Das Warenhaus: Schauplatz der Moderne 9783412219000, 9783412225346


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Das Warenhaus: Schauplatz der Moderne
 9783412219000, 9783412225346

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UWE LINDEMANN

DAS WARENHAUS SCHAUPLATZ DER MODERNE

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und dem Handelsverband Berlin-Brandenburg e. V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Kaufhaus Karstadt, Berlin, ca. 1930 (© akg-images)

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Claudia Holtermann, Bonn Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld Reproduktionen: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Druck und Bindung: BALTO print, Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22534-6

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INHALT EINLEITUNG KAPITEL 1  DIE ORDNUNG DER „DINGE“ UM 1900. VERSUCH EINER ANNÄHERUNG  ...  1.  Steuerarithmetik und Diskurspolitik  ...............................................................  2.  Ariadne als Auskunftsfräulein  ........................................................................  3.  Konsum und Kontingenz  . . ............................................................................. 

KAPITEL 2  INTERDISKURSIVER RAUM UND KOLLEKTIVES IMAGINÄRES  .................  1.  Warenhaus und Modernisierung  . . ...................................................................  2. Materialbasis  . . ..............................................................................................  3. Forschungskontext ......................................................................................... 

KAPITEL 3  METAPHER FÜR GESELLSCHAFT .........................................................  1.  Der Mythos vom bedrohten Mittelstand  .........................................................  2.  Metaphernsysteme und Erzählstrategien  . . .......................................................  3.  Holistische Vereinfachungen  . . ........................................................................  4.  Diskursformation und Selbstbeschreibungsschema  .......................................... 

11 11 21 27 34 34 38 43 46 46 53 59 61

FIGUREN DER TRANSGRESSION KAPITEL 4  KONSUMISTISCHE PRAXIS ..................................................................  1.  Konsum und Hedonismus  .............................................................................  2.  Imagination und Identität  .............................................................................  3.  Der konsumistische Möglichkeitssinn  . . ...........................................................  4.  Liebe als Konsum  .........................................................................................  5.  Konsumkultur und Fiktionalisierung  .............................................................. 

KAPITEL 5  PATHOLOGIE(N) DER MODERNE  . . ........................................................  1.  Ansteckung und Exzess  .................................................................................  2.  Konsum und Weiblichkeit ..............................................................................  3.  Oniomanie und kollektiver Kaufrausch ............................................................  4.  Das leere Signifikat der Kleptomanie  . . ............................................................  5.  Konsum als Krankheit  ...................................................................................  6.  Geschlecht und Metaphern der Konsumsphäre  ............................................... 

69 69 78 86 94 99 101 101 105 112 121 131 139

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INHALT

KAPITEL 6  ÖKONOMIE UND WEIBLICHKEIT  ..........................................................  1. Weiblichkeitsnarrative  ...................................................................................  2. Verkäuferinnenkarrieren  ................................................................................  3.  Der konsumistische Körper der Verkäuferin  ....................................................  4.  Verdinglichte Weiblichkeit: das Mannequin  ....................................................  5.  Paradiesische Arbeit und prometheische Scham  ...............................................  6.  Körperkapital und Autonomie  ....................................................................... 

KAPITEL 7  WARENHAUSPOLITIK  .........................................................................  1.  Die Amerikanisierung der Welt . . .....................................................................  2.  Die Ethnifizierung des Warenhauses ...............................................................  3.  Dollarimperialismus und Weltherrschaft  .........................................................  4.  Judentum und Weiblichkeit ............................................................................ 

144 144 149 156 162 168 173 177 177 184 193 198

FIGUREN DER LIMITATION KAPITEL 8  KONSUMEXPERTINNEN UND KAUFDILETTANTEN  .................................  1.  Der rationale Konsument  . . .............................................................................  2.  Das männliche Konsumkollektiv  ....................................................................  3.  Die engagierte Konsumentin  .........................................................................  4.  Konsumtechnikerin und Familienökonomin  .. ..................................................  5.  Die Konsumkulturarbeiterin  ..........................................................................  6.  Kaufdilettanten und Voyeure  ......................................................................... 

KAPITEL 9  WARENHAUSKULTUR  .........................................................................  1.  Kultur und Ökonomie  ...................................................................................  2.  Das Warenhaus als Museum und Kunstwerk  ...................................................  3. Schaufensterkunst  . . .......................................................................................  4.  Geschmacksagent der Konsumkultur . . .............................................................  5.  Warenhauskultur und künstlerische Avantgarde  ............................................... 

KAPITEL 10  VERLUSTERZÄHLUNGEN  ..................................................................  1.  Die „gute alte Zeit“  .......................................................................................  2.  Das Konkurrenzprinzip  .................................................................................  3.  Das statistische Dispositiv ..............................................................................  4.  Das disziplinäre Regime  . . ..............................................................................  5.  Verschiebungen und Umkehrungen  ................................................................ 

205 205 206 209 213 218 226 236 236 243 249 255 259 263 263 266 271 277 279

INHALT

KAPITEL 11  FAMILIENÖKONOMIE UND GLOBALISIERUNG  .....................................  1.  Paternalismus und Modernisierung  . . ...............................................................  2.  Erbschaft und Kredit  ....................................................................................  3.  Die Macht des Trusts  ....................................................................................  4.  Globale Warenströme  ................................................................................... 

KAPITEL 12  GEGENWELTEN  ...............................................................................  1.  Kooperative Republik und Staatssozialismus  . . ..................................................  2.  Die reine Liebe  ............................................................................................ 

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284 284 287 293 299 303 303 312

SCHLUSS

DANKSAGUNG

LITERATURVERZEICHNIS 1. QUELLEN  ....................................................................................................  2. FORSCHUNGSLITERATUR  ............................................................................. 

331 351

7

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Kapitel 1

Die Ordnung der „Dinge“ um 1900. Versuch einer Annäherung

1.  Steuerarithmetik und Diskurspolitik Am 18. 7. 1900 wird in Preußen ein Gesetz zur Sonderbesteuerung von Waren­ häusern verabschiedet.1 Der Verabschiedung des Gesetzes sind jahrelange poli­ tische Auseinandersetzungen vorausgegangen. Schon im April 1896 wird eine vierzehnköpfige Landtagskommission gebildet, die das Gesetzesvorhaben auf den Weg bringen soll. Die Arbeit der Kommission scheitert jedoch im Mai 1896 an unüberwind­lichen Schwierigkeiten hinsicht­lich der inhalt­lichen und sach­lichen Ausgestaltung des Gesetzes. Erst vier Jahre s­ päter gelingt es, einen konsensfähi­ gen Gesetzentwurf zu erarbeiten (vgl. Spiekermann 1994, 59 ff., 122).2 Was die Ausarbeitung des Gesetzes erschwert, sind sach­liche und begriff­liche Unklarheiten. Nicht nur kursieren um 1900 verschiedene Bezeichnungen für das, was heute als „Warenhaus“ bezeichnet wird. In Anspielung auf die vermeint­lich orienta­lische Herkunft der Warenhäuser spricht man etwa vom „Großbasar“ oder in Ableitung des franzö­sischen Begriffs „Magasins de Nouveautés“3 vom „Großmagazin“. Auch ist keineswegs klar, was der Begriff „Warenhaus“ inhalt­ lich impliziert. Ende des 19. Jahrhunderts gibt es vielfältige Ausformungen des 1 Preußen ist nicht der einzige deutsche Staat, der um 1900 eine Sonderbesteuerung für Warenhäuser einführt. Ab 1897 gibt es die Mög­lichkeit zu kommunalen Warenhaussteu­ ern in Sachsen. 1899 tritt in Bayern ein modifiziertes Gewerbesteuergesetz in Kraft, das eine Sonderbesteuerung für Warenhäuser vorsieht. 1903 folgen Württemberg, 1904 Braun­ schweig und Baden, 1905 Anhalt, 1908 Reuß j. L., 1910 Elsaß-­Lothringen und 1911 Hessen. Vgl. Biermer 1911, 612 ff.; Wernicke 1928, 16. 2 Zur Zita­tion: Bibliografischen Angaben werden in üb­licher Kurzzitierweise (Autorname, Erscheinungsjahr, Seitenzahl) im Anschluss an Zitate oder Verweise angeführt. Die voll­ ständigen bibliografischen Angaben finden sich im Literaturverzeichnis am Ende der Stu­ die. Ergänzungen oder Erläuterungen in eckigen Klammern in Zitaten stammen, soweit nichts anderes vermerkt ist, vom Verfasser; Kursivierungen in Zitaten werden, wenn sie vom Verfasser eingefügt sind, mit „Hervorheb. U. ­L.“ gekennzeichnet. 3 „Genau genommen waren die Magasins de Nouveautés die Vorläufer der Warenhäuser. Man könnte sie auch als Modekaufhäuser bezeichnen“ (Frei 1997, 23).

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Einleitung

Einzelhandels, die zum Teil erheb­liche regionale Unterschiede aufweisen. Für die Formulierung des Gesetzestextes gilt es deshalb Kriterien zu finden, die eine Differenz markieren ­zwischen Warenhäusern auf der einen Seite und dem mittel­ständischen Einzelhandel auf der anderen, dessen Schutz das Gesetz die­ nen soll.4 In Preußen entscheidet man sich dafür, aus einer Warengliederung das Veranlagungskriterium für die Steuer zu entwickeln. Das Gesetz definiert: Ein Warenhaus ist, wenn aus mehr als einer der folgenden Gruppen Waren an einem Ort verkauft werden: „A. ­Material- und Kolonialwaren, Eß- und Trinkwaren und Genußmittel, Taback und

Tabackfabrikate (auch Rauchutensilien), Apothekerwaaren, Farbwaaren, Droguen und Parfümerien;

B. ­Garne und Zwirne, Posamentierwaaren, Schnitt-, Manufaktur- und Modewaaren,

gewebte, gestrickte, gewalkte und gestickte Waaren, Bekleidungsgegenstände (Konfek­

tion, Pelzwaren), Wäsche jeder Art, Betten und Möbel jeder Art, Vorhänge, Teppiche,

Möbelstoffe und die zu deren Verarbeitung dienende Anfertigung von Zimmerdekora­ tionen;

C. ­Haus-, Küchen- und Gartengerätschaften, Oefen, Glas-, Porzellan-, Steingut- und

Thonwaren, Möbel jeder Art und die dazu dienenden Möbelstoffe, Vorhänge und Tep­ piche;

D. ­Gold-, Silber- und sonstige Juwelierwaaren, Kunst-, Luxus- und Galanteriewaren, Papp- und Papierwaren, Bücher und Musikalien, Waffen, Fahrräder, Fahr-, Reit- und

Jagdutensilien, sonstige Sportartikel, Nähmaschinen, Spielwaaren, optische, physika­ lische, medizinische und musika­lische Instrumente und Apparate.

Waren, ­welche zu keiner der im ersten Absatz unterschiedenen Gruppen gehören,

werden als besondere Waarengruppe nicht gezählt.“ (Gesetz, betreffend die Waaren­ haussteuer vom 18. Juli 1900, § 6, zit. nach Strutz 1900, 44 f.)

Nicht nur die Künst­lichkeit der Gliederung springt ins Auge, auch ihre interne Heterogenität. Schon Zeitgenossen wie der Gießener Professor für Na­tional­ ökonomie, Magnus Biermer, weisen darauf hin, dass die Gliederung „mehr oder 4 Zu den verschiedenen damaligen Bemühungen zum Schutz des Mittelstandes im Deut­ schen Reich vgl. Stieda 1905. Ein guter Überblick über die völkische Kapitalismus-­Kritik am Warenhaus seit den 1880er Jahren findet sich in Hoffmann 1996. Zum Mythos vom bedrohten Mittelstand vgl. Kapitel 3.1.

Die Ordnung der „Dinge“ um 1900

minder willkür­lich ausgefallen“ sei und „in der Steuerpraxis fortgesetzte und klein­liche Auslegungsstreitigkeiten herbeiführen“ (Biermer 1911, 612) werde.5 Nach Inkrafttreten des Gesetzes werden bis Dezember 1901 „nicht weniger als 85 Ministerialentscheidungen“ (Spiekermann 1994, 172) erforder­lich. Am 4. 12. 1901 erfolgt, diesmal ohne erneute parlamentarische Abstimmung, ein Erlass des preußischen Ministers für Handel und Gewerbe Möller, um die Zuordnung der Waren zu den Gruppen abschließend zu klären. Was in § 6 kaum eine halbe Seite umfasst, wird im Erlass auf zweiundzwanzig Seiten ausgebreitet. Im zwei­ ten und dritten Teil des Erlasses werden außerdem „festgestellte“ und „verneinte Herkommen und Gebräuche“ aufgeführt. Damit versucht man „sowohl den zeit­lichen wie den ört­lichen Verhältnissen und Gewohnheiten“ (Strutz 1900, 51) beim Verkauf von Waren entgegenzukommen.6 Zwar kann nicht auf einzelne Geschäfte Rücksicht genommen werden; wenn es aber mindestens die lokale Tradi­tion eines gemeinsamen Verkaufs gibt, können Geschäfte von der Steuer ausgenommen werden, die sonst als Warenhäuser eingestuft werden müssten.7 Doch auch der Erlass erschöpft die Zuordnungsproblematik keineswegs. Immer wieder muss nachgebessert werden, wenn auch nicht mehr im Umfang, wie es bis Dezember 1901 der Fall war.8

5 In einem frühen Entwurf zum Gesetz von 1899 war versucht worden, die – hier noch fünf – Gruppen bestimmten Lebenssphären bzw. Tätigkeitsbereichen zuzuordnen: „I. ­Gegenstände des täg­lichen Verbrauchs  […]; II. ­Gegenstände der persön­lichen Ausstat­ tung […]; III. ­Gegenstände der Wohnungseinrichtungen […]; IV. ­Gebrauchsgegenstände der Hauswirthschaft […]; V. ­Juwelier-, Kunst-, Luxus-, Unterhaltungs- und Unterrichts­ gegenstände“ (zit. nach Spiekermann 1994, 258). Auch diese Gliederung hat kategoriale Brüche. Aber im Vergleich zu der im § 6 des Gesetzes propagierten Ordnung ist sie deut­ lich weniger inkonsistent. Vgl. die bei Spiekermann 1994, 257 ff. abgedruckten Entwürfe zum Gesetz. 6 Strutz berichtet im Kommentar zum Gesetz, dass die Warengruppen nach der Anhörung von „Sachverständigen aus den Kreisen der größeren wie der kleineren Detaillisten“ (Strutz 1900, 46) gebildet wurden. 7 So heißt es z. B. im Erlass an einer Stelle: „Technische Spezialgeschäfte in Liebenwerda, die vornehm­lich optische Instrumente und Papierwaaren (D) feilhalten, führen: Akten­ schränke und Aktenregale für technischen Bedarf, dagegen nicht: Bureaumöbel, Kontor­ möbel.“ (Erlaß 1901, 31) 8 Noch am 15. 3. 1902 heißt es in einer erneuten Ministerialentscheidung: „Untersuchungs­ stühle, Opera­tionsstühle, Krankenfahrtstühle gehören als med. Apparate zu Gruppe D des § 6 des Waarenhaussteuergesetzes.“ (Handel und Gewerbe 9 [1901/02], 306)

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Einleitung

Im Erlass selbst gibt es Waren, die zwei, manchmal drei Warengruppen zuge­ ordnet sind, z. B. ­Hängematten, die in die Kategorien B, C und D fallen. Von diesen ambivalenten Waren gibt es fast einhundert im ersten Teil. Dazu kommen weitere Ausnahmen durch „Herkommen und Gebrauch“. Diese Sonderfälle und Ausnahmen lassen die Einteilung der Warengruppen fragil und brüchig erschei­ nen, voller Inkonsequenzen und kategorialer Brüche. Die Frage, wie klassifiziert wird,9 scheint weniger von sach­lichen Gesichtspunkten bestimmt als davon, ein Ordnungsschema zu etablieren, dessen Ziel darin besteht, etwas auszuschließen. Was die Kategorien überschreitet, muss ein Warenhaus sein, was auch immer es sonst sein mag. Im Gegensatz zum preußischen Gesetz werden in der Neufassung des baye­ rischen Gewerbesteuergesetzes vom 9. Juni 1899 die Probleme des preußischen Gesetzes weitgehend vermieden. In Artikel 23 heißt es: „Gewerb­liche Unternehmungen, ­welche behufs der gewinnbringenden Verwertung

grösserer Betriebsmittel ihrem Geschäftsbetrieb eine außergewöhn­liche Ausdehnung

geben und durch die Art ihres Geschäftsverfahrens von den Grundsätzen und For­

men, unter w ­ elchen die im Tarife 10 enthaltenen Gewerbe ausgeübt zu werden pflegen,

wesent­lich abweichen, sind mit einer nach dem Geschäftsumfange steigenden Normal­ anlage zu belegen, ­welche unter Hinzurechnung der Betriebsanlage nicht unter einem

½ % und nicht über 3 % des Geschäftsumsatzes betragen soll.

Zu den gewerb­lichen Unternehmungen der erwähnten Art zählen unter den ange­

gebenen Voraussetzungen insbesondere:

a) Warenhäuser, Großmagazine, Großbazare, Abzahlungs- und Versteigerungsge­

schäfte, sowie Versandgeschäfte, durch w ­ elche Waren, die ihrer Beschaffenheit nach

verschiedenen Gattungen angehören, oder als Erzeugnisse verschiedener Industriezweige

oder Handwerksgeschäfte anzusehen sind, in grösserem Umfange mittels Einzelverkaufs

9 Die Gliederung im preußischen Gesetz folgt im Übrigen nicht der Systematik damaliger Warenkunden, die, etwa in Pietschs Warenkunde (1909), von einer grundlegenden Differenz ­zwischen „Waren aus dem organischen Naturreich“ und „Waren aus dem unorganischen Naturreich“ ausgehen (vgl. Pietsch 1909, 7 ff.). In Erdmann-­König’s Grundriß der allgemeinen Warenkunde (1915) findet man eine ähn­liche Gliederung (vgl. Remenovsky 1915). 10 Vgl. Anlage 1 zum Gesetz, wo die Gewerbe tabellarisch aufgelistet sind und so, in bestimmte Gewerbesteuertarife eingeordnet, gewerbesteuer­lich veranlagt werden (Bayerisches Gesetz 1900, 307 ff.).

Die Ordnung der „Dinge“ um 1900

in offenen Verkaufsstellen feilgehalten oder im Wege des unmittelbaren Versandes an die Konsumenten zur Veräusserung gebracht werden,

b) Gewerbe der unter litt. a bezeichneten Art, in ­welchen der Betriebsumfang durch

Haltung einer Mehrzahl von Verkaufsstellen oder Niederlagen für den Vertrieb der

Waren oder Erzeugnisse aussergewöhn­lich erweitert wird.“ (Bayrisches Gesetz 1900, 289)

Statt von Warengruppen wird von „Waren, die ihrer Beschaffenheit nach verschie­ denen Gattungen angehören“, gesprochen bzw. von „Erzeugnisse[n] verschiede­ ner Industriezweige oder Handwerksgeschäfte“, ohne dies näher zu präzisieren. Damit vermeidet das bayerische Gesetz von vornherein die im preußischen Gesetz angelegte Zuordnungsproblematik. Darüber hinaus wird klarer als im preußi­ schen Gesetz formuliert, warum Warenhäuser zu einer Sondersteuer herange­ zogen werden. Es ist einerseits ihre „außergewöhn­liche Ausdehnung“, also ihr großkapitalistischer Charakter. Andererseits ist es die „Art ihres Geschäftsverfah­ rens“, näm­lich „von den Grundsätzen und Formen, unter w ­ elchen die im Tarife enthaltenen Gewerbe ausgeübt zu werden pflegen, wesent­lich ab[zu]weichen“. Das bayerische Gesetz postuliert – um eine Formulierung aus dem preußi­ schen Gesetz aufzunehmen – ein überliefertes „Herkommen“ der Gewerbe, die in einer bestimmten Art und Weise „ausgeübt zu werden pflegen“, wobei eine gewisse „Ausdehnung“ nicht überschritten werden darf. In Form einer Analepse verweisen die im bayerischen Gesetz erwähnten Warengattungen auf die Zeit vor der Gewerbefreiheit 11, als Gilden und Zünfte regelten, auf w ­ elche Weise Gewerbe und Handel betrieben werden durften und ­welche „gerechten“ Preise 12 man für bestimmte Waren verlangen konnte (vgl. Schmoeckel 2008, 26 ff. u. 38 ff.). 11 Seit den 1820er Jahren gilt im Deutschen Bund und ­später im Deutschen Reich Gewerbefrei­ heit. Zwar braucht man in manchen Gewerben, etwa als Apotheker, zusätz­liche Qualifika­ tionen und Genehmigungen oder Befähigungsnachweise, z. B. für die Ausübung eines Hand­ werks. Grundsätz­lich ist man aber frei in der Wahl des Gewerbes. Man benötigt ledig­lich einen Gewerbeschein und muss Gewerbesteuer zahlen. Vgl. Schmoeckel 2008, 80 ff. Ein wichtiger Punkt der mittelständischen Kritik am Warenhaus war der durch die Gewerbe­ freiheit ermög­lichte intensivierte Wettbewerb im Einzelhandel. Vgl. Spiekermann 2013, 40. 12 Im Rahmen der Zünfte und Gilden spielt das Konzept des „gerechten Preises“ eine zent­ rale Rolle (vgl. Schmoeckel 2008, 26 ff.). Der „gerechte Preis“ impliziert eine moraltheolo­ gisch fundierte Gleichsetzung von Wert und Preis einer Ware. Durch diese Gleichsetzung soll verhindert werden, dass – entsprechend des bib­lischen Wucherverbotes – übermä­ ßige Gewinne erzielt werden. In der Moderne wird das Konzept des „gerechten Preises“ durch die „Metaphysik des auf den Gesetzen von Nachfrage und Angebot frei zustande

14

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Einleitung

Im baye­rischen Gesetz wird damit eine temporale Differenz etabliert ­zwischen solchen Gewerben, die man ausübt, wie sie „ausgeübt zu werden pflegen“, und solchen, die nicht der Pflege der tradi­tionellen Gewerbeformen dienen. Auf diese Weise wird das Warenhaus nicht nur im negativen Sinne als modern qualifiziert. Die temporale Differenz dient zugleich der nostal­gischen Konstruk­tion eines Anfangs, in dem die Ordnung der Gewerbe und – damit verbunden – die Ord­ nung der „Dinge“ noch ursprüng­lich und unverfälscht war. Während im bayerischen Gesetz eine kontinuier­liche Linie in die Vergan­ genheit konstruiert wird, bleibt die Warengruppierung im preußischen Gesetz diskontinuier­lich und ambivalent, weil im historischen Rekurs auf „Herkommen und Gebräuche“ nur Ausnahmen, jedoch keine Regeln produziert werden. Was in Bayern nostal­gisch begründet wird, versucht man in Preußen systematisch zu lösen. So unterschied­lich die Begründungen sind, am Schluss steht in beiden Gesetzen eine begriff­liche Konstruk­tion, die sich in den Zwischenräumen der Ordnung der Gewerbe bzw. der Systematik der „Dinge“ einnistet. Mit Michel Serres lässt sich diese begriff­liche Konstruk­tion als eingeschlossenes ausgeschlossenes Drittes kennzeichnen.13 Eingeschlossen ist das Warenhaus, weil es die in der historischen und systematischen Gliederung postulierte Ordnungen der Gewerbe und „Dinge“ als Ganzes integriert, ohne sie synthetisch aufzulösen. Ausgeschlossen ist es, weil es per defini­tionem aus der Logik der historischen und systematischen Gliederung der Gesetze herausfällt. Sowohl in historischer

gekommenen Preises“ (Schmoeckel 2008, 30 f.; vgl. Stäheli 2007, 78) ersetzt: Wert und Preis einer Ware werden entkoppelt. 13 Das Konzept des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten entwickelt Serres im Zuge der Ausarbeitung einer dreiwertigen Logik (vgl. Serres 1987, 41 ff., 369). In dieser Logik kommt es nicht zu einer dialektischen Aufhebung der Opposi­tionsglieder in einer Synthese, sondern das eingeschlossene ausgeschlossene Dritte übersteigt und beinhaltet zugleich die Opposi­tionsglieder (vgl. Serres 1987, 382). Für Serres sind der Parasit oder der Platonische Eros beispielhafte Figura­tionen ­dieses eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten (vgl. Serres 1987, 372). Das eingeschlossene ausgeschlossene Dritte ist daher keine liminale Figur; es steht nicht ­zwischen den Opposi­tionsgliedern oder vermittelt ­zwischen ihnen, sondern partizipiert auf paradoxe Weise an beiden. Es ist somit auch keine Figur von Alterität, wie es etwa für andere Figuren des Dritten wie thirdness oder third space gesagt werden kann (vgl. Koschorke 2012, 117). Zum kulturwissenschaft­lichen „Paradigma“ der Figur des Dritten vgl. die Aufsätze in Eßlinger 2010; zu Serres’ parasitärer Logik vgl. insbesondere Gehring 2010.

Die Ordnung der „Dinge“ um 1900

als auch in systematischer Hinsicht beinhaltet und überschreitet das Warenhaus die Grenzen der in den Gesetzen imaginierten prästabilierten Ordnung. Das Warenhaus wird zu einem Parasiten der ökonomischen und sozialen Ordnung der Gewerbe und „Dinge“. Es wird zur Störung, zur Anomalie. Schon Biermer bemerkt in Bezug auf das bayerische Gesetz: „Man hat im Gewerbesteuertarif gleichsam eine Normalbetriebsweise des Detailhan­ delsgeschäftes konstruiert und daneben ein anormales Geschäftsverfahren, bei dem

man gleichsam den unlauteren Wettbewerb präsumiert, hingestellt und besonders steuer­lich belastet.“ (Biermer 1911, 607)

Was man, zumal beim preußischen Gesetz, für eine unglück­liche Verquickung von politischer Unbedachtsamkeit, mangelndem Sachverstand und behörd­lichem Dilettantismus halten kann, erschöpft sich jedoch keineswegs in steuerrecht­licher Begriffsakrobatik, sondern erzeugt eine Reihe von Effekten, die in größtem Widerspruch zur politischen Absicht der Gesetze stehen. Warenhäuser agieren als Erste nach dem ökonomischen Prinzip „großer Umsatz – kleiner Nutzen“. Man versucht also, „Gewinne und Rentabilität [zu erzielen] trotz vergleichsweise knapp kalkulierten Gewinnspannen je Artikel durch raschen Umschlag der Waren und hohes Umsatzvolumen“ (Homburg 1992, 185). Im Gegensatz zur damaligen Gewerbesteuergesetzgebung, nach der Gewerbe gemäß des geschätzten Ertrags, d. h. dem vermuteten, nicht deklara­ tionspflichtigen Reingewinn, taxiert werden (vgl. Meyer/Leoning 1909, 897 ff.; Eheberg 1909, 1035 ff.; Biermer 1911, 611), legen das preußische und bayerische Gesetz im Rahmen der Sondersteuer eine Umsatzbesteuerung fest (vgl. § 4 sowie Art. 23). Durch diese soll die ohnehin knapp kalkulierte Gewinnspanne der Warenhäuser zusätz­lich geschmälert werden, um ihre ökonomische Leis­ tungsfähigkeit zu beschränken. Wiederum bemerkt Biermer: „[W]enn man ­diesem Gedankengang einseitig nachgeht, [kommt man] zu dem geradezu

komisch wirkenden Resultat, dass man die Warenhäuser um deswillen stärker belasten

will, weil sie sich mit einem geringeren Nutzen und einer bescheideneren Kapital­ rente begnügen. […] ein Geschäft für Luxustoiletten reicher Damen, wo der Gewinn

weniger durch den Warenumsatz als durch den Schnitt der Toiletten bestimmt wird, [muss weit weniger Steuern zahlen] als eine Firma, ­welche billige Konfek­tionswaren

für Arbeiterfrauen liefert.“ (Biermer 1911, 609)

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Einleitung

Ein zweiter Effekt der Umsatzbesteuerung resultiert aus der Warengruppenbzw. Gewerbetarifeinteilung selbst. Ein großes Spezialgeschäft, das einen ebenso hohen, mög­licherweise sogar höheren Umsatz hat wie ein Warenhaus, wird einzig deswegen nicht nach dem Umsatz besteuert, weil es ledig­lich aus einer Warengruppe bzw. aus einem Industrie- oder Handwerkszweig Waren verkauft. An ­diesem Effekt lässt sich paradigmatisch ablesen, wie an den Rändern der in den Gesetzen propagierten Ordnung eine selbstreferenziell erzeugte Zone ent­ steht, in der die Regeln einer Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt werden und eine exorbitant hohe Steuer erfunden und politisch durchgesetzt werden kann, die nicht nur jedem ökonomischen Kalkül spottet, sondern auch dem Grund­ gedanken der Gewerbefreiheit widerspricht. Der dritte, historisch zweifellos folgenreichste Effekt der Sondersteuer besteht darin, dass Warenhäuser nun „ihr Sortiment ungehindert ausdehnen konnten, ohne weitere wirtschaft­liche Nachteile befürchten zu müssen.“ (Fischer/Ladwig-­ Winters 2007, 103) Die Sondersteuer führt letzt­lich zu einer ökonomischen Schutz­ zone für Warenhäuser. Sie sorgt dafür, dass für sie keine weitere Konkurrenz mehr entsteht, da es sich angesichts der hohen Abgaben niemand leisten kann, neue Warenhäuser zu eröffnen. Darüber hinaus werden die größeren Konkurrenten des Spezialhandels gezwungen, Marktanteile an die Warenhäuser abzutreten. Sie müssen einen Teil ihrer Warengattungen aufgeben, wenn sie nicht unter die Sondersteuer fallen wollen: „So entwickelte sich ein Quasi-­Monopol für uns und die anderen Warenhäuser“ (Tietz 1965, 47), so Georg Tietz, der Sohn von Oscar Tietz, Gründer des Warenhauskonzerns Hermann Tietz. Schließ­lich ist die Steuer nicht zuletzt deswegen folgenlos für die Warenhäuser, weil die Mehrkosten, die dadurch entstehen, an Lieferanten und Produzenten weitergegeben werden (vgl. Tietz 1965, 47; Spiekermann 1994, 151; Busch-­Petersen 2004, 39).14 Die Warenhaussondersteuer läuft vollkommen ins Leere. Nach Inkraft­ treten der Gesetze können die Warenhäuser noch besser prosperieren als vorher. Obwohl die Steuer den ökonomischen Erfolg und die Leistungsfähig­keit der Warenhäuser nicht beeinträchtigt, spielt sie gleichwohl der mittel­stands­freund­ lichen Front der Warenhausgegner in die Karten. In den Polemiken der Waren­ hausgegner heißt es früh: 14 Im Übrigen hatte man in Frankreich ähn­liche Erfahrungen gemacht. Dort führte die Warenhaussondersteuer ebenfalls zu keiner Eindämmung der Warenhäuser; in Deutsch­ land war diese Tatsache bekannt. Vgl. Mataja 1891, 72 ff.; Jäh 1900, 754; Biermer 1911, 606.

Die Ordnung der „Dinge“ um 1900

„Es muss in der ganzen Waarenhausfrage etwas stecken, was dem Empfinden unserer Volksseele zuwiderläuft, was die Massen, noch ehe sie über den eigent­lichen Inhalt und

Charakter der Frage aufgeklärt wurden oder sonst sich klar geworden sind, instinktiv gegen sie einnimmt. Mit einem Worte: Die Waarenhäuser müssen unserem Volke als

etwas Fremdes, Feind­liches erscheinen, das bekämpft, das ausgerottet zu werden ver­ dient.“ (Grävéll 1899, 5; vgl. ebd., 10)15

Der im Gesetz festgelegte Ausschluss der Warenhäuser aus der „Normalbetriebs­ weise des Detailhandelsgeschäftes“ verläuft parallel zu einer generellen Zurückwei­ sung der Warenhäuser aus der „Normalbetriebsweise“ des ökonomischen Lebens. In Werner Sombarts Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911) wird die Vermi­ schung unterschied­licher Branchen als spezifisch jüdische Erfindung gedeutet: „Eine Neigung zur Universalität der Branchen hatten die Juden frühzeitig schon dadurch, daß sich in ihren Läden allerhand verfallene Pfänder verschiedenartigster Natur […]

zum Verkauf aufhäuften, die ohne jeden inneren Zusamm[en]hang rein durch den Zufall

hier zusammengeführt waren und nun natür­lich in die Kompetenzkreise der verschie­ densten Produzenten und Händler hineinragten. Diese Trödelläden – das Urbild des

modernen Warenhauses – spotteten jeder zunftmäßigen Gliederung und bedeuteten

durch ihr bloßes Dasein eine beständige Auflehnung gegen die bestehende Ordnung

von Handel und Gewerbe.“ (Sombart 1911, 159; vgl. ebd., 178)

Noch stärker gegen jedes kaufmännisches Ethos verstoße jene Form der „Waren-­ Vermengung“, die gute und schlechte Qualitäten mische, um Kunden zu täuschen.

15 Schon Émile Zola lässt in Au Bonheur des Dames den kleinen Stoffhändler Baudu sagen: „Et les parapluies, reprit Baudu. Ça, c›est le comble! […] car, enfin, à quoi ça rime-­t-­il, des parapluies avec des étoffes?“ (Zola 1964, 411) In Alice Berends Roman Spreemann & Co (1916), in dem die Geschichte des Berliner Stoffhändlers Spreemann erzählt wird, heißt es: „Aber was Hans [einer der Söhne Spreemanns] da eben vorgeschlagen hatte – eine Vermischung der verschiedensten soliden Branchen – erregte in ihm Übelkeit wie ein ekler Brei.“ (Berend 1916, 223; vgl. ebd., 273) Seinerzeit gibt es nur wenige Zeugnisse, die das Warenhaus nicht verteufeln: „Wie immer man aber auch die Berechtigung und die Wirkung der Bazare [Warenhäuser] denken mag, für junge Kaufleute, insbesondere Ver­ käufer, bilden sie eine Art hohe Schule. Man kann sie im buchstäb­lichen Sinne als prakti­ sche Universitäten des Verkaufsgeschäfts bezeichnen, denn sie vereinigen in der That alle Facultäten des Handels und bilden eine Art von Waaren-­Kosmos.“ (Fischer 1899, 124)

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Einleitung

Der Antisemit Theodor Fritsch schreibt in Die Juden im Handel und das Geheimnis ihres Erfolges (1913): „Bei Massen-­Artikeln ist im Warenhause folgende Praxis üb­lich: Zwischen eine große

Menge minderwertiger Ware (Kleidungsstücke, Wäsche, Porzellan-­Geschirre usw.) sind einige gute Stücke untermischt. Diese besseren Stücke liegen selbstverständ­lich

obenauf und werden dem flüchtigen Beschauer zur Besichtigung in die Hand gege­

ben.“ (Fritsch 1913, 114)16

Das „Feind­liche“, von dem in Grävélls Polemik die Rede ist, bekommt bei Fritsch und Sombart einen Namen und – vor allem – eine Geschichte, die ein kom­ plexes wirtschaft­liches Gebilde wie das moderne Warenhaus auf eine schlichte charakterolo­gische Dimension zusammenschnurren lässt. Was in den Gesetzen eine Frage von Ordnung und Unordnung ist, wird bei Grävéll, Fritsch und Sombart auf eine Freund-­Feind-­Unterscheidung projiziert. Analog zum eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten entzieht sich das Waren­ haus jedoch dem „behag­lichen Antagonismus“ (Bauman 1995, 75) dieser simplen Unterscheidung. Es erscheint vielmehr als Fremder: als „Mitglied der Familie der Unentscheidbaren“ und damit „Träger und Verkörperung der Inkongruenz“ (Bauman 1995, 76, 82): „Es gibt kaum eine Anomalie, die anomaler wäre als der Fremde. Er steht ­zwischen

Freund und Feind, Ordnung und Chaos, dem Innen und dem Außen. Er steht für die

Treulosigkeit von Freunden, für die schlaue Verstellung von Feinden, die Fehlbarkeit von Ordnung, die Verletz­lichkeit des Innen […].“ (Bauman 1995, 83)

Antisemitische Deutung und Sondersteuergesetze schreiben nicht nur die Fremd­ artigkeit des Warenhauses fest. Sie stilisieren es gleichzeitig zu einer ökonomi­ schen Bedrohung, die umso beunruhigender ist, als sie im „Innern“ der eigenen Volkswirtschaft angesiedelt ist.

16 Zum Thema Antisemitismus und Warenhaus vgl. Kapitel 7.2 ff.

Die Ordnung der „Dinge“ um 1900

2.  Ariadne als Auskunftsfräulein Im Mittelpunkt des Einakters Bei Wertheim (1929) von Pier Maria Rosso di San Secondo steht ein „Fräulein von der Auskunft“. Es trägt eine „Kette um den Hals, an der ein Schildchen baumelt, auf dem zu lesen ist: Übersetzung / Informa­tion“. Wüsste man es nicht besser, so bemerkt der Erzähler, könnte man es „für eine der mechanischen Puppen halten, wenn es nicht bescheidener gekleidet wäre.“ (Rosso di San Secondo 1997, 31) Welche Auskunft dem Fräulein auch abverlangt wird, es weiß – bis auf eine letzte Frage 17 – stets eine Antwort und schickt die Kunden mit ihren Anliegen in die entsprechenden Abteilungen: „Schnittmuster?

Erdgeschoß, rechter Flügel, vierter Aufzug, zweite Etage, siebte Abteilung.“ (Rosso di San Secondo 1997, 31)

Die Sprache des Fräuleins imitiert nicht nur das Puppenhafte ihres Auftretens, sondern ebenso das Lakonische ihrer Kleidung. Sie ist ganz Funk­tion. Wie die mytholo­gische Ariadne gibt sie Fäden aus und lässt für die Kunden eine Ord­ nung aus dem Labyrinth des Warenhauses aufsteigen, in dessen Zentrum sie selbst steht.18 17 Kaum verklausuliert macht ein Mann dem Auskunftsfräulein einen Heiratsantrag mit der Frage: „Abteilung Ehefrauen. Frauen, geeignet für ehe­liches Zusammenleben. Ehefrauen, erforder­liche Eigenschaft: Hausfrau. Das Fräulein von der Auskunft: Diese Abteilung gibt es nicht.“ (Rosso di San Secondo 1997, 42); vgl. die ausführ­liche Analyse der Szene in Kapitel 8.6. 18 „Wer das Haus Wertheim zum ersten Male betritt, empfängt den Eindruck eines erdrü­ ckenden Gewirres. Menschen fast zu jeder Tageszeit in ununterbrochenem Strömen; unabsehbare, immer neue Reihen von Verkaufsständen; ein Meer von Warenmassen, aus­ gebreitet; Treppen, Aufzüge, Etagen, sichtbar wie die Rippen eines Skeletts; Säle, Höfe, Hallen; Gänge, Winkel, Kontore; Enge und Weite, Tiefe und Höhe; Farben, Glanz, Licht und Lärm: ein ungeheures Durcheinander, scheinbar ohne Plan und Ordnung. […] Wer aber einen Über- und Einblick in das Haus und sein Getriebe gewinnen will, [dafür] bedarf [es] häufigerer Besuche, fast eines richtigen Studiums.“ (Göhre 1907, 15) Ähn­lich schildert Fedor von Zobeltitz seine Erfahrungen beim Besuch des Berliner Wertheim-­Warenhauses in der Leipziger Straße: „Neu­lich habe ich Wertheim zum ersten Male besucht. […] Zuerst mußte ich mir an einer der Hauptkassen ein ‚Sammelbuch‘ kaufen; die Kassen waren umdrängt, aber nach einer kleinen halben Stunde hatte ich mein Buch und konnte nun losziehen. Doch ich zog nicht. Ich bin nicht ganz ohne Findigkeit; hier jedoch verließ mich jedwede topographische Begabung.“ (Zobeltitz 1922, 49; Hervorheb. U. ­L.) Später fasst

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Einleitung

Je größer die Warenhäuser werden, umso dring­licher wird die Frage, wie man darin Ordnung schafft und Ordnung hält. Das in den 1910er Jahren größte Warenhaus der Welt, Marshall Field & Co. in Chicago, hat täg­lich ­zwischen ein­ hundert- und zweihunderttausend Besucher (vgl. Biermer 1911, 603; Hendrickson 1979, 82 ff.). Im New Yorker Warenhaus Macy & Co., das in den 1920er Jahren Marshall Field den Rang als größtem Warenhaus der Welt abläuft, hat man eine halbe Million unterschied­licher Artikel vorrätig; hier kommen bis zu dreihun­ derttausend Besucher täg­lich (vgl. Hendrickson 1979, 68 f.). Und selbst die ver­ gleichsweise kleinen deutschen Warenhäuser wie das Berliner KaDeWe haben noch mehrere Zehntausend Besucher am Tag (vgl. Warenhäuser der Welt 1926, 64). Was in Émile Zolas Roman Au Bonheur des Dames (1882/83) noch mög­lich ist, und sei es nur als literarische Fik­tion, dass der Besitzer des Warenhauses einen täg­lichen Rundgang durch sein Warenhaus macht, um sich über den Gang der Geschäfte in den einzelnen Rayons zu informieren (vgl. Zola 1964, 421 ff.), ist um 1900 eine bestenfalls nostal­gische Erinnerung: „Vielfach, nament­lich in den Warenhäusern ersten Ranges, ist eine einheit­liche Direk­ tion der spekulativen Ein- und Verkäufe schlechterdings unmög­lich. Kein auch noch so

weitblickender Kaufmann besitzt eine s­ olche Warenkenntnis und eine s­ olche Vertraut­ heit mit den Verhältnissen der Branche, um Tausende von Artikeln […] gleichmäßig übersehen zu können. Der Leiter eines großen Warenhauses muß sich deswegen mit einem Stab von Ressortchefs, denen er die einzelnen Abteilungen zur selbständigen

Verwaltung überlässt, umgeben.“ (Biermer 1911, 600; vgl. Colze 1908, 30)

Die Ordnung im Warenhaus muss apersonal organisiert werden, da sie ein Ein­ zelner weder überblicken noch kontrollieren oder steuern kann (vgl. Hirsch 1910, 31 ff.).19 Das moderne Warenhaus ist, wie Paul Göhre bemerkt, „nicht nur er zusammen: „Ich bin kein Odysseus, der das Irrfahren aus Liebhaberei betreibt; ich bin auch kein Bergfex, der sich im Klettern üben möchte; ich gehe nur noch zu Wertheim, wenn ich frühstücken will“ (Zobeltitz 1922, 52). 19 Vgl. die Ausführungen in der deutschen Übersetzung von Paul Mazurs Principles of Organisa­ tion Applied to Modern Retailing (1927): „Solange die Gründer selbst in ihren eigenen Geschäften tätig sind, mag es angehen, die Organisa­tion aufs Persön­liche abzustellen. Schon jetzt aber haben in zunehmender Zahl Nachfolger und Erben die Leitung unserer großen Einzelhandelsbetriebe übernommen. Auf die Dauer kann kein eingeführtes gro­ ßes Geschäft sich gestatten, seine Organisa­tion den Eigentüm­lichkeiten neu eintretender

Die Ordnung der „Dinge“ um 1900

kaufmännisch, sondern zugleich auch militärisch und bureaukratisch bestimmt“ (Göhre 1907, 87). Indem das Warenhaus verschiedene Branchen des Einzelhan­ dels bündelt, zentralisiert es zwar einerseits ein vielfältiges Warenangebot an einem Ort.20 Andererseits aber führt diese Konzentra­tion zu massiven Effekten der Dezentrierung.21 Ab einer bestimmten Größe werden nicht nur Auskunfts­ fräulein benötigt, um die Kunden in die richtigen Abteilungen zu leiten. Man braucht nicht weniger einen effizient funk­tionierenden Verwaltungsapparat inklusive entsprechender Kommunika­tionswege, um die kaufmännischen, logisti­ schen, personal-, finanz- und verwaltungstechnischen Probleme zu bewältigen.22 Zudem werden strikte Kontrollmechanismen in Bezug auf den Warenverkehr und die Mitarbeiter etabliert.23 Die Zentralisierung des Warenangebots führt gerade nicht in ein panop­ tisches Szenario hinein. Im Gegenteil: Was anfangs als Territorialisierungs­ faktor anmutet, indem die Spezialisierung des tradi­tionellen Einzelhandels im

Persön­lichkeiten, selbst wenn es sich um Inhaber handelt, immer von neuem anzupassen. Vielmehr müssen trotz des Wechsels, der in der Leitung und im Personal aus natür­lichen Gründen unvermeidbar ist, die Grundprinzipien der Geschäftsorganisa­tion aufrechter­ halten werden. […] Gerade der Detailhandelsbetrieb entwickelt mit zunehmender Größe ein Eigenleben, das am allerwenigsten von der Geschäftsleitung mißachtet werden darf.“ (Mazur 1928, 38 f.) 20 „Die große unter einem Dache untergebrachte und als ein Ganzes geleitete Vereinigung von Läden, die man früher Bazar nannte, jetzt aber mit dem Namen ‚Universal-­Warenhaus‘ bezeichnet, ist so charakteristisch für unsere alles zentralisierende Zeit, daß sie als typisch für die Art gelten kann, in welcher der Handelsverkehr der Zukunft sich entwickeln wird.“ (Müller 1897, 185; vgl. Calwer 1907, 67); „Das Charakteristische und Neuartige dieser groß­ städtischen Detailgeschäfte ist die ungewöhn­liche Vielseitigkeit und Mannigfaltigkeit der feilgebotenen Warengattungen, die fast alle Branchen umfassen. […] Die Auslagen und Abteilungen eines Warenhauses gleichen einem permanenten Markte, in dem alle Klassen der Konsumenten an Ort und Stelle ihren Gesamtbedarf bis in seine kleinsten Verzwei­ gungen befriedigen können“ (Biermer 1911, 591). 21 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 11.4. 22 Vgl. Aus den Warenhäusern beider Welten (1910), wo detailliert die Organisa­tion deutscher, amerikanischer und franzö­sischer Warenhäuser dargestellt wird und sogar Formulare, Kassen­zettel usw. abgedruckt sind. Bei Pasdermadjian finden sich jeweils kurze Abschnitte zur Organisa­tion der Warenhäuser in den Zeiträumen 1860 – 1880, 1880 – 1914 und 1920 – 1940, die zeigen, dass die Organisa­tion zunehmend komplexer und personenunabhängiger wird (Pasdermadjian 1954, 20 f., 34 f., 61 ff.). Vgl. die komplexen Organigramme in Mazur 1928. 23 Zu den Organisa­tionsformen der Warenhäuser in ihrer Wirkung auf die Angestellten vgl. Kapitel 10.4.

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Einleitung

Warenhaus aufgehoben scheint, ist tatsäch­lich ein Deterritorialisierungsfaktor. Indem unterschied­lichste Waren an einem Ort versammelt werden und das Ziel der großen Warenhäuser ist, tatsäch­lich alles, was es an unterschied­lichen Produkten weltweit gibt, anbieten zu können,24 erzeugen sie einen glatten, nicht stratifizierten Raum, in dem die Prinzipien Diversifizierung, Destratifizierung und Dysfunk­tionalisierung leitend sind. Das Labyrinth, in das hinein das Ankunfts­ fräulein ihre Fäden spinnt, ist rhizomatisch organisiert.25 Schon in einer zeitgenös­ sischen Quelle heißt es: „Das moderne Warenhaus gleicht einem ungeheuren Vexierspiel, das, kaum zusam­ mengesetzt, seine Gestalt wechselt und neu geordnet werden muß. Ein Teil ist zusam­ mengeschrumpft, ein anderer dehnt sich aus, ein dritter ändert Art und Form, so daß

der Spieler die einzelnen Stücke neu zusammensetzen oder – in dringenden Fällen –

vielleicht auch die Spielfläche vergrößern muß, um für alle Steine Platz zu bekommen.“ (Müller 1897, 189 f.)26

Die moderne Warenhausorganisa­tion muss versuchen, den glatten Raum des Warenhauses einzukerben und damit zu reterritorialisieren. Gelingt dies nicht, werden die dezentrierenden Effekte auf Dauer gestellt. In Shirley Jacksons Short Story My Life with R. ­H. Macy (1941) berichtet eine anonym bleibende Erzähle­ rin, die wie alle weib­lichen Angestellten bei Macy & Co. „Mrs. Cooper“ genannt wird, über ihren ersten Arbeitstag: 24 „Whiteley brachte unter außergewöhn­lichen Umständen in seinem Bestreben, kulant zu sein, noch viel mehr fertig. So erschien einmal ein Witzbold bei ihm und verlangte einen – Elefanten. ‚Wann soll er geliefert werden?‘ ‚Noch heute.‘ Als der Herr nach meh­ reren Stunden nach Hause kam, fand er dort den bestellten Elefanten, und er mußte gute Worte, sowie ein Provision und die Futterkosten geben, damit Whiteley das Riesentier zurücknahm. Ein andermal wünschte jemand einen – gebrauchten Sarg. Auch ihn lieferte Whiteley, indem er einem Sonderling dessen Sarg abkaufte, den dieser schon bei seinen Lebzeiten sich hatte anfertigen lassen.“ (Göhre 1907, 118 f.) Vgl. den Slogan von Harrod’s: „Omnia Omnibus Ubique“ (zit. nach Frei 1997, 45). 25 Zu den von Deleuze/Guattari entlehnten Begriffen „Deterritorialisierung/Reterritoriali­ sierung“, „glatter, nicht-­stratifizierter Raum“ („espace lisse, non-­stratifié“) sowie „Rhizom“ vgl. Deleuze/Guattari 1980, 9 ff., 434 ff. 26 Bei Müllers Text handelt es sich um eine stark gekürzte und an deutsche Gegebenheiten angepasste Übersetzung eines 1897 im US-amerikanischen Scribner’s Magazine veröffent­ lichten Textes (vgl. Adams 1897). Die Passage mit dem Vexierspiel findet sich nicht im amerikanischen Original.

Die Ordnung der „Dinge“ um 1900

„I […] found out my locker number, which was 1773, and my time-­clock number, which

was 712, and my cash-­box number, which was 1336, and my cash-­register number, which

was 253, and my cash-­register-­drawer number, which was K, and my cash-­register-­ drawer-­key number, which was 872, and my department number, which was 13. I wrote

all these numbers down. And that was my first day.“ ( Jackson 2009, 58 f.)

Nicht nur die Ordnung, ­welche die Sondersteuergesetze entwerfen, ist ambiva­ lent.27 Nicht weniger ist es die interne Organisa­tion des Warenhauses. Trotz der Konzentra­tionsbewegungen, für die das Warenhaus steht, hat es kein Zentrum, sondern besteht aus Peripherien, Übergängen, Schwellen und Zwischenräumen. Mit Hans van der Loo und Willem van Reijen lässt sich sagen, dass die ambi­ valente Struktur des Warenhauses ein Effekt der Modernisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts selbst ist.28 Was in der Metapher vom eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten anklingt, wird somit als strukturelles Merkmal des Warenhauses lesbar. Bei Göhre heißt es über das Berliner Wertheim-­Warenhaus in der Leipziger Straße:

27 Vielleicht könnte man sogar sagen, dass der glatte, nicht stratifizierte Raum schon im preußischen Warenhaussteuergesetz präsent ist, wenn in Gruppe D etwa „Crocketspiel­ geräte“ neben „Cruzifixe[n]“ und „Deckengurte[n] für Pferde“ stehen. Vgl. Erlaß 1901, 5. 28 Van der Loo/van Reijen charakterisieren den Prozess der Modernisierung und seiner theo­ retischen Aufarbeitung unter vier Leitperspektiven: Differenzierung, Ra­tionalisierung, Individualisierung und Domestizierung. Diese Perspektiven bedingen sich nicht allein, sondern sind laut van der Loo/van Reijen auch in hohem Maße ambivalent: Zunehmende Spezialisierung führe zu entdifferenzierenden Integra­tionsprozessen (das Differenzie­ rungsparadox); zunehmende Pluralisierung forciere Tendenzen der Generalisierung (das Ra­tionalisierungsparadox); mehr individuelle Handlungsfreiheit bedinge mehr strukturelle Abhängigkeit (das Individualisierungsparadox); mehr Beherrschung der Umwelt bedeute gleichzeitig mehr Abhängigkeit von technischen Mitteln (das Domestizierungsparadox). Van der Loo/van Reijen 1992, 34 ff., 115 f. 157 f., 194 f., 234 f.; vgl. Graevenitz 1999, 11 u. Lenz 2011, 21 ff. Im Übrigen weist schon Georg Simmel in Berliner Gewerbe-­Ausstellung (1896) auf diese paradoxen Effekte hin: „Während […] steigende Cultur zu immer größerer Speciali­ sierung und häufigerer Einseitigkeit der Leistungen führt, zu immer engerer Beschränkung auf das zugewiesene Gebiet – entspricht dieser Differenzierung der Produc­tion keineswegs eine ebensolche der Consum­tion; sondern im Gegenteil: es scheint, als ob der moderne Mensch für die Einseitigkeit und Einförmigkeit seiner arbeitstheiligen Leistung sich nach der Seite des Aufnehmens und Genießens hin durch die wachsende Zusammendrängung heterogener Eindrücke, durch immer rascheren und bunteren Wechsel der Erregungen entschädigen wolle.“ (Simmel 2004, 34 f.)

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Einleitung

„Abwechslung, Abwechslung und immer wieder Abwechslung. […] Dennoch wür­ den, ließe man die Waren allein wirken, ihre Buntheit sich hoch über eine erträg­liche

Abwechslung zu einem verwirrenden, ja die Kauflust und Kaufkraft tötenden Durch­ einander steigern. Dieses Durcheinander mußte deshalb unbedingt eingefangen und

gesammelt werden in bestimmte, sich gegenseitig ausschließende charakteristische

Raumabteilungen, die alle Buntheit der Waren mit ihrem eigenen architektonischen Schmuck zu einer, wenn auch nicht immer gleich schönen, so doch stets gefälligen

Einheit zusammenschließen.“ (Göhre 1907, 30)

Trotz reterritorialisierender Parzellierungen ist die Präsenz des glatten Raums bei Göhre allgegenwärtig. Auch die Beschreibung der Raumaufteilung in Waren­ häusern, wie man sie in Mia Kleins Disserta­tion Die Reklame des Warenhauses (1931) findet, steht nur scheinbar im Widerspruch zu der These vom glatten Raum des Warenhauses: „In unmittelbarer Nähe der Kleiderstoffabteilung liegen die dazu gehörigen Abtei­ lungen: Modewaren, Besatzartikel und Kurzwaren. Das erste Stockwerk, auch in den

Wohnhäusern immer das vornehmste, ist fast überall der Dame vorbehalten. Hier sind die Abteilungen für Konfek­tion, Wäsche, Schuhe und Hüte untergebracht. Wer bis

zum zweiten Stock kommt[,] hat Zeit. In d ­ ieses Stockwerk gehören also die Waren, deren Einkauf Zeit beansprucht. Teppiche, Gardinen.

Der Erfrischungsraum mit seinen guten Waren [sic], seiner Musik, ist noch nie einer

Kundin zu entlegen gewesen. Er darf ohne Risiko im dritten Stock liegen, zudem muß die Besucherin dann eine Reihe anderer Abteilungen passieren, wodurch sie auch noch

zu manchem Kauf veranlaßt wird. Da es durchweg die Hausfrau ist, die den Erfri­ schungsraum besucht, liegt im dritten Stock ferner noch die große Abteilung für alle

Haushaltsartikel. Der vierte Stock ist überall der Lebensmittelabteilung vorbehalten.

Man kann damit rechnen, daß sie auf dem Wege zur Lebensmittelhalle auch die ande­ ren Abteilungen des Hauses nicht unbeachtet läßt.“ (Klein 1931, 24 f.)

Was im ersten Moment als eine nach wohl überlegten Grundsätzen eingerich­ tete Ordnung anmutet, die durch räum­liche Analogien wie „das erste Stock­ werk“ sei „immer das vornehmste“ plausibilisiert wird, nützt im Gegenteil den glatten Raum des Warenhauses, um die Verweildauer der Kunden zu erhöhen. Nicht Übersicht­lichkeit, eindeutige Wege und schnelle Erreichbarkeit sind die Ziele dieser Ordnung, sondern eine ökonomisch kalkulierte Verlangsamung und

Die Ordnung der „Dinge“ um 1900

deterritorialisierende Zerstreuung der Kundschaft im Warenhaus. Entgegen der anfäng­lichen Sugges­tion einer hierarchischen, nach Stockwerken, Geschlecht und/oder Interessen ausgerichteten Gliederung ist der Raum des Warenhauses bei Klein ebenfalls glatt, ja er muss glatt sein – wie könnte man sonst Kunden dazu bewegen, länger als geplant im Warenhaus zu verweilen?

3.  Konsum und Kontingenz In Zdenko von Krafts Roman Kaufhaus Alljeder (1922) taucht ein namenloser Erzähler ganz in den glatten Raum des Warenhauses ein: „Da drängt sich in irgendeinen der Schächte ein Rudel Menschen, in einem Aufzug

zusammen geweht wie Flocken im Schneesturm. Sie starren in den gläsernen Fahr­ schacht wie in das Antlitz einer Sphinx; und einer fragt, als wär’ es ein Symbol:

‚Aufwärts?‘ ‚Jawohl!‘

Ein leises Surren. Die Tür schnappt in ihren Verschluß. Ein Druck auf den Hebel.

Spiegelglas. Grell erleuchtete Gesichter. Poliertes Messing. Ausdünstungen von Klei­ dern, Pelzwerk, Schuhen, Maschinenöl, heißem Metall.

‚Erster Stock.‘

Sandelholz. Ein sinn­licher, anregender Duft. Etwas von der Geilheit indischer Wald­

verstecke. Bombay und Tel­licherri […]. Tropenwind im Segel eines Bandarbootes. Eine

Vision aus dem Osten. Aber es ist nur ein flüchtiger Aufblitz im Unterbewußtsein. Die Augen wissen nichts davon. Die Augen sehen anderes:

Eine Luntenflinte mit damasziertem Lauf. Einen geschnitzten Holzlöffel. Eine Sarangi-­ Geige. Glotzäugige, unend­lich läppisch dreinschauende Götzen auf langer Glastafel.

Eine chine­sische Vase in Specksteinschnitzerei. Bunte, lächer­lich billige Papierfächer: das Dutzend zu zwei Mark achtzig. Einen Pagoden mit slawisch-­verschmitztem

Gesichtsausdruck. (Übelster Schund aus einer Vorstadt-­Porzellanmanufaktur!) […]

Irgendwo ein Klavier. […] Dazwischen die katarrha­lischen Nebengeräusche eines

lungenschwachen Grammophons. Caruso? … Ja, ohne Zweifel: das kann nur Caruso sein. […] [dann] das zweite Stockwerk […].

Licht! Plötz­lich sehr viel gelb­lich-­rosiges Licht. Aber es sticht nicht. Es ist flüssig und

abgeklärt. Beinahe wie der schwermütig-­süße Duft um die Tische der Seifendamen.

Der verschlingt mit einem Male alles. China, Japan, Indien […]. Die Welt ist doch

nur einzig dieser schönen, lasterhaften Seifen willen da: der rosenroten in hellgelber

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Einleitung

Packung (das Stück zu 7 Mark 50); der orangefarbenen in meergrüner Packung mit Goldaufdruck (das Stück zu 9 Mark). Natür­lich Luxusware. […]

‚Dritter Stock: Pelzwaren, Damentrikotagen, Teppiche, Tapeten, Kunstgewerbe, Par­ fümerie, Schreibzimmer, Leihbibliothek!‘ […]

Die Seifen sind verschwunden. Alles dahin, kaum noch ein Nachhall, ein Traum: die

Schätze Ostindiens, das Hohe B Carusos, die Damen in der Seifensymphonie […].“

(von Kraft 1922, 18 ff.)

Was Göhre (1907, 30) als „Kauflust und Kaufkraft tötendes“ Durcheinander beschreibt, wird in der Textpassage aus von Krafts Roman nicht als Reizüber­ flutung empfunden. Im Gegenteil: Der Erzähler lässt sich vielmehr bewusst durch das Warenmeer treiben und folgt dem Augenblickshaften und Sprung­ haften seiner Eindrücke und Gefühle. Selbst die Fahrstuhlfahrt, bei der sich „Ausdünstungen von Kleidern, Pelzwerk, Schuhen, Maschinenöl, heißem Metall“ überlagern, wird lustvoll erfahren. Jedes Mal, wenn sich die Tür öffnet, taucht der Erzähler in eine neue Warenwelt ein. Diese Warenwelten sprechen nicht nur die unterschied­liche Sinne des Erzählers an, sondern lassen ihn zeitweilig imaginativ reisen. Die Zufälligkeit der Eindrücke des Erzählers reagiert unmittelbar auf die Anordnung der Abteilungen und Waren und verdeut­licht ein zentrales Moment des Warenhausaufenthaltes: das Kontingenzerlebnis angesichts der Vielfalt des präsentierten Warenangebotes. „Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmög­lich ist; was also so, wie

es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders mög­lich ist. Der Begriff bezeichnet

mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf

mög­liches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont mög­licher Abwand­ lung. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mög­liche überhaupt,

sondern das, was von der Realität aus gesehen anders mög­lich ist.“ (Luhmann 1984,

152; vgl. Makropoulos 1997, 13 ff.)

Mit Niklas Luhmann lässt sich das Warenhaus als Ort kennzeichnen, an dem beispielhaft die Kontingenz moderner Lebenswirk­lichkeit erfahren wird. Gerade im Warenhaus erscheinen „Gegenstände im Horizont mög­licher Abwandlung“ und die Pluralität des Warenangebots eröffnet Op­tionen auf das, „was von der Realität aus gesehen anders mög­lich ist“.

Die Ordnung der „Dinge“ um 1900

„Though conducted in the most public of spaces, shopping is essentially an intimate and

personal experience. To shop is to taste, touch, sift, consider, and talk our way through

myriad possibilities as we try to determine what it is we need or desire. To shop con­ sciously is to search not only externally, as in a store, but internally, through memory

and desire. Shopping is an interactive process through which we dialogue not only

with people, places, and things, but also with parts of ourselves.“ (Benson 2000a, 502)

Im Sinne April Lane Bensons wäre das Warenhaus als Ort aufzufassen, an dem Kontingenz strate­gisch genutzt wird, um im imaginären Dialog z­ wischen Ich und Warenwelt andere Lebensmög­lichkeiten und Selbstentwürfe auszuprobie­ ren.29 Hierauf liegt aus meiner Sicht der Fokus der Textpassage aus von Krafts Roman: Das sinn­liche Eintauchen des Erzählers in die Warenwelten geschieht „im Hinblick auf mög­liches Anderssein“, d. h. Anderswo- und Anderswersein. Dabei geht es dem Erzähler in keiner Weise um Kontingenzbewältigung. Im Gegenteil: Kontingenz wird vom Erzähler nicht nur toleriert, sondern bewusst gewollt, um das eigene Erleben zu intensivieren.30 Eine weitere Perspektive auf eine bewusste Kontingenznutzung in der Moderne hat Urs Stäheli in Spektakuläre Spekula­tion. Das Populäre der Ökonomie (2007) eröffnet. Stäheli zeigt in seiner Studie, wie im Verlauf des 19. Jahrhunderts Glücksspiel und Finanzspekula­tion unterschied­lichen Sphären des Umgangs mit Kontingenz zugewiesen werden: Während die Spiel- und Spekula­tionskritik die Finanzspekula­tion an der Börse als ra­tionale Form der Kontingenznutzung profiliert wird, wird das Glücksspiel als „Rückfall in barbarische und irra­tionale Zeiten“ abgewertet (vgl. Stäheli 2007, 70). Auch wenn die Argumenta­tion ­Stähelis in eine andere Richtung zielt, so lässt sich sein Ansatz gleichwohl gewinnbringend

29 Zum Thema Konsum und Identität vgl. die Ausführungen zum modernen Konsumismus in Kapitel 4.3. Eine der Kontingenzthese entgegengesetzte Lektüre der Warenwelten ist die These von der Mangelerfahrung. Vgl. Günther Anders’ Ausführungen zur „promethe­ ischen Scham“ in Die Antiquiertheit des Menschen (1956) sowie die Ausführungen dazu in Kapitel 6.5. 30 Michael Makropoulos hat herausgearbeitet, dass Pluralität in der modernen Massen- und Konsumgesellschaft nicht allein eine tolerierbare, sondern wünschbare Qualität ist (vgl. Makropoulos 2008, 22). Auf der anderen Seite heißt das, dass die mit der Pluralität ein­ hergehende Kontingenz nicht (mehr) als bedroh­lich oder unheim­lich erfahren wird. Vgl. Makropoulos 1997, 28 ff.

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Einleitung

­ utzen, um die Frage der Kontingenz für das Warenhaus genauer zu fassen. Über n das Geldspiel schreibt Stäheli: „Was […] einzigartig am Geldspiel ist, ist das Bündnis von Kontingenz und Unterhaltung – ein Bündnis, das die Kontingenz den religiösen Semantiken des Schicksals

entreißen mußte, um erst deren Grundlosigkeit erfahren zu können; ein Bündnis aber

auch, das im Geldmedium eine neue Heimat findet, die den Genuß der Kontingenz

mit der Reflexivität des Mediums zusammenschweißt.“ (Stäheli 2007, 71)

Auch im Warenhaus ist Kontingenznutzung in den Zusammenhang von Kon­ tingenz und Unterhaltung eingebettet, denn Kontingenz kann hier ebenfalls genossen werden.31 Die Kontingenznutzung im Warenhaus ist wie im Spiel oder in der Finanzspekula­tion hochgradig selbstreflexiv und entkoppelt von den reli­ giösen Semantiken des Schicksals. Zudem ist sie eng mit dem Medium Geld verbunden, das als universeller „Joker“ (Ullrich 2006, 62), also als Medium nicht realisierter Mög­lichkeiten fungiert und eine Spannung z­ wischen Gegenwart und Zukunft erzeugt. Schließ­lich bewegt sich die Kontingenznutzung im Warenhaus ­zwischen den Polen eines irra­tionalen und eines ra­tionalen Konsumverhaltens: ­zwischen Kaufsucht und Konsumkalkül, ­zwischen Körper und Geist.32 Der zentrale Unterschied z­ wischen der Kontingenznutzung im Spiel bzw. in der Spekula­tion und der im Warenhaus besteht in der Zielvorstellung, die mit dem Einsatz von Geld verbunden wird. Im Spiel wie in der Spekula­tion wird auf plötz­liche Geldvermehrung gewettet: „Nicht nur kann jeder spekulieren – sondern jeder kann dadurch seine Wünsche unmittelbar stillen. […] Das öko­ nomische Knappheitsproblem wird in die Vorstellung einer unerschöpflichen paradie­sischen Fülle transformiert.“ (Stäheli 2007, 68) Auch im Warenhaus wird durch die Vielfalt des Warenangebots die Vorstel­ lung einer paradie­sischen Fülle evoziert. Allerdings ist diese, obwohl unmittelbar manifest, immer nur eine Fülle virtueller Op­tionen. Die Teilhabe an ihr, also der Moment, in dem die Virtualität der Op­tionen in einen Kaufakt transformiert wird, verschärft im Gegenteil das „ökonomische Knappheitsproblem“. In The Invisible Man (1897) von H. ­G. Wells wird in einer Episode geschildert, wie der Unsichtbare vor seinen Verfolgern Zuflucht in einem Warenhaus mit 31 Vgl. die Erläuterungen über die Praktiken des Konsumismus in Kapitel 4. 32 Vgl. die Analysen in Kapitel 5 und 8.

Die Ordnung der „Dinge“ um 1900

dem bezeichnenden Namen „Omnium“ sucht (vgl. Wells 2003, 221 ff.). Anfangs verspricht sich der Unsichtbare vom Warenhaus eine Befriedigung aller seiner Wünsche: eine Schlafstatt, Kleidung, Nahrung usw. Doch bald er wird vom Wachpersonal entdeckt und muss – wiederum nackt – ins Freie fliehen. Zwar gelingt es ihm ­später, abermals ins Warenhaus zu gelangen und die Nacht dort zu verbringen. Aber seine anfäng­liche Vorstellung, an der paradie­sischen Fülle im Warenhaus unentdeckt partizipieren zu können, erweist sich als Trugschluss. Zwar gibt es alles im Warenhaus, aber der Unsichtbare kann davon nichts besit­ zen; er ist im Paradies, doch die Früchte sind verboten. Die paradoxe Situa­tion des Unsichtbaren verdeut­licht die inhärente Paradoxie der real-­virtuellen Fülle im Warenhaus. Zwar kann im Gegensatz zum Unsicht­ baren der Konsument mit entsprechenden finanziellen Mitteln oder ausreichen­ der krimineller Energie tatsäch­lich daran teilhaben, doch büßt diese Fülle genau in dem Moment ihre Potenzialität und damit Kontingenz ein, wenn sich der Konsument für die eine Ware und gegen die anderen entscheidet. Demgegenüber wird im Spiel und in der Spekula­tion die Vorstellung einer paradie­sischen Fülle auf Dauer gestellt. Sie ist tatsäch­lich „unerschöpflich“, da mit jedem neuen Spiel bzw. mit jeder neuen Spekula­tion an die Tür des Paradieses geklopft wird. Im singulären Kaufakt ist dies nicht der Fall. Hier erschöpfen sich der Kontingenz­ genuss und die Teilhabe an der paradie­sischen Fülle in dem Augenblick, wo die Spannung ­zwischen Gegenwart und Zukunft aufgelöst wird und eine der vielen mög­lichen Op­tionen aufgegriffen wird.33 Die Vorstellung einer paradie­sischen Fülle impliziert schließ­lich einen weiteren Aspekt, der bei Stäheli gleichfalls anklingt: „Nicht nur kann jeder spekulieren – sondern jeder kann dadurch seine Wünsche unmittelbar stillen.“ (Stäheli 2007, 68) Ebenso wie am Spiel jeder teilnehmen oder wie an der Börse jeder spekulie­ ren kann, ebenso darf jeder das Warenhaus betreten, denn im Gegensatz zum früheren Einzelhandel besteht beim Eintritt ins Geschäft kein Kaufzwang mehr. Dass es keine Zugangsbeschränkungen beim Eintritt in die Warenhäuser gibt, ist im 19. Jahrhundert eine revolu­tionäre Neuerung. Diese meist unter dem 33 Einzig im Windowshopping könnte man von einer auf Dauer gestellten paradie­sischen Fülle im Warenhaus sprechen. Mit der Etablierung großer Schaufenster bei Einzelhan­ delsgeschäften sowie der Präsenta­tion eines regelmäßig wechselnden Warenangebotes in den Schaufenstern entsteht Ende des 19. Jahrhunderts das Phänomen des Windowshop­ pings. Vgl. die Ausführungen in Kapitel 4.3.

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Einleitung

Stichwort Demokratisierung des Konsums subsumierte Innova­tion gründet in den veränderten Verkaufspraktiken der Warenhäuser: Sie führen nicht allein das Barzahlungsprinzip 34 und eine „offene[] Präsenta­tion bzw. für den Kunden gut sichtbare Auslegung der Waren“ ein. Auch sind die Preise nicht mehr verschlüs­ selt, d. h. nur für den Kaufmann selbst lesbar, sondern die Warenhäuser setzen auf eine „deut­liche und für jeden lesbare Preisauszeichnung“ der Waren und der Verkauf erfolgt ausschließ­lich „zu den ausgezeichneten, sogenannten festen Preisen“ (Homburg 1992, 185 f.). Mit Stäheli lässt sich sagen, dass die veränderten Verkaufspraktiken der Warenhäuser nicht nur zu einer Demokratisierung des Konsums, sondern zugleich zu einer Demokratisierung des Kontingenzerlebnisses führen. Das Warenhaus, wie es sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt, wäre in d ­ iesem Sinne ein Ort, an dem sich die moderne Massen- und Konsumgesellschaft als Kontingenzgesellschaft erfährt. Was in der Figur des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten als Bedrohung einer homogenen Ordnung konstruiert und was im glatten, nicht stratifizierten Raum des Warenhauses als beunruhigende Orientierungslosigkeit diskursiviert wird und sich zu einem apokalyptischen Szenario auswachsen kann, wenn große Menschenmengen das Warenhaus bevölkern,35 lässt sich im Kontingenzerlebnis zwar ebenfalls auf ein Ordnungsphänomen und -problem reduzieren. Im Gegen­ satz zur Figur des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten und zur Symbo­ lik des glatten Raums ist diese Ambivalenz jedoch unabdingbare ökonomische Voraussetzung moderner Verkaufsmethoden im Warenhaus, ragt also bis in nicht-­diskursive Konsumpraktiken hinein. Während im Kontingenzgenuss diese Ambivalenz von religiösen Semantiken entkleidet positiv konnotierbar wird, wird sie, wie noch gezeigt wird, in der Kleptomanin und Oniomanin an eine religiöse

34 Das Barzahlungsprinzip dient in der Frühzeit der Warenhäuser dazu, einen schnellen Umlauf des Kapitals zu ermög­lichen. Später – vor allem im Zuge der Wirtschaftskrisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der dadurch bedingten Abnahme der Kaufkraft – führen viele Warenhäusern wieder ein (bankengestütztes) Kreditsystem ein. Zur deutschen Situa­ tion vgl. Bücken 1928 und zur amerikanischen vgl. Leach 1993, 299 ff. In Paris entstehen schon im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts Warenhäuser, etwa die Magasins Dufayel, die sich im Gegensatz zu den auf die bürger­liche Schicht ausgerichteten Warenhäusern wie Bon Marché oder Louvre auf „credit sales for the working class“ (Miller 1981, 178) spezialisieren. 35 Zum Thema Menschenmenge und Warenhaus vgl. Kapitel 5.3.

Die Ordnung der „Dinge“ um 1900

Semantik zurückgekoppelt, wenn die paradie­sische Fülle des Warenangebots scheinbar unwidersteh­liche Verführungskräfte entfaltet.36

36 Zu Oniomanie und Kleptomanie s. Kapitel 5.3 ff.

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Kapitel 2

Interdiskursiver Raum und kollektives Imaginäres

1.  Warenhaus und Modernisierung Mit dem Warenhaus etablieren sich um 1900 einerseits neue Raumkonzepte, neue betrieb­liche Organisa­tionsformen und neue Berufe.1 Andererseits eröff­ net es ein Feld neuer sozialer Kommunika­tions- und Interak­tionsformen, die eng mit der Herausbildung der modernen Konsumgesellschaft verbunden sind.2 Drittens avanciert das Warenhaus zu einem wichtigen Bezugspunkt der ideolo­gischen Posi­tionierung hinsicht­lich der Darstellung und Deutung der Modernisierungsprozesse des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Zeitgenös­sisch gibt es kaum einen Diskurs, in dem das Thema Warenhaus nicht verhandelt wird. Im ökonomischen Diskurs erscheint das Warenhaus mit Blick auf ­Themen wie Monopolisierung, Ra­tionalisierung oder Globalisierung, im sozialpolitischen Diskurs hinsicht­lich ­Themen wie Mittelstand, Arbeitsschutz oder Sozi­ alfürsorge, im juridischen Diskurs in Bezug auf steuer- und arbeitsrecht­liche Fragen, Probleme des unlauteren Wettbewerbs oder Warenhauskriminalität, im medizinisch-­psychiatrischen Diskurs mit Blick auf die Gründe und Folgen von Kleptomanie oder Oniomanie, im geschlechterpolitischen Diskurs hinsicht­lich der zeitgenös­sischen Neufassung von Frauen- und Männerrollen im Zuge der Etablierung der modernen Konsumgesellschaft, im Kunstdiskurs in Bezug auf neue Reklame- und Ausstellungstechniken, Produktdesign, Mode oder Archi­ tektur und schließ­lich im literarischen Diskurs mit Blick auf die Modellierung und Reflexion von Modernenarra­tionen und -narrativen.3 Hierbei stehen die

1 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 6 und 9. 2 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 4, 5 und 8. 3 Zum Begriff des Narrativs vgl. Koschorke 2012, 30 f.: „Für erzählerische Generalisierungen ­dieses Typs [dem des Schemas] wird im Folgenden der Begriff des Narrativs vorbehalten, im Unterschied zur unabzählbaren Vielfalt individueller Geschichten (im Sinne von stories). Einzelne Erzähltexte können außerordent­lich verwickelten Bauplänen folgen; ihre kom­ munikative Verbreitung und s­ oziale Verhandelbarkeit hängen jedoch davon ab, in welchem Maß sie dem Grundmuster eines gebräuch­lichen Narrativs gehorchen – oder sich nach

Interdiskursiver Raum und kollektives Imaginäres

Spezialdiskurse 4 und Wissensfelder, in denen das Warenhaus erscheint, nicht unverbunden nebeneinander, sondern sie sind polykontextual organisiert. So treffen etwa in der Deutung, Beurteilung und Sank­tionierung von kleptomanem Verhalten der medizinisch-­psychiatrische, geschlechterpolitische, ökonomische und juridische Spezialdiskurs aufeinander oder in der Warenhaussteuergesetz­ gebung der politische, ökonomische und juridische. Im Gegensatz zu ­Themen wie Nervosität oder Treue, die als spezifische Diskursforma­tionen beschrieben werden können (vgl. Radkau 1998; Siegel 2004), überkreuzen sich im Warenhaus nicht-­diskursive und diskursive Praktiken mit symbo­lischen Zuschreibungen. Zwar geht dem Warenhaus ein räum­lich spezifisches Wirk­lichkeitssubstrat voraus. Doch d ­ ieses Wirk­lichkeitssubstrat wird von einer Vielfalt von dis­ kursiven, affektiven, symbo­lischen und imaginären Besetzungen übercodiert. Daher ist das Warenhaus immer zugleich realer Ort 5, interdiskursiver Raum 6 dessen Vorgaben fehldeuten lassen.“ Ausführ­lich zu den Bedingungen und Funk­tionen von Narrativen vgl. ebd., 236 ff. 4 Zum Begriff Spezialdiskurs vgl. Link/Link-­Heer 1990, 92: „Wir schlagen vor, jede historisch-­ spezifische ‚diskursive Forma­tion‘ im Sinne Foucaults als ‚Spezialdiskurs‘ zu bezeichnen.“ Diskurs kann dagegen – hier folge ich bei aller Vielgestaltigkeit des Begriffs Philipp Sarasin – als „geregelte[s] Aussagesystem[]“ verstanden werden. Mit Diskurs werden die „Strukturen eines Feldes wissenschaft­lichen Sprechens [bezeichnet], die mit institu­tionellen, politischen und ökonomischen Verhältnissen korrespondieren und die eine kohärente Pra­ xis ermög­lichen.“ (Sarasin 2005, 103) 5 Beim Verständnis des Ortsbegriffs orientiere ich mich an Geisthövel/Knoch (2005b, 11): Unter „Ort“ wird ein Raumtyp verstanden, „der den dreidimensionalen Raum auf eine bestimmte, verallgemeinerbare Weise nach außen und im Innern räum­lich ordnet und der mit raumspezifischen Funk­tionen und Erfahrungen verbunden ist. Diese Orte schneiden gleichsam ein Stück Raum aus der Welt und verwandeln es durch ihre Anlage, ihre Nut­ zung und die durch sie bewirkten und an sie geknüpften Raumerfahrungen realer oder medialer Art in eine eigene erlebte Welt.“ 6 Zum Begriff Interdiskurs bzw. Interdiskursivität vgl. Link/Link-­Heer 1990, 92: „‚Interdis­ kursiv‘ wären […] alle Elemente, Rela­tionen, Verfahren, die gleichzeitig mehrere Spezial­ diskurse charakterisieren. Das einfachste Beispiel wären Analogie-­Kopplungen ­zwischen zwei Spezialdiskursen, konkret etwa die ‚Übertragung‘ der Darwinistischen Evolu­tions-­ Mechanismen auf andere Bereiche.“ Hierbei folge ich jedoch nicht Link/Link-­Heers Konzept von Literatur als „elaborierte[m] Interdiskurs“ (Link 1988, 286; vgl. Link/Link-­ Heer 1990, 93 ff.). Einzelne literarische Texte mögen einen interdiskursiven Status gewin­ nen können (s. die Ausführungen über Zolas Au Bonheur des Dames in Kapitel 3). Dies aber generell für die Literatur zu behaupten, scheint mir zu weit gefasst. Demgegenüber möchte ich mich der im Anschluss an Niklas Luhmann entwickelten Posi­tion von Michael Gamper anschließen, der Literatur als „in besonderer Weise sensibel für die im Interdiskurs

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und kollektives Imaginäres 7. Obwohl es zahlreiche inhalt­liche Verbindungslinien ­zwischen den unter­schied­ lichen über das Warenhausthema verhandelten Problemlagen gibt, lassen sich diese Linien nicht zu einer übergreifenden inhalt­lichen Konzep­tion verdichten. Gleichwohl sind auf einer tiefengrammatischen Ebene bestimmte Schemata wirksam, die jenseits konkreter inhalt­licher Verbindungslinien das Wissen über das Warenhaus einschließ­lich der nicht-­diskursiven Praktiken organisieren. Diese Schemata dienen dazu, wie Gerhart von Graevenitz hinsicht­lich der „Vielfalt und Kontingenz der ausdifferenzierten Moderne-­Semantiken“ ausgeführt hat, die „‚Unübersicht­lichkeit‘ des Vielfältigen und Kontingenten […] durch rhetorische Komplexitätsreduk­tion“ zu bewältigen: „Es entsteht so eine merkwürdige Spannung z­ wischen dem ‚Perspektivenreichtum‘ und

der Komplexität in den jeweiligen ‚Diskursfeldern‘ […] und den wenigen Formeln

unserer grundsätz­lichen Verständigung über sie. ‚Konzepte der Moderne‘ sind rheto­ rische Entdifferenzierungen des Ausdifferenzierten.“ (Graevenitz 1999, 8)

In d ­ iesem Sinne kann das Warenhaus als „Konzept der Moderne“ verstanden werden. Im Rahmen der diskursiven Verhandlungen über die Modernisierungs­ prozesse des ausgehenden 19. Jahrhunderts fungiert es als rhetorischer Mechanis­ mus der „Entdifferenzierung des Ausdifferenzierten“, indem es das in den Spe­ zialdiskursen verstreute Wissen bündelt und interdiskursiv verhandelbar macht. Auf diese Weise kann das Warenhaus nicht nur zum „sichere[n] Zentrum für das System unserer Aussagen“ über das „scheinbare Chaos“8 der mit der Etablierung der modernen Konsumgesellschaft einhergehenden ökonomischen, politischen oder sozialen Problemlagen dienen. Als „Konzept der Moderne“ ermög­licht es

kursierenden populären und aktuellen ­Themen“ ansieht, wodurch sie „in die Posi­tion einer ‚Beobachtung zweiter Ordnung‘“ (Gamper 2007, 32) rücken kann. 7 Das kollektive Imaginäre verstehe ich mit Christina von Braun als einen Komplex von „historisch wandelbaren Leitbildern oder Idealentwürfen“, die das „Selbstbild einer Gesell­ schaft zu einem historisch bestimmten Zeitpunkt ausdrücken und prägen.“ (von Braun 2001, 278 f.) 8 Graevenitz schreibt: „[W]ir mögen Vielfalt, Heterogenität und Fragmentarität der moder­ nen Phänomene, Diskurse und Semantiken bestaunen. Wir besitzen zugleich, meist in der Form eines ‚performativen Wissens‘ ein sicheres Zentrum für das System unserer Aussagen über ­dieses scheinbare Chaos.“ (Graevenitz 1999, 9)

Interdiskursiver Raum und kollektives Imaginäres

auch eine generelle Diskussion dieser Problemlagen in Bezug auf die zeitgenös­ sischen Modernisierungsdebatten. Mit diesen Überlegungen zur interdiskursiven Funk­tion des Warenhauses ist unmittelbar die Frage der adäquaten Darstellbarkeit des diskursiven Feldes verbunden, auf dem die mit dem Warenhaus verbundenen Modernisierungs­ problemlagen verhandelt werden. Obwohl es, wie angedeutet, ­zwischen den sich an das Warenhausthema anlagernden Wissensfeldern und Spezialdiskursen zahlreiche inhalt­liche Verbindungslinien gibt, lassen sich diese nicht einfach in einer chronolo­gischen oder systematischen Ordnung abbilden. Die Viel­ schichtigkeit und Komplexität des diskursiven Feldes erfordern eine andere Struktur. In Anlehnung an Eva-­Maria Spiegels Studie über die Treue wird eine konfigurative Gliederung gewählt, die sich nicht „streng an historischen Kriterien oder an einzelnen Autorennamen bzw. Genres“ orientiert, sondern versucht, „den vorgefundenen Aspektereichtum zu bündeln, ohne eine durch­ gängige lineare Struktur erwarten zu lassen.“ (Siegel 2004, 11) Konkret heißt das: In den einzelnen Kapiteln der Studie werden zwar inhalt­liche Schwer­ punkte gebildet. Durch die konfigurative Anordnung der Kapitel aber werden diese Schwerpunkte jenseits offensicht­licher inhalt­licher Beziehungen einan­ der gegenübergestellt. Unter dem Gliederungspunkt „Figuren der Transgression“ liegt der Fokus auf den zahlreichen Entgrenzungs- bzw. Überschreitungsfiguren, w ­ elche die Warenhausdebatten der Jahrhundertwende diskursiv organisieren. Diese Ent­ grenzungs- bzw. Überschreitungsfiguren gehören zu den zentralen Schematis­ men, mit deren Hilfe versucht wird, die Vielfalt der Phänomene in der moder­ nen Konsumsphäre diskurspolitisch zu deuten und/oder zu instrumentalisieren. Die einzelnen Kapitel befassen sich mit dem Verhältnis von konsumistischer Praxis und Imagina­tion (Kapitel 4), mit den geschlechterpolitischen Strategien, vermeint­lich transgressive Verhaltensformen in der Konsumsphäre als pathogen einzustufen (Kapitel 5), mit weib­licher Arbeit im Warenhaus als Provoka­tion und Herausforderung des dominanten Weib­lichkeitsnarrativs um 1900 (Kapi­ tel 6) sowie mit Antiamerikanismus und Antisemitismus als Versuche, die dem Warenhaus generell unterstellten transgressiven Tendenzen kulturpolitisch und/ oder ethnisch zu deuten (Kapitel 7). Unter dem Gliederungspunkt „Figuren der Limita­tion“ werden Konzepte beschrieben, ­welche die dem Warenhaus bzw. der modernen Konsumsphäre zugeschriebenen Transgressionsphänomene einzuschränken suchen. So sehr die

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moderne Konsumkultur 9 aus Sicht der zeitgenös­sischen Kulturkritik landläufige Klassifizierungen und Differenzierungen in Frage stellt, so sehr wird diese Infra­ gestellung von diskurspolitisch motivierten Versuchen begleitet, neue Klassifi­ zierungen und Differenzierungen zu etablieren. Die einzelnen Kapitel befassen sich mit den Ende des 19. Jahrhunderts neu geschaffenen Rollen der Frauen als Konsum- und Geschmacksexpertinnen (Kapitel 8), mit den Bemühungen der Warenhäuser, sich als Orte von Kultur und Bildung zu inszenieren (Kapitel 9), mit den verschiedenen an das Warenhaus geknüpften „Verlusterzählungen“ (Kapi­ tel 10), mit der paternalistischen Ideologie vieler Warenhauskonzerne als Versuch, die Moderne zu „refamilisieren“ (Kapitel 11) sowie mit utopischen Entwürfen alternativer Modelle zur Konsumkultur um 1900 (Kapitel 12).

2. Materialbasis Vor dem Hintergrund dessen, was mit dieser Studie beabsichtigt wird, näm­lich die Rekonstruk­tion des diskursiven Feldes, auf dem sich die moderne Kon­ sumkultur mit Blick auf die Modernisierungsprozesse um 1900 reflektiert, ist klar, dass d ­ ieses Ziel nur erreicht werden kann, wenn auf eine mög­lichst breite Quellen­basis zurückgegriffen wird. Dem Aspektereichtum des Themas entspre­ chend besteht diese Quellenbasis aus Texten unterschied­lichster Herkunft, nicht nur bezogen auf die Wissensfelder und Spezialdiskurse, sondern auch auf deren generische Einordnung. Die Bandbreite reicht von wissenschaft­lichen Abhand­ lungen über Gesetzestexte, sozialpolitische Essays, Jubiläums- und Festschriften, 9 Beim Begriff „Konsumkultur“ folge ich dem Begriffsgebrauch bei Gudrun König: „Während Konsumgesellschaft eine spezifische Verfasstheit kapitalistischer Gesellschaftsphänomene und einen spezifischen Lebensstandard meint, wenn nicht für alle, so doch für viele Gesell­ schaftsmitglieder, kann die Konsumkultur […] selbst in anderen, näm­lich sozialistischen Gesellschaften existent sein […]. Der Terminus der Konsumkultur (‚consumer culture‘) wird in der amerikanischen Forschung vor allem seit den 1980er Jahren benützt, um damit die Prägung des Konsums durch die Kultur und die Prägung der Kultur durch den Konsum zu akzentuieren. Im Deutschen wird er sowohl im Sinn von Konsumkultur als auch von Konsumentenkultur übersetzt. Moderne Konsumkultur […] meint eine Konsumkultur, die gekennzeichnet ist durch das Vorhandensein eines großen und diversifizierten Ange­ bots von Waren, die von einem sich immer weiter ausdifferenzierenden Kulturapparat und Kommunika­tionssystem (von der Werbung bis zur Politik) mit Bedeutung versehen werden und aus denen immer mehr Menschen auswählen und kaufen können.“ (G. ­König 2009a, 27) Vgl. Siegrist/Kaeble/Kocka 1997, insbesondere 13 – 48.

Interdiskursiver Raum und kollektives Imaginäres

Leitfäden mit Verhaltensregeln für Warenhausangestellte, Schulungsbücher für die Verkäuferausbildung, Warenkataloge, Pamphlete der Antiwarenhauspropa­ ganda bis zu Gedichten, Romanen, Satiren, Boulevardkomödien und Kinder­ geschichten. Ergänzt werden die Textquellen durch Abbildungen, Fotos, Musik und frühe Filme.10 Mit wenigen Ausnahmen stammen alle Quellen aus dem Zeitraum ­zwischen 1880 und 1940. Diese Daten bezeichnen historische Wendepunkte, an denen sich die Wahrnehmung und Wertung des Warenhauses im Rahmen der Reflexion der frühen Konsumgesellschaft signifikant verändert. Ab den 1880er Jahren wird das Warenhaus (zuerst in Frankreich und in den Vereinigten Staaten, s­ päter in Groß­ britannien und Deutschland) zum Sinnbild der modernen urbanen Konsumkul­ tur und der Problemlagen und Konflikte, die mit ihrem Entstehen einhergehen.11 Dies hat ein enormes Anwachsen von Textzeugnissen über Warenhäuser zur Folge, die auf eindrucksvolle Weise deren gestiegene kulturelle Bedeutung und Strahlkraft dokumentieren. Anfang bis Mitte der 1930er Jahre endet aufgrund der zahlreichen wirtschaft­lichen Krisen in den Jahren davor, der Durchsetzung neuer Verkaufskonzepte im Einzelhandel (Woolworth-­System, Supermärkte, Shopping Malls)12, der politischen Umwälzungen sowie schließ­lich des ­Zweiten Weltkrieges die Ära des „klas­sischen“ Warenhauses. Auch wenn Warenhäuser nach Ende des Zweiten Weltkrieges weiterbestehen, hat sich die Situa­tion grund­ legend verändert (vgl. Pasdermadjian 1954, 65 ff.; Haupt 2003, 131 ff.). Dies lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass nach 1945 die Debatten um die Rolle und Bedeutung des Warenhauses im Rahmen der modernen Konsumkultur weitge­ hend versiegen und erst zwanzig Jahre s­ päter im Zuge der 68er-­Bewegung eine neue Dynamik gewinnen (vgl. Hecken 2010). So heterogen die Materialbasis auf den ersten Blick wirkt, so homogen erweist sie sich im Rahmen der an das Warenhaus geknüpften Kollektivsymbolik.13 10 Texte, Musik, Bilder und Filme kommen vorwiegend aus dem angloamerikanischen, franzö­sischen und deutschen Sprachraum. Diese Auswahl ist der historischen Tatsache geschuldet, dass in diesen Sprachräumen nicht nur die ersten Warenhäuser gegründet wurden, sondern diese auch früh eine zentrale Bedeutung in den Debatten über die Aus­ wirkungen der modernen Konsumkultur innehatten. 11 Vgl. Kapitel 10.5 und 11.1. 12 Vgl. W. ­König 2008, 88 ff.; Architektur für den Handel 1996. 13 Zum Begriff des Kollektivsymbols bzw. der Kollektivsymbolik vgl. Link 1988, 293 f. sowie Link/Link-­Heer 1990, 96. Dort heißt es: „Unter Kollektivsymbolik wird die Gesamtheit

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­ lementarer Teil dieser Kollektivsymbolik sind bestimmte Metaphernkomplexe, E etwa das Warenhaus als Konsumtempel oder Kathedrale des Konsums,14 die sich diskursübergreifend in unterschied­lichsten Texten und Textsorten finden. Dar­ über hinaus bildet sich im Rahmen der Kollektivsymbolik ein mehr oder min­ der festes Typenarsenal aus, das in Warenhaustexten verschiedenster Herkunft anzutreffen ist: der alleinstehende, wirtschaft­lich erfolgreiche, meist verwitwete Warenhausbesitzer mit zugeschriebener oder faktischer jüdischer Religionszuge­ hörigkeit, die kaufwütige, teils kleptomane, teils oniomane Frau aus gehobenen bürger­lichen Kreisen oder – als kollektives Bild – die im Kaufrausch entfesselte weib­liche Menschenmenge. Zum Typenarsenal treten, teils inhalt­lich damit in Verbindung stehend, teils davon unabhängig, bestimmte schematisierte Narra­ tionen: Dies sind zum einen die meist geschlechtsspezifisch codierten Szenen. Hier wäre etwa an die Schilderungen von Warenhausdiebstählen zu denken 15 oder an das Vor-­dem-­Schaufenster-­Stehen als zentralem Initia­tionsritus der modernen Konsumkultur.16 Zum anderen sind die schematisierten Narra­tionen in Form von übergeordneten Leitnarra­tionen präsent: entweder als Varia­tion des optimistischen Fortschrittsnarrativs des 19. Jahrhunderts 17 oder – in Form von Retrofik­tionen  18 – als ele­gischer Rekurs auf vormoderne „Ursprüng­lichkeiten“, wo Menschen und Wirtschaft von den Modernisierungsprozessen und -erfah­ rungen scheinbar noch unberührt und unbeschädigt waren.19 Auch wenn die mit dem Warenhaus verknüpfte Kollektivsymbolik erstaun­ lich homogen ist,20 dürfen nicht die Differenzen ­zwischen Warenhaustexten aus der ‚bild­lichen‘ Redeelemente (Symbole, Allegorien, Embleme, Metaphern, Synekdochen, Bilder) verstanden. Es kann gezeigt werden, wie all diese Elemente […] durch das Spiel der Diskursinterferenzen und -integra­tionen generiert werden.“ Während also Kollektivsym­ bole als interdiskursive Redeelemente zur Diskursintegra­tion aufgefasst werden können, ist das kollektive Imaginäre über die Selbstbilder kulturell unmittelbar wirksam (s. Anm. 7). 14 Vgl. Kapitel 3.2 und 5.4. 15 Vgl. Kapitel 5.4. 16 Vgl. die Ausführungen in Lindemann 2011. 17 Vgl. Kapitel 11.1. 18 Zu den erzähllo­gischen Implika­tionen von Retrofik­tionen vgl. Koschorke 2012, 212 ff. 19 Vgl. Kapitel 10.1. 20 Dass die kollektivsymbo­lische Verflechtung von Warenhaustexten aus transna­tionaler Perspektive so dicht ist, liegt an vergleichbaren historischen Bedingungen in Bezug auf die Entstehung der modernen Konsumgesellschaft in Europa und Nordamerika Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts. Hinzu kommt früh ein durch die Warenhäuser selbst for­ cierter interna­tionaler Austausch von betriebswirtschaft­lichem Wissen, architektonischen

Interdiskursiver Raum und kollektives Imaginäres

unterschied­lichen Sprachräumen übersehen werden. Grundsätz­lich lässt sich fest­ halten, dass die Unterschiede ­zwischen Europa und Nordamerika weit ausgepräg­ ter sind als innerhalb von Europa, zumal ­zwischen Frankreich und Deutschland. Viele Debatten, etwa die über Kleptomanie oder den vermeint­lichen Untergang des Kleinhandels durch die Warenhäuser, werden in Deutschland und Frank­ reich bis hinein in die Wahl der Argumente ähn­lich geführt (vgl. Mataja 1891, 64 ff.; Martin Saint-­Léon 1911; Miller 1981, 190 ff.; Nord 1986).21 Insbesondere an der Literatur können die Differenzen ­zwischen Nordamerika und Europa gut beobachtet werden, wobei sich zwei hauptsäch­liche Tendenzen unterscheiden lassen: zum einen Texte, deren Figurenpersonal aus leitenden Persön­lichkeiten besteht und in denen allgemeine Fragen und Probleme des Warenhauses etwa hinsicht­lich seiner ökonomischen, politischen oder sozialen Situierung dargestellt werden; zum anderen Texte vom Angestelltentypus, bei denen neben der beruf­ lichen Situa­tion auch das private Umfeld der Figuren beleuchtet wird. Während die amerikanische Warenhausliteratur fast ausschließ­lich aus Texten des zweiten Typs besteht, kommt dieser, sieht man von wenigen Ausnahmen ab, in der euro­ päischen Literatur vor 1918 nicht vor. Mit ­diesem grundlegenden Unterschied sind weitere verbunden, etwa hinsicht­lich der Darstellung von weib­lichen Ange­ stellten im Warenhaus. Gleichermaßen beispielhaft wie in geschlechterpolitischer Sicht signifikant ist die Short Story One of the Old Girls (1912) der amerikanischen Schriftstellerin Edna Ferber, in der eine Verkäuferin einen Heiratsantrag ablehnt, da sie durch eine Ehe ihre Unabhängigkeit und Eigenständigkeit gefährdet sieht.22 Der bei Ferber skizzierte Frauentyp kommt in der europäischen Literatur bis in die 1920er Jahre nicht vor, was ein bezeichnendes Licht auf die Unterschiede in der beruf­lichen und sozialen Stellung von weib­lichen Angestellten in Europa

Konzepten und werb­lichen Ideen (vgl. Kapitel 1.2, 10.2 ff. und 11). Auch der interna­tionale Katalogversand vieler Warenhäuser fördert diese Vernetzung. Schon 1881/82 berichtet Zola in seinen Vorarbeiten zu Au Bonheur des Dames von dreihundertvierzigtausend franzö­ sischsprachigen Bon-­Marché-­Katalogen sowie einhunderttausend in Fremdsprachen für das Ausland (vgl. Zola 1987, 167). 1894 werden von Bon Marché dann eineinhalb Millio­ nen Kataloge verschickt (vgl. Miller 1981, 61 f.). 1910 liefert Printemps sogar elf Millionen Kataloge aus; 1912/13 beläuft sich der Anteil des Umsatzes durch das Versandgeschäft bei Pariser Warenhäusern auf etwa 25 % (vgl. Homburg 1992, 210). 21 Vgl. auch Kapitel 3 und Kapitel 5.5. 22 Vgl. auch die selbstbewusste Verkäuferin in den Kurzromanen Miss 318 (1911) und Miss 318 and Mr. 37 (1912) von Rupert Hughes.

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und Nordamerika wirft.23 Weitere Differenzen ergeben sich aus der historischen Situa­tion in den verschiedenen Ländern. So wird etwa in der deutschen Waren­ hausliteratur das Problem des verarmten Adels thematisiert, der sich zur Exis­ tenzsicherung in subalternen Stellungen in Warenhäusern verdingen muss (vgl. Groner 1907; Schweriner 1912; Georgy 1923). Auch die häufige Darstellung von Juden in Warenhaustexten ist ein deutsches Spezialthema und verläuft parallel zur Diffamierung von jüdischen Warenhäusern im deutschsprachigen antisemi­ tischen Schrifttum seit den späten 1890er Jahren.24 Schließ­lich unterscheidet sich die deutsche Diskussion über Warenhäuser noch in einer weiteren Hinsicht von der eng­lischen, amerikanischen und franzö­ sischen. Während im angloamerikanischen Raum und in Frankreich bereits in den 1880er Jahren Warenhäuser als positive ­­Zeichen der Modernisierung gewertet werden (vgl. Miller 1981, 100 ff., 221 ff.; Lancaster 1995, 108 ff.), werden deutsche Warenhäuser seit ihrer Gründung überwiegend als volkswirtschaft­ liche Bedrohung und Zeichen ­­ eines allgemeinen Kulturverfalls eingestuft (vgl. Briesen 2001, 9 f.; Busch-­Petersen 2004, 27). Während die „soziale Stellung der Warenhäuser in Amerika […] eine ganz andere [ist] als bei uns in Deutschland“, wie ein damaliger Kommentator bemerkt, „sie sind angesehen und populär“ (Aus den Warenhäusern beider Welten 1910, 88 f.), und in Frankreich schon vor 1900 Warenhausbesitzer für ihre Leistungen öffent­lich geehrt und gefeiert werden,25 nimmt die Polemik der deutschen Debatten in den ersten Jahrzehnten nach 1900 noch zu.26 In Bezug auf bestimmte mit dem Warenhaus verbundenen ­Themen, etwa Antiamerikanismus oder Antisemitismus, wird der Schwerpunkt der Ana­ lysen daher auf deutschsprachigen Textzeugnissen liegen, da die angesprochenen Themenfelder aus dem angloamerikanischen Raum oder aus Frankreich weit­ gehend unbekannt sind.

