2007] 315). Damit wird in die Probabilistik ein Konzept der Masse eingeführt, welches von den individuellen Besonderheiten abstrahiert. So haben etwa Entscheidungen, die aus freiem Willen getroffen werden, keinen Einfluss auf das
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Gesamtgeschehen. Der Zufall soll ausgeschaltet werden, da man erwartet, dass die zufälligen Abweichungen sich weitgehend ausgleichen. (Gamper [2007] 309–313) Der neuen Methode korrespondiert ein neues Verständnis des Individuums, das deutlich vom romantischen Konzept unterschieden ist: Die Individuen sind von unzähligen Einflüssen beherrschte Atome, die keinem festen Teilverband mehr zugehören. Ihr Wille kann keine leitende Instanz mehr sein, vielmehr ist die Bedingungsmöglichkeit der Moralstatistik die Verflüchtigung des freien Willens. (Gamper [2007] 314)
Quetelet nimmt als Triebkräfte des menschlichen Handelns irrationale Neigungen an, welche er in Analogie zur Gravitation der Sonne versteht. (Oberschall [1987] 110) Diese Kräfte sind zum Beispiel Selbsterhaltung oder Familienbindung und wirken kontinuierlich. Davon unterscheidet er fluktuierende Kräfte, die oft nur kurzzeitig auftreten, beispielsweise der freie Wille. Diese Kräfte vergleicht Quetelet mit den störenden Einflüssen, die in der Astronomie zur Streuung der Messwerte führen und nimmt an, dass sie gleichmäßig in alle Richtungen wirken. Triebe und Instinkte legen den Mittelwert fest, menschlicher Wille und soziale Einflüsse sind für die Abweichungen davon verantwortlich. Die Summe aller Kräfte erzeugt einen Punkt, an dem das Individuum im Gleichgewicht ist – „called the moral center of gravity“ (Oberschall [1987] 109f). Quetelet übernimmt von Gauß die Maxime, dass der Mittelwert den „richtigen Wert“ wiedergibt und folgert, dass die Extreme an den Rändern der Glockenkurve zu vermeiden sind. Es gilt Maß zu halten und sich an den Durchschnitt anzupassen. Die Statistik erhält so eine moralisch-normative Funktion. (Gamper [2007] 307–315, 324)
5.2.4 Typus und Gesetz In Kapitel 3.2.3 haben wir Brechts Vergleich der Bewegung des Individuums mit dem astronomischen Modell besprochen. Brecht betont im Kontrast zu Quetelet, dass die Bewegung der Planeten notwendigerweise eine gewisse Unschärfe gegenüber dem abstrakten Gesetz aufweist. Er kritisiert das Konzept des Durchschnitts scharf: „Der ‚Durchschnitt‘ ist eine wirklich nur gedachte Linie, und daher ist kein einziger Mensch in Wirklichkeit ein Durchschnittsmensch.“ (Brecht [1967] Bd. 20, 62) Diese Kritik dürfte von Nietzsche beeinflusst worden sein, der sein Konzept des Übermenschen gegen den Diskurs der Mittelmäßigkeit entwirft, welcher sich aus Quetelets Konzept ergibt. (Gamper [2007] 396–401) Das Genie ist nach Nietzsche gerade an den Rändern der Glockenkurve zu finden. Aber während Nietzsche Übermensch und Norm-Mensch kontrastiert, lehnt Brecht die Hyposta-
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sierung des Norm-Menschen grundsätzlich ab und entkommt so Nietzsches elitärer Unterscheidung. Auch Kurt Lewin kritisiert Quetelets Maxime des Mittelmaßes. In der „aristotelischen Denkweise“ erfolgt Klassifizierung anhand von „Regelmäßigkeit im Sinne der Häufigkeit“ (Lewin [1930] 435). Diese Begriffsbildung abstrahiert stets von der konkreten Situation, so Lewin. Die Gesetzmäßigkeiten stehen konträr zum Einzelfall, der indeterminiert erscheint. Gesetzmäßigkeit besteht in Regelmäßigkeit, der ideale Fall stimmt mit dem Durchschnitt exakt überein. Die Einzelfälle werden nach dem zusammengefasst, was ihnen allen gemeinsam ist. Diese abstrakte Gemeinsamkeit wird gleichzeitig zum Wesen der entsprechenden Klasse von Dingen erklärt. Daher besteht die Statistik in der Berechnung des Durchschnitts und dieser „Durchschnitt bekommt repräsentativen Wert“ (Lewin [1930] 439). Das Individuelle, Einmalige stellt immer eine Abweichung von der Regel dar, ist zufällig und kann daher begrifflich nicht erfasst werden. Lewin fordert im Gegensatz dazu eine „Hinwendung zum Konkret-Einzelnen“ (Lewin [1930] 444), also die Untersuchung des Kasus in seinen konkreten Beziehungen. Dabei gilt es festzustellen, was am konkreten Einzelfall charakteristisch, was für ihn typisch ist. (Lewin [1930] 436–444) Statt den statistischen Mittelwert unter Vernachlässigung der Besonderheiten zu bilden, gilt es statistische Korrelationen zwischen diesen Besonderheiten zu finden. Der Typus konstituiert die fundamentalen Entitäten der von Lewin vorgeschlagenen Soziologie. Dieses Konzept bildet in der Zwischenkriegszeit auch die Grundlage ästhetischer Konzepte. In seinem Vorwort zu einem Band mit Porträts, die August Sander photographiert hat, beschreibt Alfred Döblin, dass wir im täglichen Umgang mit Menschen auf klar unterscheidbare Individuen treffen. Aber aus einiger Distanz verschwinden die Unterschiede. „Das Individuum und das Kollektivum [...] sind [...] Angelegenheit der wechselnden Entfernung.“ (Döblin [2003] 11) Aus einer gewissen Distanz werden Gesetzmäßigkeiten in den sozialen Interaktionen erkennbar in den Handlungen, die ähnliche Individuen in ähnlichen Situationen setzen. Die Individuen, die zu bestimmten sozialen Gruppen gehören, tragen typische Merkmale dieser Gruppe, die geprägt sind durch ihre Arbeit, ihre Reproduktionsbedingungen wie Ernährung und Bildung, sowie die Kultur, zu der sie gehören. (Döblin [2003] 13f) In seinen Photographien aus den ersten drei Jahrzehnten des Zwanzigsten Jahrhunderts konzentriert sich Sander auf diese typischen Merkmale, die in den Gesichtern seiner Modelle zum Ausdruck kommen, in ihrer Körperhaltung und oft auch in ihren Händen und den Werkzeugen, welche diese halten. Auch in der Psychologie Lewins beschreibt der Typus, was bei aller Kontingenz in einer Situation wiederholt auftritt, auch wenn die exakte Wiederholung einer Reaktion auf eine Situation kaum erwartet werden kann. Durch eine Variation der Situation lässt sich der Einfluss einzelner Faktoren feststellen. (Lewin [1930] 438)
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An Stelle der Bezugnahme auf den abstrakten Durchschnitt einer möglichst großen Vielheit historisch gegebener Fälle tritt die Bezugnahme auf die volle Konkretheit der einzelnen Situation. (Lewin [1930] 455f)
Der Beweis für eine Annahme kann sich dabei auf „ungewöhnliche, selten [sic!] und flüchtige Ereignisse, wie sie die physikalischen Experimente meist darstellen“ stützen. (Lewin [1930] 459) Die klare Bestimmung der wirkenden Faktoren ist viel wichtiger als die statistische Häufigkeit dieser Situationen. Als typisch bezeichnet Lewin jene Fälle, bei denen die äußeren Felder gut bekannt sind. (Sautter [1995] 702) Typen können daher „große“ historische Persönlichkeiten sein, oder auch Kleinkinder, je nach der Fragestellung. Das Genie und die Wahnsinnigen dürfen nicht mehr als außerhalb der Gesetze stehend betrachtet werden. Brecht versteht den Begriff des Typus ganz in diesem Sinn: „Es scheint viele Berater zu geben, die alles [...] was statistisch nicht häufig ist, für nicht typisch erklären.“ (Brecht [1967] Bd. 19, 531) Im Gegensatz dazu fasst Brecht jene Ereignisse und Menschen als typisch auf, die „geschichtlich bedeutsam“ (Brecht [1967] Bd. 19, 531) werden: Dieser Begriff gestattet, auch scheinbar winzige, seltene, übersehene Vorkommnisse sowie unscheinbare, oft oder selten vorkommende Menschen ans Licht der Dichtung zu ziehen. (Brecht [1967] Bd. 19, 531)
Allgemeine Gesetzmäßigkeiten lassen sich nach Brechts Verständnis nur im Bezug auf Typen formulieren, nicht im Bezug auf Individuen. Daher stehen die Figuren des epischen Theaters in einer ständigen Spannung zwischen Individuum und Typus. Brecht warnt davor, die Gültigkeit der Gesetzmäßigkeit zu verabsolutieren und den Typus zu einer abstrakten Hülle werden zu lassen. Seinen Schauspieler*innen gibt er die Anweisung: Ihr müßt die Gesetzmäßigkeiten nicht an allzu willfährigen, allzu ‚passenden‘ Typen nachweisen, sondern eher an (in normalem Maße) widerstrebenden Typen. Also die Typen müssen etwas Annäherndes haben. [...] In Gesetzen habt ihr nur höchst allgemeine Richtlinien, Durchschnitte, Resumés. (Brecht [88ff] Bd. 22.2, 744)
5.2.5 Thermodynamik und statistische Mechanik In der Physik entwickelt sich die Statistik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einem Werkzeug zur Auswertung von Messdaten zu einer Methode der Theoriebildung. Diese Verschiebung in der methodischen Bedeutung geschieht vor allem durch die Entwicklung der statistischen Mechanik, welche die Dynamik der Wärme auf die Bewegung der Atome zurückführt. Während die Thermodynamik
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das Verhalten eines makroskopischen Systems durch Zustandsgrößen wie Druck, Temperatur und Volumen beschreibt, werden diese Zustandsgrößen in der statistischen Mechanik auf das Verhalten der Teilchen zurückgeführt, aus denen das Gas besteht. So entsteht beispielsweise der Druck in einem Behälter dadurch, dass die Atome und Moleküle ständig gegen die Wände des Behälters stoßen. Die Temperatur entspricht der Geschwindigkeit der Teilchen, und je höher die Temperatur, desto heftiger auch die Stöße gegen die Wände – der Druck steigt. Dabei werden die Gesetze makroskopischer Vorgänge auf mikroskopische Objekte übertragen. Diese mikroskopischen Objekte konzipiert man als kompakte, harte Kugeln, als Atome im Sinne der klassischen Physik. Ihre Wechselwirkung besteht darin, dass sie wie Billardbälle zusammenstoßen und ihr Verhalten folgt den Newtonschen Gesetzen, die aus dem Bereich makroskopischer Vorgänge stammen. Dabei tritt ein Problem auf: das Modellsystem der Thermodynamik ist ein mit Gas gefüllter, verschlossener Behälter – nur so bekommen makroskopische Größen wie Druck und Volumen eine Bedeutung. Doch die Wände eines realen, nicht bloß gedachten, Behälters sind auf der Größenordnung der Atome nicht glatt, sondern sehr unregelmäßig. Versucht man, die Bewegung der einzelnen Gasmoleküle in einem realen Gefäß exakt zu beschreiben, müssten diese Unebenheiten berücksichtigt werden. So wird es de facto unmöglich, die einzelnen Bahnen zu bestimmen, weil die Randbedingungen unbekannt sind – diese Unebenheiten sind so zufällig verteilt, dass mit ihnen nicht gerechnet werden kann. Doch in der Statistik mitteln sich diese Unebenheiten weg und die Kastenwände wirken in der Mathematik, als wären sie glatt. (Kerson [1985] Bd. 1, Gamper [2007] 437, Porter [1986] 115) Allerdings beschreibt die Lösung dann nicht mehr das Verhalten jedes einzelnen Teilchens, sondern jenes des ganzen Ensembles. Maxwell formuliert einen ersten statistischen Zusammenhang zwischen Mechanik und Wärme, als er um 1860 zeigt, dass die Geschwindigkeit der Moleküle in einem Gas um einen Mittelwert verteilt ist, der von der Temperatur abhängt. Der Wissenschaftshistoriker Michael Gamper betont, dass die Physik dabei die Anwendung der Statistik auf viele Objekte von Quetelet übernommen hat. (Gamper [2007] 324, 437–439) Die Idee zur Anwendung der Fehlerverteilung auf die kinetische Gastheorie bezog Maxwell aus einer von John Herschel verfaßten Rezension der [...] Lettres sur la théorie des probabilitès Quetelets. Herschel [...] propagiert auch Quetelets Anwendung des Fehlergesetzes auf tatsächliche Verteilungen, so dass Maxwell dieses nicht als Aussage über die partielle Unsicherheit des Wissens, sondern als positive Erkenntnis über die regelmäßige Verteilung von großen Mengen kennen lernte. (Gamper [2007] 438f)