23 Während die „Karrieren“ von weib­lichen Warenhausangestellten in Europa in der Regel in Ehen einmünden, wird in der amerikanischen Literatur früh die Mög­lichkeit eines selbstbestimmten Lebens von Frauen geschildert. Ausführ­lich zu ­diesem Thema und den historischen Hintergründen in Kapitel 6.1 ff. 24 Vgl. Kapitel 7.2 ff. 25 Vgl. Kapitel 11.1. 26 Vgl. Kapitel 7.2.

Interdiskursiver Raum und kollektives Imaginäres

27 3. Forschungskontext 

Wie aus den vorhergehenden Erläuterungen ersicht­lich ist, wird mit dieser Studie nicht beabsichtigt, eine wie auch immer geartete transna­tionale Kulturgeschichte des Warenhauses zu schreiben. Ebenso wenig wird die Studie eine Geschichte der literarischen Repräsenta­tionen von Warenhäusern beinhalten.28 Methodisch knüpft die Studie an ­solche Arbeiten an, die das Warenhausthema von einer diskursgeschicht­lich orientierten Perspektive aus untersucht haben (vgl. Miller 1981; Lancaster 1995). Auch neuere Arbeiten zur „materiellen Kultur“ der All­ tagsdinge 29 sowie zu geschlechterpolitischen Fragen im Kontext der modernen Konsumgesellschaft 30 haben einen nicht unerheb­lichen Einfluss auf die Konzep­ tion gehabt. Im Unterschied zu den Arbeiten zum Verhältnis von Literatur und Ökonomie 31 geht es in dieser Studie jedoch nur am Rande um wissenspoetische Fragen, auch wenn die Inszenierung und Darstellung von Wissen, sprich die Rhe­ torizität und Literarizität des spezialdiskursiven Wissens bei der Analyse der an das Warenhaus geknüpften Kollektivsymbole und -narra­tionen eine gewisse Rolle spielen.32 Demgegenüber soll analysiert werden, wie die verschiedenen mit dem Warenhaus verbundenen Metaphern- und Erzählkomplexe das spezialdiskursive Wissen kollektivsymbo­lisch organisieren und interdiskursiv verhandelbar machen.

27 Einen kurzen Überblick über die verschiedenen Felder der aktuellen Forschung zur Kon­ sumkultur bietet Chessel 2002. 28 Zwar werden im Rahmen dieser Studie viele literarische Texte aus ihrem teilweise jahr­ zehntelangen Schlummer in Archiven, Bibliotheken und Antiquariaten geweckt. Der über­ wiegende Teil dieser Texte stammt jedoch von Autorinnen und Autoren der zweiten und dritten Reihe. Schon aus d ­ iesem Grund hätte sich angesichts des geringen ästhetischen Werts dieser Texte eine Geschichte der literarischen Repräsenta­tion von Warenhäusern kaum gelohnt. Um Missverständnissen vorzubeugen: Dieser geringe ästhetische Wert ist keineswegs gleichzusetzen mit der diskursgeschicht­lichen Bedeutung der Texte. Wie die Analysen zeigen werden, partizipieren diese Texte oftmals weit direkter als anspruchsvolle Texte an der an das moderne Warenhaus geknüpften Kollektivsymbolik. Dass das Waren­ haus eine derart hohe thematische Präsenz in der Trivialliteratur hatte, liegt zweifellos daran, dass es zur unmittelbaren Erfahrungswelt des damaligen Lesepublikums gehörte und somit umfassende Wiedererkennungs- und Identifika­tionsmög­lichkeiten bot. 29 G. ­König 2003, 2004, 2005a, 2009a, 2009b, 2010, 2011; Drügh/Metz/Weyand 2011. 30 Rappaport 1996; Haupt 1997; Spiekermann 1999b; Tiersten 1999, 2001; G. ­König 1999, 2000, 2001, 2005b; Crick 2003; Lenz 2006. 31 Vgl. etwa Vogl 2002, 2003, 2005a, 2005b, 2007. 32 Zur Kritik der „Poetologie des Wissens“ vgl. den instruktiven Artikel von Gideon Stiening (2007).

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Einleitung

Historisch fundiert werden die Analysen im Rückgriff auf die mittlerweile stark angewachsene Forschung zur Entstehung der modernen Konsumkultur, d. h. auf die teilweise recht umfangreichen Arbeiten über ihre wirtschafts-, sozial- und technikhistorischen Bedingungen 33, ihre Praktiken und Leitbilder 34, ihre theo­ retische Reflexion 35 und literarische Darstellung 36. Im Einklang mit der jüngst publizierten Arbeit Konsum und Modernisierung. Die Debatte um das Warenhaus als Diskurs um die Moderne (2011) von Thomas Lenz geht auch diese Studie davon aus, dass der kultur- und diskursgeschicht­ liche Konnex z­ wischen Warenhaus und Moderne bislang unterschätzt wurde. Im Unterschied zu Lenz’ Arbeit ist der Fokus dieser Studie jedoch deut­lich erwei­ tert. Während Lenz die „Rolle des Konsums für den Prozess der Modernisierung Deutschlands um 1900“ erforscht, um die Frage zu klären, „ob und inwiefern der Diskurs um das Warenhaus als Debatte um die Modernisierung des Kaiser­ reichs verstanden werden kann“ (Lenz 2011, 10), rekonstruiert die vorliegende Studie auf transna­tionalem Niveau das diskursive Feld, auf dem diese Debatte angesiedelt ist. Während also Lenz den diskursgeschicht­lichen Zusammenhang von Warenhaus und Moderne im Blick hat, möchte diese Arbeit eine Antwort auf die Frage geben, warum gerade das Warenhaus für die Verhandlungen der Modernisierungsproblematiken des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhun­ dert so attraktiv ist. 33 Pasdermadjian 1954; Davis 1966; Renoy 1978; Marrey 1979; Stürzebecher 1979; Strohmeyer 1980; Williams 1982; Chaney 1983; Berekoven 1988; W. ­König 1990, 1993, 2000, 2008; Hom­ burg 1992; Brewer/Porter 1993a; Frei 1997; Siegrist/Kaeble/Kocka 1997; Spiekermann 1999a, 2005, Crossick/Jaumain 1999a; Lamberty 2000; Briesen 2001; Haupt 2003; Hellmann 2003; G. ­König 2006; Schrage 2009a. Vgl. auch den Literaturüberblick über neuere Arbeiten zur deutschen Konsumkulturforschung bei Lerner 2009. (Es werden in dieser Fußnote und den folgenden Anmerkungen jeweils nur die für die Studie wichtigsten wissenschaft­lichen Arbeiten genannt. Weitere Literatur ist in der Bibliografie aufgeführt.) 34 Bourdieu 1983, 1987, 1993; Campbell 1987, 2004; vgl. Sennett 1986; Illouz 2003; ­Baudrillard 1970. 35 Marx 1872; Veblen 1979; Sombart 1913, 1922, 1928a, 1928b; Kyrk 1923; Benjamin 1983; ­Horkheimer/Adorno 1988; Simmel 1992a, 1992b, 1992c, 2000, 2004; Weber 2008; über­ blicksartig: Lancaster 1995, 159 ff. 36 Hier existieren meines Wissens nur eine übergreifende Studie (Schössler 2009) und nur wenige, auf einzelne Texte oder Aspekte konzentrierte Arbeiten (Dupuy 1958; Bowlby 1985; Schaum 1999; Bertschik 2005, 149 – 155, 213 – 228; Beaumont 2006). Zwar gibt es über Zolas Au Bonheur des Dames eine Fülle von Einzelabhandlungen, doch wird in diesen Arbeiten selten eine konsumgeschicht­liche Kontextualisierung vorgenommen. Eine ­solche findet sich ansatzweise in Nelson 1996; Lehnert 2002, 2008; Salotto 2003 und Schössler 2005.

Interdiskursiver Raum und kollektives Imaginäres

Wie die Analysen zeigen werden, liegt diese Attraktivität einerseits darin begründet, dass das Warenhaus als Konzept der Moderne zur Homogenität und Kohärenz der Modernisierungsdebatte beiträgt. Am Warenhaus lassen sich gleich­ zeitig zahlreiche Problemlagen der Modernisierungsprozesse um 1900 beobach­ ten und zueinander in Beziehung setzen. Andererseits fungiert das Warenhaus als Modell der Moderne. Das heißt, es macht die „Kontingenz und Anomie als spezifische Existenzbedingung moderner Gesellschaften“ (Lüdemann 2004, 13) nicht nur interdiskursiv verhandelbar, sondern unmittelbar erfahrbar. Die „Geschichten“, die in den unterschied­lichen Spezialdiskursen über das Waren­ haus „erzählt“ werden,37 dienen dazu, Sinnbezüge ­zwischen den unterschied­lichen Problemlagen der Modernisierungsdebatte zu stiften und zeigen die moderne Lebenswelt als eine vom Konsum auf vielfältige Weise durchdrungene, oft als krisenhaft wahrgenommene Sphäre.

37 Vgl. hierzu insbesondere Kapitel 7, 10 und 11.

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Kapitel 3

Metapher für Gesellschaft 1

1.  Der Mythos vom bedrohten Mittelstand Werner Sombart schreibt über Zolas Börsenroman L’Argent (1891): „Es ist alles Stümperei, was die Signatur der grossen Hausseperioden des Wirtschaftslebens zu charakterisieren unternimmt, verg­lichen mit der Darstellung Zolas.“ (­Sombart 1903, 84) Ähn­lich heißt es im Artikel Warenhäuser und Warenhaussteuer in der 3. Auflage des renommierten Handwörterbuchs der Staatswissenschaften (1908 – 11) über Zolas Au Bonheur des Dames: „Niemand hat dies Verhältnis der Damen zu den Händlern feiner geschildert als der erste der na­tionalökonomischen Romanschriftsteller. Emile Zola’s Romane werden auch

dann noch einen bleibenden na­tionalökonomischen Wert haben, wenn seine krassen

Sittenschilderungen durch noch naturalistischere überholt sind.“ (Biermer 1911, 596)

In dem warenhauskritischen Text Im Paradies der Damen (1903) eines anonymen Autors heißt es schließ­lich: „In meisterhafter Weise zeichnet er [Zola] die schillernde Außenseite der moder­ nen Warenhauspaläste. Seinem scharfen Auge entgeht nichts. Gerade darum weiß

er auch die furchtbar dunklen Schatten zu malen, die sie werfen.“ (Im Paradies der

Damen 1903, 9)

Bemerkenswert ist nicht nur, dass in den zitierten Rezep­tionszeugnissen die programmatischen Anliegen Zolas bezüg­lich der Aufgabe und Funk­tion einer naturalistischen Literatur offenbar auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Man ist fast geneigt, an die Wirksamkeit von Zolas Projekt einer Verwissenschaft­lichung

1 Dieses Kapitel ist eine erheb­lich erweiterte und an vielen Stellen umgearbeitete Fassung des Artikels „Das Warenhaus als Metapher für Gesellschaft. Émile Zola und das kollektive Imaginäre der frühen Konsumgesellschaft“, vgl. Lindemann 2015.

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der Literatur zu glauben.2 Nicht weniger bemerkenswert ist, dass in allen drei Zitaten eine Differenz nivelliert wird, die sich im Zuge der positivistischen Neuformierung der Natur- und Geisteswissenschaften erst wenige Jahrzehnte zuvor etabliert hat. Es handelt sich um die Grenze ­zwischen Faktizität und Fik­ tionalität, wissenschaft­licher Objektivität und künstlerischem Ausdruck, kurz: ­zwischen Wissenschaft und Literatur.3 Vor dem Hintergrund zahlreicher weiterer Rezep­tionszeugnisse aus Wissenschaft und Sozial- und Kulturkritik, die um die Jahrhundertwende auf Zolas Warenhaus­ roman Bezug nehmen,4 stellen sich zwei Fragen. Erstens: Woran liegt es, dass Zolas Text so attraktiv ist für die zeitgenös­sischen wissenschaft­lichen bzw. kultur- und sozialkritischen Spezialdiskurse, die sich mit dem Warenhausthema befassen? Und 2 Bekanntermaßen möchte Zola den Roman zum Protokoll eines Experiments machen, in dem Hypothesen über die Wechselbeziehung von Mensch und sozialer Gemeinschaft durchgespielt werden (vgl. Gamper 2007, 374; Lindemann 2009a). S. auch die Erläuterun­ gen in Abschnitt 2 ­dieses Kapitels. 3 Ein interessantes Rezep­tionszeugnis bezüg­lich der Frage der „Wissenschaft­lichkeit“ von Zolas romanesker Darstellungen von Börse und Warenhaus findet sich in Max Webers methodolo­gischer Arbeit Roscher und Knies und die lo­gischen Probleme der historischen Na­ tionalökonomie (1903 – 06). Dort heißt es (mög­licherweise als Reak­tion auf die eingangs zitierte Aussage Sombarts): „Es ist die Eigenart der dichterischen ‚Wiedergabe‘ der Wirk­ lichkeit – obwohl auch sie natür­lich nicht ein ‚Abbild‘, sondern eine geistige Formung ihrer enthält –, sie so zu behandeln, daß ‚ein jeder fühlt, was er im Herzen trägt‘. ‚Geschichten‘ sind aber auch einfache anschau­liche Niederschriften von ‚Erlebnissen‘, obwohl auch sie das Erlebnis bereits gedank­lich formen, noch ebenso wenig, wie etwa eine Zolasche Schil­ derung, und sei sie die getreueste Wiedergabe eines wirk­lich genau so ‚erlebten‘ Vorganges an der Börse oder in einem Warenhaus, schon eine wissenschaft­liche Erkenntnis bedeutet.“ (Weber 1922, 105, Anm. 1) 4 Im Gegensatz zu Zola wird auf andere Warenhausromane seitens Wissenschaft bzw. Sozialund Kulturkritik selten Bezug genommen, wohl auch, weil viele spätere Warenhaustexte, wie man anhand einer komparatistischen Filia­tionsanalyse leicht nachweisen könnte, von Zola inspiriert sind. Gelegent­lich wird zwar noch Robert Saudeks Roman Dämon Berlin (um 1907) genannt. So heißt es etwa in Johannes Schellwiens Wirtschaft und Mode. Eine volkswirtschaft­liche Studie (1912): „Die schon erwähnte Tatsache, daß die Warenhäuser sich im allgemeinen nur auf den Masseneinkauf von wenigen Mustern einlassen können, bringt es mit sich, daß das Publikum, welches diese einheit­lichen Massen desselben Musters sieht, unwillkür­lich unter die Sugges­tion gerät, dies allein sei die neueste Mode, und Monat für Monat die Lager räumt. Dadurch erlangen große Warenhäuser […] einen bedeutenden Einfluß auf das Wirtschaftsleben; […] Im übrigen sei hier auf Robert Saudeks Roman ‚Dämon Berlin‘ hingewiesen, wo eine anschau­liche Schilderung dieser Macht gegeben wird.“ (Schellwien 1912, 25; vgl. auch Kockjoy 1932, 135 und Witsch 1932, 13; bei Letzterem Erwähnung von vier Warenhausromanen ohne Analyse)

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Einleitung

zweitens: Welche epistemolo­gische Relevanz hat Zolas Roman für die Spezialdis­ kurse? Beide Fragen zielen auf die Diskursivität und Narrativität der Selbstreflexion der Modernisierungsprozesse des ausgehenden 19. Jahrhunderts sowie auf das bereits bei Sombart zum Vorschein kommende, prekäre Verhältnis von literarischer Objektund wissenschaft­licher Metasprache. Diese Problematik ist für diese Studie von enor­ mer methodolo­gischer Bedeutung, da es hierbei um die Frage nach dem Stellenwert fik­tionaler Behandlungen des Warenhausthemas in Bezug auf die unterschied­lichen Spezialdiskurse geht, die sich mit der Konsumkultur und dem Warenhaus um 1900 auseinandersetzen.5 Mit Michael Gamper gehe ich davon aus, dass die natur- und – dies sei ergänzt – sozialwissenschaft­liche Wissensproduk­tion auch „nach 1850 nicht ausschließ­lich in isolierten disziplinären Auseinandersetzungen vor sich ging, sondern sich auf einer grundlegenderen, die ausdifferenzierten Fachdisziplinen und

Äußerungsformen übergreifenden Ebene in historisch spezifizierten Konstella­tionen

einer Koevolu­tion von Wissen entwickelte, das sich in unterschied­lichen Repräsenta­

tionsformen [inklusive Literatur] artikulierte, aber auf einem gemeinsamen diskursiven

Boden aufruhte.“ (Gamper 2007, 436)

Schon Gudrun König hat mit Blick auf die Diskussionen über Kleptomanie auf die Einheit­lichkeit des medizinisch-­psychiatrischen und des literarischen Dis­ kurses um 1900 hingewiesen: „Weder die Dik­tion noch der Inhalt der zeitgenös­ sischen Diskussionen unterscheiden sich sehr von Zolas Schilderungen“ (G. ­König 2000, 52).6 Nicht weniger gilt dies für andere mit dem Warenhaus verbundene Thematiken, so für den durch das Warenhaus bedrohten Einzelhandel, der in Zolas Roman symbo­lisch durch den Stoffhändler Baudu, Onkel der weib­lichen Hauptfigur Denise, verkörpert wird.7 5 Die im Folgenden skizzierten Thesen zum diskursiven Status von Zolas Warenhausroman richten sich gegen Lesarten, die den Roman ledig­lich als interdiskursives Reflexions- und Darstellungsmedium von Problemhorizonten der Modernisierungsprozesse des ausgehen­ den 19. Jahrhunderts sehen. Das ist Zolas Roman zweifelsohne auch. In d ­ iesem Kapitel soll jedoch die Frage nach dem produktiven Anteil von Zolas Text am damaligen Wissen über Warenhäuser gestellt werden. 6 Ausführ­lich zur Kleptomanie als (scheinbar) warenhausspezifische Krankheit in Kapi­ tel  5.4 ff. 7 Bei ­diesem Thema rekurriert Zola auf einen Artikel aus dem Figaro vom 23. 3. 1881, der sich bei den Vorarbeiten für den Roman findet (Ignotus 1881; vgl. Zola 1964, 1671). Auch im Figaro-­ Artikel wird davon gesprochen, dass die neuen Warenhäuser die kleinen Einzelhändler

Interdiskursiver Raum und kollektives Imaginäres

In Au Bonheur des Dames ist der Kampf ­zwischen Warenhaus und Einzel­ handel bereits auf der ersten Seite entschieden.8 Zola inszeniert den kommer­ ziellen Untergang des Stoffhändlers von Anfang an in suggestiven Bildern und kontrastiert die hell erleuchtete Großräumigkeit und Großartigkeit des neuen Warenhauses mit der düsteren und miefigen Enge des alten Stoffladens (Zola 1964, 393 f.; vgl. ebd., 597 f.). Als Geneviève, Baudus Tochter, an Tuberkulose stirbt, wird mit dem Leichenzug nicht nur die junge Frau, sondern symbo­lisch auch der Kleinhandel zu Grabe getragen (vgl. Zola 1964, 755 ff.). Schon in Clara Schreibers Reisebericht Eine Wienerin in Paris (1884) heißt es, offensicht­lich auf Zola rekurrierend: „Die Macht liegt in der Hand der großen Bazars, dieser gigantischen Unternehmun­ gen der Neuzeit. Alles ist darauf berechnet, das Kleingewerbe zu tödten, Alles zielt darauf, die Herrschaft über den Käufer zu erringen, durch alle denkbaren Mittel das

Publicum anzuziehen und auf dem Weltmarkt den Sieg davonzutragen.“ (Schreiber 1884, 211; vgl. Mataja 1891, 71)9

wirtschaft­lich ruinieren würden. Doch bei dieser Feststellung bleibt es nicht: Zwar könnten die Einzelhändler, wenn sie so verharrten, wie sie sind, den „Kampf“ mit den Warenhäusern nicht bestehen. Im Unterschied zu diesen könnten sie aber individuelles génie entwickeln und sich mit Geschick gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner durchsetzen. Im Gegensatz zur einseitigen Zuspitzung bei Zola wird das Warenhaus doppelt charakteri­ siert: sowohl als Bedrohung wie als Herausforderung für die kleinen Einzelhändler. Zu Zolas Umgang mit Zeitungsartikeln, die in vielfältiger Form in seine Romane eingegan­ gen sind, vgl. Becker 2005. 8 Man vgl. auch eine fast dreißig Jahre vor Zolas Roman erschienene Darstellung, in wel­ cher der Aufstieg der Grands Magasins bereits mit dem „Niedergang“ des kleinen Ein­ zelhandels kontrastiert wird, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Während Zolas Gegenüberstellung vom biologistischen Modell des Konkurrenzkampfes getragen ist (s. Abschnitt 2 in ­diesem Kapitel), versteht der frühere Text Wirtschaft als in sich geschlossenes, sich selbst regulierendes System: „Le nombre des grands magasins de nou­ veauté, immenses bazars où l’on trouve tout, depuis la chaussette de fil jusqu’au cachemire de l’Inde, a notablement augmenté dans les dernières années du règne de Louis-­Philippe. En revanche, celui des petits magasins a diminué dans une propor­tion égale.“ (Texier 1852, 231; Hervorheb. U. ­L.) 9 Zolas „neuer“ Roman Le [sic] Bonheur des Dames wird von Schreiber ausdrück­lich erwähnt (vgl. Schreiber 1884, 214). Schreiber erwähnt neben Zola als zweite Quelle Pierre Giffards Les grands bazars de Paris (1882). Ob Zola selbst auf Giffard Bezug genommen hat, wie es Schreiber (1884, 214) suggeriert, ist schwierig nachzuweisen. In der Pléiade-­Ausgabe, in der wichtige damalige Quellen für Zolas Roman genannt werden, wird Giffard nicht erwähnt.

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In Emil Suchslands Die Klippen des sozialen Friedens. Ernste Gedanken über Konsumvereine und Warenhäuser (1904) wird der Kampf ­zwischen Warenhaus und Einzelhandel schließ­lich dramatisch zugespitzt: Den „Warenhäusern zuliebe“, so heißt es, „werden ganze Straßenzüge von Gewerbetreibenden geopfert und die Städte sehen als betrübte Lohgerber ihre Steuern aus den alten Geschäften schwin­ den, ohne dass die Warenhauschefs ein Äquivalent dafür bieten.“ (­Suchsland 1904a, 26) In Martin Calwers Der Handel (1907) ist aus dem durch Warenhäuser bedingten Untergang des Einzelhandels eine wirtschaftswissenschaft­liche Tat­ sache geworden: „Überall in Gegenden, wo das Warenhaus sich niedergelassen hat, verkrüppelt der Detailhandel in der Nähe, falls es ihm nicht geglückt ist, sich in große Spezialgeschäfte zu verwandeln.“ (Calwer 1907, 62 f.)

Demgegenüber stehen andere wissenschaft­liche Stellungnahmen, die früh, aber vergeb­lich versuchen, das bei Zola entworfene Szenario vom Untergang des mittelständischen Einzelhandels zu korrigieren.10 Schon 1899 weist Franz C. ­Huber, der sich als einer der ­Ersten um eine sach­liche Analyse des Warenhaus-­ Phänomens bemüht, aufgrund statistischer Daten nach, dass im Deutschen Reich der Einzelhandel im Zuge des Aufkommens der Warenhäuser keines­ wegs zurückgegangen sei. Im Gegenteil, dieser habe sogar einen Aufschwung erlebt (Huber 1899, 15). Mit konkretem Verweis auf Zola bestätigt Julius Hirsch, der laut Sombart „beste Kenner d ­ ieses Gegenstandes“ (Sombart 1928b, 862), Hubers Einschätzung:

10 Noch 2001 findet sich in Alarich Roochs Studie Zwischen Museum und Warenhaus. Ästhetisierungsprozesse und sozial-­kommunikative Raumaneignungen des Bürgertums (1823 – 1920) folgende Bemerkung: „Der Modernisierungsschub, mit der der tradi­tionelle Einzelhan­ del [vom Warenhaus] geradezu überrannt [sic] wurde, lag vielmehr auf der geschäft­lich-­ strukturellen Ebene.“ (Rooch 2001, 135) Diese Bemerkung belegt – und zwar trotz der aber­ maligen Widerlegung durch die jüngere wirtschaftshistorische Forschung (s. Fließtext) –, wie hartnäckig sich die Zola’schen Vorstellungen bis in die Gegenwart hinein halten. Vgl. auch die frei­lich vorsichtigere Formulierung in Tatjana Timoschenkos Arbeit Die Verkäuferin im Wilhelminischen Kaiserreich: „In der Tat schöpften die Kauf- und Warenhäuser einen Teil vom Umsatz kleinerer Läden in der unmittelbaren Umgebung ab.“ (Timoschenko 2005, 32) Zum „Trägheitsgesetz von kollektiven Erzählungen“ (Koschorke), denen man nicht einfach mit Falsifika­tion beikommen kann, vgl. die Ausführungen im Schlusskapitel.

Interdiskursiver Raum und kollektives Imaginäres

„Zola hat in seinem klas­sischen Roman Zum Glück der Damen das Wachsen eines

Pariser Großwarenhauses so geschildert, daß die in dessen Nähe arbeitenden kleinen

Geschäfte durch den neu aufstrebenden Riesennachbar ruiniert werden. Wer die Inha­ ber der kleinen Betriebe in der Nähe großer Warenhäuser in den Geschäftsstädten

darüber befragt, wird seit Jahrzehnten die Antwort hören ‚Darin hat Zola unrecht‘. Die

Anwesenheit eines Warenhauses schadet erfahrungsgemäß den Inhabern der kleineren Betriebe nicht!“ (Hirsch 1928, 64 f.)11

Die jüngere historische Forschung hat die Angaben bei Huber und Hirsch bestä­ tigt. Für Frankreich stellt Philip G. ­Nord fest: „Two false assump­tions then underlie the department store thesis. First of all, the anta­ gonism between department store and small shop was not necessarily fatal to petit commerce as is so often claimed. Scores of small businesses managed to thrive in the

very shadow of grands magasins. It is, moreover, mistaken to dismiss the small shop as

a tradi­tional structure, inefficient and outmoded. The boulevard boutique, for one, was

hardly the relic of a premodern past.“ (Nord 1986, 96)12

Bei Spiekermann heißt es über die Entwicklungen im Deutschen Reich: 11 Schon 1910 stellt Hirsch aufgrund einiger Recherchen, die er in Aachen anstellt, und sta­ tistischer Auswertungen fest: „Es zeigte sich ferner dabei, daß die eingegangenen kleineren Spezialgeschäfte nicht etwa diejenigen waren, die in unmittelbarer Nähe der Warenhäuser lagen. Im Gegenteil wurde mir von mehreren Inhabern direkt konkurrierender Geschäfte erklärt, daß der Umsatz, als Leonhard Tietz sein Warenhaus in eine andere Gegend verlegte, erheb­lich geringer geworden sei.“ (Hirsch 1910, 97) Vgl. Azambuja (1901, 290), der sogar ein Anwachsen der kleinen Einzelhändler in der Nähe großer Warenhäuser konstatiert, da sie von der Zunahme der Publikums unmittelbar profitierten. In Paris stehen die Warenhäuser in den ersten Jahren nach 1900 unter massivem gewerkschaft­lichem Druck, die Sonntags­ ruhe für ihre Angestellten einzuführen. Als das Warenhaus La Samaritaine dieser Forderung nachgibt, reagieren die umliegenden Ladenbesitzer mit der Bitte, das Warenhaus am Sonntag wieder zu öffnen, da die Schließung ihrem Umsatz schaden würde. Vgl. Nord 1986, 83. 12 Wenn zutrifft, was Nord postuliert, stellt sich die Frage: „Why did the shopkeeper movement [in Frankreich] only take shape in the 1880s, over a quarter of a century after the founding of the first department store?“ (Nord 1986, 96) Diese Frage versucht Nord in der Folge zu beantworten, indem er mit Blick auf die Auswirkungen der urbanen Modernisierungsprozesse (Stichwort: Haussmannisierung) und die Folgen der wirtschaft­lichen Krise in Frankreich in den 1880er Jahren feststellt, dass das Warenhaus aus Sicht des organisierten Kleinhandels zu Unrecht zum Sündenbock dieser Entwicklungen gemacht wird. Vgl. Nord 1986, 100 ff. u. 143 ff.

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„Der Distribu­tionssektor erlebte seit Beginn des Kampfes um das Warenhaus einen quantitativen Aufschwung bisher unbekannten Ausmaßes. Die Reichsstatistik, die

nicht ­zwischen Klein- und Großhandel unterschied, wies 1882 allein im Warenhandel

541146 Betriebe auf, 1895 659714 (+ 21,9 %), 1907 schließ­lich 942918 (+ 42,9 %). […] Diese

rapide, das Bevölkerungswachstum deut­lich übertreffende Entwicklung brach erst mit

Beginn des ­Ersten Weltkrieges ab.“ (Spiekermann 1994, 139; vgl. Briesen 2001, 54)13

Dass das Untergangsszenario zeitgenös­sisch mehr Gehör findet als das der Expan­ sion, liegt nicht zuletzt an einer weiteren Fehleinschätzung. Die ökonomische Leistungsfähigkeit der Warenhäuser wird massiv überbewertet. Wie ebenfalls Spiekermann feststellt, beträgt der Umsatz der Warenhäuser 1913 im Deutschen Reich ledig­lich 2,2 – 2,5 % des gesamten Einzelhandelsumsatzes (Spiekermann 1999a, 371).14 Ähn­liches gilt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts für Frankreich, Großbritannien oder die USA.15 Diese Zahlen belegen eindrück­lich, wie wichtig es ist, z­ wischen dem Warenhaus als „ökonomische[m] Phänomen“ und seinem „Symbolwert“ (Spiekermann 1999a, 368) zu unterscheiden. Die ökonomische Bedeutung der Warenhäuser steht in keinem Verhältnis zu ihrer diskursiven Präsenz in unterschied­lichen Wissensfeldern.16 Ob die Fehleinschätzung der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Warenhäuser Folge oder Ursache des Untergangsszenarios ist, lässt sich kaum entscheiden. Entschei­ dend ist, dass sich Untergangsszenario und Fehleinschätzung diskursiv verstärken. 13 1907 gab es in Preußen kaum mehr als hundert Warenhäuser, 1907/08 waren es in Bayern ledig­lich einundvierzig (vgl. Spiekermann 1999a, 369 f.). Für Frankreich lässt sich Ähn­liches feststellen: Auch hier nimmt die Zahl der kleinen und mittelständischen Einzelhändler nach dem Aufkommen der Warenhäuser keineswegs ab. Vgl. Azambuja 1901, 278. 14 Daran wird sich in den nächsten zweieinhalb Jahrzehnten bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges nur wenig ändern. In der Zeit z­ wischen 1924 – 1932 beträgt der Anteil der Warenhäuser am gesamten Einzelhandelsumsatz im Deutschen Reich immer etwa um 4 % (Uhlig 1956, 217; bei Pasdermadjian 1954, 109, wird für 1930 4 – 5 % angegeben). 15 In Frankreich beträgt 1930 der Anteil der Warenhäuser am gesamten Einzelhandelsumsatz etwa 5 %, in Großbritannien 1930 etwa 7,5 % (Pasdermadjian 1954, 108 f.). Demgegenüber gibt Lancaster (1995, 104) für Großbritannien 1 – 2 % für 1900 an, für 1930 3,5 – 5 %. In USA ist der Anteil am größten. Hier liegt er 1930 laut Pasdermadjian (1954, 109) bei 9 %. Einen Vergleich der teilweise militanten Reak­tionen der kleinen Einzelhändler in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und USA bietet Gellately 1993, 136 ff. 16 Jüngst hat sich Spiekermann aus historischer Perspektive mit den Auseinandersetzungen ­zwischen mittelständischem Einzelhandel und Warenhäusern in Deutschland befasst. Dort finden sich zahlreiche weitere Quellen, die den obigen Befund stützen. Vgl. ­Spiekermann 2013.

Interdiskursiver Raum und kollektives Imaginäres

2.  Metaphernsysteme und Erzählstrategien Der franzö­sische Zola-­Forscher Henri Mitterand hat darauf hingewiesen, dass Zolas theoretische Schriften die Produk­tions- und Rezep­tionsbedingungen einer naturalistischen Literatur skizzieren, von der niemals ein Werk geschrieben wurde. Mitterand macht damit auf eine Differenz aufmerksam, die ­zwischen den naturalistischen Prosa- und Theatertexten und dem theoretischen Metadiskurs besteht, den Zola selbst forciert hat. Entgegen den Postulaten seiner theore­tischen Schriften beschränken sich Zolas Romane keineswegs darauf, Protokolle von Experimenten zu sein, sondern entfalten, insbesondere im Rougon-­Macquart-­ Zyklus (1871 – 1893), mit künstlerischen Mitteln ein komplexes Diskursuniver­ sum, das seine eigenen Semantiken, Bilder und Mythologien aufweist, die Zolas Anspruch auf eine Verwissenschaft­lichung der Literatur nicht selten in hohem Maße zuwiderlaufen (vgl. Gumbrecht 1978, 99 ff.; Mitterand 2002, 18). So richtig die Analyse Mitterands in Bezug auf die inhärente Problematik von Zolas Literaturproduk­tion und metatheoretischer Reflexion ist, so sehr verstellt sie den Blick auf das schon skizzierte Verhältnis von Zolas Warenhausroman und dessen Rezep­tion in unterschied­lichen Spezialdiskursen. Die Differenz, die für Zola Anlass ist, das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft neu zu bestim­ men und damit auf die zunehmende Marginalisierung der Literatur im Indus­ triezeitalter zu reagieren, wird, wie geschildert, von wissenschaft­licher Seite aus nivelliert. Zwar ist von einem diskursgeschicht­lichen Standpunkt aus an dieser Nivellierung generell nichts Ungewöhn­liches zu entdecken, wenn man Diskurse als „apersonale, transindividuelle régimes“ auffasst, w ­ elche „gesellschaft­liche Wis­ senssysteme“ herstellen und „in spezifischen Forma­tionen“ ordnen und aufrecht­ erhalten (­Fohrmann 1997, 370; vgl. Schönert 2000, 98 f.). Zolas Warenhausroman wäre in dieser widerspiegelungstheoretischen Perspektive Teil unterschied­licher Wissenssysteme, im Fall der Kleptomanie Teil des medizinisch-­psychiatrischen oder im Fall des vermeint­lichen Niedergangs des Einzelhandels Teil des (na­ tional-)ökonomischen Diskurses. Dennoch würde diese Sicht die hochgradig paradoxe Pointe von Zolas Projekt einer Verwissenschaft­lichung der Literatur in Bezug auf das Warenhausthema verkennen: Woran Zola aus der Perspektive seiner eigenen Theorie bei ­diesem Thema praktisch scheitert, gelingt ihm gerade, weil er seine Theorie nicht umsetzt. Der zentrale Grund für die hohe diskursive Präsenz von Zolas Warenhaus­ roman in den Spezialdiskursen liegt aus meiner Sicht in der kompositorisch über­ zeugenden Verschränkung von „naturalistischer“ Detailgenauigkeit und einem

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zu Typisierung und Symbolismus neigenden Schematismus.17 Dieser fußt in Au Bonheur des Dames auf drei Basisnarra­tionen: Erstens auf der Erzählung der sozialen Interak­tion im Warenhaus, die durch zwei Aspekte geprägt wird: die Konkurrenz der Angestellten untereinander (damit verknüpft sind bestimmte s­ oziale Auf- oder Abstiegsgeschichten) und die Darstellung der Sphäre des Konsums; zweitens auf der Liebesgeschichte ­zwischen einer kleinen Angestellten und dem mächtigen Warenhausbesitzer, die dem „klas­sischen“ romanesken Ehean­ bahnungsschema (erstes Treffen, Trennung, Wiedervereinigung) entspricht. Im Text wird d ­ ieses Schema durch die im Roman geschilderten drei Sonderverkaufs­ tage symbo­lisch verdoppelt; drittens auf der Narra­tion über den kommerziellen Erfolg des Warenhauses. ­Dieser Erfolg wird einerseits räum­lich (Expansion der Verkaufsräume), anderer­ seits monetär veranschau­licht (durch die am Ende der Sonderverkaufstage prä­ sentierten Geldsummen). Antagonistisch kontrastiert wird der Erfolg des Waren­ hauses durch den wirtschaft­lichen Niedergang des Einzelhandels in der unmittel­ baren Umgebung des Warenhauses. Schon im Vorfeld der Niederschrift seines Romans spricht Zola davon, mit Au Bonheur des Dames ein „poème de l’activité moderne“ (Zola 1964, 1680) verfas­ sen zu wollen, was den Stellenwert der textstrukturierenden Leitdifferenz von Fortschritt­lichkeit (Moderne) vs. Rückwärtsgewandtheit (Tradi­tion) unter­ streicht. Zugeordnet werden dieser Leitdifferenz jeweils bestimmte Orte, Sze­ nen und Figuren, wobei opposi­tionelle Reihen gebildet werden.18 Diese Reihen 17 Aus den in der Pléiade-­Ausgabe abgedruckten Plänen zum Roman wird erkennbar, wie sehr Zola seinen Text von Anfang an strukturiert hat (vgl. Zola 1964, 1688 ff.). Vgl. allge­ mein Mitterand 2002, 50: „Zola compose de manière très concertée, avec un grand souci du rapport numérique, de la correspondance, de l’harmonie et du rythme.“ 18 Zum Beispiel: Warenhaus (hell, groß, neu) – Mouret (wagemutig, fortschritt­lich, verführerisch) – Sonderverkaufstage/Massenverkauf (schnell, prächtig, chaotisch) vs. Stoffgeschäft (dunkel, klein, alt) – Baudu (ängst­lich, tradi­tionsbewusst, unattraktiv) – Einzelverkauf (mühsam, armselig, übersicht­lich). Daran gekoppelt sind weitere Binnenopposi­tionen: Großstadt vs. Provinz, Geld vs. Liebe, Einzelexistenz vs. familiärer Zusammenhang usw. Die angestellte strukturale Analyse von Zolas Text mag auf den ersten Blick antiquiert und unzeitgemäß wirken, orientiert sich jedoch am Gegenstand selbst, der eins nicht sein möchte: ambivalent. In Zolas Text herrschen klare Zuordnungen und Verhältnisse: man gehört zur einen oder anderen Seite, man teilt deren Ansichten, man handelt entsprechend. So ist es kaum verwunder­lich, dass sich im Roman nur

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besitzen die Funk­tion, die inhalt­lich und thematisch sehr unterschied­lichen Basisnarra­tionen erzählerisch zu verschränken. Diese Verschränkung wird in der Schlussszene des Romans in eine narrative Synthese überführt: Der wirtschaft­ lich größte Erfolg des Warenhauses am Abend des dritten Sonderverkaufstages gipfelt in der Annahme von Mourets Heiratsantrages durch Denise (vgl. Zola 1964, 799 ff.). Hier wird das in hohem Maße heterogene Set der ­Themen Arbeit, Konsum, (romantische) Liebe und Ökonomie zusammengeführt. In den Basisnarra­tionen wird darüber hinaus auf immer wiederkehrende Meta­ phern und Bilder rekurriert und dabei eine regelrechte Warenhaus-­Topik ent­ wickelt. Die Metaphern und Bilder haben einerseits die Aufgabe, die teilweise wenig anschau­lichen Vorgänge im Warenhaus symbo­lisch zu verdeut­lichen: Son­ derverkaufstage werden als Kriegsschlachten beschrieben (Zola 1964, 491 ff., 499 f.), das Warenhaus als (Raub-)Tier und Monstrum (Zola 1964, 403, 434, 499, 568 u. ö.), als (Dampf-)Maschine (Zola 1964, 402, 414, 434, 442, 479 u. ö.) oder als (Konsum-) Tempel (Zola 1964, 461, 612, 762)19 metaphorisch veranschau­licht, die Konkurrenz der Angestellten als darwinistischer Kampf ums Überleben geschildert (vgl. Zola 1964, 421 f., 473 f., 479, 481, 494 u. ö.)20. Andererseits stellen die Metaphern und Bilder eine Figur tatsäch­lich weiterentwickelt: Mouret. Alle anderen Figuren einschließ­lich Denise sind, was ihre mora­lischen Prinzipien und Handlungsmotive angeht, in hohem Maße statisch. 19 Die wichtigste Passage bei Zola lautet: „[I]l [Mouret] lui [der Frau] élevait un temple, la faisait encenser par une légion de commis, créait le rite d’un culte nouveau; il ne pensait qu’à elle, cherchait sans relâche à imaginer des séduc­tions plus grandes; et, derrière elle, quand il lui avait vidé la poche et détraqué les nerfs, il était plein du secret mépris de l’homme auquel une maîtresse vient de faire la bêtise de se donner.“ (Zola 1964, 461) Mög­licherweise ist es ­dieses Zitat, auf das sich Walter Benjamin mit folgender Äußerung bezieht: „Der Kapi­ talismus ist vermut­lich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus.“ (Benjamin 1985, 100) An anderer Stelle wird bei Zola vom Warenhaus als „cathé­ drale du commerce moderne“ (Zola 1964, 612) gesprochen. Schon 1863 sind die Magasins de Nouveautés „so groß wie eine K ­ irche“ (Ebeling 1863, 291 f.), doch ist diese Analogie (noch) nicht als Metapher gemeint, sondern ledig­lich als Vergleich. Vgl. hierzu Hardens Begriff der „Kundenkathedrale“ (Harden 1900, 537). Auch in Rachildes Monsieur de la Nouveauté (vgl. Anm. 27) wird bereits vom Warenhaus als Tempel gesprochen, in dem die Verkäufer als „les prêtres du luxe“ fungieren: „[L]e magasin [de la nouveauté] est un temple rempli d’adorateurs, Nouveauté déesse, le comptoir autel, où se sacrifient tour à tour la marchandise et l’acheteur.“ (Rachilde 1880, 126) Dieses Bild steht Zolas Metapher des (Konsum-)Tempels näher, bleibt aber noch immer einer Rhetorik der Allegorie treu, ­welche die Ökonomie des modernen Einzelhandels in Pars-­pro-­Toto-­Figuren versinnbild­licht und nicht generell metaphorisiert. 20 Zum Konkurrenzprinzip in Warenhäusern vgl. Kapitel 10.2; dort findet sich auch das zen­ trale Zitat aus Zolas Roman zu ­diesem Thema.

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z­ wischen den Basisnarra­tionen semantische Verknüpfungen her. So wird etwa der Wettlauf der Kundinnen um die besten Angebote beim Sonderverkaufstag sowohl in der Konkurrenz der Angestellten untereinander als auch in der Riva­ lität ­zwischen Warenhaus und Kleinhandel metaphorisch gespiegelt. Über die Semantik des Kampfes können auf diese Weise ebenfalls unterschied­liche The­ menfelder wie Konsum, Arbeit und Ökonomie miteinander verschränkt werden. Neben der durch die Metaphern und Bilder forcierten semantischen Homo­ genisierung der Basisnarra­tionen öffnen sie den Text zugleich nach „außen“. Im Sinne seines Plans, einen Text über das moderne Leben zu schreiben, greift Zola bewusst auf Bild- und Metaphernkomplexe zurück, mit denen in anderen zeitgenös­sischen Diskursen Modernisierungsphänomene und -problematiken verhandelt werden (vgl. Asendorf 1984, 32 ff., 77 ff.; Link 1988, 296 f.). Die Meta­ phern und Bilder, die Zola in seinem Roman verwendet, entstammen größ­ tenteils diskursiven Zusammenhängen, die dem Warenhausthema selbst fremd sind: Politik, Biologie, Technik oder Religion. Indem Zola die Darstellung des Warenhauses auf diese Weise auf andere Diskurse hin referenzialisiert, macht er den Text anschlussfähig an sie und für literaturexterne Rezep­tionen interessant. Diese Adap­tion von Bildern und Metaphern aus anderen Diskursen forciert die Modellhaftigkeit von Zolas Darstellung des Warenhauses, wobei die kontras­ tiv eingesetzten Opposi­tionsreihen zu einer Simplifika­tion und Typisierung von Orten, Situa­tionen und Figuren führen. Ergebnis ist ein literarischer Kosmos von hoher thematischer, inhalt­licher und semantischer Kohärenz: Zola schildert nicht irgendein Pariser Warenhaus, sondern stellt das Warenhaus als Pars pro Toto der zeitgenös­sischen Modernisierungsphänomene und -prozesse dar.21 Zolas Roman entwirft auf diese Weise eine regelrechte Warenhaus-­Topik, die nicht allein bestimmte typische Orte, Situa­tionen oder Figuren umfasst, sondern zudem eine Reihe suggestiver Metaphern und Bilder prägt. Diese Topik wird einerseits literarisch hochwirksam, wie man leicht anhand einer thematolo­gischen Filia­tionsanalyse zeigen kann.22 Andererseits befördert diese Topik ebenfalls die 21 Vgl. hierzu Zolas Dossier préparatoire, in dem die Differenz ­zwischen den Pariser Waren­ häusern (Louvre, Bon Marché), die Zola im Zuge der Recherchen für seinen Text aufsucht (vgl. Zola 1987, 147 ff.), und dem im Roman geschilderten „Idealtypus“ des Warenhauses besonders augenfällig wird. 22 So bevölkern seit Zola etwa alleinstehende, häufig verwitwete Warenhausbesitzer die lite­ rarischen Warenhaus-­Fik­tionen. Vgl. Böhme 1911, Schweriner 1912, Freund 1912, Stück­ len 1918, Siwertz 1928, Pinchot 1932 sowie Burg/Turszinsky 1907 (in letzterem Text nur ein

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Anschlussfähigkeit des Romans an andere Diskurse, indem sie den Holismus der Zola’schen Darstellung steigert. Komplementär zum Schematismus von Zolas Darstellung des Warenhauses verhält sich die schier überbordende „naturalistische“ Detailgenauigkeit seiner Schilderungen. In einer frühen, Zolas Roman stilistisch parodierenden Rezen­ sion von Paul Lindau heißt es über diesen Detailismus: „Alle Männer, auch diejenigen nicht ausgenommen, die im Begriff stehen, sich mit der

Längstersehnten und Heißgeliebten zu vermählen, werden mir zugeben, daß es hienie­

den kaum etwas Abspannenderes, Ermüdenderes giebt, als das stundenlange Verwei­

len in einem großartigen Modegeschäfte, vollgepfropft mit Waaren von erdrücken­der

und betäubender Mannigfaltigkeit, mit Hunderten von verbind­lich lächelnden, die

Vorzüg­lichkeit der Artikel anpreisenden Verkäufern und Verkäuferinnen, mit gar nicht

zufriedenzustellenden, mäkelnden, feilschenden Kundinnen und deren missmutigen

Begleitern – daß es nichts Entsetz­licheres giebt, als den Aufenthalt in einem jener mit schreiender Pracht ausgestatteten, überladenen von buntfarbigen Stoffen aller Art schillernden, von Bändern und Federn durchflatterten Riesengeschäfte, wie sie das

Großkapital in den Weltstädten geschaffen hat […]. Der Besuch eines dieser gewal­

tigen Räume […] bietet alle Unzukömm­lichkeiten dar, ­welche die Besichtigung der

Museen und Sammlungen mit sich bringt, ohne eine der Entschädigungen, die uns

die Werke der beruhigenden Kunst gewähren. […] In seinem neuesten Roman: ‚Au

Bonheur des Dames‘, hat Emile Zola nun die Grausamkeit, uns volle zehn Stunden – denn diese Zeit beansprucht das aufmerksame Lesen des merkwürdigen Buches – in

einem solchen Modegeschäfte festzuhalten. […] die Anschau­lichkeit seiner Schilde­

rung ist wahrhaft entsetz­lich!“ (Lindau 1883, 107 f.)

Diese Zola’sche Lust am Detail scheint nur auf den ersten Blick quer zu den mit der Warenhaus-­Topik einhergehenden Simplifika­tionen und Typisierungen zu ste­ hen, doch sie hat, gerade mit Blick auf diese Simplifika­tionen und Typisierungen, eine wichtige Funk­tion. Die Detailgenauigkeit erzeugt einerseits einen „naturalis­ tischen“ Faktenstrom, der authentifizistische Lektüren des Romans nahelegen soll. Nichts anderes meint Lindau, wenn er, wie zitiert, schreibt, „die Anschau­lichkeit“ von Zolas Schilderungen sei „wahrhaft entsetz­lich“. Andererseits unterstützt die Konfek­tionsgeschäft, kein Warenhaus). Zur Funk­tion ­dieses Warenhausbesitzertypus im Rah­ men der Verabschiedung des hereditären Dispositivs Ende des 19. Jahrhunderts vgl. Kapitel 11.2.

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Detailgenauigkeit den Schematismus des Romans, weil die Leitdifferenzen in ausladenden Schilderungen nicht mehr als nackte Polaritäten erscheinen, son­ dern mit großer Eindring­lichkeit narrativ entfaltet werden.23 Der Lyrismus der Schilderungen wird damit als elementarer Bestandteil der Zola’schen Warenhaus-­ Topik erkennbar.24 Dass Zolas Warenhausroman überpropor­tional häufig als Referenz in Spezial­ diskursen angeführt wird, darf also weder ausschließ­lich auf die damalige Popu­ larität des Romans zurückgeführt werden 25, noch lässt sich die hohe diskursive Präsenz des Romans einzig damit begründen, dass Zola das Warenhausthema literarisch hoffähig macht – und dies nicht einmal als Erster, denn schon vier Jahre vor Zola greift Marguerite Eymery unter dem Pseudonym Rachilde in Monsieur de la Nouveauté das Thema in epischer Breite auf.26

23 Man vgl. die frühen, episch ausladenden Schilderungen des Warenhauses und des Stoff­ geschäfts (Zola 1964, 390, 393 f.). Ohne dass der Antagonismus von Warenhaus vs. Detail­ handel thematisch entfaltet wird, wird dem Leser über das äußere Erscheinungsbild der beiden Geschäfte anschau­lich der Gegensatz von fortschritt­lichen vs. rückwärtsgewandten Geschäftsformen vermittelt. 24 Dieser Lyrismus findet sich auch in vielen anderen Romanen des Rougon-Macquart-­Zyklus, vgl. Mitterand in Zola 1964, 1678 f. 25 Zolas Roman ist um die Jahrhundertwende ein interna­tionaler Bestseller und wird ins Ame­ rikanische bzw. Eng­lische bis 1900 drei Mal, ins Deutsche sogar fünf Mal übersetzt. Die deut­ schen Übersetzungen werden unter den Titeln Zum Glück der Damen bzw. Zum Paradies der Damen veröffent­licht und stammen von A. ­Schwarz (1883), A. ­Heichen (1887), H. ­Rosé (1895), C. von Carlowitz (1899) und K. ­Walther [Ps. für Albert Clar] (1900). Vgl. zu meinen Recher­ cheergebnissen die lückenhaften Angaben in der 2. Aufl. von Kindlers Neues Literaturlexikon ( Jens 1996, XVII, 1054) sowie Emil Zola im deutschen Buchhandel 1898, 1262 f., Conrad 1906, 95 und die Datenbank der Deutschen Na­tionalbibliothek. Die eng­lischen Übersetzungen unter dem Titel The Ladies’ Paradise stammen von M. ­N. Sherwood (1883), F. ­Belmont (1883) und G. ­H. Edwards (1895). In Frankreich wird 1895 bereits das 65. Tausend des Romans verkauft. 26 Es gibt einige auffällige Ähn­lichkeiten ­zwischen Zola und Rachilde, ohne dass man von einem unmittelbaren Einfluss ausgehen muss (vgl. Walls 2007). Insgesamt ist R ­ achildes Text bei Weitem nicht so avanciert wie Zolas Roman. Dies liegt u. a. daran, dass im Mittel­punkt der Handlung das Schicksal eines Liebespaares steht, deren melodramatische Vorgeschichte weitläufig ausgebreitet wird. Erst im zweiten Teil des Romans dient das Warenhaus als Kulisse, um die zunehmende mora­lische Verworfenheit der männ­lichen Hauptfigur zu illustrieren. Rachildes Roman lässt sich daher eher als Sozialdrama charakterisieren, wobei die modernen Konsumwelten nur am Rande reflektiert werden, auch wenn der Titel etwas Anderes suggeriert.

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3.  Holistische Vereinfachungen Susanne Lüdemann schreibt in Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziolo­ gischen und politischen Imaginären (2004): „Sie [die Metaphern für Gesellschaft] bilden eine bestehende Wirk­lichkeit nicht ein­ fach ab und sie ‚veranschau­lichen‘ auch nicht nur, was unanschau­lich, aber substantiell,

schon wirk­lich wäre, sondern in dem Maß, in dem sie als ‚Repräsenta­tionen des Gan­

zen innerhalb des Ganzen‘ Allgemeingut werden, ins kollektive Imaginäre eingehen, erzeugen sie rückwirkend erst ihre eigene Ursache: das Volk oder die Na­tion, die sich

selbst als ‚organische Ganzheit‘ repräsentieren, erzeugen sich erst auf dem Weg über den

Metapherneffekt als eine s­ olche, frei­lich imaginäre, Ganzheit.“ (Lüdemann 2004, 111)27

Mit Lüdemann lässt sich aus meiner Sicht die Zola’sche Darstellung des Waren­ hauses ebenfalls als eine „Metapher für Gesellschaft“ bzw. – genauer – als eine spezifische Metapher für moderne Gesellschaft in ihrer ökonomischen Verfasst­ heit verstehen. Als „organische Ganzheit“ bringt das „Warenhaus“ gleichfalls seine eigene Ursache rückwirkend hervor. Damit soll selbstverständ­lich nicht behauptet werden, dass das „Warenhaus“ ohne Zola nicht existieren würde, wie vielleicht das „Volk“ oder die „Na­tion“ nicht existierten, gäbe es nicht die entspre­ chenden Konzepte, die ein „Volk“ bzw. eine „Na­tion“ postulieren. Doch Zolas Text macht wie diese Metaphern etwas als Ganzes anschau­lich, was in seinen einzelnen Aspekten, Funk­tionen, Wirkungen und Bedeutungen sonst ledig­lich im Rahmen von Spezialdiskursen aus Partialperspektiven erfassbar und beschreibbar wäre. In Abwandlung einer Passage bei Lüdemann könnte man sagen: Was dem Warenhaus an Anschau­lichkeit ermangelt, ist weniger das, was vom Warenhaus sichtbar und/oder erlebbar ist. Dies lässt sich selbstverständ­lich beobachten und beschreiben. Was der Anschau­lichkeit ermangelt, ist vielmehr das „Zusammen“, 27 Vgl. Blumenbergs Ausführungen zur Funk­tion „absoluter Metaphern“ in Paradigmen zu einer Metaphorologie: „Ihre Wahrheit ist, in einem sehr weiten Verständnis, pragmatisch. Ihr Gehalt bestimmt als Anhalt von Orientierungen ein Verhalten, sie geben einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität. […] Obwohl es nach Kants Antinomien müßig ist, über das Ganze der Welt theoretische Aussagen zu machen, ist es doch keineswegs gleichgültig, nach den Bildern zu fahnden, die d ­ ieses als Gegenständ­ lichkeit unerreichbare Ganze ‚vertretend‘ vorstellig machen.“ (Blumenberg 1998, 25) Zum Begriff der „absoluten Metapher“, die „sich gegenüber dem terminolo­gischen Anspruch als resistent erweisen, nicht in Begriff­lichkeit aufgelöst werden können“, vgl. ebd., 12 f.

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das je spezifische „Mit“ und „Bezogen auf“ der einzelnen Aspekte, Funk­tionen, Wirkungen und Bedeutungen, die das Warenhaus besitzt bzw. die ihm zugeschrie­ ben werden (vgl. Lüdemann 2004, 109). Anders ausgedrückt: Zolas Roman stellt das Warenhaus in einen holistischen Gesamtzusammenhang.28 Wenn Zolas Roman in den Spezialdiskursen als Referenz angeführt wird, geschieht dies zwar in der Regel mit Blick auf einen spezifischen Aspekt. Durch die Referenz aber wird immer zugleich der gesamte Kontext der Zola’schen Darstellung des Warenhauses evoziert. Das heißt, durch die Referenz auf Zola wird ein interdiskursiver Raum eröffnet. Die Kleptomanie etwa wird auf diese Weise nicht allein als medizinisch-­psychiatrisches Problem sichtbar, sondern sie unterhält durch den interdiskursiven Rekurs auf Zola Beziehungen zu ande­ ren Wissenssystemen und Diskursen, selbst wenn diese nicht eigens genannt werden. Zolas Roman wird also nicht wegen seiner „hohen Authentizität […] mit langen und längeren Passagen immer wieder“ (Rooch 2001, 134) zitiert. Er wird zitiert, weil er durch seine Metaphern, Modelle und Szenen die diskursi­ ven Verhandlungen des Warenhausthemas mit konstituiert. Zolas Metaphern, Modelle und Szenen strukturieren in wesent­lichen Aspekten den Blick auf die gesellschaft­lichen Praktiken, die sich Ende des 19. Jahrhunderts im bzw. durch das Warenhaus herausbilden, ja, teilweise können sie im gesellschaft­lichen Feld sogar performative Kraft entfalten (vgl. Lüdemann 2004, 109), wie es etwa in Bezug auf die Kleptomanie evident ist. Vor dem Hintergrund der bisherigen Analysen könnte der Verdacht entste­ hen, dass es sich bei Zolas Roman um einen diskursbegründenden Text handelt: Muss die im Roman entwickelte Warenhaus-­Topik nicht als regelhafte Form der Aussagenverkettung verstanden werden, die ein spezifisches Wissen über das Warenhaus hervorbringt? Aus meiner Sicht kann diese Frage klar verneint wer­ den. Zwar stellt Zolas Roman eine Reihe von Metaphern, Modellen und Szenen zur Verfügung, die in anderen Spezialdiskursen zur Beschreibung und Analyse

28 Schon unter Zeitgenossen wird dieser Aspekt gesehen und hervorgehoben. In einer frühen Erwähnung von Zolas Roman in der amerikanischen Zeitschrift The Literary World vom 7. 4. 1883 heißt es: „Along with this slender plot [die Liebesgeschichte z­ wischen Mouret und Denise] is woven the most complete and accurate picture imaginable of the great Parisian bazars, of which the Bonheur des Dames is the type; and it is in this picture and these details, rather than in the plot, that the chief interest and merits of Zola’s last work will be found.“ (Anon. 1883a, 109)

Interdiskursiver Raum und kollektives Imaginäres

von mit dem Warenhaus verknüpften Problematiken herangezogen werden, aber der Roman gibt keine Aussagenverkettungen oder -regeln im engeren Sinne vor. Über seine Metaphern, Modelle und Szenen generiert Zolas Roman gleich­ wohl eine Reihe von „Meistertropen“ (Graevenitz 1999, 12), die im Rahmen der damaligen Selbstbeschreibungsversuche der Moderne von großer Bedeu­ tung sind. Hier wäre etwa an das wirkungsmächtige Bild vom Warenhaus als Konsumtempel zu denken oder an den sehr wirkungsmächtigen „Mythos“ vom bedrohten Mittelstand, der im Anschluss an Zolas Darstellung zweifellos Züge einer Kollektivnarra­tion  29 gewinnt. Darüber hinaus fungiert die Zola’sche Darstellung als diskursübergreifender Katalysator. Indem der Roman das Warenhaus als „organische Ganzheit“ darstellt, trägt er zu einer Homogenisierung der sich im Warenhausthema überkreuzen­ den Wissensfelder und Spezialdiskurse bei. Am Warenhaus führt der Roman modellhaft die symbo­lische Einheit der diskursiven Verhandlungen über die Modernisierung um 1900 vor, indem er die komplexen und keineswegs immer direkten Verbindungslinien ­zwischen Konsum, Arbeit, Ökonomie, romantische Liebe und Urbanisierung narrativ entfaltet und diskursiv verschränkt. Diese Homogenisierung lässt die Heterogenität der Problemlagen und -felder nicht verschwinden. Im Gegenteil, in synchroner Hinsicht werden sie hier erst sicht­ bar. In diachroner Hinsicht muss diese Homogenisierung vor allem diskurspoli­ tisch verstanden werden. Indem in Spezialdiskursen auf die bei Zola entwickelte Warenhaus-­Topik rekurriert wird, wird nicht nur Kohärenz, sondern auch der interdiskursive Austausch einzelner Elemente gefördert.

4.  Diskursforma­tion und Selbstbeschreibungsschema Die breite Rezep­tion von Zolas Roman in anderen Diskursen zeigt, dass um 1900 die Grenzen ­zwischen Literatur, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft usw. noch recht durchlässig waren. Wie im vorherigen Kapitel angedeutet,30 müssen die für die Studie ausgewerteten literarischen Quellen daher als integraler Teil der über das Thema Warenhaus geführten diskursiven Verhandlungen der Moder­ nisierung eingestuft werden. Für die konkreten Analyse der literarischen Texte 29 Der Begriff „Kollektivnarra­tion“ wird analog zum Begriff „Kollektivsymbol“ gebraucht, bezeichnet aber im engeren Sinne kollektivsymbo­lisch wirksame Erzählungen. 30 Vgl. Kapitel 2.2.

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bedeutet dies, dass sie mit Blick auf das diskursive Feld hin gelesen und interpre­ tiert werden, auf dem sich die moderne Konsumgesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konstituiert und reflektiert. Ästhetische oder poetolo­gische Fragen werden dabei weitgehend in den Hintergrund treten, auch wenn es einige Romane gibt, die den Versuch unternehmen, das Verhältnis von Warenhaus und Moderne in ihrer narrativen Verfasstheit und Ästhetik zu spiegeln (vgl. von Kraft 1922; Pinchot 1932; Zugsmith 1937; weniger avanciert Siwertz 1928). Mit Blick auf die sich konstituierende moderne Konsumgesellschaft wird Literatur in dieser Studie als produktives Element des skizzierten diskursiven Fel­ des gelesen und interpretiert. Als interdiskursiver Raum formt sie das diskursive Feld aktiv mit und bildet wie im Fall von Zolas Roman Kollektivsymbole bzw. Kollektivnarra­tionen aus, die in andere, vermeint­lich harte Spezialdiskurse und Wissensfelder wie Medizin, Psychologie oder Wirtschaft einwandern. Literatur soll daher nicht nur als interdiskursives Reflexions- und Darstellungsmedium, sondern dezidiert von ihrer diskursformierenden Seite her verstanden werden. Damit ist gleichfalls klar, dass eine rein literaturwissenschaft­liche Methodik der Komplexität der diskursiven Verhandlungen über das Warenhausthema in keiner Weise gerecht werden kann. Wenn es zutrifft, dass die (sozial-)wissenschaft­liche „Beschreibungsform des Phänomens Modernisierung selbst […] ein Produkt der Modernisierung“ (van der Loo/van Reijen 1992, 25) ist, dann stellt sich die Frage, was diese Beobachtung für die Spezialdiskurse bedeutet, in denen sich in Bezug auf das Warenhausthema eine Durchdringung objekt- und metasprach­licher Elemente ereignet. Zugespitzt ausgedrückt: Wie ist es mög­lich, wissenschaft­lich über ein Thema zu sprechen, in dem die diskursive Verschränkung von Objekt- und Metasprache nicht nur Kernpunkt der Generierung kollektiver Symbolik ist, sondern bis in die Modi der Erzeugung von Wissen über das Warenhaus zurückwirkt? Gibt es eine Mög­lichkeit, einen Standpunkt jenseits der Moderne einzuneh­ men und damit ­dieses erkenntnistheoretische Dilemma zu lösen? Oder setzte eine ­solche Lösung nicht eine „fundamentale Revision der Moderneterminolo­ gie“ voraus und damit eine „andere, […] nicht mehr moderne ­soziale Erfahrung“ (Stöckmann 2009a, 502; vgl. Stöckmann 2009b)? Aus Sicht von Ingo Stöckmann kann die Lösung d ­ ieses Dilemmas nur darin liegen, hinter das Selbstbeschreibungs­ schema der Moderne zurückzutreten, um dessen „kulturelle Funk­tionsweise, d. h. seinen Erzählcharakter“ (Stöckmann 2009a, 502), hervortreten zu lassen. Schon Robert Proctor hat im Anschluss an Hayden White darauf hingewiesen, dass das

Interdiskursiver Raum und kollektives Imaginäres

moderne Warenhaus „an important role in the plots of many histories“ (Proctor 2003, 230) spiele. In der Wirtschaftsgeschichte stehe es, so Proctor, für die höchste Entwicklung des Kapitalismus, in der Architekturgeschichte als Modell für die positive Reak­tion auf die Modernisierung, in der Konsumgeschichte für neue Praktiken des Konsums usw. Um die erzählerische Funk­tion des Warenhauses nicht nur in den spezialdiskursiven Narra­tionen, sondern als Ganzes zu rekon­ struieren, schlägt Proctor vor, in einer Art Collage-­Technik die je verschiedenen historischen Kontextualisierungen, in denen das Warenhaus erscheint, miteinan­ der zu konfrontieren (vgl. Proctor 2003, 233). Hierbei hat Proctor vermutet, dass alle Warenhaus-­Narra­tionen demselben evolu­tionistischen Narrativ gehorchen (vgl. Proctor 2003, 232). Das Warenhaus wäre in dieser Perspektive ein inhalt­ lich und thematisch universell besetzbares Passepartout für evolu­tionär kodierte Modernisierungsnarra­tionen. So wertvoll Proctors Hinweis auf die narrative Funk­ tion des Warenhauses ist, so wenig löst die von ihm anvisierte Collage-­Technik das erkenntnislo­gische Dilemma. Auch diese polyperspektivische Rekonstruk­ tion greift weiterhin auf das moderne Selbstbeschreibungsschema zu, in dem Warenhäuser überhaupt erst als spezifisch modernes Phänomen wahrnehmbar und deutbar werden. Das heißt, auch die Collage-­Technik wird unweiger­lich das objektsprach­liche Schema metasprach­lich reproduzieren. Wenn Stöckmann hinter das Selbstbeschreibungsschema der Moderne zurück­ treten möchte, verfolgt er das Ziel, die „Strukturen“ der „Konstitu­tionsgeschichte“ ­dieses Schemas sichtbar zu machen. Dass Stöckmann von „Strukturen“ und nicht von „Genese“ oder „Ursprung“ spricht, liegt im skizzierten Dilemma begründet: Eine Rekonstruk­tion der „Genese“ würde unweiger­lich die evolu­tionär kodierte(n) Konstitu­tionsgeschichte(n) der Moderne reproduzieren und wiederum nur die Grenze ­zwischen Objekt- und Metasprache verwischen (vgl. Stöckmann 2009a, 502; vgl. Stöckmann 2012). Wenn also nach dem diskursiven Status von Zolas Roman im Hinblick auf andere Diskurse gefragt wird, dann ist es nicht damit getan, das kontrastive Schema freizulegen, mit dem sich Zolas Roman als dezidiert moderner Text inszeniert. Es muss vielmehr nach dessen struktureller Funk­tion gefragt werden. Wie die Analysen gezeigt haben, trägt der Roman in Bezug auf die zeitgenös­sische Reflexion der urbanen Konsumsphäre zur Vernetzung und Kohärenz der mit der Modernisierungsdebatte verknüpften Problemfelder bei und bietet zugleich simplifizierende Schemata an, um die Problemlagen suggestiv narrativieren zu können. Damit werden zwar nicht die Strukturen der Konstitu­ tionsgeschichte des modernen Selbstbeschreibungsschemas sichtbar gemacht.

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Einleitung

Aber es wird deut­lich, ­welche diskursive Funk­tion Zolas Roman im Kontext ­dieses Schemas besitzt. Über die historische Dimension hinaus, bei deren Dar­ stellung man die Reproduk­tion des modernen Selbstbeschreibungsschemas kaum wird vermeiden können, da das Schema bis in die aktuelle (literatur-)historische Theoriebildung hineinreicht (vgl. Stöckmann 2009b), soll in der Studie stets die tiefengrammatische Ebene im Blick behalten werden. Um diese beschreibbar zu machen, wird vielfach auf diskursanalytische Verfahren zurückgegriffen, die aus meiner Sicht weniger anfällig dafür sind, sich in die Konstitu­tionsgeschichte des modernen Selbstbeschreibungsschemas metasprach­lich zu verstricken. Darüber hinaus zeigt Zolas Roman beispielhaft die methodolo­gischen Fall­ stricke, die sich in Bezug auf das Warenhausthema hinsicht­lich der Differen­ zierung z­ wischen faktualen Referenzialisierungen, fik­tionaler Selbstreferenz und Kollektivsymbolik ergeben. Was sich auf einer theoretischen Ebene gut unterscheiden lässt – das Warenhaus als realer Ort, interdiskursiver Raum und kollektives Imaginäres –, erweist sich in der konkreten Analyse nicht selten als problematisch. Was in Bezug auf die Differenzierung z­ wischen „Menschenmenge“ und „Masse“ unmittelbar einleuchtet, näm­lich „dass die Rede von der ‚Masse‘ eine spezifische Diskursivierungsform des Erfahrungssubstrats ‚Menschenmenge‘ ist, die den Gegenstand in distinkter Weise zurichtet und in ihren Bestimmungen mehr mit den Phantasmen und Ängsten der Diskursbenutzer zu tun hat als mit dem beschriebenen Objekt selbst“ (Gamper 2007, 26 f.), lässt sich im Hinblick auf das Warenhaus nicht immer ohne Weiteres angeben. Zwar gibt es auch hier Begriffspaare, die den Unterschied ­zwischen Diskursivierungsform und Erfah­ rungssubstrat hervortreten lassen, z. B. „Warenhaus“ und „Konsumtempel“. Doch die Grenze z­ wischen Diskursivierungsform und Erfahrungssubstrat verläuft hier nicht nur z­ wischen den Begriffen „Warenhaus“ und „Konsumtempel“, sondern durch den Begriff „Warenhaus“ selbst. Im Unterschied zur „Menschenmenge“ ist dieser Diskursivierungsform und Erfahrungssubstrat in einem, was die Mög­ lichkeit der Unterscheidung z­ wischen objekt- und metasprach­licher Ebene erheb­ lich erschwert, teilweise sogar verunmög­licht. Aus meiner Sicht liegt hier ein Ansatzpunkt zur Klärung der Frage, warum das Warenhaus im Rahmen der Reflexion der Modernisierungsprozesse um 1900 derart wirkungsmächtig wird. Im Gegensatz zu abstrakten Ideen oder Idealen, die hauptsäch­lich, wenn nicht sogar ausschließ­lich als Diskursivierungsform existieren (etwa Treue, Wille oder Nervosität), ist das Warenhaus weit stärker im Faktischen verankert. Das heißt, das kollektive Imaginäre erscheint nicht als

Interdiskursiver Raum und kollektives Imaginäres

Imaginäres, sondern als etwas Reales.31 Auf der anderen Seite heißt das, dass es im Rahmen der Rede vom Warenhaus zu einem außerordent­lich intensiven Aus­ tausch ­zwischen Faktualem und Fik­tionalem kommt, d. h. zu einer „performativen Rückkopplung z­ wischen ­­Zeichen und bezeichneten Gegebenheiten“ (Koschorke 2012, 23). Das trifft insbesondere auf die tatsäch­lichen oder nur zugeschriebenen Rollen von Frauen in der modernen Konsumsphäre zu.32 Vor ­diesem Hintergrund lässt sich schließ­lich die Funk­tion von Zolas Roman im Rahmen der diskursiven Verhandlungen des Warenhausthemas weiter spezifi­ zieren. Dieser wirkt nicht allein als diskursiver Katalysator und trägt zur Homo­ genisierung der Wissensfelder und Spezialdiskurse bei. Der Roman forciert auch die Überlagerung von Erfahrungssubstrat und Diskursivierungsform und hat damit unmittelbar Anteil an der Formung des kollektiven Imaginären der frü­ hen Konsumgesellschaft. Zumindest für die zentralen Szenen und Metaphern lässt sich sagen, dass die „Fakten“ der Fik­tion folgen werden, also die Zola’schen Erzählmuster nicht nur eine wissenschaft­liche, sondern auch eine s­ oziale Wirk­ lichkeit gewinnen (vgl. Koschorke 2012, 23).

31 Bei Christina von Braun heißt es: „Das Kollektive Imaginäre kann nur dann wirkungs- und wirk­lichkeitsmächtig werden, wenn es nicht als Imagina­tion erkennbar ist.“ (von Braun 2001, 280) 32 Vgl. insbesondere Kapitel 5 und 8.

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Kapitel 4

Konsumistische Praxis 1

1.  Konsum und Hedonismus Was im Rahmen der Konstitu­tion der modernen Konsumkultur am Warenhaus diskursiv verhandelt, räum­lich erlebt, zeit­lich erfahren oder in sozialer Praxis vollzogen wird, wird schon zeitgenös­sisch vielfach über Figuren der Transgres­ sion diskursiviert. Dabei scheint das Warenhaus nicht nur landläufige Klassifi­ zierungen und Differenzierungen in Frage zu stellen, sondern eine im ­­Zeichen des modernen Kapitalismus stehende Neucodierung von Zeiten, Räumen und Körpern vorzunehmen. Die zeitgenös­sische Kultur- und Sozialkritik an der Kon­ sumgesellschaft, aber auch bestimmte wissenschaft­liche Spezialdiskurse, wobei den medizinisch-­psychiatrischen eine besondere Rolle zukommt, übersetzen diese Figuren der Transgression in verschiedene Gefährdungsszenarien.2 Insbesondere die neuen Konsumpraktiken werden mit einer Semantik verknüpft, w ­ elche die vermeint­lichen Transgressionsphänomene mit einem Anderen oder Fremden zu identifizieren sucht, innerhalb dessen das Warenhaus im Besonderen sowie die moderne Konsumsphäre im Allgemeinen als Ort unkontrollierter Affekte erscheint. Interessanterweise findet man Beschreibungen der Gefährdungsszenarien und der damit einhergehenden Semantik bereits, bevor die Warenhäuser im modernen Sinne entstehen, und zwar nicht nur im Kontext der seit der Antike immer wie­ der geäußerten Kritik an übermäßigem Luxus bzw. übermäßiger Verschwendung (vgl. Breckman 1991), sondern schon Mitte des 19. Jahrhunderts in einem Roman, den man auf den ersten Blick kaum auf die moderne Konsumkultur hin lesen würde: Madame Bovary (1857) von Gustave Flaubert.3 Was in Zolas Au Bonheur 1 Dieses Kapitel ist eine überarbeitete und erheb­lich erweiterte Fassung des Artikels „Madame Bovary und der moderne Hedonismus. Reflexionen zum Verhältnis von Literatur, globa­ lisierter Warenwelt und Konsumkultur im 19. Jahrhundert“. Vgl. Lindemann 2014b. 2 Schon die Bemühungen zur Einführung von Warenhaussondersteuern lassen sich in ­diesem Sinne interpretieren. Vgl. Kapitel 1.1. 3 Mit Blick auf Metaphern aus der Sphäre der Ökonomie ist Flauberts Roman bereits gelesen worden (vgl. Reynaud 1994); eine konsumgeschicht­liche Lektüre existiert meines Wissens nicht.

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des Dames das Warenhaus ist, das ist für Madame Bovary ein Modewarenhändler mit dem (vielver)sprechenden Namen Lheureux. Der versorgt sie nicht allein mit den modischen Neuheiten und Neuigkeiten aus Paris. Er räumt ihr auch bereit­ willig und – wie es anfangs scheint – unbegrenzt Kredit ein. Hieraus resultiert ein Konsumverhalten, das zum Schluss Züge von Sucht trägt: „Aussi, elle acheta pour sa chambre une paire de rideaux jaunes à larges raies, dont

M. ­Lheureux lui avait vanté le bon marché; elle rêva un tapis, et Lheureux, affirmant

‚que ce n’était pas la mer à boire‘, s’engagea poliment à lui en fournir un. Elle ne pou­ vait plus se passer de ses services. Vingt fois dans la journée elle l’envoyait chercher, et aussitôt il plantait là ses affaires, sans se permettre un murmure.“ (Flaubert 2001, 343)

Man würde es sich aber zu leicht machen, suchte man nach den Gründen für den exzessiven Warenkonsum von Madame Bovary einzig in ihrer Neigung zu Luxus und Ausschweifung – eine Neigung, die unmittelbar aus ihren ausgedehn­ ten Romanlektüren zu entspringen scheint. Die Geschichte von Madame Bovary wäre in dieser Lesart die Geschichte eines weib­lichen Don Quijotes, unfähig, ­zwischen Text (Literatur) und Leben (Alltag) zu unterscheiden (vgl. Felski 1995, 85). Tatsäch­lich liegt jedoch das Gegenteil vor: Gerade weil Madame Bovary die Unterscheidung z­ wischen Literatur und Leben präzise wahrnimmt, kultiviert sie eine moderne Form von auf Konsum basierendem Hedonismus, dessen Angel­ punkt in der Differenz ­zwischen Literatur und Leben bzw. – in Bezug auf die Warenwelt formuliert – in der Differenz ­zwischen Gebrauchs- und Symbolwert der Dinge liegt. Es lassen sich mindestens drei Kontexte unterscheiden, in denen Madame Bovary über den täg­lichen Bedarf hinaus konsumiert. Erstens macht sie ihren Liebhabern wertvolle Geschenke bzw. finanziert großzügig die geheimen Tref­ fen.4 Der Erwerb von Dingen unterliegt hier einer Logik der Gabe, ja Verausga­ bung. Zweitens konsumiert sie demonstrativ (vgl. Veblen 1979). Sie versucht über ihre Anschaffungen (Möbel, Kleider) ihren gesellschaft­lichen Status symbo­lisch zu repräsentieren. Drittens konsumiert sie kompensativ (vgl. Lehnert 2009, 261). Nachdem ihre erste, ledig­lich erträumte Liebesbeziehung mit Léon beendet ist, heißt es: 4 Man denke an die kostspielige Reitpeitsche für Rodolphe oder an das Hotel in Rouen, in dem das wöchent­liche Stelldichein mit Léon stattfindet.

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„Une femme qui s’était imposé de si grands sacrifices pouvait bien se passer des fan­ taisies. Elle s’acheta un prie-­Dieu gothique, et elle dépensa en un mois pour quatorze francs de citrons à se nettoyer les ongles; elle écrivit à Rouen, afin d’avoir une robe

en cachemire bleu; elle choisit chez Lheureux la plus belle de ses écharpes; elle se la

nouait à la taille par-­dessus sa robe de chambre; et, les volets fermés, avec un livre à la main, elle restait étendue sur un canapé dans cet accoutrement.“ (Flaubert 2001, 188)

Aber worin bestehen die „fantaisies“, die Madame Bovary mit dem gotischen Betpult bzw. mit dem schönsten aller Schals verknüpft, den sie ausschließ­lich zu Hause trägt? Diese Dinge versprechen weder einen Statusgewinn noch dienen sie im Sinne des Luxuskonsums einer Verfeinerung der Sinne oder gar der Aus­ schweifung. Auch scheinen sie wenig geeignet, die im Roman immer wieder beklagte Trostlosigkeit ihres Lebens in der Provinz zu vertreiben. Colin Campbell hat The Romantic Ethic and The Spirit of Modern C ­ onsumerism (1987) die These vertreten, dass sich die moderne Konsumkultur weder über Luxusoder Distink­tionstheorien (Veblen, Sombart) noch unmittelbar aus Max Webers Theorie einer protestantisch-­asketischen Geisteshaltung als Basis des moder­ nen Kapitalismus herleiten lässt. In Abgrenzung zu diesen Theorien entwickelt Campbell das Modell eines modernen Hedonismus, dessen Ursprung ebenfalls im Protestantismus liegt, nicht aber in der ra­tionalistisch-­utilitaristischen Vari­ ante, sondern in der pietistisch-­spiritualistischen. Im Mittelpunkt ­dieses Hedo­ nismus stehe, so Campbell, nicht die Steigerung von Sinnesreizen, wie es im aristokratisch geprägten Hedonismus der Fall sei. Oberstes Ziel sei vielmehr das Vergnügen selbst „as a potential quality of all experience“ (Campbell 1987, 203). Da es nicht um Reizsteigerung geht, ist die Suche nach ­diesem Vergnügen nicht auf sinn­liche Stimuli angewiesen. Es kann von der Wirk­lichkeit vollkom­ men abgekoppelt erlebt und in rein imaginativen Welten gefunden werden „by creating and manipulating illusions and hence the emotive dimension of con­ sciousness“ (Campbell 1987, 203). In dieser „sentimentalistisch-­romantische[n] Konzep­tion einer auf ihre eige­ nen Emo­tionen bezogenen Individualität“ sei es mög­lich, wie Schrage Campbells Ansatz zusammenfasst, „psychische Zustände als Einsatz und Genussmittel eines Spiels mit Bedeutungen aufzufassen.“ (Schrage 2009a, 123)5 Statt nach 5 In ­diesem Sinne bemerkt auch Illouz: „Die Emo­tionen von Konsumenten müssen nicht das Ergebnis konkreter sozialer Beziehungen sein; vielmehr sind sie häufig das Resultat

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­ edürfnisbefriedigung oder Reizsteigerung wird nach außer­ge­wöhn­lichen B Gefühls­zuständen gestrebt, die eine Intensivierung des individuellen Erlebens versprechen: „This modern, autonomous, and illusory form of hedonism com­ monly manifests itself as day-­dreaming and fantasizing.“ (Campbell 1987, 203; vgl. Lehnert 2009, 259 ff.) Die Konzentra­tion auf das emo­tionale Innenleben lässt eine Begehrens- bzw. Wunschstruktur entstehen, die Dinge nicht nach ihren materiellen Eigenschaften, ihrem materiellen oder repräsentativen Wert beurteilt, sondern nach den Bedeutungen, die sie für das Gefühlsleben haben. Liest man die zitierte Passage aus Flauberts Roman in d ­ iesem Sinne, dürfte klar werden, worin die „fantaisies“ bestehen, die sich Madame Bovary von dem Erwerb eines „prie-­Dieu gothique“ bzw. „la plus belle de ses écharpes“ verspricht. Darin liegt auch der Grund, warum sie die Dinge nicht in der Öffent­lichkeit zeigen muss, sondern mit ihnen bei geschlossenen Fenstern im Haus bleiben kann. Die Dinge werden „zu einem Medium der selbstkontrollierten Erzeugung von Fik­ tionen.“ (Schrage 2009a, 125) Nicht der Besitz der Dinge, sondern ihre Bedeutung ist wichtig. Sie werden im Spiel der Bedeutungen selbstbezüg­lich, ja narzisstisch genutzt und zur Quelle von Imagina­tionen im Rahmen emo­tionaler Sehnsüchte. Wie sehr Madame Bovary in einer Welt der Tagträume und Phantasien lebt, wird an vielen Stellen des Romans deut­lich 6 – auch an jener Stelle, an der sie die Abreise von Léon mit folgenden Worten kommentiert: „Alors les mauvais jours […] recommencèrent. Elle s’estimait à présent beaucoup plus malheu­ reuse: car elle avait l’expérience du chagrin, avec la certitude qu’il ne finirait pas.“ (­F laubert 2001, 188) Gerade die Tatsache, dass z­ wischen Léon und ihr nichts geschehen ist, zeigt, w ­ elche enorme Bedeutung er als Stimulus für ihr Gefühls­ leben besitzt. Im Zitat finden sich ausschließ­lich imaginative Zuschreibungen an eine Situa­tion, die vielleicht trostlos und eintönig sein mag, aber keineswegs voll eines nie endenden Kummers. der Interak­tion von Konsumenten mit dem Reich der ­­Zeichen und der Bilder. Präziser: Bei den Emo­tionen, die den Konsum antreiben oder mit ihm verknüpft sind, handelt es sich nicht weniger um Ergebnisse der Imagina­tion als um s­ olche konkreter und realer sozialer Beziehungen“ (Illouz 2011, 76). 6 Vgl. ebenfalls folgende Textstellen: „La médiocrité domestique la poussait à des fantaisies luxueuses, la tendresse matrimoniale en des désirs adultères.“ (Flaubert 2001, 170) und „Puis elle avait d’étranges idées: / – Quand minuit sonnera, disait-­elle, tu penseras à moi! / Et, s’il avouait n’y avoir point songé, c’étaient des reproches en abondance, et qui se terminaient toujours par l’éternel mot: / – M’aimes-­tu?“ (Flaubert 2001, 264)

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Um diesen Kummer zu vertreiben, geht Madame Bovary bald auf die Suche nach anderen Stimuli. Hier kommt der Konsum von Dingen ins Spiel, aber auch andere Praktiken, etwa Körper- und Haarpflege sowie „Bildung“: „[E]lle se mettait à la chinoise, en boucles molles, en nattes tressées; elle se fit une raie

sur le côté de la tête et roula ses cheveux en dessous, comme un homme. Elle voulut

apprendre l’italien: elle acheta des dic­tionnaires, une grammaire, une provision de papier

blanc. Elle essaya des lectures sérieuses, de l’histoire et de la philosophie. […] Mais il

en était de ses lectures comme de ses tapisseries, qui, toutes commencées encom­braient

son armoire; elle les prenait, les quittait, passait à d’autres.“ (Flaubert 2001, 188 f.)7

Es stellt sich nicht mehr dieselbe Intensität ein wie im imaginierten Liebesaben­ teuer mit Léon.8 Die Suche von Madame Bovary nach Glück kann deswegen nicht ans Ziel kommen, weil ihr Gefühlsleben nur dann intensiviert werden kann, wenn ihre Wünsche nicht erfüllt sind. Wunscherfüllung beendet den Wunsch. Nur unerfüllte Wünsche regen das Seelenleben und die Imagina­tion an. Ist der Wunsch in Erfüllung gegangen, ist er zugleich passé; ein neuer Wunsch muss her. Die Konsequenz ist permanente Unzufriedenheit. Ist der Wunsch erfüllt, ist man unzufrieden, weil er erfüllt wurde. Ist er nicht erfüllt, ist man unzufrieden, weil 7 Welchen Stellenwert Körperpflege, Kosmetik und Schmuck als Stimuli haben, wird ebenfalls aus folgender Passage deut­lich: „[ J]amais Charles ne lui paraissait aussi désagréable, avoir les doigts aussi carrés, l’esprit aussi lourd, les façons si communes qu’après ses rendez-­vous avec Rodolphe, quand ils se trouvaient ensemble. […] C’était pour lui [Rodolphe] qu’elle se limait les ongles avec un soin de ciseleur, et qu’il n’y avait jamais assez de cold-­cream sur sa peau, ni de patchouli dans ses mouchoirs. Elle se chargeait de bracelets, de bagues, de colliers. Quand il devait venir, elle emplissait de roses ses deux grands vases de verre bleu, et disposait son appartement et sa personne comme une courtisane qui attend un prince.“ (Flaubert 2001, 261) 8 Am Ende des Romans wird dieser Aspekt eingehend thematisiert: „[E]lle n’était pas heu­ reuse, ne l’avait jamais été. D’où venait donc cette insuffisance de la vie, cette pourriture instantanée des choses où elle s’appuyait? … Mais, s’il y avait quelque part un être fort et beau, une nature valeureuse, pleine à la fois d’exalta­tion et de raffinements, un cœur de poète sous une forme d’ange, lyre aux cordes d’airain, sonnant vers le ciel des épithalames élégiaques, pourquoi, par hasard, ne le trouverait-­elle pas? Oh! quelle impossibilité! Rien, d’ailleurs, ne valait la peine d’une recherche; tout mentait! Chaque sourire cachait un ­bâillement d’ennui, chaque joie une malédic­tion, tout plaisir son dégoût, et les meilleurs baisers ne vous laissaient sur la lèvre qu’une irréalisable envie d’une volupté plus haute.“ (Flaubert 2001, 371; Hervorheb. U. ­L.)

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er unerfüllt ist. Die Folge ist ein Streben nach immer neuen Stimuli, um diese Enttäuschung zu überwinden: Es resultiert ein Leben im Aufschub. Dieser Mechanismus ist ein zentraler Aspekt dessen, was Campbell als konsumistische Haltung bezeichnet. Sie beruht auf dem beschriebenen Hedonismus, dem die Enttäuschung strukturell eingeschrieben ist. Man könnte sogar sagen, dass die Enttäuschung Bedingung und Motor der konsumistischen Haltung ist (vgl. Illouz 2011, 89). Madame Bovary konsumiert in ­diesem Sinne nicht nur Dinge, sondern auch Menschen und Literatur. Dabei entfalten die Dinge, Menschen und die Literatur einerseits ein Spiel der Bedeutungen. Anderer­ seits aber sind sie selbst bedeutungs- und sinnstiftend, indem sie die konsumis­ tische Wunschmaschinerie in Gang halten. Fallen die Stimuli weg, entsteht ein Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit, wie es an vielen Stellen des Romans zum Ausdruck kommt. Eva Illouz hat im Anschluss an Campbell darauf hingewiesen, dass die sich seit dem 18. Jahrhundert entwickelnde Konsumentenkultur aus „jenen Verlusten Nutzen gezogen hat, die durch die beschleunigte Warenproduk­tion

zustande kamen, und zwar insbesondere aus dem, was man grob ‚Bedeutungsverluste‘

nennen könnte. Als Reak­tion darauf hat die Konsumentenkultur das ‚romantische

Ich‘ ins Zentrum gerückt, ein Ich voller Gefühl und Sehnsucht nach Authentizität.“ (Illouz 2011, 77 f.)

An Madame Bovary wird vorgeführt, wie diese Bedeutungsverluste mit einer konsumistischen Haltung konvergieren, in der jeder transzendentale Halt verlo­ ren gegangen ist. Als sich Madame Bovary nach dem Weggang ihres Liebhabers Rodolphe dem Tod nahe wähnt und die Kommunion verlangt, hat sie, so will es anfangs scheinen, eine religiöse Vision: „Sa chair allégée ne pesait plus, une autre vie commençait; il lui sembla que son être,

montant vers Dieu, allait s’anéantir dans cet amour comme un encens allumé qui se dis­ sipe en vapeur. On aspergea d’eau bénite les draps du lit; le prêtre retira du saint ciboire

la blanche hostie; et ce fut en défaillant d’une joie céleste qu’elle avança les lèvres pour accepter le corps du Sauveur qui se présentait. Les rideaux de son alcôve se gonflaient

mollement, autour d’elle, en façon de nuées, et les rayons des deux cierges brûlant sur la

commode lui parurent être des gloires éblouissantes. Alors elle laissa retomber sa tête, croyant entendre dans les espaces le chant des harpes séraphiques et apercevoir en un

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ciel d’azur, sur un trône d’or, au milieu des saints […], Dieu le Père tout éclatant de

majesté, et qui d’un signe faisait descendre vers la terre des anges aux ailes de flamme pour l’emporter dans leurs bras. […]

Elle voulut devenir une sainte. Elle acheta des chapelets, elle porta des amulettes;

elle souhaitait avoir dans sa chambre, au chevet de sa couche, un reliquaire enchâssé d’émeraudes, pour le baiser tous les soirs.“ (Flaubert 2001, 291 f.)

Die Vision mündet erneut in Warenkonsum, denn Madame Bovary ist ledig­lich sentimental, nicht spirituell.9 Die Dinge dienen ihr erneut nur als Material ihrer Tagträumereien und Phantasien. Der Suizid von Madame Bovary ist daher nicht allein der letzte Akt eines gescheiterten Bildungsromans, auf den sich Flaubert mit ihrem Freitod zweifellos parodistisch bezieht. Er ist gleichfalls Folge eines hedonistischen Kultes, der eine emo­tionalistische Ontologie in den Mittelpunkt stellt, in der Gefühle die Gewähr für ein gelingendes Leben übernehmen sollen (vgl. Campbell 2004, 38). Besteht wie im Fall von Madame Bovary keine Mög­lichkeit mehr auf zukünftige Gefühlsintensivierung, bleibt als einziger Ausweg nur der Tod. Mit Hilfe des konsumistischen Modells lässt sich auch erklären, warum Madame Bovary kein Verhältnis zu Geld hat. Geld dient ihr dazu, Mög­lichkeiten zu eröffnen (vgl. Flaubert 2001, 360), und fungiert als universeller „Joker“ (­Ullrich 2006, 62), der sich überall einsetzen lässt, wo ein Wunsch auftaucht. Es ist Medium nicht-­realisierter Mög­lichkeiten.10 Geld ausgeben ist für Madame Bovary kein Akt, 9 Später ergeht sich Madame Bovary noch in Wohltätigkeit, wobei Campbell sagen würde, auch Wohltätigkeit sei schon die Vorstufe zu einer konsumistischen Praxis, da der Wunsch, anderen zu helfen, immer von einer Intensivierung des eigenen Gefühlslebens begleitet werde. Vgl. Campbell 1987, 204 f. 10 Schon früh hat Georg Simmel auf die Rolle des Geldes als Medium des Mög­lichen hin­ gewiesen: „Die centrale Stellung, die das Geld durch das ungeheure Anwachsen des Krei­ ses dadurch erreichbarer Objekte erhält, strahlt in vielerlei einzelne Charakterzüge des modernen Lebens hinein. Das Geld hat dem Einzelnen die Chance völliger Befriedigung seiner Wünsche in viel größere, versuchungsvollere Nähe gerückt. Es giebt die Mög­lichkeit, gleichsam mit einem Schlage zu gewinnen, was überhaupt begehrenswerth erscheint. […] Mit der Annäherung an das Glück [die Erfüllung der Wünsche] aber wächst die Sehn­ sucht danach. Denn nicht das absolut Ferne und Versagte, sondern das Nichtbesessene, dessen Besitz näher und näher zu rücken scheint – wie es durch die Geldorganisa­tion geschieht – das entzündet die größte Sehnsucht und Leidenschaft. […] Die specifisch moderne ‚Begehr­lichkeit‘ […] konnte aufwachsen, weil es jetzt ein Schlagwort giebt, das alles Begehrenswerthe in sich verdichtet, einen Centralpunkt, den man, wie den Zauber­ schlüssel im Märchen, nur zu gewinnen braucht, um mit ihm zu allen Freuden des Lebens

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der sich in Gebrauchs- und Tauschwerten verrechnen ließe. Dass ihr ­Lheureux umfassend Kredit gewährt, befördert diese Wahrnehmung von Geld als imma­ teriellem Schmiermittel ihrer Wünsche: „Mit dem Kredit verändert der Reichtum seine Struktur und wird unberührbar, beweg­ lich und fluktuierend […]. Materieller Besitz […] ist der Alltagserfahrung zugäng­lich

und kann durch konkrete Bilder ausgedrückt werden. Kredit dagegen erfordert einen

hochgradig fik­tionalisierten Begriff des Besitzes, welcher immer auch die Mög­lichkeiten miteinbezieht, dass alles anders werden könnte […].“ (Stäheli 2007, 271)

Geld (als Kredit) ist für Madame Bovary ebenso imaginär wie ihre Wünsche. Deswegen ist für sie die abschließende Katastrophe auch nicht absehbar. Nicht nur der Geldverkehr, auch ihre Wünsche sind in einem fik­tionalen Reich voller Potenzialitäten angesiedelt – einem Reich der Konjunktive. Dass die Bezahlung ihrer Schulden immer weiter in die Zukunft verschoben wird, korrespondiert mit der Unmög­lichkeit der Befriedigung ihrer Wünsche und dem permanen­ ten Aufschub, der daraus resultiert. Sie lebt nicht in der Gegenwart, sondern in einer besseren Zukunft, und versucht eine Vergangenheit zu ignorieren, die aus einer unend­lichen Kette von Enttäuschungen zu bestehen scheint. Für sie gibt es keine aus der Vergangenheit resultierenden Notwendigkeiten, nur zukünftige Op­tionen. Der Konsum von Dingen unterliegt bei Madame Bovary der inhären­ ten Logik einer durch den Konsum selbst in Gang gesetzten, sich verselbständi­ genden hedonistischen Wunschmaschine. In ihren Tagträumen und Phantasien taucht sie in eine Welt selbst erzeugter Fik­tionen ein und fik­tionalisiert dabei zugleich ihren Alltag, und zwar im negativen Sinne, um durch den Kontrast ihre in die Zukunft ausgelagerten Traum- und Phantasiewelten umso wünschens­ werter erscheinen zu lassen.11 Die Fik­tionen von Madame Bovary werden von „Dingen“ angeregt, genauso aber auch aus weiteren Quellen gespeist: aus ihrem zu gelangen.“ (Simmel 1992a, 190) Bei Luhmann heißt es: „So wenig wie Macht […] eine besondere Kraft oder Wahrheit eine bestimmte Qualität von Sätzen oder Liebe […] eine besondere Art von Gefühl ‚ist‘, so wenig ist Geld als eine bestimmte Art von Tauschobjek­ ten zu begreifen. Vielmehr geht es in all diesen Fällen um Mög­lichkeiten der Teilnahme an motivierender Kommunika­tion, die durch symbo­lisch generalisierte und spezifizierte Code-­Bedingungen geregelt werden. Geld ‚ist‘ die Struktur der Mög­lichkeiten, in Bezug auf die wirtschaft­liches Handeln selektiv ist.“ (Luhmann 1972, 200; Hervorheb. U. ­L.) 11 Vgl. die Ausführungen zum Verhältnis von Dingfetischismus und Imagina­tion in K ­ apitel 5.5.

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teilweise exzessiven Literaturkonsum, wobei der ästhetische Wert von Literatur überwiegend auf einen emo­tionalen Mehrwert reduziert wird (vgl. Felski 1995, 83), aus ihrem romantischen Liebesideal und – nicht zuletzt – aus ihrem Bestreben, nicht provinziell zu sein. Hier gründet ihr Interesse an Mode. Der in Madame Bovary prototypisch ausformulierte moderne Hedonismus und Konsumismus zeigt bereits jene Freisetzung transgressiver Energien, die bürger­lichen Frauen beim Kontakt mit den modernen Konsumwelten Ende des 19. Jahrhunderts generell zugeschrieben werden und die Gefähr­lichkeit dieser Kon­ sumwelten beglaubigen sollen. Andererseits scheint in Madame Bovarys Hedo­ nismus ein Aspekt auf, der sich als Widerstand gegen eine Realität interpretieren lässt, die sie in die Rolle der „guten“ Hausfrau und ­Mutter zwingen möchte – eine Rolle, die sie, wie sich früh im Roman zeigt, nicht auszufüllen bereit ist. Schon Claudia Honegger und Bettina Heintz haben darauf hingewiesen, dass sich die „Trivialliteratur des 19. Jahrhunderts […] nicht nur als Zementierung der Geschlech­ter­ rollen-­K­lischees deuten [lässt], sondern als heim­liche Anleitung zum Aufruhr, den die

Leserinnen zumindest in ihrer Phantasie erprobten. Sie träumten, was sie nicht leben konn­ ten: von häus­licher Revolte und verwegenem Ehebruch, von leidenschaft­lichen Geliebten

und berauschenden Frauen, die ‚vor sexueller Energie strotzen‘, ‚barbarisch, gefähr­lich und

aufregend‘ waren und wenig Ähn­lichkeit mit ihnen selbst, den tugendhaften und phleg­

matischen Frauen des 19. Jahrhunderts, erkennen ließen.“ (Honegger/Heintz 1984, 24)12

In ­diesem Sinne lassen sich die Konsumexzesse von Madame Bovary als Form eines weib­lichen Widerstands gegenüber ehe­lichen Pflichten, familiären Ansprü­ chen und Anforderungen deuten.13 Dabei ist Madame Bovary keineswegs Opfer der freigesetzten transgressiven Energien. Im Gegenteil, sie nutzt diese Energien, um die Differenz ­zwischen Literatur (Imagina­tion) und Leben (Alltag) offensiv zu vertiefen. Damit kann sie sich über weite Teile des Romans nicht nur dem Zugriff der Familie auf ihre Person entziehen, sondern sie unterläuft zugleich auch die zeitgenös­sischen, sonderanthropolo­gisch 14 fundierten Geschlechtszu­ schreibungen hinsicht­lich Frauen. 12 Honegger/Heintz beziehen sich hierbei auf einen Aufsatz von Elaine Showalter (1981). 13 Auf den Aspekt weib­licher Widerstandsformen qua Konsum wird im Zusammenhang mit der Kleptomanie in Kapitel 5.4 ausführ­lich eingegangen. 14 Zur weib­lichen Sonderanthropologie vgl. Kapitel 5.2.

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2.  Imagina­tion und Identität Schaut man sich die Dinge an, die Madame Bovary kauft bzw. die ihr von L ­ heureux angeboten werden, so sind das „écharpes algériennes“, „aiguilles a­ nglaises“, „une paire de pantoufles en paille“, „coquetiers en coco, ciselés à jour par des forçats“, „une robe en cachemire“, „citrons“, „un prie-­Dieu gothique“, „cold-­cream“, „patchouli“ und ein „écrans chinois“ (Flaubert 2001, 164, 188, 261, 385). Das Potenzial die­ ser Waren als Stimuli eines intensivierten Gefühlslebens wird konnotativ über ihre Namensgebung, ihre materiellen Eigenschaften und/oder die Angabe ihrer Herkunft erzeugt. Der konsumistische Hedonismus von Madame Bovary wird also von einer Welt der Waren flankiert, die mehr als Wert- und Gebrauchsge­ genstände sein wollen. Bereits im 18. Jahrhundert setzt auf breiter Front ein Prozess ein, in dem die tatsäch­liche oder vermeint­liche Herkunft von Waren als Werbeeffekt eingesetzt wird. Dies betrifft besonders den Handel mit Luxusgütern wie Schmuck, Par­ füm oder Stoffen, deren exotische Herkunft vielfach in die Warenbezeichnung integriert wird. So berichtet Ludwig Börne in seinen Schilderungen aus Paris (1824) über die Industrieausstellung im Louvre, einem frühen Vorläufer der spä­ teren Weltausstellungen: „Treten wir jetzt in den Bazar des Parfums des Herrn Mayer. Dort schimmert’s wie in

einem Feenmärchen; es ist zum blind werden! […] Junge Mädchen, die sich nicht gern

den Kopf anstrengen, können im Bazar des Herrn Mayer in weniger als einer Viertel­

stunde auf die angenehmste Weise die Geographie erlernen. Sie finden dort: Huile de

Macassar, Poudre de Ceylon, Fluide de Java, Esprit de Portugal, Savon de Valence, Vinaigre

de Malte, Huile de Cachemire, Graisse d’Ours de Canade, Rouge de Chine, Sachet de Perse,

Bol de Chypre, Poudre de Florence, Poudre de Palma, und noch viele andere Dinge aus

Europa, Amerika und Asien. Schade, daß Herr Mayer keine Produkte von den Süd­ seeinseln und von Afrika hat […] – an Absatz würde es ihm nicht fehlen, und seine

geographische Belehrung würde hierdurch vollständiger werden.“ (Börne 1964, 183 f.)15

15 Wenige Jahre ­später wird Honoré de Balzac in seinem Roman Histoire de la Grandeur et de la Décadence de César Birotteau (1838) ausführ­lich die Werbestrategien schildern, mit denen die Hauptfigur des Romans zum führenden Parfümeriehändler und -hersteller in Paris, ­später in ganz Mitteleuropa aufsteigt. Auch Birotteau setzt wie Herr Mayer bei der Namensgebung seiner Produkte auf die diskursive Verschränkung von Luxus, Orient und Weib­lichkeit.

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Ähn­liches gilt für die Benennung von exklusiven Stoffen wie Musselin, Chif­ fon, Atlas, Satin, Damast 16, Crêpe de Chine und andere Seiden, die bevorzugt für die Anfertigung von Damenmode verwendet werden,17 sowie für viele seit dem 18. Jahrhundert in der Textilproduk­tion gebräuch­liche Farben, etwa Puter­ rot, Nankeen, Pompadour oder Preußisch Blau: „Diese Farben sind Beispiele dafür, wie ein starker visueller Stimulus […] mit sprach­lichen Kategorien kom­ biniert wurde und so durch die Anspielung auf fremde und unbekannte Orte die Imagina­tion anregte.“ (Illouz 2011, 84 f.) Mit der von Warenhäusern forcierten enormen Ausweitung und Diversifizie­ rung des Warenangebots verändert sich Ende des 19. Jahrhunderts die Situa­tion grundlegend. Nun versucht man weit stärker die „Konsumentenimagina­tion“18 selbst zu steuern. Die sprach­lichen Kategorien, die bei der Benennung von 16 Musselin, benannt nach Mossul am Tigris, Chiffon, von arab. schiff = durchsichtiger Stoff, Atlas, von arab. atlas = glatt; Satin, von arab. atlas zairtuni = glattes Gewebe aus Tsia-­toung (arab. Zaytûn), einem chine­sischen Ausfuhrhafen, Damast, benannt nach Damaskus (arab. dimašq) in Syrien. In der Benennung der Stoffe wird ein seit der Antike gepflegter Orient-­Stereotyp ökonomisch verwertet, der den Ursprung von exklusiven Luxusgütern und Genussmitteln im Nahen und Fernen Osten verortet. Vgl. Lindemann 2007. 17 Vgl. folgende Passage in Zolas Au Bonheur des Dames: „À la soie, la foule était aussi venue. […] C’était, au fond du hall, autour d’une des colonnettes de fonte qui soutenaient le vitrage, comme un ruissellement d’étoffe, une nappe bouillonnée tombant de haut et s’élargissant jusqu’au parquet. Des satins clairs et des soies tendres jaillissaient d’abord: les satins à la reine, les satins renaissance, aux tons nacrés d’eau de source; les soies légères aux transpa­ rences de cristal, vert Nil, ciel indien, rose de mai, bleu Danube. Puis, venaient des tissus plus forts, les satins merveilleux, les soies duchesse, teintes chaudes, roulant à flots grossis. Et, en bas, ainsi que dans une vasque, dormaient les étoffes lourdes, les armures façonnées, les damas, les brocarts, les soies perlées et lamées, au milieu d’un lit profond de velours, tous les velours, noirs, blancs, de couleur, frappés à fond de soie ou de satin, creusant avec leurs taches mouvantes un lac immobile […].“ (Zola 1964, 487) Auch in Rachildes Monsieur de la Nouveauté heißt es in einer Szene, in der eine Inventur geschildert wird: „[O]n se criait les uns aux autres des numéros et des noms d’étoffes, noms étranges, qui contrastaient d’une manière risible avec les comptoirs: des Pékins, des Américaines, des Cachemiriennes, des Anglaises, des Kalmoukes, etc., etc. Les principales na­tions de l’univers représentées par les plus modestes tissus.“ (Rachilde 1880, 245 f.) Vgl. die Geschäftsankündigung eines neuen Magasins de Nouveautés in Auguste Luchets Les Magasins de Paris (1834): Hier stammen alle angepriesenen Stoffe aus dem Nahen oder Fernen Osten. Vgl. Luchet 1834, 246 f. 18 Laut Illouz habe die „Konsumentenimagina­tion sowohl eine kognitive als auch eine appe­ titive Dimension […]. Sie ist kognitiv, weil sie durch kulturelle Szenarien des ‚gelungenen Lebens‘ in Gang gebracht; und sie ist appetitiv, weil sie auf Wünsche: das Begehren nach Waren, Personen oder Lebensformen zielt.“ (Illouz 2011, 78).

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Waren eingesetzt werden, beruhen nicht mehr nur (wie bei Madame Bovary) auf einem exotistischen Eskapismus, sondern sind eingebettet in umfassende kulturelle Narrative, die auf ein differenziertes Wissen über verschiedene ­soziale und/oder kulturelle Identitäten rekurrieren. Im Katalog des Waren­ hauses Wertheim aus dem Jahre 1903/04 findet sich eine für diesen Zusam­ menhang interessante Übersicht über Hemdkragen. Was bei den eingangs genannten Luxusgütern mit einer haptischen und/oder optischen Erfahrung verknüpft ist, ­welche die tatsäch­liche oder nur zugeschriebene Exotik der Waren erfahrbar machen soll, ist bei den Hemdkragen ins Assoziative ver­ schoben. „Mekka“ oder „Kiel“? Auf den ersten Blick scheinen beide Kragen identisch, auch wenn der Preis einen deut­lichen Unterschied anzeigt. Ähn­ liches gilt für „Toscana“ und „Washington“, die sich nur unwesent­lich in der Höhe zu unterscheiden scheinen. Was in Flauberts Roman angedeutet wird, dass Warenkonsum nicht nur zur Steigerung des individuellen Gefühlslebens eingesetzt werden kann, sondern zugleich eine imaginäre Identität ausgebildet wird, ist bei den Hemdkragen wesent­licher Aspekt der sprach­lichen Benennung: Der Kragen „Lord“ verspricht eng­lischen Adel, „Cambridge“ und „Oxford“ verheißen akademische Würden, „Washington“, „Kansas“ und „New York“ amerikanischen Lebensstil. Die asso­ ziative Potenz der Eigennamen evoziert passende Kulissen für Tagträume und Phantasien. Hinter den Eigennamen, nicht weniger aber auch hinter vordergrün­ dig neutralen sprach­lichen Bezeichnungen wie „Sport“ oder „Standard“ stehen spezifische kulturelle Praktiken und symbo­lische Zuschreibungen.19 Die Hemd­ kragen bieten imaginäre Identitäten an, die mit den potenziellen Selbstbildern der Konsumenten korrespondieren sollen. Die Dinge, deren Identitätsofferten man akzeptiert, werden Teil der eigenen Identität und drücken diese zugleich aus.20

19 „[V]iele Gebrauchsgüter, die auf dem Markt sind, [werden] als Erfahrungen verkauft […]. Konsumentenkultur ist aber auch deshalb affektgesättigt, weil die Anziehungskraft von Waren vor allem von deren Bedeutungsmög­lichkeiten ausgeht. […] Walter Benjamin hat vor langer Zeit schon darauf hingewiesen, dass die Werbung Traumwelten erschafft, die dem modernen Individuum eine Vielzahl von Identitäten, Suggoraterfahrungen und Emo­tionen anbieten.“ (Illouz 2011, 56) 20 Schon in Henry James’ Roman Portrait of a Lady (1881) wird dieser Aspekt thematisiert: „I’ve a great respect for things! One’s self – for other people – is one’s expression of one’s self; and one’s house, one’s furniture, one’s garments, the books one reads, the company one keeps – these things are all expressive.“ ( James 1998, 223)

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Abb.1  „Hemd-Kragen

und -Manschetten“. Aus: Mode-Katalog Warenhaus A. Wertheim 1903/04 (2000). 2. Nachdr.-Aufl. Hildesheim u. a.: Olms, S. 70 [Ausschnitt]

Die Dinge werden zu Medien des individuellen Selbstausdrucks. In Bezug zur eigenen Individualität und in Abgrenzung zu anderen Individuen gewin­ nen sie eine distinktive Macht, die sich keineswegs nur symbo­lisch verrechnen lässt. Die erworbenen Dinge sagen nicht nur etwas darüber aus, wer oder was jemand ist. Sie können darüber hinaus auch eine davon unabhängige Bedeutung für eigene Individualität entfalten, und diese Bedeutung muss – wie das Beispiel von Madame Bovary zeigt – gerade nicht sichtbar sein. Wolfgang Ullrich schlägt den Begriff Fik­tionswert vor, um den imagina­tiven Wert von Dingen zusätz­lich zum Gebrauchs-, Tausch- und Symbolwert zu kennzeichnen (vgl. Ullrich 2006, 49). Der Fik­tionswert beruht auf den imaginativen Zuschrei­ bungen an die Dinge, w ­ elche die Emo­tionen des Konsumenten intensivieren.

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Erst die Kombina­tion von Symbol- und Fik­tionswert macht die ganze Tragweite dessen sichtbar, was Rachel Bowlby über die moderne Konsumkultur feststellt: Man kauft nicht nur das, was man haben will, sondern auch das, was man sein will (vgl. Bowlby 1985, 32).21 Zu den emo­tionalen Sehnsüchten, zum demonstrativen Konsum, zu den imaginierten Identitäten gesellen sich narzisstische Identitätspro­ jekte, die den im Zentrum des modernen Konsumismus liegenden Hedonismus weiter forcieren. Mit Blick auf diese Identitätsprojekte schreibt Baumann: „Die Hauptattrak­tion des Shopping-­Lebens besteht darin, dass es Neuanfänge und Auferstehungen (Gelegenheiten, ‚neu geboren‘ zu werden) in Hülle und Fülle bietet.“ (Bauman 2009, 67)22 Oder, wie es Benson ausdrückt: „Shopping […] is a way we search for ourselves and our place in the world.“ (Benson 2000a, 502) Das „Shopping-­Leben“ mit seinen „Neuanfängen“ und „Auferstehungen“ kor­ respondiert mit der modernen Verbrauchsökonomie, wie sie paradigmatisch in der Mode zum Ausdruck kommt.23 Der Prozess der virtuellen Abnutzung der 21 Schon in den 1890er Jahren versucht Georges d’Avenel die imaginären Anteile am moder­ nen Konsum zu beschreiben. Im zehnten Teil seiner Artikelserie Le mécanisme de la vie moderne. La soie schreibt er, dass in der Moderne der Konsum von Seide nicht mehr an eine bestimmte Schicht, die Aristokratie, gebunden sei, da man Seide, bedingt durch die neuen Herstellungsverfahren, äußerst günstig herstellen und verkaufen könne. Was Frauen aus nicht-­aristokratischen Schichten an Seide interessiere, so d’Avenel weiter, sei nicht der Stoff selbst, sondern die Idee von Luxus, der sich mit dem Stoff verbinde sowie die dadurch ermög­lichte imaginäre Partizipa­tion an Vergnügungen, die sonst nur den Reichen vorbehalten sind. In der Einleitung zu Le nivellement des jouissances (1913) führt er schließ­ lich aus: „Ainsi le bien-­être matériel, dont je m’occupe ici, n’est pas seulement un sujet bien prosaïque et vulgaire; il semble même assez chimérique, puisque nous constatons que, pour les pauvres comme pour les riches, cette ques­tion de fortune et de dépenses est surtout affaire d‹imagina­tion. […] L’histoire des budgets privés est seule capable de nous éclairer là-­dessus, de montrer si le progrès économique, qui n’égalise pas du tout les ‚fortunes‘, égalise au contraire les ‚jouissances‘ et, par suite, réalise sans violence et sans bruit ce nivellement du connfortable que des législateurs bienfaisants se flattent d’obtenir à coups de bâton.“ (Avenel 1913, 4; Hervoheb. U. ­L.) Da die Grundbedürfnisse in der Gegenwart angesichts des gestiegenen Reichtums befriedigt ­seien, könne das Geld, was übrig sei, in demokrati­ sierten Luxuskonsum investiert werden: „In modern society“, so fasst Rosalind Williams einen zentralen Punkt von d’Avenels Überlegungen zusammen, „technology makes pos­ sible an ‚equaliza­tion of enjoyments‘ without a corresponding ‚equaliza­tion of incomes‘“ (Williams 1982, 99). 22 An anderer Stelle heißt es bei Bauman, moderne Identität sei „kein Geschenk […], son­ dern eine Verurteilung zu lebenslanger harter Arbeit“ (Bauman 2009, 144). 23 Ausführ­lich zum Thema „Mode als Massenware“ und der ihr inhärenten Logik perma­ nenter Erneuerung s. Lindemann 2012.

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Dinge besteht hier nicht nur darin, dass die Dinge ihre symbo­lisch-­distinktiven Merkmale verlieren, sondern ebenfalls darin, dass die Dinge ihren Fik­tions- und damit emo­tionalen Wert einbüßen. Weil im Konsumismus Glück „weniger mit der Befriedigung von Bedürfnissen […] als mit einer ständigen Zunahme und Intensivierung von Wünschen“ korreliert, ist immer schon der „sofortige[] Gebrauch und die baldige Ersetzung der Objekte impliziert, von denen man sich Erfül­ lung erwartet und erhofft.“ (Bauman 2009, 44 f.) Das konsumistische Prinzip der Enttäuschung beruht im Kern auf der Abnutzung des Fik­tionswerts von Din­ gen. Dieser Fik­tionswert ist weit ephemerer und instabiler als der Symbolwert von Dingen und lässt sich kaum im Sinne der klas­sischen Distink­tionstheorien sozial kommunizieren, da er in der Hauptsache auf individuellen Zuschreibun­ gen beruht.24 Zugleich wird von der modernen Reklame früh erkannt, dass sich der Fik­ tionswert von Dingen ökonomisch nutzbar machen lässt, indem man werbetech­ nisch „die Sorge um sich“ zu verstärken und zu vermarkten sucht (vgl. Wegmann 2011, 179 ff.). Diese moderne Sorge um sich meint „vor allem Vorsorge und als ­solche ein gleichermaßen kultivierbares wie kultivierendes Programm, ein Fin­ gieren im Sinne eines ‚Als Ob‘, eine imaginäre Vorwegnahme des Zukünftigen zum Zwecke des Erkenntnisgewinns und der Zurechenbarkeit.“ (Wegmann 2011, 180) Die moderne Werbung verwandle Sorge, so Wegmann weiter, „in das Versprechen auf ein komfortables Leben mit Odol und Persil, Mercedes und Tempo, Aspirin und Allianz“. Sie mache aus Sorge „Komfort, indem sie in einer stabilen Mischung aus Redundanz und Varietät ‚eine Art beste aller mög­lichen Welten mit so viel Ordnung wie nötig und so viel Freiheit wie mög­lich‘25 ver­ heißt.“ (Wegmann 2011, 181) Der Fik­tionswert der Dinge wird durch die moderne Werbung auf eine durch Konsum scheinbar erreichbare Sorgenfreiheit programmiert. Sorgenfreiheit bedeu­ tet – um bei den von Wegmann genannten Produkten zu bleiben – Sauberkeit und Hygiene, unbegrenzte Mobilität, Schmerzfreiheit, Zeitersparnis und Sicherheit. 24 Deswegen liegt aus meiner Sicht eine Fehlinterpreta­tion vor, wenn Böhme „Warenfeti­ sche“ als instabile „Fetische zweiter Ordnung“ bezeichnet (Böhme 2006, 305). So sehr seine Beobachtung in Bezug auf die Mög­lichkeiten und Mechanismen einer Fetischisierung von Dingen zutreffend sind, so sehr geht seine Interpreta­tion an der Logik des Konsu­ mismus vorbei, wenn er den „Mangel“ von Warenfetischen den warenförmigen Dingen selbst zuschreibt und nicht der konsumistischen Praxis. 25 Das Zitat im Zitat stammt aus Luhmann 1996, 94.

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Unschwer ist erkennbar, dass hier Paradiesvorstellungen eine Rolle spielen: ein Leben ohne Krankheit mit unend­lich verfügbarer (weil immer schon eingespar­ ter) Zeit und permanenter (kosmetisch und/oder medizinisch erhaltener) Jugend. Diese Paradiesvorstellungen sind jedoch anderer Art als die, die durch die Viel­ falt eines Warenangebots evoziert werden und sich als Fülle virtueller Op­tionen ausdrücken.26 Was dort auf eine genussvolle Kontingenzerfahrung hin gelesen werden kann, wird in Bezug auf die Selbstsorge in eine konsumistische Praxis der Kontingenzbewältigung transformiert. Anders ausgedrückt: Über die Selbst­ sorge kann das konsumistische Leben im Aufschub mit seiner Kernerfahrung der Enttäuschung selbst ökonomisiert werden, indem es auf eine bedroh­liche, mindestens aber unwägbare Zukunft projiziert wird. Aus den Erfahrungen einer enttäuschenden Vergangenheit heraus „versichert“ man sich gegen die Unwäg­ barkeiten der Zukunft bzw. man versucht ihnen, sei es durch Gesichtscremes oder Lebensversicherungen, „vorzubeugen“.27 Die „Sorge um sich“ erzeugt ein neues (finanzielles) Knappheitsproblem. Eine „Ökonomie, die längst nicht mehr – wie noch die Subsistenzwirtschaft – an konkreten

und end­lichen Bedürfnissen orientiert [ist], sondern sich auf das unabschließbare Spiel

von Angebot und Nachfrage eingelassen hat, [bedarf ] der Sorge aller wirtschaftenden

Subjekte sowohl auf Seiten der Produzenten wie der Konsumenten. […] Die ontolo­ gische Sorge um das Dasein wird dabei gründ­lich ökonomisiert und kann als ­solche

nur durch Arbeit gleichermaßen bewahrt und beseitigt werden – und zwar durch jene

spezifische moderne Variante von Arbeit, die sich als unbegrenzte, endlose Tätigkeit

formiert […]. Arbeit und Sorgen, Geld und Leben sind keine Alternativen, sondern längst gesellschaft­lich korreliert.“ (Wegmann 2011, 180 f.)

Madame Bovary, der Wertheim-­Katalog und Markenprodukte markieren verschiedene Stufen der konsumistischen Praxis der Moderne. Während der 26 Vgl. Kapitel 1.3. 27 Laut Illouz (2011, 55 f.) besteht das „Bedeutungssystem“ des Konsums nur aus „einigen weni­ gen Kernaussagen“. Diese sind: „‚In einem guten Leben sind alle Bedürfnisse befriedigt‘; ‚Freiheit der Auswahl ist ein Grundrecht‘; ‚Jugend und ein wohlgeformter Körper sind dem Alter vorzuziehen‘; ‚Glück ist eine Frage dessen, ob man alles hat, was man braucht‘ etc.“ Das (von Illouz nicht angeführte) Konzept der Selbstsorge macht sofort einsichtig, auf ­welchen Parametern diese Kernaussagen basieren. Zugleich wirken diese generalisie­ renden Kernaussagen normalisierend.

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Konsum von Madame Bovary eskapistisch motiviert ist und der Fik­tionswert der Dinge auf individuellen Zuschreibungen fußt, wird im Wertheim-­Katalog eine systematische Vermarktungsstrategie erkennbar, die auf eine Individualität abzielt, die sich qua Konsum neu erfinden soll.28 Moderne Markenprodukte richten sich schließ­lich auf die konsumistischen Identitätsprojekte aus, die mehr als nur einzelne Aspekte der Person angehen, sondern den veräußer­lichten Lebensstil der ganzen Persön­lichkeit betreffen. So ist es wenig verwunder­lich, dass gerade die Werbung für Markenprodukte auf den Fik­tionswert von Dingen setzt. Erst der Fik­tionswert ermög­licht die Etablierung der Vertrauensfunk­ tion bei Markenprodukten, indem er die mit einem Markenprodukt verknüpf­ ten allgemeinen Vorstellungen und Werte einer individuellen Zuschreibung zugäng­lich macht. Besonders deut­lich wird dieser letzte Aspekt bei ich-­expressiven Gesund­ heits- und Schönheitsprodukten, die mehr als andere Produkte von ihrem Markennamen und den mit d ­ iesem Namen verknüpften Vorstellungen und Werten „leben“ (vgl. Wegmann 2011, 155 ff.).29 In der Moderne sei, so Alois Hahn, „Gesundheit […] wie Wirtschaft, Recht, Wissenschaft oder Liebe eine totalisierende Perspektive“ geworden, „unter der alles und jedes jederzeit zum Thema werden kann.“ (Hahn 2003, 31) Mit Wegmann lässt sich sagen, dass die werbetechnisch massiv betriebene Etablierung von Gesundheits- und Schön­ heitsprodukten seit der Jahrhundertwende maßgeb­lich zur Etablierung die­ ser totalisierenden Gesundheitsperspektive beigetragen hat (vgl. Burhenne 1998, 21 f.). Das moderne Persön­lichkeitskonzept korreliert passgenau mit dieser Totalisierung der Gesundheit und der daraus folgenden, auf Dauer gestellten Selbst- und Fremdbeobachtung und erzeugt ein Set von biohygienischen und

28 Ullrich weist zu Recht darauf hin, dass „Kaufhauskataloge des späten 19. Jahrhunderts bereits für viele Gebrauchsartikel zahlreiche Varianten im Angebot“ haben, doch kämen dabei „erst relativ wenige Unterscheidungskriterien zum Tragen. Vor allem wurde ­zwischen Designs für Männer und für Frauen getrennt, ebenso sahen Dinge für Kinder und Jugend­ liche anders aus als die für Erwachsene. Feinere ­soziale Abstufungen und erst recht Menta­ litätsdifferenzen bildeten sich hingegen nicht ab.“ (Ullrich 2006, 20) Das Fazit, das ­Ullrich zieht, scheint mir zu kurz gefasst: zum einen, weil „feinere ­soziale Abstufungen“ allein schon durch den Preis der Waren ausgedrückt werden können, zum anderen, weil schon in der Benennung der Waren von vornherein auf Mentalitätsdifferenzen angespielt wird. 29 Zu den Hintergründen von Hygiene und Konsum im frühen 20.  Jahrhundert vgl. Thoms 2009.

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bioästhetischen Selbsttechnologien im Rahmen des flexiblen Normalismus (vgl. Maasen 2008; Villa 2008b; Lindemann 2014a).30

3.  Der konsumistische Mög­lichkeitssinn Die kulturelle Praxis, die seit Ende des 19. Jahrhunderts die konsumistischen Praxis mit der imaginativen Intensivierung von Emo­tionen verknüpft, ist das Windowshopping, das im Franzö­sischen plastisch als „lèche-­vitrines“ bezeich­ net wird. Im Windowshopping wird die imaginäre Seite der konsumistischen Praxis veräußer­licht, indem die hedonistische Praxis der Gefühlsintensivierung in den öffent­lichen Raum getragen wird. Das Glas des Schaufensters markiert nicht mehr nur die Grenze ­zwischen Wunsch und Erfüllung, Ding und Symbol, Immanenz und Transzendenz (vgl. Böhme 2006, 287), sondern auch ­zwischen Innen- und Außenwelt, Imagina­tion und Realität. In Margarete Böhmes Roman W. A. G. M. U. S. (1911) heißt es: „Das Versenken in die Pracht der Auslagen verursachte ihr ein phy­sisches Behagen. Sie hätte stundenlang vor jedem Fenster verweilen mögen. Sie ging langsam, sehr langsam. […] Mit allen Poren sog sie die Atmosphäre des Luxus und raffinierter

Lebensgenüsse, die hier wehte, ein. Das Auf- und Abwogen der müssigen, flanieren­ den, flirtenden, kokettierenden, schwatzenden Menge, das undefinierbare Schwirren

der Stimme, das Froufrou-­Geraschel eleganter Frauen, die Lichtflut aus Läden und

Hotels, das alles berauschte sie und ließ sie ihre eigene dürftige Existenz momentan vergessen.“ (Böhme 1911, 149 f.)31

30 Mit dem Begriff „flexibler Normalismus“ beziehe ich mich auf die maßgeb­lich von ­Jürgen Link zu ­diesem Thema initiierten Forschungen. Im Anschluss an Link verstehe ich unter Normalität eine dynamische Kategorie, die aus Prozessen der Normalisierung, d. h. der „Normal-­Machung“ – „Produk­tion und Reproduk­tion von Normalitäten“ – resultiert (Link 2009, 49; vgl. ebd., 357 ff.). „Normalität“ bzw. „Normalisierung“ dient als Modus und Motiv sozialer Selbstregulierung und -kontrolle im Rahmen der sich ab Mitte des 19. Jahrhun­ derts entwickelnden modernen Konsum- und Massengesellschaft. Diese selbstregulierende Funk­tion von „Normalität“ wird bei Link unter dem Stichwort „Normalistische Subjek­ tivierung und Selbst-­Normalisierung/Selbst-­Adjustierung“ zwar ebenfalls behandelt, im Gegensatz zum Fokus dieser Studie aber auf andere Wissens- und Diskursfelder (Psycho­ logie, Medizin, Gender) bezogen (Link 2009, 388 ff.; vgl. ebd., 251 ff.). 31 In einem frühen Zeugnis, in dem das Windowshopping im positiven Sinne als moderne Form des Einkaufs geschildert wird, heißt es: „Das Wort ‚Shopping‘ stellten wir [als

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Doch das Windowshopping ist keineswegs auf Schaufenster beschränkt. Auch Warenhauskataloge und Warenhäuser erlauben, ja forcieren diese Form der kon­ sumistischen Praxis. Das Pariser Bon Marché ist eines der ersten Warenhäuser, das ein Versandgeschäft betreibt. Welchen enormen Umfang d ­ ieses Geschäft im Laufe der Zeit annimmt, lässt sich aus den Katalogversandzahlen und den jähr­ lichen Postsendungen ermessen: Schon 1894 werden von Bon Marché allein für die Wintersaison eineinhalb Millionen Kataloge versendet. Kaum zehn Jahre ­später sind es jähr­lich fast sechzig Millionen Postsendungen, die nicht nur nach Frankreich und Europa, sondern in alle Teile der Welt verschickt werden (vgl. Miller 1981, 61 ff.; dort weitere Daten).32 Die Kataloge bringen das Warenhaus nicht nur vom Zentrum virtuell an die Peripherie, sondern sie vermitteln auch anschau­lich die mit dem Einkauf im Warenhaus verbundenen konsumistischen Praktiken des Windowshoppings: „Unsere Kataloge dürfen nicht eine blosse Aneinanderreihung von Waren und Preisen darstellen, sondern sie müssen Bücher von vielen hundert Seiten mit einer Fülle von

Illustra­tionen sein. Für Leute an kleinen Orten, denen Zerstreuungen fehlen, müssen unsere Kataloge eine sehn­lichst erwartete Abwechslung bedeuten, die sie in Stunden

der Langeweile immer wieder vornehmen, um darin zu blättern, auch wenn sie gar

nicht die Absicht haben, zu kaufen.“ (Köhrer 1909, 31)33

Überschrift] an die Spitze ­dieses Textes. Bis vor kurzem war das Wort in Deutschland so unbekannt wie der Begriff. […] Wenn die New-­Yorker Dame früh Morgens ihren einfa­ chen Haushalt besorgt hat – denn einfacher, weit einfacher als bei uns ist dort selbst der vornehmste Haushalt [zum K­lischee der amerikanischen Hausfrau um 1900 vgl. Kapitel 8.4] –, dann geht sie aus, shopping. Durch die Läden bummeln, durch die großen Magazine wandern heißt das. […] Man kommt in das behag­liche, elegante Magazin wie in einen Club, wie zu einem jour fixe von größerem Reiz und Interesse. Man kommt, ohne kau­ fen zu wollen, ohne auch nur etwas zu brauchen, dennoch geht man sehr oft nicht, ohne gekauft zu haben. Das ist eben das Wesen d ­ ieses shopping: Früher ging man ins Geschäft, wenn man etwas kaufen mußte, jetzt kauft man etwas, weil man gerade im Geschäft ist.“ (Fischer 1899, 148 f.) Zu den negativen Zuschreibungen in Bezug auf das moderne Windowshoppings vgl. die Textzeugnisse in Lindemann 2011. 32 Über andere frühe Warenhäuser bzw. Versandwarenhäuser lässt sich Vergleichbares fest­ stellen. Zu den amerikanischen Warenhäusern vgl. Hendrickson 1979, 205 ff., zu den deut­ schen Spiekermann 1999a, 301 ff. 33 Durch die Mög­lichkeit zum Windowshopping unterscheiden sich Warenhauskataloge signifikant von zeitgenös­sischen Modezeitschriften, deren mediale Struktur nicht zuletzt deswegen eine andere ist, weil sie in der Regel keine Kaufop­tionen bieten, sondern sich auf

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Mehr noch als Kataloge eignet sich der (Innen-)Raum des Warenhauses selbst zum Windowshopping, wobei der warenhausspezifische Kontingenzgenuss als elementarer Teil des konsumistischen Hedonismus lesbar wird. Entscheidend für das Windowshopping im Warenhaus ist der freie Eintritt, was bedeutet, dass man schauen darf, ohne kaufen zu müssen: „Ganz stumpf lebte sie […] in den Tag hinein, stopfte Strümpfe, nähte Hemdenknöpfe

an. Alle Woche ging sie in eine Konditorei, verspeiste genüß­lich einen Mohrenkopf

mit Schlagsahne und las dazu Romanfortsetzungen in den illustrierten Blättern. Ein

andermal stülpte sie plötz­lich ihr einfaches Filzhütchen auf und fuhr mit der Elektri­ schen in ein Warenhaus. Manchmal beschränkte sich ihr Einkauf auf ein Paket Haar­

nadeln für zehn Pfennig, manchmal kaufte sie auch gar nichts. Sie ging nur immer auf

und ab in den breiten, hellen Gängen mit ihren bunten, überladenen Verkaufstischen.

Dann blieb sie wohl mal vor einem Tische stehen, betastete den einen oder anderen

Gegenstand, wog die Schwere eines Stoffes in der Hand ab, fragte wohl auch nach

dem Preis, knüpfte mit der Verkäuferin ein kurzes Gespräch an, berauschte sich an der

Einbildung, daß sie wirk­lich gekommen sei, um Einkäufe zu machen, ließ sich aller­ lei Ware vorzeigen, beriet sich über die Meterzahl, die zu einer Bluse oder zu einem

Gesellschaftskleide erforder­lich wäre […]. Verkäuferinnen umstanden sie, der Rayonchef

wurde herangeholt; alles war mit ihr beschäftigt, das ganze Lager wurde ausgeräumt, vor ihr ausgebreitet. […] Dann fuhr sie [ohne etwas zu kaufen] wieder ganz vergnügt

mit der Elektrischen nach Hause, und es blieb von all der Unruhe und dem Aufsehen, die sie hervorgerufen, noch lange ein angenehm prickelndes Gefühl, das ihr Spannkraft

und Heiterkeit für viele Tage gab.“ (Wohlbrück 1916, 21 f.)34

die bild­liche und beschreibende Darstellung von Mode bzw. modischer Schönheitsideale fokussieren (vgl. Lehnert 1996, 54 ff.). Das Verhältnis von Modezeitschrift und Waren­ hauskatalog lässt sich parallel setzen mit dem Verhältnis von Mode und Konfek­tion (vgl. auch Lindemann 2012). Meines Wissens existiert bislang keine systematische Forschung über Warenhauskataloge, obwohl sie im Rahmen der massenmedialen Durchsetzung der modernen Konsumkultur eine entscheidende Rolle spielen. 34 Vgl. auch den kurzen Dialog z­ wischen zwei Warenhauskundinnen in Emil Klägers Drama Zwischenfall im Warenhaus (1933). Während für die eine das Windowshopping eine genuss­ volle Erfahrung darstellt, löst es bei der anderen negative Gefühle aus: „1. Frau: Oh, müde bin ich […] / 2. Frau: Wir laufen auch jetzt fast drei Stunden herum. / 1. Frau: Nein, vom Anschauen. Mich wenigstens macht das ganz verrückt. Mein Geld war ich in der ersten Viertelstunde los. Dieses Herumgehen! Der Hals wird einem trocken, wenn man das alles sehen muß. Eigent­lich ist es eine Gemeinheit. / 2. Frau: Schon. Aber ich freue mich, dass

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In dieser Szene aus Olga Wohlbrücks Roman Der große Rachen (1916) ist das Warenhaus nicht nur willkommene Abwechslung vom monotonen häus­lichen Alltag, sondern es gewährt eine Aufmerksamkeit, die der weib­lichen Hauptfigur zu Hause bei ihrer Familie nicht zuteilwird. Die Szene zeigt, wie es im Waren­ haus mög­lich ist, das Windowshopping bis unmittelbar vor den eigent­lichen Kaufakt zu treiben, d. h. die Kontingenz des Warenangebotes bis zum Letzten genussvoll auszukosten.35 Bei Wohlbrück wird nicht nur der Fik­tionswert der Dinge zur hedonistischen Emo­tionsintensivierung genutzt, sondern auch die Verkaufssitua­tion selbst. Es geht nicht mehr nur um ein Als-­ob des Besitzens. Auch das Als-­ob des Einkaufens wird zum spielerischen Kitzel. Dabei ist von vornherein einkalkuliert und gewollt, dass durch den simulierten Kauf das finan­ zielle Knappheitsproblem, das für die weib­liche Hauptfigur aus Wohlbrücks Roman zentralen Stellenwert besitzt,36 ebenso elegant wie effektiv umgangen wird, da sie gar nicht vorhat, etwas zu kaufen. Darüber hinaus verlängern Warenhäuser die mit dem Windowshopping ver­ bundene Unverbind­lichkeit über den faktischen Kauf hinaus, indem sie früh ein kulantes Rückgaberecht einführen.37 Bei d ­ iesem Rückgaberecht geht es nicht allein um ein Umtauschrecht, wie es im Einzelhandel der Gegenwart üb­lich ist, sondern um einen Aufschub der Kaufentscheidung. Das in der Szene aus ­Wohlbrücks Roman vorgeführte Als-­ob des Kaufens wird mit dem Rückgaberecht institu­tionalisiert. Demgegenüber wäre für den Modewarenhändler aus Flauberts Roman diese Praxis ökonomisch wenig sinnvoll, weil er Madame Bovary nicht

es das gibt, dass das alles da ist. Vielleicht bekomme ich doch einmal etwas davon.“ (­Kläger 1933, 12) 35 Dies ist deswegen mög­lich, weil das Verkaufspersonal im Rahmen der normativen Meta­ strukturen des Warenhauses (Freund­lichkeit, Zurückhaltung, Zuvorkommenheit usw.) verpflichtet ist, auf alle Wünsche des Kunden einzugehen. In einem Verhaltenskatalog für das Verkaufspersonal des amerikanischen Warenhauses Miller & Rhoads heißt es in ­diesem Sinne: „The customer who is ‚just looking‘ is a welcome guest in our store. It is her privilege to look – our duty to make looking a pleasure.“ (abgedr. in Hendrickson 1979, 332 f.) 36 In der Eingangsszene des Romans stiehlt die weib­liche Hauptfigur in einem Warenhaus wertvolle Spitzen, jedoch nicht, weil sie eine pathologisierbare „Veranlagung“ dazu hätte, sondern weil sie statusorientiert denkt, aber nicht genügend Geld besitzt, um den von ihr gewünschten Status verwirk­lichen zu können (vgl. Wohlbrück 1916, 5 ff.). Dies ist ein Leitmotiv des Romans und führt – ähn­lich wie in Flauberts Madame Bovary – schließ­lich zum sozialen Abstieg der Hauptfigur. 37 Bon Marché ist hier federführend, wo ­dieses Recht ab 1852 gilt. Vgl. Perrot 1994, 62.

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nur Waren verkauft, sondern diese auch durch Kredit finanziert.38 Während bei Flaubert die Bezahlung immer weiter aufgeschoben wird, um weitere Schulden zu ermög­lichen, geht es den Warenhäusern darum, im Rückgaberecht die Kauf­ entscheidung selbst zu virtualisieren, indem die Waren zunächst gewissermaßen „leihweise“ dem Kunden überlassen werden.39 Neben dem Als-­ob-­Einkaufen und dem Rückgaberecht gibt es im Rahmen des Windowshoppings schließ­lich noch eine weitere Praxis, die mit dem Leben im Aufschub als wesent­lichem Element des Konsumismus korrespondiert. Selbst als die weib­liche Hauptfigur in Wohlbrücks Roman durch Pferdewetten 40 zu etwas Geld kommt, gibt sie es erst einmal nicht aus. Im Gegenteil: „Es war köst­lich, an den großen Geschäften der Leipziger Straße entlangzugehen, mit

einer wohlgefüllten kleinen Börse in dem neumodischen Täschchen, und zu überlegen,

was sie zuerst kaufen sollte. Bald reizte sie eine Libertybluse, bald ein eleganter Tee­ tisch – dann wieder ein seidenes Sofakissen oder auch ein schöner Teppich. Mit der goldgefüllten Börse fragte es sich noch einmal so leicht: Was kostet dies, was kostet

das?, ließ sich’s mit noch einmal so leichtem Herzen aus dem Geschäft herausgehen,

ohne etwas erstanden zu haben. ‚Shopping‘ – das Wort hatte ihr schon immer gefallen.

Sie bedauerte nur, daß sie niemand hatte, dem sie sagen konnte: ‚Ich gehe shopping!‘“

(Wohlbrück 1916, 185)

Der simulierte Kauf wird fortgesetzt, obwohl im Gegensatz zu der anderen zitierten Szene kein finanzielles Knappheitsproblem mehr besteht. Schon in Flauberts Roman heißt es, als Madame Bovary durch den Verkauf eines ihrem Mann gehörenden Grundstückes kurzzeitig wieder zu Geld kommt: „Un horizon de fantaisies réalisa­ bles s’ouvrit alors devant Emma.“ (Flaubert 2001, 360) Wolfgang Ullrich berichtet

38 Das heißt, dass die Virtualisierung des Kaufaktes erst dadurch mög­lich wird, dass Waren­ häuser auf dem Barzahlungsprinzip bestehen. Zu den ökonomischen Prinzipien des Waren­ hauses vgl. Kapitel 1.3. 39 Dies wissen einige Kunden auszunutzen. Bei Clara Schreiber heißt es: „Es ist etwas Alltäg­ liches, daß Damen Hüte oder Confec­tionsgegenstände auswählen, sie am nächsten Tage bei einer Fest­lichkeit verwenden und wenige Stunden s­ päter zurücksenden. Es geschieht nicht selten, daß sogar Teppiche und elegante Möbel nach Hause gebracht werden, um gelegent­lich eines Empfangstages zu glänzen und nach demselben in den Bazar zurück­ zuwandern. Man hat nach dieser Richtung hin Unglaub­liches erlebt.“ (Schreiber 1884, 214) 40 Vgl. die Ausführungen zu Kontingenz und Spiel bzw. Spekula­tion in Kapitel 1.3.

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von soziolo­gischen Studien, in denen man die Frage zu beantworten versuchte, warum für viele moderne Menschen Geld zunehmend zum „Selbstzweck“ wird: „Ihnen erscheint es verlockender, ihr Geld zu behalten, als es auszugeben. […] Einige

sparen zwar auch im Hinblick auf Zeiten, in denen sich ihre Einkommenslage ver­ schlechtern könnte, allerdings zeigt sich angesichts von Zukunftsängsten nur umso

deut­licher die Überlegenheit des Geldes als Joker: Wer es besitzt, hält sich alle Mög­

lichkeiten offen; es verheißt mehr Zukunft als ein strahlend-­cleanes, potent inszeniertes

Produkt.“ (Ullrich 2006, 61 f.)

Die Praxis des Windowshoppings ist daher keineswegs nur eine kostengünstige Variante, um mittels imaginären Warenkonsums emo­tionale Stimuli zu generie­ ren. Wenn finanzielle Mittel vorhanden sind und dennoch nichts gekauft wird, wird vielmehr die durch das Windowshopping erzeugte Spannung ­zwischen Gegenwart und Zukunft zur Gefühlsintensivierung genutzt. Eine ­solche Form der konsumistischen Praxis ist nicht nur ad libitum steigerbar, weil stets alles mög­lich bleibt. Sie ist auch in hohem Maße selbstreferenziell, da sie den Kauf­ akt vom Fik­tionswert sogar zu entkoppeln vermag. In d ­ iesem Sinne heißt es bei Schrage über die „konsumistische Disposi­tion“: „Die konsumistische Disposi­tion kann […] als ein Verhältnis bezeichnet werden, das die

Welt weder durch den Bezug auf ­Sitten oder tradi­tionelle Ordnung, noch auf Religion

oder kodifizierte Moralität, noch auf fixierbare anthropolo­gische Bestände oder Bedürf­

nislagen, noch auf eine Autonomie des Ästhetischen hin erschließt. Konsumismus ist

ein Weltverhältnis, für das die Aneignung von Konsumobjekten einerseits im Kontext

einer situativ bestimmten, immanenten [also auf die Zukunft ausgerichteten] Glücks­ erwartung geschieht […] [sowie] andererseits auf einen Konsumgütermarkt bezogen

[ist], der als Erfahrungsraum und Erwartungshorizont fungiert.“ (Schrage 2009a, 126)

In ­diesem Kontext muss auch die Antwort auf die Frage gesucht werden, warum Ende des 19. Jahrhunderts Einkaufen zu „woman’s work and woman’s recrea­tion“ (Abelson 1989, 13) wird.41 Teilweise fahren Frauen, wie Elaine S. ­Abelson in ihren 41 Für die deutsche Situa­tion stellt Spiekermann fest, dass „Einkaufen […] in den urbanen Zentren der Jahrhundertwende zur Freizeitbeschäftigung bürger­licher Frauen“ (Spieker­ mann 1999a, 380) wurde.

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Untersuchungen zum Konsumverhalten viktorianischer Frauen feststellt, sogar zwei- bis dreimal täg­lich einkaufen. Schon zeitgenös­sisch wird dies – hier auf die franzö­sische Situa­tion bezogen – äußerst kritisch beobachtet und kommentiert: „Et vous voyez des femmes arriver à un tel point d’engouement […] qu’il leur devient aussi impossible, plus impossible même de se passer de la visite régulière, quotidienne

parfois, au Bon-­Marché, au Louvre ou au Printemps, que de la visite hebdomadaire

à l’église. Pour quelques-­unes on dirait qu’elles remplissent un devoir, tant elles sont

incapables d’y manquer. J’ai connu une jeune femme qui, relevant à peine d’une mala­ die grave, ne voulut pas s’abstenir de son pèlerinage habituel et en mourut. Non pas

qu’elle eût quoi que ce soit à acheter, mais il lui fallait l’atmosphère du grand magasin

et la contempla­tion de toutes ces belles choses.“ (Dubuisson 1902, 42 f.)

Was bei Dubuisson anklingt, dass Frauen so häufig einkaufen gehen, weil sie nach der Atmosphäre und den „schönen Dingen“ im Warenhaus süchtig sind, findet sich in verwandelter Form auch in der späteren Forschung zu den geschlech­ terpolitischen Implika­tionen der Konsumkultur: „Women’s emo­tionality, passi­ vity, and susceptibility to persuasion renders them ideal subjects of an ideology of consump­tion that pervades a society predicted on the commercializa­tion of pleasure“, wobei es zu einer „systematic convergence of capitalist and patriarchal interests in the construc­tion of modern feminity“ (Felski 1995, 62 f.) komme.42 Auch wenn außer Frage steht, dass die frühe Konsumkultur – nicht zuletzt aufgrund der spezifischen Geschlechterrollenverteilung Ende des 19. Jahrhun­ derts – in hohem Maße feminisiert ist, verkennt die bei Felski geschlechterpoli­ tisch zugespitzte Lesart die „sozialen Funk­tionen“, ­welche der konsumistischen Disposi­tion inhärent sind. Obwohl Makropoulos nicht das Warenhaus im Blick hat, wenn er über den massenkulturellen „Mög­lichkeitssinn“ schreibt, lassen sich seine Beobachtungen ohne Weiteres auf den modernen Konsumismus und insbe­ sondere auf das Windowshopping übertragen. Massenkultur sei, so Makropoulos, „eine Kultur, die Kontingenz nicht nur und nicht in erster Linie als Unsicherheit pro­ blematisiert […], sondern als Mög­lichkeitsoffenheit positiviert und damit als Gewinn

menschlicher Freiheit bewertet. Massenkultur ist eine Kultur des ‚Mög­lichkeitssinns‘ […]. 42 Zu den geschlechterpolitischen Implika­tionen der modernen Konsumkulturkritik s. Kapi­ tel 5.

Figuren der Transgression

Es ist ein ‚Mög­lichkeitssinn‘, der im buchstäb­lichen Sinne des Wortes vergesellschaftet

ist und der dennoch ein ‚Mög­lichkeitssinn‘ bleibt – wie trivialisiert und standardisiert auch immer er sich im ‚kulturindustriellen‘ Ausdrucksrepertoire dann verwirk­lichen

mag. Historisch-­transzendente Voraussetzung dieser Kultur der Kontingenz ist […]

die prinzipielle Entgrenzung der individuellen und kollektiven Erwartungen aus ihrer

Bindung an bisherige Erfahrungen bis hin zu ihrer diametralen Entgegensetzung im

modernistischen Selbstbewusstsein des 20. Jahrhunderts. Historisch-­soziale Vorausset­ zung dieser Kultur der Kontingenz ist die Generalisierung und alltäg­liche Etablierung dieser Differenz von Erfahrung und Erwartung als verallgemeinerte oder zumindest

prinzipiell verallgemeinerte Fik­tionalisierung des Selbst- und Weltverhältnisses, die

stets auch andere Mög­lichkeiten der Lebensführung erschließt als die aktuell realisierte.

Diese Fik­tionalisierung schlägt sich vielleicht am deut­lichsten in den modernistischen,

auf Selbstentfaltung und weitgehende Realisierung des Mög­lichen ausgerichtete Dis­

positiven der individuellen und kollektiven Lebensführung nieder, also in jenen ‚Infra­ strukturen‘ des ‚Mög­lichkeitssinns‘, die in den artifiziellen Lebenswelten der etablierten

Moderne objektiviert sind.“ (Makropoulos 2008, 11)

Zu den Infrastrukturen des Mög­lichkeitssinns gehören im Rahmen der moder­ nen Konsumkultur Schaufenster, Warenhauskataloge und die Warenhäuser selbst. Sie habitualisieren die Wahlmög­lichkeit. Jede Kaufentscheidung, ja selbst jede imaginierte Kaufentscheidung trägt, wenn sie frei getroffen ist, dazu bei, Indi­ vidualität und damit Identität auszubilden, und zwar unabhängig davon, wie standardisiert und normalisierend 43 die Produkte sein mögen, die man faktisch oder virtuell erwirbt.44 43 Vgl. Makropoulos 2008, 15: „Massenkultur ist auf ­diesem Hintergrund nicht nur in dem Sinne eine Kontingenzkultur, dass sie den ‚Mög­lichkeitssinn‘ generalisiert, sondern auch in dem Sinne, daß sie diesen generalisierten ‚Mög­lichkeitssinn‘ von vorneherein norma­ lisiert, indem sie seine Ereignishaftigkeit strukturell begrenzt. Genauer: Es gibt keinen generalisierten ‚Mög­lichkeitssinn‘ ohne dessen gleichzeitige Normalisierung, und eine nachdisziplinäre ‚Normalisierungsgesellschaft‘ im Sinne von Michel Foucault ist vielleicht tatsäch­lich die allgemeine ­soziale Form einer positiven Kontingenzkultur.“ 44 Bei Campbell heißt es in ­diesem Sinne: „The answer to the ques­tion ‚Who Am I?‘ will still include such basic definers as gender, race, na­tionality, ethnicity and religion. But what I would like to suggest is that these identifiers do no more than ‚frame‘ the parameters of who we consider ourselves to be. […] [T]he ‚real me‘ […] is to be found in our special mix or combina­tion of tastes. This is where we are most likely to feel that our uniqueness as individuals – our individuality – actually resides.“ (Campbell 2004, 31; vgl. Abrams 1997,

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Was bei Madame Bovary vor dem Hintergrund ihrer Schuldenspirale nega­ tiv konnotiert ist, lässt sich vor dem Hintergrund des konsumistischen Mög­ lichkeitssinns positiv lesen: Das Leben im Aufschub wird begleitet von einem Leben als Entwurf: Vor der Enttäuschung als Kernerfahrung des modernen Konsumismus steht die Wahl, gleichgültig wie imaginär oder unrealistisch die alternativen Lebensstile und -mög­lichkeiten sein mögen. Der Kontingenzgenuss im Warenhaus folgt dieser Logik des konsumistischen Mög­lichkeitssinns, wobei die konsumistischen Praktiken als Medien „einer selbsttätig betriebenen und stei­ gerbaren Selbstentfaltung“ (Schrage 2009a, 128) dienen können, zumal mit Blick auf die starren Geschlechterrollenverhältnisse im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Das Shopping und insbesondere das Windowshopping stellen ein vielschichtiges Repertoire unterschied­licher Formen der Selbsterfahrung und Selbstentfaltung zur Verfügung (vgl. Illouz 2011, 64 ff.). Dieses Repertoire darf weder einseitig auf die konsumistischen Praktiken der Gefühlsintensivierung, Zerstreuung oder Aufmerksamkeitsgenerierung noch auf eine bloße Distink­tions- oder Begeh­ rensarithmetik reduziert werden.45 Mit Illouz muss der Konsum vielmehr als „kulturelles System“ begriffen werden, „das durch den gleichzeitigen Einsatz von Bildern, Metaphern und Konzepten sowie durch eine gewaltige Mobilisierung des Körpers gekennzeichnet ist.“ (Illouz 2011, 55)

4.  Liebe als Konsum Wenn Glückserwartungen an Konsumwelten geknüpft werden, ist es kaum verwunder­lich, wenn Literatur Liebesnächte, ja selbst Hochzeitsreisen in Waren­ häusern stattfinden lässt. In Sigfrid Siwertz’ Roman Das große Warenhaus (Orig. Det stora Varehuset, 1926) wird ein Liebespärchen aus armen Verhältnissen versehent­ lich für eine Nacht in ein Warenhaus eingeschlossen.46 In der Nacht taucht das 268) Campbell vermerkt, dass die von ihm beschriebenen Prozesse „postmodern“ ­seien, während sich frühere Genera­tionen vor allem über Status oder Posi­tion definiert hätten (vgl. Campbell 2004, 32). Mir scheint demgegenüber, dass schon Madame Bovary den Gegen­ beweis antritt und dass die beschriebenen Prozesse eine weit längere Vorgeschichte haben. 45 Zur Kritik des Begehrensbegriffs der modernen konsumgeschicht­lichen Forschung vgl. Illouz 2011, 51 ff. 46 Das Liebespärchen feiert während der Nacht symbo­lisch Hochzeit (vgl. Siwertz 1928, 14). Der semantische Konnex ­zwischen Warenhaus und Liebesgemach ist im Übrigen seit Zolas Au Bonheur de Dames fester Bestandteil der Warenhaus-­Topik. Bei Zola heißt es über das

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Pärchen ganz ins virtuelle Warenparadies ein und nutzt die Mög­lichkeiten, die ­dieses bietet.47 So glück­lich die Liebesnacht ausgeht, nicht nur weil der Chef des Warenhauses das Liebespärchen am nächsten Morgen ungeschoren gehen lässt, sondern weil während der Nacht in einem „Renaissancebett für fünftausend ­Kronen“ ein Kind gezeugt wird, so tra­gisch endet die Geschichte: Der Mann stirbt im Krieg und die Frau erkrankt schwer, noch bevor das Kind geboren wird.48 Als die Frau bei der Geburt des Kindes stirbt, entscheidet man sich im Waren­ haus dazu, das Neugeborene aufzunehmen. Hierbei spielen reklametechnische Überlegungen eine entscheidende Rolle: „[D]ann wird die Geschichte von dem Kind des ganzen Warenhauses bekannt, und das Damenpublikum wird gerührt und kommt hierher und ruiniert seine Männer mit noch besserem Gewissen als bisher.“ (Siwertz 1928, 103) An die Eltern der toten ­Mutter zahlt man „eintausend Kronen“: „Dieser Wert wurde jedes Jahr mit allen Kosten angeschrieben, die die

Seidenrayon während der Weißwarenausstellung: „Le rayon des soieries était comme une grande chambre d’amour, drapée de blanc par un caprice d’amoureuse à la nudité de neige, voulant lutter de blancheur. Toutes les pâleurs laiteuses d’un corps adoré se retrouvaient-­là, depuis le velours des reins, jusqu’à la soie fine des cuisses et au satin luisant de la gorge. Des pièces de velours étaient tendues entre les colonnes, des soies et des satins se détachaient, sur ce fond de blanc crémeux, en draperies d’un blanc de métal et de porcelaine; et il y avait encore, retombant en arceaux, des poults de soie et des siciliennes à gros grain, des foulards et des surahs légers, qui allaient du blanc alourdi d’une blonde de Norvège au blanc trans­ parent, chauffé de soleil, d’une rousse d’Italie ou d’Espagne.“ (Zola 1964, 784, Hervorheb. U. ­L.) Angesichts dieser und zahlreicher ähn­licher Passagen bei Zola stellt sich die Frage, ob die weitläufigen und metaphorisch hochartifiziellen Beschreibungen in Au Bonheur des Dames einzig den damals gängigen opulenten Dekora­tionsformen der Warenhäuser geschuldet sind oder ob es sich nicht um Ausgestaltungen von Konsumentenimagina­ tionen im Sinne der Infrastrukturen des Mög­lichen handelt. Wenn Letzteres zuträfe, trüge Zolas Roman – denkt man an seine Rezep­tionsgeschichte – selbst einen Beitrag zu den sich immer weiter ausdifferenzierenden Praktiken des modernen Konsumismus bei. 47 So kleidet sich die Frau in ein „flordünnes, weißes Seidenkleid mit der schönsten Silber­ stickerei“ (Siwertz 1928, 13): „Und als sie nun an eins der großen Fenster trat, wo bald ein weißer, bald ein roter Schimmer von der Lichtreklame des Hauses gegenüber auf ihre nackten Schultern fiel, da war sie so schön, daß Alfred sich niederwarf und seinen Kopf gegen ihren Schoß preßte und vor Liebe schluchzte.“ (Siwertz 1928, 14) Vgl. die berühmte Warenhausszene in Chaplins Film Modern Times (1936). 48 Unmittelbar nach der Liebesnacht wird die Geschichte vom Warenhaus für Reklamezwecke vermarktet: „Vielleicht kommen dann mehr Leute in die Möbelabteilung“ (Siwertz 1928, 22 f.). Auch wenn man das „Hochzeitsbett“ nicht verkaufen kann, wird es bald zu einem „romantischen Wallfahrtsort“ (Siwertz 1928, 63).

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Firma bezahlen mußte, so daß der Junge auf diese Weise wirk­lich das Kind des ganzen Warenhauses wurde.“ (Siwertz 1928, 105) Was Siwertz ohne jede ironische Brechung oder weitergehende Reflexion schildert, wird in der Revue Es liegt in der Luft (1928) von Marcellus Schiffer vielfach satirisch gebrochen. Hier vergisst ein Ehepaar während des Einkaufs im Warenhaus die Zwillinge Peter und Petersilie, die schließ­lich im Fundbüro abge­ geben werden. Da die Eltern die Kinder nicht abholen, werden sie im Warenhaus großgezogen und zu „Reklamekindern“ (Schiffer 1928, 16) ausgebildet. Als die Zwillinge erwachsen sind, heiratet der Junge ein ehemaliges Mannequin, seine Schwester einen Abteilungsleiter aus dem Warenhaus. Auch die Hochzeits­ reise findet im Warenhaus statt, denn die Zwillinge haben sich verpflichtet, das Warenhaus niemals zu verlassen: „Wir machen unsere Hochzeitsreise durch sämt­liche fremdländische Abteilungen des Warenhauses: Japanlager, Chinaabteilung, Indienlager, rus­sisches kommunistisches Kunstgewerbe …“ (Schiffer 1928, 46)49

Eva Illouz hat in Consuming the Romantic Utopia (1997) den Versuch unternommen, das Konzept der romantischen Liebe unter den Bedingungen der modernen kapi­ talistischen Konsum- und Massengesellschaft zu analysieren. Einerseits versucht sie die Rolle zu klären, die „das kulturelle Motiv der romantischen Paarbeziehung bei der Entstehung von Massenmärkten für den Konsum“ spielt. Andererseits geht sie der Frage nach, wie sich „romantische Praktiken in die ökonomischen Praktiken des Marktes“ (Illouz 2003, 28) einfügen. Romantische Liebe versteht Illouz als „Utopie der Überschreitung“50, wie Axel Honneth in der Einleitung zur deutschen Übersetzung ihres Buches ausführt:

49 Vgl. die Bemerkung aus Rosso di San Secondos Bei Wertheim, wo ebenfalls ein Hoch­ zeitspaar eine Reise im Warenhaus macht: „Die Herrschaften haben meine Überzeugung bestätigt, dass die Kunst die Natur ersetzt. Eine Hochzeitsreise in einem Kaufhaus wie ­diesem ist etwas, das man sich vor zwanzig Jahren nicht vorstellen konnte.“ (Rosso di San Secondo 1997, 36 f.) 50 „An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war die Liebe kein ‚Altar‘ mehr, an dem die Liebenden eine kultische ‚Weihehaltung‘ vollzogen, die man in Begriffe christ­licher Frömmigkeit fasste. Indem sie säkularisiert wurde, nahm die Liebesbeziehung die Eigen­ schaften des Rituals an: Sie schöpfte zunehmend aus ­Themen und Bildern, die einen temporären Zugang zu einer machtvollen kollektiven Utopie von Überfluss, Individualität

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„Orientiert am Prinzip der Verschwendung, ganz auf die symbiotische Verschmelzung

mit dem Anderen ausgerichtet, verspricht die [romantische] Liebe Befreiung aus einer sozialen Welt, die zunehmend von marktförmigen, ‚kalten‘ Beziehungen beherrscht

ist […].“ (Honneth 2003, IX)

Auf ­dieses Konzept greift der moderne Kapitalismus mit seinen Konsumwel­ ten zu, indem er laut Illouz nicht nur eine „Romantisierung der Waren“ for­ ciere, sondern auch eine „Verding­lichung der romantischen Liebe“ (Illouz 2003, 28). „Romanti­sierung der Waren“ heißt, dass sich Warenwerbung seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend auf Werte und Vorstellungen fokussiert, die mit dem roman­tischen Liebesideal kompatibel sind (vgl. Illouz 2003, 38 ff.).51 „Verding­ lichung der romantischen Liebe“ bedeutet, dass sich Liebespaare über den Kauf bestimmter Produkte oder Dienstleistungen aus den „Fesseln des Alltags“ zu befreien versuchen, um sich symbo­lisch in den Zustand eines intensivierten Liebesgefühls zu versetzen.52 Dies soll über bestimmte „Freizeittechnologien“ (Illouz 2003, 28) erreicht werden: einerseits durch den Kauf von Luxus- oder Lifestyleprodukten sowie andererseits über den Konsum von kommerziellen Freizeitvergnügungen wie Kino, Restaurant, Tanzlokal oder Reisen. Romanti­ sche Treffen werden „in zeit­liche, räum­liche und künst­liche Grenzen eingebun­ den, die durch die Freizeittechnologien und -formen“ bestimmt sind und von „mächtigen Industrien“ (Illouz 2003, 52; vgl. ebd., 16 ff.) wie der Kinoindustrie

und schöpferischer Selbsterfüllung boten, und diese utopischen Bedeutungen erfuhr man mittels des zyk­lischen Vollzugs von Konsumritualen“ (Illouz 2003, 10). 51 Illouz fasst diese Werte und Vorstellungen im Anschluss an eine Studie von Kathy Peiss über Anzeigenbilder aus dem frühen 20. Jahrhundert wie folgt zusammen: „Fast immer und ganz unabhängig davon, ob das beworbene Produkt nun ein Shampoo, eine Seife, eine Gesichtscreme, ein Parfum oder Kleidung war, zeigen diese Anzeigen ein Paar in inniger Umarmung, der Mann trägt einen Smoking, die Frau ein Abendkleid und Per­ lenschmuck […]. Opulenz und sanfte Erotik waren Teil des neuen Modells einer ‚heißen‘ Liebe, das von den Werbetreibenden benutzt wurde, um massenhaft produzierte Konsum­ güter an den Kunden zu bringen.“ (Illouz 2003, 39) 52 Romantische Liebe wird daher in der Moderne Illouz zufolge als Gegenpol zur kapita­ listischen Zweckra­tionalität verstanden. In ­diesem Sinne werde romantische Liebe „eher irra­tional als ra­tional, eher uneigennützig als gewinnorientiert, eher organisch als utilita­ ristisch, eher privat als öffent­lich“ aufgefasst: „Kurz: romantische Liebe scheint sich den gängigen Kategorien zu entziehen, mit denen sich der Kapitalismus beschreiben lässt.“ (Illouz 2003, 2 f.)

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angeboten werden.53 Geld binde daher die moderne Liebesbeziehung über „viel­ fältige und oftmals unsichtbare Konsumakte an den Markt“ (Illouz 2003, 61).54 Die paradoxe Konsequenz ist, dass die romantische Liebe, die sich im Sinne einer „Utopie der Überschreitung“ der kapitalistischen Arbeits-, Lebens- und Konsumlogik zu entziehen sucht, nur noch in der modernen Konsumwelt Orte findet, wo sie „zu sich selbst“ kommen kann.55 Eine zweite Paradoxie, die sich in die moderne romantische Liebeskonzep­tion mit dem Konsum von kommerziellen Freizeittechnologien einschreibt, resultiert aus der Überblendung von Intimität und Öffent­lichkeit, Individualität und Masse sowie Freiheit und Zwang. Hierbei war die Vorstellung, dass „die Liebe ein Ideal darstellte, […] alles andere als neu; schon in der viktorianischen Gesellschaft galt sie als höchster Wert […]. Neu waren nicht die Empfindungen an

sich, sondern die zunehmende Sichtbarkeit romantischen Verhaltens wie […] Küssen

in der Öffent­lichkeit, oftmals opulent und glamourös dargestellt durch die kollektiven

53 Zur für diesen Zusammenhang zentralen kulturellen Technik des Rendezvous als einer neuen Form der Partnerschaftsanbahnung seit Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. ebenfalls Illouz 2003, 51 ff. Früh kritisch kommentiert hat die Ausbreitung der Freizeittechnologien im 20. Jahrhundert Kracauer. In Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino (1927) schreibt er: „Die Tanzbars bleiben an Zahl und Bedeutung hinter den ­Kirchen früherer Jahrhun­ derte nicht zurück. Kein Film ohne Tanzbar, kein Smoking ohne Geld. Sonst zögen die Damen die Hosen nicht an und aus. Der Betrieb heißt Erotik, die Beschäftigung mit ihr Leben. Das Leben ist eine Erfindung der Bemittelten, denen die Unbemittelten nach bes­ tem Unvermögen nacheifern. […] Mit Hilfe ihres Geldes gelingt es ihnen, die Existenz, für die sie tagsüber schuften, während ihrer freien Zeit zu vergessen. Sie leben. Sie kaufen sich ein Amüsement, das dem Denkorgan zu verduften erlaubt, weil es die anderen Organe voll beansprucht. Der Staat müßte den Barbesuch subven­tionieren, machte er nicht an sich schon Freude.“ (Kracauer 1977, 284 f.) 54 In dieser Verbindung von Geld und Liebe zeigt sich beispielhaft, dass Geld nicht nur Spei­ cher-, Bewertungs- und Tauschmittel ist, sondern auch als Kommunika­tionsmedium dient. Schon Niklas Luhmann hat auf diese kommunikativen Funk­tionen des Geldes hingewiesen. Zum einen dient es nach Luhmann als symbo­lisch generalisiertes Kommunika­tionsmedium des Wirtschaftssystems. Zum anderen ist es Medium der Kommunika­tion beim Tausch selbst (vgl. Luhmann 1994b, 230 u. 256). Letzteres gilt für den Konsum romantischer Liebe: Wenn der Mann die Frau zum Kino einlädt, kommuniziert Geld Zuneigung qua Konsum. 55 Bereits in Hans Falladas Roman Kleiner Mann – was nun? (1932) klagt die Hauptfigur: „Alles, was einen freut, kostet Geld, wenn du bloß ein bißchen ins Grüne willst, her mit dem Geld! Wenn du ein bißchen Musik hören willst, Geld her! Alles kostet Geld, gibt es gar nicht, ohne Geld.“ (Fallada 2004, 230)

Figuren der Transgression

und allgegenwärtigen Massenmedien […]. [Dies] verwandelte […] das alte roman­

tische Ideal in eine ‚visuelle Utopie‘, die Elemente des amerikanischen Traums (von

Überfluss und Selbstvertrauen) mit romantischer Fantasie verband.“ (Illouz 2003, 35)

Die Szene aus Siwertz’ Roman und die Hochzeitsreise der Reklamekinder aus Es liegt in der Luft veranschau­lichen die von Illouz skizzierten Paradoxien auf bei­ spielhafte Weise. Und auch in Madame Bovary wird die konsumistische Verschrän­ kung von romantischer Liebe und Warenkonsum bereits vorgeführt. Obwohl die Geschenke an die Liebhaber, das Hotel in Rouen oder das Geld, das Madame Bovary für Kleider oder Schönheitspflege ausgibt,56 kaum als Freizeittechnolo­ gien modernen Zuschnitts bezeichnet werden können, findet sich bei Flaubert gleichwohl in nuce jene „Romantisierung der Waren“ und „Verding­lichung der romantischen Liebe“, von der Illouz spricht. Dabei dient Madame Bovary nicht nur der Warenkonsum, sondern auch die romantische Liebe dazu, die „Defini­ tion des Selbst“ (Illouz 2003, 41) zu verstärken. Auch für Madame Bovary ist die romantische Liebe eine hedonistische Utopie der Überschreitung, wiewohl diese (noch) nicht unter der Perspektive einer umfassenden Ökonomisierung aller Lebenssphären qua Konsum wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts steht.

5.  Konsumkultur und Fik­tionalisierung In Campbells Studie über die Anfänge der Konsumkultur im 18. Jahrhundert wird ebenfalls das Verhältnis z­ wischen Warenkonsum und romantischer Liebe thematisiert. Mit Blick auf den modernen Hedonismus und Konsumismus sind aus Campbells Sicht jedoch nicht allein Warenkonsum und romantische Liebeskonzep­tion miteinander verschränkt, sondern auch Mode und das seit dem 18. Jahrhundert immer weiter zunehmende Literaturinteresse. Das romantische Liebesideal stellt das Streben nach einem höchsten Ideal emo­tionaler Authen­ tizität in den Mittelpunkt, das, gerade weil es kaum je erreichbar ist, zu einer enormen Intensivierung des Gefühlslebens sowohl im positiven wie im negativen Sinne führt.57 Der sich Mitte des 18. Jahrhunderts durchsetzende regelmäßige 56 S. ­Anm. 4 sowie Anm. 7. 57 Außer an Madame Bovary wäre in d ­ iesem Zusammenhang auch an andere Texte seit Mitte des 18. Jahrhunderts zu denken; eines der prominentesten Beispiele ist zweifellos Goethes Die Leiden des jungen Werther (1774).

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Figuren der Transgression

Modewechsel korrespondiert mit dem konsumistischen Streben nach immer neuen Stimuli.58 Drittens präsentiert die im Laufe des 18. Jahrhunderts zuneh­ mende Popularität des Romans dem Lesepublikum nicht nur immer wieder neue exotische Settings, sondern übt es auch im imaginativen und emo­tionalen Nachvollzug alternativer Identitäten und Lebensentwürfe. Alle drei Bereiche sind in dem Bestreben verbunden, Authentizität und Individualität 59 auszudrü­ cken bzw. erlebbar zu machen. Diese Bereiche stellen somit kulturelle Praktiken bereit, die nicht nur für den im modernen Konsumismus typischen Umgang mit Dingen als Stimuli eines intensivierten Gefühlslebens zentral sind. Sie forcieren andererseits das in den konsumistischen Praktiken wesent­liche Moment einer proleptisch ausgerichteten Fik­tionalisierung der eigenen Existenz. Wolfgang Ullrich geht sogar soweit, von einer „Kultur der Fik­tionalisierung“ als Folge des modernen Konsumismus zu sprechen. Die moderne Kultur sei gerade nicht „materialistisch“, bringe sie doch „Dinge hervor, die vor allem in Phantasien und als Sinnstiftung eine Rolle spielen“ (Ullrich 2006, 30). Nicht zuletzt vor ­diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Verbindungslinien z­ wischen Literatur, Mode, Warenkonsum und romantischer Liebe als unterschied­liche Ausformungen von Utopien der Überschreitung nicht weitreichender und engmaschiger sind, als es die Forschung bisher herausgearbeitet hat. Hierbei zeigt schon die Ana­ lyse von Flauberts Roman, dass Waren- und Literaturkonsum, Mode und Liebe zwar nicht dieselben, jedoch komplementäre (hedonistische) Funk­tionen erfüllen können. Nicht weniger gilt dies für Wohlbrücks Roman, wenn ein „Mohrenkopf mit Schlagsahne“, also gastronomischer Luxuskonsum, Romanlektüre, vermut­ lich von Liebesromanen, und Shopping in einem Atemzug genannt werden.60

58 Zur Mode vgl. Lindemann 2012. 59 „Lange vor dem besitzgierigen Individualismus des kommerziellen und industriellen Kapi­ talismus feierte die romantische Liebe den mora­lischen Individualismus, einen Wert, der im Weltbild des industriellen Kapitalismus eine überragende Rolle spielt“ (Illouz 2003, 11). 60 Vgl. das Zitat aus Wohlbrücks Roman in Abschnitt 3.

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Kapitel 5

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1.  Ansteckung und Exzess 1816 funk­tioniert John Trotter, der als Lieferant der eng­lischen Armee während der Napoleonischen Kriege zu Geld gekommen war, sein früheres Lagerhaus am Londoner Soho Square in einen, wie er es nennt, „Bazaar“ um.1 Dieser Bazaar dient dazu, eng­lischen Witwen und Waisen der Napoleonischen Kriege ein regelmäßiges Einkommen zu sichern, indem sie dort von ihnen in Hand­ arbeit gefertigte Waren verkaufen können. Trotter verfolgt mit seinem Projekt nicht ausschließ­lich altruistische Ziele, da die Gebühren, w ­ elche die Witwen und Waisen täg­lich für ihre Stände zu entrichten haben, in seine eigene Tasche fließen. Das wirtschaft­liche Konzept hinter dem London Bazaar könnte man als Mischform aus Wohltätigkeitsveranstaltung, Jahrmarkt und gewerb­lichem Klein­ handel beschreiben. Trotters Bazaar besteht bis 1889. Das Konzept ist so erfolg­ reich, dass im selben Jahr in London noch weitere solcher Basare ihre Pforten öffnen. Wenige Jahre ­später, 1823, findet man einen ähn­lichen bazar auch in Paris. Wie Gary Dyer gezeigt hat, entzündet sich am London Bazaar eine scharf geführte Diskussion, die das Selbstverständnis der bürger­lichen Klasse Englands mit ihren mora­lischen und kulturellen Werten verhandelt: „This bazaar […] evoked images that the upper- or middle-­class English observer ­feared – Eastern exoticism (in the name ‚bazaar‘), the marketplace, middle-­class women going into business […].“ (Dyer 1991, 196 f.; vgl. Gordon 1998, 36 ff.)

Vor allem der letzte Aspekt, dass Frauen, die sich zu dieser Zeit in einer pri­ vaten, d. h. nicht-­öffent­lichen, häus­lichen Sphäre aufhalten, öffent­lich Handel treiben, ist ein permanenter Skandal des London Bazaars. Trotz der strengen Verhaltensregeln, auf dessen strikte Einhaltung Trotter achtet, um die Reputa­ tion und mora­lische Seriosität seiner Einrichtung zu verbürgen, ist sein Bazaar 1 Die Informa­tionen über den London Bazaar verdanke ich im Wesent­lichen Dyer 1991; vgl. Lysack 2005.

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über Jahrzehnte hinweg publizistischen Angriffen ausgesetzt, wobei der ambiva­ lente Konnex z­ wischen bürger­lichem Wunsch nach und Angst vor Exotik einen Angelpunkt der Diskussion darstellt.2 Edward Said und andere Forscher in seiner Nachfolge haben eindrück­lich zeigen können, wie der Orient, zumal im 19. Jahrhundert, auf einige wenige diskursive Zuschreibungen reduziert wird, die sich um die Konstruk­tion eines von Europa radikal unterschiedenen Anderen bemühen, das zugleich als nega­ tive Folie der politischen, militärischen, kulturellen und mora­lischen Überlegen­ heit Europas dient. Der Orient wird als exzentrisch, rückwärtsgewandt, sinn­lich und passiv beschrieben – mit einer Tendenz zum Despotismus; der Orientale wird als feminin, schwach und nachgiebig charakterisiert und ist in besonderem Maße sinn­lichen Genüssen ergeben (vgl. Said 1978). Der Basar als Bestandteil der orienta­lischen Kultur bringt zusätz­lich einen ökonomischen Aspekt ins Spiel, der die ihr zugeschriebene Sinn­lichkeit (opulenter Schmuck, exotische Düfte, kostbare Kleidung und Teppiche, dienstbare Sklavinnen usw.) als käuf­lich bzw. verkäuf­lich hinstellt. In d ­ iesem Kontext bewegt sich die bürger­liche, das heißt vor allem die männ­ liche Kritik am London Bazaar. Dort würden nicht nur die strikten Grenzen ­zwischen öffent­lich und privat bzw. häus­lich sowie ­zwischen aktiver Männ­lichkeit und passiver Weib­lichkeit unterlaufen, sondern es herrsche überdies ein spezi­ fisch weib­liches Moment des Sinn­lichen und Lustvollen vor. Im London Bazaar verdichten sich auf diese Weise Ökonomie, Orientalismus und Weib­lichkeit zu einem explosiven Gemisch. Explosiv wird d ­ ieses Gemisch dadurch, dass die diskursiv längst miteinander verschränkten Bereiche des Orients und der Weib­ lichkeit um den spezifisch männ­lich konnotierten Bereich des Ökonomischen ergänzt werden. Durch die Verbindung von Weib­lichkeit und Ökonomie drohen sich zwei zentrale Weib­lichkeitsnarrative des 19. Jahrhunderts zu vermengen: das der Hausfrau und ­Mutter auf der einen Seite und das der Prostituierten auf der anderen.3 Der London Bazaar würde – so der oft wiederholte Vorwurf – nicht allein einer der elter­lichen Kontrolle entzogenen Eheanbahnung des weib­lichen Nachwuchses dienen,4 sondern gleichermaßen die halbwelt­lichen Aktivitäten 2 Zur Rolle des Exotismus bei der Warenwerbung des 19. Jahrhunderts vgl. Kapitel 4.1. 3 Zu diesen Weib­lichkeitsnarrativen vgl. auch Kapitel 6. 4 Dieses K­lischee wird auch in der späteren Kritik am Warenhaus angeführt. So heißt es etwa bei Dehn (1899, 35): „Für eine junge Dame […] könne man dort die ganze Ausstattung

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des weib­lichen Verkaufspersonals befördern (vgl. Dyer 1991, 197, 209; Gordon 1998, 2 ff.).5 Diese Vorgeschichte zu den späteren Warenhäusern wäre im Grunde ver­ nachlässigenswert, wenn sie nicht wichtige Merkmale der diskursiven Konstella­ tion der Warenhauskritik um 1900 aufweisen würde. Im Unterschied zu den Diskussionen um den London Bazaar weitet die Warenhauskritik die Per­ spektive jedoch auf die Konsumentinnen selbst aus, die, so die oft geäußerte Befürchtung, den männ­lichen „Konsumauftrag“ nicht nur immer selbständi­ ger, sondern zunehmend auch eigenwilliger interpretierten. Die Gründe dafür, dass es zu diesen eigenwilligen Interpreta­tionen kommt, werden nicht zuletzt in den räum­lichen und institu­tionellen Bedingungen der Warenhäuser gesucht, die transgressive (Kauf-)Exzesse nicht allein zu fördern, sondern allererst zu ermög­lichen scheinen. Ein wichtiger Aspekt ist die durch Warenhäuser gezielt geförderte Vermen­ gung und Vermischung unterschied­lichster sozialer Gruppen: „Eine seltsame Mischung von Angehörigen aller Bevölkerungsschichten presste sich gegen die Glasfassaden und die schlanken Eisenpfeiler, die z­ wischen den Fenstern

emporstrebten. Elegant gekleidete Damen und Herren, die die Neugierde hergeführt

hatte, oder die sich verpflichtet fühlten, bei allem Neuen und Sensa­tionellen dabei

zu sein, drängten sich durcheinander mit höchst zweifelhaften Elementen […]. Gut gekleidete Angehörige des Mittelstandes fieberten mit Arbeiterfrauen um die Wette

vor Aufregung, ob es ihnen wohl gelingen werde, einen der ausgesetzten Preise zu erhalten.“ (Köhrer 1909, 47 f.; vgl. Zola 1964, 618)

kaufen. Nur den dazu gehörigen Mann müsse man sich anderweitig beschaffen. Mit der Zeit könnte ja auch d ­ iesem Mangel abgeholfen werden. Gelegenheit zu Stelldicheins bietet dieser Großbazar in seinen Restaura­tionsräumen, denn die zuständige Behörde hat ihm auch eine Schankkonzession verliehen.“ Bei Clara Schreiber heißt es schon früher: „Müde und erschöpft hat man in dem Lesesaal [des Warenhauses] gerastet, der den Käu­ fern zur Verfügung steht. Auf dem Tische liegen in Prachtbänden die neuesten Jahrgänge von allerlei Modeblättern und Kostümbilder. [...] Hier besorgt der Ehemann die Corres­ pondenz, während seine Frau in den Schätzen wühlt; von hier flattert manch heim­liches Liebeswort, manch verbotenes Briefchen hinaus. Die Dame ist nirgends so sorglos und unbeachtet wie hier.“ (Schreiber 1884, 212 f.; vgl. Miller 1981, 192) 5 Der Prostitu­tionsverdacht gegenüber weib­lichem Verkaufspersonal lebt auch in der spä­ teren Antiwarenhauspropaganda weiter. Ausführ­lich dazu in Kapitel 6.2.

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Die Umweltoffenheit des Warenhauses wird in die Gefahr sozialer Transgression übersetzt (vgl. Spiekermann 2013, 43 f.). Durch die Nivellierung schichtspezifi­ scher Merkmale werden daher nicht nur die Mechanismen sozialer Distink­tion im Sinne gruppeninterner Abschottung außer Kraft gesetzt, so dass „höchst zweifelhafte Elemente“ kriminellen Zugriff auf sozial höhergestellte Schichten erhalten. Diese Nivellierung führt gleichfalls dazu, dass das Warenhauspublikum über Klassengrenzen hinweg emo­tional gleichgerichtet wird: „Frauen jeden [sic] Alters und jeden [sic] Standes, Frauen jedes Temperaments und jedes Aeussern, sie alle flatterten flüsternd und kreischend, begehrend und verlangend

um die köst­lichen Gebilde, die ein feiner Geschäftssinn, unterstützt von einem oft

mehr kecken als auserlesenen Geschmack, an dieser Stelle [des Warenhauses] aufge­

häuft hatte.“ (Köhrer 1909, 85)

Schon Walter Benjamin hat darauf hingewiesen, dass mit der „Gründung der Warenhäuser […] die Konsumenten sich als Masse“ zu fühlen beginnen: „Damit steigert sich das circen­sische und schaustückhafte Element des Handels ganz außerordent­lich.“ (Benjamin 1983, 93) Vor dem Hintergrund des skizzierten Gefährdungsszenarios gewinnt Benjamins Feststellung noch eine andere Pointe, denn das „circen­sische und schaustückhafte Element“ kann in plötz­liche Massen­ exzesse umschlagen.6 In Rupert Hughes’ Roman Miss 318 (1911) heißt es über das Warenhauspublikum während des Weihnachtsverkaufs: „The whole store’s that way. The whole town’s one big lunatic asylum. Every December the whole woild [sic] goes bughouse. […] the festival of the tender [is] a saturnalia of riot, cruelty, ostenta­tion and waste.“ (Hughes 1911, 69; vgl. ebd., 64 ff.)7

6 „Das Warenhaus als Ort […] des freien Zugangs ohne Klassenschranken und der festge­ setzten, für alle Kunden gleichen Preise wurde gleichsam als Katalysator betrachtet, der aus dem Publikum im Bestfall ‚Durchschnittsmenschen‘, häufiger noch eine negativ kon­ notierte ‚Masse‘ machte.“ (Lamberty 2000, 76) 7 Vgl. folgende Passage aus Köhrers Roman: „Wie ein Erdwall, der die vordringenden Mee­ resfluten aufhält, zieht sich eine schwarze Mauer um das strahlende Licht des ‚Warenhaus Berlin‘. Seit einer Stunde stehen die Leute und weichen nicht vom Platze.“ (Köhrer 1909, 47) Oder die Beschreibung bei Göhre (1907, 7): „Vor uns flutet die Masse der Menschen und Wagen dahin, rastlos, ununterbrochen […]. Links und rechts der bewegte Strom flankiert von den Riesenbäumen auf grünem Rasen, die ruhevoll ihre mächtig gewölbten Kronen über die kleinen Menschen und ihre Gefährte recken.“

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Obwohl in Böhmes W. A. G. M. U. S. die Bild­lichkeit nicht so drastisch ist wie bei Hughes, wird auch hier das enorme Gefahrenpotenzial der Menschenmenge im Warenhaus spürbar: „Im Warenhause war der Verkehr unterdessen in der letzten Viertelstunde vor Torschluß

noch gestiegen; wie ein einzige kochende Hochflut von dunklen Menschenleibern

wälzte sich der unruhige Strom ­zwischen den Verkaufsständen; die merkwürdigen

undefinierbaren, umrißlosen Geräusche in der Luft erinnerten jetzt an das ferne dro­ hende Brüllen hungriger Raubtiere.“ (Böhme 1911, 89)8

Neben der temporären Wirkung emo­tionaler Gleichschaltung befürchtet man als Folge der sozialen Nivellierung im Warenhaus zudem Langzeitwirkungen. Insbesondere bei Frauen wird die Gefahr gesehen, entweder zur Trinkerin oder zur Prostituierten zu werden (vgl. Lancaster 1995, 68 f.), wobei sich die in der Menschenmenge ledig­lich temporär vollzogenen „reziproken Nachahmungs­ akte“9 in dauerhaft wirksame „Ansteckungsprozesse“ verwandeln, ­welche die mora­lische Gesundheit der Warenhausbesucherinnen nachhaltig zu untergra­ ben drohen.

2.  Konsum und Weib­lichkeit 10 Wenn um 1900 über das Warenhauspublikum gesprochen wird, dann ist damit vor allem das weib­liche gemeint. Das Warenhaus gilt zeitgenös­sisch als „Verlän­ gerung des frauengemäßen Privatraumes“ (Lamberty 2000, 39), ja als weib­liche 8 In Armin T. ­Wegners expressionistischem Gedicht Das Warenhaus (1917) heißt es ent­ sprechend: „Verstrickt in das Dickicht der endlosen Räume, / Wachsend die Ströme der Menschen steigen. / Durch kreisende Schleusen gezogen / Schluckt seinen Atem das gewaltige Haus, / Menschen auf Menschenwogen / und speit sie zurück, auf die Straße hinaus.“ (Wegner 1973, 11) 9 Die frühe Massenpsychologie erklärt diesen Prozess damit, dass in der „Auflaufmasse […] auf Grund der körper­lichen Nähe emo­tional verstärkte und beschleunigte reziproke Nach­ ahmungsakte“ (Gamper 2007, 411) stattfänden. 10 Mit Eva Siegel gehe ich davon aus, dass sich die Anthropologie der Geschlechter nicht allein als historisch erweist, sondern auch historisch verfasst ist: „Jede Annahme von Indi­ zien geschlecht­licher Identität unterliegt damit selbst in gewisser Weise Formen der kul­ turellen Konstruk­tion. Wissenselemente, die eine Ineinssetzung biolo­gischer und symbo­ lischer Ordnungsmodelle bedingen, scheinen in besonderem Maße über eine diskursive

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Zone schlechthin.11 Dass das Warenhaus zu dieser Zone avancieren kann, ist der Neucodierung der Geschlechterrollen im Rahmen der Entstehung der modernen Konsum- und Massengesellschaft geschuldet: „The growth of mass consump­tion, urbaniza­tion, and defini­tions of women’s place in public life overlapped and influenced one another. The shifting reac­tions toward the

Universal Provider and his customers provides a glimpse at how gender restructu­ red the economy and how the economy redefined gender in late Victorian London.“

(­Rappaport 1996, 61; vgl. Lancaster 1995, 171 ff.)12

Was Erika Rappaport über die viktorianische Gesellschaft schreibt, gilt nicht weniger für die franzö­sische, amerikanische und deutsche um 1900. In der zwei­ ten Hälfte des 19. Jahrhunderts findet eine forcierte Feminisierung des Kon­ sums statt, die über den strate­gischen Einsatz von eigens auf Frauen ausge­ richteten Produkten und Werbestrategien neue, weib­liche Käuferschichten für das sich immer weiter diversifizierende Warenangebot zu erschließen versucht (vgl. G. König 2000). Mit dem modernen Konsum wird zugleich die moderne Konsumentin mit ihren spezifischen „modes of looking, desiring, and buying“ (­Rappaport 1996, 65) hervorgebracht. Schon in Zolas Vorarbeiten zu Au Bonheur des Dames heißt es: „Si on supprimait le grand magasin, il y aurait une révolu­tion de femmes.“ (Zola 1987, 184). Beispielhaft ist in d ­ iesem Zusammenhang auch das populäre, satirische Langgedicht Nothing to Wear (1857) von William Allen Butler, in dem die konsumistischen Praktiken der weib­lichen Hauptfigur, Flora M’Flimsey, geschildert werden:

Kartographie des Weib­lichen zu verfügen. In dieser Hinsicht stellten die Wissenspraktiken des 19. Jahrhunderts einen Höhepunkt dar.“ (Siegel 2004, 61) 11 Andere (halb-)öffent­liche „Frauenräume“ dieser Zeit sind Wohltätigkeitsvereine sowie das Musik- und Sprechtheater. Vgl. Haupt 1997, 408. 12 „Es gehört zu den weithin gesicherten Ergebnissen der Forschung, daß vor allem um die Mitte des 19. Jahrhunderts Männer und Frauen im öffent­lichen Diskurs unterschied­ lichen gesellschaft­lichen Bereichen zugeordnet wurden. Auch der Konsum hatte Anteil an der dichotomischen Konstruk­tion von Geschlechterrollen. Ebenso wie Männer und Frauen den Sphären öffent­lich und privat, arbeitend und nichtarbeitend, hart und weich zugeordnet wurden, wurden sie auch auf die Bereiche der Produk­tion bzw. des Konsums verteilt.“ (Haupt 1997, 398)

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„Miss Flora M’Flimsey, of Madison Square, Has made three separate journeys to Paris,

And her father assures me, each time she was there,

That she and her friend Mrs. Harris […]

Spent six consecutive weeks without stopping,

In one continuous round of shopping;

Shopping alone, and shopping together,

At all hours of the day, and in all sorts of weather; For all manner of things that a woman can put

On the crown of her head or the sole of her foot,

Or wrap round her shoulders, or fit round her waist, Or that can be sewed on, or pinned on, or laced,

Or tied on with a string, or stitched on with a bow,

In front or behind, above or below:

For bonnets, mantillas, capes, collars, and shawls;

Dresses for breakfasts, and dinners, and balls; Dresses to sit in, and stand in, and walk in;

Dresses to dance in, and flirt in, and talk in; Dresses in which to do nothing at all;

Dresses for winter, spring, summer, and fall […].“ (Butler 1857)

Die Redefini­tion des Weib­lichen im Sinne des konsumistischen Kalküls ist einer­ seits Folge der ab Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Infragestellung der tradi­tionellen Beschränkung von bürger­lichen Frauen auf die häus­liche Sphäre. Aufgrund besserer Haushaltsgerätetechnik, zunehmender Verfügbarkeit von Fer­ tigprodukten sowie der umfassenden Unterstützung seitens des Hauspersonals haben bürger­liche Frauen schlicht mehr Zeit zur Verfügung, als es etwa noch Anfang des Jahrhunderts der Fall war (vgl. Lancaster 1995, 172). Ihre Rolle wandelt sich von der der Hausfrau, die den Großteil der familiär konsumierten Produkte selbst herstellt, zu der einer Konsumexpertin.13 Andererseits besteht ein gewisser „Konsumzwang“ für bürger­liche Frauen, erstens, da sie für die innerfamiliäre Kol­ lektivinszenierung zur Festigung des Familiensinns verantwort­lich sind, sowie

13 Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 8.

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zweitens, weil sie über den kollektiven Konsum wesent­lich zur Repräsenta­tion des sozialen Status der Familie sowohl im Sinne der Selbstdarstellung als auch der Fremdabgrenzung beitragen (vgl. Budde 1997, 418; Haupt 1997, 399).14 Dabei gehörte es zu den „Programmpunkten des bürger­lichen Familienideals im 19. Jahrhundert […] Frauen und

Kinder – in expliziter Abgrenzung sowohl gegenüber den vorhergehenden Genera­tionen

als auch gegenüber den unteren Schichten – zu reinen Konsumenten fern der Produk­

tionssphäre zu erklären. ‚Nur‘-Konsumentin sein zu können, geriet zum Prestige­indiz und zur Defini­tionskomponente der Bürgerfrau.“ (Budde 1997, 412)

Dass das Warenhaus als weib­liche Zone erscheint, hat manche Forscher verleitet, einen emanzipatorischen Faktor in der Etablierung der modernen Konsumsphäre zu sehen (vgl. z. B. ­Spiekermann 1999a, 380). Zu Recht haben andere Forscher darauf hingewiesen, dass die Erfindung der modernen Konsumentin gleichzeitig ein spezifisches Ensemble von regulativen Praktiken und Diskursen hervorbringe (vgl. z. B. ­Felski 1995, 61 ff.; Rappaport 1996; G. ­König 2000; Haupt 2003, 106 f.). Die faktische, vor allem aber diskursiv forcierte Feminisierung des Konsums muss in d ­ iesem Sinne als Bestandteil männ­licher Normalisierungsarbeit weib­lich domi­ nierter „Öffent­lichkeiten“ in der Moderne gelesen werden, die – im Extremfall – bis zur denormalisierenden Pathologisierung des Weib­lichen gehen kann, wobei das Warenhaus als Nährboden und Ort transgressiver Kräfte des Weib­lichen erscheint.15 Was Michael Gamper über die „Masse“ schreibt, kann auch auf das weib­liche Publikum im Warenhaus übertragen werden: Es erscheint als „Unru­ heherd in der Episteme des Menschen“ (Gamper 2007, 18), sprich des Mannes. Schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entsteht im Kontext auf­ klärerischer Zivilisa­tionstheorie eine weib­liche Sonderanthropologie, die den 14 Budde schreibt: „Die Fähigkeit, sich dieser kostspieligen Permanenz des [modischen] Wechsels beugen zu können, gedieh zum Karrierespiegel des Ehemannes. […] Weib­liche Mode mit all ihren Accessoires […] legte Zeugnis ab von der bürger­lichen Ideologie der müßigen Ehefrau. Schleppen, Fransen, Spitzen und Cul de Paris vertrugen sich kaum mit der Arbeit am Waschzuber oder Backofen.“ (Budde 1997, 429; vgl. Lancaster 1995, 172) 15 Ganz ähn­lich, hier allerdings mit konkretem Bezug zur Kleptomanie, argumentiert Gudrun König: „Die Intensität der Zuweisung des Warenhausdiebstahls als weib­liches Delikt diente dabei der Redefini­tion einer dualen Kultur der Geschlechter und restabilisierte somit die brüchigen Konturen dieser Geschlechterdichotomie.“ (G. ­König 2000, 63).

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unterschied­lichen Bemühungen zur Reglementierung des Weib­lichen in der modernen Konsumsphäre in hohem Maße entgegenkommt. Neben der „Frau“ gehören zu ­diesem diskursiven Komplex des „Fremde[n] und Unzugehörige[n] im Lebensraum der [männ­lichen] Erkenntnissubjekte“ (Gamper 2007, 17 f.) auch der „Wahnsinn“, das „Kind“, die „Natur“16 und der eingangs genannte „Orient“. Im Rahmen dieser Sonderanthropologie erfolgt die Bestimmung der Frau „in konsequenter Nega­tion zu der des Mannes“ (Hilmes 1998, 271). Frauen wird ein alo­gischer, amora­lischer, ich- und seelenloser, ungenialer und unsozialer Cha­ rakter zugeschrieben (vgl. Hilmes 1998, 271 f.).17 In Otto Weiningers Geschlecht und Charakter (1903) heißt es paradigmatisch: „Der Sinn des Weibes ist es also, Nicht-­Sinn zu sein. Es repräsentiert das Nichts, den

Gegenpol der Gottheit, die andere Mög­lichkeit im Menschen. […] Und so erklärt

sich auch jene tiefste Furcht im Manne: die Furcht vor dem Weibe, das ist die Furcht

vor der Sinnlosigkeit: das ist die Furcht vor dem lockenden Abgrund des Nichts.“ (­Weininger 1920, 394)18

Im Unterschied zur diskursiven Engführung von Weib­lichkeit und Ökonomie in den Diskussionen um den London Bazaar, wo die wirtschaft­liche Tätigkeit von Frauen mit der mora­lischen Frage nach ihrer Käuf­lichkeit verknüpft wird, werden Weib­lichkeit und Ökonomie in den Debatten um das Warenhaus analog gedacht. Das Warenhaus ist für Frauen nicht allein deswegen gefähr­lich, weil es zur sozia­ len Nivellierung und emo­tionalen Gleichschaltung führt oder zu irra­tionalen 16 „Der Begriff der Natur steht in seiner modernen Fassung im Gegensatz zum Begriff der Humanität, durch den er geschaffen wurde. […] Er ist der Name für das Ziellose und das Bedeutungslose. […] Das Schweigen der Natur und die Beredtheit der Wissenschaft sind durch ein unverbrüch­liches Band reziproker Legitima­tion miteinander verknüpft. Als das Andere des Menschlichen ist das Natür­liche der Gegensatz zum Subjekt des Willens und der Moralität.“ (Bauman 1995, 57). 17 Vgl. die Äußerung der männ­lichen Hauptfigur in Robert Saudeks Roman Dämon Berlin: „In ihnen [den Frauen] lagen immer hundert schlummernde Bewegungsrichtungen und hundert Dinge konnten sie durch den Mann werden. Der Mann machte sie zur Tatsache, ohne Mann blieben sie Mög­lichkeiten.“ (Saudek 1907, 36) 18 Selbst Freud spricht von einer „prinzipielle[n] Scheu“ des Mannes vor der Frau, die „viel­ leicht […] darin begründet [ist], dass das Weib anders ist als der Mann, ewig unverständ­ lich und geheimnisvoll, fremdartig und darum feindselig.“ (Freud 1924, 36) Man vgl. das Zitat in Fußnote 90 aus Diderots Sur les femmes.

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Handlungen verleitet. Es ist vor allem deswegen gefähr­lich, weil die weib­liche Sonderanthropologie der ökonomischen Logik des Warenhauses so ähn­lich ist. In vergleichbarer Weise argumentiert Urs Stäheli in Bezug auf die frühe Börse, wo man Frauen nicht deswegen ausschließt, weil ihnen „die Logik des Marktes fremd wäre“, sondern deswegen, „weil sie dem Markt so ähn­lich sind“ (Stäheli 2007, 277). Hier präsentiert sich die „Beziehung z­ wischen Spekulant und Spekula­ tion […] als heterosexuelle Szene der Verführung“ (Stäheli 2007, 273) mit dem Ergebnis, dass die „Exklusion der Frau von der Posi­tion des Spekulanten […] durch die Feminisierung des Marktes ermög­licht und legitimiert“ (Stäheli 2007, 277 f.; vgl. ebd., 288 ff.) wird. Im Gegensatz dazu inkludiert das Warenhaus das Weib­liche über die Feminisierung des Konsums und lässt die Beziehung von Warenhaus und Weib­lichkeit als einen sich selbst verstärkenden Rückkopp­ lungsprozess erscheinen. Zu w ­ elchen Effekten dies führt, lässt sich beispielhaft an den Semantisierungen der weib­lichen Menschenmenge an Sonderverkaufs­ tagen beobachten (s. Abschnitt 3 ­dieses Kapitels).19 Als würde die analoge Disposi­tion von Warenhaus und Frau nicht schon aus­ reichen, um die „Furcht des Mannes“ vor dem Warenhaus zu schüren, tritt noch ein zweiter Aspekt hinzu. Die eigent­liche Pointe des feminisierten Konsums besteht nicht darin, dass das Warenhaus als Zone des Weib­lichen erscheint, son­ dern darin, dass es die Zone einer male exclusion ist, was sich z. B. daran ablesen lässt, dass in Großbritannien manche Warenhäuser eigene Eingänge für Män­ ner einrichten (vgl. Lancaster 1995, 182).20 Entscheidend in Bezug auf diese male exclusion ist, dass nicht alle Männer ausgeschlossen werden, sondern nur die, die reglementierend bzw. disziplinierend auf die transgressiven Kräfte des Weib­lichen 19 Somit liegt es letzt­lich in der Logik des damaligen ökonomischen Wissens über das Warenhaus, dass ein Warenhausbesitzer wie Mouret in bestimmten Situa­tionen symbo­ lisch zur Frau werden kann (vgl. Schössler 2009, 293 ff.), womit allerdings keineswegs aus­ geschlossen ist, dass er in derselben Szene gleichzeitig als Mann in einer heterosexuellen Verführungsszene erscheint. Die in ihrer geschlecht­lichen Zuschreibungslogik hocham­ bivalente Passage bei Zola lautet: „[D]ans cette volupté molle du crépuscule, au milieu de l’odeur échauffée de leurs épaules, il [Mouret] demeurait quand même leur maître [der um ihn herum sitzenden Frauen], sous le ravissement qu’il affectait. Il était femme, elles se sentaient pénétrées et possédées par ce sens délicat qu’il avait de leur être secret, et elles s’abandonnaient, séduites; tandis que lui, certain dès lors de les avoir à sa merci, apparais­ sait, trônant brutalement au-­dessus d’elles, comme le roi despotique du chiffon.“ (Zola 1964, 468; Hervorheb. U. ­L.) 20 Zur Konstruk­tion eines spezifisch männ­lichen Konsumverhaltens vgl. Kapitel 8.6.