Auch Ludwig Boltzmann verwendet eine Analogie zwischen menschlichen Individuen und Gasmolekülen. Boltzmann gelingt die Herleitung einer kinetischen
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Theorie der Entropie. Zuvor war die Entropie thermodynamisch formuliert, also auf Grundlage des Konzepts der Wärme, nun wird sie in Begriffen der Probabilistik bestimmt. (Porter [1986] 113–117) Maxwell und Boltzmann vertreten konträre Interpretationen des Zusammenhanges zwischen makroskopischen und mikroskopischen Zuständen. Boltzmann versteht unter der Wahrscheinlichkeit eines Zustandes die mittlere Zeitspanne, in welcher das System diesen Zustand einnimmt. Wahrscheinlichkeit kann dann „objektiv“ definiert werden als Limit des zeitlichen Mittelwerts des Zustandes eines einzelnen physikalischen Systems. (von Plato [1987] 379) Die Statistik beschreibt nach dieser Interpretation die Verteilung der Werte für ein reales physikalisches System. Maxwell hingegen geht von einer abstrakten Überlegung aus. Er nimmt (unendlich) viele Systeme an, die makroskopisch ident sind, aber unterschiedliche mikroskopische Konfigurationen einnehmen. Die möglichen Zustände werden dadurch bestimmt, dass sie mit den beobachtbaren Größen (etwa Druck, Temperatur, Volumen) kompatibel sein müssen. Mit dieser Trennung in makroskopische und mikroskopische Ebene wird Probabilität epistemologisch gefasst: Sie gibt die Wahrscheinlichkeit an, dass eine der möglichen mikroskopischen Konfigurationen realisiert wurde. So kann Probabilität auf die Wirklichkeit bezogen werden ohne den potentiell möglichen Zuständen reale Existenz zusprechen zu müssen. (Krüger [1987] 376) Der Physiker Josiah Willard Gibbs entwickelt diesen Gedanken weiter. Er fasst die statistische Verteilung als Ausdruck unserer Unkenntnis des tatsächlichen Zustandes auf. (von Plato [1987] 379f) Die statistische Verteilung der von den makroskopischen Bedingungen erlaubten Zustände ergibt das statistische Ensemble. Dieser Zugang muss eine a priori-Verteilung der Wahrscheinlichkeiten annehmen, die nicht physikalisch erklärt werden kann. (Kamlah [1987] 98) Er wird daher als „subjektive“ Auffassung der Statistik bezeichnet. Bohrs Komplementaritätsprinzip bezieht sich auf diese Auffassung der Statistik, dass die Randbedingungen viele mögliche Zustände erlauben, von denen jeweils nur ein bestimmter realisiert werden kann: Bohr empfand die Komplementarität als einen zentralen Zug der Naturbeschreibung, der in der alten statistischen Wärmelehre, insbesondere in der ihr durch Gibbs gegebenen Fassung, schon immer vorhanden, aber nicht genügend beachtet worden war; (Heisenberg [1969] 150)
5.2 Statistik |
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5.2.6 Quantenstatistik Die erste Anwendung der Statistik in der Quantenmechanik ist Einsteins Erklärung der Intensität der Linien der Atomspektren (vgl. Kapitel 2.4.2). Anders als in der Thermodynamik wird die Statistik nun auf das Verhalten einer einzelnen physikalischen Entität angewandt. Jedem Zustand des Elektrons kommen inhärente Übergangswahrscheinlichkeiten in andere Zustände zu. Einstein folgert nicht ohne Unbehagen, dass die einzelnen Vorgänge zufällig sind. Noch sind klassische und Quantenstatistik konzeptuell nicht klar getrennt. Bohr versucht explizit, die Formulierung inhärenter Wahrscheinlichkeiten mit dem Konzept der Statistik, viele Teilchen zu beschreiben, zu versöhnen. Die Kramer-Slater-Bohr-Theorie postuliert ein virtuelles externes Feld; die Austauschvorgänge zwischen den einzelnen Elektronen und diesem Feld sind zwar unabhängig voneinander, aber die Wahrscheinlichkeit der einzelnen Prozesse wird vom Gesamtfeld determiniert. Diese Annahme wird rasch experimentell widerlegt. (Krüger [1987] 376f) Wie Quetelets Soziologie wendet nun auch die Physik die statistische Beschreibung auf einzelne Objekte an. Doch diese Objekte sind nicht mehr die unteilbaren und undurchdringlichen Atome der Thermodynamik, und die einzelnen Prozesse nicht mehr streng kausal determiniert. Die statistische Mechanik hat die Aufgabe zu beschreiben, wie sich in einer bestimmten makroskopischen Konfiguration die mikroskopischen Zustände mit der Zeit entwickeln können. Für klassische, unterscheidbare Teilchen wird dies durch die Maxwell-Boltzmann-Statistik geleistet. Für n Teilchen in m möglichen Zuständen gibt es N Verteilungen dieser Zustände. Die Zahl der möglichen Verteilungen ergibt sich für diese Statistik als Zahl der möglichen Zustände, die mit der Zahl der Teilchen potenziert wird: N(n, m) = m n . Wir können uns einen Überblick verschaffen, in dem wir die Verteilung der mikroskopischen Zustände in einem Raster organisieren (siehe Abbildung 5.1). Jede Reihe in diesem Gitter repräsentiert die Geschichte eines bestimmten Partikels, die von den Spalten in Zeitpunkte unterteilt wird. In jeder Zelle ist der Zustand eines Teilchens zu einem bestimmten Zeitpunkt eingetragen. Wenn in zwei Spalten die Einträge für alle Partikel gleich sind, beschreiben diese beiden Spalten zwei idente Arrangements. Die Besetzungszahl eines Zustandes gibt an, wie oft ein Zustand in einer Spalte vorkommt. Die Verteilung besteht aus den Besetzungszahlen aller Zustände. Der Austausch der Besetzungszahlen zweier Zustände erzeugt eine neue Verteilung. Die Maxwell-Boltzmann-Statistik geht von der Annahme aus, dass alle Arrangements von Besetzungszahlen mit Partikeln gleich wahrscheinlich sind, beim Durchgehen aller Intervalle ∆t treten sie gleich häufig auf. (Reichenbach [1956] 236f) (Gerner [1997] 123) Die Unterscheidbarkeit klassischer Teilchen wird in der Maxwell-Boltzmann-Statistik vorausgesetzt. Zwei Verteilungen von Elementen
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Particle 1 Particle 2 Particle 3 ................... Particle n
t1 C1 C1 C6 .... C4
t2 C3 C4 C5 .... C1
t3 C1 C6 C1 .... C6
... ... ... ... ............ ...
State 1 State 2 State 3 ................... State m
t1 4 2 0 .... 4
t2 0 3 1 .... 0
t3 0 4 2 .... 1
... ... ... ... ............ ...
Tab. 5.1: Oben: Das Raster einer Maxwell-Boltzmann-Verteilung. Die Zeilen enthalten die Geschichte der einzelnen Teilchen, die aus ihren Zuständen zu den verschiedenen Zeitpunkten t besteht. Unten: Im Raster der Quantenstatistik enthalten die Zeilen die Geschichte der einzelnen Zustände, welche das System einnehmen kann; die einzelnen Zellen geben an, mit wie vielen Teilchen ein Zustand zu dem Zeitpunkt t besetzt war. Die Zahl der Teilchen ist dabei nicht konstant. Nach Reichenbach [1956] 237, 239.
werden darin als unterschiedlich betrachtet, wenn zwei Elemente ihren Zustand wechseln. Daher müssen die Elemente unterscheidbar sein. (Reichenbach [1956] 229) Die Maxwell-Boltzmann-Statistik führt in der Quantenmechanik zu falschen Vorhersagen. Bose und Einstein zeigen, dass eine andere Abzählung der Zustände funktioniert: Durch den Tausch zweier Teilchen zwischen Zuständen entsteht keine neue Anordnung. „This means that we must regard the particles as indistinguishable...“ (Reichenbach [1956] 230) Sind die Teilchen ununterscheidbar und beliebig austauschbar, so kann nicht gut von ihrer Individualität gesprochen werden. Versucht man Quantenentitäten im Partikel-Gitter darzustellen, so kann die These der Äquiprobabilität nicht aufrecht erhalten werden. Deshalb wird mit einem Zustands-Gitter gearbeitet. Die Spalten sind nach wie vor Zeitintervalle ∆t, aber die Reihen enthalten nicht mehr Teilchen, sondern Zustände. Die Einträge in einer Zelle geben an, wieviele Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt im jeweiligen Zustand sind, seine Besetzungszahl. Die Statistik beschreibt nun, wie wahrscheinlich die Besetzung eines Zustandes ist. Das bedeutet, dass nun die Zustände, nicht die Objekte den Status unterscheidbarer Individuen haben. Daher ist es der Austausch der Besetzungszahl zweier Zustände und nicht die Vertauschung zweier Entitäten, welche das Arrangement ändert. Die Verteilung der Wahrscheinlichkeiten ist nun
5.3 Kollektiv |
129
durch Annahme gegeben, dass alle möglichen Arrangements von Zuständen gleich wahrscheinlich sind. (Reichenbach [1956] 237–239) Die Bose-Einstein-Statistik beschreibt Teilchen, bei denen es möglich ist, dass ein Zustand von mehreren Teilchen besetzt wird. Für diese sogenannten Bosonen er). gibt sich die Zahl möglicher Verteilungen der Zustände dann als N(n, m) = ( n+m−1 n Der Unterschied zwischen der Bose-Einstein- und der Maxwell-Boltzmann-Statistik wird zum Beispiel bei der Bestimmung der Entropie deutlich: Man betrachtet zwei Zellen, die mit Gas gefüllt und durch eine Wand getrennt sind. Wird die Wand geöffnet, so steigt nach Maxwell-Boltzmann die Entropie rapide an, nach der BoseStatistik hingegen überhaupt nicht, weil die Teilchen ununterscheidbar sind und die erhöhte Möglichkeit von Platzwechseln die Zahl der möglichen Arrangements nicht erhöht. (Reichenbach [1956] 248) Es gibt noch eine zweite Klasse von Quantenobjekten, zu denen auch die Elektronen gehören und die der Fermi-Dirac Statistik folgen. Diese Statistik ergibt sich aus dem Ausschlussprinzip, das Pauli für Elektronen postuliert hatte und verlangt, dass ein Zustand nur mit einem Teilchen besetzt werden kann. (Reichenbach [1956] 231) Der Unterschied zwischen Fermionen und Bosonen wurde einmal so formuliert: „Fermions are individualists, while bosons are collectivists.“ (Kojevnikov [1999] 295) In der Fermi-Dirac-Statistik kann jeder Zustand nur mit einem Teilchen besetzt werden und die Zahl möglicher Verteilungen der Zustände für Fermionen beträgt N(n, m) = ( mn ) – sie ist im Allgemeinen also viel geringer als für Bosonen.
5.3 Kollektiv Mit dem Fatzer-Fragment beginnt der Begriff des Kollektivs eine zentrale Rolle in Brechts Untersuchung des Verhältnisses von Masse und Individuum zu spielen. Die Individuen treten ihrer Umwelt nicht mehr unmittelbar gegenüber. Zwischen die homogene Masse und den isolierten Einzelfall schiebt Brecht das Kollektiv ein als die konkrete, tatsächlich agierende Entität. Die Abstrakta Masse und Individuum werden durch konkrete Kollektive miteinander vermittelt. Durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Satz an Kollektiven bestimmt sich das Individuum, werden die Einzelnen unterscheidbar. Andererseits wird die abstrakte Masse in eine Konstellation von Kollektiven mit unterschiedlichen Funktionen und Interessen transformiert: „Die ‚Masse der Individuen‘ aber verlor ihre Unteilbarkeit durch ihre Zuteilbarkeit.“ (Brecht [88ff] Bd. 21, 436) Das „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Marx [1970a] 199) als welches Karl Marx das Individuum definiert hatte, erweist sich als widersprüchlich und differenziert und lässt sich nicht auf Klassenverhältnisse reduzieren.