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einwirken könnten. Die anderen, sprich das bis Ende des 19. Jahrhunderts über­ wiegend männ­liche Verkaufspersonal  21, sind gerade nicht daran interessiert, die potenziell transgressiven Kräfte des Weib­lichen einzudämmen.22 Schon bei Zola wird von Verkäufern berichtet, die ihre weib­liche Kundschaft über eine erotisch aufgeladene Intimkommunika­tion zum Warenkauf zu animieren versuchen (vgl. Zola 1964, 483). Hierbei wird die Kaufanbahnung, durchaus vergleichbar mit der Börse, als heterosexuelle Szene der Verführung inszeniert. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass die in einer solchen Szenerie freigesetzten erotischen Ener­ gien von Frauen den Kaufakt selbst als Nebensache erscheinen lassen, um sie wider ihr besseres Wissen zu Käufen zu verleiten. Die heterosexuellen Verführungsszenarien zeigen, dass die genannten geschlech­ terpolitischen Zuschreibungen zu einer Konstruk­tion führen, in der die moderne Konsumentin z­ wischen verführter Unschuld, irra­tionaler Verschwenderin und unproduktiver Müßiggängerin steht (vgl. G. ­König 2000, 50; Felski 1995, 62). Dabei wird die tatsäch­liche oder auch nur imaginierte Abwesenheit der (Ehe-) Männer genutzt, um die weib­liche Sonderanthropologie auf die Bedingungen der modernen Konsumsphäre umzuschreiben. Die eine Seite dieser Umschrift ist die vom medizinisch-­psychiatrischen Diskurs forcierte Pathologisierung des Weib­lichen. Für die moderne Konsumsphäre sind hier die Figuren der Klepto­ manin und Oniomanin maßgebend. Die andere Seite der Umschrift besteht in der Konstruk­tion einer ra­tional, d. h. sparsam und überlegt agierenden Konsumund Geschmacksexpertin.23 Obwohl also das Warenhaus „als öffent­liche Zone einer urbanen Kultur als überwiegend weib­liche Sphäre“ erscheint, zeigt es in diskurspolitischer Hinsicht dennoch „die Verschränkungen von männ­licher und weib­licher Kultur, von öffent­ lichem Konsum und privater Reproduk­tion.“ (G. ­König 2000, 54) Die Abwesen­ heit der Männer im feminisierten Konsum führt gerade nicht zu einer Auflösung der klas­sischen Geschlechterrollen, wie es die eingangs angeführte Emanzipa­ tionsthese nahelegt, sondern es findet vielmehr eine reterritorialisierende Ver­ schiebung statt. Was Gudrun König über die Kleptomanie schreibt, scheint mir 21 Genauere Daten in Kapitel 6.1. 22 Dieses Argument wird ­später von der antisemitischen Propaganda gegen Warenhäuser aufgenommen: Man spricht jüdischen Geschäftsleuten geradezu hypnotische Fähigkeiten zu, wenn sie Frauen zum Kaufen verführen. Vgl. Kapitel 7.2. 23 Zur Konstruk­tion der Konsumexpertin in Abgrenzung zur Verschwenderin vgl. Kapitel 8.

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grundsätz­lich für die beschriebene Konstruk­tion der modernen Konsumentin zu gelten: Sie dient „der Redefini­tion einer dualen Kultur der Geschlechter“ und restabilisiert die im Laufe des 19. Jahrhundert zunehmend „brüchigen Konturen dieser Geschlechterdichotomie“ (G. ­König 2000, 63).

3.  Oniomanie und kollektiver Kaufrausch 24 1909 führt Emil Kraepelin den Terminus „Oniomanie“ (von grch. „óneomai“ = „kaufen“) in die medizinische Psychiatrie ein und bündelt damit etwas in einem Begriff, was schon lange zuvor, mindestens aber seit Zolas romanesker Popula­ risierung, kulturelles Allgemeingut ist. Kraepelin definiert die Oniomanie als „krankhafte Kauflust, die den Kranken veranlasst, sobald sich ihm dazu Gelegenheit bietet, ohne jedes wirk­liche Bedürfnis in großen Mengen einzukaufen, Hunderte von

Halsbinden oder Handschuhen, Dutzende von Anzügen, Hüten, Überröcken, Schmuck­

sachen, Spazierstöcken, Uhren. […] Ich kannte eine Frau, die sich aus verschiede­

nen Geschäften massenhaft Waren kommen ließ, um sie sofort hinter dem Rücken

ihres Mannes zu Schleuderpreisen wieder zu verkaufen, ohne sie auch nur anzusehen.

Obgleich sie sich dadurch den schwersten Unannehm­lichkeiten aussetzte und ihren

Mann wirtschaft­lich zugrunde richtete, war sie doch gänz­lich außerstande, von ihrem

Treiben zu lassen.“ (Kraepelin 1909, 408 f.)

Käufe wie im Rausch ohne Maß und Ziel „hinter dem Rücken“ des Mannes, der dadurch – natür­lich – ruiniert wird. Schon bei Zola heißt es über Madame Marty: „On la connaissait pour sa rage de dépense, sans force devant la tenta­tion, d’une h ­ onnêteté

stricte, incapable de céder à un amant, mais tout de suite lâche et la chair vaincue, devant

le moindre bout de chiffon. Fille d’un petit employé, elle ruinait aujourd’hui son mari,

professeur de cinquième au lycée Bonaparte, qui devait doubler ses six mille francs

d’appointements en courant le cachet, pour suffire au budget sans cesse croissant du

ménage.“ (Zola 1964, 447; Hervorheb. U. ­L.)

24 Eine systematische Analyse des Kaufrauschphänomens aus kulturwissenschaft­licher Per­ spektive bietet Lehnert 2009. Hier wird z­ wischen der Kaufsucht (Oniomanie) als „unkon­ trollierter Unkontrolliertheit“ und dem Kaufrausch als „kontrollierter Unkontrolliertheit“ unterschieden (Lehnert 2009, 256 f.). Vgl. G. ­König 2014.

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Dieser deviante Typus der Konsumentin ist einerseits eine aus dem Ruder gelau­ fene, weib­liche „buying machine“ (Felski 1995, 62). Ihre Käufe sind nicht nur obsessiv und exzessiv, sondern auch vollkommen sinn-­los, was mit Blick auf die zeitgenös­sische weib­liche Sonderanthropologie kaum zu verwundern vermag. Andererseits inkorporiert die Oniomanin in einer konsumistischen Neufassung das Bild der klas­sischen Verschwenderin, die weder ein Verhältnis zum Wert der Dinge hat noch den Wert des durch (harte) Arbeit vom Mann erworbenen Geldes durch Sparsamkeit zu schätzen weiß.25 Der plötz­liche Kontrollverlust der Oniomanin, der sich in einem impul­siven Kaufrausch äußert, steht ganz und gar im Gegensatz zu Madame Bovarys Kon­ sumpraktiken, die einer letzt­lich zweckorientierten, auf Hedonismus ausgerich­ teten Logik des Konsumismus gehorchen. Aus Sicht der damaligen Psycholo­ gie hätte man Madame Bovary wohl kaum als deviant oder anormal eingestuft, höchstens als realitätsfern mit einem – in zeitgenös­sischer Deutung – frauen­ typisch wenig ausgeprägten, ökonomischen Bewusstsein. Dem gegenüber zielt die oniomanische Kaufwut auf instantane Exzesse, in denen jedes ökonomische Kalkül suspendiert wird. Die Oniomanin lässt sich als Verkörperung der expansiven Logik des Waren­ hauses selbst interpretieren. Wie das Warenhaus erscheint sie als eingeschlossenes ausgeschlossenes Drittes, das auf provokante Weise verschwenderische, also der bürger­lichen Arbeits- und Leistungsethik 26 widersprechende Konsumpraktiken mit der weib­lichen Sonderanthropologie als entfesselte „Natur“ verbindet, ohne aber eine im engeren Sinne kriminelle und damit disziplinierbare Angriffsfläche zu bieten. Sie ist nicht nur hinsicht­lich der männ­lichen Sphäre der Produk­tion ein Deterritorialisierungsfaktor, sondern nicht weniger auch in Bezug auf die häus­liche Sphäre des Weib­lichen und deren reproduktiver Logik. Was bei der Oniomanin individuelles Einzelereignis ist und aufs Ganze gerech­ net, nimmt man Psychologen und einzelne ruinierte Ehemänner aus, kaum beachtenswert erscheint, gewinnt bei der Eröffnung neuer Warenhäuser oder bei 25 Vgl. das deviante Kaufverhalten der Witwe des ermordeten amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln, Mary Lincoln, deren „extravagant shopping habits became [nach dem Tod ihres Mannes] so bad that she ran up a bill of $48000 (nearly a million dollars today) at Alexander Stewart’s whereupon her family had her declared insane [im Jahre 1875], insisting they weren’t responsible for her debts.“ (Woodhead 2013, 7) 26 Vgl. hierzu die klas­sische Studie von Max Weber Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05) sowie Baecker 2002.

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Sonderverkaufstagen gefähr­liche Züge. Dann werden nicht nur einzelne, sondern Hunderte von Frauen gleichzeitig in einen sich epidemisch ausbreitenden, kol­ lektiven Kaufrausch versetzt. Schon in Harper’s Weekly vom 31. 10. 1857 berichtet ein männ­licher Beobachter über den Massenandrang von Frauen während eines „bargain sale“ im New Yorker Warenhaus A. ­T. Stewart: „I had to storm chevaux de frise of hoops to reach the counter. The shopping mania is

a disease peculiar to young women which ought to have received more atten­tion than

it has from the faculty. It is a species of absorbing insanity – brief fury, as the Romans

said. […] I advise every man to see his wife at a dry-­goods store before he marries her.“

(An Afternoon among the dry goods 1857, 690)27

Was der amerikanische Berichterstatter mit einer kriegerischen Metaphorik semantisiert, wird in der Literatur oft naturhaft überhöht: „Wie ein Hieb aus tausend Peitschen zugleich, wie das Prasseln der Donner aus zehn gleichzeitigen Gewittern, wie das Heulen des Föhns, der von Bergwäldern hinab in

die Täler stürmt, war ein schriller Lärm [zu hören] […]. Aus tausend Kehlen kam ein

Flüstern und Rufen, ein Raunen und Stammeln, ein Atmen und Stöhnen, das zu einer

gewaltigen Woge emporschwoll und tosend gegen die Sinne der erbleichenden [männ­

lichen] Zuhörer brandete.“ (Köhrer 1909, 49; vgl. Freund 1912, 36)28

Eine weitere Metapher, die der Wasserflut, findet sich, um weib­liche Massen­ exzesse im Warenhaus zu beschreiben, in Hughes’ Miss 318: „[T]he bare announcement in the newspapers of a reduc­tion of a few pennies in [sic]

the usual price of any article was sufficient to bring down all the females in New York

27 Vgl. „Einmal inmitten ­dieses Getümmels und berauscht von der Großartigkeit und dem überall herrschenden Warenüberfluß, erfasst die Menge ein förm­licher toller Sinnentau­ mel, wie mit hypnotischer Gewalt zieht es die auch inner­lich Widerstrebenden an die Verkaufstische.“ (Nickel 1903, 559). 28 Die durch die parataktische Reihung substantivierter Verben nicht-sprach­licher mensch­ licher Äußerungen erzeugte Geräusch-­Klimax wird nicht nur als unbändige Naturgewalt metaphorisiert, sondern in der zweiten Hälfte des Zitats auch als Niederkunft, also als spezifisches Element weib­licher Biologie.

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in one ruinous flood, as if a dam had burst. Every counter became a small Johnstown 29, assailed with frenzied greed, shocking manners and raucous, snarling voices.“ (Hughes

1911, 15; vgl. ebd., 65 f.)30

Was die Frauen im Warenhaus zusammengeführt hat, ist die Aussicht auf kosten­ günstige Angebote, also die Mög­lichkeit, Geld zu sparen. Was dann im Waren­ haus selbst geschieht, ist jedoch bar jeder Vernunft. Eine dritte Metapher, die sich im Zusammenhang mit der im Kaufrausch ent­ fesselten weib­lichen Menschenmenge findet, ist die Metapher der Schlacht, die schon in Au Bonheur des Dames in extenso entfaltet wird. Bei Zola tobt während des Sonderverkaufstages „une bataille du négoce“ (Zola 1964, 491): einerseits als Kampf der Verkäufer untereinander um die beste Provision sowie andererseits mit den einkaufenden Frauen, denen man das Geld aus Tasche zu ziehen hofft (Zola 1964, 491 f.). Als der Sonderverkaufstag zu Ende ist, wird bei Zola das „Schlachtfeld“ des Warenhauses inspiziert: „À l’intérieur, sous le flamboiement des becs de gaz, qui, brûlant dans le crépuscule, avaient éclairé les secousses suprêmes de la vente, c’était comme un champ de bataille

encore chaud du massacre des tissus. Les vendeurs, harassés de fatigue, campaient parmi

la débâcle de leurs casiers et de leurs comptoirs, que paraissait avoir saccagés le souffle

furieux d’un ouragan. […] Mêmes ravages en haut, dans les rayons de l’entresol: les

fourrures jonchaient les parquets, les confec­tions s’amoncelaient comme des ­capotes de soldats mis hors de combat, les dentelles et la lingerie, dépliées, froissées, jetées

au hasard, faisaient songer à un peuple de femmes qui se serait déshabillé là, dans le ­désordre d’un coup de désir […].“ Zola 1964, 499 f.)31

Ob Sturm, Gewitter, Wasserflut oder Schlacht bzw. Orgie – alle Metaphern und Bilder veranschau­lichen nicht allein die enorme Gefahr einer im Kaufrausch 29 Hughes spielt auf einen Dammbruch an, der sich in der Nähe der Stadt Johnstown (Pennsyl­ vania) am 31. 5.1889 ereignete. Die Flut kostete mehr als zweitausend Menschen das Leben. 30 Die Metapher der Flut wird früh zur Beschreibung von Massenphänomenen benutzt. Vgl. Gamper 2007, 255 ff. Schon bei Zola findet sich ebenfalls die Wassermetapher, wenn auch nicht im zugespitzten Sinne als Flut wie bei Hughes: „Une houle compacte de têtes roulait sous les galeries, s’élargissant en fleuve débordé au milieu du hall.“ (Zola 1964, 491) 31 In Vicki Baums Der grosse Ausverkauf (1937) heißt es: „In der Wäscheabteilung tobt eine Frauenschlacht, denn dort ist Dollartag.“ (Baum 1937, 72)

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entfesselten, weib­lichen Menschenmenge im Warenhaus. Sie sind zugleich auch Figuren der Unordnung, des Instabilen, des Überwältigenden, sprich der Trans­ gression, w ­ elche die Semantik eines vor- bzw. außergesellschaft­lichen Ausnah­ mezustands auf die Situa­tion im Warenhaus übertragen.32 Was an der Figur der Oniomanin als krankhaft identifiziert werden kann, ist im Kaufrausch nur eine temporäre Erscheinung: ein Spezialfall spontaner kollektiver weib­licher Devianz. Mag die Frau als Einzelwesen, zumal unter der Kontrolle des Mannes, „normal“ wirken, sobald sie im Warenhaus als „Masse“33 auftritt, überkommt sie nolens volens das „Kauffieber“, das sie „wütend, lüstern und sinnlos“ macht (Saudek 1907, 328; vgl. Köhrer 1909, 108; Schweriner 1912, 7 f., 23 f.). Was die einzelne Frau vielleicht noch verbergen kann, äußert sich in der forcierten Zusammenballung weib­licher Energien im Warenhaus hemmungs­ los als bloße, zerstörerische „Natur“, die sich – natür­lich – wiederum gegen die (Ehe-)Männer richtet: „Ja, hier [im Warenhaus] war der Ort für grausame Verschwörungen gegen die Magen

und Kassen der Männer. Kleine behandschuhte Hände erhoben sich, wie um stille

Gebete und Ermahnungen abzuweisen. Mit heiterem, schimmerndem Lächeln wur­ den die Familienversorger dem Kummer und der Schlaflosigkeit ausgeliefert.“ (Siwertz

1928, 78 f.)

Im Gegensatz zur krankhaften Oniomanie verschwindet die kollektive, sich kon­ tagiös verstärkende Kaufwut bereits am Abend nach dem Sonderverkauf, da sie nur unter bestimmten Bedingungen ausgelöst wird: bei Zusammenführung vieler 32 Mit Simmel könnte man sogar in der modernen urbanen Lebensform selbst einen Grund für die Ausnahmezustände im Warenhaus sehen, denn die „Selbsterhaltung“ des moder­ nen Subjekts „gegenüber der Großstadt [verlangt ihm] ein nicht weniger negatives Ver­ halten sozialer Natur ab. Die geistige Haltung der Großstädter zu einander wird man in formaler Hinsicht als Reserviertheit bezeichnen dürfen […], infolge deren wir jahrelange Hausnachbarn oft nicht einmal von Ansehen kennen und die uns dem Kleinstädter so oft als kalt und gemütlos erscheinen lässt. Ja, wenn ich mich nicht täusche, ist die Innenseite dieser äußeren Reserve nicht nur Gleichgültigkeit, sondern, häufiger als wir es uns zum Bewusstsein bringen, eine leise Aversion, eine gegenseitige Fremdheit und Abstoßung, die in dem Augenblick einer irgendwie veranlassten nahen Berührung sogleich in Hass und Kampf ausschlagen würde.“ (Simmel 1903, 195) 33 Zum diskursiven und kulturgeschicht­lichen Gesamtkomplex der modernen Menschen­ ansammlung als „Masse“ vgl. Michael Gampers Studie Masse lesen, Masse schreiben (2007).

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Frauen an einem Ort mit verlockenden Kaufanreizen, wobei durch den zeit­lich begrenzten Sonderverkauf eine künst­liche Konkurrenzsitua­tion erzeugt wird. Die weib­liche Menschenmenge im Warenhaus unterscheidet sich daher in mehrfacher Hinsicht von den revolu­tionären Massen bzw. den Massen im Auf­ ruhr, anhand derer Ende des 19. Jahrhunderts die Diagnostik und Terminologie der Massenpsychologie entwickelt wird (Gamper 2007, 355 ff.; vgl. Vogl 2008). Während die aufrührerische Masse in politischen Krisen- und Umbruchszei­ ten faktisch verwüstet, zerstört, mordet oder brandschatzt, sind diese Momente im Warenhaus nur in den metaphorischen Zuschreibungen präsent. Tatsäch­ lich kommt es meines Wissens nie zu großen handgreif­lichen Ausschreitungen während der Sonderverkaufstage, auch wenn der Zugang zu den Warenhäusern mitunter von der Polizei geregelt werden muss (vgl. Busch-­Petersen 2004, 27). Im Unterschied zur revolu­tionären Masse veranschau­licht die im Warenhaus versammelte weib­liche Menschenmenge ein zeit­lich eng begrenztes Denormali­ sierungsszenario. Hierbei ist die im kollektiven Kaufrausch befind­liche weib­liche Menschenmenge ein Zwitter: einerseits entfesselt, andererseits aber räum­lich und zeit­lich gebändigt. Was Stäheli über die Börse schreibt, gilt nicht weniger für Warenhäuser: „Auf der Bühne der Börse kann die Gleichzeitigkeit ra­tionaler ökonomischer Subjektivität und ihrer Auflösung beobachtet werden.“ (Stäheli 2007, 115) Schon in der zitierten Passage aus Hughes’ Roman lässt sich diese Ambivalenz beobachten, da hinter dem kollektiven Kaufrausch ein im hohen Maße ra­tiona­ les Kalkül steht: näm­lich durch den Kauf von Sonderangeboten Geld zu sparen. Die weib­liche Menschenmenge im Warenhaus ist eine Inkorpora­tion dessen, was die „Masse“ ohnehin immer schon ist, unabhängig davon, welches biolo­ gische Geschlecht die versammelten Einzelindividuen haben. In Psychologie des foules (1895) schreibt Le Bon der Masse dezidiert feminine Eigenschaften zu und forciert damit den semantischen Konnex z­ wischen Weib­lichkeit (als sozialem Geschlecht) und Menschenmenge (vgl. Gamper 2007, 154 ff.). Es heißt: „Plusieurs caractères spéciaux des foules, tels que l’impulsivité, l’irritabilité, l’incapacité

de raisonner, l’absence de jugement et d’esprit critique, l’exagéra­tion des sentiments, et d’autres encore, sont observables également chez les êtres appartenant à des formes

inférieures d’évolu­tion, comme le sauvage et l’enfant.“ (Le Bon 1895, 24)34

34 Schon bei Denis Diderot in Sur les femmes (1772) heißt es: „Les femmes sont sujettes à une férocité épidémique. L’ exemple d’une seule en entraîne une multitude.“ (Diderot 1875, 257)

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Im Gegensatz zu Frauen in revolu­tionären Massen bewahrt die weib­liche Men­ schenmenge im Warenhaus die „Wildheit“ des Weib­lichen nur metaphorisch auf, so dass Zola mit dem ebenso ehrgeizigen wie skrupellosen Warenhausbesit­ zer Mouret eine Figur erschaffen kann, der es gelingt, diese „Wildheit“ zu zäh­ men, sprich in klingende Münze zu verwandeln. Erst vor d ­ iesem Hintergrund gewinnt Mourets Selbstbeschreibung, dass er keiner Frau gehöre, sie aber alle ihm gehörten,35 Sinn. Er setzt frei, was Frauen – und dies muss aus der damali­ gen Perspektive wört­lich verstanden werden – ohnehin in Fleisch und Blut liegt (vgl. Zola 1964, 460), und nutzt die geschlechterdifferenziell begründete feminine Defizienz ökonomisch aus.36 Metaphorisch zugespitzt wird diese konsumistische Überwältigung der Frau durch Mouret im kannibalistisch-­technizistischen Bild einer „mécanique à manger les femmes“ (Zola 1964, 461). In geschlechterpolitischer Hinsicht fungiert Mouret als personifizierte De­nor­ ma­lisierungs­angst aller (Ehe-)Männer, und zwar weniger im mora­lischen als vielmehr im finanziellen Sinne, weil seine „Verführungskunst“ ins Herz der bürger­lichen Leistungslogik zielt: aufs Geld. Es ist eine Denormalisierung, die bei Zola bis in die exzessiven sprach­lichen Beschreibungen der Warenauslagen durchschlägt. Wenn Mouret als omnipotenter „Verführer“ der Frauen beschrieben wird, werden in einer metonymischen Substitu­tion die komplexen wirtschaft­ lichen und sozialen Prozesse des modernen Massenkonsums auf eine schlichte geschlechterpolitische Asymmetrie projiziert und damit simplifiziert. 37 Wie sehr So nimmt es kaum Wunder, wenn sich Frauen in revolu­tionären Massen „fast immer durch Blutdurst und Grausamkeiten“ (Gamper 2007, 150; vgl. ebd., 368) auszeichnen. Gerade diese zügellose weib­liche Gewalttätigkeit im öffent­lichen Raum ist laut Gamper ein Grund dafür, warum im 19. Jahrhundert die Dichotomisierung von privatem und öffent­lichen Raum als Sphäre des Weib­lichen bzw. des Männ­lichen in geschlechterpolitischer Hinsicht derart vor­ angetrieben wird: „Die Geschichten über die Beteiligung von Frauen an den revolu­tionären Gräuelszenen haben […] bei der anthropolo­gischen Marginalisierung der Frau, bei ihrer Verdrängung aus der öffent­lichen Sphäre Pate gestanden.“ (Gamper 2007, 155) 35 „Toutes [femmes] lui appartenaient, étaient sa chose, et il n’était à aucune.“ (Zola 1964, 462) 36 „Sous la grâce même de sa galanterie, Mouret laissait ainsi passer la brutalité d’un juif vendant de la femme à la livre“ (Zola 1964, 461; Hervorheb. U. ­L.). Was bei Mouret noch symbo­lische Zuschreibung ist, gewinnt im Zuge der antisemitischen Hetzpropaganda der Jahrhundertwende politische Relevanz. Zum Thema Warenhaus und Antisemitismus s. Kapitel 7.2 ff. 37 Vgl. das Theaterstück Purpus (1918) von Wilhelm Stücklen, das die Figur des Warenhaus­ besitzers als Parodie auf Zolas Mouret entwirft. Stücklens Drama macht die simplifizie­ renden K­lischees der damaligen Warenhausliteratur in Bezug auf die Erotisierung des

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Mouret eine die Geschlechterasymmetrien zuspitzende literarische Konstruk­ tion ist, zeigen Zolas Bemerkungen über die erotisch-­sexuelle Komponente des Warenhauses in den Vorarbeiten zu Au Bonheur des Dames: „Maintenant, le côté sexuel nul. Par grande excep­tion, un vendeur peut être fait par une cliente. Mais d’ordinaire rien entre eux. Si une femme plaît, le vendeur sera sans doute

plus zélé. Mais les femmes considèrent le vendeur comme une machine, un rouage, et

il n’est rien autre.“ (Zola 1987, 216)

Doch die weib­liche Menschenmenge im Warenhaus fungiert nicht nur als Projek­tionsfläche männ­licher Denormalisierungsängste, sondern ist auch Objekt männ­licher Allmachtsphantasien. Eindring­lich hat diesen Aspekt Robert Saudek in seinem Roman Dämon Berlin (um 1907) gestaltet. Hier setzt die männ­liche Hauptfigur, Hans Mühlbrecht, alles daran, ein Waren­ haus mittels gezielter Propaganda zum führenden Berlins zu machen. Mühl­ brechts Credo lautet: „Menschen lernen, Menschen verstehen, Menschen auswendig kennen, so restlos, so

ganz, daß man mit ihnen spielen konnte, sie locken, sie höhnen, sie peitschen, peini­ gen, unterjochen, zu unbewußten Sklaven seiner Befehle machen.“ (Saudek 1907, 37)

Dabei geht es Mühlbrecht weniger darum, ein bestimmtes ökonomisches Ziel zu erreichen (dies tritt im Verlauf des Romans zunehmend in den Hintergrund), als vielmehr darum, seine eigenen, an Nietzsches Übermenschvorstellungen ange­ lehnten Machtphantasien zu verwirk­lichen: „Ein Warenhaus […] leiten […], heißt, den Pöbel nicht zu seinem Herrn, sondern zu

seinem Sklaven machen, heißt, Berlin seine Bedürfnisse, seinen Geschmack diktie­

ren […], die Massen in Taumel versetzen […], sie wie eine anonyme, gedankenlose, aus Millionen von Nullen entstandene Masse knechten, heißt, sich zum Imperator des

Geschmacks aufwerfen, das Spiel seiner Phantasie an Millionen erproben, an ihnen

seine Launen und seine Einfälle austoben, im ewigen Erleben aller Sinne abseits stehen

Konsums in satirischer Weise sichtbar. Der Warenhausbesitzer als Verführer der Frauen wird zur lächer­lichen Figur. Vgl. Kapitel 12.2.

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und sich von der Masse Barren Goldes heranschleppen zu lassen, dafür, dass man sie

narrt…“ (Saudek 1907, 89)38

Die männ­liche Denormalisierungsangst angesichts der weib­lichen Menschen­ menge im Warenhaus schlägt an dieser Stelle in die machtvolle Imagina­tion tota­ ler Kontrolle und Disziplinierung um. In dem Moment jedoch, wo Mühlbrecht seinen Traum im größten ökonomischen Erfolg des Warenhauses verwirk­licht hat, verfällt er dem Wahnsinn und verliert genau das, was das Ziel aller seiner Anstrengungen ist: die Kontrolle.39 In dieser Schlussvolte von Saudeks Roman wird die Gefahr vor der im Kaufrausch entfesselten weib­lichen Masse ins Maß­ lose gesteigert. Derjenige, der die transgressiven Kräfte des Weib­lichen freisetzt, ist nicht gegen eine Ansteckung gefeit. Die männ­liche Angst vor Denormalisie­ rung schlägt in eine Denormalisierung des Männ­lichen selbst um. Wenn d ­ ieses Szenario das Schreckensbild ist, das die im Kaufrausch entfesselte weib­liche Masse im Warenhaus auszulösen vermag, bedarf es anderer Mechanismen, die kontrollierbar machen, was offenbar schnell unkontrollierbar wird. Begreift man die Agoraphobie – wört­lich: die Angst vor Marktplätzen – nicht nur als Angst vor einem Auftritt im öffent­lichen Raum, sondern als Angst vor dortigen Menschen­ ansammlungen,40 bietet sie im geschlechterpolitischen Sinne jenen Mechanismus der Kontrolle, der von vornherein verhindert, dass sich Frauen – denn auch die Agoraphobie ist im Wesent­lichen eine Frauenkrankheit 41 – überhaupt zu Massen akkumulieren können. Dabei wird nicht allein der Weg ­zwischen heimischem

38 Auch wenn in beiden Zitaten Frauen nicht ausdrück­lich erwähnt werden, wird das Waren­ haus bei Saudek ebenfalls als weib­liche Zone semantisiert. Vgl. insbesondere die Passage in Saudek 1907, 328. 39 Dies geschieht in einer Szene, in der Mühlbrecht ein Stelldichein mit einer von ihm lang begehrten Tänzerin hat und sich als impotent erweist. In dieser Schlussvolte wird das Warenhaus wiederum an die Figur der male exclusion zurückgebunden. 40 Schon bei Westphal heißt es über einen Agoraphobiefall: „Unerträg­lich ist ihm ferner der Aufenthalt im Theater, in Concertsälen u. dergl., kurz in grösseren Räumen, in w ­ elchen eine grosse Menschenmenge versammelt ist.“ (Westphal 1872, 143) Vgl. Fodor/Epstein 2001, 119. 41 Alexandra Symonds beschreibt in Phobias after Marriage. Woman’s declara­tion of Dependence (1971), wie junge Frauen, die vor ihrer Heirat unabhängig und selbstbewusst waren, nach der Heirat verschiedene Phobien entwickelten, u. a. auch Agoraphobien. Symonds deutet diese Phobien als Reak­tion auf die nach der Heirat eintretende Abhängigkeit vom Ehe­ mann.

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Herd und Warenhaus pathologisiert. Die Agoraphobie ist auch eine Krankheit, die eine Angst vor der Angst impliziert, also die Angst davor, in der Öffent­lichkeit in Panik zu geraten.42 Wie die Oniomanie impliziert die Agoraphobie somit eine Immobilisierung des Weib­lichen. Während die Oniomanin das Haus nicht ver­ lassen darf, um ihren Mann nicht finanziell zu ruinieren, verlässt die agoraphobe Frau aufgrund mög­licher Panik­attacken nicht das Haus und beschränkt sich auf den überschaubaren Bereich der bürger­lichen Kleinfamilie. In d ­ iesem Sinne lassen sich Oniomanie und Agoraphobie als medizinisch-­ psychiatrische Gegenfiguren zur im Kaufrausch entfesselten weib­lichen Masse lesen. Sie fixieren das weib­liche Individuum räum­lich und separieren es von anderen Frauen. Hinter Oniomanie und Agoraphobie erscheint eine geschlech­ terdifferenziell kodierte „domestic ideology“, die das bürger­liche Haus bzw. die bürger­liche Wohnung als Hort des Stabilen und Sicheren ausweist, während der öffent­liche Raum für Verunsicherung und Instabilität steht: „[T]he home as a refuge from commercial life, an antithesis to the masculine marketplace.“ (Brown 1987, 139)

4.  Das leere Signifikat der Kleptomanie Schon 1899 weist Kraepelin in der 6. Auflage von Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studirende und Aerzte auf die Verwandtschaft von Oniomanie und Kleptomanie hin: „In anderen Fällen [von Kleptomanie] richtet sich die Begierde des Einzelnen gerade

auf eine ganz bestimmte Art von Dingen, die ohne erkennbaren Zweck in grossen

Mengen zusammengestohlen werden […]. Wie es scheint, ist diesen Neigungen die krankhafte Kauflust und Sammelwuth nahe verwandt, die sich nicht selten auf ganz

werthlose Dinge erstreckt.“ (Kraepelin 1899, 557; vgl. Briesen 2001, 122)43

Die Beschreibung Kraepelins ist nur eine von vielen, die seit mehr als einhun­ dertfünfzig Jahren zu erklären versuchen, was Kleptomanie ist.44 Mehr noch als 42 Schon Westphal (1872, 145) berichtet davon. Vgl. Fodor/Epstein 2001, 111. 43 Vgl. auch die psychoanalytische Kennzeichnung der Oniomanie als „forme fruste“ der Kleptomanie bei Stekel 1922, 231 ff. 44 Vgl. die umfassende (kultur-)historische Aufarbeitung des Themas Kleptomanie vom frühen 19. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert hinein bei Briesen 2001, 83 ff.

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die Oniomanie scheint die Kleptomanie eine Krankheit zu sein, deren Ursachen man trotz einer langen Forschungstradi­tion nicht zu fassen bekommt.45 Dass die Kleptomanie als „Krankheit“ bis heute medizinisch-­psychiatrische Aufmerk­ samkeit genießt, liegt nicht zuletzt an ihrer Defini­tion. In den Nouvelles recherches sur les maladies de l’Esprit (1816) von André Matthey, in denen die Klepto­ manie (hier noch als „Klopémanie“) erstmals als eigenständiges Krankheitsbild erscheint, heißt es: „Penchant à dérober sans nécessité, sans y être porté par le besoin pressant de la misère, suite d’événemen[t]s fâcheux ou d’une vie déréglée.“ (Matthey 1816, 146)

Nach dieser Defini­tion ist Kleptomanie eine Krankheit, die nicht von äußeren Umständen motiviert ist. Sie kann also weder auf Armut, eine unglück­liche Ver­ kettung von Ereignissen oder ein ausschweifendes Leben zurückgeführt werden. Das heißt, der Diebstahl wird nicht von einer wie auch immer gearteten kriminel­ len Energie getragen und ist daher auch keiner juristischen Ahndung zugäng­lich. Was aber ist dann die Kleptomanie? Mattheys Defini­tion lässt diese Frage unbe­ antwortet. Die Ursache der Kleptomanie erscheint als Leerstelle, die Krankheit

45 In einem Artikel über die Defini­tionen von Kleptomanie seit dem 19. Jahrhundert wer­ den mehr als dreißig verschiedene Ursachen für Kleptomanie gelistet: 1838 führen Marc/ Esquirol Willensschwäche an, 1844 Damerow Depression, Epilepsie und mora­lische Defi­ zite, 1845 Esquirol Hysterie, Epilepsie, Menstrua­tion, geistige Schwäche und Narzissmus, 1880 Lasègue Hirndefekte, Epilepsie und Schwachsinn, 1894 Boissier/Lachaux ererbte geistige Entartung, 1896 Lacassagne die Atmosphäre im Warenhaus, 1902 Dubuisson Hysterie, Hirnschäden und die Atmosphäre im Warenhaus, 1905 Dupouy Hysterie, die Atmosphäre im Warenhaus, sexuelle Gefühle, Menstrua­tion und Menopause, 1907 Gross die Lust am Verbotenen, 1908 Stekel unerfüllte Sexualität, 1911 Janet Depression, 1914 Strasser Kompensa­tion von Minderwertigkeitskomplexen, 1923 Alexander Penisneid und Kastra­tionsangst usw. In der Gegenwart werden als Ursachen für Kleptomanie Essstö­ rungen, Störungen der Impulskontrolle, Zwangsstörungen, Dysfunk­tionen des zentralen Nervensystems oder elter­liche Vernachlässigung genannt (vgl. Fullerton/Punj 2004, 11). Aus medizinhistorischer Sicht lassen sich die angeführten Ursachen leicht auf die jeweils geltenden Leitparadigmen psychiatrischer bzw. psycholo­gischer Forschung zurückführen, die als Stichwortgeber für die Vermutungen zur Ätiologie der Kleptomanie fungierten. Mit Fullerton/Punj kann man daher mit Recht fragen, ob die Kleptomanie eine „reale“ Krankheit ist. So wird die Kleptomanie z. B. ­Ende der 1960er Jahre als Diagnose komplett aus dem einflussreichen Diagnostic Manual der American Psychiatric Associa­tion getilgt (vgl. Fullerton/Punj 2004, 13).

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selbst ohne Signifikat, dem das beobachtete Verhalten zugeschrieben werden oder das es erklären könnte.46 So liegt es in der Logik der Krankheit selbst, dass die Kleptomanie zu einer Krankheit für eine bestimmte ­soziale Schicht – die Gut­ situierten – werden kann. Nur für diese, sozial höhergestellte Schicht ergibt die Kleptomanie als Krankheit überhaupt einen Sinn. Für alle anderen lassen sich leicht Motive für Diebstähle finden. Das heißt, die Kleptomanie ist eine sozial distinktive Krankheit: Sie separiert nicht nur Gesunde von Kranken, sondern auch Arme von Reichen.47 Darüber hinaus ist die Kleptomanie seit der Etablierung der modernen Waren­ häuser Ende des 19. Jahrhunderts in der Hauptsache eine Frauenkrankheit.48 Das liegt nicht nur daran, dass um 1900 die moderne Konsumsphäre eine weib­lich dominierte Zone ist. Es liegt auch daran, dass im Rahmen der weib­lichen Son­ deranthropologie der semantische Konnex ­zwischen Weib­lichkeit und Klepto­ manie etabliert ist, bevor die Krankheit im medizinisch-­psychiatrischen Diskurs in Erscheinung tritt. Bei Weininger findet sich dieser Konnex in beispielloser misogyner Zuspitzung formuliert:

46 In ­diesem leeren Signifikat liegt zweifellos der Grund, warum Mattheys Defini­tion bis in die Gegenwart hinein in wesent­lichen Zügen Geltung besitzen und beanspruchen kann. Vgl. Fullerton/Punj 2004, 14. 47 Schon in Edwin S. ­Porters Film The Kleptomaniac (1905) wird dieser sozial distinktive Aspekt der Kleptomanie dargestellt. Einerseits stiehlt eine junge, wohlhabende, mit einem Banker verheiratete Dame in einem Warenhaus. Andererseits stiehlt eine arme, alleiner­ ziehende Frau Lebensmittel, um ihre Kinder zu ernähren. Die Frauen werden vor densel­ ben Richter gebracht. Während die arme Frau zu Gefängnis verurteilt wird, übergibt man die wohlhabende Frau als Kleptomanin der Fürsorge ihrer Freunde, wobei die Übergabe an ihre Freunde einer Entmündigung ohne juristische Legitima­tion gleichkommt. Vgl. den Roman For Gold or Soul? (1900) von Lurana W. ­Sheldon, wo es an einer Stelle heißt: „‚Perhaps she is a kleptomaniac – you know there are such people.‘ ‚Oh, but they are always rich people, who can afford to pay the judge for letting them off easy!‘ said one of the girls, laughing. ‚When a poor woman steals she’s an out-­and-­out thief; but when a rich woman steals she’s a kleptomaniac.‘“ (Sheldon 1900, 194) In geschlechterpolitischer Lektüre fas­ sen Bernold/Ellmeier diese Differenz wie folgt zusammen: „Psychopathologisierung war die Signatur des den bürger­lichen Frauen zugeschriebenen Phänomens der Kleptomanie, Kriminalisierung war die juridische Antwort für mittellose Frauen“ (Bernold/Ellmeier 1997, 463, Anm. 54; vgl. G. ­König 2000, 50) Vgl. Lenz/MagShamhráin 2012, 282. 48 Vgl. die bei Matthey (1816, 135 ff.) geschilderten Fälle. Hier gibt es nur einen weib­lichen Fall, jedoch mehrere männ­liche Fälle von Kleptomanie. Bei Gustave Macé (1887, 253 ff.) hat sich dies schon zu Lasten der Frauen geändert.

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„Hätte die Frau ein Ich, so hätte sie auch einen Sinn für das Eigentum, bei sich wie bei

anderen. Der Stehltrieb ist aber bei den Frauen viel entwickelter als bei den Männern:

die sogenannten Kleptomanen (Diebe ohne Not) sind beinahe ausschließ­lich Frauen.

Denn das Weib hat wohl Verständnis für Macht und für Reichtum, aber nicht für das

Eigentum. Auch pflegen die kleptomanen Frauen, wenn sie ihrer Diebstähle überführt werden, sich damit zu verantworten, daß sie angeben, es sei ihnen vorgekommen, als

hätte ihnen alles gehört.49 […] Auch hier sieht man den Zusammenhang z­ wischen

Individualität und Sozialität deut­lich hervorleuchten: wie man selbst Persön­lichkeit

haben muß, um fremde Persön­lichkeit aufzufassen, so muß der Sinn auf Erwerbung eige­

nen Besitzes gerichtet sein, wenn fremde Habe nicht berührt werden soll.“ (­Weininger

1920, 258 f.)

Im Gegensatz dazu weist Leopold Laquer in seiner Studie Der Warenhaus-­ Diebstahl (1907) darauf hin, dass Frauen, die bei Diebstählen im Warenhaus ertappt werden, den sozialen Druck angeben, der sie veranlasst habe, etwas zu stehlen. Was bei Weininger als naturhafter Zusammenhang konstruiert wird, kontextualisiert Laquer sozial und geschlechterpolitisch. Laquer (1907, 9, 27) ist daher äußerst skeptisch, wenn Frauen selbst angeben, kleptoman zu sein.50 Er vermutet dahinter andere Motive: „‚Meine Frau hat das gar nicht nötig!‘ versichern die Ehemänner. Ich unterlasse hier dar­

auf einzugehen, wie sehr die ‚innere‘ Not – der heim­liche Druck der sozialen, wirtschaft­

lichen und ehe­lichen Verhältnisse (Knapphalten durch den Mann) – auf den Frauen lastet und einerseits zur Nervosität und Hysterie führt, sie andererseits bei Mangel an

Sparsamkeit, Einfachheit und Bescheidenheit auch zum Diebstahl drängt.“ (Laquer

1907, 39; vgl. Stekel 1922, 213 u. G. ­König 2000, 59)51

49 Bei dieser Aussage handelt es sich um einen der damals gängigsten Kleptomanie-­Topoi, vgl. z. B. ­Laquer 1907, 8. 50 Ein literarisches Beispiel hierfür findet sich in Siwertz’ Roman Das große Warenhaus. Hier sagt die „Frau Reichsgerichtsrat“, als sie beim Stehlen ertappt wird: „Ich kann nichts dafür […]. Ich weiß nicht, was mich überkommt, aber ich kann es nicht lassen. Der Arzt sagt, das ist Kleptomanie.“ (Siwertz 1928, 247) 51 Budde spricht von einem „täg­lichen Spagat z­ wischen Haben und Habitus“ (Budde 1997, 419), den zu leisten vor allem bürger­lichen Hausfrauen oblag. Beide Aspekte werden in Wohlbrücks Roman Der große Rachen in ihrer sozialen Brisanz ausführ­lich dargestellt. Vgl. die Geschichte von Robert Bethusen und seiner Frau Ria in Anny Panhuys Roman

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Die Selbstbezichtigungen von Frauen als „kleptoman“ weisen auf ein funda­ mentales diagnostisches Problem in Bezug auf die Kleptomanie hin. Wenn „le penchant au vol […] n’est point accompagné d’aliéna­tion mentale“ (Matthey 1816, 135), wird in der Kleptomanie nicht allein die Grenze ­zwischen Gesund­ heit und Krankheit fließend,52 sondern es stellt sich die Frage, wie die gene­ relle Vernünftigkeit der Stehlsüchtigen mit der unvernünftigen Handlung des Stehlens selbst verrechenbar ist. Wenn die Kleptomanie also eine Krankheit ohne Geistesschwäche oder andere psychische Defekte ist – eine „manie sans délire“, wie Matthey (1816, 146) sie klassifiziert –, dann müssen andere Kriterien gefunden werden, die es mög­lich machen, einen „echten“ von einem simulierten Stehlzwang zu unterscheiden.53 Gaëtan Gatian de Clérambault, von 1905 bis 1934 als psychiatrischer Gutachter am Spezialasyl der Polizeipräfektur in Paris tätig, spricht diese Problematik offen an, als er in Passion érotique des étoffes chez la femme (1908/10) von einem Fall erotischer Stoffleidenschaft in Kombina­tion mit kleptomanem Verhalten berichtet: „Nous craignions en effet de la documenter, au cas où elle aurait su à l’avance, par suite

de lecture, d’interrogatoire médico-­légal ou d’internement antérieur, que les actes

kleptomaniaques se combienent parfois à des perversions sexuelles, et nous craignions, dans le cas contraire de la sugges­tionner. N’eussions nous fait que nous priver par des

ques­tions trop directes, de la saveur particulière des évoca­tions spontanées et de la

valeur convaincante toute spéciale que possède un récit suivi, c’eût été déjà un lapsus irréparable.“ (Clérambault 2002, 22 f.)

Das Ladenmädel (1924), in dem Ria zur Warenhausdiebin wird, weil sie von ihrem Mann „kurzgehalten“ wird. Vgl. Panhuys 1924, 58 ff. 52 Dass diese Grenze bei der vornehm­lich „weib­lichen“ Kleptomanie fließend wird, liegt nicht zuletzt an der sonderanthropolo­gischen Klassifizierung der weib­lichen Körpers: „Verglei­ che mit der zur Norm erhobenen männ­lichen Anatomie und Physiologie ließen die weib­ liche ‚Regelmäßigkeit‘ als Unordnung erscheinen und mündeten in die Gleichsetzung von Frausein und Krankheit. Die mit der Gebärfunk­tion zusammenhängenden Prozesse galten nun als störungsanfällig und ständiger Wartung bedürftig. Beim weib­lichen Geschlecht verwischte sich auf rätselhafte Weise die Grenze z­ wischen Gesundheit und Krankheit.“ (Honegger/Heintz 1984, 33) 53 Vgl. z. B. ­D ubuisson 1902, 3, 92 f.; Laquer 1907, 11; Briesen 2001, 122.

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Was ist individuelle Krankheit? Was angelesenes Wissen? Was der Sugges­tion durch den Psychiater geschuldet?54 Dieser steht vor der komplexen Aufgabe, die genannten Aspekte mit einem hermeneutischen Verfahren zu diskriminieren. Im Unterschied zu anderen psychischen Krankheiten, die am Körper des Patienten ablesbare Symptome aufweisen, ist die Kleptomanie somatisch unauffällig. Des­ wegen muss der Psychiater der vom Patienten berichteten Geschichte ablauschen, worüber dessen Körper schweigt. Nur so ist es mög­lich, die Schuldfähigkeit des Patienten einzuschätzen, also z­ wischen Wahrheit und Lüge, Zwang oder Simula­ tion zu unterscheiden. Die Kriterien der Wahrheitsfindung sind laut Clérambault (2002, 23) einerseits die Wahrschein­lichkeit sowie andererseits die Kohärenz der Geschichte des Patienten.55 Was bei anderen psychischen Krankheiten, sofern die Patienten bei klarem Verstand sind, unausgesprochene Voraussetzung ist, näm­lich dass der Körper die Wahrheit über die Symptome seiner Krankheit ausspricht – dieser „Vertrag“ ist bei der Kleptomanie vor dem Hintergrund stets mög­licher juristischer Ahndung bei Simula­tionsverdacht aufgekündigt.56 Indem Frauen bei einer simulierten Kleptomanie diesen „Vertrag“ aufkündigen, schreiben sie sich zwar einerseits in den zeitgenös­sischen, männ­lich dominierten, medizinisch-­juristischen Diskurs ein und akzeptieren dessen Defini­tionsmacht. Andererseits aber s­ chützen sie sich durch die Selbstbezichtigung gleichzeitig 54 Was Honegger/Heintz über die Hysterie bemerken, lässt sich auch auf die Kleptomanie beziehen: „Trotz ihres Unmuts waren die Ärzte die heim­lichen Fluchthelfer der hysteri­ schen Frau. In Schriften und Vorträgen beschrieben sie wirk­lichkeitsnah und imitierbar die Symptome, derer sich die Hysteriker im geeigneten Moment zu bedienen wußten, und indem sie ihr Verhalten als krankhaft diagnostizierten, räumten sie das Recht ein, Pflichten zu vernachlässigen und unverhüllt bislang gedrosselte Wünsche auszuleben – Aufmerk­ samkeit zu verlangen, anstatt sie zu geben, zu dominieren, anstatt zu gehorchen. Mit der Diagnose Hysterie wurde Auflehnung in Krankheit, ‚Badness in Sickness‘ verwandelt.“ (Honegger/Heintz 1984, 42) Zugleich steht die Hysterie von Anfang an unter Verdacht, ledig­lich eine simulierte Krankheit zu sein (vgl. von Braun 2001, 484 f.). Hier kehrt sich der oben beschriebene Prozess um: Hinter der Krankheit werden schon seinerzeit Momente weib­licher Auflehnung sichtbar. 55 Hier werden im Übrigen poetolo­gische Bestimmungen in Anschlag gebracht, die auf ein vormodernes, an der Rhetorik orientiertes Konzept von Literatur verweisen, wo das Prinzip der Minimierung alles Kontingenten leitend war, indem man die literarische Produk­tion von der Ratio her bestimmte und legitimierte. 56 Vgl. folgende bei Dubuisson berichtete Anekdote: „Ce qui me chiffonne, dit à son avocat un prévenu […], c’est que je suis accusé de douze vols. – Tant mieux, réplique l’avocat, nous plaiderons la kleptomanie.“ (Dubuisson 1902, 8)

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vor juristischer Sank­tion. Die „performative Rückkopplung z­ wischen ­­Zeichen und bezeichneten Gegebenheiten“ (Koschorke 2012, 23) gewinnt eine weitere Pointe. Im Fall der simulierten Kleptomanie sind die ­­Zeichen, hier des medizinisch-­ psychiatrischen Diskurses, nicht allein sozial wirksam, sondern es wird zugleich ihre bezeichnende Funk­tion subvertiert. Das heißt, die Selbstbezichtigungen lassen sich als mikropolitische Strategien von Frauen interpretieren, um gerade gegen die Defini­tionsmacht des medizinisch-­psychiatrischen Diskurses zu oppo­ nieren, und zwar paradoxerweise, indem sie dessen Defini­tionsmacht akzeptieren. In d ­ iesem Sinne lassen sich diese Selbstbezichtigungen als „Strategien des Widerstandes“ deuten, „deren subversive Kraft […] nicht mehr einer Normver­ letzung, sondern eher einer Übererfüllung von Normen entstammt“ (­Honegger/ Heintz 1984, 9; vgl. 23 ff. u. 40 ff.)57, und zwar nicht zuletzt mit Blick auf den „Leis­ tungsdruck“ (Budde 1997, 439), dem bürger­liche Frauen mit ihren vielfältigen Aufgaben ausgesetzt sind.58 Die simulierte Kleptomanie steht damit in einer Linie mit der Hysterie, mit Hilfe derer sich Frauen „unter der Obhut des Arztes und geschützt durch seine Diagnose […] familiären Anforderungen und ehe­lichen Pflichten zu entziehen“ vermochten, wobei sie sich teilweise zu „wahren Virtuo­ sen des Egoismus“ entwickelten und es „zuweilen meister­lich“ verstanden, „‚ihre Umgebung zu völligen Sclaven ihres Willens‘ zu machen.“ (Honegger/Heintz 1984, 24)59 Die simulierte Kleptomanie und Hysterie bieten Frauen in einer Zeit die Mög­lichkeit zu Widerstand, in der aufgrund „veränderte[r] Strukturbedin­ gungen und neue[r] Defini­tionen von Weib­lichkeit“ der „Zugang zu älteren For­ men offener Widerspenstigkeit und kollektiver Ak­tion“ weitgehend verwehrt ist. So verwundert es nicht, dass die Kleptomanie neben Hysterie und Neurasthe­ nie 60 zu den bekanntesten psychischen Krankheiten Ende des 19. Jahrhunderts 57 In ­diesem Sinne beginnt für Honegger/Heintz (1984, 10) Widerstand dort, „wo alltäg­liche Rollenerwartungen nicht mehr erfüllt werden“. Vgl. die Ausführungen über die Wider­ standsformen von Madame Bovary in Kapitel 4.1. 58 Es sei in ­diesem Zusammenhang ebenfalls daran erinnert, dass schon romantische Lite­ raten Krankheit „as a pretext for leisure, and for dismissing bourgeois obliga­tions in order to live only for one’s art“ (Sontag 1990, 33 f.) nutzten. 59 In ­diesem Sinne heißt es auch bei Felski: „Just as the feminist expressed a rebellious, eman­ cipatory, and outer-­directed response to the condi­tion of female oppression, so […] the hysteric exemplified a rejec­tion of society that was passive, inner-­directed, and ultimately self-­destructive.“ (Felski 1995, 3) 60 Wobei die Kleptomanie diesen Krankheitsbildern teilweise zugeordnet wird. Vgl. G. ­König 2000, 61.

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gehört. In Bezug auf die moderne Konsumsphäre gilt sie als Warenhauskrank­ heit schlechthin. Dabei wirkt Zolas Au Bonheur des Dames als massenwirksamer Multiplikator.61 Von Zola ausgehend avanciert sie nicht nur zum festen topischen Inventar der Warenhausliteratur,62 wobei sie bald zum Typus verarmt, den man bestenfalls noch parodistisch überformt.63 Sie wird durch Zola auch in anderen 61 Bei Zola betritt die Kleptomanin die Bühne der Weltliteratur: „Depuis un an, Mme de Boves volait ainsi, ravagée d’un besoin furieux, irrésistible. Les crises empiraient, grandis­ saient, jusqu’à être une volupté nécessaire à son existence, emportant tous les raisonnements de prudence, se satisfaisant avec une jouissance d’autant plus âpre, qu’elle risquait, sous les yeux d’une foule, son nom, son orgueil, la haute situa­tion de son mari. Maintenant que ce dernier lui laissait vider ses tiroirs, elle volait avec de l’argent plein sa poche, elle volait pour voler, comme on aime pour aimer, sous le coup de fouet du désir, dans le détraque­ ment de la névrose que ses appétits de luxe inassouvis avaient développée en elle, autre­ fois, à travers l’énorme et brutale tenta­tion des grands magasins.“ (Zola 1964, 793) Zola entfaltet in dieser Szene nicht nur den für die gesamte Kleptomaniedebatte zentralen Konflikt ­zwischen Umwelt und Anlage, sondern er versucht gleichzeitig, das kleptomane Verhalten von Madame de Boves erotisch zu semantisieren und damit psycholo­gisch zu deuten. Schon an früherer Stelle im Roman wird der Leser für diese Problematik sensibi­ lisiert. Mouret selbst unterteilt die Warenhausdiebinnen, auf der Höhe des psychiatrisch-­ medizinischen Wissens seiner Zeit, in drei Klassen: die professionellen Diebinnen, die kleptomanen Frauen und die eher oniomanen als kleptomanen Schwangeren (vgl. Zola 1964, 632). Bei dieser Dreiteilung scheint sich Zola an einem Artikel aus dem Figaro vom 23. 3. 1881 orientiert zu haben. Vgl. Ignotus 1881. Dass die Kleptomanin in Zolas Roman mehr als andere Nebenfiguren im Gedächtnis bleibt, liegt daran, dass die Diebstahlepisode sowie die anschließende Überführung der Diebin durch Mourets Teilhaber Bourdoncle eine der letzten Szenen des Romans darstellt. Auf diese Weise strate­gisch platziert, lässt sie die Moralität von Denise in der folgenden Szene des Romans umso heller erstrahlen. In Rachildes Monsieur de la Nouveauté kommt im Übrigen eine s­ olche Diebstahlszene bezeichnenderweise (noch) nicht vor. 62 Vgl. Hartung 1900; Sheldon 1900, 194 ff.; Saudek 1907, 275; Böhme 1911, 82; Schweriner 1912, 21, 223; Freund 1912, 38 ff.; Wohlbrück 1916, 5 ff., 151; Siwertz 1928, 247; Hocke 1935. Eine der wenigen Ausnahmen bildet das Drama Purpus von Wilhelm Stücklen, in dem sich der Warenhausbesitzer in eine professionelle Diebin verliebt. Der Warenhausbesitzer ist, wie in Anm. 37 erwähnt, eine kaum verhüllte Parodie auf Zolas Mouret, während die Diebin eine Art Anti-­Denise darstellt. Vgl. die Ausführungen zu Stücklens Drama in Kapitel 12.2. 63 Schon in Chaplins The Floorwalker (1916) wird der Warenhausdiebstahl hochgradig pa­ro­ distisch überformt. Während der Tramp im Warenhaus einzelne Waren ausprobiert und begutachtet, verfolgt ihn der Abteilungsleiter („Floorwalker“) auf Schritt und Tritt. Des­ wegen merkt er nicht, dass alle anderen Kunden stehlen. Der Einzige, der tatsäch­lich „ehr­lich“ ist, ist der Tramp. In dem Chanson Ach, wie mich das aufregt! (Die Kleptomanin) (1931) von Friedrich Hollaender wird das Thema Kleptomanie ebenfalls persifliert: „Schon als Mädel war ich immer so erregt, / lag was da, was einer achtlos hingelegt, / immer gab

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Diskursen zur Referenzfigur, anhand derer man die wie auch immer geartete Gefähr­lichkeit der Warenhäuser exemplarisch belegen kann. Diese Referenzfunk­tion hat sie, wenn auch in anderen Sinne, bis in die jün­ gere Forschung zur Geschlechtergeschichte, Konsumkultur und Kulturkritik der Jahrhundertwende bewahrt.64 Die Kleptomanin dient dazu, die diskursive Ver­ schränkung von Medizin/Psychiatrie, Ökonomie, Rechtsprechung und (männ­ licher) Geschlechterpolitik aufzuzeigen. Spitzt man die neueren Lektüren zu, erscheint das Krankheitsbild der Kleptomanie als Verschwörung des Männ­lich-­ Produktiven gegen das Weib­lich-­Konsumierende. Dabei wird nicht allein die ökonomische Verzahnung ­zwischen der Sphäre der Produk­tion und Konsump­ tion unterbewertet, sondern eine Polarität geschaffen, die an der Realität der zeitgenös­sischen Konsumgesellschaft zweifellos vorbeigeht.65 In Einzelfällen mag die Kleptomanie vielleicht als Mechanismus sozialer Kontrolle fungiert haben. Generell scheint dies aber wohl eher männ­licher Wunschtraum als fak­ tische Mög­lichkeit gewesen zu sein.66

es meinem Körper einen Riß, / und dann stahl ich einmal das, einmal dies, / ja, ich stahl schon meinem Vater das Gebiß.“ (zit. nach Greul 1962, 69) Vgl. auch die Kleptomanie-­ Szene im 8. Bild der Revue Es liegt in der Luft (Schiffer 1928, 22 ff.). 64 Vgl. Rappaport 1996; Haupt 1997; Spiekermann 1999b; Tiersten 1999, 2001; G. ­König 2000, 2001; Briesen 2001; Crick 2003; Lenz 2006, 2011; Lenz/MagShamhráin 2012. Haupt schreibt sogar, dass aus seiner Sicht die Kritik an den Warenhäusern in der Zeit ­zwischen 1885 und 1905 in der Debatte um die Kleptomanie kulminierte (vgl. Haupt 1997, 400), was zweifellos nicht zutrifft – man denke etwa an die Diskussionen um den Untergang des Einzelhandels durch die Warenhäuser. 65 Vgl. „Die Trennung der Geschlechter entlang des Konsums war keineswegs strikt. […] Normativer Diskurs und gesellschaft­liche Realität stimmten zwar nicht unmittelbar überein, doch setzte der Diskurs die Rahmenbedingungen fest, innerhalb derer die Zeitgenossen agierten und ihre Rolle definierten.“ (Haupt 2003, 103) 66 Auch wenn es zweifellos eine hohe Dunkelziffer bei der Erfassung von Warenhausdieb­ stählen gibt, so sind die heute bekannten Zahlen aus dem 19. Jahrhundert im Grunde vernachlässigenswert, setzt man sie in ein Verhältnis zu den täg­lichen Besucherzahlen der Warenhäuser. Zola (1987, 181) berichtet in seinen Vorstudien zu Au Bonheur des Dames von acht bis zehn Diebstählen pro Woche im Pariser Warenhaus Louvre. Demgegenüber stehen etwa zehntausend Kunden täg­lich, d. h. in einer Woche etwa siebzigtausend, und an Sonderverkaufstagen bis zu siebzigtausend Kunden sogar an einem Tag (vgl. Zola 1986, 180). Miller (1988, 197 – 206) schreibt in seiner umfangreichen Studie zum Warenhaus Bon Marché, dass die meisten dortigen Diebstähle entweder professionell organisiert waren oder von gewöhn­lichen Ladendieben verübt wurden. Von Bon Marché werden 1893 662 Diebstähle vor Gericht gebracht, vom Louvre 467. Im Vergleich zu Zolas Zeiten haben

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Aus meiner Sicht stellt sich daher die Frage nach der Bedeutung der Klepto­ manie im Rahmen der Entstehung der modernen Konsumgesellschaft anders: Warum werden gerade an der Kleptomanie zentrale Problemlagen der frühen Konsumgesellschaft verhandelt? Was zeichnet die Kleptomanie z. B. im Ver­ gleich zur Oniomanie aus, die genauso gut geeignet wäre, einen Großteil der mit der Kleptomanie verbundenen Problemlagen zu verdeut­lichen? Genau so, wie bei Zola die heterosexuell kodierte Verführungskraft des Warenhauses in Mouret personalisiert wird, so individualisiert die Kleptomanie die der moder­ nen Konsumsphäre unterstellten transgressiven Kräfte und übersetzt sie in ein konkretes Bedrohungsszenario gesellschaft­licher, sprich männ­lich dominierter Ordnung, wobei sie als metonymisches Bindeglied ­zwischen Konsumsphäre, Modernität, Weib­lichkeit, Bürger­lichkeit und Urbanität dient. Zwar weisen auch die Oniomanin und die im Kaufrausch entfesselte Masse ein ähn­liches Bedrohungs- und Denormalisierungspotenzial auf. Beide „Figuren“ stehen jedoch nicht wie die Kleptomanin in Verdacht, kriminelle Energien zu mobi­ lisieren und damit die Grenze ­zwischen Recht und Unrecht, Wahrheit und Simula­tion zu destabilisieren. Auf diese Weise kann die Kleptomanie zum Symptom der konsumistischen Modernisierung des ausgehenden 19. Jahrhunderts werden. Dabei korrespondiert die zweifelhafte Ätiologie der Kleptomanie mit der unvorhersehbaren Dynamik der modernen Konsumsphäre selbst. Wie diese ist sie immer nur provisorisch: ihre Ursachen vorläufig, ihre Herkunft unklar und deswegen vielfältig seman­ tisch besetzbar. Wie der moderne Markt lässt sie Bedeutungen zirkulieren, ohne selbst ein Zentrum zu besitzen; sie markiert eine Grenze, w ­ elche die Normalen von den Anormalen, die Männer von den Frauen, die Reichen von Armen, die Produzenten von den Konsumenten trennt.67 In dieser Mög­lichkeit zur Diffe­ renzierung und Polarisierung liegt zweifellos der zentrale Grund, warum die Kleptomanie bis heute eine derartige Strahlkraft entwickeln kann. sich beide Warenhäuser bis zu dieser Zeit deut­lich vergrößert und daher zweifellos Kun­ den pro Tag als zu Beginn der 1880er Jahre. Leo Colze (1908, 72) berichtet von 96 Dieben, die man in den letzten Tagen vor Weihnachten im KaDeWe gefasst habe. Diese Zahlen bewegen sich nicht einmal im Promillebereich. 67 Luhmann schreibt über den „modernen Markt“: Dieser sei „nichts anderes als eine Grenze, er ist die Wahrnehmung des Konsums aus der Sicht der Produk­tion und der Verteilungsorganisa­tion. Dabei erscheinen als Markt auch die Anstrengungen der Kon­ kurrenten, sofern sie die Absatzchancen beeinflussen.“ (Luhmann 1994b, 73)

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5.  Konsum als Krankheit Mit Kleptomanie, Oniomanie und Agoraphobie entsteht um 1900 ein strate­ gisches Dreieck von Frauenkrankheiten, die nicht nur den Raum des Waren­ hauses, sondern die moderne Konsumsphäre als Ganzes besetzen. Selbst die vermeint­lich Gesunden sind vor diesen Krankheiten nicht gefeit und werden über die spontane kollektive Devianz femininer Massen im Kaufrausch mit in ­dieses Dreieck einbezogen. Zwar hat die Deutung von Konsum als Krankheit eine lange Vorgeschichte, insbesondere hinsicht­lich des übermäßigen Konsums von Drogen wie Alkohol, Zigaretten oder Opiate (vgl. Porter 1993). Was jedoch Ende des 19. Jahrhunderts neu ist in Bezug auf den semantischen Konnex von Konsum und Krankheit, ist einerseits das geschlechtsspezifische Deutungsmus­ ter, das mit Kleptomanie, Oniomanie und Agoraphobie als dezidiert weib­liche Konsumkrankheiten etabliert wird. Andererseits ist es die Rückbindung an die moderne Konsumsphäre selbst. Das heißt, alle Orte, die mit ihr in Zusammen­ hang stehen, werden als potenziell pathogen ausgewiesen, weil sie jenseits des heimischen Herdes als Hort unverfälschter Häus­lichkeit liegen.68 Auch wenn Susan Sontags Analysen in Illness as Metaphor (1978) nicht ohne Weiteres auf die Krankheiten der modernen Konsumsphäre übertragbar sind, lassen sich dennoch einige ihrer Beobachtungen auf den Zusammenhang von Weib­lichkeit, Konsum und Krankheit beziehen. Bei aller grundsätz­lichen Ver­ schiedenheit koinzidieren die schweren körper­lichen Krankheiten (Tuberkulose, Krebs), über die Sontag schreibt, mit den vergleichsweise leichten psychischen Krankheiten der Konsumsphäre in einem wichtigen Punkt: „Any important disease whose causality is murky, and for which treatment is ineffectual, tends to be awash in significance.“ (Sontag 1990, 58)

Während Krankheiten in der Vormoderne in der Regel als Bestrafung für einen Fehler oder eine Sünde angesehen wurden, werden Krankheiten seit dem 68 Henri Legrand du Saulle bezeichnet in Les Hystériques (1883) die Kleptomanie als Pariser Krankheit und trifft damit die nosolo­gisch wichtige Unterscheidung ­zwischen den seit alters bekannten „vols aux étalages“ und den in der modernen Konsumsphäre lokalisierten „vols dans les grands magasins“ (Legrand du Saulle 1883, 436), die eine bestimmte Gruppe von Frauen in einer spezifischen Umwelt verübt. Lombroso/Ferrero (1894, 466) schlie­ ßen an Legrand du Saulle an, wenn sie schreiben, der Ladendiebstahl sei eine „franzö­ sische Specialtiät“.

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19. Jahrhundert zunehmend individualisiert und als „an expression of the inner self“ verstanden: „[T]he romantic idea that the disease expresses the character is invariably extended to

assert that the character causes the disease – because it has not expressed itself. Passion

moves inward, striking und blighting the deepest cellular recesses.“ (Sontag 1990, 46)

Dies geschieht im Fall von Kleptomanie, Oniomanie und Agoraphobie ebenfalls, nur dass es hier nicht zu einer Veränderung der Zellstruktur kommt, sondern sich die Krankheit in inneren Zwängen bzw. Süchten artikuliert. Doch nicht nur der Kontrollverlust, den Oniomanin und Kleptomanin im Angesicht der Warenwelten erleiden, ist patholo­gisch. Nicht weniger ist es das von einem Fetischismus getragene weib­liche Begehren selbst, das sich auf Waren­ welten statt auf Männer richtet und von einem Blickregime getragen wird, das Männern die Frauen und Frauen die „Dinge“ zuweist: „Ist ihnen in der herrschenden Geschlechterökonomie das aktive Schauen untersagt – Frauen werden angeschaut –, so dürfen sie sich hier [im Warenhaus] nach Herzenslust umsehen, denn die Objekte ihrer Blicke sind nicht andere Menschen, sondern leblose

Gegenstände.“ (Lehnert 2002, 565 f.)

In einer damaligen Umschrift ­dieses Blickregimes auf die weib­liche Sonderan­ thropologie hört sich das folgendermaßen an: „Und wer scharf beobachtete, bemerkte, daß die Mienen der meist ärm­lich gekleideten

Frauen, die das [größte] Kontingent der Besucherinnen stellten, sich beim Eintritt in

das [Waren-]Haus eigenartig veränderten: In die schlaffen, versorgten [sic] Züge trat ein gespannter, angeregter Zug, die vorher matten Augen leuchteten auf in heim­lichem

Verlangen und in der Lust des Schauens; irgendein Fluidum schien in der Luft zu lie­ gen, das berauschte, das wie eine Morphiuminjek­tion wirkte …“ (Böhme 1911, 80)69

69 Schon früh wird von dieser physiolo­gischen „Veränderung“ bei Frauen berichtet: „Je remar­ que bientôt que beaucoup de ces femmes se contentent d’examiner et de palper les étoffes. Elles ont gratis les jouissances du toucher et du regard. […] Un de nos célèbres praticiens m’avait dit ‚Observez la différence qui exista entre la figure de la femme qui entre dans ces grands bazars et la figure de celle qui en sort.‘ J’observe. En effet, chez beaucoup de

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Ähn­lich heißt es schon früher bei Dubuission: „Mais une fois dans l’antre [gemeint ist das Warenhaus], elle se trouve là dans une

atmosphère spéciale qui la prend par tous les sens. À la vue de tant de richesses, tout

ce qu’il y a en elle de désir de bien-­être, d’instinct de coquetterie s’éveille et se surex­ cite. Et elle n’a pas seulement le droit de contempler ces richesses, elle peut encore les

manier, les palper tout à loisir – ce qui est déjà une jouissance – et cela sans que per­ sonne lui en demande compte et s’inquiète de ses inten­tions.“ (Dubuisson 1902, 40 f.;

Hervorheb. U. ­L.)

Indem Frauen das Warenhaus betreten, findet bei ihnen eine physiolo­gisch wahrnehmbare Transforma­tion statt. Die Analogie ­zwischen der ökonomischen Logik des Warenhauses und der weib­lichen Disposi­tion wird mit Blick auf das warenhausspezifische Ausstellungsprinzip ins Physiolo­gische und Psycholo­ gische übersetzt. Dabei gilt nicht nur für Pariser Warenhäuser, sondern gene­ rell, „erst einmal die Schleusen der unkontrollierten Bewegung zu öffnen, bis sie zum Begehren wird, das alle Dämme der Vernunft sprengt und überfließend die Kasse füllt.“ (Hessel 1979, 29) Der weib­liche Kontrollverlust gründet also nicht allein in der Abwesenheit der (Ehe-)Männer, sondern er wird gleichzeitig mit der Entfernung aus der Sphäre männ­licher Kontrolle und Disziplin rückgekoppelt. Von großer Bedeutung ist, dass im Warenhaus die für das moderne Ausstel­ lungsprinzip ebenso typische wie spezifische Distanz ­zwischen dem Begehren und dem begehrten Objekt aufgegeben und der Einkauf als intensive sinn­liche Totalerfahrung erlebt wird: visuell, haptisch, olfaktorisch.70 Hierbei scheinen die sortantes, la face a un particularisme bizarre. La prunelle est extraordinairement dilatée. Et puis, sous les yeux des toutes jeunes, il y a une couche de bistre momentanée, parce qu’elle serait trop précoce! A coup sûr, il y a là un mode nouveau de névrose!“ (Ignotus 1881) Allerdings gibt es in dieser Schilderung aus dem Figaro vom 23. 3. 1881 eine signifikante Modifika­tion im Vergleich zu Böhme. Hier ist die „Veränderung“ erst beobachtbar, als die Frauen das Warenhaus wieder verlassen, ist also offenbar Resultat eines längeren Prozesses, den man nicht unbedingt als Kontrollverlust deuten muss; auch betrifft die Veränderung, so der Autor, jüngere Frauen mehr als ältere. 70 „Le grand magasin d’aujourd’hui est […] un chef-­d’œuvre d’organisa­tion, et ce n’est pas faire un reproche aux hommes prodigieusement habiles qui l’ont porté au degré de perfec­ tionnement actuel que de constater que, dans l’intérêt de leur commerce, ils y ont pratiqué l’art de la séduc­tion, de la tenta­tion, d’une façon vraiment géniale. Il n’est certainement pas une femme qui entrant dans un grand magasin avec l’inten­tion très ferme de n’y acheter

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erotischen Energien von Frauen unmittelbar auf einen verding­lichten Waren­ kosmos umgelenkt werden zu können, wie es Zola in Au Bonheur des Dames an Madame Desforges demonstriert: „L ’odeur des gants de Saxe, cette odeur de fauve comme sucrée du musc, la troublait ­d’habitude; et elle en riait parfois, elle confessait son goût pour ce parfum équivoque, où il

y a de la bête en folie, tombée dans la boîte à poudre de riz d’une fille.“ (Zola 1964, 484)71

In dieser Szene sind Männer nicht nur nicht anwesend; sie werden nicht einmal mehr benötigt, um erotische Gefühle auszulösen. Der männ­liche Verkäufer ist für Madame Desforges unsichtbar, denn aus ihrer Perspektive „il n’était pas un homme, elle l’employait aux usages intimes avec son dédain familier des gens à son service, sans le regarder même.“ (Zola 1964, 484) Eine s­ olche Frau, die das sinn­liche Moment des Warenkonsums autoerotisch 72 nutzt, bewegt sich nicht qu’un objet déterminé soit sûre de n’en pas sortir avec des articles qu’elle ne désirait même pas.“ (Dubuisson 1902, 39 f.) 71 Schon zur Zeit, als Zola an der Niederschrift von Au Bonheur des Dames arbeitet, sind im Zusammenhang mit Homosexualität, seinerzeit als „konträrer Sexualtrieb“ bzw. „inversion du sens génital“ bezeichnet, Formen des Fetischismus bekannt, die sich auf bestimmte Gegenstände richten, z. B. die Nägel in Schuhsohlen von Frauenschuhen, weib­liche Nacht­ hauben oder weiße Schürzen (Charcot/Magnan 1882; vgl. Krafft-­Ebing 1894, 186 ff., 372 ff. sowie das Vorwort von Yves Edel in Gatian de Clérambault 2002, 10 f.; zum modernen Fetischismus als kulturellem Phänomen vgl. Böhme 2006). Vgl. auch die Auffassung von Karl Kraus in seinem Text Erotik der Kleidung (1906), in dem er heterosexuellen Männern einen generellen Fetischismus in Bezug auf weib­liche Kleidung unterstellt: „Unser Auge ist durchaus der Optik der Kleidung angepaßt und die Erotik der Nacktheit ist für uns zum allergrößten Teile eine Erotik der Entblößung. […] Das Erregende einer Entblö­ ßung besteht darin, daß ein Körperteil durch die bekleidete Umgebung isoliert zur Schau gestellt wird. […] Die ungeheure Mehrzahl der Männer kennt überhaupt den Frauenkör­ per nicht (‚kennen‘ im Sinne von Kennerschaft), sie kennt, liebt und heiratet nur Kleider und Blößen.“ (Kraus 1906, 14) Später heißt es dezidiert: „Die weib­liche ‚Wäsche‘ ist das Objekt des allgemeinsten männ­lichen Fetischismus und daher der besonderen Sorgfalt und Aufmerksamkeit der Frau.“ (Kraus 1906, 15) 72 In den von Gaëtan Gatian de Clérambault geschilderten Fällen erotischer Stoffleidenschaft wird nicht nur eine Verbindung zur Kleptomanie hergestellt, sondern dezidiert zum autoero­ tischen Fetischismus: „Dans nos trois cas, il est bien clair que l’étoffe n’intervient pas comme substitut du corps masculin, qu’elle n’en possède aucune qualité et qu’elle n’est pas chargée de l’évoquer.“ (Clérambault 2002, 58) Clérambault konstatiert abschließend: „En résumé, nous croyons voir dans le goût érotique de la soie une perversion bien adaptée au tempéra­ ment féminin et, par suite, beaucoup plus fréquente chez les femmes que chez les hommes.“

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nur am Rande der Normalität. Diese konsumistische Form einer auf den Waren­ kosmos gelenkten Sexualität hat sich auch vollständig von der häus­lichen Sphäre gelöst.73 Das anima­lische Moment, das in der Szene aus Zolas Roman offen benannt wird, weist Madame Desforges im Rahmen der weib­lichen Sonderan­ thropologie dezidiert als „Natur“ aus. In noch zugespitzterer Form lässt Böhme in W. A. G. M. U. S. eine ihrer weib­ lichen Figuren ­dieses anima­lisch-­erotische Moment im Angesicht moderner Warenwelten erleben: „Sie preßte das Gesicht dicht an die Scheiben, um besser, um alles zu sehen, wie trunken

von den Farben, der Schönheit, die sie in dieser letzten halben Stunde in sich aufge­ nommen. Der Hut mit den Krähenfedern rutschte ihr in den Nacken; sie achtete nicht darauf, sie hatte nur den einen brennenden, unwidersteh­lichen Wunsch, sich in ­dieses

Spitzengeriesel Hals über Kopf hineinzustürzen, darin zu wühlen, die spinnwebfeinen Gewebe an ihrer Haut zu fühlen, ihr Gesicht in d ­ ieses wonnige Gewirr von Stoffen und Spitzen hineinzudrücken …“ (Böhme 1911, 151)

(Clérambault 2002, 72; vgl. Stekel 1923, 41 ff.) Eine subtile, nicht weniger aber bezeichnende Pointe „abnormer“ erotischer Stoffleidenschaften ist die, dass die „Künst­lichkeit“ industriell produzierter Waren, die zum Fetisch werden, die „unnatür­liche“ Sexualität der Fetischisten spiegeln; diese Form des Fetischismus weist somit eine unmittelbare Verbindung zu den modernen Konsumwelten mit ihren massenhaft und maschinell hergestellten Produkten auf. Zugespitzt formuliert: Die Sexualität der Fetischisten ist nicht mehr „handgemacht“. 73 Franziska Schössler interpretiert die Stoffleidenschaft der weib­lichen Figuren in Zolas Roman als eine „Geste der Dekomposi­tion“ des weib­lichen Körpers, die dessen erotische Fetischisierung ermög­licht: „Die Sugges­tionskraft der Waren beruht [bei Zola] auf dieser Geste der Dekomposi­tion, denn die Modeartikel repräsentieren den weib­lichen Körper metonymisch und fragmentarisieren ihn, wenn sie [wie bei Seide] beispielsweise Haut simulieren. […] Diese Auflösung des weib­lichen Körpers ist Bedingung der Fetischisierung und des narzisstischen Ganzheitsversprechens der Waren. Der Stoff, der den weib­lichen Körper repräsentiert, fungiert als derjenige Spiegel, in dem Narziss seine eigene Schön­ heit erblickt.“ (Schössler 2009, 284) Und sie fährt fort: „Kehrseite der ebenso sinn­lichen wie hygienischen Wäschefetische als Weib­lichkeitssubstitute ist die tote Frau, die in Zolas Roman den buchstäb­lichen Untergrund des florierenden Unternehmens bildet.“ (Schössler 2009, 285) – Ihr Fazit: „Die Warenästhetik der Objekte usurpiert die Sinn­lichkeit der Frau, während ihr reales Leben verlöscht.“ (Schössler 2009, 286) Vor dem Hintergrund meiner Analysen deckt Schösslers Interpreta­tion nur einen Teil der Weib­lichkeitsbilder in Zolas Roman ab; ebenso ist zu konstatieren, dass Modeartikel nicht nur fragmentarisieren, son­ dern über das Moment der male exclusion im Warenhaus Weib­lichkeit auch totalisieren. Vgl. ebenfalls die Analysen zum männ­lichen Voyeur im Warenhaus in Kapitel 8.6.

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Der Hut, der in den Nacken rutscht, versinnbild­licht den Kontrollverlust, w ­ elche die Figur beim imaginativen „Eintauchen“ in die ausgestellten Spitzen wider­ fährt. Die weib­liche „Natur“ wird nicht allein als entfesselte dargestellt, sondern der sinn­liche Rausch hat sich hier verselbständigt. Wie bei Zola werden auch in dieser Szene Männer nicht (mehr) benötigt, um erotische Energien zu mobili­ sieren. Konsequent weist die weib­liche Figur, noch immer vor dem Schaufenster stehend, den Annäherungsversuch eines männ­lichen Passanten zurück, der sie zweideutig anzusprechen versucht (vgl. Böhme 1911, 152). Die fetischistische Liebe zu den Dingen ist nicht nur anormal, sondern auch abartig, weil sie eine Verkehrung der Ordnung der „Dinge“, sprich der „natür­ lichen“ heterosexuellen Geschlechterbeziehungen darstellt. Alfred Binet 74 schreibt über den Fetischismus: „L’amour normal apparaît donc comme le résultat d’un fétichisme compliqué: […] on pourait dire que dans l’amour normal le fétichisme est polythéiste: il résulte non pas

d’une excita­tion unique mais d’une myriade d’excita­tions: c’est une symphonie. Où

commerce la pathologie? C’est au moment où l’amour d’un détail quelconque devient

prépondérant, au point d’effacer tous les autres.

L’amour normal est harmonieux; […] Dans la perversion sexuelle, nous ne voyons

apparaître en somme aucun élément nouveau; seulement l’harmonie est rompue; l’amour,

au lieu d’être excité par l’ensemble de la personne, n’est plus excité que par une frac­tion.

Ici, la partie se substitue au tout; l’accessoire devient le principal. Au polythéisme répond

le monothéisme. L’amour du perverti est une pièce de théâtre où un simple figurant s’avance vers la rampe et prend la place du premier rôle.“ (Binet 1888, 45)

Im Mittelpunkt eines so verstandenen Fetischismus steht nicht nur die Tendenz zur Abkapselung von einer als ungenügend und enttäuschend empfundenen Rea­ lität,75 sondern es wird die auf biolo­gische Reproduk­tion gerichtete S ­ exualität 74 Ausführ­lich zu Binets Fetischismuskonzept vgl. Böhme 2006, 383 ff. 75 Stekel schreibt: „Die Hoffnung auf eine Erfüllung d ­ ieses [sexuellen] Wunsches wird aus der Realität in die Welt der Phantasie verlegt. Es kommt zur Bildung einer Fik­tion, in der der Fetisch die Stelle der begehrten Person annimmt. Infolge der Verdrängung wird der ursprüng­liche Wunsch von dem Objekte abgelenkt und auf den Fetisch gerichtet. […] Das gesamte geistige Leben spielt sich innerhalb der Fik­tion ab. Zu ­diesem Behufe übernimmt der Fetisch die Rolle eines echten Symbols durch Verdrängung, Verladung und Verdich­ tung. […] Das Leben in der Fik­tion führt schließ­lich zu einer hochgradigen Spaltung des

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durch eine auf die Dinge selbst gerichtete ersetzt.76 Schon bei Madame Bovary deutet sich an, dass diese Form des Konsumismus nicht allein aus einem tag­ träumerischen Fetischismus besteht, sondern eine in hohem Maße geschlech­ terpolitische Dimension besitzt, wobei eine Herrschaft der Dinge an die Stelle der Herrschaft der (Ehe-)Männer tritt. Um wie viel mehr gilt dies für die Onio­ manin und die Kleptomanin, deren Begehren sich zu einer Zwangsvorstellung verselbständigt. Die Gefahren für die geltende gesellschaft­liche, sprich männ­liche Ordnung sind kaum zu überschätzen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass man um 1900 der modernen Konsumsphäre eine expansive Tendenz unterstellt. Die mit den konsumistischen Praktiken verbundene Gefühlsintensivierung qua imaginativer Zuschreibungen korrespondiert mit ­diesem Fetischismus in hohem Maße, da dieser als zentrale Ausformung eines „erotic symbolism“ eine „plastic force of the imagina­tion“ (Ellis 1906, 114) mobilisiere, so dass der Fetischist, wie es Stekel formuliert, „zum Dichter seines eigenen Lebens“ (Stekel 1923, 574) wird.77 Bewußtseins, so daß sich der Affektwert der Realität immer mehr verringert, während die Traumwelt reich­lich Ersatz bietet. Infolge der Affektverarmung verliert die Wirk­lichkeit das Interesse.“ (Stekel 1923, 574) Zu den unterschied­lichen Schulen und Interpreta­tionen des Fetischismus im Rahmen der Psychoanalyse vgl. Böhme 2006, 396 ff., zu Stekel im Besonderen ebd., 411 ff. Von einem solcherart verstandenen Fetischismus ist der Weg nicht mehr weit, die Kleptomanie selbst als Ausdruck einer unbefriedigten Sexualität zu verste­ hen. Bei Stekel heißt es: „Wie mir einige meiner Psychoanalysen bewiesen haben, ist die Wurzel aller dieser Fälle [von Kleptomanie] eine unbefriedigte Sexualität. Diese Frauen kämpfen mit der Versuchung. Sie sind im ewigen Kampfe mit ihren Begierden. Sie suchen die ihnen ‚adäquate Form der Befriedigung‘, sie suchen oft einen Eindruck der Kindheit, den sie wie­ der erleben möchten. Sie würden gerne das Verbotene tun. Allein es fehlt ihnen die Kraft. Der Diebstahl ist für sie ein symbo­lischer Akt.“ (Stekel 1908, zit. nach Stekel 1922, 214 f.) 76 In ­diesem Sinne heißt es bei Böhme: „Am Fetischismus tritt exemplarisch die Verweige­ rung des Fortpflanzungsgebots und damit die Pervertierung des ehe­lichen Normalismus zutage.“ (Böhme 2006, 376) Vgl. auch Fall Nr. 33 in Stekel (1922, 215): „Seit vier Jahren hatte die Patientin ein Verhältnis mit einem impotenten Mann […]. Als er end­lich die Potenz erlangte und sie sich gravid wähnte, schwanden die Diebstahlsimpulse.“ 77 Manche Autoren versuchen, den weib­lichen Fetischismus wiederum geschlechterpoli­ tisch zu reterritorialisieren, indem sie ihn als Mittel im weib­lichen „Kampf“ um die besten (Ehe-)Männer deuten. In Lombrosos/Ferreros Studie La donna delinquente, la prostituta e la donna normale (1893) heißt es, ein „Weib stiehlt oder tödtet, um sich zu kleiden, wie ein Kaufmann unsaubere Geschäfte macht, um ultimo gross dazustehen.“ (Lombroso/Ferrero 1894, 427 f.; vgl. ebd., 154) Später ergänzen sie: „Der Ladendiebstahl ist seit der Entstehung der modernen Riesenbazare eine specifische Form der weib­lichen Kriminalität geworden; die Gelegenheit zum Verbrechen liegt darin, daß hier zahllose Dinge vor weib­lichen Augen ausgestellt sind und die Begehr­lichkeit reizen […]. Die Verführung ist um so größer, als für

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Das Moment der male exclusion im Warenhaus wird auf diese Weise ins Zen­ trum weib­licher Sexualität gerückt. Die durch die ausgestellten Warenwelten freigesetzten erotischen Energien stehen für eine Welt totaler Weib­lichkeit.78 An dieser Welt können, wenn überhaupt, nur noch auf feine Nuancen im mensch­ lichen Verhalten spezialisierte Beobachter, nullfokalisierte Roman-­Erzähler oder Psychologen wie Dubuisson partizipieren. Allen anderen Männern bleiben die physiolo­gischen Veränderungen, sprich die sexuellen Erregungszustände von Frauen im Warenhaus verborgen. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als auf eine seit bib­lischer Zeit bekannte Logik des Weib­lichen zu rekurrieren: dass Frauen, auch wenn sie mora­lisch verworfen sind, diese Verworfenheit perfekt zu verber­ gen vermögen. Schon Madame Desforges führt diese Technik der Camouflage in Vollendung vor: Äußer­lich desinteressiert und kühl, ist sie während des Hand­ schuhkaufs gleichwohl hochgradig sexuell erregt (vgl. Zola 1964, 484).79 In geschlechterpolitischer Hinsicht hat diese Madame Desforges zugeschrie­ bene Technik der Camouflage weitreichende Folgen. Einerseits stellt sich für männ­liche Beobachter die Frage, mit ­welchen Mitteln eine perfekt verborgene, weib­liche Verworfenheit, und zwar sowohl im mora­lischen wie im sexuellen Sinne, lesbar und kontrollierbar gemacht werden kann.80 Andererseits ergibt sich für Frauen das unlösbare Problem, wie sie vor allem in der Öffent­lichkeit mit dem Generalverdacht weib­licher Verworfenheit umgehen sollen. Die paradoxe Pointe der Camouflage-­Unterstellung ist, dass es für Frauen kein „richtiges“ Ver­ halten mehr gibt, das beweisen könnte, dass sie nicht nicht verworfen sind. Wird ihre Verworfenheit durch einen „zu lange[n] Blick“ oder eine „sehnsuchtsvolle Geste“ (Sennett 1986, 296) von Männern entdeckt, ist die Frau das, was man bei ihr ohnehin vermutet hat. Kann man ihre Verworfenheit nicht entdecken, hat das Weib Putzgegenstände nicht überflüssig, sondern durchaus nöthig sind, als unentbehr­ liche Werkzeuge für die Anziehung des anderen Geschlechtes.“ (Lombroso/Ferrero1894, 459) 78 Wie provokativ ­dieses Szenario ist, lässt eine Bemerkung von Hartmut Böhme erahnen: „In der Welt des Sex [um 1900] gibt es nur männ­liches Begehren. Die Frau hat keines.“ (Böhme 2006, 379) 79 Vgl. die Anmerkungen über die Handschuhabteilung in Zolas Vorarbeiten zu Au Bonheur des Dames in Zola 1987, 216. 80 Diese Frage spitzt sich vor dem Hintergrund der enormen Zunahme weib­licher Prostitu­ tion Ende des 19. Jahrhunderts zu: „Diese neue Form massenhafter öffent­licher Prostitu­ tion auf Straßen und Plätzen, eleganten Boulevards und Geschäftsvierteln beunruhigte die ‚gute‘ Gesellschaft, nicht zuletzt deren weib­liche Hälfte, die man rein äußer­lich kaum noch von den ‚falschen‘ Damen unterscheiden konnte.“ (Frevert 1986, 86)

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sie diese geschickt verborgen. Verworfen ist die Frau also in jedem Fall, ob es nun sichtbar ist oder nicht. Wie Sennett (1986, 295 ff.) eindrück­lich beschrieben hat, wird es damit mög­lich, männ­liche Denormalisierungsängste auf Frauen zu übertragen und Frauen kontrollierbar zu machen, ohne sie noch kontrollieren zu müssen.81 Mir scheint, dass in der Verschränkung von autoerotisch konno­ tiertem Fetischismus und weib­licher Verbergungskunst einer der neural­gischen Punkte liegt, warum geschlechterpolitische Fragen im Rahmen der zeitgenös­ sischen Warenhausdiskussion mit derart großer Aufgeregtheit debattiert wer­ den und warum weib­licher Konsum früh und umfassend mit einer krankhaften Disposi­tion identifiziert wird.

6.  Geschlecht und Metaphern der Konsumsphäre Rita Felski hat in ihrer Studie The Gender of Modernity (1995) nachdrück­lich darauf hingewiesen, dass im 19. Jahrhundert Modernisierungserfahrungen vielfach über Geschlechtszuschreibungen diskursiviert werden: „Gender […] reveals itself to be a central organizing metaphor in the construc­tion of historical time.“ (Fel­ ski 1995, 9 f.) Wie Felski aufzeigt, erfolgen diese Zuschreibungen in der Regel gleichzeitig in Bezug auf Männer und Frauen: „For every account of the modern era which emphasizes the domina­tion of mascu­ line qualities of ra­tionaliza­tion, productivity, and repression, one can find another text

which points – whether approvingly or censoriously – to the feminiza­tion of Western

society, as evidenced in the passive, hedonistic, and decentred nature of modern sub­

jectivity.“ (Felski 1995, 4 f.)

Gleichwohl können die modernen Bilder des Weib­lichen nicht nur für Passi­ vität, Hedonismus oder Dezentrierung stehen,82 sondern auch das Gegenteil

81 Vgl. Freuds Bemerkung, dass nicht nur „infolge der Kulturverkümmerung“, sondern auch wegen der „konven­tionelle[n] Verschwiegenheit und Unaufrichtigkeit der Frauen“ die Erforschung des weib­lichen Liebeslebens insgesamt „in ein noch undurchdring­liches ­D unkel gehüllt“ (Freud 1915, 17) sei. Wen kann das wundern angesichts des Generalver­ dachts weib­licher Verworfenheit? 82 Zentrale Imagines dieser Ausformung moderner Weib­lichkeit wären die Prostituierte, die Schauspielerin und die mechanische Frau. Vgl. Felski 1995, 19 ff.

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i­ mplizieren, etwa die moderne Sehnsucht nach einer verloren gegangenen Wahr­ heit als „quasi-­utopian vision of the feminine“ veranschau­lichen, „which exists outside categories, distinc­tions, and patriarchal structures of ­individua­tion and socializa­tion. The feminine and maternal body is seen to be that which resists

classifica­tion, blurs boundaries, and collapses the distinc­tion between subject and object,

whether that body is idealized as the exemplum of a nonalienated plentitude or inter­ preted as an emblem of horror and abjec­tion.“ (Felski 1995, 53)

Es könnte vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen der Eindruck entstehen, das moderne Warenhaus stehe als Ort unkontrollierter Affekte als metaphorisches Bild für Weib­lichkeit selbst. Die analoge Disposi­tion von Waren­ haus und Frau löste sich in Identität auf, und Mouret würde nicht nur symbo­ lisch Frau werden, sondern eine – wenn auch nur zeitweilige – tatsäch­liche Ver­ wandlung erfahren. Mit Felski muss man solchen einseitigen Zuspitzungen und Polarisierungen mit Skepsis begegnen. Wie schon die Figur Mourets zeigt, sind die Geschlechtszuschreibungen, die er bei Zola erfährt, nicht nur wechselhaft, veränder­lich und temporär, sondern auch in hohem Maße ambivalent.83 Nicht weniger gilt das für die Kleptomanin, die Oniomanin oder die agoraphobe Frau, die als Gesund-­Kranke immer zugleich zwei Zustände verkörpern. Im Gegensatz dazu bemüht sich die Kultur- bzw. Sozialkritik der Jahrhun­ dertwende um Vereindeutigung in der Konstruk­tion einer männ­lichen Zone der Produk­tion, die einer weib­lichen Zone der Konsump­tion gegenübersteht. Was leisten diese zugespitzten Polarisierungen im Rahmen der männ­lichen Norma­ lisierungsarbeit weib­licher Öffent­lichkeiten um 1900? Urs Stäheli schreibt über die frühe Börse, dass deren Abstraktheit „durch eine weib­liche Semantik ‚kompensiert‘ [wird]. Nur ein derartig feminisier­ tes Vokabular scheint in der Lage zu sein, sowohl die Ängste, ­welche mit dieser

83 Daher scheint mir Mouret nicht für eine „Krise der Männ­lichkeit“ (Schössler 2009, 293) zu stehen, sondern im Gegenteil eine intermediäre Posi­tion in der Geschlechterdichotomie zu besetzen. Wenn Mouret symbo­lisch zur Frau wird (s. das Zitat in Anm. 19), wird dies bei Zola in keiner Weise negativ gekennzeichnet bzw. konnotiert. Schösslers Interpreta­ tion bürstet Mouret zu sehr über den Kamm einer die Geschlechterpolarität zuspitzenden Lektüre des Romans bei gleichzeitiger Ausblendung der Ambivalenzen der Geschlechts­ zuschreibungen in Zolas Text.

Pathologie(n) der Moderne

Immaterialisierung der Ökonomie einhergehen, wie auch die damit verbundene Ver­ führungskraft zu thematisieren. Mit dieser Semantik werden die frühen Finanzmärkte

nicht als Orte ra­tionaler Gesetze und autonomer Akteure, sondern als Orte wilden

Begehrens und unvorhersagbarer Kontingenz beschrieben.“ (Stäheli 2007, 272)

Überträgt man diese Beobachtung auf das Warenhaus bzw. die moderne Kon­ sumsphäre, so wird klar, dass auch hier über polarisierende Geschlechtszuschrei­ bungen etwas lesbar gemacht werden soll, das sonst unlesbar bliebe. Dies scheint jedoch weniger in der „Abstraktheit“ des modernen Warenhauses begründet zu liegen, denn spätestens mit Zolas Au Bonheur de Dames gibt es einen populären und diskursiv hochpräsenten Text, der das Warenhaus in eine holistische Per­ spektive stellt.84 Die – negativ konnotierten – Geschlechtszuschreibungen an die moderne Konsumsphäre zielen, wie nicht zuletzt die konsumspezifische Krank­ heitsmatrix klarmacht, auf eine diskurspolitische Begrenzung der transgressiven Kräfte der Konsumsphäre. Das heißt, die „Frau“ oder die feminine „Masse“ im Warenhaus bieten nicht nur ideale Projek­tionsflächen für männ­liche Denorma­ lisierungsängste, sondern sie haben zugleich eine Entlastungsfunk­tion. Indem die modernen Konsumsphäre als weib­lich und/oder naturhaft gekennzeichnet wird, wird sie zugleich von einer Fremdheitserfahrung entlastet, die im Rahmen der seit dem 18. Jahrhundert entwickelten weib­lichen Sonderanthropologie bereits in anderen Kontexten diskursiv ab- und aufgearbeitet wurde. Die Weib­ lichkeitszuschreibungen garantieren Wiedererkennbarkeit in einem Feld, dessen wirtschaft­liche, ­soziale und medizinisch-­psycholo­gische Auswirkungen ebenso weitreichend wie komplex sind. Das als bedroh­lich wahrgenommene Fremde des Warenhauses (seine neuartige Ökonomie, seine neuen Verkaufskonzepte usw.) verwandelt sich in „ledig­lich“ Weib­liches, das man leicht mit der eigenen, sprich männ­lichen Kultur und ihren Stereotypen diskursiv korrelieren kann, um es als pathogen und anormal zu klassifizieren. Die dadurch forcierte Simplifika­tion komplexer Zusammenhänge gewährt eine geschlechterdifferenziell begründete Anschau­lichkeit, die in hohem Maße entlastend wirkt, weil sie verstehbar macht, was sonst nur Spezialisten verstehen können. Man gewinnt auf ­diesem Wege ein spezifisch „männ­liches“ Wissen über das Warenhaus bzw. über die moderne Konsumsphäre, das zu den damit verbundenen Phänomenen und Problemen

84 Vgl. Kapitel 3.3.

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Figuren der Transgression

einen dauerhaft „ra­tionalen“ Zugang ermög­licht. Im Rahmen der Geschlechts­ zuschreibungen wird also lesbar und erklärbar gemacht, was sonst nur bedroh­lich erscheint. Über die Geschlechtszuschreibungen wird das Warenhaus normalisiert.85 Nicht anders darf aus meiner Sicht die Funk­tion der dominanten Metaphern bzw. Metaphernkomplexe verstanden werden, die an das Warenhaus geknüpft werden, z. B. die vielfach verwendete, religiös konnotierte Metapher vom Konsumtempel.86 Bei Zola heißt es in einer zentralen, rezep­tionsgeschicht­lich wichtigen Passage, dass Mouret der Frau „élevait un temple […], créait le rite d’un culte nouveau; il ne pensait qu’à elle, cherchait sans relâche à imaginer des séduc­tions plus grandes“ (Zola 1964, 461).87 Bei Dubuisson haben manche Frauen das unwidersteh­liche Bedürfnis, täg­lich das Warenhaus aufzusuchen (was laut Dubuisson in einem Fall sogar zum Tod geführt hat), ähn­lich wie andere Frauen regelmäßig zur ­Kirche gehen (vgl. Dubuisson 1902, 42 f.).88 Wenn Benjamin den „Kapitalismus als Reli­ gion“ (Benjamin 1985) begreift, dann steht im Hintergrund nicht nur die Marx’sche 85 Man könnte einwenden, dass d ­ ieses Wissen nicht nur über Geschlechtszuschreibungen generiert wird. Das ist zweifellos richtig. Aber Geschlechtszuschreibungen stellen im 19. Jahrhundert einen Basiscode zum Verständnis sozialer Ordnung dar; daher scheint mir ­dieses Zuschreibungsschema weit zentraler als andere zu sein. Vgl. die Ausführungen zum „Orient“ in Abschnitt 1 ­dieses Kapitels. 86 Zu dieser Metapher vgl. auch Kapitel 3.2. 87 In engem Zusammenhang mit der Tempel- und Kirchenmetaphorik steht die ebenfalls dem religiösen Kontext entlehnte Metapher vom Warenhaus als „Paradies der Damen“, die seit den ersten amerikanischen Übersetzungen von Zolas Roman als The Ladies’ Paradise kursiert und s­ päter auch als Titel für deutsche Übersetzungen benutzt wurde. Bei Zola selbst erscheint diese Metapher noch nicht explizit. Die Metapher des Paradieses ist aus geschlechterpolitischer Sicht hochgradig ambivalent, da sie nicht nur auf das sorglose Leben im Garten Eden anspielt, sondern zugleich die bib­lische Urszene der Verführbarkeit von Frauen evoziert, also permanent pendelt z­ wischen Glücksversprechen und ruinöser Ver­ führung. Zum virtuellen Paradies im Warenhaus vgl. Kapitel 1.3. 88 In der warenhauskritischen Schrift Im Paradies der Damen wird Dubuisson fast wört­lich wiedergegeben: „Das große Warenhaus übt schließ­lich bei einzelnen Naturen fast die ­gleiche Anziehungskraft aus, wie die K ­ irche auf andere ausübt. […] Bei manchen Frauen erreicht die Eingenommenheit für die eine oder andere dieser Karawansereien einen sol­ chen Grad, daß es ihnen dabei ebenso unmög­lich, ja sogar noch unmög­licher wird, einen regelmäßigen, manchmal täg­lichen Besuch im Bon Marché, Louvre oder Printemps zu versäumen, als den wöchent­lichen Besuch in der ­Kirche. […] Das ist nicht mehr Phan­ tasie, sondern Bedürfnis, das ist nicht mehr Zerstreuung, sondern Kultus, und in der Tat, die Art, in der die Versuchung in den großen Warenhäusern organisiert ist, ist über jeden Lobspruch erhaben, und Satan selbst hätte es nicht besser machen können.“ (Im Paradies der Damen 1903, 32)

Pathologie(n) der Moderne

Reflexion über den Fetischcharakter der Ware, sondern zweifellos die nicht zuletzt durch Zola forcierte metaphorische Sakralisierung der modernen Konsumsphäre mit allen durch diese Metaphorisierung produzierten Paradoxien: das Warenhaus als Tempel, in dem es nicht um Reinigung oder Selbstbesinnung geht, sondern um Verführung und Exzess; der Kapitalismus als Kultus, der auf universelle Ver­ schuldung statt auf individuelle Entsühnung zielt (vgl. Benjamin 1985, 100); das Warenhaus als K ­ irche, in der nicht Gott, sondern einem Fetisch gehuldigt wird.89 Auch diese Metaphern dienen der entlastenden Komplexitätsreduk­tion. Doch im Unterschied zu den Geschlechtszuschreibungen, die versuchen, über die pola­ risierende Dichotomisierung die moderne Konsumsphäre im negativen Sinne als weib­lich zu qualifizieren, tragen diese Metaphern die Alterität des Warenhauses in dessen semantische Signatur ein. Das Warenhaus erscheint aus dieser Pers­ pektive nicht nur mehr als Ort entfesselter weib­licher Affekte, der einer männ­ lichen Gefühlsaskese gegenübergesetzt wird, sondern als Feld des Unerklär­ lichen, dessen inhärente Logik einer ra­tionalen, sprich männ­lichen Vernunft nicht zugäng­lich erscheint.90 Dies heißt jedoch nicht, dass diese Metaphern kein Wissen ermög­lichen würden. Im Gegenteil: Auch sie bringen ein spezifisch männ­liches Wissen über das Warenhaus hervor, nur dass ­dieses Wissen nicht zu Vereindeutigungen durch Polarisierung führt, sondern zu einer Ra­tionalisierung der Alterität des Warenhauses selbst. Ebenso wie die Geschlechtszuschreibungen dienen diese Metaphern der Begrenzung und produzieren Wissen und Entlas­ tung, sprich Normalisierung.

89 Bei Göhre heißt es: „Erinnerte der Eckbau am Leipziger Platz an einen gotischen Dom, die Hauptfront in der Leipziger Straße an die Front eines griechischen Tempels, so macht dieser Teil des Warenhauses fast den Eindruck eines großen Schlosses in deutscher Renais­ sance.“ (Göhre 1907, 13) Vgl. die Fotos vom Wertheim-­Warenhaus in Jahrbuch des Deut­ schen Werkbundes 2, 1913, 60 ff. Religiöse Deutungsmuster des Warenhauses werden bis in die Gegenwart fortgeschrieben. Vgl. Gaehtgens 1977 oder Béret 2002, 70. 90 Wobei es im Übrigen große Parallelen zur weib­lichen Sonderanthropologie gibt. Schon bei Diderot heißt es über die Frauen: „[M]ais n’oubliez pas que, faute de réflexion et de principes, rien ne pénètre jusqu’à une certaine profondeur de convic­tion dans l’entendement des femmes; que les idées de justice, de vertu, de vice, de bonté, de méchanceté, nagent à la superficie de leur âme; qu’elles ont conservé l’amour-­propre et l’intérêt personnel avec toute l’énergie de nature; et que, plus civilisées que nous en dehors, elles sont restées de vraies sauvages en dedans, toutes machiavélistes, du plus au moins. Le symbole des femmes en général est celle de l’Apocalypse, sur le front de laquelle il est écrit: mystere.“ (Diderot 1875, 260)

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Kapitel 6

Ökonomie und Weib­lichkeit

1. 

Weib­lichkeitsnarrative

Zwischen 1895 und 1907 verdoppelt sich im Deutschen Reich die Zahl der weib­ lichen Verkaufsangestellten (vgl. Spiekermann 1999a, 711 f.).1 In Warenhäusern ist der Anstieg noch drastischer. Hier entfallen 1908 auf einen männ­lichen Verkäufer bereits acht weib­liche (Timoschenko 2005, 16; vgl. Nienhaus 1981, 311; Spiekermann 1999a, 377). Für die USA kann im selben Zeitraum Ähn­liches festgestellt werden. Obwohl dort die Verhältnisse in Bezug auf die einzelnen Warenhauskonzerne sehr unterschied­lich sind,2 versiebenfacht sich in den 1890er Jahren die Zahl der weib­ lichen Verkaufsangestellten, so dass nach 1900 die Verkaufstätigkeit im Einzelhandel weitgehend weib­lich dominiert ist (vgl. Benson 1986, 23, 128). Vergleichbares gilt für England (vgl. Sanders 2006, 19). Im Gegensatz dazu bleibt das Verkaufspersonal in franzö­sischen Warenhäusern auch nach der Jahrhundertwende überwiegend männ­lich. Der Anteil von Frauen beträgt, wie Miller (1981, 193) dies für das Pari­ ser Bon Marché feststellt, nie mehr als ein Sechstel (vgl. Hartmann 2010, 181 ff.). Ökonomisch attraktiv ist weib­liches Verkaufspersonal nicht allein deswegen, weil es meist jung ist und die Entlohnung daher geringer ausfällt als bei älterem Personal. Es ist auch deswegen attraktiv, weil die Entlohnung nur bei der Hälfte dessen liegt, was männ­liche Angestellte in vergleichbaren Posi­tionen verdienen (vgl. Fischer 1899, 56; Nienhaus 1982, 87 ff.; Timoschenko 2005, 63). Für die USA stellt Hendrickson sogar fest, dass bis zum ­Ersten Weltkrieg der Lohn beim überwiegenden Teil der Verkäuferinnen so gering war, dass man davon nicht leben konnte: 1 „Bis in die 1870erJahre hinein war der Beruf des ‚Handlungsgehilfen in offenen Verkaufs­ stellen‘ von Männern dominiert gewesen. Die mithelfende Tätigkeit der Frauen im Ein­ zelhandel wurde in der Regel nicht entlohnt und deshalb nicht als Beruf verstanden […]. Erst seit Mitte der 1870er Jahre begann die Zahl der handelsgewerb­lich tätigen Frauen stärker anzuwachsen.“ (Timoschenko 2005, 15 f.) 2 So gibt es etwa bei Marshall Field noch um 1900 wenig weib­liches Verkaufspersonal, wäh­ rend bei John Wanamaker in New York bereits 1887 80 % des Verkaufspersonals Frauen sind. Vgl. Benson 1986, 23.

Ökonomie und Weib­lichkeit

„Pay was worse, if anything, throughout the country, and working condi­tions were

generally poor, when not downright dangerous.“ (Hendrickson 1979, 329; vgl. Benson

1986, 135, 182 ff.)3

Gerechtfertigt wird das geringere Einkommen von Verkäuferinnen damit, dass sie überwiegend bei ihrer Familie wohnen und dort verköstigt werden. Dass ­dieses niedrige Einkommen zwangsläufig dazu führt, dass sie dort wohnen bleiben müssen, wird ausgeblendet (vgl. Timoschenko 2005, 65 f.). Eine andere Rechtferti­ gung für die ungleiche Entlohnung von Männern und Frauen wird darin gesehen, dass man Frauen unterstellt, sie würden ohnehin freiwillig für eine niedrigere Bezahlung arbeiten, da sie nicht aus materieller Not erwerbstätig ­seien, sondern nur, um sich ein „Taschengeld“ für Luxuskonsum zu verdienen (vgl. Nienhaus 1981, 314; 1982, 30 ff., 90 ff.; Timoschenko 2005, 44). In Verkennung der tatsäch­ lichen Motive vieler erwerbstätiger Frauen 4 wirft diese Rechtfertigung nicht nur ein bezeichnendes Licht auf das damalige Frauenbild. Es zeigt auch den sozia­ len Status weib­licher Erwerbsarbeit im 19. Jahrhundert.5 Diese gilt, wie Ursula 3 Über die deutsche Situa­tion heißt es ähn­lich: „Sehr häufig sind Verkäuferinnen und Comp­ toiristinnen noch immer so schlecht gestellt, daß sie von ihrem Salair ein selbstständiges, einigermaßen erträg­liches Leben gar nicht führen könnten. Meistens sind sie alle noch auf die Unterstützung ihrer Eltern oder sonstiger Angehöriger angewiesen.“ (Fischer 1899, 56; vgl. Frevert 1986, 178) In einer vom Zentralverband der Handlungsgehülfen und Gehülfin­ nen herausgegebene Flugschrift An die Handlungsgehilfinnen! Ein ernstes Wort in ernster Zeit! (um 1910) heißt es entsprechend: „Scheinbar führen diese [Verkäuferinnen] ja allerdings ein Leben ohne Sorgen und Beschwerden. In Wirk­lichkeit wird aber hier krasses Elend und Not durch äußeren Glanz und Schein verdeckt.“ (Zit. nach Timoschenko 2005, 114) Zur Situa­tion in Großbritannien vgl. Lancaster 1995, 141, zur franzö­sischen Situa­tion Miller 1981, 194. Demgegenüber weist Zola (1987, 179) in den Vorstudien zu Au Bonheur des Dames dar­ auf hin, dass im Pariser Warenhaus Louvre das weib­liche und männ­liche Verkaufspersonal dieselbe Entlohnung erhalte. Zur frühen wirtschaftstheoretischen Reflexion der ungleichen Bezahlung von Frauen und Männern in den Vereinigten Staaten vgl. Pujol 1992, 53 ff. 4 „Die meisten weib­lichen Angestellten wurden aus Existenzsicherungsgründen erwerbs­ tätig, weil sie aus Familien stammten, die von den wirtschaft­lichen und sozialen Folgen der Industrialisierung besonders getroffen wurden.“ (Nienhaus 1981, 314) 5 Vgl. die folgende Passage aus Kracauers Angestelltenstudie: „Eine entlassene Angestellte klagt vor dem Arbeitsgericht auf Weiterbeschäftigung oder Abfindung. Als Vertreter der beklagten Firma ist ein Abteilungsleiter erschienen, der frühere Vorgesetzte der Angestell­ ten. Um die Entlassung zu rechtfertigen, erklärt er unter anderem: ‚Die Angestellte wollte nicht als Angestellte behandelt werden, sondern als Dame.‘“ (Kracauer 1971, 9) Teilweise kommt es sogar zu körper­lichen Misshandlungen von Verkäuferinnen: „Außerdem kam

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Figuren der Transgression

Nienhaus feststellt, „als notwendiges Übel für Minderbemittelte, wenn nicht als Schande.“ (Nienhaus 1981, 312; vgl. Frevert 1986, 118) Ähn­lich heißt es bei Clara Mleinek in Die Frau im Handelsgewerbe (1921): „[Die] Arbeit [von Frauen] gegen Lohn galt als Herabsetzung der Persön­lichkeit […]. Alleinstehende Frauen gingen meist in einen fremden Ort […]. Man sah die Frau nicht mehr auf der Straße und grüßte sie nicht, wenn sie einen Beruf hatte.“ (Mleinek 1921, 4)

Einen besonders schlechten Ruf hat der Beruf der Verkäuferin: „War [für Frauen] die außerhäus­liche Erwerbsarbeit überhaupt verpönt, so galt das in

besonderem Maße für eine Tätigkeit, die sich vor aller Augen abspielt. War die Tochter

im Kontor oder Büro beschäftigt, so sah es doch nicht jedermann, und man konnte die

Tatsache vielleicht ganz verbergen. Es kommt noch hinzu, daß die Frauen besitzender

Kreise […] die Verkäuferinnen durchaus als untergeordnete Personen behandelten.

Es ist selbstverständ­lich, daß keine ­Mutter ihre Tochter einer Behandlung aussetzen

wollte, die sie der Verkäuferin gegenüber für selbstverständ­lich hielt.“ (Mleinek 1921, 6)

Noch in Wilhelm Rubiners, unter dem Pseudonym Walter Gerhard veröffent­ lichtem Roman Die Warenhausgräfin (1923) heißt es über die weib­liche Hauptfigur Eva: „Denn es war ihm [Evas Verehrer, einem Industriellensohn] unsagbar pein­ lich, dem Vater berichten zu müssen, daß Eva Verkäuferin sei.“ (Gerhard 1923, 32) Darüber hinaus steht die Verkäuferin in Gefahr, selbst Opfer der unheilvollen Verbindung von Weib­lichkeit und Warenwelt zu werden. Seitdem Zola in Au Bonheur des Dames den überwiegenden Teil seines weib­lichen Verkaufspersonals mit Liebhabern ausstattet (vgl. Zola 1964, 512 ff., 686),6 gehört es zum Standard­ repertoire der Warenhausliteratur, auf die sitt­lichen Gefahren für weib­liche es vor, dass höher gestellte Angestellte die Verkäuferinnen in Gegenwart der Kundschaft als ‚Satansbraten‘, ‚Idiotenweib‘ oder ‚dickes Vieh‘ beschimpften. Eine Verkäuferin war von ihrem Abteilungsvorsteher so sehr geschlagen worden, dass sie für längere Zeit arbeitsun­ fähig war.“ (Timoschenko 2005, 117) 6 Schon in Pierre Giffards, nur wenig früher als Zolas Roman veröffent­lichtem Buch Paris sous la IIIe République. Les grands bazars de Paris (1882) wird konstatiert, dass von den weib­ lichen Warenhausangestellten 10 % verheiratet, 10% ehrenhaft und 10 % in „wilder Ehe“ leben würden. Die rest­lichen 70 % verbrächten ihr Leben in Ausschweifung. Vgl. Miller 1981, 193.

Ökonomie und Weib­lichkeit

Warenhausangestellte durch den in Warenhäusern ausgestellten Luxus hinzu­ weisen (vgl. z. B. ­Im Paradies der Damen 1903, 42; vgl. Timoschenko 2005, 71 ff.; Sanders 2006, 38).7 Im Gegensatz zu den Kundinnen, bei denen sexuelle Energien freigesetzt werden sollen, um diese auf die Dingwelt umzulenken,8 würden Verkäu­ ferinnen ihre Schönheit und Jugend direkt einsetzen, um am Luxus der Warenwelt partizipieren zu können. Auch sie erlägen wie ihre bürger­lichen Schwestern auf der anderen Seite des Ladentischs den Verführungen der Warenwelt. Doch im Unterschied zu diesen hätten sie keinen finanzkräftigen Ehemann, sondern nur ihr körper­liches Kapital, um über einen oder sogar mehrere Liebhaber finanzielle Ressourcen für Luxuskonsum und andere Vergnügungen zu generieren. „Dieses Einpferchen junger weib­licher Personen [im Warenhaus] und ihre absolute

Abhängigkeit von einer Person männ­lichen Geschlechts, dem Rayonchef, Inspektor

oder Verwalter, bedeutet schon an sich eine mora­lische Gefahr, die aber um so bemer­

kenswerter ist, als sich die Verkäuferinnen aus solchen sozialen Klassen rekrutieren,

die den Verlockungen des Luxus und des geselligen Lebens leicht zugäng­lich sind.“

(Lambrechts 1913, 49)9

In sozialer Hinsicht besitzt die Warenhausverkäuferin einen in hohem Maße prekären Status. Sie erscheint als „transi­tional subject“ (Sanders 2006, 27 ff.) 7 Vgl. folgende Passage aus Jäh (1900, 737): „Die Firma Tietz in München hatte ein Münchener Blatt […] wegen Verleumdung belangt, da der betr. Redakteur behauptet hatte, der Inhaber des Warenhauses habe die jungen Mädchen veranlaßt oder wenigstens darauf aufmerksam gemacht, daß es ihnen freistehe, sich nach Geschäftsschluß noch einen Nebenverdienst zu verschaffen. In den Urteilsgründe des Amtsgerichts heißt es: ‚Es stehe aktenmäßig fest, daß in dem Tietzschen Geschäfte bessere Löhne als in anderen Geschäften gezahlt würden, daß den Ladnerinnen Zumutungen wie die erwähnten nicht gemacht worden s­ eien, daß die Inhaber des T.schen Geschäftes vielmehr eine sitt­lich anständige Führung von den Ladne­ rinnen verlangen und darauf halten, daß sie sich gut aufführen.‘“ Trotz solcher Urteile lebt die Unterstellung, dass Warenhausbesitzer schlecht bezahlte Verkäuferinnen zur Prostitu­ tion auffordern würden, hartnäckig weiter. In der antisemitischen Hetzpropaganda eines Theodor Fritsch heißt es z. B.: „Wer nicht bei seinen Eltern wohnen konnte, hatte bei dieser Arbeit gerade das nackte Leben. Jedenfalls sind die Versuchungen [für Verkäuferinnen], sich Nebeneinnahmen irgendwelcher Art zu schaffen, bei solchen Gehaltssätzen sehr groß. […] So ist es kein Zweifel, daß Warenhaus und Konfek­tion gewaltige Rekrutierungsgebiete für die Prostitu­tion wurden.“ (Fritsch 1933, 189 f.; vgl. Bode 1904, 3) 8 Vgl. Kapitel 5.5. 9 Vgl. dagegen die Zeugnisse in Nienhaus 1982, 145 ff.

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z­ wischen den sozialen Klassen (vgl. Timoschenko 2005, 47). Schon Zola weist in den Vorstudien zu Au Bonheur des Dames auf die mittlere Posi­tion ­zwischen Dame und Arbeiterin hin (vgl. Zola 1987, 225). In Zolas Roman wird es dann heißen: „Le pis était leur [also der Verkäuferinnen] situa­tion neutre, mal déter­ minée, entre la boutiquière et la dame.“ (Zola 1964, 686) Im Rahmen der zeitgenös­sischen Weib­lichkeitsnarrative (vgl. Schulte 1994, 137 ff.) besetzt die Verkäuferin ebenfalls eine intermediäre Posi­tion. Weil sie in der Regel alleinstehend und kinderlos ist, steht sie außerhalb der bürger­lichen Frauen zugeschriebenen „semantische[n] Verkettung von Häus­lichkeit, Mütter­ lichkeit und Weib­lichkeit“ (Siegel 2004, 65; vgl. Sanders 2006, 97 ff.). Gleichzei­ tig ist sie jedoch nicht einfach die Nega­tion dieser Zuschreibung. Man kann sie nicht ohne Weiteres dem Gegenbild der bürger­lichen Hausfrau, der Prostitu­ ierten, zurechnen, auch wenn sie wie diese eine öffent­liche Person ist und unter dem Generalverdacht der Käuf­lichkeit steht.10 Die Verkäuferin ist weder Freund noch Feind, sondern wiederum ein „Mitglied der Familie der Unentscheidbaren“ (Bauman 1995, 76) – eine Anomalie: „[T]he shopgirl symbolizes the intersec­tion between conversative ideologies of gender and class and new models of female identity, behavior, and experience that suggest an ongoing resistance to or discomfort with these ideologies.“ (Sanders 2006, 2)

Für das Frauenbild des Bürgertums stellt die Verkäuferin eine Provoka­tion dar. Hierbei versucht man über den Käuf­lichkeitsverdacht symbo­lisch zu restituie­ ren, was faktisch in Frage steht.11 Die symbo­lischen Restitu­tionen zielen ­darauf 10 „Die berufstätige Frau bringt – so wollen es die philosophischen, ökonomischen und kriminolo­gischen Schriften der Zeit – unweiger­lich ihren Körper ins Spiel und verkauft zusammen mit den Waren immer auch sich selbst.“ (Schössler 2009, 167; vgl. Nienhaus 1981, 315) Vgl. die in Kapitel 5.1 dargestellte Diskussion um den London Bazaar. 11 Neben dem Käuf­lichkeitsverdacht gehören zu diesen symbo­lischen Restitu­tionen, auch wenn sie letzt­lich in eine andere geschlechterpolitische Richtung weisen, die schlechtere Bezahlung von Verkäuferinnen, die Zuweisung bestimmter Bereiche der Verkaufstätigkeit sowie die mangelnden Aufstiegsmög­lichkeiten. So heißt es etwa bei Marie Baum: „In den Warenhäusern […] herrscht Frauenarbeit unbedingt vor. Die mechanische Leistung des Verkaufs einschließ­lich der Kassierarbeiten wird fast nur von Frauen ausgeübt. Dagegen liegt die geistige und organisatorische Leitung fast ebenso ausnahmslos in männ­liche Hän­ den.“ (Baum 1906, 150) Vgl. die bei Nienhaus (1982, 24) wiedergegebene Personalstatistik des Berliner Wertheim-­Warenhauses von 1899 sowie die Ausführungen in Kapitel 10.

Ökonomie und Weib­lichkeit

ab, die intermediäre Posi­tion der Verkäuferin zu vereindeutigen, also in das binär codierte, bürger­liche Weib­lichkeitsnarrativ einzuschreiben. Performative Geschlechtszuschreibung qua Beruf und bürger­liche Normalitätsvorstellung verdichten sich in diesen symbo­lischen Restitu­tionen schließ­lich zu spezifischen Narra­tionen, die zwei Wege aus der vermeint­lichen Misere der intermediären Posi­tion der Verkäuferin aufzeigen: Heirat bei gleichzeitiger Aufgabe der beruf­ lichen Tätigkeit oder sozialer Abstieg, im schlimmsten Fall bis zur Prostituierten (vgl. Nienhaus 1982, 83 ff.).12

2. Verkäuferinnenkarrieren „Den [weib­lichen] Angestellten sind [in der Literatur] gewöhn­lich zwei Mög­lichkeiten des Aufstiegs gegeben: sie ist entweder unheim­lich tüchtig, avanciert und heiratet dann

den Chef; oder sie ist weniger tüchtig, dafür aber umso hübscher, und sie heiratet den

Chef oder einen reichen Kunden ohne die im Roman obligatorische Tüchtigkeit.“

(Witsch 1932, 52; vgl. Frevert 1986, 177; Sanders 2006, 4 f.)

Zolas Denise verkörpert in beispielhafter Weise den ersten, den „tüchtigen“ Typus, Jane, die Frau des Warenhausbesitzers Friedrich Nielandt in Köhrers Roman Warenhaus Berlin, den zweiten, den „hübschen“ Typus: „Sie war ehr­lich genug gewesen, ihm, ehe sie seine Bewerbung annahm, zu sagen, dass sie ihn nicht liebe.“ (Köhrer 1909, 15; vgl. ebd., 62 f.).13 Wie der Halberstädter ­Warenhausbesitzer 12 Wie sehr es sich bei diesen Narra­tionen um diskursive Konstruk­tionen handelt, wird aus folgender Bemerkung ersicht­lich: „Die Vollendung des dreißigsten Lebensjahres, so kann aus den Statistiken geschlossen werden, stellte offenbar einen Wendepunkt im Leben einer Verkäuferin dar, während für die männ­lichen Handlungsgehilfen eine kontinuier­ liche Besetzung bis mindestens zum 40. Lebensjahr festgestellt werden konnte. Dieses Phänomen lässt jedoch nicht den unmittelbaren Rückschluss zu, dass die Berufstätigkeit von Frauen selbst nur als Übergangsstadium bis zur Heirat begriffen wurde. Aus zeitgenös­ sischen Quellen lässt sich vielmehr entnehmen, daß vor allem die Geschäftsinhaber die Beschäftigung älterer Frauen im Laden ablehnten.“ (Timoschenko 2005, 50) Vgl. die Text­ zeugnisse in Anm. 15. 13 In Lurana Sheldons Roman For Gold or Soul? (1900) verbindet sich in der weib­lichen Hauptfigur mit sprechenden Namen Faith der „tüchtige“ mit dem „hübschen“ Typus: Das Warenhaus wird durch Faith sozial reformiert und sie heiratet s­ päter den mora­lisch geläuterten Juniorchef des Warenhauses.

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Willy Cohn schreibt, solle man zwar durch „Erziehung, Allgemeinbildung, Berufs­ kenntnisse, Körperpflege und Sport“ sowie „genügende Entlohnung“ „die im Berufsleben tätige Frau (und in unserem Falle besonders die Verkäuferinnen) sozial und kulturell […] fördern. Der ureigenste Beruf der Frau – die Ehe – bleibt

allerdings das Ideal.“ (Cohn 1911, 45)14

Das in Denise und Jane veranschau­lichte Zwei-­Phasen-­Modell (erst Arbeit, dann Ehe), das den prekären Status der Verkäuferin zeit­lich limitiert, trägt dazu bei, dass die Tätigkeit des Verkaufens auch „für bürger­liche Frauen akzeptabel“ wird, die sonst nicht die von ihnen „gesellschaft­lich geforderte Familienrolle mit der ökonomisch notwendigen Erwerbstätigkeit“ (Timoschenko 2005, 70) hät­ ten vereinbaren können.15 Dass im Rahmen ­dieses Zwei-­Phasen-­Modells der generelle Käuf­lichkeitsverdacht der Verkäuferin sogar dialektisch aufgelöst zu werden vermag, demonstriert Göhre anhand einer Anekdote über den britischen Warenhausbesitzer William Whiteley 16:

14 Vgl. Frevert 1986, 121, 143, 174, 180 ff., 195 f.; Hagemann 1993. 15 Im Übrigen ist es aus historischer Perspektive durchaus frag­lich, ob das Zwei-­Phasen-­Modell tatsäch­lich Relevanz besessen hat. So ergab z. B. eine damalige Befragung von „Ladnerin­ nen“ in Karlsruhe, dass die wenigsten Ehepläne hatten. Vielmehr wollten sich die meisten ­später selbständig machen und Läden eröffnen (Baum 1906, 153 ff.; vgl. N ­ ienhaus 1981, 313). Eine der wenigen Ausnahmen, bei denen in der zeitgenös­sischen Literatur gegen das Zwei-­ Phasen-­Modell argumentiert wird, findet sich bei Fischer: Um als Verkäuferin eine aus­ reichende Qualifika­tion zu erhalten, dürfe sie „ihren Beruf nicht wie einen Lückenbüßer“ auffassen, „etwa als eine durch den Zwang der Umstände aufgedrungene Zwischensta­tion ­zwischen Confirma­tion und der späteren Heirath, sondern als eine ernste fürs Leben, als Lebensversorgung anzusehende Thätigkeit“ (Fischer 1899, 76). Auf der anderen Seite ist es ebenfalls frag­lich, ob die Ehe tatsäch­lich eine Befreiung für die Frau bedeutet hat oder nicht vielmehr nur eine Verschiebung der beruf­lichen Pflichten in andere Bereiche. Vgl. Sanders 2006, 114, 165 ff. Schon vierzehnjährige Schülerinnen sind, wie Ernst Lau bereits 1924 berichtet, „gegen das Eheglück […] etwas skeptisch. Eine Schülerin fragt: ‚Ob sie sich im Haushalt [als Ehefrau] ebenso glück­lich fühlt als bei Wertheim [als Verkäuferin]?‘“ (Lau 1924, 36) 16 Whiteley fällt 1907 einem Attentat durch Horace George Rayner zum Opfer, der sich für einen illegitimen Sohn Whiteleys hält. Whiteley hatte z­ wischen 1883 und 1888 ein Verhältnis mit einer Verkäuferin, die von ihm schwanger wird. Whiteleys Kind war ein Cousin Rayners, weswegen dieser annahm, er sei ein weiterer illegitimer Sohn. Vgl. ­Sanders 2006, 195.

Ökonomie und Weib­lichkeit

„Selbst eine Frau hat er [Whiteley] eines schönen Tages einem Besucher verschafft, als dieser zu ihm sagte: ‚Sie können mir alles besorgen, nur keine Frau.‘ ‚Kommen Sie

mit‘, war Whiteleys Antwort, ‚ich habe auch Bräute auf Lager.‘ Er führte darauf den

Herrn in eine Verkaufsabteilung, rief dort eine Verkäuferin heran und stellte ihr den

Herrn vor mit dem Bemerken, er suche eine Ehefrau. Aus dieser eigenartigen Vorstel­ lung entspann sich eine Bekanntschaft ­zwischen den beiden, die schließ­lich zu einer glück­lichen Ehe führte.“ (Göhre 1907, 118 f.)17

Vor d ­ iesem Hintergrund verwundert es wenig, wenn die individuellen Sehnsüchte von Verkäuferinnen auf das Zwei-­Phasen-­Modell projiziert werden. In Böhmes W. A. G. M. U. S. heißt es über eine Verkäuferin: „Immer war sie auf der Jagd nach einem überlebensgroßen, unbeschreib­lichen Glück. Wie d ­ ieses Glück aussehen sollte, wußte sie selber nicht recht. Aber sie dachte sich,

daß nur ein Mann es bringen konnte, und daß es untrennbar von vielem Geld war.

Denn mit Geld konnte man sich alles verschaffen, was das Leben angenehm macht.“ (Böhme 1911, 153 f.)18

Nicht nur in der Literatur, sondern auch im zeitgenös­sischen kulturellen Gedächt­ nis sind diese und ähn­liche Sehnsüchte verankert. Ernst Lau, der in den 1920er Jahren in mehreren Studien die Psychologie von Kindern und Jugend­lichen untersucht, lässt vierzehnjährige Schülerinnen einen Aufsatz zum Thema „Fräu­ lein – Wertheim – Hochzeit“ schreiben. In den Aufsätzen wird nicht nur das stereotype Zwei-­Phasen-­Modell reproduziert, sondern das Warenhaus selbst als Heiratsmarkt beschrieben: „Die Mädchen drücken vielfach aus, daß Stellungen, in denen ‚Herren‘ kaufen, besonders begehrt sind.“ (Lau 1924, 35) Weiter ver­ stärkt werden ­solche Sehnsüchte durch populäre Hollywood-­Filme, etwa in It (1927) von Clarence Badger, wo es zu einer romantischen Liaison ­zwischen der Verkäuferin Betty Lou, gespielt von Clara Bow, und dem Warenhausbesitzer Cyrus Waltham kommt. 17 Vgl. die Analysen zu Rosso di San Secondos Einakter Bei Wertheim in Kapitel 1.2 und 4.4. 18 In Hughes’ Miss 318 heißt es ähn­lich: „Miss Mooney, knowing little of the male world, believed that ideal men existed, that they were numerous in the great realm outside the Mammoth.“ (Hughes 1911, 16, vgl. ebd. 84; vgl. Henry 1906; vgl. Kläger 1933, 75; Baum 1937, 32 f.)

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Diese Sehnsüchte bleiben jedoch in der Regel unerfüllt.19 An die Stelle der Aufstiegsgeschichten, die das moderne Prinzip sozialer Kontingenz positiv narra­ tivieren, tritt vielfach eine andere Erzählung. Gleichermaßen zugespitzt wie in diskursiver Hinsicht beispielhaft heißt es bei Karl Kern in Zur sozialen Lage der Verkäuferinnen in Mannheim (1910): „Der Teil der Verkäuferinnen aber, der nicht zum Heiraten kommt, zerstreut sich oft­ mals in die verschiedensten Berufe und leider nicht wenige verirren sich, oft auf dem

Weg durch den Kellnerinnenberuf, zur Prostitu­tion.“ (Kern 1910, 13)20

Der s­ oziale Abstieg der Verkäuferin beginnt, so das damalige K­lischee, meist mit einem mehr oder minder harmlosen Verhältnis. Im Klappentext 21 zu Alexander von Sternbergs Ein Warenhaus-­Mädchen. Schicksale einer Gefallenen (1909) heißt es: „Marianne Werder, ein Warenhausmädchen von besonderer Schönheit und kind­licher

Leichtgläubigkeit ist das Opfer des gewissenlosen Schurken Hans v. Röden gewor­ den, der sie, nachdem er sie entehrt, rücksichtslos verlassen hat. Von dem Geliebten

19 Vgl. Franz Hessels Prosaskizze Zwischen den Spiegeln (1926), die detailliert die Ambiva­ lenzen und Risiken des Zwei-­Phasen-­Modells thematisiert. Im Mittelpunkt steht die weib­liche Hauptfigur Anita, die in einem Modewarengeschäft gearbeitet hat, bis sie sich mit dem Kohlenbaron Erwin Rittgen verlobt. Als die Beziehung scheitert, quartiert sie sich bei ihrer verheirateten Schwester ein, die jedoch nicht möchte, dass Anita erneut im Modehaus arbeitet. Um sich einen Hut zu kaufen, sucht Anita aber ihre alte Arbeitsstelle auf. Plötz­lich gerät sie an eine alte Kundin, die sie wiedererkennt und der sie helfen soll: „Zwischen Zeigefinger und Daumen beider Hände trägt sie [Anita], mit niedergeschla­ genen Augen und einem wiedergefundenen, etwas unpersön­lichen Lächeln, je eine zau­ berhafte Robe.“ (Hessel 1926, 80) Doch die alte Kundin ist die Neue ihres Exbräutigams: „Mit Entsetzen sieht Frau Ramdohr [Anitas ehemalige Chefin], dass ihre frühere kleine Verkäuferin aufgereckt vor dem Paar steht, mit geballten Fäusten, den eisblauen Blick mehr auf ihn als auf sie gerichtet, und leise, heiser und bestimmt sagt: ‚Ich bin hier selbst Kundin. Ich will mir einen Hut kaufen.‘“ (ebd., 81) In d ­ iesem Zusammenhang sei auch auf Edna Ferbers Short Story One of the Old Girls (1912) hingewiesen, in der eine gestandene und selbstbewusste Verkäuferin mit gutem Einkommen einen Heiratsantrag ablehnt, um nicht ihre Unabhängigkeit zu verlieren. 20 Zum K­lischee der Kellnerin als Prostituierte vgl. Schulte 1994, 102 ff. 21 Die ersten zehn Teile des Romans sind von der einzigen deutschen Bibliothek, die den Roman im Bestand hat, der Staatsbibliothek zu Berlin, als „Kriegsverlust“ deklariert. Des­ wegen steht nur eine Zusammenfassung der Ereignisse zu Beginn von Band 11 zur Ver­ fügung.

Ökonomie und Weib­lichkeit

verlassen, von den Eltern verstoßen und von der rücksichtslosen Menschheit verach­ tet, kämpft Marianne um ihres Kindes willen den schweren Kampf ums Dasein. Und

wahr­lich, daß Schicksal hat ihr schweres Los beschieden und ihre Schönheit wird ihr zum Fluch. Der Chef des Warenhauses, in welchem sie beschäftigt ist, will sie zu seiner

Geliebten machen, doch sie weist ihn zurück. Rasend vor Wut sucht er sie durch die unsaubersten Mittel zu zwingen, seinen Wünschen gefügig zu sein, und als das alles

nichts hilft, verdächtigt er sie des Diebstahls und Marianne wird – gänz­lich unschul­ dig – ins Gefängnis gebracht. Nach Verbüßung ihrer Strafe beginnt für Marianne

wieder der Kampf ums Dasein. Wohl gelingt es ihr neue Stellungen zu erhalten, doch

wenn es bekannt wird, daß sie im Gefängnis gewesen ist, wird sie wieder entlassen.“ (Sternberg 1909, o. P.)22

Was bei Sternberg im Gewand einer episodenreichen Räuberpistole daherkommt, die ihre Dramatik aus dem klas­sischen Motiv der verfolgten Unschuld bezieht, ist um 1900 keineswegs nur literarische Fik­tion, sondern längst populärwissenschaft­ liches Allgemeingut. In Willi Hellpachs, unter dem Pseudonym Ernst Gystrow veröffent­lichter Abhandlung Liebe und Liebesleben im 19. Jahrhundert (1902) sind Warenhausverkäuferinnen die zentralen Protagonistinnen des modernen „Ver­ hältniswesens“, was nicht allein unter sitt­lichen, sondern auch unter hygienischen Gesichtspunkten (Stichwort: Geschlechtskrankheiten) bedenk­lich erscheint. Da Hellpachs Narra­tion im Rahmen der zeitgenös­sischen Diskurse, vor allem mit Blick auf die starke Tendenz zur Sexualisierung der Verkäuferinnenfigur, para­ digmatischen Charakter hat, soll sie mit einer längeren Passage zitiert werden: „Am Tage sind diese Mädchen beschäftigt. Kommt der Abend mit dem ersehnten

Ladenschluß, so winkt ihnen die Aussicht, heimzugehen in ärm­liche Verhältnisse, oft genug trüben Familienszenen beizuwohnen, sich schlafen zu legen und am nächsten

Morgen wieder ins Geschäft zu wandern. Tagaus, tagein. Das ist kein sehr ergötz­licher

Wochenkalender, zumal wenn der Weg vom Geschäft in die Wohnung an strahlend

22 Vgl. Laura Jean Libbeys Roman Lotta, the Cloak Model or, Life in a Department Store (1900), in dem eine ähn­liche „Räuberpistole“ wie bei Sternberg erzählt wird. Der Roman handelt von einem siebzehnjährigen Mädchen, das auf der Suche nach Arbeit nach New York kommt. Die zahlreichen Intrigen und Konflikte, darunter eine Entführung, werden zum Schluss durch die Heirat mit dem Sohn eines Warenhausbesitzers gelöst. Vgl. auch die bei Sanders (2006, 161 ff.) genannten eng­lischen penny novelettes mit ähn­lichem Inhalt.

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erleuchteten Bierpalästen und Cafés, an Theatern und Konzertsälen vorüberführt.

Und das alles in den Jahren der geschlecht­lichen Entfaltung, wo die heiße, sinn­liche

Begierde zum ersten Male in allen Nerven prickelt! […]

Und die sozialen Verhältnisse sorgten auch für die Mög­lichkeit der Erfüllung eines

solchen Sehnens. Gab es doch Tausende von jungen Kaufleuten, Hunderte von Stu­ denten, Bureaubeamten, Unteroffizieren, die lieber ein Mädel am Arm ihre Abende

verbrachten, als allein. […] Und so nahm das seinen Weg. Man redete eine Verkäuferin

an, man begleitete sie ein Stück, man traf eine Verabredung für den nächsten Abend; dann ging man vielleicht schon irgendwohin, man sah, wie die Kleine sich verliebte, das

Du und der Kuß folgten; noch ein paar Mal so, und man fühlte, daß die Glück­liche sel­ ber nur noch mit brennender Begierde die letzte Bitte erwartete: ‚mitzukommen‘. […] In einer Entwickelung [sic] von drei Jahrzehnten hat manches einzelne wohl, das

Gesamtbild sich wenig verändert. Die blutjunge Verkäuferin von heute braucht nur

nicht lange zu hoffen und zu harren, sie tritt fast immer schon mit der Gewißheit in

ihren Beruf, daß sie in kurzem ‚mit jemandem gehen‘ wird. Sie wird anfangs immer

einen Menschen vorziehen, von dem sie doch noch annehmen darf, daß er sie mög­

licherweise heiraten könnte. Die jungen Kaufleute, die Unteroffiziere sind daher die

Begehrten. Erst ­später, wenn die Resigna­tion kommt, und nur noch der Wunsch geblieben ist, sich zu amüsieren, pflegen Akademiker den Vortritt zu haben; denn sie

sind flotter, unterhaltender, man ist eitel auf ihren Stand. […] Nur mag es vor dreißig

Jahren wohl noch eine ganze Anzahl von Verkäuferinnen gegeben haben, die trotz aller

Sehnsucht unberührt sich hielten. […] Das ist heute ganz vorbei. Die Mädchen dieser Schicht, die mit Bewußtsein allen Lockungen widerstehen, sind zu zählen. Bis tief ins mittlere Bürgertum hinein reichen heute die ‚Verhältnisse‘.“ (Gystrow 1902, 19 ff.)23

23 Vgl. die Figur der promiskuitiven Modistin Estelle aus Rachildes Monsieur de la Nouveauté, die, obwohl verheiratet, zahlreiche Affären mit den Verkäufern des Warenhauses hat sowie die vergnügungssüchtige, weib­liche Hauptfigur, Hanni Beskow, aus Emma Velys Roman Gelb-­Stern (1898). In Die Warenhäuser als Zerstörer des Familienlebens (1903) von Ernst Hermann Nickel heißt es in d ­ iesem Sinne: „So manche vordem fried­liche Ehe hat ihre Anfangsstadien zur plötz­lichen Lösung in einem Warenhaus zu suchen, von den mehr oder weniger ‚zarten Verhältnissen‘ garnicht [sic] zu reden, die bei dem zur Gewohnheit gewordenen ‚Poussieren‘ in den Kaufhäusern täg­lich und stünd­lich angeknüpft werden.“ (Nickel 1903, 560) Auch in Köhrers Roman Warenhaus Berlin heißt es: „[W]enn ein jun­ ges Mädchen erst einmal ein Verhältnis hat, dann kommt es auf eines mehr oder weniger nicht an. Für ein gutes Abendbrot und ein paar bunte Bänder können Sie diese Gunst leicht erkaufen.“ (Köhrer 1909, 63)

Ökonomie und Weib­lichkeit

Vom ersten Verhältnis führt der Weg bald zu einer promiskuitiven Lebensweise, denn, so Hellpach weiter, nach der Beendigung des ersten Verhältnisses „folgt vielleicht eine kurze Zeit der Erbitterung. Aber der Geschlechtstrieb spottet allen

anderen Regungen: ein neues Verhältnis beginnt. Und nun steigt schon langsam eine

Ahnung auf, daß der Wechsel in der Liebe doch gar nicht so übel sei. […] [G]ar nicht selten ist es in kurzem so weit, daß das Mädchen die Liebschaften auf wenige Tage

einschränkt, daß sie end­lich tagtäg­lich bei einem anderen Befriedigung sucht […]. Aber

nun braucht nur ein wirtschaft­liches Steinchen ins Rollen zu kommen: Kündigung der

Stellung, Verstoßung aus dem Elternhause, eines wie das andere durch das ausschwei­ fende Leben mit seinen Nachlässigkeiten und seiner Arbeitsunlust veranlaßt – und die

Lawine donnert hinab. Der Hunger treibt dazu, für das, was nur die Begierde stillen sollte, klingenden Lohn zu nehmen. Die Prostitu­tion hat ein Opfer mehr.“ (Gystrow 1902, 22)24

Was bei Sternberg aus Unerfahrenheit und Naivität resultiert, die von einem „Schurken“ ausgenutzt wird, macht Hellpach zum Ausdruck der modernen kapi­ talistischen Gesellschaft in ihrer konsumistischen Verfasstheit.25 Die anfäng­ lich äußeren Umstände (Notwendigkeit der Berufstätigkeit/Versuchungen der Konsumsphäre) werden in innere Notwendigkeiten (Vergnügungssucht/Lust am sexuellen Exzess) übersetzt (vgl. Bloch 1907, 331). Die an das Warenhaus 24 Vgl. die Geschichte der „Ladenmädchen“, Molly und Dolly, in Margaretes Böhmes Skan­ dalroman Tagebuch einer Verlorenen (1905). Vgl. überdies die sog. Maimie Papers, eine Brief­ sammlung, in der die ehemalige Prostituierte May („Maimie“) Pinzer über ihren Lebensweg berichtet. Entscheidend ist hier nicht die in den Briefen berichtete faktische Chronologie der Ereignisse, sondern vielmehr, dass Pinzer ihre Arbeitsstelle im Warenhaus zum Aus­ gangspunkt ihres sozialen Abstiegs macht: „I went to the city, and there got a regular job in a department store, at $5.00 a week, though I was only past thirteen years old. I was a ‚saleslady‘ – and this store, to this day, is quite the place for men to come during the after­ noon hours to make ‚dates‘ for the eve. I found I could stay away from dinner, and go along with some boys, and come home and tell some sort of story – and that it was accepted, due to the $5.00 I was bringing home! […] Of course, the inevitable happened. Some young chap took me to his room; and I stayed three or four days before I put in an appearance in the neighborhood of my home.“ (Pinzer 1977, 193; Brief 27. 11. 1913 über Ereignisse im Jahr 1897; Hervorheb. U. ­L.) Zum shopgirl als Prostituierte im Film Damaged Goods (1919) vgl. Sanders 2006, 190 f. 25 Vgl. Georg von Omptedas Erzählung Konfek­tion, in der alle Mannequins bis auf die weib­ liche Hauptfigur Frida König, die sich selbst als „Heilige“ sieht, „Verhältnisse“ oder Lieb­ haber haben.

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geknüpfte moderne Verlusterzählung 26 wird auf die Verkäuferin selbst übertra­ gen. Das Verhältnis nimmt hierbei dieselbe intermediäre Posi­tion ein wie die Verkäuferin selbst. Es steht ­zwischen ehe­licher Treue und käuf­licher Liebe und verstärkt auf diese Weise den ambivalenten Status der Verkäuferin z­ wischen der Hausfrau und ­Mutter und der Prostituierten.27

3.  Der konsumistische Körper der Verkäuferin Die genannten Zuschreibungen führen zum Imago eines konsumistischen Kör­ pers der Verkäuferin. Dieser ist hedonistisch und promiskuitiv. In dem populären Chanson Das Ladenmädel (1904), zu dem Rudolf Nelson die Musik und Willi Wolf den Text schrieb, verdichten sich auf beispielhafte Weise die Momente Käuf­lichkeit, Vergnügungssucht und sexuelle Lust der Verkäuferin: „Sie war in der Leipziger Straße in einem Modesalon, ein Sprühteufel

keck und voll Rasse

sie hatte Chic und Façon.

Und eines Tages hat er sie entdeckt: der Zufall ließ ihn sie finden.

Sie stand ­zwischen Spitze und Seiden versteckt am letzten Lager ganz hinten.

Erst kamen die Spitzen, die Kleider und dann die Chiffons voller Pli

und dann kamen Dessous und so weiter und dann, und dann kam sie.

26 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 1.1 und 10. 27 In ­diesem Zusammenhang sei nochmals auf die unterstellte Ähn­lichkeit ­zwischen Pros­ tituierter und ehrbarer bürger­licher Frau hingewiesen. S. die Ausführungen in Kapitel 5.5. Vgl. auch folgende Bemerkung Schösslers: „Ehe ist ein Geschäft [Frauen Tauschobjekte, ihr Körper Besitz], und betritt die Frau den wirtschaft­lichen Bereich ganz unmittelbar (beispielsweise als Arbeitende), so gerät sie ebenfalls in den Verdacht der Prostitu­tion – nahezu die einzige Form, wie Weib­lichkeit, die der bürger­liche Geschlechterdiskurs auf Körper­lichkeit festlegt, und Ökonomie im 19. Jahrhundert zusammengedacht werden können.“ (Schössler 2009, 166)

Ökonomie und Weib­lichkeit

Er kaufte pro forma ein Bändchen, und heim­lich, damit’s keiner säh

drückt er ihr ’nen Zettel ins Händchen:

‚Heut Abend, zehn Uhr, Separée‘.

Doch wartete er zur bestimmten Zeit im lauschigen Eckchen alleine,

der Sekt stand in Kübeln schon längst bereit:

‚Zum Teufel, wo bleibt nur die Kleine?‘

Da rauschten die Schleppen der Kleider, da rascheln Chiffons voller Pli,

da knistern Dessous und so weiter,

und dann, und dann kam sie.

Der Kellner serviert, dann verschwand er und ließ sie beide allein.

Er küsst ihre Händchen, galant er,

und dann das Mündchen so klein.

Die Stimmung war köst­lich und wunderbar, der Sekt schäumt, sie lachten fröh­lich,

und nach der dritten Flasche war er glück­lich und sie war selig.

Erst kamen die Spitzen, die Kleider und dann die Chiffons voller Pli

und dann kamen Dessous und so weiter

und dann, und dann kam sie.“ (Nelson 1999, CD 1, Nr. 2)

Konsumistisch ist der Körper der Verkäuferin, weil er nach ununterbrochener Reizintensivierung strebt. Es ist ein Körper, der einer lustvollen Jugend­lichkeit und Vergnügungssucht um ihrer selbst willen huldigt und sich dezidiert dem Konzept mütter­licher Weib­lichkeit verweigert (vgl. Stoff 2004, 98 ff. u. 345 ff.). Der konsumistische Körper der Verkäuferin ist selbst dann präsent, wenn er nicht sichtbar ist. Hinter der Fassade eines berufsmäßig „angenehmen Aussehens“28 28 Vgl. Siegfried Kracauers Bemerkung in Die Angestellten (1930): „Außerordent­lich lehrreich ist eine Auskunft, die ich in einem bekannten Berliner Warenhaus erhalte. ‚Wir achten bei Engagements von Verkaufs- und Büropersonal […] vorwiegend auf ein angenehmes Aussehen.‘ […] Was er unter angenehm verstehe, frage ich ihn; ob pikant oder hübsch.

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scheint stets der private Exzess auf. In T. ­S. Eliots Gedicht In the Department Store (um 1915) heißt es: „The lady of the porcelain department

Smiles at the world through a set of false teeth.

She is business-­like and keeps a pencil in her hair.

But behind her sharpened eyes take flight

The summer evenings in the park

And heated nights in second story dance halls. Man’s life is powerless and brief and dark

It is not possible for me to make her happy.“ (Zit. nach Schaum 1999, 335)

Weit häufiger ist jedoch Anderes der Fall: Keine männ­liche Kapitula­tion vor dem vergnügungssüchtigen Körper der Verkäuferin, sondern der Körper der Verkäu­ ferin wird als jederzeit verfügbares Objekt männ­licher Begierde angesehen.29 In der Öffent­lichkeit können Belästigungen seitens der Männer von den Verkäufe­ rinnen noch vergleichsweise leicht zurückgewiesen werden (vgl. Böhme 1911, 152; Hughes 1911, 78).30 Intern aber, wenn also Kollegen oder Vorgesetzte Verkäu­ ferinnen belästigen, ist eine dezidierte Zurückweisung selten mög­lich. Bereits in Zolas Au Bonheur des Dames wird d ­ ieses Problem thematisiert, als Inspektor Jouve Denise nachstellt (vgl. Zola 1964, 553 f.). In Gustave Macés Un Joli Monde (1887) heißt es sogar: „A côté de ce luxe étalé au grand jour, il y a souvent la misère cachée sous les vêtements des commis et les robes noires des vendeuses. Cette couleur d’étoffe est bien choisie

pour les courageuses filles. Regardez-­les circuler. Jeunes, si elles ne sont pas jolies, la ‚Nicht gerade hübsch. Entscheidend ist vielmehr die mora­lisch-­rosa Hautfarbe, Sie wissen doch …‘ Ich weiß. Eine mora­lisch-­rosa Hautfarbe – diese Begriffskombina­tion macht mit einem Schlag den Alltag transparent, der von Schaufensterdekora­tionen, Angestellten und illustrierten Zeitungen angefüllt ist. […] Die Behauptung ist kaum zu gewagt, daß sich in Berlin ein Angestelltentypus herausbildet, der sich in der Richtung auf die erstrebte Hautfarbe hin uniformiert. Sprache, Kleider, Gebärden und Physiognomien gleichen sich an, und das Ergebnis des Prozesses ist ebenjenes angenehme Aussehen, das mit Hilfe von Photographien umfassend wiedergegeben werden kann.“ (Kracauer 1971, 24 f.) 29 Vgl. die Ausführungen zu den männ­lichen Voyeuren im Warenhaus in Kapitel 8.6. 30 Vgl. die Ohrfeige der Verkäuferin Betty Lou im Stummfilm It, die den Warenhausbesitzer Cyrus trifft, als er sie gegen ihren Willen zu küssen versucht.

Ökonomie und Weib­lichkeit

plupart ont le courage de rester honnêtes. Elles doivent, pour cela, non seulement se défendre contre les avances des jeunes gens avec lesquels le contact est obligatoire, mais

avoir la force de lutter avec les directeurs, les intéressés et les principaux employés. Il

leur faut encore endurer les caprices, les fantaisies des premières et des secondes; per­ sonnages féminins, généralement rebelles aux idées de mariage et de maternité. Aussi,

les jeunes filles les moins réservées sont-­elles les mieux appréciées.“ (Macé 1887, 273 f.)31

In einer für die Warenhausliteratur des frühen 20. Jahrhunderts einmaligen Dras­ tik thematisiert der Einakter Du kommst zu spät! Eine Szene aus dem Warenhaus (1913) von Hans Vogt den prekären Status weib­licher Erwerbsarbeit im Waren­ haus. In der Zusammenfassung zu Beginn des Dramas heißt es: „Der Warenhausbesitzer Krajewsky hat sich eine Verkäuferin von Auswärts besorgt, und zwar weniger fürs Geschäft, als für sich selbst. Diese, Fräulein Klara Walter, verlobt

sich mit Schmitt, dem Buchhalter Krajewskys. Letzterer glaubt durch das Engagement

auch den völligen Besitz des Fräuleins beanspruchen zu können. Durch die Verlobung

in seinem Besitzstande gestört, will er schnell einholen, was ihm sonst verloren geht.

Teils durch Drohung, teils durch Gewalt erreicht er sein Ziel. Schmitt kennt die Allü­ ren seines Chefs und argwöhnt, als er in dessen Zimmer das Taschentuch seiner Braut

findet, gleich das Schlimmste. Seine Ahnungen bestätigen sich und in der Erregung

hierüber erschiesst er Krajewsky. Er will nun Klara und dann sich töten. Eine Ohn­ macht rettet das Mädchen. Schmitt tötet sich allein.“ (Vogt 1913, 3)

31 In Der Verkäufer. Praktisches Handbuch für Verkäufer und Verkäuferinnen in allen Branchen (1899) heißt es ähn­lich: „Betrübend aber ist es, wenn sich unter den Arbeitgebern selbst ­solche befinden, ­welche ihre Machtstellung mißbrauchend, ihre weib­lichen Angestellten, die ihnen das Brot mitverdienen müssen, die Ehre rauben, was ihnen oft nur zu leicht und etwa bei solchen armen Geschöpfen gelingt, die, jeder Unterstützung von Seite ihrer Angehörigen entbehrend, allein in der Welt dastehen und sich den grausamen Anforde­ rungen ihrer Chefs fügen zu müssen glauben.“ (Fischer 1899, 57; vgl. Nienhaus 1982, 84 f.) In Sheldons For Gold or Soul berichtet die weib­liche Hauptfigur über den Juniorchef des Warenhauses: „[H]e stared at me as if I were a dummy instead of a lady.“ Eine Kollegin antwortet ihr: „Oh, we are none of us ladies; we are only clerks […].“ (Sheldon 1900, 24) Vgl. auch Rudolfs Braunes Episodenroman Junge Leute in der Stadt (1932), in dem sich eine Warenhausverkäuferin einige Nachlässigkeiten während der Arbeit zu Schulden kommen lässt. Ihr Abteilungsleiter erpresst sie damit und droht mit Entlassung, falls sie nicht in ein Rendezvous einwilligt. Vgl. Braune 1932, 112 ff., 250 ff.

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Die Vergewaltigung wird nicht auf offener Bühne gezeigt, aber was der Zuschauer hört, lässt keinen Zweifel daran.32 Der Verlobte des Opfers hört die Vergewalti­ gung ebenfalls mit an und kommentiert sie zynisch, als er noch nicht weiß, dass es sich um seine Braut handelt. Als er dies aber merkt, stellt er Krajewsky zur Rede. Dieser antwortet: „Ob ich oder ein anderer? Wer zuerst, bleibt sich am Ende gleich. Gefallen wär sie

doch. Das Ihre Braut? […] So ein Mädel Braut? Nee, nee, für hin und wieder ist sie

recht. Zur Frau … Hahaha … taugt sie schlecht! Und unter uns gesagt, Herr Schmitt, so sauber war sie nicht.“ (Vogt 1913, 17)

Der Einakter nimmt die Metapher von der „Überwältigung“33 der Frau im Warenhaus wört­lich und verbindet sie mit einem fremdenfeind­lichen Kontext. Der vermeint­liche Naturalismus des Dramas ist tatsäch­lich allegorisch, denn der Name des Warenhausbesitzers impliziert einen antisemitischen Kontext.34 Keineswegs zufällig sind daher die „schönen blauen Augen“ des Vergewaltigungsopfers. Doch auch der „deutsche“ Verlobte ist keinesfalls Mitläufer, sondern Mittäter, da er die Handlungen seines Chefs zunächst billigend in Kauf nimmt (vgl. Vogt 1913, 13). Dass das Warenhaus bei Vogt zu einem Ort werden kann, an dem der weib­ liche Körper nicht allein hedonistisch und promiskuitiv ist, sondern für Männer universell verfügbar erscheint, kann nicht zuletzt in Bezug zur ökonomischen Spezifik des Warenhauses gesetzt werden. Wenn im Warenhaus alles auf universelle

32 Im Nebentext heißt es: „[Krajewsky] faßt die Widerstrebende, preßt ihr den Mund zu und schleift sie ins Zimmer. […] Die Türe fällt in’s Schloß. – Man hört unterdrückte Schreie, hellklatschende Schläge, wie Peitschenhiebe, dann leises Wimmern. Nach einer Weile ist alles ruhig.“ (Vogt 1913, 12) Später berichtet Krajewsky: „Es war ergötz­lich anzusehen, wie sie rang, mit ihren Beinchen strampelte, wie eine Katze um sich biß und kratzte! Hahaha, und dabei die schönen blauen Augen zur Decke bald verdrehte. In’s Gesicht gespiehen [sic] hat sie mir in ihrer Wut! Na, tut nicht weh! Doch dafür fliegt sie rrraus! (er pfeift und markiert einen Fußtritt)“ (Vogt 1913, 15). 33 Vgl. die Analysen zum Dingfetischismus in Kapitel 5.5. 34 Der Name ist polnischer Herkunft und stellt eine semantische Verbindung zur Herkunft zahlreicher deutsch-­jüdischer Warenhausgründer (Tietz, Schocken, Ury, Knopf, Wronker) her, die alle ursprüng­lich aus Posen stammen. Merkwürdigerweise entgeht Paul Lerner (2010a) dieser Zusammenhang in Consuming Powers. The „Jewish Department Store“ in German Politics and Society; vgl. die dortige kurze Interpreta­tion des Dramas, Lerner 2010a, 145 f. Zum Thema Antisemitismus und Warenhaus s. Kapitel 7.

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käuf­liche „Verfügbarkeit“35 programmiert ist, so dass man selbst „Bräute auf Lager“ haben kann, liegt es nahe, d ­ ieses Prinzip auf die weib­lichen Angestellten zu beziehen, sprich sich eine „Verkäuferin von Auswärts [zu] besorg[en], und zwar weniger fürs Geschäft, als für sich selbst“. Entscheidend ist die Rolle des Geldes im Rahmen der ökonomischen Spezifik des Warenhauses. Wenn im Warenhaus der monetäre Wert zur immateriellen Eigenschaft eines jeden Gegenstandes und einer jeden Leistung wird, also alle Bereiche der wirtschaft­lichen und sozialen Interak­tion im Warenhaus geld­ wertig überkodiert werden können und damit Äquivalenzen gestiftet werden, wo Dinge oder Leistungen gerade nicht äquivalent sind (Luhmann 1972, 193 ff.; vgl. Wegmann 2002, 21, Vogl 2005a), bestimmt dies nicht nur jedwede Form von Kommunika­tion und sozialer Praxis, sondern es erscheint naheliegend, die sozialen Verhältnisse als vom Geldwert bestimmte Tauschverhältnisse zu inter­ pretieren. Die Posi­tionen, die zum Tausch angeboten werden, sind dabei durch den hohen Grad an Generalisierung 36, den Geld ermög­licht, variabel besetzbar. Während also Geld im Rahmen der modernen Konsumkultur überwiegend als Differenzierungs- und Distink­tionsmechanismus im Rahmen der hedonis­ tischen Logik des Konsumismus fungiert, ist seine Funk­tion im Rahmen der 35 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 1.2 Zu den historischen Hintergründen der „Verfügbarkeit der Dinge“ bemerkt Schrage (2009a, 9 f.): „Die Formel von der Verfügbarkeit der Dinge impliziert […], dass der moderne Kon­ sum zunächst und in erster Linie als Warenkonsum zu betrachten ist, also als Teilaspekt jener Monetarisierung der Sozialbeziehungen, w ­ elche die Durchsetzung der kapitalis­ tischen Wirtschaftsweise seit der frühen Moderne begleitete. Mit der gesellschaft­lichen Ausweitung des Geldverkehrs ging eine Freisetzung des Verbrauchs von rituellen und ständischen Normierungen einher, die Produk­tion richtete sich auf den gewerb­lichen Verkauf von Gütern aus – verbunden mit einem starken Rückgang der Subsistenzversor­ gung – und der überregionale Handel erweiterte sich. Diese Entwicklungen führten zu einer Vermehrung der an Märkten verfügbaren und damit konsumierbaren Güter und erhöhten zugleich die Zahl der Konsumenten, die an diesen Waren Gefallen fanden oder auf ihren Erwerb angewiesen waren. Die sich damit gesellschaft­lich verbreitende Erfahrung einer prinzipiellen, allein durch fehlende finanzielle Ressourcen beschränkten Verfügbarkeit der Dinge ist insofern als eine Besonderheit des modernen Konsums anzusehen, die sich aus dem Warencharakter der Konsumgüter ergibt.“ 36 „Geld wird [in der bürger­lichen Gesellschaft] zugleich zeit­lich, sach­lich und sozial (als Werthalter, Wertmesser und Tauschmittel) so stark generalisiert, daß es in anderen Gütern keine funk­tionalen Äquivalente mehr findet und in ­diesem Sinne den Charakter eines Gutes verliert. Es wird universell relevant in dem Sinne, daß es auf alle Dinge und Handlungen beziehbar ist, sofern sie wirtschaft­lich beurteilt werden.“ (Luhmann 1972, 193)

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ökonomischen Spezifik des Warenhauses (wie in weiten Teilen der modernen Wirtschaft überhaupt) genau gegenteilig. Es ist ein Entdifferenzierungsmecha­ nismus,37 der selbst Bereiche ökonomisch zu kodieren vermag, die in Bezug auf den (zumindest offiziell propagierten) bürger­lichen Wertekanon der Sphäre des Geldes normalerweise entzogen sind, etwa Familie, Liebe oder – im Fall der Ver­ käuferin – Sexua­lität (vgl. Luhmann 1972, 204; 1994a: 165 ff.; 1994b, 241).38 Damit ist klar, dass die Geldverhältnisse im Warenhaus gleichzeitig Macht- und Herr­ schaftsverhältnisse implizieren. Gerade an der Figur der Verkäuferin wird diese Macht- und Herrschaftsproblematik in besonderer Schärfe sichtbar, da sie über die Zuschreibung eines konsumistischen Körpers selbst Warencharakter annimmt.39

4.  Verding­lichte Weib­lichkeit: das Mannequin Das Mannequin 40 – seinerzeit auch Probierdame, Probiermamsell, Vorführdame oder Gelbstern 41 genannt (vgl. Schirmer 1911, 148) – steht für die Vollendung der Ökonomisierung des weib­lichen Körpers in der kapitalistischen Moderne. 37 Auf Geld als machtvollem Entdifferenzierungsmechanismus wird im Zuge der Darstel­ lung der Warenhaus-­Trust-­Debatte in Kapitel 11.3 noch näher eingegangen. 38 Zur Liebe als vermeint­lichem Gegenmodell zu den Tauschverhältnissen der modernen Kon­ sumsphäre vgl. Kapitel 12. Darauf, dass „Liebe“ bzw. „Romantik“ Anfang des 20. Jahrhun­ derts in Konsumprozesse einbezogen werden, ist schon in Kapitel 4.4 hingewiesen worden. 39 Im Grunde genommen ist die Idee, eine Frau als „Ware“ zu behandeln, keine Erfindung des kapitalistischen Zeitalters, sondern ledig­lich eine Neu-­Codierung der alten, immer schon asymmetrischen Geschlechterbeziehungen. Was bis ins 19. Jahrhundert hinein unter dem Mantel des sozialen Aufstiegs verborgen und Konvenienzehe genannt wird, gerät nun gewissermaßen an die Oberfläche, indem die Frauen wortwört­lich zur Ware werden. Vgl. Siegel 2004, 67 sowie das Zitat von Schössler in Anm. 10. 40 Um 1900 heißt es noch nicht das Mannequin, sondern entsprechend der franzö­sisch-­nieder­ ländischen Etymologie des Wortes der Mannequin. Zur Geschichte der Kleiderpräsenta­ tion durch Mannequins s. Lehnert 1996. Mannequins sind kein spezifisches Phänomen des Warenhauses. Dennoch gehören sie zum festen immer wiederkehrenden Figurenin­ ventar der Warenhausliteratur. Über die Warenhausliteratur im engeren Sinne hinaus gibt es auch eine Reihe von Mannequin-­Romanen und – schon früher – Mannequin-­Dramen (z. B. ­Gavault 1914). In Bezug auf die Romane wäre etwa an Fannie Hursts Mannequin (1926) oder Wilhelm Speyers Ich geh aus und du bleibst da (1930) zu denken, die beide ver­ filmt wurden. 41 „‚Gelbstern‘ ist […] die bevorzugte Dame im Reiche der Mode. Sie normiert die Größe die durch 44 Zentimeter [halbe] Büstenweite und 110 Zentimeter Hüftenmaß näher bezeich­ net ist und führt ihren Namen daher, daß, zu leichterer Kennt­lichkeit der Größen, Mantel

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Was im Fall der entfesselten Konsumentin in eine Pathologisierung des weib­lichen Körpers einmündet,42 führt beim Mannequin zu dessen ästhetischer Verding­ lichung. Schon bei Zola führt Denise, hier noch als Verkäuferin,43 Kleider für reiche Kundinnen vor und wird wie ein „Gegenstand“ behandelt (vgl. Zola 1964, 496).44 In Ich werde Mannequin, um mein Studium zu verdienen (1930) berichtet Hanna Helm, Studentin der Medizin, über ihren ersten Kontakt mit einem Konfek­tionär: „Schließ­lich stehe ich in einem Büro, an dessen Regalen Kleider hängen, das Reich des

Herrn Koppsch […]. Er schlingt wortlos das Zentimetermaß um meine Brust, um die

Taille, um die Hüfte. Ich bin sehr aufgeregt, inner­lich. Links hängt ein wundervolles

Modell […]. ‚Ziehen Sie mal das Kleid an‘, sagt Herr Koppsch, wirft mir das Patou-­ Modell in den Arm und geht hinaus. Ich ziehe es an. Es passt. Und dann stehe ich eine

Viertelstunde da, Herr Koppsch […] hat mich scheinbar vergessen. Aber dann steht

Herr Koppsch in der Tür und hinter ihm ein kleiner älterer Herr, fast schüchtern, mit einer Weintraube in der Hand, von der er sehr hastig eine Beere nach der anderen in

den Mund steckt. […] Jetzt muß ich also gehen, denke ich, die Hüften so bewegen

und mich umdrehen, die Hände lässig spielen lassen, so wie ich es bei den Moden­

tees gesehen habe. ‚Wo laufen Sie denn hin?‘ schreit der kleine Mann. […] Der kleine

Mann – es ist der Chef […], kommt auf mich zu. […]. ‚Also schön, dann kommen

und Jacketts auf dem Aermel einen genähten Stern aus gelbem Garn tragen.“ (Loeb 1906, 74) Zur diskursiven Konstruk­tion der „Gelbstern“-Figur als Ausdruck „normaler“ Weib­ lichkeit um die Jahrhundertwende vgl. Döring 2011, 147 ff. u. 178 ff. Döring analysiert auch eine Reihe von literarischen Texten (Vely 1898; Burg/Turszinsky 1907; Ompteda 1986 u. a.). Mannequinromane im engeren Sinne geraten merkwürdigerweise nicht in den Fokus ihrer Analysen. Vgl. Döring 2011, 188 ff. 42 Vgl. Kapitel 5. 43 Gertrud Lehnert schreibt über die Frühgeschichte der Mode- bzw. Kleiderpräsenta­tion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: „Neben den Gattinnen der Modeschöpfer, die die Kleider ihrer Männer vor allem bei gesellschaft­lichen Anlässen trugen und auf diese Weise bekannt machten, waren es aber vor allem junge Verkäuferinnen, die damit anfingen, den Kundinnen im Geschäft die Kleidermodelle vorzuführen.“ (Lehnert 1996, 70) Dass überhaupt Kleider in Geschäften vorgeführt werden, liegt nicht zuletzt an den rigiden Sitt­lichkeitsvorstellungen des Bürgertums im 19. Jahrhundert. Man vgl. etwa die Szene in Zolas Roman, wo ein Ehemann sich weigert, seine Frau allein in eine Umkleidekabine gehen zu lassen. Vgl. Zola 1964, 780. 44 Denise fühlt sich in eine „machine“ verwandelt, „qu’on examinait et dont on plaisantait librement“ (Zola 1964, 497).

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sie morgen.‘ Das ist bereits das Engagement. Das Abitur hat mir nicht soviel Freude

gemacht wie dieser Augenblick.“ (Helm 1930, 56)45

Was jemand ist, wird vom Dingcharakter der veräußer­lichten Persön­lichkeit des Mannequins vollständig usurpiert. Weil das Mannequin die lebendige Inkorpora­ tion modellhafter weib­licher Schönheit ist, kann es – so paradox dies auf den ersten Blick klingen mag – nicht nur in eine von Männern kontrollierte mecha­ nische Puppe verwandelt werden, sondern auch seriell vervielfältigt werden. Die Medizinstudentin berichtet über ihre Kolleginnen: „Vor mir fünf Damen in weißen Kitteln […]. Nun weiß ich, daß mich eben immer eine

andere begrüßt hat; sie sehen sich alle so ähn­lich: kastanienbraun oder blond, alle rosa

angemalt, schwarze Striche und weiße Flächen im Gesicht – fünf Figuren in gleicher

Größe.“ (Helm 1930, 56; vgl. Leopold 1930, 189).

45 Schon früher heißt es im Text, als sie sich bei einem „Mannequin-­Ausbildungs-­Institut“ vorstellt: „Eine Frau, die mich erst gar nicht begrüßt. Sie mustert mich nur und schlingt das Zentimetermaß um mich: Brust, Taille, Hüfte. Jedesmal wirft das Auge einen Blick auf den Zentimeterstrich, den der Daumennagel eingeklemmt hält. Dann erst fängt sie an zu reden. ‚Ja, Fräulein‘, sagt sie, ‚Sie haben Chancen.‘“ (Helm 1930, 53); ­später heißt es: „An meinem Halse baumelt das Etikett. Ich drehe mich, der Kunde fasst mein Kleid an, prüft die Qualität. Ich selber existiere für ihn überhaupt nicht. Danke, weg.“ (Helm 1930, 57) Vgl. die Selbstaussage der weib­lichen Hauptfigur in dem Roman Winnie Childs (1916): „I know I’m not pretty. That’s why I have to be so painfully sweet. I got the engagement [in einem Modesalon] only by a few extra inches. Luckily it isn’t the face [that] matters so much […]. But it’s legs; their being long; Mme. Nadine engages on that and your figure being right for the dresses of the year. So many pretty girls come in short or odd lengths, you find, when they have to be measured by the yard, at bargain price.“ (Williamsons 1916, 26) Vgl. auch folgende Passage aus Manfred Georgs Aufruhr im Warenhaus: „Eine Kollegin gab ihr [dem Mannequin] zwei kandierte Früchte und etwas Pfefferminz-­Kaugummi. Dann zogen ihr geschickte Hände ein blaues Badekostüm an, sie wurde auf eine Bühne hinausgeschoben, hörte Musik und rasendes Klatschen, sah eine weiße Bodenfläche vor sich, die sich in der Mitte zu einem schmalen Pfad verengte, der von ihr aus ins ungewisse Dunkel hinauslief, flankiert von hellen Lichtern, neben denen hier und da Schatten von ondulierten Damen­ köpfen und gewichtigen Glatzen auftauchten. Helle umspülte sie. Da schritt sie auch schon mitten durch den von einem zahlreichen Publikum in Abendkleidung besetzten Saal, spürte fast körper­lich, wie ihre Beine die Strahlen der Scheinwerfer durchschritten, verneigte sich nach rechts und links, drehte sich in der Hüften, schlug den Bademantel bald mit der einen, bald mit der anderen Hand auf, stolperte am Ende der Bahn ein paar Stufen hinunter, wurde durch einen langen einsamen Gang von einem Pagen zurückgeführt, und schon griffen Händen nach ihr, zogen ihr das Kostüm herunter […].“ (Georg 1928, 91)

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Abb.2  „Die Kritik der Kolleginnen ist die schärfste“. Aus: Dr. Leopold (1930): Die Lockvögel der Mode. In: Scherl’s Magazin 6(2), S. 193.

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Später ergänzt sie: „Nach ein paar Tagen kann ich die fünf überhaupt erst unterscheiden. Sie haben fast

alle das g­ leiche Gesicht, dieselben gemalten Augenbrauen, dieselben lackierten Wim­

pern, dieselben weißgepuderten, aber noch unter der Schminke erkennbaren blassen

Pudernasen.“ (Helm 1930, 58)46

Während der Kleidervorführung muss das Mannequin dafür sorgen, dass eine „angenehme“ Atmosphäre entsteht. Es hat zu lächeln, elegant zu sein; insbesondere muss es – und zwar trotz seiner exzep­tionellen Schönheit – unsichtbar werden, so dass die Kundin, der das Kleid vorgeführt wird, sich selbst im vorgeführten Kleid imaginieren kann: „Schon bei der Auswahl der Modells wird darauf geachtet, dass sie eine nichtssagende

und damit allverheißende Schönheit besitzen. Statt auf markante Gesichter setzt man

auf Wesen ohne Wesen, auf eine Bedeutsamkeit ohne Bedeutung. Solche Leerstellen­ schönheit liefert die perfekten Projek­tionsflächen; in ihnen kann sich jeder Wunsch spiegeln […].“ (Ullrich 2006, 48)47

Indem sich das Mannequin zum „dinghaften“ Element der Präsenta­tion der Klei­ dung macht und somit unsichtbar wird, steigert es den Fik­tionswert der Ware. Unsichtbarwerden bedeutet hier also, dass das Mannequin zu einer Identifika­ tionsfigur für den Kunden wird. Deswegen muss seine „Arbeit“ auch mühelos und leicht wirken, als würde es die Kleider nur zum Vergnügen tragen.48 Dabei ist die 46 Vgl. die folgende Beschreibung aus Werner Türks Roman Konfek­tion (1932): „Mit ihnen [den Mannequins] zog eine Duftwolke herein, die ein Gemisch aus Puder und Parfümgerü­ chen war. Die jungen Vorführdamen hatten alle rotgeschminkte Lippen. Ihre Augenbrauen hatten sie mit einem Rasiermesser geschmälert und mit einem schwarzen Schminkstift ohne Rücksicht auf die Haarfarbe nachgezogen. Alle fünf Mannequins trugen schwarze ärmellose Satinkittel. Durch sie prägte sich das Spiel ihrer Schenkel durch. Grell stachen die hellen Seidenbeine gegen den schwarzen Satinkittel ab. Alle Mannequins waren blond. Das war kein Zufall […].“ (Türk 1932, 67 f.) Vgl. die Abbildungen in Döring 2011, 183, 185. 47 „Die Kundin kauft […], vereinfacht gesagt, kein Kleid, sondern ein Bild von sich, wie sie in ­diesem Kleid sein möchte.“ (Lehnert 1996, 62) 48 Faktisch ist die Arbeit von Mannequins – seit Mitte der 1910er Jahre kann man von pro­ fessionellen Mannequins sprechen (vgl. Lehnert 1996, 71 ff.) – in hohem Maße anstrengend und, wie Frauenarbeit im frühen 20. Jahrhundert generell, verhältnismäßig schlecht bezahlt.

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serielle Uniformität der Mannequins und deren spezifisch-­unspezifischer Habitus des Auftretens 49 Bedingung dafür, dass die imaginative Projek­tion des Kunden auf das Mannequin gelingen kann. Die kosmetisch „verähn­lichten“ Gesichter lassen die Mannequins zu einem Schönheitstypus werden, dem aus verkaufsstrate­gischen Gründen alle individuellen Züge genommen sind.50 Was Denise bei Zola noch beklagt, näm­lich während der Kleidervorführung wie ein „Gegenstand“ behandelt zu werden, erweist sich in Bezug auf moderne Mannequins als Grundbedingung Schon bei Moritz Loeb heißt es: „Was die zarter besaiteten jungen Damen, die mehr Kin­ derstube als Bargeld von Hauses haben mit bekommen können und deshalb ‚ins Geschäft gehen‘, was die sich bei ­diesem rüden Ton [in der Konfek­tionsbranche] denken, du lieber Himmel! Man kann sich doch nicht nach seinem Personal richten! Wenn die Weiber so zimper­lich sind, so mögen sie sich doch daheim hinsetzen und Romane lesen! Man kann genug andere bekommen, die monat­liche Arbeitskraft für 30 Mark das Stück […].“ (Loeb 1906, 76) Die Arbeitzeit beträgt, wie Helm berichtet, oft zwölf und mehr Stunden. Hek­ tik und Stress gehören zum Alltag des Mannequinberufs: „[W]ir […] müssen in weni­ gen Stunden ein paar hundert Kleider überziehen. Dazwischen kommt Kundschaft. […] Dann wird der Chef nervös. […] Je mehr Kundschaft, desto schneller muß das Umziehen gehen. […] Manchmal bleibt keine Zeit für das Mittagessen.“ (Helm 1930, 58; vgl. Loeb 1906, 50; Leopold 1930, 192) Bei Vicki Baum in Der grosse Ausverkauf heißt es schließ­ lich: „Eineinhalb bis zwei Minuten darf ein gutes Mannequin zum Umkleiden brauchen. Drinnen schwebt sie langsam und könig­lich vor der Kundschaft auf und ab; draußen, in der Umkleidekabine, zittern ihr die Hände, wenn sie z­ wischen den drei Spiegeln steht, Kleider abstreift, Kleider überzieht, schnell, schnell, mit der reizbaren Directrice hinter sich, die hetzt und murrt.“ (Baum 1937, 28; vgl. Trott 1924b, 7) 49 „Ein läng­licher Mannequin kommt in Sicht und bleibt, Standbein und Spielbein, vor der kurzen Kommerzienrätin stehen, deren Reiher über den nächsten Stoffrand weht. Ver­ käuferinnenstimme schrillt durch den Lärm: ‚Das können gnädige Frau in Sankt Moritz tragen, in Spa, in Baden-­Baden, in Monte und überall!‘ Der Mannequin hat seine vor­ schriftsmäßigen fünf Sekunden verharrt und storcht langsam weiter. Im Rücken wird das glockige Cape mit den aperten flaschengrünen Karos sichtbar. Die Falten schütteln etwas mürrisch. Anita zählt die Schritte: ‚Neun, wie immer.‘“ (Hessel 1986, 79) Vgl. auch: „Einige [der Mannequins] waren allerdings reich­lich albern. Sie hatten ausdruckslose Puppenge­ sichter, hielten das Köpfchen schief und machten schmachtende Augen, auch wenn kein männ­licher Käufer in der Nähe war.“ (Goldmann 1930, 12) 50 Diese Typisierung, zumal von weib­lichen Gesichtern, scheint – wenn auch zweifellos nicht in solch extremer Form wie bei den Mannequins – generell eine Tendenz im Rahmen der neuen Frauenberufe des frühen 20. Jahrhunderts gewesen zu sein. So schreibt Kathy Peiss über den amerikanischen Trend zur Typisierung von Gesichtern qua Kosmetik seit den 1920er Jahren: „[A] number of the new jobs open to women required particular atten­tion to appearance and interpersonal behavior. Saleswomen, waitresses, secretraries, entertainers and others working in the clerical and service sectors transformed themselves into ‚types‘ expected in these jobs.“ (Peiss 1996, 326)

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ihrer Tätigkeit. Würden sie in der Vorführsitua­tion nicht zum bloßen Objekt („Kleiderständer“) werden wollen, hätten sie ihren Beruf verfehlt.

5.  Paradie­sische Arbeit und prometheische Scham Im Unterschied zur Medizinstudentin, die nur in den Semesterferien modelt, um ihr Studium zu finanzieren, haben die anderen Mannequins, von denen sie berichtet, keine alternativen Arbeits- oder Qualifika­tionsmög­lichkeiten. Das „Betriebskapital“ ist ihr Körper, und dieser hat dem zeitgenös­sischen Schönheits­ ideal zu entsprechen. In Mascha Kalékos Gedicht Mannequins (1933) heißt es: „Die Beine, die sind uns Betriebskapital Und Referenzen

Gehalt: so hoch wie die Hüfte schmal.

Lo­gische Konsequenzen …

Bedingung: stets vollschlank, diskret und – lieb (Denn das ist der Firma Geschäftsprinzip.)

Und wird mal ein Wort nicht gewogen,

Dann sei nicht gleich prüde und schrei nicht gleich ‚Nee!‘ Das gehört doch nun mal zum Geschäftsrenomée Und ist im Gehalt eingezogen.“ (Kaléko 1975, 10)

Wenn der weib­liche Körper „Betriebskapital“ ist, scheint der Weg zur Prostitu­tion nicht weit. Interessanterweise gibt es keine Schilderungen, die diesen Konnex entfalten, auch wenn mitunter von „vorurteilsfreien“ Mannequins die Rede ist (vgl. Fallada 2004, 265) oder davon, dass die „leichtfertigen, kleinen Mädchen, die wenig arbeiten und dabei viel Geld verdienen wollen, diesen Beruf [des ­Mannequins] in einen gewissen Verruf gebracht“ (Schulz-­Moewes 1928, 19) hätten.51 Belege dafür werden aber nicht angeführt. Die Provoka­tion, die vom Mannequin für bürger­liche Wertvorstellungen aus­ geht, scheint nicht wie bei der Verkäuferin darin zu liegen, dass es eine öffent­liche Person ist,52 sondern vielmehr darin, dass das Mannequin aus seinem körper­lichen 51 Vgl. Vely 1898 sowie Burg/Turszinsky 1907. 52 „[A]ls Mannequin [arbeiten] zu gehen, dazu gehört doch immerhin ein ganz besonde­ rer Entschluß, da diese Damen im Grunde ebenso Schaustücke sind, wie die von ihnen

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Kapital unmittelbar Geld „macht“.53 Um Mannequin zu werden, benötigt man keine Ausbildung oder anderweitige Qualifika­tionen. „Wir gehen so, wie man im Leben geht, wir schreiten nicht […]. Eine Mannequinschule braucht man gar nicht.“ (Leopold 1930, 190). Die einzige Leistung des Mannequins scheint darin zu bestehen, seine Figur zu „erhalten“54 und sich kosmetisch herzurichten. Das Mannequin scheint einer Paradiesvorstellung entsprungen. Es erhält Geld für etwas, wofür es weder etwas kann noch arbeiten muss. Das Mannequin stellt auf grundsätz­liche Weise die Frage danach, was Arbeit in der konsumistischen Moderne bedeutet, da sich sein Beruf nicht mehr mit der bürger­lichen Leistungsethik und dem damit verbundenen, männ­lich kon­ notierten Arbeitsbegriff verrechnen lässt: „Betrachtet man aber das Berufsmilieu und die qualitativen Voraussetzungen ­dieses

Berufes, so leuchtet ohne weiteres ein, warum es kaum einer anderen Berufsgruppe der

weib­lichen Angestellten so leicht gemacht ist, in einer Scheinwelt zu versinken und

so schwer ihr Selbstbewusstsein illusionslos zu bewahren. […] Der [sic] Mannequin

kann aus seinem Berufe für sich selbst nichts anderes herausholen, als eine einseitige

Kultivierung des Geschmacks, die ihn nur umso quälender auf die Unmög­lichkeit der Befriedigung seiner wachsenden Ansprüche stößt.“ (Witsch 1932, 48 f.)

Hinzu kommt, dass das Mannequin wie Schauspieler und Filmstars zu jenen Figuren der konsumistischen Moderne gezählt werden muss, die das moderne Prinzip positiver sozialer Kontingenz verkörpern.55 Kein Zufall ist es daher, dass vorgeführten Dinge […].“ (Schulz-­Moewes 1928, 19) 53 So heißt es z. B. in Josephine Schönermarks Roman Gelbsterne (1925): „Ihrer Meinung nach [der M ­ utter von Eva, eine der weib­lichen Hauptfiguren im Roman] war es Sünde, ohne Arbeiten, nur durch ein bißchen Anprobieren im Geschäft und vor den Kundinnen Geld zu erlangen und außerdem waren in ihren Augen alle ‚Probierdamen‘ leichtsinnige Geschöpfe.“ (Zit. nach Döring 2011, 198) 54 Bei Helm heißt es, auf das Problem potenzieller Magersucht (Anorexia nervosa) anspie­ lend: „Nucki, die jüngste [der Mannequins], sieht blaß und krank unter der rosaweiten Malerei aus. Sie hat was mit dem Magen. Sie haben eigent­lich alle etwas, sonst könnten sie gar nicht so schlank sein.“ (Helm 1930, 59) 55 „Wenn man bedenkt, daß nicht viel Sachkenntnis notwendig ist […] und ein gut gewach­ sener Körper, Größe 42 bis 44, die körper­liche Bedingung für diesen Beruf sind, so wird begreif­lich, daß die Angehörigen dieser Berufsgruppe besonders dazu neigen, den Kon­ trast z­ wischen dieser und ihrer Welt auf irgendeine Weise zu überbrücken, am liebsten

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viele Mannequins durch Zufall zu d ­ iesem Beruf gekommen sind (vgl. Leopold 1930, 195; Helm 1930, 53). Eine weitere Provoka­tion, die vom Mannequin ausgeht, betrifft die weib­liche Kundschaft, der die Kleider vorgeführt werden. Zwar sollen Mannequins nur Projek­tionsflächen sein. Dennoch stehen sie als modellhafte Verkörperungen des zeitgenös­sischen Schönheitsideals zugleich in Konkurrenz zu den Frauen, ­welche die vorgeführten Kleider kaufen und tragen sollen.56 In Baums Der grosse Ausverkauf heißt es: „Sie [Mrs. Thorpe] war der Typus der Frauen, die [ins Warenhaus] […] kamen, weil sie

sich langweilten. Stundenlang ließ sie sich Kleider vorführen, probierte stundenlang

Kleider an, nervös, zerfahren, hysterisch. Vor dem Spiegel kriegte sie die depressiven

Zustände einer Frau, die vierzig Jahre alt wird und zusehen muß, wie eine wunderbar gewachsene Zwanzigjährige ihren Körper zur Schau stellt.“ (Baum 1937, 29; vgl. Trott

1924, 12; Goldmann 1930, 13 f.)

Was aber macht Mrs. Thorpe so „nervös, zerfahren, hysterisch“? Warum bekommt sie „depressiven Zustände“ vor dem Spiegel? Ist es nur der Altersunterschied,

anzuheben versuchen, als im klaren Bewußtsein ihrer gesellschaft­lichen Lage zu leben.“ (Witsch 1932, 49) Vgl. die Ausführungen in Kapitel 1.3. Horkheimer/Adorno sehen in der modernen, vor allem durch den Film und durch „Magazine“ forcierten Kultivierung sozialer ­Kontingenz einen zentralen Verblendungszusammenhang der modernen Kultur­ industrie: „Nicht zu jedem soll das Glück kommen, sondern zu dem, der das Los zieht, vielmehr zu dem, der von einer höheren Macht – meist der Vergnügungsindustrie selber, die unablässig auf der Suche vorgestellt wird – dazu designiert ist. Die von den Talentjägern aufgespürten und dann vom Studio groß herausgebrachten Figuren sind Idealtypen des neuen abhängigen Mittelstands. Das weib­liche starlet soll die Angestellte symbolisieren, so frei­lich, daß ihm zum Unterschied von der wirk­lichen der große Abendmantel schon zubestimmt scheint. So hält es nicht nur für die Zuschauerin die Mög­lichkeit fest, daß sie selbst er auf der Leinwand gezeigt werden könnte, sondern eindring­licher noch die Distanz. Nur eine kann das große Los ziehen, nur einer ist prominent, und haben selbst mathematisch alle g­ leiche Aussicht, so ist sie doch für jeden Einzelnen so minimal, daß er sie am besten gleich abschreibt und sich am Glück des anderen freut, der er ebenso gut selber sein könnte und dennoch niemals selber war. […] Die vollendete Ähn­lichkeit ist der absolute Unterschied.“ (Horkheimer/Adorno 1988, 153 f.) 56 Im Unterschied dazu steht die Vorführsitua­tion vor Männern, etwa vor Einkäufern von Warenhäusern bei den Konfek­tionären. Eine ausführ­liche Analyse zu d ­ iesem Thema fin­ det sich in Lindemann 2012a.

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wie der Text es nahelegt? Die Beantwortung dieser Frage ist aus meiner Sicht nicht bloß auf einen Genera­tions- und dadurch bedingten Körperunterschied reduzierbar, sondern betrifft allgemein die kulturellen und sozialen Bedingungen, unter denen weib­liche Schönheit im frühen 20. Jahrhundert gefasst wird. Schon Ela Hornung weist in ihrer Untersuchung von deutschen Haushaltsratgebern aus dem 19. Jahrhundert auf den engen Konnex ­zwischen weib­licher Schönheit, weib­licher „Körperarbeit“ und weib­licher Identität hin: „Alle von mir untersuchten Ratgeber leiten die Hausfrau zur Gestaltung ihres Körpers

an. Der Körper der Frau wird damit zum Objekt der eigenen Arbeit. Da der Körper

nie ein von der Frau losgelöstes Objekt sein kann, vermischen sich hier Arbeit und

Sein. Die Frau hat somit keinen selbstbestimmten Körper; es handelt sich – ideolo­gisch

gesehen – immer um einen zweckgerichteten Körper: der sexuelle, der repräsentativ-­ schöne, der für Geburten bereite Körper.“ (Hornung 1990, 124 f.)57

Was Mrs. Thorpe „nervös, zerfahren, hysterisch“ macht, scheint also die zuneh­ mend misslingende Arbeit am eigenen Körper zu sein, die im Verhältnis zum perfekten Körper des Mannequins in aller Deut­lichkeit zu Tage tritt. Während der Körper des Mannequins in seiner kosmetisch forcierten Verding­lichung jugend­lich und (was entscheidend ist) makellos erscheint, ist Mrs. Thropes Körper widerspenstig, da er sich der „Einpassung“ in die herrschende Schönheitsnorm, sprich in den Schnitt der vorgeführten Kleider verweigert.58 Besonders drastisch hat Leane Zugsmith in A Time to Remember die Unzu­ friedenheit einer Frau angesichts ihres eigenen Körpers geschildert. Aus einem missglückten Schminkversuch resultiert die permanente Entzündung eines Augenlids, so dass ihr Gesicht, wie die weib­liche Protagonistin meint, entstellt sei (vgl. Zugsmith 1937, 110 ff.). Als ihr Mann sich im Rahmen eines Warenhaus­ streiks engagiert und deswegen abends oft nicht zuhause ist, vermutet sie eine Geliebte, was aber nicht zutrifft. Um der Schmach zu entgehen, von ihrem Mann verlassen zu werden, begeht sie Suizid. 57 Demgegenüber sei der Körper der Arbeiterin „Produk­tionskörper“: Hier zielten die Rat­ geber darauf ab, „die weib­liche Arbeitskraft der Frau mög­lichst gut wiederherzustellen und gesund zu erhalten.“ (Hornung 1990, 127) 58 Die Schönheitsnorm selbst objektiviert sich also in der Kleidergröße. Vgl. Döring 2011, 178 ff.

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Mit Günther Anders könnte man ­dieses „Missverhältnis“ zum eigenen Körper als konsumistische Form der „prometheischen Scham“ interpretieren. Anders schreibt über die „Selbst-­Verding­lichung“ von Frauen durch kosmetische Produkte: „Ohne make-­up unter Leute zu gehen, kommt für girls nicht in Betracht. Das bedeutet

nicht etwa nur, daß sie sich, wie ihre Mütter und Großmütter, schämten, in ungepfleg­

tem oder ungeschmücktem Zustande aufzutreten: ausschlaggebend ist, wann, d. h. in

welchem Zustand, sie sich adrett fühlen, wann sie als ‚gepflegt‘ gelten, wann sie sich nicht schämen zu müssen glauben. Antwort: Dann, wenn sie sich (soweit der Rohstoff ihrer Glieder und ihrer Gesichter das zulässt) in Dinge, in Kunstgewerbegegenstände, in

Fertigwaren verwandelt haben. Sich mit ‚nackten Fingernägeln‘ zu zeigen, ist ‚unmög­ lich‘: salonfähig, office-­fähig, ja selbst küchenfähig sind ihre Nägel erst dann, wenn

diese den Geräten, mit denen die Finger umzugehen haben, ‚ebenbürtig‘ geworden

sind […] – Der ­gleiche Standard gilt für Haare, Beine, den Gesichtsausdruck, eigent­

lich […] für den Leib als ganzen: denn als ‚nackt‘ gilt heute nicht der unbekleidete Leib,

sondern der unbearbeitete.“ (Anders 1992, 30 f.)

Liest man Anders und Hornung zusammen, erscheint die „prometheische Scham“ nicht nur als wesent­licher Antrieb der ästhetischen „Selbst-­Verding­lichung“ der Frau in der konsumistischen Moderne, sondern zugleich als zentrales Motiv der zweckdien­lichen „Zurichtung“ und „Einpassung“ des weib­lichen Körpers in die zeitgenös­sische Geschlechterrollenverteilung. Die „prometheische Scham“ von Frauen angesichts ihres Körpers wäre somit weniger als Versuch einer kosme­ tischen Angleichung an die Welt der „selbstgemachten“ Dinge zu verstehen, sondern als eine von Außen aufoktroyierte, der zeitgenös­sischen Geschlech­ terpolitik gehorchende mikropolitische Strategie, um Geschlechterdifferenzen zu stabilisieren und zu verfestigen. Das Mannequin wäre in ­diesem Sinne bei­ spielhafter Ausdruck des gelungenen männ­lichen Versuchs, weib­liche Schönheit mit weib­licher „Körperarbeit“ und weib­licher Identität zu korrelieren. Resultat ist eine ästhetische Norm, die jedoch keineswegs nur ästhetisch ist, sondern im Gegenteil das gesamte „Sein“ der Frau betrifft.59 Hinter der Verding­lichung der 59 Zur Geschichte und zum Verhältnis von Kosmetik und moderner Körperkultur vgl. Kathy Peiss’ instruktiven Aufsatz Making Up, Making Over. Cosmetics, Consumer Culture, and Women’s Identity (1996). Auch wenn Peiss’ Aufsatz primär auf die amerikanische Situa­tion bezogen ist, lassen sich viele Analysen auf Europa übertragen. Die zentrale These von Peiss

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­ annequins stünde der männ­liche Wunsch nach einer technolo­gischen Meiste­ M rung der Frau, wie sie Rita Felski in Bezug auf die männ­liche Geschlechterpolitik der Jahrhundertwende skizziert hat (vgl. Felski 1995, 20).60 Bezieht man Anders’ Konzept auf den ökonomischen Kontext, in dem der Verkauf und Vertrieb von Schönheitsprodukten steht, so wird die „promethe­ ische Scham“ zudem als zentrales Element der konsumistischen Praktiken in der Moderne lesbar. Schon in der Vorführsitua­tion wird durch den makellosen Körper der Mannequins eine verkaufsfördernde Ambivalenz von Konkurrenz und Projek­tion initiiert. Je größer die Divergenz ­zwischen der Makellosigkeit des modellhaft schönen Körpers des Mannequins und der körper­lichen „Unzuläng­ lichkeit“ der Kundin ist, die das Kleid kaufen soll, umso notwendiger wird der Gebrauch von kosmetischen Produkten, vielleicht sogar Schönheitsopera­tionen, um sich dem im Mannequin (oder Filmstar) inkorporierten Status vermeint­lich ewiger Jugend wieder anzunähern (vgl. Peiss 1996, 324).

6.  Körperkapital und Autonomie Die forcierte Verding­lichung des Mannequins ist jedoch nur die eine Seite. Auf der anderen steht dessen Autonomie sowohl in finanzieller wie in sozialer Hin­ sicht. Das heißt, das Mannequin kann aus der Ökonomisierung seines Körpers eine Unabhängigkeit gewinnen, die es mög­lich macht, die eigene „Selbst-­Verding­ lichung“ subversiv unterlaufen. In Siwertz’ Roman Das große Warenhaus erscheint das Mannequin gleichzeitig als mechanische Puppe und als Femme fatale. Der zentrale Konflikt, der hierbei thematisiert wird, ist der z­ wischen männ­lichem Kon­ trollwunsch und männ­lichem Kontrollverlust – mit der entscheidenden Wendung, dass der Dekorateur in dem Moment, als er sich am Ende einer Modenschau in das Mannequin verliebt, selbst der vom Mannequin initiieren transgressiven Performanz des Visuellen erliegt: „Und er sah ihr lange nach, als sie mit gepudertem, geschminktem, unbeweg­lichem Gesicht und den Bewegungen eines sinnreich gebauten mechanischen Spielzeugs auf den

vervielfältigenden Spiegelfond der Estrade zu glitt …“ (Siwertz 1928, 124; Hervorheb. U. ­L.) lautet, dass im 20. Jahrhundert Kosmetik und weib­liche Identität eng korreliert sind. Vgl. auch Thoms 1998, 2009. 60 Vgl. die Erläuterungen am Ende von Kapitel 8.6.