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Das Kollektiv war bereits im 19. Jahrhundert ein wichtiger Begriff der politischen Linken und entwickelte bald ein breites Spektrum an Bedeutungen und Konnotationen. Ursprünglich hatte Bakunin das Kollektiv als freie Vereinigung von Arbeiter*innen gegen die Vorstellung von Marx gestellt, dass im Zug einer Revolution der Staat die Produktionsmittel übernehmen muss. Die Auseinandersetzung um diese Frage führte 1872 zur Spaltung der Internationalen Arbeiterassoziation, die heute als Erste Internationale bekannt ist. Die neue Bewegung, die sich danach formierte, „accepted collectivism as its program and anarchism as its name“ (Kojevnikov [1999] 297). Doch der Begriff des Kollektivs wurde bald von allen sozialistischen Strömungen aufgegriffen als Ausdruck für eine neue Form der Organisation und die Ablehnung des bürgerlichen Individualismus. Um 1930 verschiebt sich die Bedeutung des Begriffs mit der Kollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion und der Einführung von Kolchosen erneut. (Kojevnikov [1999] 297) Der Wissenschaftshistoriker Alexei Kojevnikov hat darauf hingewiesen, dass der Kollektivbegriff von sowjetischen Physiker*innen aus der politischen und sozialen Theorie in die Festkörperphysik übertragen wurde. Dabei wird bewusst ein soziales Konzept metaphorisiert und auf die Physik übertragen. Bis in die 1950er wird dieses neue Konzept vor allem in der Sowjetunion entwickelt und die Physiker*innen, die es vertraten, waren „socialists of various kinds, mostly unorthodox, and cared about politics almost as much as about science“ (Kojevnikov [1999] 299). Im Kalten Krieg war der Terminus des Kollektivs politisch hochbrisant und in der Physik hat sich in dieser Zeit die Bezeichnung Quasipartikel durchgesetzt. (Kojevnikov [1999] 298) Kollektive oder Quasipartikel haben alle Eigenschaften herkömmlicher Teilchen: Sie tragen Energie, Impuls und haben eine effektive Masse, sie streuen und werden gestreut, sie absorbieren und emittieren andere Partikel und Quasipartikel. Allerdings besteht meist eine kompliziertere Beziehung zwischen Energie und Impuls als das herkömmliche Verhältnis E = p2 /2, das nur für freie Teilchen gilt. (Kojevnikov [1999] 324) Auch der Impuls ist nicht strikt erhalten, sondern kann sich um ein Quant ändern. Bei seiner Übertragung auf die Physik wird das Konzept des Kollektivs mathematisch formuliert. Im Bereich seiner Anwendung löst es Atome und Moleküle als fundamentale Entitäten ab: Some physicists have considered quasiparticles, rather than atoms or molecules, as the elementary constituent parts of practically all real bodies in the world [...] except rarefied gases and the high vacuum. (Kojevnikov [1999] 298)
Allerdings sind Quasipartikel „elementary units of movement“ und benötigen ein Medium, während Atome und Elektronen „elementary building blocks“ sind
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und auch im Vakuum existieren. Der ontologische Status der Quasipartikel ist daher nicht klar und sie können durchaus als Artefakte des Mediums interpretiert werden. Ihre Existenz wird durch die Beobachtung ihrer Wirkung im Spektrum des absorbierten oder emittierten Lichts nachgewiesen und ihr Status kann insofern mit jenem der Elektronen verglichen werden, den Ian Hacking ausführlich diskutiert hat (Hacking [1983] 21–31). Diese Kollektive bilden die fundamentalen Entitäten der modernen Festkörperphysik, die mehrere Dutzend Quasipartikel kennt. Heute verwendet die Physik zahlreiche Konzepte wie „kollektive Phänomene,“ „kollektive Anregungen,“ „kollektive Moden,“ „kollektive Schwingungen“ und „kollektive Koordinaten.“ (Kojevnikov [1999] 296–300) Es zeigt sich, dass der Transfer von Konzepten zwischen Gesellschaftstheorie und Naturwissenschaft in beide Richtungen Metaphern von großem heuristischen Wert erzeugt.
5.3.1 Kollektiv und Ensemble in der Physik So erfolgreich die Maxwell-Gleichungen bei der Berechnung elektromagnetischer Phänomene sind, so wenig lässt sich die Beschreibung elektrischer Ladungsströme in Materie unmittelbar aus ihnen ableiten. Zu Beginn der 1920er gibt es zwei widersprüchliche Konzepte des elektrischen Stroms, also der Bewegung von Ladungen in Festkörpern. In einem Festkörper kann sich ein Elektron in zahlreichen Bindungszuständen befinden, deren Spektrum von dem „kollektivierten,“ aus der Bindung an ein einzelnes Atom vollständig befreiten Elektron bis zum von einem einzelnen Atom „gefangenen“ Elektron reicht. (Kojevnikov [1999] 325) In Metallen haben die Elektronen eine große Bewegungsfreiheit, so dass sie elektrische Ströme transportieren können. Ein Ansatz beschreibt sie daher als freies „Elektronengas“ und modelliert ihre Bewegung nach dem Vorbild der kinetischen Gastheorie. Dennoch wirken auch im Metall starke Kräfte auf die Elektronen, und jedes Metall hat einen spezifischen elektrischen Widerstand, der aus den Wechselwirkungen zwischen Elektronen und Atomen resultiert. Im anderen Grenzfall werden sie daher als fest an einen Atomkern gebunden beschrieben, sodass sie nur in Ausnahmefällen wandern können. (Kojevnikov [1999] 296) In beiden Fällen werden die Elektronen als isolierte Teilchen konzipiert. Als Alternative zu diesen widersprüchlichen Modellen entwickeln die sowjetischen Physiker Yakov Frenkel und Viktor Tamm die Beschreibung der Elektronen durch Kollektive. Frenkel berechnet die Orbitale der Elektronen in einem Metall auf Grundlage des Bohrschen Atommodells und stellt fest, dass die äußersten Elektronenbahnen der Atome überlappen, sodass die Elektronen sich von einem Atom zum nächsten bewegen können. Die Valenzelektronen sind zwar nicht mehr an das einzelne Atom gebunden, doch Frenkel betont, dass sie nicht frei sind: Stärker als zuvor an das Atom sind sie nun an den
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ganzen Festkörper gebunden. Sie sind kollektiviert: „...they no longer belong to individual atoms but to the entire collective formed by these atoms.“ (Frenkel, zit. nach Kojevnikov [1999] 304) Auch in Kristallen sind die atomaren Ionen nicht vollständig an ihren Platz gebunden, wie ihre Diffusion in Festkörpern zeigt. In den 1920ern entwickelt man eine Theorie dieser Bewegung: Wenn ein positiv geladenes Ion sich im Kristall bewegt, entsteht eine Leerstelle. Wenn ein benachbartes Atom genug Energie hat, kann es in diese Leerstelle springen und die Fehlstelle beginnt durch den Kristall zu wandern. Die kollektive Bewegung aller Atome im Gitter kann nun durch die Bewegung eines fiktiven Teilchens, des „Lochs“ durch das Gitter beschrieben werden. So lässt sich die Bewegung vieler Ionen auf die Bewegung eines Teilchens mit entgegengesetzter Ladung und in die entgegengesetzte Richtung reduzieren. Dirac und Heisenberg übernehmen den Begriff des Lochs für Elektronen-Leerstellen, während die ionischen Leerstellen in Kristallen heute als „Frenkel-Defekt“ bezeichnet werden. (Kojevnikov [1999] 305–307) Dieses Modell der Beschreibung einer kollektiven Bewegung von Entitäten durch die Bewegung eines einzigen Quasiteilchens findet bald weitere Anwendungen. Bei der Untersuchung der Lichtbrechung in Quarz werden im Spektrum des Lichts zwei unerwartete Linien beobachtet. Die Linien können nicht durch die Wechselwirkung des Lichts mit einzelnen Atomen erklärt werden. Analog zu Diracs Konzept des Photons als einer quantisierten wellenförmigen Erregung des elektromagnetischen Feldes wendet Tamm die Zweite Quantisierung auch auf elastische Wellen in einem Festkörper an. Er definiert „elastische Quanta,“ die er später Phononen nennt. Phononen beschreiben eine thermische Bewegung des Festkörpers: Wird ein einzelnes Atom aus seiner Ruhelage gebracht, so verursacht es eine Schwingung im ganzen Körper. Die Frequenzverschiebung bei der Streuung des Lichts an einem schwingenden Festkörper wird interpretiert als die Emission oder Absorption eines Teilchens durch ein anderes, als Wechselwirkung zwischen Phononen und Photonen. Dieses Konzept der Phononen wird von der Gruppe um Lev Landau generalisiert. Nicht nur im Festkörper, in jedem System mit stark wechselwirkenden Atomen treten kollektive Erregungen auf, die phänomenologisch durch ein ideales Bose-Gas beschrieben werden können. (Kojevnikov [1999] 314f) Unter der Leitung von Lev Landau wird das Konzept des Kollektivs auf eine Reihe von physikalischen Problemen angewandt. Ab 1936 wendet sich die Untersuchung dem zu den Metallen analogen, aber einfacher zu modellierenden Fall des Plasmas zu. (Kojevnikov [2002] 175) Plasma ist ein Gas, das so heiß ist, dass darin die Elektronen von den Ionenrümpfen dissoziieren und unabhängig von den Atomen werden. Dennoch sind sie nicht vollkommen frei: Die Elektronen bewegen sich in einem von ihnen selbst erzeugten Feld und bilden dabei eine oszillierende, aber stabile Struktur. Das Plasma verhält sich einigermaßen autopoietisch und bewahrt
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seine Autonomie, „effectively screening out charges inserted into it.“ (Kojevnikov [2002] 168) Diese Bewegung im gemeinsamen Feld bezeichnen die sowjetischen Physiker als „kollektive Bewegung.“ Der US-amerikanische Physiker David Bohm greift nach dem Zweiten Weltkrieg den Ansatz der russischen Theoretiker auf und entwickelt die moderne Theorie des Plasmas, wobei er ein neues Quasipartikel einführt, das Plasmon. Auch in seiner Analyse spielt das Konzept des Kollektivs eine zentrale Rolle. (Kojevnikov [2002] 163) Gegenüber den Atomkernen ist das Plasma nach Bohms Ansicht die fundamentalere Einheit, weil nicht nur isolierte Entitäten auftreten, sondern ihre Relationen eine wichtige Rolle spielen: ... it determined its own conditions, it had its own movements which were self-determined and it had the effect that you had collective movement, but all the individuals would contribute to the collective and at the same time have their own autonomy.“ (Bohm zitiert nach Kojevnikov [2002] 170)
Die kohärente Bewegung der Elektronen im Plasma versteht Bohm als Modell für die Beziehung zwischen Einzelnem und Kollektiv in der Gesellschaft, in dem individuelle Freiheit nicht im Widerspruch steht zu gemeinsamer, kollektiver Aktion. (Kojevnikov [2002] 171) Der Begriff des Kollektivs beginnt zurückzuschwingen aus der Physik in die Gesellschaft. Der Kollektivbegriff in der Quantenmechanik beschreibt, wie aus dem Zusammenspiel vieler Einheiten eine physikalische Entität entsteht. Der Begriff des Ensembles wird von den Physiker*innen aus der Statistik übernommen. Das Ensemble besteht aus identen Entitäten – im Fall der Quantenphysik aus einer Vielzahl von Objekten, die in einem identen Anfangszustand präpariert wurden – etwa Atome in ihrem Grundzustand oder Photonen mit gleicher Wellenlänge und Polarisation. Das Verhalten des Gesamtensembles ist vorhersagbar. Das Verhalten der Elemente des Ensembles hingegen ist nicht determiniert. Dabei zeigt sich, dass das Verhalten eines Objekts nicht unabhängig davon ist, wie sich die anderen Objekte verhalten. So demonstriert der sowjetische Physiker Blokhintsev etwa, dass Elektronen in Metallen eine „effektive Masse“ haben, die von den anderen Elektronen im Metall beeinflusst wird. (Kojevnikov [2012] 227) Blokhintsev folgert im Gegensatz zu Bohr, dass die grundlegenden Entitäten, mit welchen die Quantenmechanik operiert, nicht individuelle Prozesse sind, sondern statistische Ensembles, innerhalb derer Korrelationen bestehen. (Kojevnikov [2012] 230) Auch der russische Mathematiker Mandelstam stellt fest, dass in der Quantenmechanik die Messung nicht ein einzelnes Teilchen erfasst, sondern ein statistisches Ensemble. Der probabilistische Charakter der quantenmechanischen Gesetze entsteht, weil die neue Physik stets nur das Verhalten einer großen Zahl von Teilchen beschreibt:
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Even when quantum mechanics appears to be talking about one individual particle, a careful analysis of the experimental situation can demonstrate that it actually deals with many atomic systems in a similarly prepared state, or with many repeated experiments of the same setup. (Kojevnikov [2012] 213)