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Figuren der Transgression

In der Projek­tion des Dekorateurs werden in einer fetischistischen Volte 61 nicht nur Kunst und Leben, Vorbild und Abbild verschmolzen, sondern es wird das Spannungsfeld von Limita­tion und Transgression, von dinghafter Fixierung und entgleitendem Entzug ausgelotet, das für die Liebesgeschichte z­ wischen dem Dekorateur und dem Mannequin wesent­liche Bedeutung hat. Während der Dekorateur tradi­tionsbezogen und familienverbunden ist, erscheint das ­Mannequin heimat-, bindungs- und herkunftslos (vgl. Siwertz 1928, 126 f.). So sehr der Dekorateur, entsprechend der damaligen Geschlechterrollenzuweisung, von seiner Frau weib­liche Wärme, Liebe und Natür­lichkeit erwartet, so wenig kann und will das Mannequin dieser Rollenerwartung entsprechen.62 Im Unterschied zur typischen Verkäuferin-­Karriere mündet die „Karriere“ des Mannequins bei Siwertz nicht im sozialen Abstieg. Im Gegenteil: Dessen hedo­nistischer und promiskuitiver Körper ist vielmehr die Gewähr für den sozia­ len Aufstieg. Nachdem das Mannequin den Dekorateur verlassen hat, schließt es sich dem ehemaligen Reklamechef des Warenhauses an, der es zum Film nach Amerika bringen möchte: „Der Reklamemann schaffte sich eine lebende Dekora­tionspuppe an: die Verführung des Auges, umgesetzt in klingende Dollars.“ (Siwertz 1928, 284)63 Noch stärker hat Manfred Georg in Aufruhr im Warenhaus 61 Bezeichnend ist, dass der Dekorateur zunächst nicht erkennt, dass seine Frau das reale Vorbild für eine seiner Schaufensterpuppen ist. Mit Hartmut Böhme liegt d ­ ieses Nichter­ kennen in der Logik des Fetischismus begründet, der nicht „der Logik der Repräsenta­tion“ folge (vgl. Böhme 2006, 386). Zum Thema Fetischismus und Serialität vgl. ebd., 379 f. 62 Der konsumistische Körper des Mannequins ist schon um 1900 ein Stereotyp. Bei Loeb heißt es: „Dafür hat sie in ihren Jugendjahren, als sie noch Fräulein Gelbstern hieß, des Lebens ungemischte Freude in vollen Zügen geschlürft. Da schauten die Reisenden sich nach ihr um, die Konfek­tionäre, die jungen Leute bis herab zum dreikäsehohen Stift, wenn sie das blonde weiche Haar gekräuselt, im einfachen Schmucke des weißen Waschkleides, sich in den Hüften wiegend durch das Lokal schritt. Da fing sie voll Versehens heiße Blicke auf, da drückte sie schnell begreifend eine feste Männerhand, da inszenierte ein flüchtiger Kuß hinter dem Ständer mit den Staubmänteln einen Tag toller Freude, der bei Dressel, im Kasino und wie die nied­lichen Restaurants alle heißen, – noch lange nicht endete.“ (Loeb 1906, 74) Demgegenüber heißt es bei Helm gegen d ­ ieses K­lischee: „Das lustige Leben, das man ihnen [den Mannequins] so gerne nachsagt, ist nicht weit her.“ (Helm 1930, 59) Schließ­lich scheint es länderspezifische Unterschiede ­zwischen dem gesellschaft­lichen Ansehen von Mannequins zu geben: „Von den Vorurteilen, mit denen man ihn [den Mannequin] hier in Deutschland häufig umgibt, ist in England nichts zu merken. Damen aus dem bestem Hause findet man in fast allen Modesalons.“ (Leopold 1930, 192) 63 Auch in Vicki Baums Der grosse Ausverkauf träumt ein Mannequin von einer solchen Karriere: „Lilian, das ist das Mädchen in dem franzö­sischen Salon der Kleiderabteilung,

Ökonomie und Weib­lichkeit

das autonome Moment des Mannequins betont. Bei einer Modenschau soll die ehemalige rumänische Anarchistin Maria Spiru, die nun als Mannequin arbeitet, ein gewagtes Negligé vorführen, was sie anfangs verweigert. Schließ­lich lässt sie sich doch überreden und die Modenschau gerät zum Skandal. Zwar wird Maria nach dem Auftritt wegen „sittenlosen Betragens“ (Georg 1928, 92) entlassen, doch schon am nächsten Tag erhält sie einen Vertrag als Filmschauspielerin (Georg 1928, 93; vgl. ebd., 114). Die männ­liche „Zurichtung“ des Mannequins zu einem rein auf Erotik reduzierten Körper – „Sie sind mir doch nicht als Heilsarmee-­ Sängerin, sondern als Mannequin zugeteilt worden […]. Also zieren Sie sich nicht.“ (Georg 1928, 86) – führt keineswegs zu einem fremdbestimmten weib­lichen Kör­ per. Im Gegenteil: In der vermeint­lichen „Zurichtung“ gewinnt das Mannequin eine Freiheit zur Selbstbestimmung, die vorher nicht denkbar war. Symbo­lischer Ausdruck dieser Freiheit ist nicht zuletzt die homosexuelle Beziehung, die Maria wenig ­später mit ihrer Filmkollegin Antonia beginnt (vgl. Georg 1928, 164 ff.). In Franz Hessels Eine gefähr­liche Straße erscheint schließ­lich der Typus eines männermordenden Mannequins.64 Ebenso wie der Dekorateur bei Siwertz „eine pein­liche Macht“ (Siwertz 1928, 270) über sich durch das Mannequin verspürt, ebenso scheinen sich bei Hessel die Machtverhältnisse z­ wischen Mann und Frau verkehrt zu haben. Die Schaufensterpuppen, über die Hessel spricht, dienen als Vehikel der Beschreibung und Reflexion eines Frauentyps, der jenseits aller Zuord­ nungslogiken des binären, bürger­lichen Weib­lichkeitsnarrativs zu stehen scheint: Lilian Smith. Sie heißt Smith, weil sie die Tochter des Kanalarbeiters Smith ist, und sie heißt Lilian, weil sie die Vulgarität ihrer Herkunft und ihres Namens auszubalancieren wünscht. Ihr schwebt unklar so etwas vor, als könnte dieser Name auf Plakate kommen: die Filmschauspielerin Lilian Smith, der Revuestar, die Schönheitskönigin Lilian Smith. Sie würde das ‚Lilian‘ dann beibehalten und das Smith ganz fallen lassen.“ (Baum 1937, 25) Vgl. Horkheimer/Adorno 1988, 174: „Vornamen, die archaischen Überbleibsel, hat man auf die Höhe der Zeit gebracht, indem man sie entweder zu Reklamemarken stilisierte – bei den Filmstars sind auch die Nachnamen Vornamen – oder kollektiv standardisierte. Ver­ altet klingt dafür der bürger­liche, der Familienname, der, anstatt Warenzeichen zu sein, den Träger durch Beziehung auf die eigene Vorgeschichte individualisierte.“ 64 Nur wenige Mannequins entsprechen nicht ­diesem Stereotyp. In Zugsmiths A Time to Remember träumt das Mannequin Gretchen Shane gerade nicht von einer Film-, Revueoder Broadwaykarriere oder von einem sozialen Aufstieg durch Heirat (was leicht mög­lich wäre, da sie der Juniorchef des Warenhauses umwirbt), sondern sie wünscht sich vielmehr das bodenständige Landleben ihrer Kindheit zurück. Wenngleich dieser Gegenentwurf zur typischen Karriere des Mannequins gleichfalls ein K­lischee ist, bricht er doch aus dem seinerzeit üb­lichen Narra­tions- und Deutungsschema aus.

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Figuren der Transgression

„Mit spitzen Mündern fordern sie dich heraus, schmale Augen ziehen sie, aus denen der Blick wie Gift tropft. Ihre Wangen sind nicht Milch und Blut, sondern fahles

Gelbgrau mit grüngoldenen Schatten. Kein Wasserstoffsuperoxyd kann ein so böses

Blond hervorrufen, wie die Tönungen ihres Haares haben. Oft sind die Gesichter nur

skizzenhaft modelliert und die angedeuteten Mienen sind dann von besonderer Ver­ derbtheit. Sowohl in der Steife wie in der sport­lichen Elastizität ihrer Bewegungen ist

eine kühle Mischung von Frechheit und Distink­tion, der du Armer nicht wirst wider­

stehen können. Alle verachten sie die Männer furchtbar. Sie bestaunen nicht, was so ein Mann nicht alles, alles denken kann. Sie durchschauen uns.“ (Hessel 1929, 686)

Dieser Frauentyp impliziert wiederum jene Welt ohne Männer, die anhand der autoerotisch agierenden, weib­lichen Konsumentinnen im Warenhaus schon beschrieben wurde.65 Doch im Unterschied zu diesen ist der von Hessel skizzierte Typ nicht mehr einer simplen geschlechterpolitischen Instrumentalisierung, etwa durch Pathologisierung, zugäng­lich. Er ist vielmehr hochgradig ambivalent, da er zugleich als Projek­tionsfläche männ­licher Begierden und Kristallisa­tionspunkt männ­licher (Versagens-)Ängste fungiert. Was Felski über die Prostituierte, die Schauspielerin und die mechanische Frau schreibt, lässt sich zweifellos auch auf das Mannequin übertragen. Es muss ebenfalls zu den „ambivalent responses to capitalism and technology“ (Felski 1995, 20) gezählt werden. In ihm verschmel­ zen ein autonomer konsumistischer Körper, schauspielerische Künst­lichkeit, industriell-­serielle Mechanisierung und kapitalistische Ökonomisierung mit dem Imago einer modellhaft schönen, für Männer gleichermaßen unwidersteh­lichen wie unkontrollierbaren Frau.66

65 Vgl. Kapitel 5.5. 66 Zu den Implika­tionen und Ambivalenzen „ästhetischer Selbstregierung“ im Zeichen ­­ der neoliberalen Gesellschaft der Gegenwart vgl. den Band von Villa 2008a, darin insbesondere die Beiträge von Davis, Maasen, Morgan und Villa. Die Ursprünge dieser „ästhetischen Selbstregierung“ lassen sich, insbesondere hinsicht­lich der „Gleichzeitigkeit von Freiheit und dem Zwang zur Selbstgestaltung“ (Maasen), bis in die 1920er und 1930er Jahre zurück­ verfolgen. Vgl. Peiss 1996, Posch 1999, Stoff 2004 sowie Lindemann 2014a.

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Kapitel 7

Warenhauspolitik

1.  Die Amerikanisierung der Welt 1 Die dem Warenhaus zugeschriebene Logik der Transgression wird um 1900 über den geschlechterpolitischen Kontext im engeren Sinne hinaus noch mit zwei wei­ teren Themenfeldern in Verbindung gebracht. Zum einen wird in den zeitgenös­ sischen Warenhausdebatten das Verhältnis z­ wischen Europa und Amerika disku­ tiert, zum anderen die Beziehung ­zwischen Judentum und Kapitalismus.2 Wie die Analysen zeigen werden, sind beide Themenkomplexe eng korreliert und lassen nicht zuletzt mit Blick auf die geschlechterpolitische Dimension der modernen Konsumsphäre analoge Semantiken und Zuschreibungsmuster erkennen. Der semantische Konnex z­ wischen europäischen und amerikanischen Waren­ häusern bzw. dem Amerikanismus 3 wird oft über eine Raummetaphorik hergestellt. Beispielhaft hierfür ist das „amerikanische[] Riesen-­Warenhaus[]“ aus Hermann Harry Schmitz’ Satire Die Bluse (1918), das „in seiner bebauten Größe Elsaß-­ Lothringen in den Schatten“ (Schmitz 1918, 45, 50) stellt. Dieser Gigantismus ist in vielen damaligen Schilderungen ein auffälliges Merkmal amerikanischer Warenhäuser: „Bei den riesigen Dimensionen […] ist es ihnen mög­lich, ihren Kunden vieles zu bieten, wozu es unseren deutschen Häusern schon an Raum fehlen würde.“ (Aus den Warenhäusern beider Welten 1910, 84 f.)4 Joseph Roth sieht diesen Gigantismus Ende der 1920er Jahre auch in Deutschland verwirk­licht.

1 Der Begriff „Amerikanisierung der Welt“ wird bereits 1902 in dem gleichnamigen Buch von William Thomas Stead geprägt. Zum Begriff „Amerikanisierung“ und dessen pejora­tivem Bedeutungswandel im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts vgl. Kamphausen 2002, 159 ff. 2 Vgl. zum Thema Judentum und Kapitalismus s. Abschnitt 2 ff. 3 Zum deutschen und franzö­sischen Amerikanismus bzw. Antiamerikanismus vgl. das Stan­ dardwerk von Klautke 2003, zu den Begriffen selbst ebd., 17 ff.; zur Rolle des Antiameri­ kanismus in der Kulturkritik der Jahrhundertwende vgl. Kamphausen 2002; vgl. überdies Lüdtke/Marßolek/Saldern1996 sowie De Grazia 1997. 4 Vgl. „Mit einem der 92 Fahrstühle [bei Marshall Field in Chicago] stattet man den im 7. Stock­ werk befind­lichen Erfrischungsräumen einen Besuch ab. Hier können gleichzeitig etwa vier­ tausend Personen Frühstück oder Tee einnehmen […].“ (Warenhäuser der Welt 1926, 42)

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Figuren der Transgression

Über das neu errichtete, fast sechzig Meter hohe Karstadt-­Warenhaus am Her­ mannplatz in Berlin schreibt er: „Die Warenhausträumer träumten von einem Wolkenkratzer. Und also bauten sie eines

Tages das ganz große Warenhaus […]. Die alten und nur großen Warenhäuser sind klein dagegen und beinahe simple Kaufläden […].“ (Roth 1987, 182)5

Neben den architektonischen Anleihen sind es vor allem die in Amerika ent­ wickelten tayloristischen Verfahren der Betriebsführung, die deutsche Waren­ häuser schon kurz nach der Jahrhundertwende adaptieren und zu sichtbaren Veränderungen in ihrer Organisa­tion führen.6 Insbesondere das 1907 eröffnete KaDeWe vereine, so Leo Colze in Berliner Warenhäuser, „alle Vorzüge, alle Leh­ ren Amerikas und Deutschlands“ (Colze 1908, 10). Vor d ­ iesem Hintergrund ist es kein Zufall, wenn in Böhmes W. A. G. M. U.S der Sohn des Inhabers, Friedrich 5 Der Artikel „Das ganz große Warenhaus“ erschien am 8. 9. 1929 in den Münchner Neuesten Nachrichten. Da sich Roth in den 1920er Jahren in Berlin aufhielt, ist es sehr wahrschein­lich, dass er mit dem „ganz großen Warenhaus“, das in seinem Text nicht näher lokalisiert wird, das in nur fünfzehn Monaten errichtete, am 21. 6. 1929 eröffnete Karstadt-­Warenhaus am Hermannplatz meint (vgl. Bienert 2013, 226), das bei Fertigstellung das größte Warenhaus Europas war. Vgl. zur Äußerung Roths die Bemerkungen des Architekturkritikers ­Werner Hegemann in der Einleitung zu Philipp Schaefers Neue Warenhausbauten der Rudolph Karstadt AG (1929). Dort heißt es über den „Amerikanismus“ des Berliner Neubaus: „Da Deutschland in Sport, Automobilismus, Nahrung und Kleidung dem kapitalreicheren Amerika getreu­lich nachfolgt, darf man sich nicht wundern, daß auch unsere […] Waren­ häuser sich in die vertikalen Bauformen amerikanischer Turmhäuser kleiden […]. Um so erfreu­licher ist es dann, daß diese neuen deutschen Warenhäuser, die bei oberfläch­licher Betrachtung wie Nachahmungen amerikanischer Vorbilder wirken, in Wirk­lichkeit Neu­ schöpfungen sind, die aus aller Welt erprobte Erfindungen im Gebiete des Warenhaus­ baues mit bisher unbekannter Großzügigkeit zu technischer Vollendung vereinen […].“ (Hegemann in: Schaefer 1929, VI) Vgl. zudem die polemische Stellungnahme eines na­ tionalsozialistischen Autors: „Mitten in einem Arbeiterviertel, dessen Bewohner eben gerade noch das Dasein fristen, deren Elend bis zum Himmel schreit, erhebt sich d ­ ieses Monstrum von einem Würge-­Palast fast abseits vom Verkehr der Großstadt!“ (Gerber 1932, 23) Zu weiteren Details der Baugeschichte des Karstadt-­Warenhauses vgl. Rudolph Karstadt 1929 u. Stürzebecher 1979, 41 f. Weitere Zeugnisse über das Karstadt-­Warenhaus finden sich in Bienert 2013. 6 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 10.1 ff. Zur frühen europäischen Rezep­tion des Taylo­ rismus s. Klautke 2003, 61 ff. In Bezug auf Zolas Au Bonheur des Dames spricht schon Paul Lindau davon, dass Mouret Reklame „mit amerikanischer Großartigkeit“ (Lindau 1883, 123) betreibe.

Warenhauspolitik

Müllenmeister, für seine kaufmännische Ausbildung in die Vereinigten Staaten geschickt wird.7 Dahinter steht die Auffassung seines Vaters: „Unsere Zeit ist nun aber einmal das Zeitalter der unbegrenzten Mög­lichkeiten,8 und nur ein Geschäft, das nach allen Seiten frei Land hat, um sich immer weiter zu dehnen und immer neue Seiten zu entfalten, hat Aussicht, sich in der Zukunft 9 zu

behaupten.“ (Böhme 1911, 34)

1926 fasst der Berliner Architekt Paul Georg Nehab schließ­lich die seinerzeit aktuellen Entwicklungen im modernen Einzelhandel zusammen: „Die Entwicklung des Warenhauses ist künftighin als durch die drei großen Gesichts­ punkte bestimmt: Verkehrsfrage – Bautechnik – Warenschau einerseits, Maschine –

Organisa­tion – Wirtschaft andererseits. Die große Welle, von der diese Entwicklung getragen wird, heißt: Amerikanismus.“ (Nehab 1926, 7)

Darüber hinaus ist das Warenhaus nicht zuletzt deswegen ein Phänomen des Amerikanismus, weil es im Zentrum der modernen, urbanen Massenkultur steht. Amerika gilt zeitgenös­sisch als Land der Masse bzw. Massenkultur (vgl. Klautke 2003, 239 ff.). Adolph Halfeld schreibt in Amerika und der Amerikanismus (1927), dem „wichtigsten Referenzwerk der Gegner des Amerikanismus in Deutsch­ land“ (Klautke 2003, 276): „Die Masse als oberste Wertnorm, ihre gedank­liche Intoleranz, ihre Gesetze und Ziele bestimmen das Wesen des Amerikanismus.“ (Halfeld 1927, 159) Unecht, uniform, oberfläch­lich, sensa­tionslüstern, materiell orientiert – diese Merkmale kennzeichnen laut Halfeld das amerikanische Leben und die durch

7 Georg Tietz, der Sohn von Oscar Tietz, hält sich ab 1906 für eineinhalb Jahre in den USA auf. Mög­licherweise spielt Böhme darauf in ihrem Roman an. In den USA volontiert Tietz in den New Yorker Warenhäusern Wanamaker und Gimbels, arbeitet bei einer New Yorker Bank und zum Schluss bei einem Baumwollmakler in New Orleans. Vgl. Tietz 1965, 125 ff. 8 Der Begriff wird 1903 durch das Amerikabuch Das Land der unbegrenzten Mög­lichkeiten von Ludwig Max Goldberger populär. Vgl. Klautke 2003, 7. 9 Auch der Begriff „Zukunft“ ist im deutschen Sprachraum um 1910 amerikanisch semanti­ siert. Vgl. Wilhelm von Polenz’ Reisebericht Das Land der Zukunft (1903) und das äußerst populäre Buch von H. ­G. Wells The Future in America (1906), das 1911 ins Deutsche über­ setzt wird. Vgl. Klautke 2003, 16.

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Figuren der Transgression

Kino und Presse dominierte amerikanische Massenkultur (vgl. Halfeld 100 ff., 203 ff.). Amerikaner hätten im Gegensatz zu Europäern kein Verständnis für „Volk und Vaterland, Ahnensinn und Kulturgefühl“ (Halfeld 1927, 53). Hinzu kommt die forcierte Feminisierung der amerikanischen Kultur: „Diese ausgesprochen feminine Betontheit aller Emo­tionen, der Sitte, des Geschmacks,

der Familie, der Kunst, des Rechts und Denkens kann kaum noch mit einer erzwun­

genen Anpassung der Rollen der beiden Geschlechter an den veränderten Rhythmus

der Zeit erklärt werden. Sie verzerrt die Naturgegebenheit eines Verhältnisses, in

welchem […] die Frau den schöpferischen Funken vom Manne empfing. […] Der

Mikrokosmos der Familie bestätigt es: Von einer halbdunklen Ecke des Wohnzim­ mers aus darf der amerikanische Mann als teilnahmsloser und verbind­licher Jasager

in jeder nicht geschäft­lichen Unterhaltung mitwirken, an der Frauen sich beteiligen.“

(Halfeld 1927, 209)10

In Amerika werden laut Halfeld alle Bereiche des gesellschaft­lichen Mitei­ nanders weib­lich dominiert. Die Herrschaft des Konsums über die Produk­ tion, des Weib­lichen über das Männ­liche ist derart umfassend, dass der Mann faktisch entmündigt ist. Er ist nicht mehr nur Kaufdilettant,11 sondern wird vollends auf seine Funk­tion als Versorger reduziert und auf diese Weise sei­ ner Männ­lichkeit beraubt.12 Ganz Amerika erscheint als Zone weib­licher Kompetenz und männ­licher Inkompetenz. Männer spielen nur insofern eine Rolle, als sie die „Zeche [zu] bezahlen [haben]“ (Halfeld 1927, 213). Halfeld fasst zusammen:

10 Ähn­lich heißt es auch bei Rudolph Hildebrandt in seinem Artikel Feminismus in A ­ merika: „Er [der amerikanische Mann] arbeitet sich langsam zu Tode, zu geschäftig, um eine Stunde wahrhaft zu leben. Stammtisch kennt er nicht. Rauchen wird nicht gern [von den ameri­ kanischen Frauen] gesehen. Lang ausbleiben in Freundesgesellschaft ziemt sich nicht für einen guten Mann. Bleiben noch Besuche, Kino, sinnlose Autofahrt. Und dabei immer am Schürzenbande. Allerdings gibt es ja noch die Freuden der Liebe. Sie spielen eine große Rolle, denn je weniger einer Mann ist, desto mehr ist er Kosemännchen.“ (Hildebrandt 1928, 260) 11 Zur male exclusion im Warenhaus vgl. Kapitel 5.2, zu den männ­lichen Kaufdilettanten s. Kapitel 8.6. 12 Zu den Männ­lichkeitsbildern in der Moderne vgl. Mosse 1997.

Warenhauspolitik

„Fast hat es den Anschein, als ob die ganze Riesenfabrik des Amerikanismus nur dazu

geschaffen wäre, um der Frau die Bühne herzurichten, auf der sie ihren gesellschaft­

lichen Ehrgeiz befriedigen kann.“ (Halfeld 1927, 210)13

Auch wenn bei Halfeld Warenhäuser an keiner Stelle ausdrück­lich erwähnt wer­ den, sondern nur allgemein auf den „organisierten Massenabsatz“ insbesondere durch Einheitspreisgeschäfte wie Woolworth hingewiesen wird (vgl. Halfeld 1927, 104 ff.), wird aus den Zitaten deut­lich, dass aus der Sicht Halfelds in Amerika das Prinzip des Warenhauses als massenkulturelle Sphäre weib­licher Dominanz ubiquitär geworden ist. Auf diese Weise können die beiden „Schreckbilder der zeitgenös­sischen Kultur- und Zivilisa­tionskritik“ an Amerika überblendet wer­ den: einerseits die „Angst vor der Nivellierung des Geistes und der Austreibung der Kultur im Zeichen ­­ der ‚Herrschaft der Masse‘“, andererseits die „Vorstellung einer Umkehrung der Geschlechterverhältnisse“ (Klautke 2003, 307). Die Argumente Halfelds über die nivellierenden Auswirkungen der amerika­ nischen Massenkultur sind keineswegs neu. Sie partizipieren an einem diskursi­ ven Feld, auf dem sich die wesent­lichen Posi­tionen einer Kritik an der modernen Konsumgesellschaft längst ausdifferenziert haben. Was bei Halfeld Ende der 1920er Jahre auf Amerika projiziert wird, dafür steht um 1900 das Warenhaus. So heißt es etwa in Hector Lambrechts Warenhäuser und Konsumvereine vom sozialen Standpunkte betrachtet (1913): „Die sozialen Folgen dieser Bestrebungen [der Warenhäuser nach Ausdehnung des

Massenabsatzes] sind: Eintönigkeit, Entartung und allmäh­liches Verschwinden des

ästhetischen Sinnes und Geschmackes; Herabsetzung der Persön­lichkeit und des Indi­

viduums; Unterdrückung des Kunstgewerbes, Beseitigung der Auswahlmög­lichkeit und

das Gewöhnen an die Massenproduk­tion. Alle diese Folgeerscheinungen sind Vorläufer

und Kennzeichen des Verfalls eines Volkes und seiner Kultur. So ist der Nachteil also

13 Noch deut­licher wird Hildebrandt: „Die Verwirk­lichung des Ideals der Amerikanisierung der Welt wird betrieben von den Frauenklubs, von den protestantischen Missionen und von der großartigen Knabenfeminisierungsanstalt, genannt Y. M. C. A. […]. Die Amerikani­ sierungsarbeit geht stracks auf das Ziel los: Errichtung der Weiberherrschaft und geistige Kastra­tion der Männer.“ (Hildebrand 1928, 261) Zahlreiche weitere seinerzeitige Zeugnisse über die vermeint­liche Feminisierung Amerikas aus deutschen und franzö­sischen Quellen finden sich in Klautke 2003, 300 ff.

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ein doppelter: Banalität des Lebens in Bezug auf die jetzige und Verlust des ästheti­

schen Sinnes für die kommende Genera­tion.“ (Lambrechts 1913, 53)

Die Zitate von Lambrechts und Halfeld zeigen nicht nur die argumentative und diskursive Kontinuität der an die moderne Konsumkultur geknüpften Moderne­ kritik. Ebenso wird deut­lich, wie variabel besetzbar die argumentativen Posi­ tionen sind. Was bei Halfeld als transna­tionale Polarität konstruiert wird, wird bei Lambrechts diachron und na­tional gefasst; die Angst bleibt dieselbe: ein durch die moderne Massen- und Konsumgesellschaft bedingter Kulturverfall (vgl. Saldern 1996, 214 ff.; Klautke 2003, 239 ff.). Ein weiterer Beleg für den frühen Bezug der Antiwarenhauspropaganda auf Amerika findet sich in Die Großbazare und Massenzweiggeschäfte (1899) von Paul Dehn. Der Autor bemerkt ironisch über die von amerikanischen Warenhäusern initiierten „Kulturfortschritte“: „Am weitesten voran ist man in Nordamerika. Ein Großbazar John Wanamaker in New-­York kündigte Anfang Januar 1899 an: ‚Als besondere Anziehungskraft gilt noch

die außergewöhn­liche Orienta­lische Ausstattung im Erdgeschoß. Da ist ein wirk­licher

Bazar. Syrische Musik, – Orchester- und Vokal-­Musik, – Stickereien von Damaskus, ein japanischer Maler, der türkische Pantoffelmacher, der syrische Filigran-­Arbeiter, der Herr Chinese und die Frau Chinesin, der Japanese, – die letzteren sind Verkäufer –

lauter lebenswahre, lebendige Vertreter ihrer Völker. Bei Wanamaker ist’s gut sein, für

Unterhaltung ist gesorgt.‘“ (Dehn 1899, 38)14

Im Unterschied zu den bisher zitierten Autorenn ist bei Dehn die Amerikani­ sierung Europas bestenfalls ein sekundärer Effekt. Im Fokus steht vielmehr die orienta­lische „Unterwanderung“ Amerikas. Diese Argumenta­tionsfigur rekur­ riert einmal mehr auf den Orient als imaginären Referenzpunkt der kultur- und zivilisa­tionskritischen Disqualifizierung des modernen Warenhauses bzw. der modernen Konsumsphäre, wie man es in zahlreichen damaligen Texten findet.15 Das vermeint­lich typisch Amerikanische wird vom Orienta­lischen semantisch 14 Kultur, wie sie um die Jahrhundertwende von der deutschen intellektuellen Deutungselite verstanden wird, ist das, was Wanamaker veranstaltet, zweifellos nicht. Vgl. Bollenbeck 1994. Zum Warenhaus als „Ort der Kultur und Bildung“ vgl. Kapitel 9. 15 Vgl. Kapitel 5.1 sowie ausführ­lich Lindemann 2007.

Warenhauspolitik

überlagert und somit in einen kolonialistisch-­fremdenfeind­lichen Kontext über­ führt. Im Vergleich zu Lambrechts und Halfeld erscheint hier jedoch ein ande­ res Deutungsschema: Die moderne Konsumsphäre wird nicht bzw. nicht nur als Ausdruck einer effeminierten, sprich amerikanisierten Massenkultur verstanden, sondern die Kritik wird von ethnischen Zuschreibungen her begründet. In der antisemitischen Antiwarenhauspropaganda wird ­dieses Deutungsschema domi­ nant werden. In Die Juden im Handel und das Geheimnis ihres Erfolges des Anti­ semiten Fritsch heißt es im Anschluss an eine Passage, die ohne Zitatnachweis fast wört­lich aus Lambrechts 16 abgeschrieben ist: „Es erübrigt sich, zu erwähnen, daß die großen Warenhäuser in allen Teilen der Welt

fast ausschließ­lich in Händen von Hebräern sind, und daß es der jüdische Geschäfts­ geist ist, der hier seine bedenk­lichen Triumphe feiert.“ (Fritsch 1913, 128; vgl. Fritsch

1933, 190)17

In den Zitaten von Dehn, Lambrechts, Fritsch und Halfeld wird das diskursive Feld erkennbar, auf dem sich im frühen 20. Jahrhundert die Antiwarenhausagita­ tion z­ wischen Antiamerikanismus, Antifeminismus, Antikapitalismus und Anti­ semitismus konstituiert. Die Engführung der Kritik an Amerika bzw. am Ame­ rikanismus mit der Kritik an der modernen massenkulturellen Konsumsphäre stellt eine Variante eines strate­gischen Komplexes von Argumenta­tionsfiguren dar, mit Hilfe derer versucht wird, die mit der Modernisierung einhergehenden Entgrenzungserfahrungen zu diskursivieren.

16 Es heißt bei Fritsch: „Die sozialen Folgen dieser Entwicklung [zu immer mehr Waren­ häusern] sind: Eintönigkeit, Entartung und allmäh­liches Verschwinden des ästhetischen Sinnes und Geschmackes; Herabsetzung der Persön­lichkeit und des Individuums aus Mangel an einem geeigneten Betätigungs-­Feld; Unterdrückung des Kunstgewerbes. Alle diese Folge-­Erscheinungen sind Vorläufer und Kennzeichen des Verfalls eines Volkes und seiner Kultur.“ (Fritsch 1913, 128) Man vgl. die im Fließtext zitierte Passage aus Lambrechts! 17 Vgl. auch: „Nötig im Sinne jener morgenländischen, länd­lichen und allenfalls amerikanischen Geschäfte sind unsere Warenhäuser in keinem einzigen Falle“ (Fritsch 1913, 112).

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2.  Die Ethnifizierung des Warenhauses 18 Was in Bezug auf Amerika bzw. den Amerikanismus im Wesent­lichen kulturelle Zuschreibung ist, wird in der antisemitischen Kritik am Warenhaus biologisiert und damit auf eine vermeint­lich unhintergehbare rassenbiolo­gische Disposi­tion zurückgeführt. So heißt es bei Sombart in Die Juden und das Wirtschaftsleben: „[I]n dieser krassen Gegeneinanderstellung von Artikeln, die mög­lichst verschiedenen

Branchen angehören und auch mög­lichst verschiedenen Gebrauchszwecken dienen, liegt doch wohl eines der charakteristischen Merkmale des modernen Warenhauses.

Eine vollendete Indifferenz des Geschäftsleiters gegenüber dem Sachinhalte seiner

Tätigkeit, die dadurch ganz und gar zu einer nur-­kommerziellen werden kann, macht somit die Eigenart des Warenhausbesitzers aus und sie ist […] eine jüdischem Wesen

gemäße Erscheinung.“ (Sombart 1911, 178)19

Nicht nur die Warenvermischung im Warenhaus ist eine Anomalie, w ­ elche nach Sombart die hergebrachte Ordnung der „Dinge“ in Frage stellt. Nicht weniger ist es die charakter­liche Disposi­tion, die diese Anomalie in ihrer geschäftsmäßigen „Indifferenz“ hervorbringt. Hinter der von Sombart dem jüdischen Warenhaus­ besitzer attestierten „Indifferenz“ erscheint eine Transgressionsfigur, die, biologis­ tisch gedeutet, im Zentrum der antisemitischen Diffamierung des Warenhauses steht.20 Der jüdische Warenhausbesitzer wird auf eine „economic category“ redu­ ziert: „a commercial class, which was characterized by amorality and greed“, die 18 Weder in Frankreich, Großbritannien noch in den USA gibt es im frühen 20. Jahrhundert eine derart zugespitzte antisemitische Debatte um das Warenhaus wie in Deutschland; allerdings gab es in den USA einen durchaus latenten Antisemitismus. So wurden etwa bei Marschall Field keine Juden eingestellt. Vgl. Harris 1979, 283. Allgemein zum Thema Antisemitismus und Warenhaus im Deutschen Reich, in der Weimarer Republik und während der Naziherrschaft vgl. Uhlig 1956; Hoffmann 1996; Briesen 2001, 165 ff.; Zumbini 2003, 394 ff.; Lerner 2010a, 2010b; Lenz 2011, 159 ff. 19 Vgl. die in Kapitel 1.1 zitierte Passage aus Sombarts Die Juden und das Wirtschaftsleben mit ähn­lichem Tenor sowie die dortigen Ausführungen zur „Warenvermischung“ im Waren­ haus. 20 In Böhmes W. A. G. M. U. S. nimmt Josua Müllermeister den Namen seiner deutschen Frau an, damit das „Odium der Übervorteilung und Unreellität, das das Vorurteil des Publi­ kums den jüdischen Basaren anhängt, […] die Zukunftsentwicklung seiner Firma nicht hemmen [kann]“ (Böhme 1911, 17). An späterer Stelle heißt es: „‚Jud’ bleibt Jud’‘, dachte er [Tobias Ribbeck, ein Schustermeister, der durch den Aufstieg des Warenhauses Müllen­ meister in wirtschaft­liche Schwierigkeiten gerät], ‚Ein Christ bringt das alles nicht zuwege.

Warenhauspolitik

in Form einer „invasion from the East […] an assault on the tradi­tional German economic und social forms“ (Lerner 2013, 94) impliziere. In einem fiktivem Dialog von Maximilian Harden angesichts der Neueröffnung des Wertheim-­Warenhauses am Leipziger Platz im November 1897 wird diese Transgressionsfigur in drastischer Metaphorik entfaltet, wobei die ökonomische Dynamik der modernen, urbanen Warenhäuser mit der rousseauistischen Fik­ tion einer agrarisch geprägten deutschen Kultur konfrontiert und somit in eine Raummetaphorik eingetragen wird. In Hardens Dialog sagt ein antisemitischer Na­tionalist,21 die damaligen antisemitischen Vorurteile noch zuspitzend: „Diese Juden! Das kommt wie ein asiatischer Wanderheuschreckenschwarm und zer­ stört uns an einem Tage die still bereitete Saat. Das hat keine Tradi­tion, kennt keine

Skrupel, denkt nicht an das nachwachsende Geschlecht, nicht einmal an die nächste

Woche, treibt Raubbau und plündert uns plumpe Germanen aus. […] Ist ein Fleck abgegrast, kein Hälmchen mehr aus dem Boden zu zupfen, dann ziehen sie weiter, neuen

Futterplätzen entgegen, immer weiter […]. Kein Band knüpft sie an die Scholle, die

Unsereinen so heilig ist, daß er auf ihr, die seine Ahnen bebauten, lieber ein Bettlerle­ ben als anderswo ein Herrendasein führt […]. Das [jüdische] Volk ist überall heimisch,

wo Etwas zu erhamstern ist.“ (Harden 1898, 3 f.)

Ganz ähn­lich, wenn auch nicht mit so drastischen Metaphern, heißt es bei Dehn: „Und wenn man diejenigen Spekulanten mustert, die diese Geschäfte [die Warenhäu­ ser] ins Leben rufen, so muß man sagen, daß hier auf orienta­lische Art ein Raubzug

unternommen wird, wie er so dreist und umfangreich kaum jemals versucht worden

ist. Deutschfremde Emporkömmlinge, unersätt­liche Spekulanten, nach Angabe Sach­

verständiger nur etwa 20 bis 30 Gründer, fast ausschließ­lich Juden sind es, die dahin­ ter stehen, und unterstützt von der Kapitalskraft sog. Erster Banken mit erstaun­licher

Müllenmeister oder Manasse. Israel bleibt Trumpf. Schritt für Schritt gewinnt Jerusalem mehr und mehr Terrain in der Welt“ (Böhme 1911, 49; vgl. ebd., 276). 21 Diesem antisemitischen Na­tionalisten wird bei Harden als Dialogpartner ein überzeugter, an die proletarische Revolu­tion glaubender Sozialist gegenübergestellt, der im Verlauf des Gesprächs die meisten antisemitischen Stereotype des Na­tionalisten argumentativ zu ent­ kräften vermag. In Bezug auf die Politisierung der Warenhausdebatte um 1900 ist Hardens Text hochinteressant, da er die damaligen Argumente in pointierter Weise zuspitzt.

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Skrupellosigkeit planmäßig und gewerbsmäßig das deutsche Geschäftsleben revolu­

tionieren.“ (Dehn 1899, 68)

Sombart selbst kennzeichnet das „jüdische Wesen“ als nomadisch und zumindest in Teilen als räuberisch (vgl. Sombart 1911, 403 ff.) und rekurriert damit auf die popu­ läre antisemitische Schrift Das Gesetz des Nomadentums und die heutige Judenherrschaft (1887) von Adolph Wahrmund. In der Diaspora komme, so ­Sombart, ­dieses nomadische Wesen wieder zum Vorschein, zumal unter den Bedingungen der modernen urbanen Kultur, denn die Großstadt sei „die unmittelbare Fortsetzung der Wüste – sie steht der dampfenden Scholle ebenso fern wie diese und zwingt ihren Bewohnern ein nomadisierendes Leben auf wie diese.“ (Sombart 1911, 415) Was in der Fik­tion vom Untergang des Kleinhandels durch die Warenhäuser noch als Konkurrenzkampf mit ungleichen Mitteln geschildert wird,22 erscheint in der antisemitischen Umschrift als brutales Überwältigungs- und Zerstörungsszenario. In Henry Fords antisemitischer Artikelserie The Interna­tional Jew (1920) heißt es: „One may readily imagine what happened when the Jewish merchant bustled into the

midst of this jungle of tradi­tions. He simply broke them all. In those days tradi­tion

had all the force of a divinely promulgated moral law and in consequence of his ini­

tiative the Jew was regarded as a great offender. A man who would break those trade

tradi­tions would stop at nothing! The Jew was anxious to sell. If he could not sell one article to a customer, he had another on hand to offer him. The Jews’ stores became

bazaars, forerunners of our modern department stores, and the old English custom of one store for one line of goods was broken up.“ (Ford 1920, 55)

Die jüdischen Geschäftspraktiken destabilisieren nicht allein die hergebrachte Ordnung, sondern vernichten diese, indem sie – so Fords Unterstellung – eine Politik der verbrannten Erde im Sinne kapitalistischer Gewinnmaximierung betreiben. Um ­dieses Ziel zu erreichen, ist jedes Mittel recht: schreiende Reklame, der Verkauf von Schundwaren sowie insbesondere die psycholo­gische Beeinflus­ sung von Frauen, wobei gerade jüdische Geschäftsleute eine „unheim­liche […] Macht […] über das weib­liche Naturell“ (Fritsch 1906b, 85; vgl. Fritsch 1913, 229 ff.) entfalten:

22 Vgl. Kapitel 3.1.

Warenhauspolitik

Abb.3  Antisemitische Karikatur „Jedes neue Warenhaus – tausend vernich­ tete Existenzen“. Aus: Der Angriff, 10. 12. 1928

„Man beobachte nur die blöde Weibermenge, die wie gebannt vor einem jüdischen

Trödelladen steht. Es liegt dort nichts Anderes aus als in sonstigen Geschäfts-­Läden,

meist sogar recht geringe Waren. Aber es muß doch in d ­ iesem wüsten buntschecki­ gen Durcheinander etwas Besonderes stecken, was die Stumpfsinnigen und Willens­

schwachen anzieht – festhält und fasziniert. Sind es blos [sic] die ausgesucht unsinni­

gen Zahlen, die berühmten ‚98 Pfge.‘, Mk. 2.99 usw.? Wer weiß, – vielleicht ist noch ein anderer Zauber dabei.“ (Fritsch 1906b, 84; vgl. Lenz 2011, 162 ff.)

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In den quasi-­hypnotischen Fähigkeiten der jüdischen Geschäftsleute liege auch der Grund, warum in Warenhäusern „schwache Frauen nicht nur zum sinnlo­ sen Kaufen, sondern sogar – zum Stehlen verführt“ (Fritsch 1906b, 85) würden.23 Fritsch zieht das Fazit: „Der Hebräer braucht diese Hypnose; ohne sie würde er sein Fortkommen in der Welt gar nicht finden können.“ (Fritsch 1906b, 85) Der Frage, worin diese angeb­lich hypnotischen Fähigkeiten fußten, geht Fritsch nicht nach, auch wenn sich im Aspekt der Verführung zum Stehlen eine sexuelle Dimension andeutet. Diese sexuelle Dimension rekurriert nicht allein auf das um 1900 gängige K­lischee des Warenhauses als Ort weib­licher Verführung,24 son­ dern geht zudem konform mit der jüdischen Männern seinerzeit unterstellten krankhaften sexuellen Triebhaftigkeit und Lüsternheit (vgl. Mosse 1997, 97 f.; von Braun 2001, 480; Schössler 2009, 82 f.). Wie die dem Warenhaus zugeschriebene religiöse Semantik wird die Hypnose als Letztbegründung für etwas benutzt, das sich „eigent­lich“, sprich männ­lich-­ra­tional, nicht erklären lässt. Die Hypnose-­ Unterstellung füllt einen Raum epistemischer Unbestimmtheit aus, der eine Antwort auf die Frage zu geben versucht, warum Warenhäuser so außerordent­ lich erfolgreich sind.25 Was in der Antiwarenhauspropaganda um 1900 in der Regel nicht auf eine bestimmte ­soziale Schicht hin kontextualisiert ist,26 wird bei Fritsch ethnisiert und offen rassistisch. So kann der jüdische Geschäftsmann und insbesondere der jüdische Warenhausbesitzer als Erzfeind einer mittelständisch geprägten, deutsch-­na­tional gesinnten Ökonomie stigmatisiert werden. In Fritschs antise­ mitischem Handbuch zur Judenfrage (29. Aufl. 1923)27 heißt es: „Eine besondere Form bank-­kapitalistischer Volksausbeutung und Mittelstands-­ Vernichtung ist das Warenhaus. Ein Beispiel: Das Kapital der Warenhaus Akt. Gel.

23 In ­diesem Sinne wird schon bei Zola Mouret als jüdisch gekennzeichnet: „[I]l déclara qu’il était au fond plus juif que tous les juifs du monde“ (Zola 1964, 420). Und ­später: „Sous la grâce même de sa galanterie [gegenüber Frauen], Mouret laissait ainsi passer la brutalité d’un juif vendant de la femme à la livre“ (Zola 1964, 461). Beide Zitate belegen, dass anti­ semitische Zuschreibungen früh im Warenhausthema präsent sind. 24 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 5.2. 25 Vgl. Kapitel 5.6. 26 Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 4.3 und 9.2. 27 Bis 1907 erscheint das Handbuch zur Judenfrage unter dem Titel Antisemiten-­Katechismus. Darin gibt es jedoch noch keinen eigenen Abschnitt über Juden und Handel oder Waren­ häuser.

Warenhauspolitik

Rud. Karstadt, Sitz Hamburg, beträgt 175 Millionen. Direktoren sind Althoff, Braun­

schweig, Karstadt, Schmitz. Schöndorff, Weyl. Aufsichtsrat – nur Juden.28 Die Gesell­ schaft besitzt über 40 Warenhäuser über ganz Deutschland. Zehntausende selbständiger

Gewerbetreibende mußten vernichtet werden, damit diese Warenhäuser blühten: mitten

im Frieden ein erbarmungsloses Morden – jüdischer Kulturanteil!“ (Fritsch 1923, 373)29

In der na­tionalsozialistischen Propaganda findet sich dieselbe Narra­tion. So heißt es in einer Rede Adolph Hitlers: „Diese Zugrunderichtung des Mittelstandes ist gewollt, sie ist planmäßig seit Jahrzehn­ ten vorbereitet. Im Frieden erlebten wir die Kapitalisierung unserer Wirtschaft. An die

Stelle der persön­lichen Wirtschaft trat die Aktienwirtschaft. Das Großwarenhaus hat

die kleineren Existenzen vernichtet, in ähn­licher Weise wie die Konsumwirtschaften.

Diese Entwicklung hat sich seit dem Kriege beschleunigt und zu einer Proletarisierung

unseres Volkes geführt, in dem es in Kürze nur mehr Arme und Reiche geben wird.“

(Rede von Adolf Hitler auf einer NSDAP-Versammlung in München, 28. 9. 1922. In:

Jäckel/Kuhn 1980, 697)30

28 Weder Rudolph Karstadt, Theodor Althoff noch Friedrich Schmitz waren jüdischen Glau­ bens. Aus ­diesem Grund blieben sie auch nach der Machtübernahme durch die Nazis im Vorstand der Karstadt A. G. ­Vgl. Lenz 1995, 154 f. 29 Die Polemik der Na­tionalsozialisten nimmt nicht selten den Charakter einer systematisch organisierten Hetzjagd an: „Flugblätter, Hetzschriften, Demonstra­tionen ‚gegen Schleu­ derei und Frauenarbeit‘, Randale und tät­liche Übergriffe werden organisiert. Georg Tietz erinnert sich, damals unter Polizeischutz den Laden verlassen zu haben, während sein Vater Tag und Nacht im Warenhaus blieb. Auf der politischen Ebene wurden Verordnungen vorgeschlagen, die den Einzelhandel generell nur im Erdgeschoss oder in der ersten Etage zulassen sollten. Gelang es den Warenhausbetreibern noch, diese Vorschriften zu verhin­ dern, so kam es doch zu zahlreichen Schikanen mit Hilfe eigenwilliger Interpreta­tionen des Baurechtes und der Brandschutzbestimmungen. Teure Umbauten der Treppen und Gänge mussten umgesetzt werden. Unter anderem gab es in München auch zeitweise eine vorgeschriebene Höchstbesucherzahl für das Warenhaus, welches bei zu vielen Besuchern wiederholt geschlossen werden musste.“ (Busch-­Petersen 2004, 27) Darüber hinaus wer­ den zahllose Klagen gegen Warenhäuser wegen unlauteren Wettbewerbs, Betrugs, falscher Maße und Gewichte sowie unzulässiger Arbeitsbedingungen bei Gerichten angestrengt. Zur Zuspitzung der Ak­tionen gegenüber Warenhäusern im Zuge der na­tionalsozialis­ tischen Agita­tion seit Ende der 1920er Jahre vgl. Uhlig 1956, 64 ff. 30 In einer anderen Rede Hitlers vom 3. 4. 1929 heißt es: „Hier in München selbst baut man jetzt schon ein Warenhaus nach dem anderen, und zwar in Stadtvierteln, von denen man weiß, daß dort nur lauter mittlere Geschäfte sind […]. Da stellt man nun so ein Warenhaus

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Doch d ­ ieses Überwältigungs- und Zerstörungsszenario beschränkt sich keines­ wegs auf den ökonomischen Bereich im engeren Sinne, sondern mit dem Verlust einer mittelständischen Ökonomie steht zugleich die „Volksgesundheit“ als Gan­ zes auf dem Spiel. In Fritschs Handbuch zur Judenfrage (33. Aufl. 1933) heißt es: „Bei der Verbreitung und bei dem schier unbegrenzten Kapitalkredit, den die Waren­ hausjuden bei den Judenbanken genossen, waren sie eine ungeheure Gefahr für den deutschen Mittelstand geworden […]. Die Ausdehnung ­dieses Wirtschaftsgebietes

entscheidet über die Gesundheit und Stabilität eines Volkskörpers, ist also bevölke­

rungspolitisch außerordent­lich wichtig.“ (Fritsch 1933, 187 f.)

Interessanterweise wird die Krankheitsmetapher in Bezug zum Warenhaus bereits in Zolas Au Bonheur des Dames eingesetzt, wenn die Tuberkuloseerkrankung von Baudus Tochter Geneviève mit dem Niedergang des Einzelhandels in der hinein. Man sagt: Frei­lich, frei­lich hat jedes Geschäft einen Verlust. Aber so groß ist der Verlust nicht. So groß? Der Verlust braucht gar nicht groß zu sein heute, damit ein Geschäft kaputtgeht. Es genügt oft, daß wenige Prozente fehlen, und dann geht das Geschäft zugrunde. […] Wenn heute beispielsweise in die Dachauer Straße hinein ein neues großes Warenhaus gestellt wird, so heißt das, daß man Tausende von anderen Geschäften langsam ruiniert, ihre Besitzer an den Bettelstab bringt.“ (Rede von Adolf Hitler auf einer NSDAPVersammlung in München, 3. 4. 1929. In: Lankheit 1994, 143) Vgl. auch: „Vor kurzer Zeit erschien eine Jubiläumsschrift des Verbandes der Warenhäuser. Eine Mustergalerie von Charakterköpfen zeigte die dabei angefügte Photosammlung der Warenhauskönige. Da findet man sie beisammen, wie wenn sie einem Rasseforscher die Arbeit erleichtern woll­ ten: die teils reinrassigen Typen der Schocken, Grünbaum, Knopf, Hirsch und die halben Talmiköpfe der Tietz, Wronker, Joske, Ury und wie sie alle heißen, die aus Birnbaum und von weiter öst­lich her kamen, von dort, wo der Kaftan und die Hängelocke bis auf die­ sen Tag zu unentbehr­lichen Requisiten der Volkszugehörigkeit zählen […]. Sie haben in wenigen Jahren verstanden, durch ein sorgsam vertarntes Ramschsystem reich zu werden, den ehr­lichen Kaufmann mit Schleuderpreisen zu schlagen, Handwerk und Gewerbe im weiten Umkreis an die Wand zu drücken, eine Infla­tion von Stapel- und Kellerwaren ins Werk zu setzen, die der breiten Masse durch schlau garnierte Vorspiegelung falscher Tatsachen oft die letzten Notpfennige aus der Tasche holt. […] Da stehen in den Groß­ städten die Prunkpaläste des halbwegs seßhaft gewordenen Hausiergeistes, die ebenso wie der Wanderjude in seinem Trödelladen einen bunten, mit Kaufreiz spekulierenden Krimskrams enthalten.“ (Buchner 1930, 3 f.) Vgl. die bei Uhlig (1956, 191 ff.) zitierten Quel­ len zur Haltung der NSDAP bezüg­lich Warenhäusern. Im Parteiprogramm der NSDAP von 1920 heißt es: „Wir fordern die Schaffung eines gesunden Mittelstandes und seine Erhaltung, sofortige Kommunalisierung der Großwarenhäuser und ihre Vermietung zu billigen Preisen an kleine Gewerbetreibende […].“ (Parteiprogramm der NSDAP [1920])

Warenhauspolitik

Umgebung des Warenhauses parallelisiert wird.31 Entscheidend für Zolas Ein­ satz der Metapher ist, dass das Warenhaus vom allmäh­lichen Siechtum des Einzelhandels profitiert, also je länger d ­ ieses Siechtum dauert, umso mehr vor Gesundheit und Kraft strotzt. Das Warenhaus erscheint als Blutsauger 32, was nicht zuletzt eine Parallele zum Gründungsmythos des Mouret’schen Waren­ hauses aufweist, das auf dem „Blut“ von dessen verstorbener Frau gebaut ist, die nach einem Sturz bei einer Baustellenbesichtung des Warenhauses verstirbt (vgl. Zola 1964, 408 sowie Schössler 2009, 285). Im Gegensatz zu Zola wird im antisemitischen Schrifttum diese Bild­lichkeit umgekehrt. Hier erscheint das Warenhaus selbst als Krankheitsherd, der seine Keime epidemisch verbreitet: als „Warenhaus Pest“, wie der Titel einer na­tio­ nalsozialistischen Hetzschrift lautet (vgl. Gerber 1932), wobei in der Umge­ bung des Warenhauses alle „gesunden“ Prozesse unterdrückt würden.33 In Hans Buchners Warenhauspolitik und Na­tionalsozialismus (1930) wird diese Metaphorik noch zugespitzt: „Die Gewinne der Warenhäuser sind ungeheuer. […] Sie ziehen wie eine Krebsge­ schwulst alle Kraft aus den Organen, der Zirkula­tionsprozess des Geldes staut sich

hier zu katastrophischen Entartungsgebilden. Hinter der glänzenden Fassade d ­ ieses

kaufmännischen Jahrmarkttreibens lauert das Finanzkapital.“ (Buchner 1930, 4)34

Was im anormalen sexuellen Begehren des jüdischen Kaufmanns ledig­lich auf mikropolitischer Ebene patholo­gisch ist, weitet sich bei Buchner zu einem Krank­ heitsbefall des gesamten „Volkskörpers“ aus, der umso bedroh­licher ist als das Geld, das zu Stauungen im Zirkula­tionsprozess führt, aus dem Ausland kommt und somit per se als Fremdkörper abqualifiziert wird.35 Kaum zufällig wird daher 31 Vgl. Kapitel 3.1. 32 Diese Metapher wird von Zola selbst zur Charakterisierung des Warenhauses benutzt. Vgl. Zola 1964, 461, 690. 33 Vgl. Susan Sontags Ausführungen in Illness as Metaphor (1978). 34 Diese Krankheitsmetaphorik hat eine lange Vorgeschichte und wird, wenn auch in abge­ wandelter Form, schon im 17. Jahrhundert mit Blick auf die schäd­lichen Wirkungen von übermäßigem Luxus benutzt. Vgl. Porter 1993, 58. 35 Über den Erwerb der Jandorf-­Warenhäuser durch den Tietz-­Konzern heißt es bei Fritsch: „Als Kaufpreis für die Jandorf-­Unternehmungen wird eine Summe bis zu 60 Millionen Mark genannt. Daß dieser Riesenbetrag mit amerikanischern Gelde bezahlt sei, bestreitet Tietz. Man muß aber z­ wischen den Zeilen zu lesen verstehen. Denn die Großbank, die

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immer wieder der Begriff des „Warenhaustrusts“ bzw. der „Vertrustung der Waren­ hauskonzerne“ benutzt (vgl. Lambrechts 1913, 25; Buchner 1928, 139; Buchner 1930, 4, 11; Fritsch 1933, 191), um das Moment der transna­tionalen Vernetzung der modernen Warenhäuser zu betonen, wobei von der interna­tionalen jüdischen Plutokratie der deutschen Volkswirtschaft größter Schaden droht: „Der jüdische interna­tionale Kapitalismus zerstörte die na­tionale Wirtschaft, in der

Folge die na­tionale Gesinnung und damit den na­tionalen Staat. Der Gedanke des mög­

lichst geschlossenen Wirtschafts-­Staates, des politischen und wirtschaft­lichen Selbst-­

Genügens und damit der na­tionalstaat­lichen Unabhängigkeit […] wurde zugunsten der

‚Weltwirtschaft‘ und des ‚Weltverkehrs‘ preisgegeben, – wiederum nicht zum völkischen

Wohl und Heil, sondern um der jüdischen Erwerbssucht neue unbegrenzte Mög­lichkeiten

zu schaffen. Kapitalistische Weltwirtschaft, als wirksamstes Mittel zur Annäherung

der Völker, zur Völkerverbrüderung, zum Weltbürgertum gepriesen, bedeutet in Wirk­

lichkeit wirtschaft­lichen Wettbewerb der Völker um den Weltmarkt auf Leben und

Tod.“ (Fritsch 1923, 367; Hervorheb. U. ­L.)

3.  Dollarimperialismus und Weltherrschaft Die globalen Geldströme sind für die antisemitische Kapitalismuskritik von besonderem Interesse, weil hinter ihnen ein weltumspannendes Netz jüdisch kontrollierter Finanzinstitute vermutet wird, die ihren Hauptsitz in den Vereinig­ ten Staaten haben (vgl. Fritsch 1923, 224; Buchner 1930, 20 ff.; weitere Zeugnisse bei Klautke 2003, 168 f.). Dass Amerika derart in den Fokus der antisemitischen Kapitalismuskritik rückt, liegt nicht zuletzt an den historischen Veränderungen, die sich im Verhältnis z­ wischen Europa und den USA seit dem E ­ rsten Weltkrieg ereignen. Hier spielt zum einen der Eintritt der USA in den Krieg sowie die im deutschen Kaiserreich als in hohem Maße heuchlerisch wahrgenommene Politik die finanzielle Seite dieser Konzentra­tion vermittelt, ist die Diskontogesellschaft, die an eng­lisches und amerikanisches Bankkapital gebunden ist. Weiter wird zugegeben, daß die in- und ausländischen Freunde von Tietz ihm einen Teil der Mittel zur Verfügung stellen. Schließ­lich stammt ein großer Teil der in Deutschland flüssigen Gelder, die es der Diskon­ togesellschaft überhaupt mög­lich machen, s­ olche Riesenfinanzierung vorzunehmen, aus den amerikanischen Krediten. Sicher ist jedenfalls, daß, genau so wie Karstadt mit amerikani­ schem Geld arbeitet, auch Tietz das tut, auch wenn er nicht, wie Karstadt, nach vollende­ tem Zusammenschluß zu einer Dollaranleihe seine Zuflucht nimmt.“ (Fritsch 1933, 190 f.)

Warenhauspolitik

des damaligen amerikanischen Präsidenten, Woodrow Wilson, eine wichtige Rolle (vgl. Diner 1993, 63 ff.). Zum anderen avancieren die USA in den 1920er Jahren zur weltweit „unangefochtenen wirtschaft­lichen Führungsmacht“ (Klautke 2003, 153), was als enorme Bedrohung für die nach dem ­Ersten Weltkrieg kriselnde europäische Wirtschaft eingestuft wird. Darüber hinaus werden die USA als Land eingestuft, in dem sich jüdische Geschäftspraktiken ungehindert entfalten konnten, so dass Juden einen fast unbegrenzten Einfluss auf Wirtschaft, Finan­ zen und Gesellschaft gewonnen hätten (vgl. Diner 1993, 72 f., 83 f.). Schon in Sombarts Die Juden und das Wirtschaftsleben wird in ­diesem Sinne der agrarische Gründungsmythos der Vereinigten Staaten (vgl. Schrage 2009a, 167 ff.) antisemitisch umgeschrieben. Im Rahmen einer kruden Ursprungser­ zählung begründet Sombart, warum Amerika ab urbe condita „in allen seinen Teilen […] ein Judenland“ (Sombart 1911, 31) sei: „Kann man im Hinblick auf die eben berührten Tatbestände mit einigem Recht sagen, daß die Vereinigten Staaten es den Juden verdanken, wenn sie überhaupt da sind, so

kann man mit demselben Rechte behaupten, daß sie dank allein dem jüdischen Ein­ schlag so da sind[,] wie sie da sind, das heißt eben amerikanisch. Denn das, was wir

Amerikanismus nennen, ist ja zu einem sehr großen Teile nichts anderes als geronnener Judengeist. Woher aber stammt diese starke Tränkung der amerikanischen Kultur mit dem spezifisch jüdischen Geiste?

Wie mir scheint: aus der frühen und ganz allgemeinen Durchsetzung der Kolonis­

tenbevölkerung mit jüdischen Elementen.

So viel ich sehe, ist die Besiedlung Nordamerikas in den meisten Fällen so vor sich

gegangen: ein Trupp kernfester Männer und Frauen – sage zwanzig Familien – zog

in die Wildnis hinein, um hier ihr Leben neu zu begründen. Unter diesen zwanzig

Familien waren neunzehn mit Pflug und Sense ausgerüstet und gewillt, die Wälder zu roden, die Steppe abzubrennen und mit ihrer Hände Arbeit sich ihren Unterhalt durch Bebauung des Landes zu verdienen. Die zwanzigste Familie aber machte einen

Laden auf, um rasch die Genossen auf dem Wege des Handels, vielleicht sogar des

Wanderhandels, mit den notwendigsten Gebrauchsgegenständen, die der Boden nicht

hervorbrachte, zu versehen. Diese zwanzigste Familie kümmerte sich dann auch sehr

bald um den Vertrieb der von den neunzehn anderen der Erde abgewonnenen Pro­ dukte. Sie war diejenige, die am ehesten über Bargeld verfügte und deshalb in Not­

fällen den anderen mit Darlehnen nütz­lich werden konnte. Sehr häufig gliederte sich an den ‚Laden‘, den sie offen hielt, eine Art von Landleihbank an. Oft wohl auch eine

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Landverkaufsagentur und ähn­liche Gebilde. Der Bauer in Nordamerika wurde also

durch die Wirksamkeit unserer zwanzigsten Familie von vornherein mit der Geld- und

Kreditwirtschaft der alten Welt in Fühlung gebracht. Das ganze Produk­tionsverhältnis

baute sich von vornherein auf einer modernen Basis auf. Das städtische Wesen drang gleich in die entlegenen Dörfer siegreich vor. Die Durchtränkung der amerikanischen

Volkswirtschaft mit kapitalistischer Organisa­tion und kapitalistischem Geiste nahm, möchte man sagen, vom ersten Tage der Siedlung an ihren Anfang. Denn jene ersten

Zellen kommerzialistischen Wesens wuchsen sich alsobald zu alles umspannenden

Organisa­tionen aus. Und von wem ist – soweit wie persön­liche Faktoren hier den

Ausschlag gaben und nicht etwa die bloße Sachlage[,] die neuen Entwicklungsreihen

erzeugte – von wem ist diese ‚Neue Welt‘ kapitalistischen Gepräges erbaut worden?

Von der zwanzigsten Familie in jedem Dorf.“ (Sombart 1911, 44 f.)

Sombart folgt in seiner fik­tionalen Umschrift des Gründungsmythos der Ver­ einigten Staaten einem rousseauistischen Narrativ – mit dem entscheidenden Unterschied, dass es in Amerika nie einen vorgesellschaft­lichen Zustand gege­ ben hat, der hinsicht­lich des Kapitalismus und seiner Praktiken „unverdorben“ gewesen wäre. Bei Sombart gibt es in Bezug auf Amerika keinen Ursprung, der nicht schon den Verlust implizierte, d. h. die Abhängigkeit der „kernfesten“ Farmer von der urbanen Form eines jüdisch geprägten (Hoch-)Kapitalismus. Damit vertieft Sombart nicht nur die Polarität z­ wischen den USA und Europa, dem gewissermaßen ex negativo die Mög­lichkeit eines Ursprungs ohne Ver­ lust konstatiert wird, sondern es gelingt ihm, antisemitische, antiamerikanische und antikapitalistische Ressentiments narrativ zu überblenden und semantisch zu verdichten. Darüber hinaus impliziert Sombarts Umschrift noch eine zweite Dichotomie: die von Handwerk und Handel. Indem Sombart dem Ersteren, dem Handwerk, den Primat einräumt, rekurriert er auf ein um 1900 gängiges antisemitisches Stereotyp. In Carl Wilmanns Die „goldene“ Interna­tionale und die Notwendigkeit einer socialen Reformpartei (1876) heißt es: „Es [das jüdische Volk] hat gegen den Ackerbau ein auf den Talmut gegründetes Vor­ urtheil. Der Erwerb durch körper­liche Arbeit widerstrebt seinem Na­tional-­Charakter;

nur in der äußersten Noth greift es zum Handwerk.“ (Wilmanns 1876, 58)

Forciert wird ­dieses Stereotyp in der Antisemitenpeti­tion von 1880:

Warenhauspolitik

„An der schweren Arbeit der großen Masse unseres Volkes nimmt der Jude nur einen

verschwindend kleinen Antheil; auf dem Acker und in der Werkstatt, in Bergwerken und auf Baugerüsten, in Sümpfen und Kanälen – allerwärts regt sich nur die schwielige

Hand des Christen. Die Früchte seiner Arbeit aber erntet vor allem der Jude. Weitaus

der größte Teil des Kapitals, welches die na­tionale Arbeit erzeugt, konzentriert sich in

jüdischer Hand […].“ (Antisemitenpeti­tion. Abgedr. in Krieger 2003, 579 f.)36

Zudem spielt Sombart mit seiner Dichotomisierung von Handwerk und Han­ del auf eine weitere Polarität ­zwischen den Vereinigten Staaten und Europa an, die Victoria De Grazia folgendermaßen umrissen hat: „Hinter den europäischen Reak­tionen auf das amerikanische Leitbild standen die tradi­tionelle Vorstellung, die Herstellung von Waren sei eine handwerk­liche Tätigkeit, sowie die Frage, ob das Handwerk jemals Massenware herstellen konnte oder sollte.“ (De Grazia 1997, 120; vgl. Goldberger 1903, 34) Schließ­lich enthält Sombarts antisemitische Umschrift des amerikanischen Gründungsmythos noch ein drittes Element, das die semantische Überblendung von Antisemitismus, Antiamerikanismus und Antikapitalismus zu einer veritablen Verschwörungstheorie 37 verdichtet: Es ist eine Minorität – die „zwanzigste Fami­ lie“ –, die zunehmend die ökonomische Kontrolle über die rest­lichen neunzehn Familien übernimmt. Was sich anfangs nur an der Peripherie („in jedem Dorf“) ereignet und kaum mehr als regionale Bedeutung hat, wirkt sich bald na­tional und schließ­lich transna­tional aus, denn „durch den überragenden Einfluß, den Amerika von dem Tage seiner Entdeckung an auf das europäische Wirtschaftsleben und die gesamte europäische Kultur gewonnen

hat, ist natür­lich die starke Beteiligung der Juden an dem Aufbau der amerikanischen

Welt von ganz besonderer Bedeutung für den Ablauf unserer Geschichte geworden.“ (Sombart 1911, 31 f.)

36 In der na­tionalsozialistischen Hetze gegenüber Warenhäusern findet sich diese Polarisie­ rung ebenfalls unverändert wieder: „Die Warenhäuser machen ihre Geschäfte nicht wie das alte solide Handwerk mit der Qualität der Ware und der Arbeit, sondern mit Blendund Lockpreisen, Reklame, Aufmachung und Ausstattung.“ (Buchner 1930, 33, vgl. ebd., 16; vgl. Buchner 1928, 143 f.) 37 Diese Verschwörungstheorie wird unter dem Stichwort der „goldenen Interna­tionale“ schon bei Wilmanns en détail entfaltet. Vgl. Wilmanns 1876, 58 ff.

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Durch die Fokussierung auf die „zwanzigste Familie“ kann Sombart nicht allein die Komplexität der immer weiter zunehmenden Wirtschaftsmacht Amerikas auf wenige Parameter zusammenschnurren lassen. Er verleiht der amerikanisch-­ jüdischen Wirtschaftsmacht zugleich eine bildhafte Anschau­lichkeit, die ihre sugges­tive Evidenz ihrer Simplizität verdankt. Für Sombarts Charakterisierung des jüdischen Einflusses auf die amerikanische Wirtschaft gilt, was Heike Hoffmann als Kern der antisemitischen Kapitalismuskritik des 20. Jahrhunderts herausge­ arbeitet hat: „Juden s­ eien sowohl die Erfinder als auch die alleinigen Nutznießer der kapitalistischen Wirtschaftsform.“ (Hoffmann 1996, 559) Wenn bei Sombart Ursprung Verlust heißt, bedeutet dies, dass in Amerika Handwerk und Handel, Produk­tion und Distribu­tion, Natural- und Geldwirt­ schaft von Beginn an aufeinander verwiesen sind. Ebenso wenig, wie das moderne Amerika ohne europäische Einwanderer denkbar ist, ebenso wenig ist der ame­ rikanische Kapitalismus ohne jüdisches Kapital vorstellbar. Hinter Sombarts Argumenta­tion steht wiederum die Figur des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten, das in der jüdischen Minorität der „zwanzigsten Familie“ anschau­liche Gestalt annimmt. Bei Buchner wird ­dieses Dritte mit einer Krankheitsmetapho­ rik kurzgeschlossen, die den gesunden wirtschaft­lichen Körper von innen aus­ höhlt.38 Auch wenn bei Sombart keine Krankheitsmetaphorik im engeren Sinne benutzt wird, lässt sich seine Rede „von der Durchtränkung der amerikanischen Volkswirtschaft“ gleichwohl als pathogener Infek­tionsprozess verstehen. Dieser bedroht nicht nur die ökonomische Gesundheit der „kernfesten“ Farmer, sondern in seiner interna­tionalen Dimension auch die europäischen Volkswirtschaften. Die „zwanzigste Familie“ steht bei Sombart stellvertretend für die Übertragun­ gen, Entortungen und Repräsenta­tionen des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten; sie führt von der Gemeinschaft zur Gesellschaft, von der Homogenität zur Differenzierung, vom Handlungssystem zum Symbolsystem; sie ist es, die den Ursprung von Anfang an zum Verlust werden lässt. Sie bildet das Scharnier ­zwischen vorkapitalistischer Tradi­tion und hochkapitalistischer Moderne und steht paradigmatisch für die wirtschaft­liche und finanzielle Macht, die Ame­ rika im frühen 20. Jahrhundert in Bezug auf Europa entfaltet. Warenhäuser sind 38 „Die Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts nimmt Teil an dem Versuch, unkontrol­ lierbare Modernisierungsschübe auf Minoritäten zu projizieren, um sie in der Distanz, und das heißt in pathologisierter oder kriminalisierter Form zu beobachten.“ (Schössler 2009, 39)

Warenhauspolitik

in der antisemitischen Logik ein elementarer Bestandteil dieser von jüdischem Kapital finanzierten und forcierten Amerikanisierung der Welt. Sie partizipieren an und profitieren von einer „goldenen Interna­tionale“ (vgl. Großmann 1918, 75; Gerber 1932, 14)39, die versucht, den weltweiten Führungsanspruch einer jüdi­ schen Plutokratie durchzusetzen. Als in den 1920er Jahren in Deutschland das amerikanische System von Ein­ heitspreisgeschäften eingeführt wird, scheint die von der antisemitischen Kapi­ talismuskritik befürchtete Durchsetzung des Amerikanismus kaum mehr auf­ zuhalten. Dieses System der Einheitspreisgeschäfte spekuliere, so Buchner, „auf die mangelnde Kaufkraft“ und „Armut in Deutschland“ (Buchner 1928, 141). Die breite Masse der Bevölkerung habe den günstigen Angeboten der „Chain-­Stores“ nichts entgegenzusetzen und werde verleitet, statt deutscher Qualitätsware billi­ gen amerikanischen Schund zu kaufen. Dies besiegle nicht nur den endgültigen Niedergang des mittelständischen Einzelhandels, sondern führe zu einer Massen­ kultur, in der alle Unterschiede nivelliert würden. Bereits in Theodor Duimchens Die Trusts und die Zukunft der Kulturmenschheit (1903) heißt es, wiederum auf eine Krankheitsmetaphorik rekurrierend: „Schon heute vergiftet amerikanischer Geist die Wurzeln unserer Art im Leben, in der Kunst und in der Literatur. Wir werden umgestaltet und gewandelt. Uns ‚erzieht‘ der

Yankee; er wird uns zurechtknuffen – box in shape, sagt er – damit wir in der neuen Welt einigermaßen zu brauchen ­seien.“ (Duimchen 1903, 166)

4.  Judentum und Weib­lichkeit 40 Dass sich der „Warenhauspolyp“ (Buchner 1930, 21) zunehmend amerikanisiert, liegt nicht zuletzt darin begründet, dass Juden und Frauen derselben transgres­ siven Logik einer konsumistisch-­kapitalistischen Moderne zugehörig erscheinen. In Otto Weiningers Geschlecht und Charakter heißt es: „Unsere Zeit“ sei „nicht nur die jüdischeste, sondern auch die weibischeste aller Zeiten“. Es sei eine Zeit 39 Den Begriff „goldene Interna­tionale“ prägt Carl Wilmanns 1876 in seiner parteipolitischen Programmschrift Die „goldene“ Interna­tionale und die Nothwendigkeit einer socialen Reformpartei. 40 Auf diesen Zusammenhang hat Schössler nachdrück­lich hingewiesen. Vgl. Schössler 2009, 70 ff., 95 ff.

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„ohne Sinn für Staat und Recht“, eine „Zeit des Kapitalismus und des Marxismus“, eine Zeit, in der „alles nur mehr Ökonomie und Technik“ (Weininger 1920, 441) sei.41 Schössler kommentiert diese Passage folgendermaßen: „Beide Gruppen [ Juden und Frauen] repräsentieren mit unterschied­licher Gewichtung

und in diversen Feldern der Produk­tion und Konsum­tion die Gesetze der kapitalisti­ schen Welt, in der ein ungehemmtes Raubrittertum unproduktiv zu wirtschaften scheint

und ‚der Mensch‘ zum Tier degeneriert […].“ (Schössler 2009, 70)42

Der jüdische Kaufmann hat nicht nur ein besonderes Talent dafür, Frauen in seinen Bann zu ziehen.43 Darüber hinaus scheint es eine im biolo­gischen Sinn aufzufassende Wesensähn­lichkeit ­zwischen Juden und Frauen zu geben (vgl. Mosse 1997, 95 ff.), die Fritsch in Die Juden im Handel und das Geheimnis ihres Erfolges wie folgt beschreibt: „Unsere Frauen […] lassen sich von der blendenden Außenseite eines Dinges beste­ chen und von dem Augenblick-­Vorteil leiten, ohne sich Rechenschaft über die weiteren

Folgen ihres Tuns zu geben. […] In ihren Fehlern begegnen sie sich mit dem Naturell

des Juden, der ebenfalls der Mann der blendenden Außenseite und des Augenblicks-­

Vorteiles ist.“ (Fritsch 1913, 230)

Bezieht man dies auf die vermeint­lich effeminierte amerikanische Kultur, wird schnell klar, dass diese Kultur sinnfälliger Ausdruck der Wesensanalogie 41 Auch wenn der Begriff „Amerikanismus“ im Weininger-­Zitat nicht fällt, ist er seman­ tisch in der Formulierung, dass die aktuelle Zeit „nur mehr Ökonomie und Technik“ sei, gleichwohl präsent. 42 „Sich zu verkleiden, in Rollen zu schlüpfen, Masken anzulegen, signalisiert den Ausschluss von Frauen und Juden aus dem Identitätsdiskurs [der Jahrhundertwende], also ihre Nicht-­ Identität, die für die Modernekritik der Jahrhundertwende funk­tionalisiert wird. Im ‚Schla­ raffenland‘ [von Heinrich Mann] kann die Frau ‚alles werden‘ (dem Geld vergleichbar), die jüdischen Geschäftsleute scheinen überaus flexibel, ‚chamäleonartig‘ auf (wirtschaft­liche) Situa­tionen reagieren zu können […].“ (Schössler 2009, 72) Vgl. die Analysen zu Freunds Der Warenhauskönig in Kapitel 11.3. 43 Bei Fritsch heißt es paradigmatisch: „Es ist […] die Persön­lichkeit des Juden selber, die auf viele Frauen mit geradezu suggestiver Kraft einwirkt. Ohne Zweifel hat d ­ iesem verwunder­ lichen Einflusse der Juden die bekannte Empfäng­lichkeit unserer Frauen für alles ‚Fremde‘ schon vorgearbeitet.“ (Fritsch 1913, 232)

Warenhauspolitik

z­ wischen Juden und Frauen ist. Im Amerikanismus verbinden und verstärken sich die Interessen von Juden und Frauen in ihrem Anliegen, eine maskuline Kultur der Produk­tion für ihre Zwecke dienstbar zu machen. Die kulturelle Herrschaft der Frauen in Amerika ist somit nicht nur ein Spiegelbild der jüdischen Herrschaft im wirtschaft­lichen Bereich. Amerikanischer „Kultur­ feminismus“ (Halfeld 1927, 209) und jüdische Plutokratie sind vielmehr zwei Seiten derselben Medaille, die auf eine Entmachtung des europäisch-­männ­ lichen Ra­tionalitätsideals zielen. Dieser quasi-­hegemoniale Anspruch von Juden und Frauen wirkt insbesondere auf die deutsche Kultur bedroh­lich, da diese zu dieser Zeit als „Männerkultur“ gilt, „und zwar in dem Maße, wie Kultur mit dem Männ­lich-­Allgemeinen, mit der Schaffenskraft des Mannes gleichgesetzt“ (Saldern 1996, 224) wird. Ziel der von Juden initiierten Amerikanisierung der Welt sei deswegen nicht nur die Kontrolle der globalen wirtschaft­lichen Kreisläufe, sondern auch eine Unterminierung der männ­lichen (Hoch-)Kultur. Das Schreckensbild, von dem aus sich die männ­lich-­produktive Kultur Deutschlands bedroht sieht, zeichnet sich exemplarisch in der veräußer­lichten Persön­lichkeit der Amerikanerin ab, die in der Beschreibung Halfelds wie eine groteske Karikatur des damaligen Mannequin-­Schönheitsideals  44 wirkt: „Sie [die Amerikanerin] verwandelt ihr Gesicht in eine Maske […]. Sie verunstaltet die

Lippen mit einem Lippenstift zu einem ovalen Etwas; zupft sich Augenbrauen aus, um

Zügen, die es nicht selten nötig haben, den Anschein von Delikatesse zu geben […]

und zwingt ihre Physiognomie zu einem unsagbaren stereotypen Ausdruck babyhaf­

ter Einfalt. […] Nirgends [als in amerikanischen Großstädten] werden mit größerer

Selbstverständ­lichkeit mehr falsche Geschmeide, Perlen, Halsketten und Ringe getra­ gen.“ (Halfeld 1927, 213)45

44 Vgl. Kapitel 6.4. 45 Vgl.: „Kein Weib der Welt schminkt und malt sich so an wie die Amerikanerin, keine Evastochter donnert sich so auffallend auf. Von Amerika aus geht die Seuche der Bein­ revuen und ‚Schönheitswettbewerbe‘ durch die ganze Welt: ‚Wer hat die schönsten Bein­ chen?‘ Die geschminkte, gepuderte, angetakelte [sic] und parfumierte Neu-­Indianerin ist’s, die sich trotz ‚Wissenschaft‘ und ‚Colleges‘, in Jazz, Jimmy, Charleston und Foxtrott verniggert und – entwürdigt und auch uns die Pest der Geschmacklosigkeit überbracht hat.“ (Egon von Kapherr in: Die Sonne. Monatsschrift für Nordische Weltanschauung und Lebensgestaltung 4/7 [1927], 292. Zit. nach Saldern 1996, 222)

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Auch wenn Halfeld in seinem Buch auf antisemitische Volten weitgehend ver­ zichtet, dürfte dem Leser gleichwohl die strukturelle Ähn­lichkeit ­zwischen der antisemitischen und der antiamerikanischen Kritik gegenüber den Auswüchsen der modernen Massengesellschaft aufgefallen sein: „In beiden Fällen [Antiamerikanismus und Antisemitismus] handelte es sich um

Abwehr­ideologien, in denen nach einem Schuldigen für die tatsäch­lichen oder vermeint­ lichen Fehlentwicklungen der modernen Gesellschaft gesucht wurde. Antisemitische

Autoren identifizierten ‚die‘ Juden in ähn­licher Weise mit dem Aufstieg des Kapitalismus

wie die Antiamerikanisten ‚die‘ Amerikaner.“ (Klautke 2003, 336; vgl. Diner 1993, 63 ff.)

Das Warenhaus als beispielhafter Ausdruck der modernen Konsum- und Massen­ gesellschaft bildet eine ideale Angriffsfläche sowohl für antiamerikanische, anti­ semitische als auch antifeministische Tiraden, um die mit den Modernisierungs­ prozessen der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhun­ derts verknüpften Ängste semantisch zu verdichten. Im „jüdisch-­weibischen“ Amerikaner werden sowohl ökonomische als auch kulturelle Aspekte zu einem umfassenden Bedrohungskomplex amalgamiert und somit zentrale Aspekte der Warenhauskritik um 1900 in eine einzige hochsuggestive Figur überführt. Im Rahmen der zeitgenös­sischen Warenhausdebatten dient diese Figur eben­ falls der entlastenden Komplexitätsreduk­tion, indem durch sie ein spezifisch männ­liches, hier dezidiert auch europäisches Wissen über das Warenhaus produ­ ziert wird. Im Unterschied zu den geschlechterpolitischen Verhandlungen 46 kann mit Hilfe dieser Figur der in hohem Maße abstrakte Bereich des Ökonomischen selbst in simplifizierender Weise veranschau­licht werden. Das Warenhaus erscheint nun nicht mehr als Bedrohungskomplex von regionaler, bestenfalls na­tionaler Bedeutung, sondern es wird im Kontext der antiamerikanisch-­antisemitischen Kritik in ein globales Schreckensszenario eingeschrieben. Weil das Warenhaus im Rahmen seiner interna­tionalen Vernetzung als von außen gesteuert erscheint, also nicht mehr primär im Innern der eigenen wirt­ schaft­lichen Ordnung angesiedelt wird, kann es in eine klare Freund-­Feind-­ Unterscheidung eingetragen werden.47 Nicht zuletzt an dieser Vereindeutigung liegt es, dass im antisemitischen und insbesondere im na­tionalsozialistischen 46 Vgl. Kapitel 5.6. 47 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 1.1.

Warenhauspolitik

Schrifttum ein weit schärferer Ton gegenüber Warenhäusern angeschlagen wer­ den kann, als es in anderen Diskursen mög­lich oder denkbar wäre, in denen das Warenhausthema verhandelt wird. Was dort, wie gezeigt, Ambivalenzen, Unschär­ fen und Uneindeutigkeiten hervorbringt, kann im antisemitischen Schrifttum unzweifelhaft als Feindbild identifiziert werden.

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Kapitel 8

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1.  Der ra­tionale Konsument So sehr die moderne Konsumkultur landläufige Klassifizierungen und Diffe­ renzierungen in Frage zu stellen scheint, so sehr wird diese Infragestellung von der gleichzeitigen Etablierung neuer Klassifizierungen, Differenzierungen und Semantiken begleitet, die sich nicht selten zu spezifischen Ensembles von regu­ lativen Praktiken und Diskursen verdichten. Auch wenn aus historischer Sicht die mit den regulativen Praktiken und Diskursen verbundenen Institu­tionen und/oder sozialen Praktiken nur einen mittelbaren Bezug zum Warenhaus auf­ weisen, wird auf semantischer Ebene oft ein unmittelbarer Bezug erkennbar, insbesondere mit Blick auf die verschiedenen Formen transgressiven Kaufver­ haltens im Warenhaus. Dieses transgressive Kaufverhalten dient vielfach als Negativ- oder Kontrastfolie zu den im Rahmen der regulativen Praktiken und Diskurse entwickelten Konzepten eines auf ra­tionalen Prinzipien beruhenden Konsums, der von alternativen Ideen einer nicht mehr oder nicht mehr primär auf kapitalistischen Grundsätzen beruhenden Wirtschaftsweise getragen wird. Die im Kontext dieser ra­tionalen Konsumformen entwickelten „Gegenfigu­ ren“ zur transgressiven Konsumentin sind das maskulin codierte Kollektiv der Konsumgenossenschaft, die sozialverantwort­lich handelnde, in einer Käufer­ liga engagierte Konsumentin, die amerikanische Konsumexpertin als Konsum­ technikerin und Familienökonomin sowie die deutsche Konsumexpertin als Konsumkulturarbeiterin. Die in den letzten drei Figuren implizierte weib­liche Konsumexpertise wird zudem mit der Figur des männ­lichen Kaufdilettanten kontrastiert, so dass das Warenhaus als Ort weib­licher Kompetenz erscheinen kann, d. h. die mit dem Warenhaus verbundene male exclusion auf ein weib­liches Konsumwissen hin kontextualisiert wird.

Figuren der Limita­tion

2.  Das männ­liche Konsumkollektiv Im Zuge der mittelstandspolitischen Agita­tion der Jahrhundertwende werden Warenhäuser und Konsumgenossenschaften oft in einem Atemzug genannt.1 De facto aber haben beide Einzelhandelsformen in sach­licher Hinsicht wenig gemeinsam, da sie auf unterschied­lichen ökonomischen und organisatorischen Prinzipien beruhen. Während das großstädtische Warenhaus auf eine kapitalis­ tische Gewinnmaximierung zielt,2 steht hinter der Konsumgenossenschaft die Idee eines nicht-­profitorientierten, kollektiven Konsumhandelns, das auf einer basisdemokratischen Organisa­tionsstruktur beruht und nicht zwingend an einen urbanen Kontext gebunden ist.3 Während das Warenhaus als Reak­tion auf die Herausforderungen des modernen Massenkonsums gesehen werden kann, richten sich die Ziele früher Konsumgenossenschaften gegen die Verkaufspraktiken der sogenannten Krämer, die nicht nur die weitverbreitete Lebensmittelfälschung mittragen,4 sondern nicht selten auf unlauterem Wege Gewinne zu erzielen 1 Vgl. Fritz Großmanns Konsumvereins- und Warenhaus-­Gefahr. Eine Aufklärungsschrift für die Verbraucher aller Stände (1918) oder die Schriften von Emil Suchsland: Los von den Konsumvereinen und Warenhäusern! (1903), Die Klippen des sozialen Friedens. Ernste Gedanken über Konsumvereine und Warenhäuser (1904) oder Schutz- und Trutz-­Waffen für den gewerb­ lichen Mittelstand in seiner Notwehr gegen die Konsumvereine und Warenhäuser (1905). 2 Vgl. Kapitel 1.1. 3 Die konsumgenossenschaft­lichen Prinzipien lauten: Selbstverwaltung, offene Mitglied­ schaft, demokratisches Ein-­Stimmen-­Prinzip, politische und religiöse Neutralität, keine Profitorientierung, d. h. erzielte Überschüsse werden an die Mitglieder als Dividenden aus­ gezahlt, sowie die kollektive Bündelung von Interessen mit Blick auf den Verkauf qualitativ hochwertiger Produkte (vgl. Prinz 1996, 68 ff.). 1844 wird in England die Rochdale Society of Equitable Pioneers gegründet, die als erste Konsumgenossenschaft im modernen Sinne gilt. 1850 folgt die erste deutsche Konsumgenossenschaft: die Lebensmittel-­Associa­tion zu Eilenburg. Zu den historischen Hintergründen der Konsumgenossenschaftsbewegung in Großbritannien vgl. Lancaster 1995, 88 f., zum Deutschen Reich vgl. Spiekermann 1999a, 238 – 277; einen Vergleich ­zwischen Deutschland und Großbritannien enthält Prinz (1996, 40 ff., 67 ff.) einschließ­lich einer kritischen Reflexion des „Mythos Rochdale“. Überblicke zur Geschichte und Gegenwart von Konsumgenossenschaften aus interna­tionaler Per­ spektive bieten Furlough/Strikwerda 1999 sowie Brazda/Schediwy 2011. Die Gründung der ersten deutschen Konsumgenossenschaft ist von Heinrich Lersch in Die Pioniere von Eilenburg (1934) auch literarisch verarbeitet worden. 4 „In den Großstädten und den industriellen Zentren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts blühte eine Industrie von Lebensmittelfälschern. Hierbei galt, je billiger die Lebensmittel waren, desto schlechter war ihre Qualität. Gips wurde dem Mehl beigefügt, gemahlener ­Kaffee mit Sand und Milch mit Wasser gestreckt, alter Fisch unter Zuhilfenahme von Rindsblut für frisch verkauft, Nudeln bekamen ihre gelbe Farbe durch Urin und Schokolade

Konsumexpertinnen und Kaufdilettanten

v­ ersuchen, etwa beim Abwiegen von Ware mit falschen Gewichten oder durch eine Preisgestaltung, die kaum nachvollziehbar ist. Demgegenüber setzen Konsumge­ nossenschaften auf den Verkauf qualitativ hochwertiger Produkte und gestalten die Preise transparent. Auch bestehen Konsumgenossenschaften im Gegensatz zum „Krämersystem“, das auf einem Borgwesen beruht, um die Kundschaft in dauerhafte Abhängigkeitsverhältnisse zu bringen,5 auf sofortiger Barzahlung, was nicht allein die Abhängigkeiten des Krämersystems vermeidet, sondern auch ein maßhaltendes Konsumverhalten der Genossinnen und Genossen erzwingt.6 In der konsumgenossenschaft­lichen Literatur kommt der einzelne Konsument nur dann vor, wenn er sich der Kollektivierung von Konsuminteressen entzieht, also individuell ohne Rücksicht auf mög­licherweise gemeinschaft­lich zu erzie­ lende Vorteile einkauft. Dieser „egoistische“ Konsument ist dabei alles andere als ein Neutrum. Charles Gide, der führende Denker der Genossenschaftsidee im Frankreich der Jahrhundertwende,7 schreibt in Les Sociétés Coopératives de consomma­tion (2. Aufl. 1910): „L’éduca­tion coopérative, pour être efficace, doit d’abord porter sur les femmes, non

seulement par cette raison générale que ce sont elles qui font l’éduca­tion des hommes,

mais par cette raison spéciale ici que les femmes sont naturellement peu sympathiques à la

coopéra­tion et que, pourtant, la coopéra­tion ne peut vivre sans elles. […] C’est elle qui dirige

le ménage, qui fait les achats, qui porte le panier aux provisions. […] Or elle préf ère géné-

ralement le marchand du coin au magasin coopératif, non seulement parce qu’il est plus à

proximité, ce qui n’est pas de peu d’importance pour une ménagère souvent fatiguée ou

n’ayant que peu de temps libre entre ses travaux et ses corvées – mais aussi parce qu’elle

wurde mit Hammel- oder Kalbsfett hergestellt.“ (Korf 2008, 12) Vgl. Henriette Davidis’ Ratgeber Die Hausfrau. Praktische Anleitung zur selbständigen und sparsamen Führung von Stadt- und Landhaushaltungen, in dem es einen umfangreichen Abschnitt über die „Kenn­ zeichen guter Qualität der im Haushalt vorkommenden Lebensmittel und deren Verfäl­ schung“ gibt. Vgl. Davidis 1872, 69 ff. 5 Vgl. Prinz 1996, 72 sowie die Ausführungen zum Verhältnis von Madame Bovary und dem Modewarenhändler Lheureux in Kapitel 4.1. 6 Vgl. das Barzahlungsprinzip des Warenhauses, das der Förderung des schnellen Kapitalum­ laufs sowie der Virtualisierung des Kaufaktes dient. S. die Ausführungen in Kapitel 1.1 und 4.3. 7 Zur Rolle von Gide im Rahmen des franzö­sischen Konsumentenaktivismus um 1900 vgl. Williams 1982, 276 ff.

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y trouve un accueil plus empressé, et parfois quelques petits bénéfices personnels que le livret coopératif rend impossibles.“ (Gide 1910, 83; Hervorheb. U. ­L.)8

Obwohl Frauen in Konsumgenossenschaften in der Regel sogar eigene Anteile erwerben können und somit das g­ leiche Stimmrecht wie Männer haben (vgl. Holyoake 1891, 48; Brazda/Schediwy 2011, 53), scheint die Mehrzahl von ihnen an der Genossenschaftsidee sowohl aus praktischen wie aus idiosynkratischen Gründen keinen Gefallen zu finden.9 Um dies zu belegen, zitiert Gide in der Folge eine Genossenschaftszeitschrift, in der das mangelnde weib­liche Interesse nicht allein weiter pointiert, sondern im Sinne der weib­lichen Sonderanthropo­ logie lesbar gemacht wird: „La femme est à la fois la force et la faiblesse du mouvement coopératif. Elle n’a pas plus

d’idée du but véritable de la coopéra­tion que ne l’a la plus individualiste des créatures,

le chat.“ (Gide 1910, 84, Anm. 1)

Bei Gide erscheint dasselbe Frauenstereotyp, dem man im Rahmen der Sozialund Kulturkritik an Warenhäusern begegnet. Während dieser dort eingesetzt wird, um die männ­liche Sphäre der Produk­tion gegenüber der weib­lichen Sphäre der Konsump­tion aufzuwerten, wird bei Gide die Geschlechterdifferenz auf den Gegensatz z­ wischen einer kollektivierten männ­lichen Marktmacht und einer individualisierten weib­lichen Marktohnmacht projiziert. Auf diese Weise wird im kollektivierten männ­lichen Genossenschaftswillen das Gegenmodell zur im Kaufrausch entfesselten femininen Masse im Warenhaus sichtbar. Was also in Konsumgenossenschaften organisiert, gerichtet, gebündelt, kollektiv, sprich männ­lich ist, erscheint im Warenhaus unorganisiert, chaotisch, zerstreut und 8 Diese Passage fehlt noch in der ersten Auflage von 1904. Ähn­liche Argumenta­tionen finden sich in der späteren Agita­tion von Konsumvereinen gegenüber dem nicht-­genossenschaft­ lichen Einzelhandel. Vgl. Ellmeier 1990, 195 ff. 9 Schon 1883 wird im Übrigen in Großbritannien eine Co-­operative League for Women gegründet, die sich ­später in Co-­operative Women’s Guild umbenennt. Sie wirbt nicht allein dafür, dass mehr Frauen den Genossenschaften beitreten, sondern kämpft auch gegen merkantilistische und individualistische Tendenzen innerhalb der Genossenschaften und engagiert sich im sozialen Bereich. Vgl. Gide 1910, 73 f.; vgl. Brazda/Schediwy 2011, 63. Dass es nötig ist, eine spezielle Frauenorganisa­tion innerhalb der Genossenschaften zu gründen, belegt auf schlagende Weise den marginalisierten Status von Frauen in genossenschafts­ politischer Hinsicht.

Konsumexpertinnen und Kaufdilettanten

egoistisch, sprich weib­lich. Ebenso werden in der genossenschaft­lichen Delega­tion individuell-­egoistischer Interessen an kollektiv-­gemeinsinnige Ziele landläufige geschlechterdifferenzielle Asymmetrien fortgeschrieben. Mögen Genossenschaf­ ten auf institu­tioneller Ebene basisdemokratisch organisiert sein, in Bezug auf die semantische Ebene erweist sich diese Gleichheit z­ wischen Männern und Frauen als pure Fik­tion.

3.  Die engagierte Konsumentin Im Gegensatz zu den Konsumgenossenschaften, die Konsumenteninteressen kollektivieren, um die Bedürfnisse ihrer Mitglieder am Markt besser vertreten zu können, verfolgt die von Amerika ausgehende Bewegung der Käuferligen andere Ziele.10 Auch hier sollen Konsumenten zu kollektivem Handeln ermutigt werden, doch nicht im Sinne einer besseren Bedürfnisbefriedigung, sondern zugunsten einer sozialen Verantwort­lichkeit beim Konsum (vgl. Breckman 1991, 497 f.). Die Anliegen der Käuferligen werden in Anforderungskatalogen zusammengefasst, die eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und eine angemessene Entlohnung anvisieren.11 Einzelhändler, die Waren anbieten, die unter weitgehender ­Einhaltung 10 1891 wird die erste Käuferliga, die Consumers’ League of New York City, gegründet. Bald folgen andere Länder: 1902/03 Frankreich, 1903/04 Holland, Italien und England, 1906 die Schweiz und 1907 wird der Käuferbund Deutschland gegründet. Daten aus G. ­König 2001, 368 f. Zur deutschen Situa­tion vgl. G. ­König 2001, 369; zur amerikanischen vgl. Storrs 2000; zur franzö­sischen Deslandres 1911; Überblicke zur interna­tionalen Situa­tion bieten Chatriot/Chessel/Hilton 2006 sowie Trentmann 2006. 11 Der Anforderungskatalog („Standard of a Fair House“) der New Yorker Consumers’ League lautet wie folgt: „Wages. – A Fair House is one in which equal pay is given for work of equal value, irrespective of sex. In the departments where women only are employed, in which the minimum wages are six dollars per week for experienced adult workers, and fall in few instances below eight dollars. / In which wages are paid by the week. / In which fines, if imposed, are paid into a fund for the benefit of the employees. / In which the minimum wages of cash girls are two dollars per week, with the same condi­tions regarding weekly payments and fines. Hours. – A Fair House is one in which the hours from eight A. M. to six P. M. (with three-­quarters of an hour for lunch) constitute the working day, and a general half-­holiday is given on one day of each week during at least two summer months. / In which a vaca­ tion of not less than one week is given with pay during the summer season. / In which all overtime is compensated for. / In which wages are paid and the premises closed for the five principal legal holidays, – viz., Thanksgiving Day, Christmas and New Year’s Day, Washington’s Birthday, and the Fourth of July.

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der in den Anforderungskatalogen formulierten Bedingungen hergestellt wur­ den, kommen auf eine sogenannte „white list“, die sozialpolitisch begründete Kaufempfehlungen ausspricht (vgl. G. ­König 2005b, 53).12 Durch die implizite Aufforderung zum Boykott jener Geschäfte, die unter schlechteren Bedingun­ gen produzierte Waren verkaufen, soll ein nicht-­gewerkschaft­lich organisierter Druck auf Produzenten und Händler aufgebaut werden. Es ist klar, dass die in der „white list“ ausgesprochenen Kaufempfehlungen nicht an Subsistenzhaushalte adressiert sind, die jeden Monat angesichts knapper finanzieller Ressourcen ums nackte Überleben kämpfen, sondern an bürger­liche Disposi­tionshaushalte, da es nur diesen mög­lich ist, ihr Kaufverhalten unter sozialen Gesichtspunkten zu überprüfen, sprich ggf. einen höheren Preis für eine Ware zu zahlen, wenn diese unter sozialverträg­lichen Bedingungen hergestellt und verkauft wird.13 Mit den Käuferligen gewinnt der Konsum von Waren eine neue Dimen­ sion: Er erscheint als s­ oziale Arbeit (vgl. Wolff 1912, 902 ff.).14 Durch den Appell

Physical Condi­tions. – A Fair House is one in which work-, lunch-, and retiring-­rooms are apart from each other, and conform in all respects to the present sanitary laws. / In which the present law regarding the providing of seats for saleswomen is observed, and the use of seats permitted. Other Condi­tions. – A Fair House is one in which humane and considerate behavior towards employees is the rule. / In which fidelity and length of service meet with the considera­tion which is their due. / In which no children under fourteen years of age are employed.“ (Kelley 1901, 646) 12 Zu Beginn richtet sich das Interesse der New Yorker Consumers’ League im Übrigen vornehm­lich auf Warenhäuser, vgl. Storrs 2000, 20. 13 Schon früh wird die Forderung laut, so in Henriette Fürths Die ­soziale Bedeutung der Käufersitten (1917), der meines Wissens umfassendsten deutschsprachigen Darstellung von Konsumenteninitiativen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, die zunehmende „Markt­ macht“ der Konsumgenossenschaften mit den von Käuferligen formulierten sozialpoliti­ schen Anliegen zu verbinden (Fürth 1917, 95 ff.; vgl. Sozialpolitische Chronik 1911, 674 ff.). Viele Genossenschaften lehnen diese Verknüpfung ab, da sie durch „eine Teilnahme am öffent­lichen Leben, insbesondere an der Politik“ (Sozialpolitische Chronik 1911, 674), ihre Neutralität gefährdet sehen. Im Gegensatz dazu werden in anderen Ländern Konsumge­ nossenschaften teilweise unter dezidiert politischen Vorzeichen gegründet, z. B. die 1873 in Gent gegründete Sozialistische Consum- und Productiv-­Genossenschaft „Vooruit“. 14 „Die Illusion einer sehr weit reichenden ‚Macht der Konsumenten‘ war gespeist aus der Vorstellung, die strukturellen Auswüchse kapitalistischer Produk­tionsweise könnten durch soziales Engagement nicht nur gemildert, sondern sogar verhindert werden“ (G. ­König 2005b, 56). Vgl. Bernold/Ellmeier 1997, 460 ff.; Haupt 2003, 102 ff. sowie in Bezug auf die eng­lische Situa­tion Lancaster 1995, 175.

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an das persön­liche Gewissen des Konsumenten sollen wirt­schaft­liche Kosten-­ Nutzen-­Erwägungen durch philanthropische Motive substituiert werden. Was die wirtschaftswissenschaft­liche Fik­tion des Homo oeconomicus bestimmt – die ra­tionale Wahl jener Alternative, die den größten eigenen Nutzen verspricht – konterkarieren die Käuferligen durch wirtschaftsfremde Beweggründe, indem sie die wirtschaft­liche Logik des Marktes als Verbindungsglied z­ wischen Produk­tion und Konsum­tion außer Kraft zu setzen versuchen. In der Argumenta­tion der Käuferligen tritt der Konsument nicht nur als Verbraucher auf, sondern es wird ihm zugleich die Rolle als Quasiarbeitgeber zugeschrieben: „[T]he consumer is the indirect employer and can by no means escape a share in the moral respon­ sibility for the employment.“ (Kelley 1908, 108 f.) Ähn­lich heißt es in Wilhelm Bodes Die Macht der Konsumenten (2. Aufl. 1904): „Wir Konsumenten sind die wahren Arbeitgeber; diejenigen, die so heißen, sind nur unsere Vermittler und Vertreter. Nicht bloß jener Ladenbesitzer läßt die ärmsten

Frauen zu sündhaft niedrigen Löhnen arbeiten, sondern wir, seine Kunden, sind auch dabei.“ (Bode 1904, 2)

Vor dem Hintergrund der Agita­tion der Käuferligen ist es nicht verwunder­lich, wenn in der Hauswirtschaftsliteratur nach 1900 ein neuer weib­licher Konsu­ mententypus beschrieben wird, der bereits die Ideen der Käuferligen verinner­ licht hat. Dieser Typus hält, so schreibt Caroline Hunt in Home Problems from a New Standpoint (1908), „a unique posi­tion among consumers. She buys not only that which she herself uses, but much of that which the adult members of her family, and all of that which her

young children consume. Thus she assumes vicariously their responsibility and holds their consciences.“ (Hunt 1908, 126)

Später ergänzt Hunt: „The home-­maker, in her capacity as buyer for a family, is largely responsible for that which is made as well as for the condi­tions under which it is made and the methods employed in its distribu­tion.“ (Hunt 1908, 131)

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Zwar bedeuten diese Zuschreibungen eine Aufwertung der Hausfrauenrolle im Verhältnis zur produktiven Tätigkeit des Mannes. Jedoch wird der Leistungs­ druck, der auf Frauen lastet, zusätz­lich erhöht. Nur vordergründig stellt das Kollektiv der verantwortungsvollen Konsumentinnen eine dritte Mög­lichkeit eines kollektivierten Konsumentenwillens neben dem männ­lich konnotierten Genossenschaftskollektiv und der femininen Masse im Warenhaus dar. Tatsäch­ lich ist es eine weitere Variante, um die vermeint­lichen Gefahren einer trans­ gressiven Entfesselung weib­licher Energien in der modernen Konsumsphäre zu bannen. Was sonst krank macht, soll nun über einen verantwortungsvollen Konsum heilend wirken. Hierbei wird die moderne Konsumsphäre zum Feld eines sozialen Engagements stilisiert, das die bösen Geister eines asozialen Ausbeutungskapitalismus vertreiben soll. Andererseits beruht d ­ ieses s­ oziale Engagement auf einer positiven Deutung der dem Weib­lichen im Rahmen der Sonderanthropologie zugeschriebenen Eigenschaften wie mütter­liche Fürsorge und emo­tionale Zugewandtheit, die über die familiäre Sphäre hinaus bis in die Sphären der Produk­tion und Distribu­tion ausgeweitet werden (vgl. Honegger/ Heintz 1984, 30 ff.).15 Die sozialpolitischen Anliegen der Käuferligen lassen sich in diesen Kontext einordnen. Was auf der einen Seite der Einflussnahme auf die spezifisch männ­ liche Sphäre der Produk­tion dient, wobei die frühen Käuferligen insbesondere auf eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Frauen zielen, befestigt auf der anderen Seite die Geschlechterrollenverteilung. Die sozialpolitischen Anliegen der Käuferligen sind daher in doppeltem Sinne als geschlechterpolitisch einzu­ stufen. Sie bringen eine spezifische Ambivalenz hervor in dem Versuch, über ein sonderanthropolo­gisch fundiertes, weib­liches Engagement in der Konsumsphäre weib­liche Arbeit in der Produk­tions- und Distribu­tionssphäre aufzuwerten.

15 Schon in Zolas Au Bonheur des Dames wird der Aspekt eines sozialen Engagements von Frauen angedeutet, und zwar in den auf Denises Bemühungen zurückgehenden paterna­ listischen Bestrebungen Mourets zur Verbesserung der sozialen Lage seiner Angestellten. Doch hier kommt der Impuls zu Reformen letzt­lich „von oben“. Das heißt, der (weib­liche) Konsum als solcher wird noch nicht in Verbindung mit der Mög­lichkeit zu sozialen Refor­ men gesehen, auch wenn mit Denise hinter Mouret eine sozialpolitisch engagierte Frau steht. In Sheldons Roman For Gold or Soul? wird die Geschichte solcher sozialer Reformen im Warenhaus in den Mittelpunkt der Handlung gestellt. Ausführ­lich zu Zolas Roman und dem darin vertretenen Konzept des Paternalismus vgl. Kapitel 11.1.

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4.  Konsumtechnikerin und Familienökonomin Im Zentrum von Christine Fredericks 1913 in Buchform erschienener Artikelserie The New Housekeeping 16 steht das Konzept der Effizienz. Dieses Effizienzprinzip möchte Frederick auf alle mit dem privaten Haushalt verbundenen Aspekte ange­ wendet sehen. Hauswirtschaft­liche Prozesse sollen nicht allein wissenschaft­lich untersucht, sondern Gegenstand einer neu zu begründenden Haushaltswissenschaft werden. Hierbei wird der Einkauf selbst zur Wissenschaft erklärt: „Buying is a science, and like any other science it is based on knowledge. In becoming the purchasing agent of her family the modern housewife must know.“ (Frederick 1913, 103 f.). Wissenschaft­lich konsumieren heißt: Ökonomisches Kalkül wird mit waren- und markenkund­lichen 17 Kenntnissen zu einem umfassenden Konsum­ wissen über den modernen Massenwarenmarkt verbunden (vgl. Frederick 1913, 102 – 125). Ziel der effizienten Haushaltsführung ist sowohl eine Zeit-, Arbeitsals auch Geldersparnis, die der gesamten Familie zugutekommen soll.18 Die effizient wirtschaftende Hausfrau, die ihren Haushalt einer quasiindustriellen Ra­tionalisierung unterzieht, steht dabei, wie Frederick ausdrück­lich betont, im diametralen Gegensatz zu der Hausfrau vergangener Zeiten, die ihren Haushalt „from the emo­tional standpoint“ (Frederick 1913, 198) geführt habe.19 16 1921 wird The New Housekeeping unter dem Titel Die ra­tionelle Haushaltführung ins Deut­ sche übersetzt. In einem zweiten Buch mit dem Titel Household Engineering. Scientific Management in the Home (1923) breitet Frederick das Thema einer effizienten Haushalts­ führung schließlich auf mehr als fünfhundert Seiten aus. 17 Zur Bedeutung von Marken und Markenprodukten im Zusammenhang mit der modernen Konsumsphäre um 1900 vgl. Hellmann 2003. 18 Ein kurzer Überblick zu den verschiedenen Phasen der Verwissenschaft­lichung und Taylori­sierung der weib­lichen Hausarbeit findet sich in Honegger/Heintz 1984, 35 ff. 19 Die veränderten Anforderungen an die „moderne“ Hausfrau an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert skizziert Gerhard Scherhorn: „War das, was es über den Markt zu lernen gab, einmal auf wenige, undifferenzierte und beständige Güter begrenzt und in seinem Umfang wesent­lich geringer als das Wissen über hauswirtschaft­liche Tätigkeiten, so hat sich das Verhältnis rigoros verändert. Die Zahl der angebotenen Produkte hat um ein Vielfaches zugenommen; jedes Produkt wird in einer Vielzahl unterschied­licher Varianten (Marken, Modelle) angeboten; Produkte und Produktvarianten bleiben in Zahl, Qualität und Aufma­ chung nicht gleich, sondern werden weiter entwickelt, weiter differenziert, weiter vermehrt. Bei vielen Produkten übersteigt das technische Wissen, das zur Beurteilung ihrer Funk­ tionstüchtigkeit erforder­lich ist, das Maß der dem normalen Verbraucher günstigstenfalls zugäng­lichen Kenntnisse. Anzahl, Lebensdauer und Qualitätswandel der konkurrierenden Produkte machen es dem Haushalt schwer oder unmög­lich, durch eigene Erprobung der Güter zu Regeln darüber zu kommen, welches Angebot für ihn das geeignetste ist. Nicht

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Fredericks Ratgeber ist Teil der umfassenden Neuorganisa­tion und Institu­ tionalisierung des hauswirtschaft­lichen Wissens und Unterrichts nach der Jahr­ hundertwende in den USA.20 Bei Frederick zeigt sich nicht allein eine Aufwer­ tung der Hausfrauenrolle, sondern der Haushalt selbst wird in der argumenta­ tiven Rückbindung an die industrielle Sphäre als ein der Produk­tion und ihren Methoden ebenbürtiger Bereich dargestellt. Was der Ingenieur oder Techniker in der Sphäre der Produk­tion leisten kann, das kann, so die optimistische Vision Fredericks, die Hausfrau als Konsumtechnikerin in der häus­lichen Sphäre leisten. Im Gegensatz zu den Anliegen der Käuferligen erscheint Konsum bei Frederick daher nur noch am Rande als ­soziale Aufgabe (vgl. Frederick 1913, 227 f.). Dieser nach Effizienzprinzipien wirtschaftende Hausfrauentypus ist in der Tat ein Gegenentwurf zu den meisten anderen Frauenfiguren, die den diskur­ siven Kosmos der damaligen Warenhausdebatten bevölkern. In dieser Figur wird alles ausgeblendet, was weib­liches Konsumverhalten vermeint­lich „gefähr­lich“ macht.21 Wie bei der sozialverantwort­lich handelnden Käuferin wird in der effi­ zienten Hausfrau die Produk­tionssphäre mit der Konsumsphäre rückgekoppelt. Im Unterschied zur sozial engagierten Konsumentin werden jedoch elementare Prinzipien moderner kapitalistischer Produk­tion auf die Sphäre der Reproduk­ tion und des Konsums projiziert. Aus geschlechterpolitischer Perspektive heißt das nichts anderes, als dass in der Figur der effizient wirtschaftenden Hausfrau eine Maskulinisierung der häus­lichen Sphäre stattfindet, und zwar – paradoxer­ weise – indem sie ihre Rolle als Hausfrau perfekt erfüllt.22 Der Mann schreibt

ein gleichbleibender Bestand an warenkund­lichem Wissen wird dieser Situa­tion gerecht, sondern die Fähigkeit, sich durch Beschaffung verläß­licher Informa­tionen ad hoc über ein Angebot zu orientieren, das in Zusammensetzung und Bedingungen mit dem nicht mehr identisch ist, welches man beim vorigen Kauf vorgefunden hatte.“ (Scherhorn 1977, 234 f.; vgl. Zuckerman/Carsky 1990, 314; Budde 1997, 414) 20 Zur deutschen Situa­tion bemerkt Irma Wolff: „Spezialschulen für Frauen, wie sie neu­ erdings in Preußen in den sozialen ‚Frauenschulen‘ entstanden sind, und wie die erste Frauenhochschule in Leipzig sich darstellt, haben die Aufgabe, die Probleme, die heute auf allen Gebieten des Gebrauchs im täg­lichen Leben liegen, den künftigen Hausfrauen und Müttern näher zu bringen.“ (Wolff 1912, 904) Zur Ra­tionalisierung des „deutschen“ Haushalts in den 1920er Jahren vgl. Frevert 1986, 189 ff. sowie ausführ­lich Wildt 1996, 78 ff. 21 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 5. 22 Zur „latenten Maskulinisierung“ von Konsumentinnenrollen in Bezug auf Geschmacks­ fragen in den damaligen Debatten vgl. G. ­König 2001, 352; zur Maskulinisierung von Kon­ sumentinnentypen in der damaligen Werbung vgl. Neve 2010, 73.

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sich nicht mehr nur über den männ­lichen Konsumauftrag in die weib­lich kon­ notierte Zone des Konsums ein,23 sondern auch über die Adap­tion industrieller Techniken und Methoden in die Haushaltsführung. Aus der sichtbaren male exclusion im Warenhaus wird eine unsichtbare male inclusion in den Haushalt. Im einzigen Bereich, in dem Frauen im 19. Jahrhundert noch eine gewisse Macht und Eigenverantwort­lichkeit gegenüber dem Mann behalten haben, findet über die Figur der effizienten Hausfrau eine forcierte Entmachtung von Frauen statt. Wissenschaft­lich haushalten und konsumieren heißt nichts anders als für den Mann nachprüfbar haushalten und konsumieren. Ein derart ra­tional agierender, weib­licher Konsument wird bald für wirt­ schafts­wissen­schaft­liche Konsumtheorien interessant. Während die damaligen wirt­schafts­wissen­schaft­lichen Markttheorien die ohnmächtige Rolle von Kon­ sumenten als Akteure in einem modellhaften Marktgeschehen betonen,24 schiebt sich mit der frühen Konsumtheorie eine mikroökonomische Perspektive in den 23 „Kontor und Fabrik, [ob]wohl räum­lich abgetrennt vom Haushalt, verlängern sich gleich­ sam in die Familie hinein.“ (Honegger/Heintz 1984, 36) 24 Zwar weist schon Adam Smith in An Inquiry into the Nature und Causes of the Wealth of Na­tions (1776, Ausg. letzter Hand 1789) darauf hin, dass der Verbrauch „the sole end and purpose of all produc­tion“ sei und man daher „the interest of the producer ought to be attended to, only so far as it may be necessary for promoting that of the consumer.“ (Smith 1834, 274) Aber erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts „kehrten die um den Konsum krei­ senden Problematisierungen wieder in die Wirtschaftswissenschaften zurück.“ (Tanner 2009, 338) In den 1870er Jahren wird erstmals von wirtschaftswissenschaft­licher Seite aus dafür plädiert, „den Konsumenten ins Zentrum der Analyse zu stellen“ und ihn „als aktiv handelnden Menschen“ (Tanner 2009, 344) aufzufassen. Ausgangspunkt der wirtschafts­ theoretischen Reflexion soll nicht mehr „der Markt-­Preis-­Mechanismus“ sein, sondern „der kulturell modellierte Gebrauch von Dingen durch Menschen, die damit ihre […] Bedürfnisse befriedigen.“ (Tanner 2009, 345) Trotz dieser Versuche, die Sphäre des Kon­ sums gegenüber Handel und Produk­tion aufzuwerten, wird auch die Wirtschaftstheorie um 1900 weiterhin von letzteren Kategorien dominiert. So bemerkt 1912 der österreichische Ökonom und Soziologe Emil Lederer: „[B]ei aller Bereitwilligkeit jeder Theorie, zuzuge­ stehen, daß […] sich also die gesamte Volkswirtschaft nur aufrecht erhalten läßt auf der Basis einer bestimmten Bedürfnisgestaltung, demnach abhängig ist von den Konsumen­ ten, deren Bereitwilligkeit und Fähigkeit, die Waren zu absorbieren, die Voraussetzung für den ungestörten Fortgang des wirtschaft­lichen Prozesses bildet – bei aller Bereitwilligkeit jeder Theorie, dies zuzugestehen, sind doch die meisten Werttheorien und Theorien der wirtschaft­lichen Entwicklung vom Gesichtspunkt der Produzenten einseitig konstruiert. Der Konsumenten erinnert man sich nur gelegent­lich der Krisen.“ (Lederer 1912, 101) Zur amerikanischen Forschung vgl. kurzen Überblick bei Kyrk (1939), aus dem deut­lich wird, dass es bis in die 1920er Jahre hinein nur eine spär­liche wirtschaftswissenschaft­liche

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Vordergrund, in welcher der private Haushalt in den Fokus der Analyse rückt. Hazel Kyrks Theory of Consump­tion (1923) leistet hier Pionierarbeit.25 Kyrk stellt den Konsumenten nicht als passiven, einzig seine elementaren Bedürfnisse befriedigenden „Verbraucher“ dar, sondern begreift ihn als aktiven Marktteilnehmer. Die (Aus-)Wahl der Waren ist bei Kyrk nicht mehr dem Ver­ brauch bzw. Genuss nachgeordnet, sondern gleichberechtigt: zentrales Element einer nicht mehr primär auf die Produk­tionsmittel gerichteten Theorie der „home economics“ (vgl. Kyrk 1923, 5 f.).26 Doch auch bei Kyrk ist dieser Konsument kei­ neswegs ein Neutrum: „The group of persons to whom the problem of consump­tion comes home most closely, and who in their daily activities embody most completely the general public that chooses and uses goods, are the women who are the heads of modern households. […] The head of the household is, accordingly, no longer mistress and supervisor of the productive

processes which supply the family’s needs. She has become the director of consump­tion,

the maker of budgets, the purveyor who seeks upon the market the goods which the family needs. […] It is the household managers who, in a peculiar way, are deputed to speak

for the whole body of consumers.“ (Kyrk 1923, 20; Hervorheb. U. ­L.)

Zwar wird schon bei Gide das Berufsmäßige der Hausfrau herausgestellt.27 Bei Kyrk sind jedoch die Aufgaben, ­welche die Frau als „head of household“ zu Reflexion des Konsumenten gibt. Zur mitteleuropäischen Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vgl. Tanner 2009. 25 Rückblickend hat Kyrk ihr Vorhaben folgendermaßen beschrieben: „In my book I strug­ gled with two problems; one, the consumer’s posi­tion and how he fares in a free-­enterprise, mass-­produc­tion society; the other, the ‚why‘ of consumers’ desires and their relative inten­ sity. In attacking this second problem, the attempt was to apply theories of value und of human motiva­tion in general to this particular aspect of human conduct.“ (Kyrk 1939, 16) 26 Kyrk gehe es darum, so Susan van Velzen, „the world behind the demand curve“ zu erforschen und den Konsumenten als „responsible agent“ darzustellen, der „by choosing, buying and using goods, guides and controls the productive process“ (van Velzen 2001, 13). Zur Bedeu­ tung Kyrks und zum Einfluss auf die amerikanische wirtschaftswissenschaft­liche Reflexion der Konsumsphäre vgl. Zuckerman/Carsky 1990, 315; zur Stellung Kyrks im Rahmen der allgemeinen wirtschaftswissenschaft­liche Konsumtheorie s. Tanner 2009, 348. Zur Erfindung des modernen Marktes aus dem Geist der Gewerbefreiheit s. Kap. 1, Anm. 11 und 12. 27 Es heißt: „Comme on l’a dit spirituellement, ‚la Femme et son panier‘ est un des grands types de l’Humanité, aussi bien que le laboureur avec sa charrue ou le forgeron avec son marteau.“ (Gide 1910, 83)

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bewältigen hat, hochkomplex geworden. Während der Mann die Rahmenbe­ dingungen schafft, die das Wohlergehen („welfare“) der Familie ermög­lichen, hat die Frau für die erfolgreiche Umsetzung ­dieses Wohlergehens zu sorgen: „The age-­long division of labor between men and women takes a new form; the men of the household carry on some specialized productive activity and earn an income. The

women plan and carry on expenditure; they spend the family income upon the market, and thus obtain command over the goods for family use. There is a fairly clear concept

that family welfare depends partially, at least, upon how family income is spent […].“

(Kyrk 1923, 85 f.)

Um einen „Familienbetrieb“ im Sinne Kyrks zufriedenstellend und erfolgreich führen zu können, müssen zusätz­liche Fähigkeiten und Fertigkeiten erwor­ ben werden: „Household economics concerns itself less and less with the decreasing productive

activities within the household, but concerns itself with the new problem of choo­ sing upon the market the goods which the family needs. ‚Clothing‘ is substituted for

‚Sewing‘, ‚Food‘ for ‚Cooking‘ in the curriculum; the study of budget making and the

organiza­tion of the retail market replace practice in the household arts.“ (Kyrk 1923, 85)

Es ist klar, dass die Hausfrau als Familienökonomin ihr Wissen und ihre Kom­ petenz nicht mehr aus Ratgeberliteratur à la Henriette Davidis oder Christine Fredericks gewinnen kann. Es bedarf vielmehr einer umfassenden Ausbildung („consumer educa­tion“), deren Inhalt Kyrk in einer späteren Publika­tion wie folgt skizziert: erstens hauswirtschaft­liche Praxis, zweitens Waren- und Marken­ kunde, drittens Verständnis für die ökonomischen Zusammenhänge des moder­ nen Konsumgütermarktes: „The educated consumer would understand the market in which he buys, the factors

determining the prices that he pays, the arrangements and devices that facilitate and

those that obstruct intelligent buying, the public policies that are contrary to and that promote his interests.“ (Kyrk 1941, 303)28

28 Nicht zu vergessen sei der ­soziale Aspekt des Einkaufens im Sinne der sozialpolitischen Anliegen der Käuferligen. Vgl. Kyrk 1941, 303.

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Wie die Frederick’sche Konsumtechnikerin geht auch die Kyrk’sche Familienöko­ nomin vollständig in ihrer hauswirtschaft­lichen Tätigkeit auf. Auf diese Weise wird sie nicht allein immun gegen die Verlockungen des modernen, feminisier­ ten Warenangebots. Sie scheint ebenfalls keinen Anlass mehr für demonstrative Formen von Konsum zu haben. Während Fredericks taylorisierte Hausfrauen­ figur der männ­lichen Sphäre der Produk­tion angenähert wird, zeichnet Kyrk die Familienökonomin als gleichberechtigte Partnerin des Mannes.29 Obwohl also bei Kyrk die klas­sische Geschlechterrollenverteilung fortgeschrieben wird, ist das Verhältnis von Mann und Frau nicht mehr von einer grundlegenden Asymmetrie bestimmt, sondern funk­tionalistisch gedacht im Sinne moderner Arbeitsteilung (vgl. Kyrk 1923, 292). Sowohl bei Frederick als auch bei Kyrk erscheinen Haushaltsführung und Konsum als spezifische Form von Arbeit: als „Konsumarbeit“30, wobei Konsum „als Produk­tion von Lebensunterhalt, Lebensweisen und -stilen“ (Tanner 2009, 348) verstanden werden kann. Die Konsumsphäre ist hier nicht mehr Schauplatz der Freisetzung transgressiver weib­licher Energien, sondern weib­licher „Arbeits­ bereich“ sui generis, wo es im Sinne des Effizienzgedankens darum geht, alle Praktiken einer ineffizienten Verausgabung von Geld, Zeit und Arbeit zu ver­ meiden bzw. zu unterbinden.

5.  Die Konsumkulturarbeiterin So vielfältig um 1900 die Versuche sind, die Rolle der weib­lichen Konsumenten neu zu fassen und über das Konzept der Konsumarbeit positiv zu bewerten, so wenig scheint die gesellschaft­liche Anerkennung einer solchen Arbeit – zumindest im deutschsprachigen Raum – denkbar, wenn sie nicht noch einen weiteren Aspekt einschließt: die Frage nach dem „richtigen“ Geschmack. Joseph August Lux schreibt in Der Geschmack im Alltag. Ein Buch zur Pflege des Schönen (1908):

29 In großem Gegensatz dazu steht das Frauenbild der damaligen Hauswirtschafts-, Ratgeberund Anstandsliteratur, deren „Geschlechterkonzept“ weiterhin eine klare Unterscheidung ­zwischen „männ­licher Stärke, Willenskraft und Aktivität und weib­licher Bescheidenheit, Hingebung und Passivität“ vorsah und „den Männern die Öffent­lichkeit und den Frauen die Häus­lichkeit und Privatheit zuwies“ (Niethammer 1992, 132 f.). 30 Vgl. die umfäng­lichen Ausführungen zu ­diesem Thema in Joerges 1981.

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„Viele ­­Zeichen sprechen dafür, daß die Frauen ihre Aufgabe dem modernen Kunstge­ werbe gegenüber noch nicht erkannt haben. […] Diese Teilnahmslosigkeit ist umso

unbegreif­licher, je mehr sich die Fragen des modernen Kunstgewerbes als eine Lebens­

angelegenheit der Frauen herausstellen. […] Denn alle Angelegenheiten der künst­

lerischen Gestaltung im Kunstgewerbe bewegen sich im Umkreis von Haus und

Heim und bestimmen das äußere Bild unserer Lebenskultur. Die Männer berühmen

sich, wie bekannt, des traurigen Vorrechtes, von den Dingen, die das Haus und Heim

angeht, nichts zu verstehen und überliefern d ­ iese wichtige Domäne des Lebens, von

der unzählige Industrien und Arbeitsexistenzen abhängen, dem Geschmack der Frau, die durch ihre Entscheidung je nach dem Grad ihrer Geschmacksbildung Segen oder

Unheil stiftet.“ (Lux 1908, 397 f.)

Die Frage nach dem „richtigen“ Geschmack ist hierbei eng mit weiteren Aspek­ ten eines „richtigen“ Konsums verbunden. In Die Macht der Käufer (1914) von Ilse Müller-­Oestreich heißt es: „Man kläre die Käufer einmal darüber auf, daß z. B. ein Berliner Konfek­tionsgeschäft Damenulster zu 2,75 M. das Stück nur deshalb anbieten kann, weil schlechtes Material in schlechtester Weise verarbeitet wurde und weil die Näherinnen einen Hungerlohn

dafür erhielten. Und das ist die ganz andere Seite der Schundindustrie.“ (Müller-­

Oestreich 1914, 22)

Im Begriff des Schunds werden in der damaligen Kritik sowohl mora­lische, s­ oziale, qualitative als auch ästhetische Fragen gebündelt. „Schund“ ist ein Passe­partout für alles, was unmora­lisch, unsozial, minderwertig und/oder häss­lich ist.31 Dem­ entsprechend heißt es bei Lux: 31 Bei Bode wird explizit gemacht, was diese „Schundmäßigkeit“ beinhaltet: „Wir sollten allen Imita­tionen mißtrauen, keine Pappe kaufen, die sich für Leder oder Holz, kein Papier, das sich für Glas, kein Zink, das sich für Bronze ausgiebt. Wir sollen kein Schreibzeug kaufen, das eine Felsenburg oder eine Hirschjagd darstellt, sondern ein praktisches Gerät, das nicht zum Wehtun oder Schmutzigwerden vorausbestimmt ist. Wir sollten gegen alle Orna­ mente mißtrauisch werden, die nur aufgesetzt und angeleimt sind, gegen allerlei Schnör­ kel, Schnecken, Muscheln, Gitter und Bögen, durch die ein minderwertiges Stück nach etwas aussehen soll. Kiefernholz soll uns recht sein, aber nicht wenn es sich als Eiche oder Nußbaum geberdet. […] Kehren wir einmal alles Überflüssige, Protzige, Fremdländische, Seelenlose aus unsern Stuben aus, wenn wir es uns von einer schlechten Mode aufdringen ließen, dann wird wieder Raum für die wahre Schönheit, wie sie uns in den alten Winkeln

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„Man werfe doch einmal einen Blick in die Legion von Frauenzeitschriften und Haus­ blättchen, die zu 100000 im Volke abgesetzt werden, und man wird finden, daß kaum

noch ein erleuchtender Gedanke unserer neuen und tiefeingreifenden bildsamen Ide­ enmacht in jene Niederungen hineingedrungen ist. Dort herrscht noch in allen Fragen

des Geschmacks und der Gestaltung eine geradezu babylonische Verständnislosigkeit,

haarsträubende Geschmacksverirrungen und eine betrübende Verkennung aller sach­ lichen und ethischen Grundlagen der Kulturarbeit. Schundmäßigkeit ist die Marke.“

(Lux 1908, 401)

Gudrun König hat sich in mehreren Arbeiten (G. ­König 1999, 2001, 2005b, 2009a) mit den damaligen Diskussionen um das Verhältnis von Konsum und Geschmack befasst. Dabei hat sie einerseits geschlechterdifferenzielle Zuschreibungslogiken untersucht. Frauen erscheinen in den Diskussionen „zugleich als Komplizinnen des schlechten und Agentinnen des guten Geschmacks“ (G. ­König 2001, 352; vgl. G. ­König 1999, 418). Andererseits hat sie nachdrück­lich darauf hingewiesen, dass die Kopplung des „richtigen“ Konsums an Geschmacksfragen weib­liche Konsumarbeit auf ganz andere Kontexte hin referenzialisiert: „Mit dem Versuch, Frauen als bewusste Konsumentinnen und Sachverwalterinnen für

die Dinge des täg­lichen Bedarfs zu erziehen, wurden sie nicht einfach auf ihre häus­

lichen Aufgaben reduziert, denn diese Aufgaben wurden durch ihre na­tionalpolitischen,

ethischen, kulturellen Setzungen nobilitiert und bekamen damit eine öffent­liche Funk­

tion.“ (G. ­König 2001, 360)

„Richtiger“ Konsum wird in d ­ iesem Sinne als öffent­lich wahrnehmbare, weib­liche „Kulturarbeit“ zur Förderung einer (fast) verlorenen gegangenen „Volkskunst“ aufgefasst. In Bodes Die Macht der Konsumenten wird Hermann Obrist mit den Worten zitiert: „Kaufen wir erst einmal durch mehrere Genera­tionen hindurch Einfaches, Solides, Wahres, Echtes: die Volkskunst wird dann von selber kom­ men!“ (Bode 1904, 6)32 Das ­gleiche Argument, diesmal gegen die als „kulturlos“ empfundenen Einkaufspraktiken von Frauen gerichtet, findet sich bei Lux: der Städte oder bei Bauernhäusern abseits der Landstraße so oft unvermutet in die Seele blickt, wie wir sie in aller unverdorbenen Natur genießen.“ (Bode 1904, 6 f.) 32 Das Zitat stammt aus Obrists Essay Volkskunst? (1900); wiederabgedruckt in: Obrist 1903, 89.

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„Die Großmütter wußten noch, was sie verlangen durften, sie hatten Kultur. Die heuti­ gen Frauen mögen darüber nachdenken, was ihre Kinder und Kindeskinder einmal von

ihnen denken werden, wenn noch eine Spur von dem erbärm­lichen Kram, damit sich die heutigen begnügen, auf sie vererbt wird?“ (Lux 1908, 407 f.; vgl. Wolff 1912, 904)33

Die „Kultur“, die der Großmüttergenera­tion zugeschrieben wird, ist jedoch keine beliebige, sondern eine na­tionale. In Robert Breuers Artikel Der Einkauf als kulturelle Funk­tion (1907/08) heißt es: „Das Publikum sollte lernen, daß ‚einkaufen‘ mehr ist, als die Zufriedenstellung persön­

licher Wünsche. Daß es sich dabei um eine s­ oziale Betätigung, um eine kulturelle Funk­

tion handelt. […] Durch die Art, wie er einkauft, kann der Bürger mehr zur Gestaltung

des Vaterlandes beitragen, als durch seine Aufregung während der Wahlkampagne.“

(Breuer 1907/08, 79)34

Deswegen kann es ohne weib­liche „Heimkultur“ keine na­tionale Volkskultur geben (vgl. G. ­König 2001, 359).35 Den Frauen wird die Herkulesaufgabe aufgebürdet, qua „richtigem“ Konsum gegen die Kulturlosigkeit bzw. den Kulturverfall der Gegenwart 36 anzugehen, dagegen also, wofür das Warenhaus in den zeitgenös­ sischen Debatten in der Regel steht. Die weib­liche Konsumkulturarbeiterin ist

33 Bei Bode heißt es entsprechend: „Nicht das Rollen des Geldes läßt das Volk leben, nicht durch ‚Leben und Leben lassen‘ kann ein Volk reich und gedeih­lich werden, sondern nur durch fleißiges Arbeiten und vor allem durch vernünftigen Konsum.“ (Bode 1904, 6) 34 Vgl.: „Käufer und Ware stehen in einer Art Wechselbeziehung zu einander. Der solide, vernünftige Käufer wird in der Regel eine gute brauchbare Ware kaufen. Aber die Ware wirkt auch auf den Käufer zurück. Deshalb kann es dem Volksfreund durchaus nicht gleich­ gültig sein, was für Gegenstände im Heim breiter Massen des Volkes zu finden sind. Gute solide, derbe Waren wecken und festigen den Sinn für alles Solide, Echte, Unverfälschte. Schundware erzieht im Gegenteil zur Oberfläch­lichkeit und schließ­lich auch zu einer Art von Unwahrhaftigkeit. Man sieht, wie tief die Wirksamkeit des Verkäufers gehen kann.“ (Büsch 1909, 192 f.; vgl. Geilenkothen/Gippert 1936, 39) 35 Vgl.: „Der in der Öffent­lichkeit fehlende Einfluß von Frauen wird [in der Formel von der ‚Macht der Hausfrau‘] positiv uminterpretiert und aufgelöst in eine vermeint­liche Macht der Frauen im Privaten. Volkswirtschaft gilt in dieser Argumenta­tion als Pendant zur Hauswirtschaft“ (Ellmeier 1990, 174). 36 Zum Komplex von Kulturverfall und „Kulturlosigkeit“ um 1900 vgl. Bollenbeck 1994 sowie Bollenbeck/Köster 2003.

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echt, ehr­lich, sitt­lich und tradi­tionsbewusst, d. h. gegen alles nur Modische 37; in ihr kommen Tugenden zur Vorschein, die in der Moderne, zumal in der modernen Konsumsphäre, nicht mehr zu finden sind. Der Kunstbegriff, der hinter dieser kulturpolitisch motivierten Indienstnahme des weib­lichen Konsums steht, ist vormodern: Das Schöne ist mit dem Guten und Wahren unmittelbar verknüpft.38 Daher kann eine „Krisis des Geschmackes“ als „mora­lische Krisis“ (Lux 1908, VI) interpretiert werden, der nur mit Hilfe einer umfassenden ästhetischen Bildung abgeholfen werden kann: „Was sollen die Frauen nun tun? […] [S]ie sollen die kunstgewerb­lichen Veranstaltun­ gen besuchen, sich geistig in den Besitz des ganzen Fragenkomplexes setzen, sie sollen

aus eigener Initiative Erklärungen, Demonstra­tionen und Erläuterungen veranlassen, sie sollen sich in Vereinigungen zusammentun, und die Aufgabe stellen, bei allen ihren

Einkäufen und Anschaffungen auf Grund der solcherart erworbenen Einsicht immer wieder nach der Qualität fragen, die Materialien prüfen, die Solidität der Arbeit, die

Sach­lichkeit und Nütz­lichkeit als Prinzip der formalen Gestaltung untersuchen und

dahin zu kommen trachten, daß der lächer­liche Tand aus ihrem Gesichtskreis ver­

schwindet und daß das wirk­lich Notwendige in vollendetster Form und Gediegenheit

hervorgebracht werde.“ (Lux 1908, 408 f.)

So sehr in der von einer „männ­lichen Deutungselite“39 entworfenen Figur der Konsumkulturarbeiterin die hauswirtschaft­liche Tätigkeit von Frauen aufge­ wertet wird, so sehr erweist sich diese Konsumkulturarbeit als Phantasmagorie einer – wenn auch positiv gefassten – konsumierenden Weib­lichkeit, auf die

37 Durch die der Mode inhärente Innova­tionslogik werden Tradi­tionsbezüge ausdrück­lich zurückgewiesen. Geschmack erscheint im Rahmen der Mode als temporäre Laune eines im Kern irra­tionalen Konsumverhaltens. 38 „Der begeisterte Kunstapostel John Ruskin sagte vom guten Geschmack, daß er eine sitt­ liche Eigenschaft sei. In der Tat müssen wir in dem guten Geschmack eine geistige Kraft erblicken, die das Lebensbild harmonisch bestimmt. Sie erscheint uns höchst wertvoll in einer Zeit, die mit so vielen häß­lichen Dingen erfüllt ist und den Kampf gegen diese Häß­ lichkeit aufgenommen hat.“ (Lux 1908, III) 39 „Die bürger­liche, überwiegend männ­liche Deutungselite engagierte sich im Beobachten und Bewerten der Warenwelt; sie reagierte auf das sozial und geschlecht­lich geprägte Kon­ sumverhalten.“ (G. ­König 1999, 416); zur Rolle des Dürer- und Werkbundes in ­diesem Zusammenhang vgl. ebd., 417.

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die moderne Verlusterzählung hin umgeschrieben wird.40 Hierbei ist die Kon­ sumkulturarbeiterin nicht nur strate­gisches Gegenbild zu den negativ besetz­ ten Phantasmagorien des Weib­lichen in der modernen Konsumsphäre, sondern gleichfalls ein Gegenentwurf zur Konsumtechnikerin und Familienökonomin amerikanischer Provenienz.41 Zeitgleich mit der Figur der Konsumkulturarbeiterin betritt noch ein weiterer Konsumentinnentyp die Bühne der modernen Konsumkultur: die Schundkäuferin. Nur selten wird dieser Typ explizit Thema und tritt aus seiner Rolle als Negativ­ folie heraus. Eine der wenigen Ausnahmen bildet Ada von Gersdorffs Roman Freiherrenhaus und Warenhaus (1921), in dem der Adelige Friedhart Freiherr von Herrenkron auf sein umfangreiches Erbe verzichtet, um Liane, die Tochter eines Warenhausbesitzers aus der Provinz, zu heiraten. Während Friedhart in Liane anfangs unverstellte Natür­lichkeit und Einfachheit zu entdecken meint,42 träumt Liane von einer durch ihren Mann ermög­lichten „Karriere“ als Adelige. Wie sich bald herausstellt, besitzt sie dafür jedoch weder den „richtigen“ Geschmack noch die entsprechende Bildung. Schon vor der Heirat deutet sich an, was wenig ­später Gewissheit wird und schließ­lich zum Scheitern der Ehe führt: „Drei Tage vor der Hochzeit kam Liane mit wahrhaften Riesenkoffern und kostbaren

Rindledertaschen aus Pappe […]. Solch eine Unmasse von unechten Spitzen, halb­ seidenen Bändern und anderem. […] alles dies [war] die Ausstattung einer kleinen

Halbweltdame […], die zur Bühne ging, keineswegs einer großen ‚Dame‘ dieser Kreise.“ (Gersdorff 1921, 140 f.; vgl. ebd., 218)

40 Vgl. Kapitel 10.1. 41 Im Hintergrund dieser Figur stehen nicht zuletzt die langjährigen Debatten um die Quali­ tät deutscher Produkte im interna­tionalen Vergleich: „Seit den 1880er Jahren versuchte die deutsche Industrie intensiv, ihren Export durch Qualität zu steigern. Insbesondere Franz Reuleaux’ in der Na­tionalzeitung publizierten Briefe über die Weltausstellung in Phila­ delphia [1876], in denen er kritisch die Präsenta­tion und Produkte der deutschen Indust­ rie als ‚billig und schlecht‘ beurteilte, initiierten langjährige Debatten und Veränderungs­ wünsche. […] Fabrikware mit dem Herkunftssignet ‚Made in Germany‘ erreichte erst im Dezennium nach der Jahrhundertwende als Zeichen ­­ von Qualität langsam interna­tionale Anerkennung und wirtschaft­liche Erfolge.“ (G. ­König 2001, 348 f.) 42 Der Plot lehnt sich im Übrigen, wenn auch stark abgewandelt, an Balzacs Erzählung La Maison du Chat-­qui-­pelote (1829) an.

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Figuren der Limita­tion

Liane richtet auch das neue ehe­liche Heim ein mit dem Ergebnis: „Alles Imita­ tion“, das Zuhause „einer Theaterprinzeß dritten Ranges“ (Gersdorff 1921, 141). In Irma Wolffs Artikel Die Frau als Konsumentin (1912) wird diese Neigung zum Schundkonsum nicht allein schichtspezifisch gedeutet, sondern als unmittelbare Folge fehlender Konsumkompetenz: „Die mangelnde Einkaufs-­Befähigung der Masse der Frauen von heute hat es mitver­ schuldet, daß die Frauen in immer größerer Anzahl dem Erwerbsleben außerhalb des

Hauses zuströmen. Das Streben nach höherem Familieneinkommen macht sich in allen Schichten, besonders aber in den sehr breiten niederen und mittleren, geltend. […] Die

gewerb­liche Betätigung bringt es für die Frau mit sich, daß sie noch weniger imstande

ist, den hauswirtschaft­lichen Bedarf zu kennen, und die erwerbstätige Frau vermehrt um ein bedeutendes [sic] die von jedem Kulturzusammenhange losgelösten Frauen

und Käuferinnen. Die Klassen der Fabrikarbeiterinnen und Handlungsgehilfinnen

stellen das Hauptkontingent der nur auf Schein und Tand gerichteten Konsumentin.“

(Wolff 1912, 900 f.)43

Je mehr Familieneinkommen durch die Erwerbstätigkeit der Frau vorhanden ist, umso größer die Verschwendung, weil ­dieses zusätz­liche Familieneinkommen, so Wolff, in den Konsum von Schund fließt. Wolff wiederholt verklausuliert zeitgenös­sische Argumente, ­welche die schlechtere Bezahlung weib­licher Arbeit mit dem Hang von Frauen zu übermäßigem Konsum begründen.44 Laut Wolff solle die Frau lieber zuhause bleiben. Dadurch würde nicht nur Schundkonsum vermieden werden. Die nicht erwerbstätige Hausfrau hätte auch mehr Zeit, um

43 Mangelnde Konsumkompetenz wird sogar als Grund für die Stehlsucht mancher Frauen angesehen. In einer redak­tionellen Anmerkung zu Fritz Flechtners Rezension von ­D ubuissons Warenhaus-­Diebinnen für die von Helene Lange herausgegebene Zeitschrift Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit heißt es: „So leitet die Stu­ die wieder einmal auf die Missstände der Erziehung hin, die die Frauen nicht über die kindischen Begierden hinaushebt, denen die Warenhausdiebinnen erliegen. Nicht beim Warenhaus, das aus der modernen Entwicklung großstädtischen Lebens mit Notwen­ digkeit hervorgewachsen ist, wird man eine Schuld suchen, sondern bei der landläufigen Oberfläch­lichkeit der Mädchenerziehung, die das ‚Kommissionen machen‘ [also einkaufen] zu einem förm­lichen Sport auch bei unseren deutschen Großstadtdamen werden läßt.“ (Flechtner 1904, 213) 44 Vgl. Kapitel 6.1.

Konsumexpertinnen und Kaufdilettanten

sich in der „Ästhetik des täg­lichen Lebens“ (Wolff 1912, 900) fortzubilden, also zukünftige Schundkäufe zu vermeiden. Wolff fundiert die Geschlechterasymmetrie nicht nur sonderanthropolo­gisch, sondern stellt sie auch in einen ästhetischen Zusammenhang. Die Ästhetisierung der Alltagswelt macht Frauen zu Sachverwalterinnen des Schönen in erotischer, sozial distinktiver und kultureller Hinsicht. Die „domestic ideology“45 erscheint bei Wolff nicht mehr nur als geschlechterpolitisches Instrument zur Befestigung tradi­tioneller Frauen- und Männerrollen. Sie dient als kulturpolitisches Dispo­ sitiv, welches Häus­lichkeit und die mit ihr verbundenen Praktiken auf „höhere“ Aufgaben hin kontextualisiert.46 Die Konsumkulturarbeiterin und die Schund­ käuferin sind zwei Seiten einer Medaille. Was der einen ermangelt, wird bei der anderen zur na­tionalen Verpflichtung stilisiert. Die Figuren der Konsumkulturarbeiterin, der Schundkäuferin, aber auch die der Konsumtechnikerin und der Familienökonomin basieren auf einer „domes­ tic ideology“, die darum bemüht ist, eine „continuity between consumerism and housekeeping“ (Brown 1987, 142 f.) herzustellen. Indem die Konsumsphäre in den Dienst des Haushalts gestellt wird, stellt sie eine Erweiterung der häus­lichen Sphäre dar, und die Frau kann in die Rolle der Konsumexpertin schlüpfen, ohne 45 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 5.3. 46 Nicht nur in Wolffs, auch in vielen anderen Texten über das „richtige“ Konsumverhalten von Frauen bleibt die Ausbildung der Kompetenzen für einen qualitätsbewussten, sozial verantwort­lichen, ästhetisch ansprechenden Konsum eigentüm­lich ortlos. Gerade vor dem Hintergrund, dass viele Frauen täg­lich einkaufen gehen, böte es sich an, sich praktisch vor Ort damit zu befassen und nicht nur theoretisch in konsumfremden bzw. -freien Sphären (Schule, Museum, Ausstellungen), wie es Lux, Bode und andere empfehlen. Nur an weni­ gen Stellen findet man in damaligen Schriften, die nicht von den Warenhäusern protegiert sind, Äußerungen wie die folgende: „Eine bedeutende Änderung führt ferner das Waren­ haus am kaufenden Publikum herbei. Es erzieht das Publikum gewissermaßen erst in der Kunst des Einkaufens. […] Im Warenhaus lernt das Publikum erst Ware der verschiedenen Qualitäten, der verschiedenen Herkunft, ihre Preiswürdigkeit zu unterscheiden. Es bildet seinen Geschmack in einer Weise, wie es vorher dem kaufenden Publikum nicht mög­lich war.“ (Calwer 1907, 65 f.) Ähn­lich heißt es in Henriette Fürths Die ­soziale Bedeutung der Käufersitten (1917): „Das Warenhaus […] hat nach den verschiedensten Seiten hin befruch­ tend sowohl auf die Produk­tion und den Warenvertrieb, als auch auf die sozialen Käuferund Verkäufersitten eingewirkt […]. Es war schon in anderem Zusammenhang davon die Rede, daß von dem leistungsfähigen Warenhaus […] eine erzieh­liche [sic] Beeinflussung des Geschmacks und der ästhetischen Kultur ausgehen könne. Noch wesent­licher ist die dort gegebene Erziehung zur Selbständigkeit, zur Warenkunde, Urteils- und Entschluss­ fähigkeit der Käufer.“ (Fürth 1917, 85 f.)

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Figuren der Limita­tion

ihren primären Status als Hausfrau einzubüßen. Was in den Figuren der Klep­ tomanin und Oniomanin der männ­lichen Sphäre der Produk­tion unversöhn­lich gegenübersteht, wird mit der Konsumkulturarbeiterin, Konsumtechnikerin und Familienökonomin maskulin reterritorialisiert.

6.  Kaufdilettanten und Voyeure Wenn Frauen und Männer gemeinsam einkaufen gehen, sind die Rollen klar verteilt: Weib­liche Kompetenz wird von männ­licher Inkompetenz begleitet. „Wenn Mann und Frau miteinander einkaufen, sind die Schwierigkeiten beim Verkauf

für die Verkäuferin meistens nicht so groß. Zunächst gibt es eine Anzahl Dinge, für die der Mann kaum Verständnis hat, und bei deren Kauf er gewöhn­lich seiner Frau die

Entscheidung überläßt. Bei teuren Gegenständen interessiert ihn vor allem der Preis.“ (Geilenkothen/Gippert 1936, 49)47

Der Mann schaltet sich also nur ein, wenn der Preis eine gewisse Höhe über­ schreitet und damit seine rollenspezifische „Finanzhoheit“ tangiert wird; ansons­ ten hält er sich zurück: „Es braucht nicht hervorgehoben zu werden, daß nament­lich unsere Hausfrauen, mögen sie den unteren oder den oberen Klassen angehören, denen gegenüber wir

Männer reine ‚Kaufdilettanten‘ sind, besonders empfäng­lich für ­solche Ersparnisse

im Einzelkaufe sind. Den Hausfrauen liegt ja in erste Linie der Detaileinkauf ob.

Während zahllose Hausherren viel zu bequem sind, vielfach auch keine Zeit haben, anzuschreiben und zu rechnen, tun das die Frauen ausnahmslos. Man beobachte nur

das börsenmäßige Verhalten der Damen in den Läden und auf den Wochenmärk­

ten.“ (Biermer 1911, 596)

47 Ein frühes Zeugnis für diese Rollenverteilung findet sich im Artikel An afternoon among the dry goods eines männ­lichen Anonymus aus Harper’s Weekly (31. 10. 1857): „‚What’s a robe à quille?‘ ‚Oh! Goodness gracious! How stupid you men are! Ask, and you’ll find out. If it’s very cheap, buy it; and you may see if there are any flounced goods at really low prices. If there are, you may – let me know. In theses times one ought not to lose the opportunities which Providence throws in one’s way.‘ Thus my wife.“

Konsumexpertinnen und Kaufdilettanten

Selbst die misogynen Kriminalanthropologen Lombroso und Ferrero geste­ hen zu, dass Frauen die „Modenausstellungen [der Warenhäuser] im Früh­ jahre und Herbst […] besuchen wie ein Ingenieur eine Maschinenausstel­ lung“ (­L ombroso/Ferrero 1894, 460). In Fredericks Buch Selling Mrs. Consumer (1929) – einer umfassenden Analyse der amerikanischen Konsumsphäre der 1920er Jahre – heißt es: „I do believe […], that the psychology of the woman buyer is a far more subtle thing than the average male is able to grasp […]. It is well to keep constantly in mind the

peculiar and innate sense of relative values which women have. It is often particularly puzzling to men to see women unusually extravagant in some things and unusually penurious in others. As a rule men explain this with the simple formula that women

are extravagant about their clothes and toilet but stingy in the purchase of other family goods. Like most generaliza­tions, this is really not correct. […] The truth is that women

are tremendously clever compromisers in purchasing and are always juggling their

‚consumer dollar‘ around in some new way to make it enlarge or double to meet new desires […].“ (Frederick 1929, 51)48

Die kurze Satire Er braucht eine Zahnbürste (1913) reproduziert nicht nur die gän­ gigen K­lischees eines weib­lichen Konsumverhaltens, sondern die Frau wird hier in einer eigentüm­lichen Doppelrolle gezeigt. Sie ist kompetente Konsumexper­ tin und Kaufwütige in einem. In der Satire soll eine Frau für ihren Mann eine

48 Dass die Konsumkompetenz bei Frauen stärker ausgeprägt ist als bei Männern, führt ­Frederick darauf zurück, dass Frauen bis auf wenige Ausnahmen praktisch für alles verantwort­lich sind, was die Familie konsumiert (s. die Statistiken in: Frederick 1929, 55 – 58; vgl. Zuckerman/Carsky 1990, 315). Zur Textpassage aus Frederick vgl. die Eingangsund Schlussszene in Vicki Baums Roman Der grosse Ausverkauf, in denen eine zöger­liche Käuferin geschildert wird: „Es war jene Sorte Kundschaft, die immer auf der Suche nach etwas noch Billigerem ist. Angeschmutzte Blusen, gesprungene Kaffeekannen, sonnen­ gebleichte Ledertaschen, Ausverkauf in Kunstseidenersatzstrümpfen – das ist ihr Feld. Es sind die kleinen Beamtenfrauen, abgesorgt, abgehetzt, die Frauen, die nie im Leben etwas kriegen, das den vollen Preis wert wäre.“ (Baum 1937, 5) In der Schlussszene des Romans wird diese Wertung jedoch revidiert: „Die Frau rechnet, ihre Lippen bewegen sich. Es ist sechs Uhr, die Glocke klingelt. Die Frau beginnt zu strahlen. ‚Ich nehme es‘, sagte sie. ‚Ich muss die Dame nur aufmerksam machen: zwei Tassen haben einen Sprung‘, sagte Nina und klang die beiden Tassen gegeneinander – es gab einen getrübten Ton. ‚Das macht nichts‘, sagte die Dame. ‚Gesprungene Sachen halten am längsten.‘“ (Baum 1937, 254)

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Figuren der Limita­tion

Zahnbürste kaufen. Da er aber offenbar nicht genau weiß, was er haben möchte, bittet sie ihn, ins Warenhaus mitzukommen: „Im Warenhaus […] ist es natür­lich hübsch voll. Er zögert ein wenig, sie aber tritt ent­ schlossenen Schrittes ein. Sie kennt alle Verkaufstände, wie ein Kunstfreund die Säle des

Louvre kennt. Er möchte, kaum daß er drin ist, schon wieder hinaus. Sie bleibt plötz­ lich stehen. Unter einem schier unentwirrbaren Haufen von Hutformen hat sie eine

ganz besondere entdeckt, die sie ansehen muß.“ (Er braucht eine Zahnbürste 1913, 17)

Die Schlusspointe der Satire ist absehbar: Es wird vieles gekauft, eine Zahn­ bürste ist jedoch nicht darunter.49 In der Überlagerung von limitativen und transgressiven Momenten wird in der Satire ein Konflikt ausgetragen, der die weib­liche Gelegenheitskäuferin liminal z­ wischen Sparsamkeit und Kaufrausch, Wissen und Suggestibilität, familiärer Pflicht und narzisstischer Begierde loka­ lisiert.50 Dieser Konflikt wird in der Differenz z­ wischen dem Symbolwert und dem Gebrauchswert der Waren gespiegelt: Die Frau scheint den Versuchungen der Warenwelt immer dann zu erliegen, wenn es um „Putzgegenstände“ geht. Kauft sie im Warenhaus ledig­lich Gebrauchsgüter, gibt sie den Versuchungen kaum nach.51 Was in der weib­lichen, im Kaufrausch entfesselten Masse bei 49 Vgl. „Vielen Männern ist es eine Qual, mit ihren Frauen Einkäufe zu machen, zumal wenn diese Einkäufe sich in den Hallen der Riesenbazare abwickeln. Da passiert es denn des öfteren, daß es dem Gatten zu viel wird, näm­lich des Geldausgebens. Ja, es soll auch schon vorgekommen sein, daß mancher biedere Provinzler, seine Reise nach Berlin unfreiwillig hat abkürzen müssen, nur weil – seine Frau ein Warenhaus besucht hat. Das Geld war nach ­diesem Besuche so knapp geworden, daß zu anderen Freuden absolut nichts übrig blieb.“ (Nickel 1903, 560) 50 Monica Neve hat darauf hingewiesen, dass diese beiden unterschied­lichen Frauenbil­ der (Konsumexpertin und Gelegenheitskäuferin) auch in der damaligen Reklame eine bedeutende Rolle spielen, und zwar mit dem signifikanten Unterschied, dass in den an die Werbetreibenden selbst gerichteten Zeitschriften Frauen von „instinct, impulse and emo­ tion“ (Neve 2010, 82) dominiert charakterisiert werden. Demgegenüber wird in der an die Frauen selbst adressierten Werbung ein anderes Bild, näm­lich das der Konsumexpertin, gezeichnet: „A ra­tional, sensible female consumer who meticulously managed the house­ hold budget and made purchases with care and considera­tion was arguably the preferred image presented in early twentieth-­century advertising.“ (Neve 2010, 63) 51 Auf diese der Gelegenheitskäuferin zugeschriebene Liminalität soll laut Mia Klein auch die Raumordnung des Warenhauses abgestimmt werden: „Der Erfrischungsraum mit sei­ nen guten Waren, seiner Musik, ist noch nie einer Kundin zu entlegen gewesen. Er darf

Konsumexpertinnen und Kaufdilettanten

­ onderverkäufern als kollektives Phänomen geschildert wird, zeigt die Satire mit S all seinen Ambivalenzen auf individuellem Niveau. Die zitierte Passage aus Er braucht eine Zahnbürste deutet an, warum Männer ungern allein einkaufen gehen. Wenn sie es dennoch tun, „wissen [sie] immer schon vor der Tür, was sie haben wollen […] darin kann man sie nicht beirren. Sie kaufen nur mit dem Verstand, während die Frauen mit allen fünf Sinnen kau­ fen.“ (Stücklen 1918, 13) Männer geraten in Warenhäusern schnell in Situa­tionen, in denen sich ihre Inkompetenz in Hilflosigkeit verwandelt. Schon in Zolas Au Bonheur des Dames heißt es über die Männer, die sich während des Sonderver­ kaufstages im Warenhaus aufhalten: „C’était un pêle-­mêle de dames vêtues de soie, de petites-­bourgeoises à robes pauvres,

de filles en cheveux, toutes soulevées, enfiévrées de la même passion. Quelques hommes,

noyés sous les corsages débordants, jetaient des regards inquiets autour d’eux.“ (Zola

1964, 618)

Fedor von Zobeltitz schildert eine ähn­liche Situa­tion beim Besuch des Berliner Wertheim-­Warenhauses: „Die strömende Menschenmenge schob mich hin und her; ich wollte zu den Parfums

und geriet zu den Kurzwaren, und plötz­lich stand ich vor einer Dame, die mir Taschen­

tücher zeigte, und eine halbe Minute ­später war ich mitten unter das Emaillegeschirr geraten.“ (Zobeltitz 1922, 49)52

In Hughes’ Roman Miss 318 gewinnt der Einkauf für den Mann fast traumati­ sche Züge: „Only occasionally a well-­dressed male wandered into the Mammoth, usually in tow of some woman who bullied him and nagged him pitilessly. Such men as came alone

went so anxiously to their destina­tions and knew so exactly what they wanted, and hastened away so precipitately, that they were merely tantalizing.“ (Hughes 1911, 15)

ohne Risiko im dritten Stock liegen, zudem muß die Besucherin dann eine Reihe anderer Abteilungen passieren, wodurch sie auch noch zu manchem Kauf veranlaßt wird.“ (Klein 1931, 24 f.) 52 Vgl. Kapitel 1, Anm. 18.

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Figuren der Limita­tion

Daher soll die Anordnung der einzelnen Abteilungen im Warenhaus dem männ­ lichen Bedürfnis nach einem Einkauf ohne Umwege entgegenkommen: „Fast immer ist die Herrenartikel-­Abteilung im Erdgeschoß nahe dem Eingang; der Herr kauft selten gern ein, es muß alles schnell erledigt sein.“ (Klein 1931, 24)53 Auch die Verkäuferinnen sollen ihre Verkaufsstrategien bei männ­licher Kund­ schaft ändern: „Die Bedienung der Herren ist im allgemeinen leichter, doch fordert sie von der Ver­ käuferin viel Takt und höf­liche Zurückhaltung. Herren wissen gewöhn­lich genau, was

sie kaufen wollen, kaufen meist nicht mehr und nichts anderes. […] Da sie im allge­

meinen wenig Warenkenntnis haben, oft kaum imstande sind, die Güte der Waren richtig einzuschätzen und etwaige Mängel zu entdecken, verlassen sie sich auf das Urteil

der Verkäuferin. Dieses Vertrauen erleichtert das Verkaufen, gibt der Verkäuferin aber

zugleich eine gewisse Verantwortung. Sie darf das Vertrauen niemals missbrauchen,

muss nur gute und geschmackvolle Waren vorlegen und beim Raten und Empfehlen

vorsichtig sein. […] Allgemein lässt sich sagen, daß Herren ihr Geld leichter ausgeben als Damen. Sie achten deshalb nicht so sehr auf den Preis und zeigen weniger Vorliebe

für Gelegenheitskäufe.“ (Geilenkothen/Gippert 1936, 18 f.)54

Der männ­liche Käufer reduziert den Kaufakt auf eine Funk­tion im Rahmen der täg­lichen Bedarfsbefriedigung. Der gesamte kulturelle Apparat (Raumordnungen, Einkaufspraktiken und -rituale, Imagina­tions- und Emo­tionsanreize) wird suspen­ diert. Die Kontingenz des Warenangebots wird bewältigt, indem sie ignoriert wird. Nur mit Hilfe einer anderen Konsumexpertin, der Verkäuferin selbst, die in eine eigentüm­liche Doppelrolle schlüpft, kann der männ­liche Käufer vor Schaden, sprich vor Fehlkäufen bewahrt werden. In dieser Figur zeigt sich auf andere Weise, warum das Warenhaus Ort einer male exclusion ist. Die männ­liche Denormalisierungsangst angesichts der modernen Konsumsphäre wird auf den Mann selbst zurückprojiziert. Damit stützt der männ­liche Käufer nicht zuletzt die „domestic ideology“, ­welche die Grenze z­ wischen Produk­tion und Konsum­tion bzw. Reproduk­tion stabilisiert. 53 Das vollständige Zitat aus Mia Kleins Disserta­tion findet sich in Kapitel 1.2. 54 Vgl. Paula Langes Schulungsunterlagen Verkaufspraxis und Kundendienst im Detailgeschäft und Warenhaus (1932). Dies ist eines der wenigen Beispiele aus der damaligen Schulungs­ literatur, in der kein Unterschied ­zwischen Männern und Frauen gemacht wird; alle sind „Menschen“ bzw. (neutral) „Kunden“. Vgl. Lange 1932, 13 f.

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Eine zweite männ­liche Figur, die man neben dem Kaufdilettanten im Waren­ haus antrifft, ist der Voyeur. Worunter Paul Lindau während der Lektüre von Zolas Au Bonheur des Dames leidet, „daß es hienieden kaum etwas Abspan­ nenderes, Ermüdenderes giebt, als das stundenlange Verweilen in einem […] Mode­geschäfte“ (Lindau 1883, 107)55, das nutzt der Erzähler in Schmitz’ Satire Die Bluse dazu, um sich in erotischen Tagträumereien zu verlieren: „Ich war so zerstreut, daß ich die blondlockige Verkäuferin der Parfümerieabteilung […] in Gedanken auf das Ohrläppchen küßte.“ (Schmitz 1918, 47; vgl. ebd., 48). Dieser männ­liche Voyeurismus ist zentrales Thema in Rosso di San Secondos Bei Wertheim.56 Ziel der voyeuristischen Begierde ist das Auskunftsfräulein des Warenhauses: „Ah, da ist ja der dunkle Mann. Der darf nicht fehlen. Jeden Tag Punkt halb sieben.

Ich weiß, daß er mich erst von links, dann von rechts, dann von vorn betrachten wird.

Er kommt aber nie näher, noch will er je etwas kaufen. […] Mit so einem dunklen

Teint muß er Südamerikaner oder Spanier sein, vielleicht auch Jude. Ganz sicher ist er in einem Nervensanatorium gewesen und erst seit kurzem entlassen […]. Er kommt hierher, um sich die Zeit zu vertreiben. Er hat nichts zu tun, das heißt, er wird Geld haben.“ (Rosso di San Secondo 1997, 35 f.)

In der modernen Konsumsphäre ist der Voyeurismus kein heim­licher. Er ist viel­ mehr Effekt des modernen Ausstellungsprinzips 57 und wird im Windowshopping zur allgemein akzeptierten kulturellen Praxis.58 Was für das Auskunftsfräulein einerseits Normalität ist (sie reagiert mit erstaun­licher Professionalität auf diesen Voyeurismus), erscheint ihr andererseits abnorm aufgrund der Regelmäßigkeit, mit welcher der „dunkle Mann“ seinen voyeuristischen Ritus vollzieht.59 Pikant wird die Szene, als sich die Tante des Auskunftsfräuleins als Kupplerin einschaltet. 55 Die gesamte Textpassage wird in Kapitel 3.2 zitiert. 56 Vgl. die kurze Interpreta­tion des Einakters in Kapitel 1.2. 57 Ausführ­lich hierzu Lindemann 2011. 58 Vgl. Kapitel 4.3. 59 Hier wäre auch an Panizzas Erzählung Der Korsettenfritz (1893) zu denken. Im Unter­ schied zur Szene bei Rosso di San Secondo verselbständigt sich hier die Imagina­tion der voyeuristischen Hauptfigur und schlägt in eine patholo­gische Form des Fetischismus um. Vgl. die Analyse zu Panizzas Erzählung in Wegmann 2011, 146 ff. Eine Interpreta­tion der Erzählung vor dem Hintergrund von damaligen Fetischtheorien liefert Lieb 2010.

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Figuren der Limita­tion

Nachdem sich der „dunkle Mann“ dem Auskunftsfräulein vorgestellt hat,60 macht er ihr kaum verschlüsselt einen Heiratsantrag. Er fragt: „Abteilung Ehefrauen. Frauen, geeignet für ehe­liches Zusammenleben. Ehefrauen, erforder­liche Eigenschaft: Hausfrau.

Fräulein von der Auskunft: Diese Abteilung gibt es nicht.

Tante Katherina […]: Schenken Sie dieser Auskunft keine Beachtung, mein Herr.

Die Abteilung gibt es. Sie ist hier. (Zeigt auf die Nichte.) Vierundzwanzig Jahre, ein Meter sechzig, Brustumfang sechsundachtzig Zentimeter. Garantiert gesund. ­Präzise

wie ein Uhrwerk in der Haushaltsführung und der Erfüllung ehe­licher Pflichten. Sofort verfügbar.

Der dunkle Mann: Gemacht. Ich heirate sie.“ (Rosso di San Secondo 1997, 42)

Die Szene macht deut­lich, dass Geschlechterunterschiede in der Moderne nicht nur an der je spezifischen Selbstdarstellung und -stilisierung der Geschlechter qua Kleidung, Haltung oder Verhalten ablesbar sind, sondern dass sie sich nicht zuletzt in den modernen, von der Konsumsphäre forcierten Blickregimes manifestieren, ­welche geschlechterdifferenzielle Asymmetrien hochgradig zuspitzen können.61 Eine Werbung der Erdmannsdorfer Büstenfabrik macht diese Asymmetrie in aller Deut­lichkeit sichtbar: Rechts der Mann ausgehfertig in Abendgarderobe mit Zylinder und Stock, auf den die Hände in Höhe seiner Genitalien gestützt sind, links die offensicht­lich unbekleidete, wenn auch in den primären Geschlechts­ merkmalen schematisch bleibende weib­liche Schaufensterpuppe, die dem männ­ lichen Blick ungeschützt ausgeliefert ist. Im Gegensatz zum triumphierenden Lächeln des Mannes wirkt ihr Gesichtsausdruck keineswegs auffordernd, auch wenn sie ihren Körper durch die Hand auf der Hüfte zu präsentieren scheint.62 60 „42 Jahre, ledig, Spanier von Geburt, seit zehn Jahren Kaufmann in Hamburg, braucht nicht mehr zu arbeiten, würde gern einen Hausstand gründen.“ (Rosso di San Secondo 1997, 41) 61 Vgl. Kapitel 5.5. 62 Vgl. dagegen, was Franz Hessel in dem kurzen feuilletonistischen Text Eine gefähr­liche Straße (1929) über die aktuellen Trends der Berliner Schaufensterpuppenhersteller berich­ tet: „Sowohl in der Steife wie in der sport­lichen Elastizität ihrer Bewegungen ist eine kühle Mischung von Frechheit und Distink­tion […]. Alle verachten sie die Männer furchtbar. Sie bestaunen nicht, was so ein Mann nicht alles […] denken kann. Sie durch­ schauen uns. Es finden sich übrigens auch einige Männer in ihrer Umgebung. […] Es sind unerbitt­liche Männer der Tat, und wenn sie manchmal etwas weicher lächeln hinter

Konsumexpertinnen und Kaufdilettanten

Abb.4  Werbeanzeige

für „Moderne Dekorations-Artikel für Schaufenster und Innendeko­ ration der Erdmannsdorfer Büstenfabrik“. Aus: Stephani-Hahn, Elisabeth von (1919): Schaufenster Kunst. Berlin: Schottlaender, o.P.

Hartmut Böhme hat darauf hingewiesen, dass die moderne „männ­liche Blick­ kultur […] phänomenale Ganzheiten zu erotischen Signalwerten fragmentiert“ und daher „von sich aus schon drives zu Fetischisierungen aller Art [enthält], die in der Werbung, im Film und den Ausstattungen von Frauen noch verstärkt wur­ den“ (Böhme 2006, 465). In d ­ iesem Sinne kann der männ­liche Voyeurismus in der Konsumsphäre als eine fetischistische Interpreta­tion der modernen Ästhetisierung des weib­lichen Körpers gelesen werden. Die male exclusion im Warenhaus wird durch den männ­lichen Voyeur als „Scheinkäufer“ reterritorialisiert. Während der Kaufdilettant die male exclusion der modernen Konsumsphäre symbo­lisch verdop­ pelt und damit verstärkt, schreibt sich der männ­liche Voyeur über das geschlech­ terdifferenziell instrumentalisierte Blickregime ausdrück­lich in diese Sphäre ein. ihren Klebe­schnurbärtchen, à la Menjou, ist auch nicht zu hoffen, dass sie viel Umstände machen werden.“ (Hessel 1929, 686 f.; vgl. die Abb. im Text) Von den 1910er Jahren bis zum Ende der 1920er Jahre scheint sich eine signifikante Veränderung bzw. Verschiebung in den modernen Blickregimes ergeben zu haben.

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Figuren der Limita­tion

Was beim „dunklen Mann“ und dem männ­lichen Voyeur aus der Schaufens­ terpuppenwerbung verborgen bleibt, tritt bei der von Julius Klinger 1912 entwor­ fenen Werbung für den Korsetthersteller Obersky offen zu Tage. Der männ­lich-­ fetischistische Blick, der von einer kaum verdeckten sexuellen Symbolik der Ges­ ten und Accessoires begleitet wird, fixiert eine beinlose, nur mit einem Mieder bekleidete, auffällig frisierte und geschminkte Schaufensterpuppe, die auf wenige erotische Signalwerte reduziert ist.63 Der weib­liche Körper wird durch die textilen „Weib­lichkeitssubstitute“ (Schössler 2009, 285) im männ­lich-­voyeuristischen Blick nicht nur fragmentiert und dekomponiert. Er wird auch auf symbo­lische Weise immobilisiert. Die Schaufensterpuppe wird dabei als modellhafte Ausformung einer durch den männ­lich-­voyeuristischen Blick forcierten Verding­lichung des weib­lichen Körpers in Szene gesetzt.64 Dieser immobilisierende männ­liche Blick verweist auf eine zentrale Phantas­ magorie des Weib­lichen um 1900: die mechanische Frau. Rita Felski schreibt: „[T]his image comes to crystallize in condensed form a simultaneous fascina­tion and revulsion with the powers of technology.“ (Felski 1995, 20) Die mechanische Frau denaturalisiert und destabilisiert die sonderanthropolo­gisch behauptete Naturhaftigkeit des Weib­lichen und drückt den männ­lichen Wunsch nach einer technolo­gischen Meisterung der Frau, d. h. einer widerspruchslos gehorchenden weib­lichen Maschine, aus (vgl. Felski 1995, 20).65 Die beiden Schaufensterpup­ penwerbungen machen diesen Aspekt beispielhaft deut­lich und zeigen, dass der Versuch einer technolo­gischen Meisterung der Frau bereits im Rahmen der modernen Blickregimes beginnt.66 63 Wie ein Kommentar zum Bild wirkt Karl Kraus’ Bemerkung zum männ­lichen „Gesäß­ fetischismus“: „Der Hinterleib der Wespe hypnotisiert das Auge des Männchens. Und tatsäch­lich hat der [männ­liche] Gesäßfetischismus (eine der stärksten und allgemeinsten Manien der letzten hundert Jahre) die wunder­lichsten Blüten weib­licher Mode gezeitigt: die Krinoline, den cul de Paris und das Bauchmieder.“ (Kraus 1906, 16) 64 Auf d ­ ieses spezielle männ­lich-­voyeuristische Blickregime trifft man im Übrigen nicht nur in Bezug auf Schaufensterpuppen oder Warenhausangestellte (s. Kapitel 6.4), sondern auch in Bezug auf Schönheitsprodukte und Genussmittel. Vgl. das von Fritz Rumpf entworfene Werbeplakat für ein Gesichtspuder „Leichner’s Fettpuder / der stumpfe interessante Teint der fashionablen Welt“ (vor 1914) sowie das von Hans Rudi Erdt entworfene Werbeplakat der Zigarettenmarke „Problem“ (1912) in: Reklame 2005. 65 Zum Mannequin als moderne Ausformung der mechanischen Frau vgl. Kapitel 6.4 ff. 66 In diesen Zusammenhang lässt sich im Übrigen auch die Unausweich­lichkeit der Verwor­ fenheit der Frau in der modernen Konsumsphäre einordnen. Vgl. Kapitel 5.5.

Konsumexpertinnen und Kaufdilettanten

Abb.5  Werbeplakat für „Corsets Obersky. Paris / Berlin“ (1912) von Julius Klinger. © Deutsches Historisches Museum, Berlin / I. Desnica.

Auf der anderen Seite ist die Phantasmagorie der mechanischen Frau in den verschiedenen weib­lichen Typen eines ra­tionalen Konsumverhaltens präsent, bei denen es nicht nur darum geht, Haushalt und Konsum nach ra­tionellen Gesichtspunkten zu gestalten, sondern das weib­liche Konsumverhalten selbst auf die männ­liche Sphäre der Produk­tion hin zu referenzialisieren. Die mas­ kulin kodierte Technisierung des Haushalts kann als Ausformung des mit der Phantasmagorie der mechanischen Frau verbundenen, männ­lichen Traums einer mutterlosen biolo­gischen Reproduk­tion interpretiert werden (vgl. Felski 1995, 20; vgl. Lindemann 2004). Auf diese Weise würden die ra­tional agierenden, weib­ lichen Konsumenten nicht allein die transgressiven Energien des Weib­lichen in der modernen Konsumsphäre bannen, sondern dazu beitragen, das Weib­liche selbst daraus zu eliminieren. Die male inclusion in den Haushalt zielte somit auf eine Exklusion des Weib­lichen aus der modernen Konsumsphäre.

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Kapitel 9

Warenhauskultur

1.  Kultur und Ökonomie Während die deutschen Geschmacksexperten der Jahrhundertwende eine didak­ tisch orientierte Refunk­tionalisierung von Kunst im Kontext der modernen Konsumsphäre anvisieren,1 um eine neue na­tionale Geschmackskultur und Volkskunst hervorzubringen, steht das Künstlerische im Warenhaus von Anfang an unter einem ökonomischen Primat. Schon in Zolas Au Bonheur des Dames wird der Warenhausbesitzer Mouret nicht nur ausdrück­lich als Dichterfigur charakterisiert, dem es jedoch gelungen sei, seine poetisch-­imaginative Bega­ bung aufs Kaufmännische umzulenken.2 Auch versucht er mit von ihm selbst gestalteten, ästhetisch anspruchsvollen Warenauslagen und Innendekora­tionen ein gehobenes „kunstsinniges“ Publikum als potenzielle Käuferschicht für sein Warenhaus zu gewinnen (vgl. Zola 1964, 471). Zola führt in dieser Weise nicht nur die werb­liche Instrumentalisierung von Kunst bzw. des Künstlerischen zur Absatzsteigerung vor, sondern deutet zudem auf einen „strate­gische[n] Gebrauch des Geschmacksbegriffs“ hin, mit dessen Hilfe „das Kunstschöne und der kollektive Käuferwille von Konsumentenmassen“ (Cleve 1997, 552) verschränkt werden sollen.3 Nicht zuletzt vor d ­ iesem Hintergrund macht sich 1 Vgl. Kapitel 8.5. 2 Schon früh heißt es: „Mouret se jetait en poète dans la spécula­tion, avec un tel faste, un besoin tel du colossal, que tout semblait devoir craquer sous lui. Il y avait là un sens nou­ veau du négoce, une apparente fantaisie commerciale […].“ (Zola 1964, 420 ; vgl. ebd., 451) Später kennzeichnet auch Baron Hartmann Mouret in d ­ iesem Sinne, als er von seinen Erweiterungsplänen bezüg­lich des Warenhauses erzählt: „Quelle imagina­tion! […] Sans doute, l’idée peut séduire, disait-­il [Baron Hartmann]. Seulement, elle est d’un poète“ (Zola 1964, 457; vgl. ebd., 688). Vgl. Becker/Landes 1999, 39. S. auch die Ausführungen über das Verhältnis von Kredit, Konsum und Imagina­tion in Kapitel 11.2. 3 Kritisch hierzu Benno Jaroslaw in Ideal und Geschäft (1912): „Die Kunst […] steht uns zu hoch, als daß wir sie zu Anreißerdiensten der Profitmacherei entwürdigen möchten, zu hoch auch, um sie den Notdürften des Lebens, den tausend Sächelchen […] als Anhängsel und Verbrämung aufzuklecksen und als ­solche zu vertreiben.“ Das sei „Kunstverwertung“ statt Kunst ( Jaroslaw 1912, 181).

Warenhauskultur

Mouret über den „sauertöpfischen“ Pessimismus seiner dichtenden Zeitgenos­ sen lustig, ­welche die ganz auf ökonomischen Erfolg gerichteten ­­Zeichen der Zeit verkennen würden.4 Ähn­liche Entwicklungen wie die bei Zola geschilderten konstatiert ­Maximilian Harden für Berlin. In Wertheim-­Theater (1894) heißt es: „Am Ende aber ließe aus der Schaufenster-­Dekora­tion des Herrn Wertheim sich doch vielleicht noch eine neue Nuance gewinnen, eine noch innigere Verbindung

von ­Theater und Waarenhaus. Es müßte von früh bis spät gespielt werden, immer mit

Mädchen, und daneben müßte der Verkauf von Semmeln und Klassikern, von Kor­ sets und ­Cognac, flott vorwärts gehen. Wer für eine halbe Reichsmark einkauft, kann

umsonst eine halbe Stunde im Theater verweilen, ein Staffeltarif müßte die Platzfrage

regeln, und wer eine ganze Robe ersteht, dem wird die Pforte zur Bühne und zu den

Garderoben geöffnet.“ (Harden 1894, 47)5

Sowohl bei Zola als auch bei Harden ist klar, dass Kommerz und Kunst asym­ metrisch korreliert sind, dass also Kunst (und andere Serviceleistungen des Warenhauses) in den Dienst genommen werden, um das Einkaufen zum Ein­ kaufserlebnis umzugestalten. Welche künstlerischen Mittel oder Medien im Einzelnen eingesetzt werden, ist letzt­lich gleichgültig, Hauptsache, sie erzielen

4 „Toute la joie de l’ac­tion, toute la gaieté de l’existence sonnaient dans ses [Mourets] paroles. Il répéta qu’il était de son époque. Vraiment, il fallait être mal bâti, avoir le cerveau et les membres attaqués, pour se refuser à la besogne, en un temps de si large travail, lorsque le siècle entier se jetait à l’avenir. Et il raillait les désespérés, les dégoûtés, les pessimistes, tous ces malades de nos sciences commençantes, qui prenaient des airs pleureurs de poètes ou des mines pincées de sceptiques, au milieu de l’immense chan­ tier contemporain. Un joli rôle, et propre, et intelligent, que de bâiller d’ennui devant le labeur des autres!“ (Zola 1964, 451 f.) Diese Passage ist eine kaum verschlüsselte Refle­ xion von Zolas eigener literaturtheoretischer Posi­tion (vgl. Lindemann 2009a sowie Kapitel 3.1). 5 In Hardens Wertheim und Tietz (1900) heißt es ähn­lich: „Wenn Tietz Vorlesungen ver­ anstaltet, kann Wertheim […] seinen Kunden ein Gesindevermiethungsbüro, eine Kin­ derbewahranstalt, einen Lesesaal mit großer Bibliothek, ein Badebassin und eine Klinik ganz oder fast umsonst zur Verfügung stellen. Und wenn Tietz Zigeunermusik miethet und braune Gecken in rothen Atlasblousen Pußtaweisen spielen läßt, kann Wertheim sich um eine Theaterkonzession bewerben, die ihm, falls er sich zur Aufführung patriotischer Stücke verpflichtet, gewiß nicht verweigert wird.“ (Harden 1900, 543)

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Figuren der Limita­tion

einen werb­lichen Effekt. Der Begriff „Kultur“6 ist dabei dehnbar. Über das Lon­ doner Warenhaus Selfridge heißt es in einer anderen Quelle: „‚Unser Ziel ist, ein Mittelpunkt der Kultur zu sein. Das Geschäft kommt dann von selbst.‘ Und so hochtrabend dies auch klingen mag, es ist in weitem Umfang bereits

verwirk­licht! Bleriots Aeroplan war nach seinem ersten Flug über den Kanal während einiger Tage bei Selfridge ausgestellt […]. Das berühmte Schiff Shackletons, das die

gefahrvolle Reise von der Elefanteninsel nach S. ­Georgia gemacht hat, um einen Teil der Expedi­tion zu retten, war ebenfalls hier zu sehen. Auch das Segelflugzeug, das den

Preis der ‚Daily Mail‘ gewonnen hatte, wurde bereits 24 Stunden nach dem Siege aus­ gestellt. Dann gaben die Weltmeister-­Schlittschuhläufer Frida Withaker und Harald

Nicholson 6 Wochen lang dreimal täg­lich Vorführungen im Schlittschuhlaufen. Diese

Vorführungen hatten absolut nichts mit irgendeiner Art von Waren oder etwas Der­ artigem zu tun.“ (Kropotkin 1926, 49 f.)

In den ersten beiden Jahrzehnten nach 1900 versuchen sich europäische und ame­ rikanische Warenhäuser als zentrale Elemente einer modernen urbanen Hoch­ kultur zu etablieren, indem sie neben den angesprochenen Serviceleistungen und Attrak­tionen systematisch Kulturveranstaltungen im engeren Sinne anbieten: regelmäßige Gemälde- und Kunstgewerbeausstellungen, Konzerte, Lesungen 7 und Vorträge (vgl. Spiekermann 1999a, 380; Miller 1981, 169 ff.; vgl. Dehn 1899, 37). Was Harden ironisiert und offenbar für unrealistisch hält, wird als Reak­tion auf die um 1900 massiv einsetzende Warenhauskritik 8 bald Realität. Dies wirkt wiederum auf zeitgenös­sische Darstellungen urbaner Kultur zurück. So heißt es z. B. in dem Reiseführer Berlin und die Berliner. Leute. Dinge. ­Sitten. Winke (1905):

6 Zum deutschen Kulturbegriff um 1900, der dem amerikanischen diametral gegenübersteht vgl. Bollenbeck 1994. 7 Vgl. Samter 1930, der über eine vom 22.–29. 3. 1930 vom Berliner Karstadt-­Warenhaus am Hermannplatz veranstaltete Literaturlesereihe berichtet (mit Ernst Toller, Vicki Baum, Egon Erwin Kisch, Hans Ostwald, Armin T. ­Wegner, Joe Lederer und Erich Kästner) sowie Kracauer 1990, der über eine Lesung von H. ­Mann in einem Warenhaus schreibt. Mann selbst berichtet über diese Lesung in Ein Zeitalter wird besichtigt. Vgl. Bienert 2013, 228 f. 8 Zur Warenhauskritik seit der Jahrhundertwende vgl. die ausführ­liche Darstellung bei Wer­ nicke 1928. Vgl. die Ausführungen zur antisemitischen und antiamerikanischen Kritik am Warenhaus in Kapitel 7.2.

Warenhauskultur

„Wenn man als Fremder nach Berlin kommt, würde es als eine Lücke im Programm

anzusehen sein, wollte man nicht das Warenhaus Wertheim besuchen, wie man Schlös­ ser, die Galerien und Museen besucht. Das Warenhaus Wertheim gehört unbedingt zu den Sehenswürdigkeiten Berlins!“ (Berlin und die Berliner 1905, 62)9

In der Rubrik „Ausstellungen“ findet man dann den Eintrag: „Kunstsalon Wert­ heim, Leipzigerstr. 132/135. Wechselnde Bilderausstellungen in abgeschlosse­ nem Raum. Eintritt 25 Pf.“ (Berlin und die Berliner 1905, 264)10 Paul G ­ öhres Abhandlung Das Warenhaus, die 1907 als zwölfter Band in der von Martin Buber herausgegebenen Reihe Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsycholo­gischer Monographien erscheint,11 nobilitiert das Warenhaus zu einem herausragenden Ort moderner urbaner Kultur. Bei Göhre ist das Warenhaus nicht mehr nur „Mittelpunkt des gesellschaft­lichen Lebens“ (Calwer 1907, 67) oder ein Muss für Berlin-­Touristen, sondern unmittelbarer Ausdruck eines durch den Auf­ stieg des modernen Kapitalismus bedingten sozialen und kulturellen Wandels (vgl. Göhre 1907, 101). Bei Göhre ist das Warenhaus ein kulturelles Phänomen ersten Ranges, weil es kulturell vorbild­lich wirksam ist. Dies betrifft einerseits die von Käuferligen und anderen Organisa­tionen geforderte Konsumkompetenz 12, die man im Warenhaus „durch das müheloseste und wirksamste Unterrichtsmittel, den Anschauungsun­ terricht“ (Göhre 1907, 136) erlernen könne. Andererseits gelte dies „in ästhetischer 9 Vgl. die Baedeker-­Berlinführer ab der Jahrhundertwende. Auch wenn hier, etwa in der 12. Auflage von 1902, Wertheim in der Leipziger Straße nicht mit der Aufmerksamkeit bedacht wird, die Kunstdenkmälern und Museen der Stadt eingeräumt wird, ist ihm gleich­ wohl bereits eine halbe Seite gewidmet. Dort werden in Grundzügen architektonische Merkmale, die Einkaufsmög­lichkeiten sowie das mit dem Warenhaus verknüpfte neue Verkaufskonzept („kein Kaufzwang“) vorgestellt (vgl. Baedeker 1902, 109). Ähn­liches gilt für das Pariser Warenhaus Bon Marché, das Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur zu den berühmtesten Warenhäusern Frankreichs gehört, sondern über die Grenzen des Landes hinaus in ganz Europa bekannt ist. Neben dem Louvre und dem Eiffelturm ist es eine touristische Attrak­tion ersten Ranges. Es werden sogar Führungen durch das Warenhaus angeboten und Postkartenserien zur Eigenwerbung produziert (vgl. Miller 1981, 176 f.). 10 Die Berliner Kunstmuseen finden sich im Übrigen in der Rubrik „Sammlungen“ zusam­ men mit dem Zoolo­gischen Garten und dem Botanischen Museum. Vgl. Berlin und die Berliner 1905, 190 ff. 11 Für diese Reihe verfassten neben Göhre damals äußerst renommierte Autoren wie Werner Sombart, Georg Simmel oder Fritz Mauthner einzelne Bände. 12 Vgl. Kapitel 8.3.

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Beziehung“. Einzelne Warenhäuser, „allen voran Wertheim“, ­seien „von bildendem Einflusse für weite Bevölkerungsschichten“ geworden. Hier werde „die Dekora­tionskunst wieder […], was sie war, auf neuen Wegen aus einem Handwerk

eine Kunst. Und ähn­liches ist von der Reklame der Warenhäuser, aber natür­lich nicht

ihrer allein, zu sagen […], daß gerade durch die Reklamepolitik der Warenhäuser d ­ ieses

ganze wichtige Gebiet heute ästhetisch vertieft und geweiht worden ist. […] [A]uch

auf die Baukunst unserer Tage hat das Warenhaus im höchsten Maße befruchtend gewirkt.“ (Göhre 1907, 139)13

Darüber hinaus wirke das Warenhaus auf die Ästhetik des Alltags, etwa hinsicht­ lich der kunstvollen Einrichtung und Gestaltung der eigenen Wohnumgebung und der stilsicheren und geschmackvollen Kleidung. Warenhäuser hülfen mit bei „der neuen Kunsterziehung unseres Volkes“ (Göhre 1907, 141): „Ich erinnere bei Wertheim nur an das Teppichlager, den Antiquitätensaal, die Kunstab­ teilung, das kunstgewerb­liche Lager. Und viele gibt es, auch aus dem einfacheren Volke, die […], ohne Aufwendung eines Pfennigs, inner­lich schon reicher geworden sind

an Schönheitsgefühl, Schönheitsfreude und dadurch an innerem Glück überhaupt.“

(Göhre 1907, 142)

Göhre bleibt nicht der Einzige, der das zeitgenös­sische Warenhaus als Ort moder­ ner Kultur feiert. So heißt es etwa bei Leo Colze: „Wenn heute in den großen Verkehrsadern der Reichshauptstadt Geschäftspalast sich

an Geschäftspalast reiht, wenn lichtdurchflutete Schaufenster mit den hervorragend­ sten Erzeugnissen sämt­licher Industrien der Kulturvölker nicht nur zum Kauf anreizen, sondern auch rein zu unserem ästhetischen Sinn, wenn heute auch der kleine Mann in

der Lage ist, sich für Preise in den Besitz von Luxusartikeln zu setzen, für die er sonst

kaum brauchbare Bedarfsmasse erhielt, so ist dies einzig und allein das Verdienst des modernen Warenhausorganismus.“ (Colze 1908, 9)

13 Schon früh heißt es bei S. ­Fischer: „Heute hat sich der Laden zur Schaustellung, zum Museum des Gewerbes und der Industrie entwickelt.“ (Fischer 1899, 150)

Warenhauskultur

Bei Cohen-­Reuß ist aus der erzieherischen Wirkung der Warenhäuser schließ­ lich eine gesellschaft­liche Tatsache geworden: „Man braucht nur die Arbeiterwohnungen daraufhin anzusehen; sie sind einfacher,

schöner und praktischer geworden. Das wäre ohne den praktischen Anschauungs­

unterricht durch die Warenhäuser gar nicht zu erreichen gewesen. Es gibt gewiß in

manchen Wohnungen noch allerlei überflüssigen Zierrat, der auch in Warenhäusern zu kaufen ist. Aber in den Musterzimmern, die in ihnen ausgestellt werden, findet man

ihn nicht mehr. Diese Ausstellungen sind geradezu Beispiele gegen Spießbürgerheime, sie wecken neue, bessere Bedürfnisse und beseitigen alte.“ (Cohen-­Reuß 1928, 116)14

In Böhmes W. A. G. M. U.S wird anhand der Figur des kunstinteressierten 15 Junior­ chefs des Warenhauses, Friedrich Müllenmeister, demonstriert, wie der diskur­ sive Übertrag von der Perhorreszierung des Warenhauses in mittelstandspoli­ tisch motivierten Polemiken hin zu dessen Glorifizierung aus einer didaktisch-­ ästhetischen Perspektive gelingen kann. Müllenmeister sagt: „Ich halte es für die höchste Aufgabe der Kunst, mit ihrem heiligen Ernst in die Masse

einzudringen, wie ein lebendiger Sauerteig darin zu gären, rohe Instinkte zu paralysieren,

edlere Regungen auszulösen, überhaupt zu bilden, zu klären, zu befreien. Der gewöhn­

liche Mann hat weder Zeit noch Lust, ein Museum zu besuchen. […] Kommt er nicht

14 Diese positive Wirkung beschränkt sich offenbar nicht nur auf die Kundschaft, sondern schließt auch die Angestellten ein: „Im Warenhaus aber hält sich der Angestellte meist in heiteren, lichtdurchfluteten Räumen auf. Der Umgang mit feiner und gebildeter Kund­ schaft bringt stets neue Anregungen. Die oft recht unbeholfenen und befangenen Lehr­ mädchen gewöhnen sich schneller an gute Haltung und Umgangsformen, pflegen ihre Sprache und auch ihr Äußeres. Die Vielseitigkeit ihres Berufes erweitert den Kreis ihrer Kenntnis und vertieft ihre Bildung. Das erleichtert den Aufstieg in höhere Schichten.“ (Waldmann 1928, 199; zu den Aufstiegsphantasien weib­licher Angestellter vgl. Kapitel 6.2) Kracauer zitiert die Passage aus Waldmanns Text – allerdings ohne Nachweis – wört­lich in seiner Angestelltenstudie und kommentiert diese wie folgt: „Der wohltätige Einfluß, den die Lichtflut außer auf die Kauflust auch auf das Personal ausübt, könnte höchstens darin bestehen, daß das Personal hinreichend von ihr betört wird, um die enge, lichtlose Wohnung zu vergessen. Das Licht blendet eher, als daß es erhellte, und vielleicht dient die Fülle des Lichts, die sich neuerdings über unsere Großstädte ergießt, nicht zuletzt einer Vermehrung der Dunkelheit.“ (Kracauer 1971, 93) 15 Müllenmeister möchte Kunstgeschichte studieren und verkehrt mit Künstlern und Schrift­ stellern. Vgl. Böhme 1911, 64.

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zu Franz Hals, kommt Franz Hals zu ihm, kommt in Gestalt eines geschmackvollen, gut ausgeführten Dreifarbendruckes, und so verschwinden die gräss­lichen, ölgedruckten

Majestätsbeleidigungen und andere Scheuß­lichkeiten allmäh­lich von den Wänden der kleinen Leute und machen guten Reproduk­tionen wirk­licher Kunstwerke Platz. Nach und nach gewöhnen sich die Leute an die guten Bilder, die unmög­lichen Öldrucke

gefallen ihnen selber nicht mehr; so erzieht man der ‚Masse‘ Geschmack und Freude

am wirk­lich Schönen.“ (Böhme 1911, 66)

Aus der negativ besetzten urbanen Masse soll durch die vom Warenhaus for­ cierte „Kunsterziehung“ ein positiv besetztes Volk generiert werden. Gegen einen elitären, produk­tionsästhetisch orientierten Kunstbegriff wird eine massentaug­ liche Wirkungsästhetik gesetzt, die Reproduk­tionen in Kauf nimmt, um eine breiten­wirksame ästhetische Volkserziehung zu erreichen.16 Zwischen der „hohen“ Kunst der in Museen ausgestellten Originalkunstwerke und dem Schund 17 bil­ liger und ästhetisch wenig ausspruchsvoller Imita­tionen wird eine dritte Ebene geschaffen, auf der sich im Warenhaus ungebildete Masse und kunstsinnige Elite begegnen können. Müllermeisters Argumenta­tion steht in der Linie der damaligen Kritik an sogenannten „Hausgreueln“, also Gebrauchsgegenständen, die aus Sicht der damaligen Kritiker durch übertriebene Zierformen verunstaltet sind: Aschenbe­ cher in Schildkrötenform, Bierhumpen als Totenkopf usw.18 Mit Blick auf den vermeint­lichen „Niedergang“ des deutschen Kunstgewerbes im 19. Jahrhundert durch die „Hausgreuel“-Industrie meldet sich selbst Sombart zu Wort: „Die grauenhafte Verwilderung, in der die für den Feinbedarf arbeitenden Gewerbe

schließ­lich ausarteten, ist nur verständ­lich, wenn man ­dieses in Betracht zieht, daß

Jahrzehnte hindurch die Lieferung kostbarer oder kunstvoller Gebrauchsgegenstände

16 Vgl. Die Volkskunst als wirtschaftsästhetisches Problem (1909) von Hellmuth Wolff, wo die für die damalige Diskussion zum Begriff „Volkskunst“ wichtige Unterscheidung z­ wischen einer Kunst fürs Volk und einer Kunst vom Volk getroffen wird. Letztere hält Wolff ange­ sichts des durch die Modernisierungsprozesse vollzogenen Strukturwandels in Europa nicht mehr ohne Weiteres für mög­lich. Vgl. Wolff 1909, 28 ff. 17 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 8.5. 18 Ausführ­lich zu ­diesem Thema – die Beispiele sind dort entnommen – G. ­König 1999, 415 ff.; vgl. Sombart 1901, 1233 f. In Frankreich wird im Zuge der L’art-­décorative-­Bewegung eine ähn­liche Diskussion wie in Deutschland geführt. Vgl. Williams 1982, 162 ff.

Warenhauskultur

nur noch unter dem Gesichtspunkte des Profits des Unternehmers […] erfolgte und dazu erwägt, daß in diese Zeit eine Reihe technischer Erfindungen fällt, die eine

At[t]rappen- und Surrogatkunst in einer ungekannten Weise begünstigte.“ (Sombart 1901, 1236; vgl. Sombart 1908a, 53 ff.)

In Müllermeisters Argumenta­tion tritt der Konsument nicht mehr als Verbrau­ cher auf, sondern – ähn­lich dem Konzept der Konsumkulturarbeiterin 19 – als potenzieller Kulturträger. Kunst wird auf diese Weise nicht allein massentaug­lich und konsumierbar. Das Warenhaus kann als Kulturinstitu­tion in Szene gesetzt werden, wobei die konsumistische Kommerzialisierung der Kunst durch ihre ästhetisch-­didaktische Indienstnahme systematisch verschleiert wird. Während Müllenmeister und in gewissem Sinne auch Göhre Fusion von Kommerz und Kunst anstreben, versuchen die Geschmacksexperten der Jahrhundertwende jeden Verdacht auf eine kommerzielle Indienstnahme zu vermeiden. An dieser Stelle wird klar, warum die Argumenta­tion der Geschmacksexperten in Bezug auf die Aus­ bildung der Kompetenzen für einen qualitätsbewussten, sozial verantwort­lichen und ästhetisch ansprechenden Konsum so eigentüm­lich ortlos und praxisfern bleibt: Das Warenhaus kann aus ihrer Sicht niemals ein „kulturfähiger“ Ort sein.

2.  Das Warenhaus als Museum und Kunstwerk In den Vereinigten Staaten sind es nicht Kunstmuseen, sondern Warenhäuser, in denen „modern art and American art found their first true patrons. The pastel paintings

of John La Farge […] appeared in the show windows and picture galleries of the

­Marschall Field’s in 1902. […] The Gimpel brothers, inspired by the Armory Show of

191320 became among the most ardent supporters of modern art, buying up Cézannes,

Picassos, and Braques, and displaying them in the store galleries in Cincinnati, New

York, Cleveland, and Philadelphia. […] John Wanamaker, the man apt to advertise his

19 Vgl. Kapitel 8.5. 20 Während der Armory Show wurden erstmals in den USA die Werke moderner europäi­ scher Kunst ausgestellt. Die Armory Show fand vom 17.2.–15. 3. 1913 in New York statt und hatte eine durchschlagende Wirkung nicht nur auf die damalige amerikanische Kunst, sondern veränderte den amerikanischen Kunstmarkt nachhaltig. Vgl. Brown 1963.

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stores as ‚public institu­tions,‘ was, not surprisingly, the most innovative merchant of

all in his display of art.“ (Leach 1993, 136)

Amerikanische Warenhäuser stellen jedoch nicht nur „im Atelier entstandene Arbeiten“ aus. Sie beauftragten auch Künstler „mit neuen Werken für ihre Schau­ fenster.“ (Taylor 2002, 44)21 So nimmt es kaum wunder, wenn 1911 in der Fest­ schrift zur fünfzigjährigen Firmengründung der Wanamaker-­Warenhäuser die Nivellierung z­ wischen Warenhaus und Museum programmatisch vollzogen wird.22 Was bei Göhre, Böhme und anderen Autoren auf externen Zuschreibungen und Deutungen beruht, wird bei Wanamaker zu einem elementaren Bestandteil der Firmengeschichte.23 Im fünften Abschnitt der Festschrift heißt es: „They [the Wanamaker Stores] are centers of learning for the multitudes who daily visit

the stores. Their stocks of merchandise are a liberal educa­tion for all who come in con­ tact with them. One’s eyes are the great gateways to knowledge. And in Wanamaker’s

every one is free to look, to see, to learn and to enjoy without feeling any obliga­tion

to buy. […] But to be an ever-­changing educa­tional museum for the public, to set up

a model of trading, is perhaps the least important part of the Wanamaker educa­tional

work.“ (Wanamaker 1911, 227 f.)

Einerseits stehe das Warenhaus zwar für Wirtschaft­lichkeit, andererseits aber auch für „color, harmony, prepara­tion and increased happiness.“ (Wanamaker 1911, 238) Dabei werde die Konsumkompetenz der Kundschaft nicht allein passiv über die im Warenhaus präsentierte Warenfülle und -diversität gefördert, sondern aktiv 21 Zu ­diesem Komplex – wenn auch nur die deutsche Entwicklung betrachtend – vgl. Rooch 2001. Zu den strukturellen und funk­tionalen Unterschieden ­zwischen Museen und Waren­ häusern vgl. die Ausführungen im nächsten Abschnitt sowie insbesondere Anm. 42 in ­diesem Kapitel. Zum historischen Einfluss industrieller Weltausstellungen auf die Grün­ dung der ersten Kunstgewerbemuseen vgl. Wörner 1999, 237 ff. 22 Hier zeigt sich, dass die Diskussion um den „Kulturwert“ des Warenhauses keineswegs nur ein deutsches Spezialthema ist, sondern dass es offenbar ein generelles Bedürfnis gab, die Ökonomie des Warenhauses mit einem kulturellen Code zu überformen. 23 Wanamakers Selbststilisierung zum Museum steht im Kontext einer amerikanischen Debatte um die Aufgaben von modernen Kunstgewerbe- bzw. Industriedesignmuseen, von denen in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mehrere in den Vereinigten Staaten gegründet, teilweise auch von Warenhauskonzernen wie Wanamaker gesponsert wurden. Zu den historischen Kontexten und Debatten vgl. Leach 1993, 164 ff.

Warenhauskultur

durch Ausstellungen und Vorträge „by men of na­tional reputa­tion, in Science, History, Literature, Art and Music“ (Wanamaker 1911, 239). Im Kontext ­dieses didaktisch-­ästhetischen Anspruches kommt Kunst eine bedeutende Rolle zu. Im Unterschied zur deutschsprachigen Diskussion wird Kunst nicht mit mora­ lischen Werten verknüpft, sondern es wird von einem erweiterten, pragmatisch-­ utilitaristischen Kunstbegriff ausgegangen: „The woman who arranges a room charmingly, who dresses to express her personality, or

serves a dinner with grace; the man who binds a book in good taste, or turns out a chair

that is a pleasure, or lays out a garden to give delight – all are artists in their way. So, too, is the store that lives up to its highest ideals.“ (Wanamaker 1911, 246; vgl. ebd., 248)24

Wanamaker bemüht sich ebenfalls um „the betterment of taste, and refinement in apprecia­tion of the beautiful“ (Wanamaker 1911, 248). Damit wird jedoch nicht das Ziel verfolgt, eine ästhetisch ungebildete Masse zu einem ästhetisch und mora­ lisch hochstehenden Volk zu veredeln. Tatsäch­lich sehen sich die Wanamaker-­ Warenhäuser, so der Tenor der Festschrift, mit ihren Ausstellungen zeitgenös­ sischer Kunst in direkter Konkurrenz zu den Kunstmuseen: „The record of last year at the Metropolitan Museum of Art, in New York City, for example, showed a visitors’ list of upwards of a million. The attendance at Wanamaker’s

reaches an annual total of many millions of visitors!“ (Wanamaker 1911, 249)

Hierbei kann das Warenhaus selbst zum Kunstwerk werden.25 Im Neubau des Wanamaker-­Warenhauses in Philadelphia wird ein Konzert- und Ausstellungssaal 24 Schon früher heißt es: „For art and commerce have, in some degree, been enemies since the world began. A sea divided them. Whenever commerce approached the sacred shores where art dwelt in a mist of dreams, art fled, crying: ‚Back! Away! I will not be commer­ cialized. I want none of you! You cannot hope to hold me and bind me and direct me. Art and commercialism cannot live together!‘ […] And here is a store that says: ‚Art goes hand-­in-­hand with commerce.‘ […] What does this mean in the life of the Wanamaker Stores? The truth is, that the quality of art comes out in everything we do. Whatever is well done, with sincerity and love of the work and a feeling for beauty, is art.“ (Wanamaker 1911, 245) 25 Zwar heißt es auch auf der Widmungstafel des ­zwischen 1907 und 1909 erbauten Düssel­ dorfer Warenhauses Tietz: „Dem edlen Schönen alle Zeit / sei dieser stolze Bau geweiht!“ (zit. nach Rooch 2001, 141) Aber dass das Warenhaus selbst zu einem „Werk der Kunst“

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mit eintausendvierhundert Sitzplätzen geschaffen. Das Haus wird innenarchi­ tektonisch in verschiedenen repräsentativen Stilen erbaut bzw. eingerichtet: von der Antike bis zum Jugendstil.26 Wanamaker strebt nicht nur eine funk­tionale und räum­liche Annäherung an Konzerthallen oder Kunstmuseen an. Er ver­ sucht vielmehr das universell-­enzyklopädische Konzept der Weltausstellungen zu adaptieren, um Kultur und Wirtschaft, Kunst und Kapitalismus miteinander zu verschränken.27 In einer in der Festschrift auszugsweise präsentierten Rede eines damals bedeutenden amerikanischen Verlegers, Samuel Sidney McClure, heißt es: „MR . ­WANAMAKER is the best advertiser in the world. He is the best advertiser because he is an honest merchant. He is an honest merchant because he is an honest

man. He has not succeeded because of his advertisements, but because of the qualities

of mind that enable him to produce those advertisements. He is the foremost merchant of our times. He is a great artist. All first-­class institu­tions are founded only by great

artists. His great establishment is actually a school in which those who have not had

wird, davon ist meines Wissens in der deutschsprachigen Diskussion (mit Ausnahme des von Alfred Messel entworfenen Berliner Wertheim-­Warenhauses in der Leipziger Straße, vgl. Habel 2009b, 59) nirgends die Rede. Dies mag nicht zuletzt daran liegen, dass andere metaphorische Zuschreibungen (Tempel, Kathedrale, Maschine usw.) die deutschen (und mitteleuropäischen) Debatten weit mehr bestimmen als der „künstlerische“ Aspekt des Warenhauses. Vgl. Kapitel 3.2 und 9.6. 26 Vgl. die Fotos in Wanamaker 1911, 256 ff. sowie Béret 2002, 70. Vgl. überdies die Ausfüh­ rungen zum „Stubenprinzip“ der Weltausstellungen: „[D]ie inszenatorische Verbindung von Exponaten mit einer korrespondierenden Raumsitua­tion. Dieses auf den Weltaus­ stellungen erprobte Medium der Visualisierung ethnographischer Lebenswelten wurde im Museumswesen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts populär“ mit Nachbildungen von zum Teil „komplexe[n] lebenswelt­liche[n] Milieus“ (Wörner 1999, 246). Auch auf der Weltausstellung von 1876, die anläss­lich der Hundertjahrfeier der Grün­ dung der USA in Philadelphia stattfand, wird d ­ ieses Ausstellungsprinzip präsentiert. Vgl. ­Wörner 2000, 84 f. 27 Über die frühen Vorläufer der späteren Weltausstellungen, die franzö­sischen Exposi­tions des arts de l’industrie, bemerkt Ingeborg Cleve: „Damit war politisch-­administrativ eine symbo­lisch hoch verdichtete Konstella­tion von Industrieausstellung und Kunstmuseum, Publikum und Konsumenten, Industrie und Kunst, Kultur und Wirtschaft begründet, ­welche mit einigen Abweichungen das ganze 19. Jahrhundert hindurch bestehen blieb. Diese Konstella­tion war um das Problem herum organisiert, industrielle Produk­tionstechnik und modernen Kunstgeschmack in die Lebenswelt und das öffent­liche Bewußtsein hinein zu vermitteln […].“ (Cleve 1997, 554; vgl. Wörner 1999, 2 ff. u. 237 ff.)