Daher bezieht sich nach dieser Interpretation die Beschreibung der Observablen nicht auf individuelle Fälle. Mit diesem Ansatz lässt sich auch das Gedankenexperiment von Einstein, Podolsky und Rosen neu lesen. Einstein selbst hat betont, dass das Paradoxon gelöst werden kann, wenn die Wellenfunktion auf ein Ensemble von Systemen bezogen wird statt auf individuelle Teilchen (Kojevnikov [2012] 216): Die kausale Wechselwirkung zwischen den verschränkten Teilchen in der Vergangenheit hat zu einer Korrelation zwischen Subsets des gesamten Ensembles geführt. Werden verschiedene Messungen ausgeführt, werden nun jeweils verschiedene Subsets des Ensembles ausgewählt. (Kojevnikov [2012] 219f) Diese Interpretation wird meiner Meinung nach von den delayed-choice-Experimenten in den letzten Jahren bestärkt (siehe etwa Ma et al. [2012]). 1936 erscheint eine Formulierung der Quantenmechanik, in der die Gleichungen statistische Ensembles beschreiben. Die Wellenfunktion Ψ wird als Ensemble von identisch präparierten atomaren Systemen interpretiert, deren Korrelationen durch einen reinen Zustand beschrieben werden. Aufgrund der Quantisierung der Wirkung ändern sich die statistischen Eigenschaften des Ensembles bei der Messung: Der reine Zustand wird in einen gemischten Zustand transformiert. Dabei wird das ursprüngliche Ensemble in seine Komponenten zerlegt, die SubEnsembles korrelierter Objekte, aus denen es besteht. (Kojevnikov [2012] 230) Damit kann die Unschärferelation aufrecht erhalten werden, während gleichzeitig die Prozesse als „objektiv“ beschrieben werden, insofern die Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Resultate nicht aus der Indeterminiertheit des individuellen Verhaltens, sondern aus der objektiven Verteilung von bestimmten Werten unter vielen Teilchen resultiert. (Kojevnikov [2012] 217)
5.3.2 Leben und Tod Im Kollektivkonzept der Quantenmechanik treffen statistische Methode und Feldkonzept aufeinander. Auch wenn das Kollektiv bereits in der alten Quantenmechanik eingeführt wurde, denke ich, dass die Grundlage seines Erfolgs die Anwendung in der Quantenfeldtheorie ist. Brecht betont, dass es in Kollektiven auf die Funktion ankommt und nicht auf die Person, welche sie erfüllt. Er verhandelt in den Lehrstücken stets die Frage der Aufhebung der Person im Kollektiv. Mit der Quantenfeldtheorie, die der marxistische Physiker Paul Dirac ab 1927 entwickelt, entsteht
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das Problem der Entstehung und des Vergehens der fundamentalen Entitäten auch in der Physik. Nach der erfolgreichen Formulierung einer konsistenten Beschreibung des Verhaltens einzelner Quantenobjekte versuchen Heisenberg und Pauli die Theorie auf die elektromagnetischen Wechselwirkungen zwischen diesen Objekten zu erweitern – also eine Quantenphysik der Felder zu finden. (Heisenberg und Pauli [1929]) Sie gehen von einem klassischen, kontinuierlichen Feld aus. Die Hamilton-Funktion, welche die Bewegung des geladenen Körpers in diesem Feld beschreibt, wird nachträglich quantisiert. Dagegen wendet Dirac ein, dass bei der Wechselwirkung zwischen Feldern und Ladungen die Ladungen die Felder erzeugen, aber umgekehrt die Felder die Bewegung der Ladungen beeinflussen. Feld, Ladungen und Wechselwirkung müssen quantisiert werden. 1927 postuliert Dirac, dass die elektromagnetische Wechselwirkung von Teilchen vermittelt wird, welche er später als Photonen bezeichnet. Sie bewegen sich mit Lichtgeschwindigkeit und folgen der Bose-Einstein-Statistik. Dirac formuliert nun eine Beschreibung der wechselwirkenden Quantenobjekte, bei der die Dynamik durch das Feld erzeugt wird und die Quantenobjekte die zeitlich stationären Zustände enthalten. Diese Funktion des Feldes wird nun erneut quantisiert. Dies wird als Zweite Quantisierung bezeichnet, da ja die Eigenzustände der Objekte bereits quantisiert sind. Die Bewegungsgleichung, die aus der Zweiten Quantisierung folgt, erlaubt es über die Beschreibung einzelner Objekte hinauszugehen und Systeme zu berechnen, die aus vielen Entitäten bestehen. Die Beschreibung von N Objekten durch die erste Quantisierung erfordert es, ein System aus N Wellenfunktionen in einem N-dimensionalen Konfigurationsraum zu lösen – Dirac hingegen verwendet eine einzige Wellenfunktion in der vierdimensionalen Raum-Zeit und reduziert so den Aufwand ganz erheblich. Es gelingt ihm mit diesem Ansatz, eine relativistische Bewegungsgleichung der Quantenmechanik zu formulieren und so spezielle Relativitätstheorie und Quantenphysik zu vereinen. (Dirac [1927]) In ihrem niedrigsten Energiezustand bewegen sich die Lichtteilchen nicht. Da Photonen aber keine Ruhemasse besitzen, verschwindet dann ihre Energie vollständig. Dieser Grundzustand wird mit dem Vakuum identifiziert, und er kann unendlich viele Photonen enthalten. Die Absorption von Licht durch Atome entspricht in diesem Modell dem Übergang der Lichtquanten in den Grundzustand: Das Photon gibt seine Bewegungsenergie vollständig an das Atom ab. Dirac schreibt: The light-quantum has the peculiarity, that it apparently ceases to exist, when it is in one of its stationary states, namely, the zero state in which its momentum, and therefore also its energy, are zero. When a light-quantum is absorbed it can be considered to jump into this zero state, and when one is emitted it can be considered to jump from the zero state to one in which it is physically in evidence, so that it appears to have been created. (Dirac [1927] 260f)
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Beim Übergang aus einem angeregten Zustand in den Grundzustand verschwinden die Photonen aus der Welt der messbaren Dinge. Umgekehrt entsteht ein Photon, wenn ein angeregtes Elektron Energie abgibt und das Atom diese Energie in Form von Licht aussendet. Damit werden Tod und Geburt, die Erzeugung und Vernichtung von Teilchen, in die Physik eingeführt, auch wenn Dirac selbst seine Worte sehr vorsichtig wählt. Es gibt auch kollektive Bewegungen der Photonen. Dies ist die theoretische Grundlage des Lasers, der erst viele Jahre später auch experimentell realisiert werden kann. Im kohärenten elektromagnetischen Feld des Lasers schwingen alle Photonen mit der gleichen Frequenz. Je schärfer die Frequenz aller Photonen übereinstimmt, desto größer wird die sogenannte Koheränzlänge, welche die Unschärfe des Aufenthaltsort eines einzelnen Photons angibt. Doch die Unschärferelation verbindet die Frequenz mit der Zahl der Teilchen als komplementäre Größen. Die exakte Abstimmung der Frequenz der Photonen kommt um den Preis der Unbestimmtheit ihrer Anzahl. Während die Zahl der Entitäten nicht erhalten bleibt, kann ihre kollektive Bewegung kohärente Felder von ungeheurer Wirkung erzeugen.
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Teil II: Brecht und Reichenbach: Eine Nachbarschaft make chance your fate. (Plakat in einem Klub in Oakland, Kalifornien) Dieser Teil der Arbeit ist vorwiegend während eines Aufenthalts an der UC Berkeley in Kalifornien entstanden. Darin stelle ich die Diskussion dar, die Brecht in Los Angeles mit dem Physiker und Philosophen Hans Reichenbach über das Kausalitätskonzept der Quantenmechanik geführt hat. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet eine Notiz im Arbeitsjournal Brechts: 26.10.41 nachmittag bei dem physiker reichenbach, der hier an der kalifornischen universität philosophie liest, empiriker, logistiker, einstein-schüler. er macht mir komplimente über den physikalischen teil des galilei und das historische daran, aber dann kommen ein paar psychoanalytiker, und ich lenke das gespräch auf astrologie [...] r[eichenbach] spricht von wishful selection bei den aussagen, aber auch er verschont die totemisten mit seiner neuen logik. ich selber nehme kaum noch an einer diskussion teil, die ich nicht sogleich in eine diskussion über logik verwandeln möchte. (Brecht [1973] 305)
138 | Teil II Brecht und Reichenbach: Eine Nachbarschaft
Im folgenden Abschnitt gehen wir den Spuren in diesen Sätzen nach. Einige Fährten haben wir bereits aufgenommen, etwa den Galilei, an dessen amerikanischer Fassung Brecht zu dieser Zeit zu arbeiten beginnt. Brechts Notizen führen uns weiter zu einem Vortrag Reichenbachs über die Kausalität in Quantenmechanik und Relativitätstheorie im Jahr 1942, dessen Inhalt verlorengegangen ist. Anhand eines Manuskripts aus dem dem Nachlass Reichenbachs versuche ich, die Position Reichenbachs zu rekonstruieren. Das Problem des Verhältnisses von Subjekt und Objekt in der Quantenmechanik will Reichenbach mit der Entwicklung einer mehrwertigen Logik lösen. Brecht hat solche Fragen der Logik mit Reichenbach besprochen und es zeigt sich, dass auch seine Dramen eine mehrwertige Logik voraussetzen. Brecht diskutiert mit Reichenbach auch einen Vortrag Plancks über Determinismus und Indeterminismus. Dabei wird deutlich, wie eng biographische Erfahrungen und Weltanschauung mit der Interpretation der Quantenmechanik zusammenhängen.
6 Los Angeles im Herbst 1941 ist kein gutes Jahr für Bertolt Brecht. Soeben an der letzten Station seiner Flucht vor dem Nationalsozialismus angekommen, findet er sich in Kalifornien isoliert und ohne Aussicht auf die Realisierung neuer Theaterpläne. (Lyon [1980] 35ff.) In dieser Situation beginnt Brecht eine intensive Diskussion mit einem seiner Nachbarn in Hollywood. Dieser Nachbar ist heute in Europa weitgehend unbekannt, seine Beziehung zu Brecht kaum untersucht. Der logische Empirismus, den der Nachbar vertrat, scheint unvereinbar mit einem leninistischen Marxismus, dem Brecht im Kalten Krieg zugerechnet wurde – von beiden Lagern. In der Weimarer Republik war der Nachbar jedoch ein einflussreicher und bekannter Intellektueller: der Physiker und Philosoph Hans Reichenbach.
6.1 Hans Reichenbach: Ein Nachbar Die erste der neun Notizen im Arbeitsjournal über Brechts Gespräche mit Reichenbach in Los Angeles stammt aus dem Herbst 1941 und ist mit 26. Oktober datiert. Reichenbach wird ungewöhnlich ausführlich vorgestellt: nachmittag bei dem physiker reichenbach, der hier an der kalifornischen universität philosophie liest, empiriker, logistiker, einstein-schüler. (Brecht [1973] 305)
1891 in Hamburg geboren war Reichenbach tatsächlich einer jener bloß fünf Studenten, welche 1919 die erste Vorlesung Albert Einsteins über die Allgemeine Relativitätstheorie hörten (Gerner [1997] 35). Er war in der Weimarer Republik einer der wichtigsten Verfechter der neuen Lehre der Raumzeit und ihrer Krümmung durch Massen. Die Theorie Einsteins war noch keineswegs allgemein anerkannt, sondern Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen. Als bei der Sonnenfinsternis im Jahr 1919 die Voraussage der Theorie bestätigt wurde, dass die Masse des Zentralgestirns die Raum-Zeit und daher auch die Bahn der Lichtstrahlen krümmt, begann eine Debatte, welche die Physiker*innen für mehr als ein Jahrzehnt beschäftigt hat. (Gerner [1997] 39 & 47) Zu Reichenbachs Lehrern zählten neben Einstein auch der Mathematiker David Hilbert und Max Planck. Reichenbach hat außerdem Philosophie bei Edmund Husserl und Ernst Cassirer studiert, dessen Neukantianismus ihn zunächst stark geprägt hat. (Kamlah [1993] 239) Doch die kantianische Auffassung, dass der Raum nur eine Form der Anschauung ist und als solche notwendigerweise und stets euklidisch gedacht werden muss, diese Auffassung kam rasch in Konflikt mit der revolutionären Theorie Einsteins über Raum und Zeit (vgl. die Notiz Reichenbach https://doi.org/10.1515/9783110546354-006
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044-01-16 [o.J.]). Denn die Relativitätstheorie zeigt, dass andere als euklidische Räume nicht nur denkbar sind, sondern dass diese auch physikalische Bedeutung haben. Die allgemeine Relativitätstheorie beschreibt den Raum als Beziehung der Objekte untereinander und nicht als abstrakte Anschauungsform. Die Problematik prägt bereits Reichenbachs Habilitationsschrift Relativitätstheorie und Erkenntnis a priori. Er bestimmt darin seinen Begriff des a priori neu und hält gegen Kant fest: Apriori bedeutet: vor der Erkenntnis, aber nicht: für alle Zeit, und nicht: unabhängig von der Erfahrung. (zit. nach Gerner [1997] 38)
Das a priori wird also ein historisches, die Voraussetzungen der Erfahrung können selbst durch die Erfahrung modifiziert werden. Während in der Philosophie eine Diskussion um die Historizität unserer Erkenntnisstrukturen beginnt, will Brecht in seinem epischen Theater dem System der sozialen Beziehungen den Anschein von Notwendigkeit und ewiger Gültigkeit nehmen: „Die Stellung des Individuums in der Gesellschaft verliert ihre ‚Naturgegebenheit‘ und kommt in den Brennpunkt des Interesses.“ (Brecht [1967] Bd. 16, 654f) Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind den Einzelnen, welche diese Verhältnisse eingehen, a priori und durch sie wird „das Individuum wesentlich bestimmt.“ (Haug [1996] 52) Doch dieses a priori wird im epischen Theater als veränderlich dargestellt. Fredric Jameson bezeichnet dies als ... the whole political message and content of the V-effect itself – namely to reveal what was taken to be eternal or natural [...] as merely historical, as a kind of institution which has come into being owing to the historical and collective actions of people and their societies, and which therefore now stands revealed as changeable. (Jameson [1998] 47)
Nach seiner Habilitation war Reichenbach zunächst an der Technischen Hochschule Stuttgart als Assistent tätig, bevor er 1926 einen Lehrauftrag an der FriedrichWillhelms-Universität in Berlin erhielt. (Gerner [1997] 42f & 68–70 – Danneberg und Müller [1990] 155) Hier in Berlin entwickelt er sich zu einem wichtigen Denker des logischen Empirismus und führenden Mitglied der „Gesellschaft für empirische Philosophie,“ die unter Reichenbachs Einfluss bald umbenannt wurde in „Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie.“ Sie bildet das Berliner Pendant zum Wiener Kreis. Ende der zwanziger Jahre verschob sich unter dem Einfluss der „Berliner Gesellschaft“ der Schwerpunkt der Überlegungen Reichenbachs von der Relativitätstheorie zu Fragen der Logik und Wahrscheinlichkeitslehre – und damit zu philosophischen Problemen der Quantenmechanik. Reichenbach hat in der Weimarer Republik an der Popularisierung physikalischphilosophischer Probleme gearbeitet. Damit hat er wesentlich dazu beigetragen,
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dass die weltanschaulichen Fragen der neuen Physik von Laien aufgegriffen wurden. Er gestaltete Radiosendungen für ein breites Publikum (Gerner [1997] 118f), die er in seinem Buch Atom und Kosmos zu einer allgemein verständlichen Darstellung der damaligen Physik zusammengefasst hat. In der Berliner Charité organisierte die Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie eine Reihe erfolgreicher Vorträge (Gerner [1997] 86), zu deren Zuhörer*innen auch Brecht gehört haben dürfte (Sautter [1995] 689). Gemeinsam mit Rudolf Carnap als Vertreter des Wiener Kreises gab Reichenbach das Organ des logischen Empirismus heraus, die Zeitschrift Erkenntnis, die 1930 erstmals erschien (Kamlah [1993] 241–243). Hier publizierten nicht nur Wissenschaftstheoretiker*innen wie Reichenbach und Schlick, Quantenphysiker*innen wie Heisenberg und Schrödinger, sondern auch Soziolog*innen wie Otto Neurath und Psycholog*innen wie Kurt Lewin. In Bertolt Brechts Handbibliothek finden sich die ersten drei Bände dieser Zeitschrift, welche die Hefte 2–4 von 1930 und die Hefte 4–6 von 1931 enthalten (Wizisla et al. [2007] 487f). Zahlreiche der Artikel sind von Brecht auch durchgearbeitet worden, wie ausführliche Randnotizen zeigen. 1933 wurde Reichenbach aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des deutschen Berufsbeamtentums“ von der Universität vertrieben. So erging es vielen Physiker*innen und Deutschland büßte schlagartig seine Rolle als Zentrum der Quantenmechanik ein. Reichenbach brach „mittendrin“ (Gerner [1997] 131) im Sommersemester 1933 seine Vorlesungen ab und ging noch im Sommer ins Exil in die Türkei. (Gerner [1997] 132) In Istanbul fand zu dieser Zeit statt, was Andreas Kamlah später als „Abwicklung“ der Universität bezeichnet hat: Um das Niveau der Lehre zu heben und wohl auch um den Einfluss der Monarchie zu brechen, waren sämtliche türkische Professoren entlassen worden. Auf die Stellen wurden ausländische Kapazitäten berufen – unter ihnen Hans Reichenbach. (Kamlah [1993] 244) Reichenbach ist nicht in Istanbul geblieben. Bald bemühte er sich um eine Position in den USA. 1938 verließ er schließlich die Türkei, um eine Professur an der University of California, Los Angeles (UCLA) anzutreten. Er zog mit seiner (ersten) Frau in ein Haus in Pacific Palisades, einem Stadtteil von Los Angeles, der direkt am Meer liegt. (Kamlah [1993] 245) Drei Jahre später, im Juli 1941, lassen sich „Brecht & Co“ (Fuegi [1997]) im benachbarten Santa Monica nieder. Im kalifornischen Exil hat Brecht nur wenige Gesprächspartner. Ruth Berlau erinnert sich später, dass Brecht in Los Angeles „mit Ausnahme von Hanns Eisler – keine politischen Freunde“ (Bunge [1985a] 166) hatte. Im September 1941 beklagt Brecht sich bei Karl Korsch die geistige isolierung ist hier ungeheuer, im vergleich zu hollywood war svendborg ein weltzentrum. (Brecht [88ff] Bd. 29, 211)
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Nur einen Monat früher ist Brecht noch optimistischer, als er Korsch schreibt, sie seien auf ihrer Flucht nur zufällig nach Los Angeles gekommen, „wo wir aber viele Freunde vorfanden.“ (Brecht [88ff] Bd. 29, 210) Allerdings erwähnt er nur einen dieser Freunde namentlich: Hans Reichenbach (Brecht [88ff] Bd. 29, 211). Auch Hanns Eisler berichtet, dass er Reichenbach „sehr oft“ bei Brecht traf (Bunge [1970] 190). Neben dem Komponisten Eisler und dem Schriftsteller Feuchtwanger dürfte Reichenbach einer der – nicht allzu zahlreichen – Bekannten gewesen sein, mit denen Brecht sich in L.A. gut verstand (Sautter [1995] 692f). Brecht notiert, dass Reichenbach regelmäßig an Treffen und Diskussionen der deutschen Migrant*innen teilnahm (Brecht [1973] 510, 517, 597), und auch, dass ihn der Physiker beim Erstellen von Photographien der Szenen seiner Stücke unterstützt hat (Brecht [1973] 714). Mit Reichenbach hat Brecht auch physikalische Fragen im Leben des Galilei besprochen (Bunge [1970] 251), und bereits am 26. Oktober 1941 notiert Brecht: „er macht mir komplimente über den physikalischen teil des galilei und das historische daran“ Als die aufwendige Übersetzung schließlich fertiggestellt ist, gehört Reichenbach zu dem kleinen Kreis, vor dem der englische Text zum ersten Mal gelesen wird (Brecht [1973] 765). Im Tui-Roman, Brechts böser Kritik an den Intellektuellen der Weimarer Republik, hat Reichenbach einen kurzen Auftritt als Bo-enreich: Die Verwirrung der Begriffe versucht der Tui Logiker Bo-enreich ähnlich zu lösen wie der Papst: Durch Entwirrung der Begriffe. (Brecht [88ff] Bd. 17, 39)
Im Leben des Galilei kommt es zu einer Wendung, als mit Urban VIII ein neuer Papst ernannt wird. Galilei erhofft sich von ihm, dass er als Mathematiker seine Berechnungen über die kirchliche Doktrin stellt: „Ein Wissenschaftler auf dem heiligen Stuhl!“ (Brecht [1967] Bd. 3, 1305). Er nimmt seine verbotenen Forschungen wieder auf. Doch der Papst erfüllt Galileis Erwartung nicht. Während er angekleidet wird, drängt ihn der Inquisitor, Galilei unter Druck zu setzen. Als die päpstliche Robe angelegt ist, verschwindet auch der Wissenschaftler unter seiner neuen Funktion: Um die herrschende Gesellschaftsordnung nicht zu gefährden, lässt der Papst Galilei mit Folter drohen. So kommt es zum Widerruf Galileis. Der Vergleich, den Brecht zwischen Reichenbach und dem Papst zieht, scheint kurz und neutral. Doch darin verbirgt sich ein Angriff Brechts, der Reichenbach vorwirft, aus den Erkenntnissen der neuen Physik keine Konsequenzen für die sozialen Beziehungen zu ziehen: „Was mich lachen macht, ist die Art wie diese Leute ihre Resultate verallgemeinern oder – wie sie nicht verallgemeinern.“ (Brecht [1967] Bd. 20, 291) schreibt er an anderer Stelle. In ihren Gesprächen haben Brecht und Reichenbach wohl an Überlegungen angeknüpft, die im Umfeld des logischen Empirismus Anfang der 1930er Jahre
6.2 Begegnung mit der Frankfurter Schule: Totemisten |
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diskutiert wurden. Es ist nicht klar, ob Brecht und Reichenbach einander schon damals persönlich kannten. Sicher ist jedoch, dass Karl Korsch mit Reichenbach in Kontakt stand. (Sautter [1995] 689) Korsch hat Brecht nicht nur über den Marxismus unterrichtet, sondern auch auf den logischen Empirismus hingewiesen. In Los Angeles hat Brecht nun die Gelegenheit, die Frage des „Kausalnexus“ (Brecht [1967] Bd. 19, 376f) ausführlich zu diskutieren – es hätte kaum einen besseren Ansprechpartner für ihn geben können als Reichenbach, den Physiker und Philosophen.
6.2 Begegnung mit der Frankfurter Schule: Totemisten Das Gespräch vom 26. Oktober ’41 nimmt dann eine überraschende Wendung: dann kommen ein paar psychoanalytiker, und ich lenke das gespräch auf astrologie [...] r[eichenbach] spricht von wishful selection bei den aussagen. (Brecht [1973] 305)
Brecht wechselt abrupt das Thema, als „ein paar psychoanalytiker“ kommen. Betrachtet man den Kreis deutscher Emigrant*innen in L.A. und genauer die Schnittmenge jener Leute, mit denen sowohl Brecht als auch Reichenbach verkehrt haben, so scheint es wahrscheinlich, dass es sich dabei um Vertreter des Frankfurter Instituts handelt – schließlich bildet die Psychoanalyse ein Fundament ihrer Sozialforschung. Anhand der Astrologie lässt sich eine Frage verhandeln, die Brecht stets brennend interessiert hat: Das Problem der Kausalität in den menschlichen Beziehungen. Dieses wurde spätestens im Exil zum bestimmenden Moment in Brechts Ästhetik, wie Robert Cohen bemerkt (Cohen [2003] 55). Vermutlich 1940 schreibt Brecht einen kurzen Text mit dem Titel Horoskop, offensichtlich ein Exposé zu einem Drehbuch. Darin wird Brechts Einschätzung der Astrologie und ihres Verhältnisses zum Individuum deutlich formuliert. Die Idee für den Film ist recht einfach: Es werden die Geschicke von fünf bis sechs Personen verschiedenen Standes und verschiedenen Naturells durch eine ganze Woche verfolgt: sie haben alle durch ihr Pressehoroskop die Anweisungen für ihr tägliches Verhalten bekommen und versuchen, den Ratschlägen zu folgen. (Brecht [88ff] Bd. 20, 15)
In den komplizierten gesellschaftlichen Wirkungszusammenhängen versuchen viele Menschen sich zu orientieren, indem sie auf die Vorhersagen der Astrologie zurückgreifen. Das erweist sich in Brechts Entwurf aber als völlig irrationales Verhalten: Die gesellschaftlichen Verhältnisse führen dazu, dass es nicht die gleichen Konsequenzen hat, wenn sich ein Lord und ein Arbeitsloser gleich verhalten. Die
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Ratschläge des Horoskops beanspruchen Allgemeingültigkeit und lösen damit das Individuum aus seinem sozialen Feld – „Der Film soll nun zeigen, daß, wenn zwei das gleiche tun, nicht das gleiche herauskommt.“ (Brecht [88ff] Bd. 20, 15) Es soll also das Besondere des Einzelnen in seinen gesellschaftlichen Zusammenhängen mit dem abstrakten Individuum, an das sich die Astrologie wendet, konfrontiert werden. Brechts Angriff geht weit über die unzulässigen Verallgemeinerungen der Horoskope hinaus: Die herrschende Ästhetik verlangt vom Kunstwerk, indem sie eine unmittelbare Wirkung verlangt, auch eine alle sozialen und sonstigen Unterschiede der Individuen überbrückende Wirkung. (Brecht [88ff] Bd. 24, 128)
Der Film kam über die bloße Konzeption nicht hinaus. Doch die Astrologie blieb Gegenstand der Gespräche der deutschen Emigrant*innen in Kalifornien (vgl. zum Beispiel Brecht [1973] 301). Adorno hat nach dem Krieg eine Studie über die Horoskope in der Los Angeles Times durchgeführt, die unter dem Titel Aberglaube aus zweiter Hand erschien. Er stellt fest, dass die Autor*innen der Horoskope eben das machen, was Reichenbach „wishful selection bei den aussagen“ nannte. (Adorno [1980] Bd. 8, 147ff.) Adorno geht es nicht darum, dass die Anweisungen der Horoskope sinnlos sind, er fragt nach den Kriterien, anhand derer die Aussagen ausgewählt werden. Diese Kriterien werden in seinem Ansatz weitgehend psychoanalytisch aufgefasst. Adorno schätzt auch die Ursache für die starke Resonanz, welche die Horoskope bei den Leser*innen der Zeitung finden, anders ein als Brecht. Er begreift die Astrologie als Reminiszenz an alte Formen des Aberglaubens, beschreibt sie als „sekundären Aberglaube,“ bei dem „das Okkulte zur Institution geronnen“ ist. (Adorno [1980] Bd. 8, 148) Ganz im Sinn Brechts hält Adorno aber über die esoterische Begründung der Aussagen der Horoskope fest: Darin reflektiert sich gesellschaftliche Irrationalität: die Undurchsichtigkeit und Zufälligkeit des Ganzen fürs Einzelindividuum. (Adorno [1980] Bd. 8, 152)
Der Einzelne, so Brecht, „registriert nur schwache, dämmrige Eindrücke von der Kausalität, die über ihn verhängt ist.“ (Brecht [1967] Bd. 15, 274) In der Mutter Courage hatte Brecht ein Kollektiv der übermächtigen Kausalität des Schlachtfelds ausgesetzt und die „merkwürdige[n] abweichungen“ (Brecht [1973] 221) untersucht, welche die Individuen darin erfahren. Markus Ramsauer hat mich in einem Seminar auf eine entscheidende Stelle hingewiesen. Ganz am Anfang dieses Stückes steht der Versuch, sich darin Orientierung zu verschaffen. Die Mutter Courage fungiert als Orakel: „Sie hat das zweite Gesicht, das sagen alle. Sie sagt die Zukunft voraus“ (Brecht [1967] Bd. 4, 1356) Sie lässt ihre Kinder aus einem Helm Lose ziehen, die ihr Schicksal vorhersagen. Alle drei ziehen ein
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schwarzes Kreuz, das für den Tod steht, und alle drei sterben im Lauf der Handlung. Auch im Leben des Galilei hat das Horoskop einen kurzen Auftritt. Während ihr Vater von der Kirche verfolgt wird, wird Galileis Tochter geraten, vor ihrer Hochzeit „zu einem richtigen Astronomen an die Universität “ zu gehen, „damit er dir das Horoskop stellt, dann weißt du, woran du bist.“ (kitebb:klein Bd. 3, 1300).
6.3 Ursache und Zeichen: Niels Bohrs Hufeisen Der Begriff des Aberglaubens umfasst jede irrige Verknüpfung zwischen einem Zeichen und seiner Bedeutung. Das Konzept des Fetischs ist enger: Das Zeichen wird hier selbst als Ursache aufgefasst. Die Unterscheidung von Ursache und Zeichen ist für die Entwicklung der Probabilistik zentral. „Only when epistemological criteria can be grasped independently of the causal theory can probability and the use of statistics emerge.“ (Hacking [1975] 105) Die Ursachen können dabei streng determiniert bleiben, den Zeichen kommt nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit zu (Hacking [1975] 85): Nachdem das Zeichen nicht mehr mit der Ursache identifiziert wird, muss die Probabilität von Argumenten oder Zeichen als Evidenz für eine Aussage hinterfragt werden. (Hacking [1975] 12) Die Fallgeschichte wird zur zentralen Methode, um eine besondere Konfiguration von Zeichen zu erfassen und vergleichbar zu machen – seien es Symptome in der Medizin oder Indizien im Recht. 1952 klebt Brecht eine kurze Zeitungsnotiz in das Arbeitsjournal: Naturwissenschaftler sind bekanntlich nicht abergläubisch. In ihren Häusern spukt es nicht, und sie würden auch an einem Freitag, der auf den 13. fällt, ohne Bedenken eine Reise antreten. Nichtsdestoweniger hängt über der Tür von Niels Bohr (Nobelpreis 1922) ein Hufeisen: ein ganz kommunes bäuerliches Stück, wie man es auf den Dorfstraßen in Dänemark finden kann. Ein Besucher aus der Schweiz – es war die Jahreszeit der Kongresse – blieb unter dem Türzeichen stehen. ‚Sieh einer an!‘ staunte er. ‚Wie kommt denn das zu ihnen?‘. ‚Sehr einfach‘, antwortete der Hausherr, ‚ich habe es auf einem Spaziergang gefunden und hier angenagelt. Es soll Glück bringen.‘ ‚Pardon lieber Kollege: Glauben sie an den Humbug?‘ ‚Nein‘, sagte Niels Bohr, ‚natürlich nicht. Aber ich habe mir sagen lassen, es soll auch dann Glück bringen, wenn man nicht daran glaubt.‘ (Brecht [88ff] Bd. 27, 338)
Dieses Hufeisen über der Tür des Quantenphysikers hat es zu einiger Berühmtheit gebracht, seine Geschichte wurde oft und in verschiedenen Varianten erzählt – etwa in den Memoiren Werner Heisenbergs, der die Begebenheit allerdings in die Zwanziger Jahre einordnet und Niels Bohr selbst die Geschichte erzählen lässt
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(Heisenberg [1969] 129f), aber auch von Harry Mulisch und Arnfried Astel (Böhme [2006] 15). In einer etwas anderen Version spielt diese Anekdote viel später eine zentrale Rolle in der Einleitung zu Hartmut Böhmes Fetischismus und Kultur (Böhme [2006]). Gerade die Doppelbewegung, in der die Ironie der Erzählung liegt, ist in Böhmes Verständnis charakteristisch für das Denken der Moderne und macht aus dem Hufeisen einen Fetisch: „Er [Bohr, L.M.] glaubt nicht an Fetische; aber Fetische sollen ja Dinge sein, die Wirkkraft ‚von sich aus‘ haben, objektiv.“ (Böhme [2006] 13) Und bei Slavoj Žižek ist das Hufeisen über der Tür von Niels Bohr ein oft verwendetes, ja geradezu das Standardbeispiel für Fetischismus (vgl. zum Beispiel Žižek [2010]). Der Fetisch bezieht seine Macht aus einer symbolischen Wirkung – die Maske wird wichtiger als der Träger der Maske selbst. So kommt es zu einer Verschiebung der Ebene der Kausalbeziehungen von den Signifikaten zu den Signifikanten, also von dem Bezeichneten zu den Bezeichnungen selbst. Das Netzwerk der Bezeichnungen löst sich von der Beziehung auf das Bezeichnete. Dabei bricht die Differenz zwischen der symbolischen Ordnung und den wirklichen Verhältnissen auf: I know very well [...] that this person is a corrupt weakling, but I nonetheless treat him respectfully, since he wears the insignia of a judge, so that when he speaks, it is the Law itself which speaks through him. (Žižek [2010])
Brecht treibt diese Differenz auf die Spitze: „Das epische Theater kann diese Illusion vereiteln durch besonders übertriebene Verkleidung.“ (Brecht [1967] Bd. 16, 557) Das Epische Theater nutzt die Kluft zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem zur Verfremdung der Darstellung. Der Bruch zwischen dem „corrupt weakling“ und den „insignia of a judge“ zum Beispiel tut sich im Kaukasischen Kreidekreis auf, den wir in Teil III ausführlicher diskutieren: Der Richter Azdak eröffnet die Verhandlung mit aufgehaltener Hand und dem Hinweis „ich nehme.“ (Brecht [88ff] Bd. 8, 70) Dann macht der Richter es sich auf dem Gesetzbuch, aus dem er seine Autorität angeblich bezieht, gemütlich – er benutzt es nur als Unterlage beim Sitzen. Die fragwürdige Autorität seiner Robe wird thematisiert, wenn Azdak es bevorzugt, im Freien Justiz zu üben, denn: „Der Wind bläst ihr [der Justiz, L.M.] die Röcke hoch, und man kann sehn, was sie drunter hat.“ (Brecht [88ff] Bd. 8, 72) Sein Urteil fällt er dann gegen das Gesetz und oft zugunsten der Armen. Als er deshalb schließlich selbst gehängt werden soll, müssen zuerst die widersprüchlichen Momente von Robe und Richter getrennt werden: „Den Richterrock herunter, bevor er hochgezogen wird.“ (Brecht [88ff] Bd. 8, 81) Unter dem Rock kommen zerrissene Hosen zum Vorschein.
6.3 Ursache und Zeichen: Niels Bohrs Hufeisen |
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6.3.1 Induktion Im 17. Jahrhundert beginnt man in der europäischen Philosophie Zeichen und Ursache zu unterscheiden. Das erlaubt es einerseits, die Verknüpfung von Ursache und Wirkung von der Teleologie zu befreien, die im Symbol stets steckt, da es auf einen Sinn, eine Idee verweisen muss, um Zeichen zu sein. Dadurch wird die Beschreibung der Wirklichkeit durch streng kausale Gesetze möglich. Andererseits entsteht damit die Frage nach der Wahrscheinlichkeit als Wahr-Scheinen, als Zusammenhang zwischen einem Zeichen und einer Ursache, da das Zeichen selbst nicht mehr für diese Verbindung bürgt. David Hume zieht aus dem Bruch zwischen dem Zeichen und seinem Referenten eine radikale Schlussfolgerung: Der Zusammenhang zwischen einer Ursache und ihrer Wirkung kann nur auf der Ebene der Zeichen hergestellt werden. Die Extrapolation, dass auch zwischen den Dingen selbst eine derartige Beziehung besteht, ist unzulässig, Kausalität erweist sich als Illusion. Kant versucht, die Kausalität vor dem Skeptizismus zu retten, indem er sie als eine notwendige Voraussetzung aller Erkenntnis bestimmt. Auch wenn sie nur auf der Subjektseite verankert ist, erweist sie sich als objektiv. Dieser Ansatz wird von den Positivist*innen im Anschluss an die Kritik Ernst Machs als unhaltbar abgelehnt: Der Wiener Kreis aber vertritt darüber hinaus die Auffassung, daß auch die Aussagen des (kritischen) Realismus und Idealismus über die Realität oder Nichtrealität der Außenwelt und des Fremdpsychischen metaphysischen Charakters sind, da sie den selben Einwänden unterliegen, wie die Aussagen der alten Metaphysik: sie sind sinnlos, weil nicht verifizierbar, nicht sachhaltig. (Carnap et al. [1975] 18f)
Hans Reichenbach, der Wortführer der Berliner Gesellschaft für empirische Philosophie, wendet dagegen ein, dass unser Handeln in vielen Fällen auf Ziele gerichtet sind, die prinzipiell nicht verifizierbar sind. Dies hängt mit dem Missverhältnis von persönlicher Lebenszeit und historischer Dauer zusammen: Ein Beispiel dafür sind alle Handlungen, deren Ziel in einer Zeit nach dem Tod der Akteur*innen liegen, etwa der Abschluss einer Lebensversicherung, aber wohl auch die Errichtung der Pyramiden oder eine Veränderung der Gesellschaft, deren Umsetzung Generationen dauern kann. Anders als der Wiener Kreis will Reichenbach daher die Möglichkeit der Induktion keineswegs aufgeben. Nach Reichenbach ist die klassische Logik als Mittel der Deduktion nämlich nicht geeignet, um neue Erkenntnisse zu gewinnen – dies ist nur mittels der Induktion möglich. (Gerner [1997] 103) Mit den Formulierungen „axiomatisches Feld“ und „Verzicht auf Beweis außerhalb des Feldes“ (Brecht [1967] Bd. 20, 147) bezieht sich Brecht nach Ansicht Köppes auf Reichenbachs Axiomatik der relativistischen Raum-Zeit-Lehre. (Köpp [2002] 200) Darin entwickelt
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Reichenbach eine konstruktive statt einer deduktiven Axiomatik und kehrt damit die Richtung des Schlusses um – die Axiomatik wird induktiv: „Man kann es so einrichten, daß am Anfang gerade die beobachtbaren Tatsachen und am Ende die abstrakten Begriffsbildungen stehen.“ (Reichenbach [1924] 2) Beobachtbar sind nur Ereignisse und Dinge. Bereits der Schritt zur Beschreibung dieser Beobachtungen als unsere Wahrnehmungen macht Inferenzen notwendig, argumentiert Reichenbach. (Putnam [1994d] 103) Ein Beispiel dafür, wie problematisch dieser Schritt sein kann, ist der Schluss von der zeitlichen Abfolge der Wahrnehmung der Ereignisse auf ihre tatsächliche zeitliche Abfolge in der Astronomie: Aufgrund der endlichen Geschwindigkeit des Lichts ist die zeitliche Ordnung der Beobachtungen abhängig von der Entfernung der Ereignisse von den Beobachter*innen. (Putnam [1994d] 104) Dies gilt allgemein für Felder: Diese beschreiben Wechselwirkungen, die stets mit einer endlichen Geschwindigkeit erfolgen. Aus den Beobachtungen kann auch auf Entitäten geschlossen werden, die selbst nicht beobachtbar sind. So kann aus einer Reihe von Experimenten die Existenz von Elektronen abgeleitet werden. Carnap geht davon aus, dass die Wissenschaft ihre Sprache und die darin enthaltenen Entitäten frei wählen kann. Elektronen interpretiert er als logische Konstruktionen, „abstracta“ (Reichenbach). Reichenbach hingegen fasst sie als in Experimenten induktiv erschlossene Entitäten auf, die er als „illata“ bezeichnet. (Putnam [1994d] 108f) Auch wenn er diesen Ausdruck selbst nicht verwendet, stützt Reichenbach sich doch wie Brecht auf ein Praktikabilitätskriterium. In der Argumentation der Möglichkeit des Induktionsschlusses geht er über die Verifizierbarkeit als Kriterium der Sinnhaftigkeit (Wahrheitsfähigkeit) einer Aussage hinaus. Er argumentiert, dass es genüge, einen Satz von Axiomen (ein „system von gründen,“ wie Brecht notiert, Brecht [1973] 387) zu finden, aus dem sich Aussagen ableiten lassen, die so wahrscheinlich sind, dass es praktisch ist, sie zu beachten. Darin besteht die Aufgabe physikalischer Gesetze. Im Gegensatz zum Wiener Kreis fordert Reichenbach keine absolute Verifizierbarkeit, sondern eine „praktikable“ Verifizierbarkeit im Sinne Brechts. Damit kann er (im Gegensatz zum Wiener Kreis) an der Möglichkeit von Induktionsschlüssen festhalten – auch wenn die so gewonnene Erkenntnis eben nicht mehr sicher, sondern nur wahrscheinlich ist: „We know that truth is inaccessible to us;“ (Reichenbach [1948] 12) Mit ihrer binären Trennung in falsche und wahre Aussagen sei die zweiwertige Logik ungeeignet, um „Wahrscheinlichkeitsaussagen zu beurteilen; denn sie [...] stehe damit im Gegensatz zur tatsächlichen Handlung des Menschen“ (Gerner [1997] 100f) Reichenbach schlägt vor, die Wahrheit einer Aussage durch ihr „Gewicht“ zu ersetzen. Das Gewicht eines Satzes quantifiziert die Abschätzung der relativen Häufigkeit der Bestätigung des Satzes in einer geeigneten Referenzklasse: „Weight
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is not itself a relative frequency, but a betting quotient with respect to an unknown relative frequency.“ (Putnam [1994a] 92) Damit wird als grundlegender Begriff die Probabilität der Kausalität vorausgesetzt und Humes Kritik unterlaufen. Reichenbach gibt dafür den Anspruch auf eine absolute Wahrheit der so gewonnenen Erkenntnis auf. Doch jede Inferenz verweist auf ein Netz von Aussagen, die selbst in Inferenz- und Referenzbeziehungen stehen. In diesem System erhält der einzelne Schluss eine weitaus höhere Wahrscheinlichkeit, als er sie isoliert aufweisen würde: a complex inductive inference, such as the inference from observational data to a hypotheses, represents an intricate combination of very many simple inductive inferences, through the coöperation of these many inferences their inductive power is greatly enhanced. In fact, an inductive inference is never made in isolation; (Reichenbach [1948] 11)
Das Gewicht eines Satzes hängt von dem System an Aussagen ab, in welchem er auftritt. Dies bezieht sich auf Wittgensteins Theorie der Wahrscheinlichkeit von Sätzen im Tractatus. Auch Wittgenstein hält fest, dass Sätze Wahrscheinlichkeit nur in Bezug auf andere Sätze erlangen (Wittgenstein [1963] Satz 5.153). Die Wahrheit eines Satzes wird immer in einem System von Elementarsätzen bestimmt, welche die „Wahrheitsmöglichkeit“ (Wittgenstein [1963] 5.01) des Satzes bestimmen. Jene Elementarsätze, die ihn begründen, nennt Wittgenstein die Wahrheitsgründe des Satzes (Wittgenstein [1963] 5.101). Diese Wahrheitsgründe geben dem Satz seine Wahrscheinlichkeit. Als Beziehung zwischen Sätzen lässt sich diese Wahrscheinlichkeit quantifizieren: Seien W r die Wahrheitsgründe des Satzes r und W rs die rs Wahrheitsgründe der Sätze r und s gemeinsam, dann gibt das Verhältnis W W r die Wahrscheinlichkeit an, die der Satz r dem Satz s gibt. (Wittgenstein [1963] 5.15) Reichenbachs Konzept der induktiven Inferenz geht von hypothetischen, vorläufig angenommenen Gesetzen aus. Von diesen Gesetzen werden deduktiv Konsequenzen für eine bestimmte Situation gezogen. Durch einen Vergleich der erschlossenen Konsequenzen mit der realen Situation wird die Gültigkeit der Hypothese in einem Induktionsschluss überprüft. Diese Vorgehensweise ähnelt dem pragmatischen Ansatz von Peirce. Im Deduktionsschritt wird der Einzelfall aus den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten schrittweise abgeleitet, indem immer mehr Faktoren berücksichtigt werden. Der Einfluss der einzelnen Faktoren auf die Situation soll in der Folge induktiv dadurch bestimmt werden, dass sie in Experimenten kontrolliert verändert werden. Reichenbach unterscheidet sein Konzept der induktiven Inferenz von Entitäten und ihren Beziehungen nicht von den Schlüssen etwa Sherlock Holmes’: „In fact, Reichenbach was famous for using Sherlock Holmes Stories as the sources of his examples in his celebrated course on inductive logic.“ (Putnam [1994d] 109)
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„Es ist erstaunlich,“ schreibt Brecht, „wie sehr das Grundschema des guten Kriminalromans an die Arbeitsweise unserer Physiker erinnert.“ Die Vorgehensweise ist die folgende: Zuerst werden gewisse Fakten notiert [...]. Dann werden Arbeitshypothesen aufgestellt, welche die Fakten decken können. [...] Wenn die These richtig ist, dann muß der Mörder auf Grund einer bestimmten Maßnahme dann und dann da und da erscheinen. Entscheidend ist, daß nicht die Handlungen aus den Charakteren, sondern die Charaktere aus den Handlungen entwickelt werden. (Brecht [1967] Bd. 19, 452)
Die Methode des Kriminalromans definiert dessen Entitäten. Es sind widersprüchliche Einheiten: Die Individuen gehen im Kollektiv auf, während die Masse in Individuen zerfällt. Dabei wird die Identität der Einzelnen unscharf, sie hinterlassen kaum eine Spur: Der Mensch im wirklichen Leben findet selten, daß er Spuren hinterläßt, zumindest solange er nicht kriminell wird und die Polizei diese Spuren aufstöbert. Das Leben der atomisierten Masse und des kollektivisierten Individuums unserer Zeit verläuft spurenlos. (Brecht [1967] Bd. 19. 453)
Im nächsten Schritt wird nun das Feld des Kriminellen definiert; die Einschränkung der Perspektive führt dazu, dass ein Großteil der Aspekte vernachlässigt werden kann und ganz bestimmte Spuren wieder hervortreten. Der Untersuchende (Detektiv und Leser) hält sich in einer merkwürdig konventionsfreien Atmosphäre auf. Sowohl der schurkische Baronet als auch der lebenslängliche treue Diener oder die siebzigjährige Tante kann der Täter sein. [...] Von einem Feld her, wo nur Motiv und Gelegenheit funktionieren, wird entschieden, ob er einen Mitmenschen getötet hat. (Brecht [1967] Bd. 19, 455)
In dieser künstlichen und durchaus fragilen Experimentalsituation, in welcher „die Störungsquellen“ ausgeschaltet wurden, kann eine strikte Kausalität wieder hergestellt werden. Die Schwierigkeiten unserer Physiker auf dem Gebiet der Kausalität treffen wir zweifellos in unserem Alltagsleben allenthalben an, aber nicht im Kriminalroman. Wir sind im Alltagsleben, soweit es sich um gesellschaftliche Situationen handelt, ganz wie die Physiker auf bestimmten Gebieten, auf eine statistische Kausalität angewiesen. [...] Das Kausalitätsgesetz funktioniert höchstens halbwegs. Im Kriminalroman funktioniert es wieder. Einige Kunstgriffe beseitigen die Störungsquellen. (Brecht [1967] Bd. 19, 456)
6.4 Logik: Ja und Nein
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Die Annahme dieser strikten Kausalität ist aber prekär. Denn das äußere Feld beeinflusst den Testkörper und stellt eine Störungsquelle dar, die nicht ausgeschaltet werden kann, sondern gerade durch die Beobachtung entsteht: Und da der Verfolgte, der Mensch, von dem die Charakterzeichnung angefertigt werden soll, davon meist Nachteile zu erwarten hat, gibt er seine Charakterzüge nur ungern preis. [...] er fälscht: er stört das Experiment bewußt. Man denkt wieder an die moderne Physik: Das beobachtete Objekt wird durch die Beobachtung verändert. (Brecht [1967] Bd. 19, 458)
6.4 Logik: Ja und Nein In der Quantenmechanik findet Brecht ein Konzept, das der Annahme der vollständigen Determination die Grundlage entzieht: Etwas vereinfachend: wir können bei unseren Zuschauern eine Haltung nicht brauchen [...], die dem Individuum gegenüber [...] ständig auf eine absolute Kausalität ausgeht, statt, wie die Physiker sagen, auf statistische. (Brecht [1967] Bd. 15, 279f)
Durch den Verfremdungseffekt sollen die Zuschauer*innen eine Distanz zur Handlung bewahren, um andere mögliche Verläufe des Geschehens denken zu können. Dazu ist ein Epistem notwendig, das es erlaubt, widersprüchliche Momente in einer Einheit zu denken (sei es nun ein Atom oder ein Individuum oder eine Theaterszene) also nicht nur ein Ja oder ein Nein, sondern auch ein Ja und ein Nein: Wir müssen in gewissen Lagen mehr als eine Antwort, Reaktion, Handlungsweise erwarten, ein Ja und ein Nein; (Brecht [1967] Bd. 15, 279f)
Dieses Ja und ein Nein ist jedoch eine logische Unmöglichkeit allerersten Ranges, streng verboten durch den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, das tertium non datur. Es gibt in der klassischen, auf Aristoteles zurückgeführten Logik entweder ein Ja oder ein Nein, niemals jedoch eine dritte Position, in der beides vermittelt ist, kein Ja und ein Nein. Etwas existiert oder nicht; einem Objekt kann ein bestimmtes Attribut in einer Hinsicht zu einem bestimmten Zeitpunkt zukommen oder nicht – aber nicht beides. Weil es also nur zwei Wahrheitswerte gibt – wahr oder falsch – wird eine solche Logik als zweiwertig bezeichnet. Übergänge, Prozesse und Werden waren schon immer ein Problem für diese Logik – das hat bereits Zenon in seinen berühmten Paradoxien vorgeführt (Zenon [1993] 8–55). Diesen Konflikt seiner Ästhetik mit der aristotelischen Logik möchte Brecht bereits am 26. Oktober 1941 mit Reichenbach besprechen, doch sie werden von den „totemisten“ unterbrochen:
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auch er [Reichenbach, L.M.] verschont die totemisten mit seiner neuen logik. ich selber nehme kaum noch an einer diskussion teil, die ich nicht sogleich in eine diskussion über logik verwandeln möchte. (Brecht [1973] 305)
Reichenbach hat bereits in der Weimarer Republik an einer „neuen logik“ gearbeitet. Dies hängt eng mit seiner Auffassung des Induktionsproblems zusammen. Im Gegensatz zum Wiener Kreis hielt Reichenbach daran fest, dass es möglich ist, aus dem Einzelfall induktiv Schlüsse auf Gesetzmäßigkeiten zu ziehen. Allerdings können diese Aussagen nun nicht unbedingt mit völliger Sicherheit getroffen werden – die Werte „wahr“ oder „falsch“ reichen meist nicht aus, um eine Aussage logisch zu behandeln. Seine Biographin umreißt Reichenbachs Position: Reichenbach zog also den umgekehrten Schluss wie Carnap: Wenn die Logik nicht auf die Wissenschaften angewandt werden kann, so ist nicht die Wissenschaft zu ändern, sondern die Logik. (Gerner [1997] 101)
Karin Gerners Formulierung erinnert frappierend an Brechts Darstellung vom Dezember 1940, als er sich noch in Finnland befindet: das licht kann nicht korpuskel und welle zugleich sein, sagen sie, wenn sie sehen, daß es korpuskel und welle zugleich ist. ihre logik zu revidieren, fällt ihnen nicht ein, sie verlangen den verzicht auf logik. (Brecht [1973] 215)
Die Wahrscheinlichkeitslogik Reichenbachs übersetzt Wahrheitswerte in Wahrscheinlichkeiten. Wird dem klassischen Wahrheitswert wahr die Wahrscheinlichkeit 1 (= 100%) zugeordnet und dem Wert falsch die Wahrscheinlichkeit 0, dann kann dazwischen ein stufenloses Spektrum an Wahrheitswerten eingeführt werden. Diese Werte stehen dann für die Wahrscheinlichkeit der Erfüllung einer Aussage, wenn die von dem Gesetz erfassten Ursachen vorliegen. Mit der Quantenmechanik stellen sich jedoch neue und wesentlich fundamentalere Probleme für die Logik. Mit der komplementären Beschreibung der quantenmechanischen Entitäten als Welle und Teilchen wird der Widerspruch in die Einheit selbst verlegt. Reichenbach entwickelt daher eine Quantenlogik, die es erlauben soll, sinnvolle Aussagen über diese widersprüchlichen Objekte zu formulieren. Er führt diese Logik in den Philosophic Foundations of Quantum Mechanics aus. Im Vorwort zu diesem Buch erwähnt Reichenbach selbst, dass er diese Quantenlogik erstmals bei einem einem Treffen logischer Empirist*innen in den USA vorgestellt hat. Dieses „Unity of Science meeting“ fand an der Universität von Chicago am 5. September 1941 statt, also nur knappe zwei Monate vor dem ersten dokumentierten Gespräch mit Brecht. Diese Quantenlogik ist die „neue logik“, die Brecht und Reichenbach am 26. Oktober diskutieren, bis die „totemisten“ sie unterbrechen.
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Die Wellenfunktion, welche die Objekte der Quantenmechanik beschreibt, enthält gleich in dreifacher Hinsicht ein Ja und Nein: Je nach Fragestellung werden im Experiment Eigenschaften realisiert, die einem Teilchen- oder einem Wellenverhalten entsprechen. Die Kopenhagener Interpretation geht von einem strikten Dualismus dieser Eigenschaften aus. In der Zustandsfunktion ist noch eine weitere Selbstdifferenz enthalten: Sie beschreibt inkommensurable Größen wie Impuls und Ort gleichzeitig, denn man kann durch eine Fouriertransformation der Funktion Ψ(x, t) jederzeit in den Impulsraum wechseln, also zur Funktion Ψ(p, t) übergehen. Aussagen über diese unterschiedlichen Eigenschaften des Objekts lassen sich in der klassischen Logik nicht durch wohldefinierte Operationen verknüpfen. Drittens gibt es auch dann noch zahlreiche Möglichkeiten, wenn eine bestimmte Größe gemessen wird, die bereits einem der beiden inkommensurablen Räume entspricht, etwa der Impuls p. Vor der Messung ist der Zustand der Entität eine Überlagerung aller möglichen Zustände. Diese Zustände schließen einander aber aus, das heißt, wenn die Entität in einem Zustand ist, so kann sie in keinem anderen der Zustände sein. In der klassischen Logik kann einem Objekt ein Attribut – also etwa der Impuls p1 – aber entweder ganz zukommen oder gar nicht; und einander widersprechende Attribute (zum Beispiel einander ausschließende Zustände) können nicht gleichzeitig zutreffen. Aussagen wie: „Diese Katze ist in diesem Moment sowohl tot als auch lebendig“ sind in einer solchen Logik verboten. In der Kopenhagener Interpretation beschreibt die Wellenfunktion Ψ keine physikalische Entität, sondern das Verhalten von Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Diese Verschiebung im ontologischen Status erlaubt es, den Welle-TeilchenDualismus nicht als logischen Widerspruch aufzufassen. Die Kopenhagener Interpretation löst auch das Problem der vielen möglichen Resultate eines Experiments, da die möglichen Messwerte nur in ihrer Potentialität koexistieren, wie Heisenberg betont: Die mathematischen Symbole, mit denen wir eine solche Beobachtungssituation beschreiben, stellen eher das Mögliche als das Faktische dar. (Heisenberg [1969] 170)
Doch Garret Birkhoff und John von Neumann zeigen 1936, dass damit die logischen Probleme, die aus der Inkommensurabilität komplementärer Größen entstehen, von der Kopenhagener Interpretation nicht gelöst sind. (von Neumann und Birkhoff [1936]) Eine vollständige Bestimmung des Zustandes eines Quantensystems enthält komplementäre Größen, die aber bei einer Messung nicht gleichzeitig realisiert werden können. Die Logik verknüpft Aussagen über Messergebnisse. Der Zustand eines Systems wird als ein Punkt im Zustandsraum beschrieben, und das Messergebnis entspricht
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jener Teilmenge dieses Zustandsraums, die den gemessenen Zustand enthält. Logische Operationen zwischen zwei Propositionen über einen Zustand entsprechen dann Operationen mit Mengen, nämlich diesen Teilmengen des Zustandsraums. Der Raum, der alle möglichen Zustände umfasst, ist in der klassischen Mechanik der Phasenraum, der die Impulse und Orte aller beteiligten Objekte enthält. Alle Teilmengen des Phasenraums können miteinander durch logische Operationen verknüpft werden. So ist es immer möglich, dass S a eine Teilmenge von S b ist: a ⊆ b. Der Zustandsraum der Quantenmechanik hingegen ist der Hilbertraum. Dieser enthält Subräume, die aufeinander orthogonal sind: etwa der Orts- und der Impulsraum. Diese Teilmengen lassen sich nicht einfach durch logische Operationen verknüpfen – eine Aussage über das Ergebnis einer Ortsmessung kann nicht mit einer Aussage über das Ergebnis einer Impulsmessung verknüpft werden. Birkhoff und von Neumann versuchen das Problem mit einer Neudefinition der Identität zu lösen. In der klassischen Mechanik ist die Identität durch gegenseitige Implikation gegeben: a = b ist erfüllt, wenn a ⊆ b und b ⊆ a – wenn also a eine Teilmenge von b und gleichzeitig b eine Teilmenge von a ist. In der Quantenmechanik ist aber bereits die Implikation a ⊆ b nicht anwendbar, da die Subräume a und b teilweise orthogonal sein können und die Implikation durch Bezug auf eine dritte Menge c definiert werden muss. (Jammer [1974] 347f) Damit ist zunächst einmal ein Problem formuliert: Wie kann die Logik der Quantenobjekte in die Logik der klassischen Mechanik übersetzt werden? Diese Übersetzung ist von zentraler Bedeutung, da die Messapparate makroskopische Objekte sind und von der klassischen Mechanik beschrieben werden. Sie geben stets einen wohldefinierten Zustand aus. Wie koppelt die klassische Logik an die Quantenlogik? Ein möglicher Lösungsansatz ist die Anwendung mehrwertiger Logiken auf die Quantenmechanik. Paulette Fevrier unternimmt 1937 einen ersten Versuch, eine mehrwertige Logik der Quantenphysik zu entwerfen: Sie führt die Werte „kontingent wahr“ und „kontingent falsch“ für Aussagen ein, die durch den zufälligen Ausgang der Messung bejaht oder verneint werden können. Zusätzlich weist sie Werten, die in der Messung nicht auftreten können, den dritten Wahrheitswert „sicher falsch zu.“ (Jammer [1974] 362) Fevriers Ansatz besteht in einer semantischen Regel, aus welcher der dritte Wert folgt. Den unbeobachteten Objekte werden zwei, den beobachteten Objekten hingegen drei Wahrheitswerte zugeordnet. Auch Reichenbach führt einen dritten Wahrheitswert ein, leitet ihn aber anders her: In seinem Konzept stellt die klassische Logik nur einen Grenzfall der dreiwertigen dar, welche die Gesamtheit aller Aussagen erfassen. (Jammer [1974] 370) Die Bewegung der Entitäten zwischen diesen messbaren Wechselwirkungen muss durch Inferenz erschlossen werden, da kein unmittelbarer Zugriff darauf
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möglich ist. Zur Beschreibung der Logik der Kopenhagener Interpretation führt Reichenbach bedeutungslos („meaningless“) als dritten Wahrheitswert ein. Bestimmte Verbindungen von Aussagen über Phänomene und Interphänomene können für bedeutungslos erklärt werden. Die Kopenhagener Interpretation vermeidet auf diese Weise Aussagen über den Einfluss einer Messung auf den mikrophysikalischen Zustand des Systems. Das Kausalitätsproblem wird auf diese Art radikal ausgeschaltet, über nicht-gemessene Zustände sind keine Aussagen mehr möglich. Die Messung einer Observablen führt also stets dazu, dass Aussagen über die andere, komplementäre Observable bedeutungslos werden. (Reichenbach [1965] 139–143) Ähnlich wie beim Messproblem der Quantenmechanik bildet ein Bruch in der semantischen Beziehung von Repräsentation und Repräsentiertem auch die Grundlage für Brechts Verfremdungseffekt: Die Darstellung soll eine Distanz zum Dargestellten aufweisen: Wie der Schauspieler sein Publikum nicht zu täuschen hat, daß nicht er, sondern die erdichtete Figur auf der Bühne stehe, so hat er es auch nicht zu täuschen, daß, was auf der Bühne vorgeht, nicht einstudiert sei... (Brecht [1967] Bd. 16, 684)
Durch diese Distanz wird es dem Publikum möglich zu erkennen, dass die Darsteller*innen nur eine der vielen Möglichkeiten repräsentieren, die im dargestellten Prozess enthalten sind. Jameson spricht von einem „experimental Brecht“ (Jameson [1998] 11) und bringt diesen experimentellen Charakter besonders mit dem Verfremdungseffekt in Verbindung. Dieser macht sichtbar, was das bisherige Theater weniger hinter den Kulissen als hinter der Spielweise der Schauspieler*innen zu verstecken versuchte: „Brecht opens up this surface and allows us to see back down into the alternative gestures and postures of the actors trying out their roles.“ (Jameson [1998] 11f) Folgt man der dreiwertigen Logik, mit der Reichenbach die Kopenhagener Interpretation beschreibt, so macht es keinen Sinn, einen anderen als den tatsächlich dargestellten Verlauf der Fabel auf der Bühne anzudeuten. Denn nur die realisierten Handlungen haben Bedeutung, ihre Alternativen müssen für die Schauspieler*innen ebenso wie für das Publikum bedeutungslos bleiben – die vielen Möglichkeiten wurden mit der Umsetzung einer Möglichkeit ausgelöscht. Der Verfremdungseffekt Brechts ist so nicht denkbar. Reichenbach untersucht die Konsequenzen einer derartigen Logik in der Physik. Zunächst gesteht er der Kopenhagener Interpretation zu, dass in ihr alle Aussagen bedeutungslos sind, die zu Problemen mit der Kausalität führen können. Er wendet gegen dieses Vorgehen aber ein, dass damit die Komplementarität zweier Größen nur semantisch, also in der Verbindung der Ebenen von Beobachtung und mikrophysikalischem Zustand bestimmt ist: „... the physical law of complemen-
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a T F
Negation a F T
a T T F F
b T F T F
Disjunction a⋁b T T T F
Conjunction a⋅b T F F F
Implication a⊃b T F T T
Equivalence a=b T F F T
Tab. 6.1: Reichenbachs Darstellung der logischen Operationen einer zweiwertigen Logik in Wahrheitstafeln; nach (Reichenbach [1965] 149).
tarity is once more expressed as a semantic rule, not as a statement of the object language“ (Reichenbach [1965] 144). Aussagen über nicht-gemessene Größen sind zugleich bedeutungslos, aber notwendiger Bestandteil der Beschreibung der Objektebene und werden so Teil des physikalischen Modells – zum Beispiel eben der Unschärferelation: Wir können in dieser Logik das Heisenbergsche Mikroskop nicht interpretieren. Auf der Ebene der Phänomene ist es unmöglich, bei einer Messung gleichzeitig Werte für den Ort q und den Impuls p zu erhalten. Eine Aussage über jenen Wert, der nicht gemessen wurde, ist auf der Ebene der Quantenobjekte in dieser Logik dann bedeutungslos. So folgt aus dem (Gedanken)Experiment nicht die Unschärferelation – sondern gar keine Relation. Das kann den logischen Empiristen Reichenbach nicht befriedigen: „Unberechtigte Verbots-Philosophie. Beschränkte Sprache. ‚Interpolation strictly prohibited‘“ (Reichenbach 040-06-17 [o.J.]) notiert er erbost. Es scheint auch Brecht nicht befriedigt zu haben: Lange Zeit hatte er die Widersprüche auf der Ebene der Repräsentation behandelt. So schrieb er für die Dreigroschenoper zwei mögliche Enden – und ließ diese auch aufführen. In der Verdoppelung des Guten Menschen von Sezuan scheinen die gesellschaftlichen Verhältnisse das Individuum zu zerreißen. In der Aufführung wechseln jedoch nur die Masken der Schauspielerin, wenn Shen Te sich in ihr Alter Ego verwandelt. Auch die beiden Schwestern in den Sieben Todsünden des Kleinbürgers agieren die Spaltung des Individuums auf der Ebene des Symbolischen aus. Doch gegen Ende der 1930er beginnt Brecht, die Konflikte zunehmend zurück in die Einheit auf der Objektebene (also in das Individuum) zu verlegen: So ist der Galileo, den er zeichnet, wieder selbst, nicht nur in seiner Repräsentation, jene „kampfdurchtobte
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Vielheit,“ (Brecht [1967] Bd. 20, 61f) als die Brecht das Individuum bereits in der Weimarer Republik beschrieb. Bei Azdak, dem Richter aus dem Kaukasischen Kreidekreis kommt der Widerspruch zwischen dem Richter, der er geworden ist, und dem armen Dorfschreiber, der er war, in Symbolen zum Ausdruck. Doch diese Symbole heben die Einheit Azdaks nicht wie im Guten Menschen auf, er erhält weder einen anderen Namen, noch eine andere Maske. Unter der Robe des Richters wird die zerlumpte Hose des Dorfschreibers sichtbar – die Symbole treten gemeinsam auf und kennzeichnen so die innere Widersprüchlichkeit der Figur. Beim Übergang zwischen zwei Zuständen wird das Individuum aber immer noch in Frage gestellt: Sowohl bei seinem Aufstieg vom Dorfschreiber zum Richter als auch bei seiner fluchtartigen Aufgabe des Richterpostens steht Azdak unter einem Galgen, die Schlinge um den Hals gelegt (Knopf [1996] 265). Die Zustände „Dorfschreiber“ und „Richter“ kann man durchaus als komplementär auffassen. In der Logik der Kopenhagener Interpretation können sie nicht gleichzeitig gedacht werden. Reichenbach schlägt nun einen anderen Ansatz vor: In seiner Quantenlogik führt er den Wahrheitswert „indeterminate“ ein. Dieser bezeichnet den Status von Observablen, die nicht gemessen werden. Indeterminate bedeutet hier nicht unbekannt oder bedeutungslos, sondern unbestimmbar: We call such statements indeterminate, this term meaning that it is impossible ever to verify or falsify the statement. There is, therefore, a middle between truth and falsehood; it is indeterminacy. (Reichenbach [1948] 8)
Die Messung zum Beispiel des Impulses p macht die exakte Bestimmung des Ortes q unmöglich. Wird der Ort gemessen, nachdem man den Impuls festgestellt hat, so stört die zweite Messung den Impuls, sodass dieser wieder unbestimmt wird. Der Wahrheitswert „indeterminate“ hat einen ganz anderen Charakter als die Werte in Reichenbachs früheren Wahrscheinlichkeitslogiken. Diese gaben nämlich stets einen Wert zwischen Null und Eins an, während „indeterminate“ außerhalb dieses Spektrums liegt. Im klassischen Fall konnte der einzelne Vorgang wiederholt werden, um die Wahrscheinlichkeit einer Aussage durch die relative Häufigkeit des Auftretens des entsprechenden Ergebnisses zu erhalten. Dies ändert sich nun grundlegend: The probability character of quantum mechanical predictions entails an absolutism of the individual case; it makes the individual occurrence unrepeatable, irretrievable. (Reichenbach [1965] 145)
In dem Manuskript vom „May 19, Monday“ aus dem Reichenbach-Archiv finden wir diesen Punkt ausgeführt. Während die klassischen mehrwertigen Logiken den Wahrheitswert zwischen 0 und 1 variieren lassen, kann in der Quantenmechanik
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eine ganz sichere Aussage gar nicht mehr getroffen werden – der Wert 1 für die Wahrscheinlichkeit (oder „probability“ p) wird unerreichbar. Selbst eine vollständige Beschreibung („ultimate descr. D“) der Situation erlaubt keine absolut sichere Voraussage. qu. mech. says: you can’t go to 1 goes to some value p