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opportunity in their youth to learn, receive what is equivalent to a public school educa­

tion.“ (Wanamaker 1911, 262 f.)28

Was in der Festschrift argumentativ auf die Spitze getrieben wird, folgt einer Entdifferenzierungslogik, die quer zu den generellen Tendenzen der funk­tionalen Ausdifferenzierungsprozesse der modernen Industrie- und Konsumgesellschaft steht. Diese Entdifferenzierungslogik reagiert unmittelbar auf die zeitgenös­ sische Konsumkritik. Indem Wanamaker den modernen Massenkonsum institu­ tionell an die Hochkultur zurückbindet, greift er auf dasselbe Narrativ wie die kulturkonservative Kritik zurück, kehrt jedoch den Zeitpfeil um. Während die Narra­tion der Konsum- und Modernekritik in eine ursprüng­liche Vergangenheit zielt, ist Wanamakers Konzept fortschritts- und zukunftsorientiert. Gegen die Dystopie einer modernen Gesellschaft mit ihren dissipativen Tendenzen wird keine rückwärtsgewandte, rousseauistische Utopie einer zu sich selbst gekom­ menen ursprüng­lichen Gesellschaft gestellt, sondern die progressive Vision einer kapitalistisch orientierten Konsumgesellschaft, der es gelingt, gesellschaft­ liche Brüche und Verwerfungen zu überwinden. In ­diesem Sinne ist die von ­Wanamaker projektierte Versöhnung von Ökonomie und Kultur, Kommerz und Kunst tatsäch­lich utopisch.29 Um 1900 sind es nicht nur die Warenhausgegner, ­welche die soziokulturelle Wirkung von Warenhäusern überschätzen.30 Nicht weniger überschätzen auch 28 Von Redslob wird, allerdings erst Ende der 1920er Jahre, Ähn­liches über den „modernen“ Kaufmann gesagt: „Die gestaltende Tätigkeit des Kaufmanns bezieht sich jedoch nicht nur auf den Bau [von Warenhäusern]: im Schaufenster wie im Innern des Ladens tritt der Geschäftsmann als Ausstellungspraktiker in engster Beziehung zu den Auffassungen der zeitgenös­sischen Kunst, deren Raumgefühl, Farbgefühl und inneres Tempo von der Modenschau und dem Reklamewesen bis zur Schaufensterausstattung zur Geltung kom­ men. […] Der heutige Kaufmann muß auch auf kulturellem Gebiet ein durchaus moderner Mensch sein. Selbstkontrolle und ständige eigene Weiterentwicklung bei allen mit Zeitstil und Geschmack zusammenhängenden Fragen darf er nicht scheuen.“ (Redslob 1928, 121) 29 Vgl. Kapitel 11. 30 Vgl. Kapitel 3.1. Neben den in Kapitel 3 genannten Aspekten werden die Mög­lichkeiten einer „Geschmacks­ politik“ der Warenhäuser seinerzeit zweifellos überschätzt. So heißt es bei Johannes ­Schellwien: „Die schon erwähnte Tatsache, daß die Warenhäuser sich im allgemeinen nur auf den Masseneinkauf von wenigen Mustern einlassen können, bringt es mit sich, daß das Publikum, welches diese einheit­lichen Massen desselben Musters sieht, unwillkür­lich unter die Sugges­tion gerät, dies allein sei die neueste Mode, und Monat für Monat die

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Figuren der Limita­tion

die Warenhausbefürworter die positiven Wirkungen. Nur im Rahmen dieser Überschätzung wird es mög­lich, den Warenhäusern die Aufgabe einer didak­ tisch orientierten Refunk­tionalisierung von Kunst im Sinne der Volksbildung zuzuschreiben. Überkreuz zum Mythos vom Untergang des Mittelstandes wird ein weiterer Mythos der modernen Konsumgesellschaft geschaffen, innerhalb dessen das Warenhaus als „Akademie der modernen Lebenskultur“ (Redslob 1928, 122) erscheint.31 Was Warenhäuser leisten sollen, ist nicht nur die Befriedigung materieller, sondern auch die geistiger Bedürfnisse: „Ursprung einer Welt von Poesie und Prosa. Symbol überlieferter Buntheit aus Tausend-­ und-­einer-­Nacht. Also vieltausendjährige Tradi­tion einer Idee. Entwickelt und aufge­ baut zum gigantischen Gerüst. Umgewandelt zur Großtat für die Bedürfnisse der Zeit

und des Volkes. Das ist das Warenhaus von heute: eine Welt für alle und für alles. […]

Sein Wachstum aber ist unend­lich. Wie auch die Bedürfnisse der Menschen niemals

aufhören, sich täg­lich zu neuen Wünschen zu formen. […] Was wäre die heutige Zeit ohne die Warenhäuser. Wir brauchen das Warenhaus. Es gehört zu uns, wie wir zu

ihm.“ (Schulz 1928, 5)

Lager räumt.“ (Schellwien 1912, 30) In der antisemitischen Schrift Die Juden im Handel und das Geheimnis ihres Erfolges heißt es: „Das Warenhaus beliebt, irgend ein ansprechen­ des Muster in tausendfacher oder millionenfacher Wiederholung herstellen zu lassen und dadurch andere gute Muster vom Markte zu verdrängen. Das Kunstgewerbe verliert dadurch seine Individualität; alles wird Massen-­Fabrika­tion für den Massengeschmack.“ (Fritsch 1913, 118 f.) Demgegenüber bewertet (und überschätzt) Alfred Lichtwark die Wirkung von Schaufenstern im Sinne einer progressiv orientierten Geschmackspolitik positiv: „Das Schaufenster markiert […] die großen Linien der Bewegung. Es ist dem Tagesgeschmack prophetisch ein gutes Stück voraus. Heute erscheint der Hut, den die fortgeschrittenste Frau in einer Woche erst aufsetzen wird.“ (Lichtwark 1917, 83 f.; vgl. Lux 1908, 345) 31 Thomas Lenz hat in einem Aufsatz vom Warenhaus als „Erzieher zur Modernität“ gespro­ chen. So richtig Lenz’ Beobachtung zweifellos ist, dass die „Debatte um das Warenhaus […] symptomatisch für die Debatte um die Moderne um 1900“ ist und sich das Warenhaus „als Projektsfläche für Hoffnungen und vor allem Befürchtungen in Bezug auf ‚die‘ Moderne geradezu an[bot]“, so sehr bleibt seine Argumenta­tion dem von ihm selbst skizzierten Binarismus der (damaligen) Warenhausdebatte verpflichtet (vgl. Lenz 2009, 54). Man kann daran sehen, wie wirksam und suggestiv die „Mythen“ der frühen Konsumkultur bis heute sind.

Warenhauskultur

3. Schaufensterkunst Eine wichtige Rolle in Bezug auf den „kulturellen Auftrag“ der Warenhäuser spielt in den deutschen Debatten das Schaufenster, in dem Kunst und Kommerz, Kultur und Ökonomie miteinander verschmolzen werden sollen. Elisabeth von Stephani-­Hahn, 1904 – 1925 künstlerische Leiterin der Schaufensterdekora­tion im Berliner Wertheim-­Warenhaus in der Leipziger Straße, schreibt in der 1. Auflage ihres reich illustrierten Handbuchs Schaufenster Kunst (1919): „Wie leicht gleiten die Worte über das Werden dieser neuen Kulturpflanze über das

Papier und es bedurfte doch 15 Jahre harter Kämpfe, um den Boden für die neue Kunst

zu beackern. Der Geschäftsmann bäumte sich auf gegen das ‚künstlerische Stilleben‘ des Schaufensters und der Berufsdekorateur revoltierte gegen den Künstler, in dem

Glauben, dieser unterschätze seine mühevolle Arbeit. Nur die Zeit konnte lehren, in

welchem Irrtum beide befangen waren. Der Kaufmann erkannte sehr bald, wie durch die künstlerisch dekorierten Schaufenster ihm ein neues großes Reklamefeld erschlossen

wurde und die Auslage der Ware in Schönheit, d. h. die Ware durch Kunstgesetze zu

ihrem höchsten Reiz gebracht, das Publikum zum Kaufen mehr animierte als alle Pla­

kate. Die künstlerischen Schaufenster erreichten bald die Zugkraft aller Ausstellungen, man ging, sie zu schauen, weil man immer neue Anregungen dort erwartete, sei es zur

Ausschmückung seiner Häus­lichkeit, oder zur Vollendung seiner Toilette. Auch ganz

neue Bedürfnisse ließ man sich durch sie entlocken. Kurz, der Kaufmann mußte das

künstlerische Schaufenster als Wirtschaftsfaktor erkennen.“ (Stephani-­Hahn 1919, 7)

Der kulturelle Auftrag, den Stephani-­Hahn der Schaufensterdekora­tion zu­ schreibt,32 zielt auf die Geschmackserziehung jener Bevölkerungsschichten, die gewöhn­ lich keine höhere Bildung genossen haben. Daher habe der 32 „Die neuzeit­liche Schaufenstergestaltung, das Schaufenster als Schaubühne erlesensten Geschmacks, erscheint uns heute schon als etwas Selbstverständ­liches. Der Geschäfts­ mann, durch die große Konkurrenz zu immer größerer Reklame gezwungen, konnte nichts Vorteilhafteres tun, als dem starken ästhetischen Bedürfnis des Publikums Rechnung tra­ gend, durch künstlerischen Geschmack seiner Schaufenster sich einen sicheren Lockreiz zu schaffen. Dem Künstler, dem der Auftrag zufiel[,] aus dem einfachen Warenfenster ein Kunstwerk zu schaffen, ist in dieser Arbeit eine neue kulturelle Aufgabe zugefallen. Kaufmann und Künstler, wenn auch der Eine vom materiellen, der Andere vom idealen Standpunkt getrieben, sehen hier das Ziel ihres Verlangens durch die Erscheinung des ‚künstlerischen Schaufensters‘ erreicht.“ (Stephani-­Hahn 1919, 7) Außer Frage steht dabei, dass die „Schaufensterkunst“ ein „Kulturfaktor“ (ebd., 15) ist.

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Figuren der Limita­tion

Schaufensterdekorateur seine „Schaffenskraft“ nicht nur „zum Broterwerb“ ein­ zusetzen, sondern sei gleichfalls „idealen Werte[n]“ verpflichtet. Schon früher heißt es bei Friedrich Naumann in Werkbund und Handel (1913): „Das Schaufenster ist ein wichtiges Stück der Gesamterscheinung unserer Städte. Hier wirkt der Kaufmann als Künstler und nicht nur als Vermittler [zwischen Produk­tion

und Konsum]. Vor seinen Glasscheiben lernen Frauen und Männer, was schön ist.“

(Naumann 1913, 13 f.)33

Bei Karl Ernst Osthaus erscheint das Schaufenster als zentrale Schnittstelle ­zwischen Wirtschaft auf der einen Seite und Volk, Geist bzw. Bildung und Kunst auf der anderen Seite. In dem programmatischen Aufsatz Das Schaufenster (1913) schreibt er: „Es [das Schaufenster] führt kein Eigenleben. Die Regenera­tion des Geschmacks, die

wir heute auf allen Gebieten beobachten, hat es in ihr Wachstum eingezogen. Es ist zu

einem Schaufenster von künstlerischen Experimenten geworden, die umso wichtiger

sind, als sie sich vor aller Augen an der Straße vollziehen. […] Der Ladenbesitzer ist damit zum Volkserzieher geworden oder doch zu einem Mittler, von dem das Schicksal des Geschmacks in weiten Kreisen abhängt. Er hat sich diese Rolle nicht ausgesucht, sie

ist ihm zugefallen. Doch wenn er groß von seinem Berufe denkt, wird er sie mit Freude

aufgreifen. Sie führt ihn aus der Enge seiner Gilde wieder ins geistige Leben seines Vol­

kes hinaus, wo neben dem Golde auch der Mensch gewogen wird.“ (Osthaus 1913, 69)34

Osthaus strebt einerseits eine Refunk­tionalisierung der Kunst im Rahmen der kapitalistischen Ökonomie an. Andererseits hofft er auf eine erneute Reintegra­tion

33 Selbst bei Henriette Fürth, also aus Sicht einer konsumentenorientierten Perspektive, heißt es: „Man kann sogar noch weitergehen und zugestehen, daß eine recht verstandene und angewandte Reklame ein nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel ästhetischer Kultur und Erziehung werden könnte, wie es denn heute schon sogenannte Reklameinstitute oder in großen Geschäften Reklamechefs gibt, deren Aufgabe die Erfindung und geschmackvolle Ausgestaltung und Handhabung von Reklame ist.“ (Fürth 1917, 33) 34 Der altertüm­liche Sprachgestus im letzten Satz des Textausschnitts von Osthaus scheint mir im Übrigen bewusst gewählt, indem hier auf eine Zeit angespielt wird („Gilde“, „Golde“ usw.), in der die Sphären von Wirtschaft und Leben (scheinbar) noch nicht strikt vonei­ nander getrennt waren.

Warenhauskultur

der kapitalistischen Ökonomie „ins geistige Leben“. Das Projekt, das hinter die­ sen Worten aufscheint, ist eins, in dem die als gefähr­lich angesehenen Kräfte des Kapitalismus wenn schon nicht gebannt, so doch kanalisiert werden. Was Osthaus und andere Schaufenstertheoretiker der Jahrhundertwende anvisieren, ist eine umfassende Neudefini­tion des Verhältnisses von Wirtschaft und Kultur.35 Wie diese Neudefini­tion mit Blick auf das Schaufenster in praktischer Hinsicht aussehen soll, lässt sich bei Stephani-­Hahn nachlesen: „Diese Arbeitsgemeinschaft [zwischen Künstlern und Schaufensterdekorateuren], die wir wohl als Idealzustand für die Schaufensterkunst bezeichnen können, hat den Künstler

zum praktischen Fachmann und den praktischen Fachmann zum Künstlertum erho­

ben.“ (Stephani-­Hahn 1926, 11; vgl. Stephani-­Hahn 1919, 8 ff.)

In der Figur des künstlerischen Schaufensterdekorateurs soll ein Konflikt versöhnt werden, der die Differenzierung z­ wischen Masse und Elite, Handwerk und Kunst aufhebt. Während Georg Simmel in seinem Bericht über die Berliner Gewerbe-­ Ausstellung von 1896 noch rein wirtschaft­lich argumentiert, wenn er schreibt, dass „aus der äußersten Steigerung des materiellen Interesses und der bittersten Concurrenznoth eine Wendung in das ästhetische Ideal erwächst“ (Simmel 2004, 37) und damit auf die frühen Entwicklungen des Produktdesigns anspielt, wird diese „Wendung in das ästhetische Ideal“ in der Schaufensterkunst in die Vision einer Gesellschaft umgewendet, in der Wirtschaft und Kultur gleichberechtigt nebeneinanderstehen und voneinander profitieren können. Um diese hochgesteckten Ziele zu erreichen, werden in den 1910er Jahren im deutschsprachigen Raum erheb­liche Bemühungen unternommen, die Schau­ fenster­kunst zu fördern.36 Diese beschränken sich nicht allein auf eine theoreti­ sche Reflexion und auf Handbücher mit Gestaltungsregel wie das von Stephani-­ Hahn, sondern forcieren auch in praktischer Hinsicht die Etablierung eines nach künstlerischen Prinzipien gestalteten Schaufensters. Zwar gibt es schon in den 1890er Jahren im Deutschen Reich erste Versuche, Schaufensterwettbewerbe zu veranstalten, mit denen die geschmackvolle und künstlerische Auslagengestaltung 35 Zu ­diesem Thema ausführ­lich Schleif 2004, 78 ff., die den Komplex der Schaufenster-­ Reformtexte mit Blick auf Deutschland und USA detailliert aufgearbeitet hat. 36 Zur amerikanischen Situa­tion und Diskussion vgl. Lancaster 1995, 64 ff. sowie insbesondere Schleif 2004, 129 ff. u. 150 ff.

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Figuren der Limita­tion

gefördert werden soll. Aber der Durchbruch für diese Wettbewerbe erfolgt erst 1909 mit dem „Schaufensterwettbewerb für Gross-­Berlin“, der das Publikum in die Bewertung miteinbezog; Preisrichter verliehen schließ­lich Medaillen für die besten Schaufenster (vgl. G. ­König 2009a, 126; 2009b, 272). 1910 wird in Berlin die Höhere Fachschule für Dekora­tionskunst gegründet und 1912 der Kunst- und Kunstgewerbeschule Reimann angegliedert. Stephani-­Hahn ist eine der Lehr­ beauftragten und bietet Kurse für Schaufenstergestaltung an: „Die Jahre 1913 und 1914 müssen als der vorläufige Höhepunkt der Schaufenstereupho­ rie in Deutschland betrachtet werden. Kaum eine Zeitschrift, die nicht Artikel zum

Thema brachte, Schaufenster erhielten zu dieser Zeit ein bis dahin unübertroffenes Maß an Aufmerksamkeit.“ (Schleif 2004, 87)37

Mit der theoretischen Reflexion, mit Handbüchern, Kursen und mit den Schau­ fensterwettbewerben wird versucht, eine Reform in der Dekora­tion von Waren­ auslagen durchzusetzen. Statt spektakulären Auslagen, die auf materiellen Über­ fluss, Sinn­lichkeit, Luxus und „Bildgeschichten“ setzen und das Schaufenster mit Waren und Requisiten überhäufen (vgl. Zola 1964, 434), zielt die Reform darauf ab, utilitaristische Prinzipien der Warenpräsenta­tion mit ästhetischen Gestaltungsmög­lichkeiten zu kombinieren. Dabei soll das „alte“ Schaufenster entrümpelt werden: „Man kennt den bandagierten Mann, dem sämt­liche Leib- und Beinbrüche auf einmal verbunden sind, er kündet inmitten von Zahnzangen, Stechbecken und Suspensorien

die Vielseitigkeit chirur­gischer Geschäfte. […] Und jene Bismarcktürme aus Schoko­

lade oder Seife, Tempel aus Stearinkerzen und mit Raffae­lischen Engeln in Schmalz

verzierte Schinken, sie alle sind uns in recht pein­licher Erinnerung […].“ (Osthaus 1913, 61; vgl. Vockerat 1913, 233; Stephani-­Hahn 1927, 104)38

37 1920 wird der Verein der Berliner Schaufensterdekorateure gegründet, 1928 findet der erste Interna­tionale Kongress der Schaufenstergestalter in Leipzig statt. Zu historischen Entwicklung der Schaufenstergestaltung vgl. die Übersicht in Osterwold 1974, 60 f.; zum Kongress vgl. Schleif 2004, 123 ff.; zur amerikanischen Entwicklung vgl. Lancaster 1995, 58 ff. Einen differenzierten Kommentar in Bezug auf die Etablierung der Dekorateurausbil­ dung an der Höheren Schule für Dekora­tionskunst sowie eine erste Bilanz der deutschen „Kulturarbeit“ am Schaufenster bietet schon Vockerat 1913. 38 Zur frühen Ästhetik der Schaufenster vgl. Schleif 2004, 34 ff.

Warenhauskultur

Die sach­liche Gestaltung des Schaufensters – so zumindest postuliert es die Theorie – verbürgt zugleich dessen künstlerischen Anspruch und ökonomischen Erfolg als zentrales Werbemedium des modernen Einzelhandels (Osthaus 1913; Stephani-­Hahn 1919; vgl. Schleif 2004, 70 ff.).39 „Das neue Fenster will sach­lich sein. Jede Ware will, statt Geschichten zu erzählen, sie

selber sein. Die Auslage will Auslage sein, ein Zusammengestelltes, das durch eine ‚litera­

rische‘ Bildung gehalten erscheint. Das Kleid ist Ware, nicht Hülle einer erwartungsvoll

lauschenden Schönheit aus Wachs. Das setzt einen Umschwung aller Begriffe voraus.

Es ist die Abkehr von der Romantik, aufs Schaufenster angewandt.“ (Osthaus 1913, 61)

Zwar versucht Osthaus der Reklame nicht generell den Kommerz auszutreiben, gleichwohl aber deren auf Emo­tionen orientierte Kontextualisierung und damit symbo­lische Aufladung  40 zu beschränken. Osthaus möchte die Verführungs­ kraft der ausgestellten Ware durch eine sachbezogene, nütz­lichkeitsorientierte Per­spektive ersetzen. Dem habe die Akzelera­tion der modernen Lebensweise 39 Dass ­solche Reformbestrebungen überhaupt mög­lich sind und auf allgemeine Aufmerk­ samkeit stoßen, ist nicht zuletzt der rasanten technischen Entwicklung sowie der Eta­ blierung von Schaufenstern im modernen Stadtbild seit dem frühen 19. Jahrhundert geschuldet. Ab 1830 setzt sich das Schaufenster langsam als üb­liches Werbemedium des Kleinhandels mit periodischen Gütern durch; etwas s­ päter folgt der Nahrungsmit­ telhandel. Ab den 1870er Jahren findet der Übergang vom geschäfts- zum warenzent­ rierten Schaufenster statt. Schon in Zolas Au Bonheur des Dames wird dieser Gegensatz von geschäfts- und warenzentriertem Schaufenster ausführ­lich dargestellt. Es heißt über die Schaukästen des Au Vieil Elbeuf, es habe ledig­lich „deux vitrines profondes, noires, poussièreuses, où l’on distinguait vagement des pièces d’étoffes entassées“ (Zola 1964, 393 f.). Demgegenüber habe das Mouret’sche Warenhaus große warenzentrierte Schaufenster, in denen die Stoffe so farbenreich und opulent präsentiert ­seien, dass „le magasin semblait crever et jeter son trop-­plein à la rue“ (Zola 1964, 391). Um 1900 wird die „Werbesphäre in den Laden hinein [ausgeweitet]. Er wurde sein eigenes Schau­ fenster“ (Spiekermann 1999a, 574). Das herausragende architektonische Beispiel für diese Entwicklung ist das 1899/1900 erbaute Warenhaus Tietz in der Leipziger Straße in Berlin, dessen riesige Schaufensterscheiben sich über mehrere Etagen der Vorder­ front erstreckten. Vgl. die Abbildung in Architektur für den Handel 1996, 42 sowie die Beschreibung durch Göhre (1907, 12). Zur Geschichte und Funk­tion von Schaufens­ tern vgl. insbesondere Osterwold 1974; Spiekermann1995, 1999a, 573 f.; Schleif 2004; ­Szymanska 2004 sowie Breuss 2010. 40 Zu den verschiedenen Formen der Bedeutungszuweisung in den modernen Konsumwel­ ten, von denen Osthaus nur eine thematisiert, vgl. Kapitel 4.

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Figuren der Limita­tion

ohnehin vorgearbeitet, denn, so Osthaus, das „schnelle Tempo des modernen Lebens hat das Symbo­lische aus den Auslagen zurückdrängt.“ (Osthaus 1913, 65)41 Gleichzeitig wird in den theoretischen und praktischen Versuchen einer Schau­ fensterreform an eine Entwicklung angeschlossen, die das Museum schon früher im Übergang zur Moderne vollzogen hat: „This entailed a focus on the rare and excep­tional [wie es in vormodernen Museen der

Fall ist], an interest in objects for their singular qualities rather than for the typicality, and encouraged principles of display aimed at a sensa­tional rather than a ra­tional and

pedagogic effect.“ (Bennett 1995, 2)

Bei allen offensicht­lichen Unterschieden ­zwischen Museumsvitrine und Schau­ fenster (intellektuell / affektiv, Bildungsauftrag / Absatzsteigerung, Geschichte / Gedächtnis, männ­lich  / weib­lich)42 zeigt sich in den Schaufensterreformbemü­ hungen ebenfalls eine Umformung vom Spektakulären zum Erzieherischen. Hinter diesen Bemühungen steht nicht nur der Versuch, neue Geschmacksleit­ bilder zu kreieren,43 sondern auch das Ziel – insbesondere bei den Autoren aus dem Umfeld des Werkbundes (Osthaus, Naumann) –, eine kunstgewerb­liche Synthese z­ wischen Kunst und industrieller Produk­tion herbeizuführen. Der zen­ trale Protagonist dieser kunstgewerb­lichen Synthese im Rahmen der modernen Konsumkultur soll der Schaufensterdekorateur sein.

41 Auf diese Weise partizipiert Osthaus’ Text am damaligen Ra­tionalisierungsdiskurs. Vgl. Kapitel 8.3 ff. 42 Während die museale Ordnung der Dinge einer wissenschaft­lichen Logik und Legitima­ tion gehorcht, w ­ elche die Dinge dem Gebrauch entzieht, folgt die Ordnung der in einem Schaufenster ausgestellten Dinge einem ra­tional nur schwierig zu ermittelnden Alltags­ wissen um die (mög­lichen) Bedürfnisse einer anonymen Käuferschaft. Während also das Museum „als Zeigeort der Geschichte“ verstanden werden kann, können Schaufenster ledig­lich als „Zeigeort[e] eines sozialen Gedächtnisses“ aufgefasst werden, „womit jener große Erinnerungskomplex gemeint ist, der in Alltagsinterak­tionen ausgetauscht und konstruiert wird […]. Das s­ oziale Gedächtnis bildet ein Gegengewicht zur Geschichte, es ist nicht intellektueller, sondern affektiver Art.“ (Szymanska 2004, 43; vgl. G. ­König 2010; zur „Geburt“ des modernen Museums vgl. Bennett 1995) 43 In Analogie zu dem, was Bennett über das moderne Museum sagt, dass es „constructs man […] in a rela­tion of both subject and object to the knowledge it organizes“ (Bennett 1995, 7), ließe sich über die Schaufensterreformbemühungen sagen: „The window display constructs the consumer in a rela­tion of both subject and object to the things it organizes.“

Warenhauskultur

4.  Geschmacksagent der Konsumkultur 44 Neben der Beherrschung der technischen Mittel verlangt man vom Schaufens­ terdekorateur „stets neuartige Dekora­tionsideen, beschwingte Phantasie, erlesenen Geschmack, künst­ lerisches Einfühlen in die Ware. Ferner muß er auch ein bestimmtes kaufmännisches

Denkvermögen besitzen, das ihn unter Umständen auf eine hochkünstlerische Dekora­

tion zugunsten einer weniger künstlerischen, aber umsatzfördernden Dekora­tion ver­ zichten läßt.“ (Klein 1931, 38)

Stefan Haas hat aufgezeigt, dass „die Ausgestaltung der Werbung unter künst­ lerischen Gesichtspunkten in den 1890er Jahren eine spezifisch ästhetisierende, mithin antira­tionalistische Grundhaltung mit sich brachte, die dazu führte, daß die frühen Werbetreibenden sich als Künstler verstanden.“ (Haas 1995b, 79 f.) In ­diesem Sinne heißt es in dem von Paul Ruben herausgegebenen Band Die Reklame. Ihre Kunst und Wissenschaft (1913): „Wie der Violinvirtuose nur durch anstrengende Technik zur Vollkommenheit gelangen kann, wie der Komponist und Maler nur bei völliger Beherrschung der Grundlehren hervorragendes zu leisten vermag, so muß auch der Berater im Reklamefach seine

Technik beherrschen. – Vielseitiges Können, schöngeistige Arbeit, bildende Kunst, Literatur und Technik, Grundlehren von Handel und Industrie, Volkswirtschaft und Gewerbe müssen ihm geläufig sein.“ (Ruben 1913a, 20)45

44 Natür­lich können der Werkbund selbst und s­ päter das Bauhaus als s­ olche „Geschmacks­ agenten“ der Konsumkultur verstanden werden. Allerdings gibt es hier, sieht man von den zitierten Stellungnahmen aus dem Werkbund-­Umfeld ab, meines Wissens keine konkrete Bezugnahmen auf Warenhäuser. Im Gegensatz dazu ist die strate­gische Allianz ­zwischen Warenhäusern, Schulen und Museen für Industriedesign in den USA im frühen 20. Jahr­ hundert deut­lich stärker ausgeprägt. Vgl. Leach 1993, 164 ff. 45 Bei Vockerat (1913, 240) heißt es: „Mit ebenso viel praktischem Sinn für die Bedürfnisse ihrer Auftraggeber wie ästhetischem Feingefühl ausgestattet, vermählten sie das Sach­liche mit dem Künstlerischen. […] Männer wie Lucian Bernhard, Julius Klinger, Julius Gipkens, denen sich aus dem weib­lichen Lager vor allem Fräulein v. Hahn zugesellt, haben sich hier eine festumgrenzte Provinz ihrer Tätigkeit geschaffen, die man wahr­lich, mit ‚hoher Kunst‘ verg­lichen, nicht geringschätzen wird.“

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Auch Stephani-­Hahns Konzept visiert eine s­ olche Versöhnung z­ wischen Ästhetik und Ökonomie an und macht den künstlerischen Schaufensterdekorateur zum anti-­elitären Agenten einer alltagsästhetisch orientierten Populärkultur. Auto­ nome Kunst und heteronomes Kunstgewerbe, Talent und Technik sollen vereint werden. Dabei zeigt Stephani-­Hahns Konzept auffällige Parallelen zum Typus des modernen Ingenieurs, mit dem um 1900 ebenfalls ein Brückenschlag z­ wischen Ökonomie, Kunst und Kultur angestrebt wird. Der Ingenieur „besetzt die Schnittstelle von Kunst und Kapital […]. Als Nachfahre des dubiosen

Projektemachers verfügt er einerseits über spekulative Anteile, zumal wenn er sich auf das interna­tionale Kapital und Aktiengesellschaften einlässt, andererseits ist er ein

mit ‚ingenium‘ begabter Förderer der Kultur, ja der neue Künstler des technolo­gischen

Zeitalters.“ (Schössler 2009, 227)

Wenngleich die Zuschreibungen an den Schaufensterdekorateur keineswegs so weitreichend sind wie an den Ingenieur 46 und das technische Moment im Vergleich zur künstlerischen Komponente nicht so stark ausgeprägt ist, wird deut­lich, dass dessen konzeptuelle „Existenz“ in derselben diskursiven Gemenge­lage begründet liegt. Während der Ingenieur zu einer Leitfigur des 20. Jahrhunderts avanciert (vgl. Makropoulos 1997, 93 ff.; Bittner 2001b, 19; Schössler 2009, 228), verliert der Schaufensterdekorateur mit dem Abebben der Schaufenstereuphorie nach Ende des ­Ersten Weltkrieges seine Bedeu­ tung. Dies liegt nicht zuletzt an den Umstrukturierungen in der Reklame­ branche selbst. Haas schreibt, dass man schon vor 1914 „von den Künstlern in den Werbeabteilungen […] weniger Eigenständigkeit und künstlerische[n] Ausdruck als vielmehr Anpassungsfähigkeit und Vielfalt [verlangte]“. An die Stelle der künstlerischen „Idee“ trat der „Werbeplan“ (Haas 1995b, 82). Auch versucht man vermehrt werbepsycholo­gische Techniken einzusetzen. Schon in ­Münsterbergs Psychologie und Wirtschaftsleben (1912) wird auf die vielfältigen Untersuchungsfelder in Bezug auf die Verbesserung der psycholo­gischen Wir­ kung von Reklame (Anzeigen, Inserate, Lichtreklame, Schaufenster) hingewie­ sen (vgl. Münsterberg 1912, 143 – 173; 1914, 419 – 439). 1918 werden vom Leiter des 46 Schössler schreibt: „Über die Figur des Ingenieurs verhandelt die Literatur […] die Interna­ tionalisierung, die Eroberung des globalen Raums und die expandierenden Kapitalströme.“ (Schössler 2009, 247 f.) Vgl. Makropoulos 1997, 93 f.; Bittner 2001b, 19.

Warenhauskultur

wirtschaftspsycholo­gischen Laboratoriums der Handelshochschule Mannheim, Edmund Lysinski, Testreihen zur psycholo­gischen Wirkung von Schaufens­ tern durchgeführt (Lysinski 1919; vgl. Burnett 1906 sowie Schleif 2004, 115). Nicht nur das künstlerische Moment verliert im Zuge dieser Neuausrichtung der Werbebrache an Gewicht. Auch „die vormals mora­lisch-­erzieherischen Zielsetzungen“ (Schleif 2004, 61) werden zugunsten wirtschaft­licher Über­ legungen zurückgedrängt. Bei Münsterberg heißt es über das Verhältnis von Psychotechnik und Handel: „Wir haben es grundsätz­lich abgelehnt, daß die Psychotechnik es irgendwie mit der

Erörterung der gesellschaft­lichen Ziele zu tun hat. […] Der Psychotechniker der Wirt­ schaft kann und soll […] nur sagen, w ­ elche psychischen Vorgänge der Verteilung der

Güter dienen können, sobald die Kulturgesellschaft, für die er wirkt, eine mög­lichste

Steigerung des für Käufer und Verkäufer befriedigenden Güterumsatzes anstrebt.“

(Münsterberg 1914, 421)

In Bezug auf die ästhetische Gestaltung von Schaufenstern bemerkt M ­ ünsterberg in ­diesem Sinne: „Gewiß hat die Schönheit lebhaften Anziehungswert und überdies die Suggestivkraft, durch die sie unseren Sinn von der Zufallsumgebung wegzieht und uns zwingt, uns

hineinzufühlen in das Dargebotene. Aber gerade dadurch isoliert es das Gegebene von der Welt unserer praktischen Interessen. Unsere Wünsche schweigen, wir suchen kein

persön­liches Verhältnis zu den Dingen, denen wir als bewundernde Beschauer gegen­

überstehen, und dadurch ist die beabsichtigte wirtschaft­liche Wirkung aufgehoben.“

(Münsterberg 1912, 160)

Nach 1918 wird an der experimentell fundierten Ra­tionalisierung von psycholo­ gischen Kundenlenkungskonzepten gearbeitet, bei der das Künstlerische, wenn überhaupt, nur dann benötigt wird, wenn es die Kauflust zu fördern oder Kon­ sumentenwünsche zu wecken vermag (vgl. Schleif 2004, 119). Vom kulturellen „Auftrag“ ästhetisch gestalteter Schaufenster im Sinne Osthaus’ und Stephani-­ Hahns ist nicht mehr Rede. In der Literatur der späten 1920er und 1930er Jahren treten Schaufenster­ dekorateure daher nicht mehr als Agenten des guten Geschmacks oder gar als Protagonisten einer gelungenen Versöhnung ­zwischen Kunst und Leben

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Figuren der Limita­tion

auf,47 sondern sie stehen beispielhaft für den Konflikt ­zwischen Kunst und der ökonomischen Indienstnahme von Kunst durch Reklame wie in Siwertz’ Roman Das große Warenhaus oder in Vicki Baums Der grosse Ausverkauf. In besonders zugespitzter Weise wird dieser Konflikt in Albin Zollingers Erzäh­ lung Bobertags Krieg gegen das Warenhaus (um 1930) dargestellt. Darin wird die Geschichte des Kunstmalers Bobertag erzählt, der von seiner Kunst zu leben versucht, was ihm jedoch nicht gelingt. Als ihm seine Frau angesichts der finanziellen Notlage der Familie vorschlägt, „Gebrauchskunst“ zu machen, weist er das entschieden zurück: „[E]r aber setzt ihr nun sektiererisch auseinander, aus ­welchen Gründen er das Kunst­ gewerbe verachte, die Prostitu­tion der Malerei, ­dieses scheinheilige Geschäft … was sie ihm auch entgegenhält, es bestärkt ihn alles in der melancho­lischen Einsicht, dass

das Weib­liche die Käuf­lichkeit, den Materialismus in sich hat; sie sieht es nicht ein, diese Frau, es hat keinen Sinn davon zu reden.“ (Zollinger 1984, 67)

Gegen seine Überzeugung entwirft er trotzdem einige Plakate und geht mit ihnen zum Warenhaus. Dort wird er abgewiesen, lässt aber seine Zeichnungen zurück. Eines Tages, so meint er, hängt „sein Plakat an den Säulen“ (Zollinger 1984, 69). Er geht ins Warenhaus, um sein Honorar einzufordern, doch man weist ihn erneut zurück. Eine Klage vor Gericht scheitert ebenfalls. Fortan investiert Bobertag seine gesamte Zeit in den „Krieg“ gegen das Warenhaus: 47 Auch Frauen werden in diese kulturelle Aufgabe miteinbezogen. So wird in Margarete Michaelsons unter dem Pseudonym Ernst Georgy veröffent­lichten Roman Der Konfek­ tionsbaron (1923) in einer Nebenhandlung die Geschichte der jungen preußischen Adeli­ gen Leonore von Wolfsta erzählt, die sich von ihrer standesbewussten Familie zu eman­ zipieren versucht. In Berlin findet sie eine Anstellung als Schaufensterdekorateurin im Warenhaus Ressen & Co., wo sie ihre künstlerischen Talente bei der Auslagengestaltung von Schaufenstern verwirk­lichen und außerdem finanziell auf eigenen Füßen stehen kann. Im Gegensatz zur Hauptfigur des Romans, Herbert von Flintschs, einem verarmten Baron und ehemaligen Offizier, der nach Ende des Krieges arbeitslos ist und sich zunächst als „Grüßaugust“, s­ päter als Buchhalter bei Ressen & Co. verdingt, verkörpert Leonore einerseits die geglückte Synthese z­ wischen Adel und Bürgertum im Übergang von der Monarchie zur Weimarer Republik sowie andererseits die moderne emanzipierte Frau, die Kunst und Kommerz, Hoch- und Populärkultur zu versöhnen vermag. In Stephani-­Hahns Aufsatz „Schaufensterkunst“ ein neuer Künstlerberuf (1927) wird im Übrigen ausdrück­lich darauf hingewiesen, dass sich „der Beruf der Schaufensterdekora­tion […] für Frauen gut eignet.“ (Stephani-­Hahn 1927, 105)

Warenhauskultur

Er reißt Plakate von Litfaßsäulen ab und bildet seine Kinder zu Warenhaus­ dieben aus. Irgendwann bietet ihm der Besitzer des Warenhauses „aus reinem Spaß“ eine Abfindung an: „Der Schabernack, als den er [der Besitzer] sein Manöverchen betrachtet, ist ihm juris­ tisch, aber menschlich nicht ebenso gelungen. Er empfindet Mitleid mit dem faden­ scheinigen Streiter, selbstredend liegt auch so etwas wie Gewissen irgendwo in ihm

herum, wenn er sich die Mühe machen will, darnach zu fahnden.“ (Zollinger 1984, 73)

Schließ­lich stellt er Bobertag als Wachmann ein, doch eines Nachts brennt das Warenhaus. Bobertag wird verurteilt und kommt ins Gefängnis. Später wird er ins Irrenhaus eingeliefert; am Schluss endet er als Landstreicher. Zollingers Erzäh­ lung stellt einen – vielfach ironisch gebrochenen – Extrempunkt in der Ableh­ nung der modernen Reklame dar und zeigt beispielhaft, dass das optimistische Projekt einer Versöhnung von Kunst und Ökonomie im Schaufensterdekorateur bzw. durch die Reklamebranche um 1930 ad acta gelegt ist.

5.  Warenhauskultur und künstlerische Avantgarde Was bei Osthaus oder Stephani-­Hahn als Mög­lichkeit einer Versöhnung ­zwischen Kultur und Kommerz gedacht wird, erinnert an die programmatischen Anlie­ gen der künstlerischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch diese versucht, Kunst und Leben miteinander zu versöhnen und zettelt dafür einen „Krieg“ an. Dieser „Krieg“ richtet sich jedoch nicht gegen den Kommerz oder den Massenkonsum, sondern gegen die Ordnung des Kunstsystems, d. h. gegen die „Institu­tion Kunst“ selbst sowie – im weiteren Sinne – gegen die Ordnung der bürger­lichen Gesellschaft, deren Verhaltensnormen in der Kunst bzw. in Kunstak­tionen außer Kraft gesetzt werden sollen. Die künstlerische Avantgarde attackiert gleichfalls die Autonomie der Kunst, jedoch nicht zugunsten einer hete­ ronomen Refunk­tionalisierung in ökonomischen oder didaktischen Kontexten, sondern im Sinne einer Befreiung der Kunst aus ihrer Autonomie, um sie „zum Organisa­tionsprinzip des Lebens“ (Bittner 2001b, 19) zu machen. Um ihre programmatischen Anliegen der Öffent­lichkeit bekannt zu machen, nutzt die Avantgarde gezielt die Massenmedien des frühen 20. Jahrhunderts. Nicht nur veröffent­lichen die Futuristen ihre Manifeste in Tageszeitungen, sondern organisieren überall, wo sie auftreten, generalstabsmäßig geplante

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Figuren der Limita­tion

Reklamefeldzüge.48 Nicht weniger ­nutzen die Dadaisten strate­gisch die modernen Massenmedien.49 In noch provokanterer Weise werden diese von den Surre­alisten eingesetzt, so dass sich die bürger­liche Öffent­lichkeit und ihre Repräsentanten tatsäch­lich bedroht fühlen.50 Dieser von der Avantgarde forcierte, strate­gische Einsatz massenmedialer Werbemittel wird schon von Zeitgenossen kritisiert. Man wirft der Avantgarde-­ Bewegung vor, dass sie nicht mehr abwartet, „daß sich Dichterschulen von selbst, unbewußt aus dem Geist der Zeit, bilden“, sondern dass sie diese „planvoll“ gründet, „etwa wie eine Aktiengesellschaft“ (zit. nach Schmidt-­Bergmann 1993, 50). Was auf der Programmebene als Versöhnung von Kunst und Leben erscheint, ist auf der opera­tionalen Ebene, vor allem bei Futurismus und Surrealismus, eine äußerst erfolgreiche Strategie der Selbstvermarktung und Etablierung am Kunstmarkt. Kunst, so könnte man zugespitzt formulieren, wird mit der Avantgardebewe­ gung zur Ware und ist seitdem untrennbar mit Kunstmarketing verbunden (vgl. Lindemann 2001). In ­diesem Sinne schreibt Boris Groys: „In der Moderne funk­tioniert die künstlerische Avantgarde als ökonomische Avantgarde oder, wenn man will, als Ersatz-­Aristokratie einer auf der Grundlage der Ökonomie

48 Man verteilt Flugblätter, plakatiert Litfaßsäulen und versorgt Zeitungen mit Informa­ tionsmaterial. Vgl. Fähnders 1997, 23. 49 Im Unterschied zu den Futuristen versuchen die Dadaisten, die Massenmedien manipulativ zu instrumentalisieren. Falschmeldungen wie der Tod des „Oberdadas“ Johannes Baader, der angekündigte Auftritt Charlie Chaplins bei einer dadaistischen Veranstaltung in Paris (vgl. Riha 1982, 103; Brandt 1995, 41) oder dadaistische Zeitungsannoncen, zum Beispiel „Legen Sie Ihr Geld in dada an!“, verdeut­lichen die Strategie partisanischer Mediensabotage. Hinzu kommen Ak­tionen, w ­ elche diese Sabotagestrategien in den öffent­lichen Raum poli­ tischer oder religiöser Institu­tionen verlegen. Baaders verbaler Angriff auf den Hofprediger Dryander im Berliner Dom im November 1918 oder der Abwurf des Flugblatts Die grüne Leiche in der Weimarer Na­tionalversammlung im Februar 1919, in dem die Übernahme der Regierungsgewalt durch das Dadaistische Zentralamt gefordert wird, belegen dies beispiel­ haft. Die gegen Oskar Kokoschka gerichtete „Kunstlumpaffäre“ im März 1920, in der John Heartfield und George Grosz einen Rundumschlag gegen die bürger­liche Kunstauffassung und -verehrung führen, löst eine Grundsatzdebatte über die Funk­tionsbestimmung einer Literatur für das Proletariat aus. Vgl. Fähnders 1998, 193. Das Pamphlet Der Kunstlump findet sich abgedruckt in: Asholt/Fähnders 1995, 203 – 206. Allgemein zum Verhältnis von Werbung und Dada vgl. Riha 1982, 14 sowie Brenneke 1992, 192. Vgl. auch die zahlreichen Reak­tionen der Presse auf den ersten Berliner Dada-­Abend in Goergen 1994, 70 ff. 50 Ausführ­lich zu d ­ iesem Themenkomplex Lindemann 2001; dort – neben der schon genann­ ten – auch weiterführende Literatur.

Warenhauskultur

organisierten Gesellschaft – als eine ‚künst­liche‘ Aristokratie, deren gesellschaft­liche

Funk­tion darin besteht, die Grenzen des Begehrenswerten immer weiter zu verschie­ ben.“ (Groys 2002, 59)

Dem entspricht, zumindest solange die Avantgardebewegungen nicht politi­siert sind, eine Abwesenheit der Darstellung oder Reflexion der modernen kapitalis­ tischen Konsumkultur. Auch wenn die Futuristen die moderne urbane Hochge­ schwindigkeits- und Simultanitätszivilisa­tion feiern, finden sich kaum Textzeug­ nisse, die auf die Konsumwelt des frühen 20. Jahrhunderts und ihre kommer­ ziellen Strategien inhalt­lich Bezug nehmen. Ledig­lich das auf dem ersten Berliner Dada-­Abend vorgetragene Gedicht Wertheim des italienischen Futuristen Paolo Buzzi 51 enthält eine längere Reflexion über die moderne Konsumkultur, in der aber – entgegen dem, was man vielleicht erwarten würde – das Warenhaus kei­ neswegs als Gipfelpunkt moderner urbaner Kultur und Technik gefeiert wird. Im Gegenteil: Am Ende des Gedichts träumt sich das lyrische Ich in passatistischer Manier aus Berlin nach Süditalien fort: „O mercati di trine e di chiocciole leggieri

liberi sulle marine di Chioggia e di Palermo!“ (Buzzi 1913, 175)52

Auch bei Dadaismus und Surrealismus sucht man vergeb­lich nach Textzeugnissen, die eine tiefergehende Reflexion der modernen Konsumkultur beinhalten, obwohl sich beide Bewegungen in bildkünstlerischen Arbeiten 53 bzw. in ­Ausstellungen 51 Dt. Übers.: „O lichte Märkte leichter Muscheln und Spitzengewebe / an den Meerespro­ menaden von Chioggia und Palermo!“ (Goergen 1994, 38) Das Gedicht wurde bereits 1913, also fünf Jahre vor dem Dada-­Abend, im Rahmen des Gedichtzyklus Berlino in Buzzis Gedichtband Versi Liberi veröffent­licht. 52 Buzzis Gedicht unterscheidet sich thematisch und motivisch kaum von dem fast zeitgleich veröffent­lichten, expressionistischen Gedicht Das Warenhaus (1917) von Armin T. ­Wegner. 53 Über den Dadaismus schreibt Klaus-­Peter Schuster: „Alle Formen der Collage und Mon­ tage aus Meisterwerken der Kunst, fotografischer Wirk­lichkeit und Reklamewelt haben die Dadaisten aufgeboten, um Hoch und Tief, das Edle und das Banale mit amüsanter Ironie und verletzendem Spott gegeneinander auszuspielen. […] Die optische Welt von Alltag und Kunst wurde gleichsam neu montiert und einmal mehr in der Geschichte der Kunst simultan miteinander verschränkt“ (Schuster 1996, 266 f.). Ein besonderer Fall stellt im Rahmen der dadaistischen Bewegung Kurt Schwitters dar: „1924 gründete er die Merzwerbezentrale, 1927 wurde er Mitglied im ‚ring neuer werbegestalter‘, 1928 trat er als

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Figuren der Limita­tion

und Schaufensterdekora­tionen  54 mit der urbanen Konsumsphäre auseinander­ setzen. Was die avantgardistische Programmatik einer Versöhnung von Kunst und Leben invisibilisiert, ist nicht nur die Grenze z­ wischen beiden Sphären, sondern auch das, was beide Sphären zusammenführt: der Markt. So sehr die künstle­ rischen Anliegen der Warenhäuser und der Schaufensterreformbewegung von denen der Avantgardebewegung inhalt­lich und thematisch entfernt sind, so sehr sind sie auf struktureller Ebene im Rahmen einer Entdifferenzierungslogik ver­ bunden, die versucht, progressive Modernisierungsnarrative zu generieren: zum einen wie beim Warenhaus, um vom Konsum in die Kunst bzw. Kultur zu kom­ men, zum anderen wie bei der Avantgarde, um von der Kunst in ein ganzheit­lich verstandenes Leben zurückzugelangen. Das Ziel ist dasselbe: Man möchte eine Spitzenposi­tion in der Beobachtung und Deutung der modernen Gesellschaft einnehmen bei gleichzeitiger Invisibilisierung des ökonomischen Primats, von dem aus man agiert.

Werbegrafiker dem Deutschen Werkbund bei.“ (Wegmann 2011, 208) Schwitters gestaltet Werbung für Pelikan und Bahlsen sowie amt­liche Drucksachen für die Städte Hannover und Karlsruhe. Vgl. Wegmann 2011, 202 ff. 54 Hier wäre vor allem an die Ausstellung der Surrealisten in der Pariser Galerie Georges Wildensteins von 1938 zu denken, wo „ein langer, von 16 künst­lichen Mannequins gesäumter Korridor mit dem Titel Les plus belles rues de Paris breites Aufsehen [erregte]“ (Sykora 2002, 133), an die Schaufensterdekora­tionen von Marcel Duchamp und Salvador Dalí (vgl. Girst 2002; Schleif 2004, 175 – 210) oder an Duchamps Konzept des Readymades (vgl. Schuster 1996, 267).

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Kapitel 10

Verlusterzählungen

1.  Die „gute alte Zeit“ In Das Warenhaus – ein Gebilde des hochkapitalistischen Zeitalters (1928) entwirft Sombart eine gleichermaßen idealtypische wie schematische Gegenüberstellung des „alten“ Einzelhandels mit den „neuen“ Warenhäusern: „Der Leiter oder ‚Prinzipal‘ war der ehemalige Gehilfe und Lehrling, der Lehrling

war der zukünftige Gehilfe, dieser der zukünftige Prinzipal. Der Kram 1 war eine Art Familie. Meistens lebten die Angestellten im Hause des Prinzipals. Selbst in größeren

Geschäften herrschte ein familienhaftes, ‚patriarcha­lisches‘ Verhältnis ­zwischen dem

‚Chef‘ und seinen Untergebenen. […] Ebenso wie das Verhältnis ­zwischen Prinzipal

und seinen Angestellten trug das z­ wischen dem Händler und seiner Kundschaft ein

persön­liches Gepräge. Man war bekannt und wurde als Bekannter beim Eintritt begrüßt.

Es war oft in der Tat ein Besuch, bei dessen Gelegenheit man Einkäufe machte oder

einmal auch nicht machte.2 […] Alle die aufgezählten Züge machten den Detail­

handelsbetrieb alten Stils zu dem, was ich einen beseelten oder strebsamen Betrieb

nenne.“ (Sombart 1928a, 78 f.)

Demgegenüber zeichnen sich die modernen Warenhäuser durch eine kapitalis­ tische Organisa­tion aus, dessen „oberste[s] Leitmotiv […] das Gewinnstreben“ sei: „Aller früherer Detailhandel wurde […] tradi­tionalistisch geführt, das heißt: nach dem Herkommen. Das Warenhaus dagegen steht im Zeichen ­­ der Zweckmä­ ßigkeitserwägung; seine Führung ist ra­tionalistisch.“ (Sombart 1928a, 81) Damit werde zugleich das Verhältnis des Kaufmanns zur Kundschaft „entpersön­licht“: „[A]us der Kundschaft im alten Laden ist das Publikum geworden. Der Chef erscheint

überhaupt nicht mehr im Geschäft. Höchstens bekommt man in besonders bevorzugter

1 Zum Krämersystem vgl. die Ausführungen in Kapitel 8.2. 2 Dies ist eine unrichtige Angabe bzw. Folgerung Sombarts. Historisch richtig ist, dass beim Betreten eines damaligen Geschäfts Kaufzwang bestand. Vgl. Kapitel 1.3.

Figuren der Limita­tion

Stellung einen Abteilungsvorsteher zu Gesicht. Meist auch diesen nicht, sondern einen

auswechselbaren Verkäufer oder (meist) eine ebensolche Verkäuferin. […] Entpersön­

licht ist ebenso das Verhältnis der den Betrieb bildenden Personen untereinander. Der

Chef kennt seine Angestellten nicht mehr, die Angestellten kennen in ihrer großen

Mehrzahl einander nicht mehr. […] Die alte komplette Verkäufertätigkeit, die immer einen gelernten Kaufmann erheischte, ist zerschlagen. Sie ist aufgeteilt ­zwischen wenigen

‚angestellten Kaufleuten‘ und der großen Massen der ‚kaufmännischen Angestellten‘, von denen die allermeisten überhaupt nur noch angelernte Verkäufer (Verkäuferinnen) sind, die ihren Waren ohne Liebe gegenüberstehen.“ (Sombart 1928a, 84)

Sombart schreibt dem „alten“ Einzelhandel persön­liche Beziehungen, Kontinui­ tät, Tradi­tion, Beständigkeit und Homogenität zu, den „neuen“ Warenhäusern Entpersön­lichung, ra­tionales Gewinnkalkül, Tradi­tionslosigkeit, Diskontinuität und Differenzierung.3 Was sich als faktengestützte wissenschaft­liche Analyse aus­ gibt, hat Teil an der nicht zuletzt von der zeitgenös­sischen Soziologie forcierten Modernisierungsnarra­tion, die im Gegensatz zur funk­tional ausdifferenzierten Gegenwart einen vormodernen Sozial- und Wirtschaftsverband als solidarische „Gemeinschaft“ fingiert (vgl. Lüdemann 2004; Stöckmann 2009a, 2012). Sombart inszeniert die Polarität ­zwischen Einzelhandel und Warenhäusern als Verlusterzählung: als Verlust von Tradi­tion, von sozialen Zusammenhängen, ja als Verlust von „Seele“ und „Liebe“. Diese Verlusterzählung steht damit komplementär zur Fik­tion vom vermeint­lichen Untergang des Kleinhandels durch die Warenhäu­ ser: Was dort primär ökonomisch kodiert ist, gewinnt bei Sombart eine gesell­ schaftspolitische Dimension.4 Wirkungsmächtig ist diese Verlusterzählung nicht zuletzt in Bezug auf die zeitgenös­sische Darstellung der Arbeitsverhältnisse im Einzelhandel. Während 3 Eine ähn­lich schematische Zuspitzung findet man schon früher bei Cohn (1910, 4): Hier wird dem alten Einzelhandel „Persön­lichkeit“, „Gemüt­lichkeit“ und „Ruhe“ zugeschrieben, während im modernen Geschäftsleben der „Kampf ums Dasein“, „Nervosität“ und „Über­ anstrengung“ dominieren. Vgl. Lambrechts 1913, 44 ff. sowie Waldmann 1928, 182 f.: „Wir leben nicht mehr in der guten alten Zeit, wo das Tagewerk in ruhigem Tempo ablief. […] Im Warenhaus aber brennt der Boden unten den Füßen. Da ist keine Zeit, müde zu sein, da heißt es, alle Sinne beisammen zu halten, immer in Bereitschaft sein, nie die Nerven verlieren.“ Für die franzö­sische Situa­tion Ende des 19. Jahrhunderts stellt Nord Ähn­liches fest. Auch hier wird in der einschlägigen Literatur der kleine Einzelhandel der „guten alten Zeit“ zugeordnet. Vgl. Nord 1986, 97. 4 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 3.1.

Verlusterzählungen

der alte Einzelhandel familiär, also patriarcha­lisch im positiven Sinne organi­ siert gewesen sei, fehle d ­ ieses Merkmal dem modernen Warenhaus mit seinen Hunderten von Angestellten. Schon in Zolas Au Bonheur des Dames wird dieser Gegensatz nicht nur im Verhältnis von Mourets Warenhaus zum gegenüber­ liegenden Au Vieil Elbeuf gestaltet, sondern als scharfer Kontrast z­ wischen der schillernden Außenseite des Warenhauses als „Paradies der Damen“ und den harten, ganz und gar nicht paradie­sischen Arbeitsbedingungen im Warenhaus. Dies gilt insbesondere für weib­liche Angestellte: „[L]a misère en robe de soie“, wie Zola (1964, 507) an einer Stelle schreibt. Ganz ähn­lich werden diese Arbeits­ bedingungen in Böhmes W. A. G. M. U. S. dargestellt: „Für ästhetisch empfindende Naturen gehörte der Aufenthalt im Warenhaus Müllen­ meister um diese Zeit nicht eben zu den Hochgenüssen des Daseins. Die Hitze der

vielen hundert Gas- und elektrischen Lampen, die Ausdünstung der sich langsam vorwärts schiebenden Menschenmassen erfüllten die niedrigen Räume unter den

festen Decken mit einer stickig dumpfen, atembeklemmenden Atmosphäre. In der

Luft lag ein undefinierbares Geräusch, ein Summen, Surren, Brausen und Stampfen,

wie das Keuchen einer überheizten Maschine. […] Die Glühbirnen warfen seltsame

Reflexe auf die abgespannten, jugend­lichen Gesichter der Verkäuferinnen, die in dieser Beleuchtung, in der grellen, grün­lichen Helle ein sonderbar verzerrtes, greisenhaftes

Aussehen bekamen. Solch ein Sonnabend stellte die höchsten Anforderungen an die Arbeitskraft des Personals.“ (Böhme 1911, 81)

In den Sommermonaten kommt eine unerträg­liche Hitze hinzu (vgl. Böhme 1911, 164 f.): „Mieze [eine Angestellte] begriff allmäh­lich, warum die Mädchen in den Warenhäusern so auffallend rasch verblühten, warum selbst die jüngs­ ten Geschöpfe darunter so grau und müde aussehen.“ (Böhme 1911, 199; vgl. ebd., 347 f.)5 Die Arbeit im Warenhaus scheint regelrecht gesundheitsgefähr­ dend zu sein: „In den meisten Warenhäusern erreicht die Zahl der Krankheits- und Sterbefälle unter den Angestellten eine erschreck­liche Höhe, so daß diejenigen, die mehrere Jahre darin

5 Vgl. Sanders 2006, 81 f.; hier berichtet eine Verkäuferin von ähn­lichen Bedingungen bei ­Selfridge.

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Figuren der Limita­tion

tätig sind und nicht tuberkulös werden, als Ausnahmen betrachtet werden müssen.“

(H. ­Besançon, zit. nach Lambrechts 1913, 48)6

Extrem sind die Arbeitsbedingungen insbesondere an Sonderverkaufstagen bzw. während Sonderverkaufswochen. Bereits Zola stellt dies in aller Ausführ­ lichkeit und Dramatik dar.7 In Hughes’ Miss 318 sagt die weib­liche Hauptfigur Lizzie über die Wochen vor Weihnachten: „Christmus [sic] means three weeks of infoinal [sic] misery for everybody“ (Hughes 1911, 66). Ähn­lich heißt es in Zugsmiths Roman A Time to Remember (1937): „Every Christmas season all of us live a life of hell, wondering where the axe is going to fall.“ (Zugsmith 1937, 169)8 Manche Warenhausangestellten werden durch ihre Arbeit derart nervös, dass sie die Geduld mit Kunden verlieren, die beim Einkauf zu zöger­lich sind (vgl. Marrey 1979, 25 f.).

2.  Das Konkurrenzprinzip Die auf das Warenhaus projizierte Verlusterzählung erscheint in verdichteter Form im Konkurrenzmotiv, das in fast allen Texten eine zentrale Rolle spielt, wo die Arbeitssitua­tion von Warenhausangestellten beschrieben wird.9 Wiederum bei Zola wird in pointierter Form erläutert, warum das Konkurrenzprinzip ein wesent­liches Element moderner Geschäftsführung ist: „Il [Mouret] intéressait désormais ses vendeurs à la vente de toutes les marchandises, il leur accordait un tant pour cent sur le moindre bout d’étoffe, le moindre objet vendu

6 Vgl. Sheldons For Gold or Soul?, in dem eine kranke Verkäuferin stirbt, weil sie aus Sorge um ihren Arbeitsplatz nicht zum Arzt geht. Dort heißt es über die Arbeitsbedingungen im Warenhaus: „Do you mean to say that this place is really unhealthy, and that the firm refuses to comply with the law on such matters? […] I mean to say [antwortet eine Ver­ käuferin] that Denton, Day & Co. comply with no law whatsoever except their own sweet will, and that is to overwork, underpay and bulldoze their employees and then kick them out at a minute’s notice.“ (Sheldon 1900, 20) 7 Vgl. die Kapitel 4, 9 und 14 in Zolas Au Bonheur des Dames. 8 Bei Waldmann (1928, 183) heißt es: „An den Tagen mit Sonderveranstaltungen, den ‚Groß­ kampftagen‘, muß jeder, vom ersten Direktor angefangen bis zum letzten Laufjungen, manchmal das Äußerste hergeben.“ 9 Dass ­dieses Motiv in derart vielen Warenhaustexten auftaucht, hat zweifellos auch kom­ positorische Gründe, da es dramatische Zuspitzungen erlaubt.

Verlusterzählungen

par eux: mécanisme qui avait bouleversé les nouveautés, qui créait entre les commis

une lutte pour l’existence, dont les patrons bénéficiaient. Cette lutte devenait du reste

entre ses mains la formule favorite, le principe d’organisa­tion qu’il appliquait constamment.

Il lâchait les passions, mettait les forces en présence, laissait les gros manger les petits, et s’engraissait de cette bataille des intérêts. […] Cette applica­tion nouvelle de la lutte pour

l’existence l’enchantait, il avait le génie de la mécanique administrative, il rêvait d’organiser la maison de manière à exploiter les appétits des autres, pour le contentement tranquille et complet de ses propres appétits.“ (Zola 1964, 421 f.; Hervorheb. U. ­L.)10

Für die Angestellten bedeutet das: Je mehr Verkäufe sie im Verhältnis zu anderen Angestellten machen, desto sicherer ist ihr Arbeitsplatz.11 Die immer wieder thema­ tisierten Folgen sind Neid, Intrigen, permanente gegenseitige Beobachtung und Kontrolle sowie Denunzia­tion. Als im Warenhaus in Böhmes W. A. G. M. U. S. ein neues Provisionssystem statt des alten Prämiensystems eingeführt wird, heißt es: „[E]in fremder Ton [hatte] unter dem Personal Platz gegriffen […]; ein schroffes Abstandhalten, so als ob die Angestellten sich nicht mehr als ein zusammengehörendes

Personal, sondern als Einzelwesen fühlten, von denen jedes seinen Posten feindselig und erbittert gegen fremde Übergriffe verteidigte.“ (Böhme 1911, 284)

Aus dem Personal bei Müllenmeister wird innerhalb kürzester Zeit „ein Rudel bissiger, futterneidischer Hunde“ (Böhme 1911, 285, vgl. Georgy 1923, 226). Selbst Göhre, der das Berliner Wertheim-­Warenhaus als „Triumph moder­ ner, gesellschaft­lich organisierter menschlicher Arbeit“ (Göhre 1907, 35) feiert, bemerkt kritisch: 10 Schon in den Vorstudien zu Au Bonheur des Dames schreibt Zola: „D’ailleurs, le sentiment qui domine, c’est le désir de gagner de l’argent; pas d’affec­tion, de camaraderie, un simple frottement, et presque de la haine, de la jalousie qui viennent des intérêts opposés. […] Donc, rivalité, maussaderie, haine. On ne s’occupe que d’argent dans le magasin; l’amour, l’idyllle y est rare. Pas d’affec­tion. La lutte pour la vie.“ (Zola 1987, 183) 11 Besonders zugespitzt wird dies in Hughes’ Miss 318, wo es über die weib­liche Hauptfigur heißt: „Everybody else, including all the floor-­walkers [also ihre Vorgesetzten], dreaded her sharp tongue and her caustic insolence. She would have been discharged years before, but nobody quite dared discharge Miss Mooney. She did make sales; she did keep her accounts straight; she knew the stock; she was efficient. But she was hateful; and the women who bought from her hated her, bought things just to spite her – just ‚to show her!‘ Still, they bought.“ (Hughes 1911, 18)

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Figuren der Limita­tion

„Es ist geradezu ein System ausgebildet, wonach die Angestellten sich selber gegenseitig

kontrollieren. […] Aber die mora­lischen Qualitäten der Angestellten leiden darunter.

Ängst­liche Vorsicht, Mißtrauen, Unsicherheit auf seiten der Besseren, Schnüffelei, Ver­ klatscherei, Intrigen auf seiten der Schlechteren, Protek­tionswirtschaft und ungerechte

Zurücksetzungen von oben her müssen unausbleib­liche Folgen sein.“ (Göhre 1907, 82)12

In Manfred Georgs Roman Aufruhr im Warenhaus (1928) sagt der Warenhauschef: „Ich kann kein Personal gebrauchen, in dem sich einer auf den anderen verläßt. Das hemmt die Aktivität und die Leistungsfähigkeit des einzelnen.“ (Georg 1928, 125) Durch das Konkurrenzprinzip wird der künst­liche Zustand eines Krieges „jeder gegen jeden“ erzeugt,13 der, wie es sich in der Metaphorik bei Zola und Böhme andeutet, zu einer allgemeinen „Verwilderung“ unter den Angestellten führt. Indem eine biolo­gische Metapher (die des Überlebenskampfs) auf ein künst­lich erzeugtes Marktgeschehen (dem der Konkurrenz) übertragen wird,14 kann die Konkurrenz unter den Angestellten als Naturgegebenheit diskursiviert werden:

12 Weitere Textpassagen, in denen die Konkurrenz unter den Angestellten ausführ­lich the­ matisiert wird, finden sich in Sheldon 1900, 57 f. sowie – hier dezidiert aus der Perspektive von „unten“ – in Breitbach 1929a, 75 ff. 13 Dies geht bei Zola so weit, dass beim Kampf um die beste Provision die Geschlechterun­ terschiede nivelliert werden: „Si la bataille continuelle de l’argent n’avait effacé les sexes, il aurait suffi, pour tuer le désir, de la bousculade de chaque minute, qui occupait la tête et rompait les membres. À peine pouvait-­on citer quelques rares liaisons d’amour, parmi les hostilités et les camaraderies d’homme à femme, les coudoiements sans fin de rayon à rayon. Tous n’étaient plus que des rouages se trouvaient emportés par le branle de la machine abdiquant leur personnalité, addi­tionnant simplement leurs forces, dans ce total banal et puissant de phalanstère.“ (Zola 1964, 516) 14 Michael Makropoulos hat im Anschluss an Michel Foucault darauf hingewiesen, dass der ökonomische Wettbewerb „keineswegs eine Naturgegebenheit“ sei, sondern „ein Prinzip der Abstrak­tion“, das nicht bzw. nicht allein „an konkreten anderen Akteuren und Pro­ dukten ausgerichtet“ sei, sondern „an einer „abstrakten Wirk­lichkeit“: „Der anonymisierte Wettbewerb findet in einem unaufhör­lich verschiebbaren Horizont des Mög­lichen statt, in dem alles, was jeweils erreicht worden ist, beständig mit dem konkurriert, was darüber hinaus erreicht werden könnte. Man konkurriert nicht nur mit anderen um knappe Res­ sourcen; vielmehr konkurriert jede Realisierung einer Mög­lichkeit mit ihrer potentiellen Überbietung durch eine andere Mög­lichkeit.“ Hierbei organisiere „der optimierungslo­ gische Wettbewerb unaufhör­licher Überbietung“, so Makropoulos weiter, „nicht die Vielfalt des Verschiedenen, aber Gleichartigen – auch wenn diese abstrakt bleiben mag –, sondern die Vielfalt des Verschiedenartigen, also des Heterogenen. Der anonymisierte Wettbewerb ist aus ­diesem Grund auch keine Selek­tion. Es findet nicht im präsentischen Raum von realen

Verlusterzählungen

„Auch hier [im Warenhaus] gilt das eiserne Gesetz der Naturnotwendigkeit: wider­ standsfähige, tüchtige Individuen kommen nach oben, behaupten sich in ihren Posi­

tionen; unbrauchbare, schwache Kräfte unterliegen, bleiben in subalternen Stellungen oder werden ganz abgestoßen.“ (Colze 1908, 34)

Was mit Hilfe der sozialdarwinistischen Lesart als naturhafter Zustand fin­ giert wird, dient, wie schon das Zitat aus Zolas Roman deut­lich macht, einer Verschleierung der ökonomischen Interessen des Unternehmers, der durch die Einführung des Konkurrenzprinzips hofft, seinen Gewinn optimieren zu können. Keineswegs zufällig ist es, dass bei Zola die durch das Konkurrenzprinzip aus­ gelöste „Entfesselung der Leidenschaften“ bei den Angestellten komplementär zur im Kaufrausch entfesselten weib­liche Masse im Warenhaus gesetzt wird.15 Eine weitere Steigerung erfährt die an das Warenhaus geknüpfte Verluster­ zählung durch die nach 1900 einsetzenden Bemühungen zur Ra­tionalisierung der Warenhausorganisa­tion. Diese betreffen insbesondere das Konkurrenzprinzip, das in seiner ra­tionalisierten Form nicht allein jede Mög­lichkeit zu solidarischem Handeln unter den Angestellten ausschließt, sondern zugleich die Reputa­tion früherer Leistungen suspendiert. In Falladas Roman Kleiner Mann – was nun? heißt es: „Die Verkaufsquote für den einzelnen Verkäufer […] wurde in der Herrenkonfek­tion auf das Zwanzigfache seines Monatsgehaltes festgesetzt. Und Herr Spannfuß hatte

eine hübsche kleine Rede gehalten. Daß das nur im Interesse der Angestellten geschehe,

denn nun habe doch jeder Angestellte die mathematische Gewißheit, daß er vollkom­

men nach Verdienst eingeschätzt werde. ‚Jede Schmuserei und jede Schmeichelei, das

für das Ethos so verderb­liche Kriechen vor den Vorgesetzten gibt es nicht mehr! […]

Geben Sie mir Ihren Kassenblock, und ich werde wissen, was für ein Mann Sie sind!‘“

(Fallada 2004, 237)

Wenig ­später heißt es über die Folgen der Einführung der Verkaufsquote:

Alternativen statt, sondern im futuristischen Horizont fik­tionaler Mög­lichkeiten, von denen nicht einmal gesagt werden, wie sie als realisierte beschaffen sein werden.“ (Makropoulos 2008, 108 f.; Hervorheb. U. ­L.) 15 Vgl. Kapitel 5.3.

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Figuren der Limita­tion

„Unter der Devise ‚Rette sich, wer kann!‘ setzte ein allgemeiner Ansturm auf die Käu­ fer ein, und mancher Kunde des Warenhauses Mandel war etwas verwundert, wenn er, durch die Herrenkonfek­tion wandelnd, überall blasse, freund­lich verzerrte Gesichter

auftauchen sah. […] Es ähnelte stark einem Bordellgäßchen, und jeder Verkäufer froh­

lockte, wenn er dem Kollegen einen Kunden weggeschnappt hatte.“ (Fallada 2004, 238)16

Auch bei Zola „schnappen“ sich die Verkäufer die Kunden gegenseitig „weg“, um ihre Provision zu erhöhen. Doch das System der Verkaufsquote bei ­Fallada funk­tioniert anders, denn es zwingt die Verkäufer zu einer monat­lichen Min­ destleistung, die, falls sie nicht erbracht wird, unmittelbar zur Entlassung führt. Was bei Zola ein persön­licher Wettbewerb z­ wischen den Angestellten ist, wird bei Fallada in den Kontext einer außengesteuerten Kontrolle der Arbeitspro­ zesse gestellt, die auf einer statistisch fundierten Beurteilung individueller Leistung und Leistungsfähigkeit beruht. Der Angestellte konkurriert nicht nur mit den anderen, sondern auch mit sich selbst, da das zu erfüllende Monatssoll ein personalisierter Parameter zur individuellen Leistungsbeurteilung ist. Was der Angestellte noch letzten Monat geschafft hat – sonst wäre er in ­diesem Monat nicht mehr beschäftigt –, wird ihm auch in ­diesem abverlangt. Auf diese Weise kann das Scheitern am Monatssoll zu einem persön­lichen Schei­ tern umgedeutet werden. Auch diesen Mechanismus des Selbstvergleichs als Folge der außengesteuerten Kontrolle der Arbeitsprozesse schildert Fallada in seinem Roman.17

16 Schon in der dreißig Jahre vor Falladas Roman veröffent­lichten Warenhaus-­Polemik Im Paradies der Damen heißt es: „Für einen ehrliebenden und tüchtigen Kaufmann bietet die Stellung im Warenhause wohl nur in ganz vereinzelten Fällen ein erstrebenswertes Ziel. Ebenso verhält es sich mit den Gehilfen, den Verkäufern und Verkäuferinnen. Von einem wirk­lichen kaufmännischen Betriebe kann höchstens im Kontor, sicher aber nicht in den Verkaufsräumen gesprochen werden. Fachkenntnisse sind nicht erforder­lich, ja, bilden wohl gar beim Anpreisen der Pofelware [sic] ein mora­lisches Hindernis. Wer es nicht versteht, sein ‚Tagespensum‘ an den Mann oder an die Frau zu bringen, fliegt bald genug hinaus. Die Aufdring­lichkeit wird zur Pflicht der Selbsterhaltung, und der Zweck muß jedes Mittel heiligen.“ (Im Paradies der Damen 1903, 42) Vgl. Hirsch 1910, 34. 17 Von hier aus lässt sich leicht eine Parallele zu den aktuellen Analysen zum „unternehme­ rischen Selbst“ (Ulrich Bröckling) herstellen. Vgl. Lindemann 2014a.

Verlusterzählungen

3.  Das statistische Dispositiv 18 Die statistische Methode gewinnt in der Warenhausorganisa­tion seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend größere Bedeutung (vgl. Miller 1981, 70). Hirsch behauptet sogar, dass die moderne wirtschaft­liche Statistik und Marktanalyse vom Warenhaus hervorgebracht wurde (Hirsch 1910, 64; vgl. dagegen ­W irminghaus 1911). Die „Statistik“ sei, so Hirsch weiter, „gleichsam das Nervenzentrum des Warenhauses; sie stellt am glänzendsten die ‚Ra­tio­ nalisierung des Betriebes‘ dar. Hier laufen täg­lich die Resultate der Abteilungen ein, und die Verkäufe werden mit den entsprechenden Tagen des Vorjahres verg­lichen. Am

Ende des Quartals werden die Resultate wiederum zusammengefasst […]. Die Tagesund Monatsleistung jedes einzelnen Angestellten bis zum jüngsten Lehr­mädchen

hinab wird hier genau festgestellt.“ (Hirsch 1910, 31)19

Ohne Statistik, so legen die Ausführungen von Hirsch nahe, könne sich ein moderner Großbetrieb wie der des Warenhauses binnen kürzester Zeit ruinie­ ren. Was in Zolas Au Bonheur des Dames an das génie eines Einzelnen, näm­lich Mouret, geknüpft ist, der bei seinen Investi­tionen auf die erfolgreiche Zukunft seines Unternehmens immer nur wetten kann, ist in der modernen Statistik das prognostische Kalkül eines mathematisch abschätzbaren Risikos. Mit der Statistik wird, so Hirsch, „der wirtschaft­liche Fortschritt, einst ein unsicheres Kampfer­ gebnis, zu einem Werk von Erkenntnis und Willen.“ (Hirsch 1910, 72)20 Dies gilt nicht zuletzt im Verhältnis zum mittelständischen Einzelhandel: „Im selbständigen Detailgeschäfte ist der weniger fähige Inhaber engstens mit dem

Betriebe verknüpft; seine etwaige Unfähigkeit bringt erst nach und nach das Geschäft

18 „Statistik […] bildete […] im 19. Jahrhundert ein Dispositiv, das die Erscheinung kollek­ tiver Gegenstände orchestrierte und auf neue Weise Ordnung in die Dinge brachte. […] Indem Ereignisse des menschlichen Lebens methodisch gezählt werden, schafft die Statistik Realitäten des Sozialen und bringt gesellschaft­liche Wesen und Subjektivitäten hervor, die mit Hilfe mathematischer Opera­tionen in Form gebracht werden.“ (Gamper 2007, 307) 19 Zum Stand von Wissenschaft und Praxis der Statistik im ersten Jahrzehnt nach 1900 vgl. Wirminghaus 1911. 20 Georg Tietz schreibt über die Umstrukturierungen in den Tietz-­Warenhäusern nach der Jahrhundertwende: „Die Umstellung vom empirischen Mittelbetrieb zum fast wissenschaft­ lich-­automatisch funk­tionierenden Großbetrieb hatte [1907] begonnen“ (Tietz 1965, 90)

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herunter, bis es end­lich, oft erst nach Jahren, zum Konkurse kommt. Im Warenhaus

ergibt eine gut funk­tionierende Statistik binnen kürzester Frist, oft binnen weni­

ger Wochen oder Monate, ob ein Rayonchef gut oder schlecht arbeitet. Arbeitet er schlecht, so wird er baldigst durch einen geeigneteren Nachfolger ersetzt, ohne daß das Gesamtgeschäft oder auch nur die einzelne Abteilung Schaden leidet.“ (Hirsch

1910, 33; vgl. Cassau 1928, 99)

Die Statistik wird zum zentralen Kommunika­tionsmedium ­zwischen Angestell­ ten und Warenhausleitung: „Nicht nur für die Geschäftsleitung ist die Statistik das ‚Ein und Alles‘ der Kontrolle, sondern auch für diejenigen Abteilungsleiter, denen der Wert der Arbeitsleistungen zu überprüfen obliegt.“ (Heimann 1928, 223) Persön­liche Rücksichten treten in den Hintergrund, nicht allein weil der Chef nicht mehr alle seinen Angestellten persön­lich kennen kann, sondern weil offenbar keine andere Beziehung mehr als eine statistische z­ wischen Angestellten und Warenhausleitung nötig ist, um den ökonomischen Erfolg des Warenhauses zu gewährleisten. Satirisch überzeichnet hat diesen Aspekt Manfred Georg in Aufruhr im Warenhaus: „Der Warenhausbetrieb war von der letzten Exaktheit, die erreicht werden konnte. Ein Anruf an die Abteilung 33 im 15. Stockwerk – Bedarfsartikel für Gartenbau –, vom Schreibtisch her hinunterzuckend, brachte im nächsten Moment die Aufsichtsdame

des Rayons herauf mit Tabellen, in denen nicht nur vermerkt war, wieviel Umsatz Miß

Wills, die Verkäuferin am dritten Tisch, in der letzten Woche gehabt hatte, sondern

auch genaue Aufzeichnungen darüber, wie und auf ­welche Kunden sie als Verkäufe­

rin wirkte und welches ihre häus­lichen Verhältnisse und ihre Charaktereigenschaften

waren.“ (Georg 1928, 67)

Ziel der statistischen Auswertung ist vollständige Kontrolle und Steuerung der Arbeitsprozesse und Arbeitsleistung. Dabei steht die durch das Konkurrenzprin­ zip produzierte emotive „Verwilderung“ unter den Angestellten keineswegs im Widerspruch zur statistischen Kontrolle der Arbeitsleistung. Im Gegenteil: Diese „Verwilderung“ wird – auch ist dies ein wesent­licher Unterschied zu Zola! – erst durch den Einsatz der Kontroll- und Steuerungsmechanismen erzeugt. Wenn Gamper schreibt, dass im 19. Jahrhundert durch die Statistik an die Stelle des aufklärerischen Interesses an der „Natur des Menschen“ das „Modell des ,normalen‘ Menschen“ (Gamper 2007, 308) oder – auf das Warenhaus

Verlusterzählungen

übertragen – das Modell des „normalen“ Angestellten trete, dann ist diese Fest­ stellung zwar zutreffend. Im Bezug auf das Warenhaus sowie auf die wirtschaft­ lich bedingten Ra­tionalisierungsprozesse im frühen 20. Jahrhundert greift die Normalisierungsthese aus meiner Sicht aber zu kurz. So richtig es ist, wenn Gamper weiter feststellt, dass Statistik „soziale Klassifika­tionen“ negiere und „das Gesellschaftstableau und damit den festen sozialen Ort des Individuums durch einen dynamisierten sozia­len Raum“ ersetze, „in dem sich die Indivi­ duen in einem ständigen Wettbewerb um den gesellschaft­lichen Rang befinden“ (Gamper 2007, 307 f.), so sehr wirkt Statistik zugleich denormalisierend, indem sie die sich aus dem Konkurrenzprinzip ergebenden Leistungsanforderungen überprüfbar macht. Statistische Kontrolle und Steuerung meint dann nicht nur die Berechnung oder Überprüfung eines Durchschnitts mit Blick auf zukünftige Entwicklungen, sondern sie produziert systematisch Verunsicherung. Derjenige, der den geforderten Durchschnitt gerade noch erfüllt, dessen Arbeitsplatz ist bereits gefährdet: „Ich kenne nur eine Art Verkäufer: die, auf deren Verkaufsblock abends recht hohe

Zahlen stehen. Ich weiß, es gibt noch die mit den niedrigen Zahlen, aber ich sorge schon dafür, daß es die hier bald nicht mehr gibt.“ (Fallada 2004, 171)

Im Kontext der an das Warenhaus geknüpften Verlusterzählung werden diese Effekte einer auf statistische Methoden gründenden Ra­tionalisierung einerseits im Sinne der skizzierten biolo­gischen Semantik lesbar gemacht. So heißt es bei Fallada: „Sollen die Schwächeren denn gar nichts mehr sein? Einen Menschen danach bewer­ ten, wie viel Hosen er verkaufen kann! […] [W]as sie jetzt machen, mit den Arbeitern schon lange und mit uns nun auch, da ziehen sie lauter Raubtiere hoch und da werden sie was erleben, Junge, sage ich dir!“ (Fallada 2004, 227)

Andererseits erscheinen im Rahmen der seit Zola in Bezug auf das Warenhaus eingesetzten Maschinensymbolik 21 die Warenhausangestellten als austauschbare Rädchen oder gar als bloße Nummern. In Köhrers Warenhaus Berlin heißt es:

21 Vgl. Kapitel 3.2.

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„[D]ie Angestellten im ‚Warenhaus Berlin‘ [waren], wie in jedem grossen Warenhaus, die Leidtragenden bei der Entwicklung unseres Geschäftslebens, als sie von Personen

zu Nummern herabsanken. Von dem früheren persön­lichen Verhältnis z­ wischen Chef

und Angestellten war nichts mehr übrig geblieben. Beide lebten in einer Welt für sich,

völlig gegeneinander abgeschlossen und einander fremd, nur durch die nüchternsten äusseren Bande miteinander verknüpft.“ (Köhrer 1909, 59)22

In Hughes’ Romanen Miss 318 und Miss 318 and Mr. 37 wird der Primat Leistung statt Person, Statistik statt Reputa­tion in der numerischen Anonymisierung der Hauptfiguren sogar titelgebend.23 Auch bei Colze heißt es in seiner Darstellung des KaDeWe: „Der einzelne ist eine Nummer, die an ihren Platz gestellt wird, und dort ihre Arbeit zu

verrichten hat, ein kleines Rädchen in dem Riesenmechanismus, das wenn es unbrauch­ bar wird, durch ein neues ersetzt wird, um den Gang des Ganzen nicht zu hemmen.“

(Colze 1908, 33; vgl. Im Paradies der Damen 1903, 40)24

Wie sehr die Ra­tionalisierungsprozesse zugleich von einer Technifizierung der Arbeitsplätze 25 begleitet werden, wird in einer der wenigen literarischen 22 Schon in Sheldons For Gold or Soul? heißt es: „They [das Warenhaus Denton, Day & Co.] want machines in these stores, and we are the nearest substitutes.“ (Sheldon 1900, 51) Vgl. Freunds Der Warenhauskönig (1912): „Man ist ja dort doch nichts weiter als nur eine Maschine“ (Freund 1912, 193) oder Horace Annesley Vachells Roman Watling’s for Worth (1925). Hier sagt der Warenhauschef: „The machines who sell our stuff over the counters are machines – and nothing else.“ (Vachell 1925, 42) 23 In dem Roman Winnie Childs, the Shop Girl (1914) von Charles Norris und Alice Muriel Williamsons gibt es ein Kapitel, das ebenfalls nur mit einer Nummer („No. 2884“) beti­ telt ist, in dem sich die weib­liche Hauptfigur bei einem Warenhaus bewirbt und dort als Nummer 2884 eingestellt wird (vgl. Williamsons 1916, 79 ff.). 24 Vgl. die in Kapitel 1.2 angeführte Short Story My Life with R. ­H. Macy von Shirley ­Jackson, in der die Nummerierung aller Geschäftsvorgänge realsatirische Züge gewinnt. 25 Wiederum satirisch überzeichnet wird dieser Aspekt in Manfred Georgs Aufruhr im Warenhaus. Das dort geschilderte fiktive Warenhaus hat eine eigene Ra­tionalisierungs­ abteilung: „[D]reißig Leute […] [hatten] allein die Aufgabe […], Verbesserungspläne für die im Warenhaus betriebenen Maschinen zur Ersparnis von Angestellten und zur Mechanisierung der Arbeit zu machen. […] Neu­lich war ein genialer Funke bei Mr. Paul Schuhmann aufgeknistert. Er hatte durch das mechanische Auswechseln eines Hebels die Tätigkeit einer Kassiermaschine von 576 Einzelbewegungen auf 296 herabgedrückt. Das

Verlusterzählungen

­ childerungen von Warenhausarbeitsplätzen „hinter den Kulissen“26 dargestellt. S Dort heißt es über einen Tube Room, in dem das mit den Kassen des Warenhau­ ses verbundene Rohrpostsystem zusammenläuft, Rechnungen bearbeitet sowie Wechselgelder ausgegeben werden: „The noise in the Tube Room was enough to drive you crazy, and you felt like a galley-­slave or something working on the belt.“ (Zugsmith 1937, 77) Schon früher sagt der Personaldirektor des Warenhauses, der die tayloristische Doktrin der Ra­tionalisierung bis in die Wortwahl hinein verinner­licht hat, zu einer neuen Mitarbeiterin im Tube Room: „Just being healthy and alert, with motor dexterity and accuracy in your arithmetic

isn’t enough, Miss Roberts. In the Diamond Tube Room, we need the well-­integrated objective type. The nervous type with unsatisfactory home condi­tions and emo­tional

maladjustements is not good cashier material.“ (Zugsmith 1937, 77)27

Hier sind die Angestellten nicht mehr nur verwaltungstechnisch Nummern, son­ dern werden zu einem entindividualisierten Anhängsel der Maschine, die den Takt der Arbeit vorgibt.28 Noch weiter, wenn auch in anderer Hinsicht, geht der vor allem in kompositorischer Hinsicht bemerkenswerte Warenhausroman Shrine of Fair Women (1932) von Ann Pinchot, in dem versucht wird, die zersplitterte und anonymisierte Struktur des modernen Warenhauses in der Struktur des Romans selbst abzubilden. Hier kennen sich die einzelnen Figuren oft nicht einmal mehr persön­lich, so dass die verschiedenen Teilerzählungen des Romans nicht oder nur lose miteinander verknüpft sind. Sieht man von der allerdings durch große bedeutete soundsoviel Kassiermaschinen weniger, und gleichzeitig mit der Bestellung der neuen Maschinen war vom Personalbureau hundertzwanzig Angestellten zum nächsten ­Ersten gekündigt worden.“ (Georg 1928, 97 f.) Man vgl. die Schilderung der Ra­tionalisie­ rungsexperimente und -maßnahmen in Taylors The Principles of Scientific Management (1911). 26 Nur ein Drittel der Angestellten, so Adams (1897, 16), ist für Kunden im Warenhaus über­ haupt sichtbar. Von den fünfzehn Personen mit unterschied­lichen Funk­tionen (vom Einkauf bis zum Versand), die an einem einzigen Verkauf beteiligt sind, bekommt der Kunde meist nur den Verkäufer zu Gesicht. Vgl. exemplarisch für d ­ ieses „Fehlen“ einer Aufmerksamkeit für das „Innenleben“ der Warenhäuser die Texte von Göhre (1907) und Colze (1908). 27 Vgl.: „The other girls on the belt also did not yet seem human to Doni [so der Vorname von Mrs. Roberts], for they did not speak and their fingers and their adding minds ope­ rated like machines.“ (Zugsmith 1937, 79) 28 Mit Blick auf Fließbandarbeit zeigt dies schon ein Jahr zuvor ebenso eindrück­lich wie allegorisierend Charlie Chaplins Film Modern Times (1936).

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Zeitsprünge unterbrochenen Darstellung der nur wenige Jahre dauernden Blüte­ zeit des Warenhauses ab, gibt es keinen übergeordneten Handlungsfaden. An einer Stelle des Romans reflektiert eine der weib­lichen Figuren über ihre eigene Lebenssitua­tion, was unschwer als mise en abyme der gesamten Handlungsstruk­ tur des Romans lesbar ist: „There were days and weeks and months and finally years. […] Weeks with a man. Weeks without one.

Always searching, always hoping: A man to give me everything – Security, and my

dreams. …

Days without a job. Nights huddled in an icy bedroom. Waiting, hopefully, to be

taken out to a warm, filling dinner. … It wasn’t easy to make a grade. …. Simple to find a job, but hard to hold it. …

So many girls like herself: Helped, helped ladies. …

Twenty-­three. Twenty-­four, Twenty-­five. Twenty-­six. Twenty-­seven. Twenty-­eight.

Exercises. Massage. Girdles to span full hips. Care in choosing diet. No sweets. Twenty-­ eight. … Almost thirty, and getting nowhere. … God, God help me! …

Letters sent home. Cheerful letters to Sully. Lies. Getting along beautifully.“ (­Pinchot

1932, 218 f.)

Die bei Pinchot dargestellten Tendenzen der Anonymisierung und Vereinzelung der Warenhausangestellten sowohl im beruf­lichen wie im privaten Bereich las­ sen einen weiteren Aspekt der an das Warenhaus geknüpften Verlusterzählung erkennen, ­welche die biolo­gische Semantik eines vorgesellschaft­lichen Zustan­ des sowie die technizistische Maschinen- bzw. Nummernmetaphorik um eine soziolo­gische Dimension erweitert. In Kracauers berühmter These von der „geis­ tigen Obdachlosigkeit“ der modernen Angestellten heißt es: „Die Masse der Angestellten unterscheidet sich vom Arbeiter-­Proletariat darin, daß sie geistig obdachlos ist. Zu den Genossen kann sie vorläufig nicht hinfinden, und das

Haus der bürger­lichen Begriffe und Gefühle, das sie bewohnt hat, ist eingestürzt […]. Sie lebt gegenwärtig ohne eine Lehre, zu der sie aufblicken, ohne ein Ziel, das sie erfragen könnte.“ (Kracauer 1971, 91)

Verlusterzählungen

4.  Das disziplinäre Regime Die geschilderten Kontroll- und Steuerungsmechanismen der modernen Waren­ haus­organisa­tion beschränken sich allerdings nicht nur auf die statistische Über­ wachung und Steuerung der Arbeitsleistung, sondern betreffen im Rahmen der normativen Metastrukturen des Warenhauses nicht weniger auch das Verhalten, die Kleidung und das Aussehen der Angestellten. Für die Akteursebene bedeutet dies ein in hohem Maße disziplinäres Regime, das die Arbeit im Warenhaus umfas­ send zu regulieren sucht. Verstöße gegen die Verhaltens- und Verfahrensregeln werden mit Geldstrafen (bei kleineren „Vergehen“ wie Zuspätkommen) oder mit Entlassung (bei größeren „Vergehen“ wie unangemessenem Verhalten gegenüber Kunden) geahndet (vgl. Colze 1908, 39; Timoschenko 2005, 104).29 Verlangt wird überdies widerspruchsloser Gehorsam gegenüber den in der Hierarchie höherge­ stellten Angestellten. Im Unterschied zur statistischen Leistungskontrolle fungie­ ren die Kontrollmechanismen im disziplinären Regime des Warenhauses analog zur modernen Disziplinierung des Körpers (vgl. Foucault 1976, 192 ff., 251 ff.).30 Die Vorschriften, die den Kontroll- und Steuerungsmechanismen zugrunde liegen, werden in detaillierten Arbeitsordnungen festgehalten.31 Nur so sei eine 29 Bei jüngeren Mitarbeitern gibt es noch die Praxis körper­licher Züchtigung: „Offenbar war es verbreitet, zumindest jugend­liche Verkäuferinnen durch körper­liche Strafen zu diszi­ plinieren, was bei jungen Männern nicht ohne Weiteres gewagt wurde.“ (Timoschenko 2005, 62) 30 In Beschreibungen des disziplinären Regimes im Warenhaus findet sich oft eine militä­ rische Semantik, und zwar nicht nur, weil moderne Disziplin ein Phänomen des Militä­ rischen ist, sondern weil Disziplin ein hierarchisches Ordnungsmuster impliziert, das zur Steuerung der Angestellten im Warenhaus eingesetzt werden kann. Schon bei Zola wird in Bezug auf die „robe de soie réglementaire“, ­welche die Verkäuferinnen der einzelnen Rayons zu tragen haben, von Uniformen gesprochen (vgl. Zola 1964, 440, 472; vgl. Göhre 1907, 79). Die Rayonchefin wird als Generalin bezeichnet, der man unbedingt zu gehor­ chen habe (vgl. Zola 1964, 475, 477). In den Vorstudien zu seinem Roman bezeichnet Zola die Inspektoren des Bon Marché als eine Art Polizei: „Il y a encore trente inspecteurs. Ils surveillent dans le magasin, ont droit de réprimande, sont la police en un mot.“ (Zola 1987, 156; vgl. die Figur des Inspektors Jouve in Zolas Roman) Im Pariser Warenhaus Louvre haben diese Inspektoren, so Zola weiter, ausdrück­lich militärische Ränge (vgl. Zola 1987, 179; Nord 1986, 63). Noch dezidierter heißt es bei Adams in seiner Darstellung amerika­ nischer Warenhäuser: „Under the floor-­walkers as captains, and the executive officers as generals, with the firm as comander-­in-­chief the great army of salespeople goes through its daily drill.“ (Adams 1897, 15; vgl. Lancaster 1995, 129) 31 Eine vollständige Arbeitsordnung des KaDeWes findet sich in Colze 1908, 35 ff. abgedruckt, Auszüge aus einer anderen eines ungenannt bleibenden Warenhauses in Hirsch 1910, 66 ff.

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„eiserne Zucht und strenge Disziplin“ in Bezug auf die Warenhausangestellten durchsetzbar, denn mit „sentimentaler Rücksichtnahme und weich­licher Nach­ giebigkeit kann man nicht Tausende von Angestellten dirigieren.“ (Colze 1908, 34)32 Die permanente Kontrolle der Disziplin durch Inspektoren bzw. „floor­ walkers“, Rayon- und Abteilungsleiter verstärkt die durch das statistische Dis­ positiv erzeugte Verunsicherung. In Zugsmiths A Time to Remember heißt es: „Reality was dread of the Sec­tion Manager, the Training Supervisor, the Buyer, the Floor Supervisor; it was also fourteen dollars and fifty cents a week. The romance of being a

wage-­earner here was the romance of insecurity, of seeing the other clerks compete with one another to gain bonuses for exceeding department quotas, was knowing that she

was spied upon by store detectives, superiors, even by a few of her fellow-­clerks for acts she might some day nervously commit.“ (Zugsmith 1937, 55; vgl. Köhrer 1909, 78 f.)33

Disziplin wird „zur zweiten Natur“ der Warenhausangestellten, so dass sich ihr, „wenigstens während der Geschäftsstunden, auch die zügelloseren Elemente des Personals unterwarfen“ (Georgy 1923, 115). Ein weiterer Effekt des disziplinären Regimes ist die starke Hierarchisierung der einzelnen Arbeitsbereiche (vgl. Hartmann 2010, 196 ff.). Diese durch ­Diszi­plin etablierten Hierarchien sind keine auf Status beruhenden Differenzierungen wie etwa im früheren Einzelhandel ­zwischen Prinzipal und Gehilfe, sondern ­solche, die funk­tional sind, so dass die einzelnen Akteure problemlos ausgetauscht

Ein Regelkatalog des amerikanischen Warenhauses Miller & Rhoads für das korrekte Verhalten während des Verkaufs seitens der Angestellten ist abgedruckt in: Hendrickson 1979, 332 f. Zur disziplinären Ordnung im Pariser Bon Marché vgl. Miller 1981, 95 ff. 32 Vgl. Göhre 1907, 78 f.; Lux 1910, 33 ff.; Kracauer 1971, 38 sowie in Bezug auf Literatur Köhrer 1909, 58 ff.; zur vergleichbaren amerikanischen Situa­tion vgl. Benson 1986, 231 ff. 33 In Böhmes Roman heißt es, ebenfalls für die Angestellten parteinehmend: „Aber wie hier das Publikum mit den Mädchen umsprang, das ging doch schon manchmal über die Hutschnur. Die Verkäuferinnen zitterten bei der bloßen Androhung einer Beschwerde und ließen sich alles gefallen. Denn bei einer Beschwerdeführung bekam die Kundschaft prinzipiell immer recht, und eine wiederholte Beschwerde aus dem Publikum berechtigte die Firma zur sofortigen Entlassung der Betroffenen. Ja, selbst wenn erwiesenermaßen der Beschwerdeführende im Unrecht war, stand die Sache nicht günstiger für die Angestellte. Man nahm dann eben an, daß sie nicht die erforder­liche Diplomatie und Geschick­lichkeit im Verkehr mit der Kundschaft besitze und sich folg­lich nicht zur Verkäuferin qualifiziere.“ (Böhme 1911, 203)

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werden können. Was diese Hierarchien stabilisiert, ist die disziplinäre Struktur, nicht der einzelne Akteur, der sie durchsetzt. Dies ist auch der Grund, warum das disziplinäre Regime des Warenhauses nicht im Widerspruch zum internen Konkurrenzprinzip steht. Das disziplinäre Regime bildet vielmehr den Rahmen, in dem der „Kampf“ um die beste Provision überhaupt mög­lich wird, ohne dass Betriebsabläufe gestört werden.

5.  Verschiebungen und Umkehrungen Vor ­diesem Hintergrund erscheint Sombarts anfäng­liche Gegenüberstellung des „alten“ Einzelhandels mit den „neuen“ Warenhäusern kaum übertrieben. Das Konkurrenzprinzip, das statistische Dispositiv sowie das straffe disziplinäre Regime führen im modernen Warenhaus augenschein­lich zu Arbeitsbedin­ gungen, die weit schlechter sind als die, die während der „guten, alten Zeit“ im mittel­ständischen Einzelhandel geherrscht haben. Schaut man sich jedoch die historischen Quellen über den „alten“ Einzelhandel an, wird schnell klar, dass es nie eine „gute alte Zeit“ gegeben hat. Im Gegenteil: Wie zahlreiche Quellen belegen,34 waren die Arbeitsbedingungen dort noch weit ungünstiger als die, die von den Warenhäusern überliefert sind. So schildert z. B. eine Verkäuferin aus einem kleinen Porzellanladen ihren Arbeitsalltag: Die Arbeitszeit habe täg­lich von 8 Uhr bis 21:30 Uhr, teilweise bis 24 Uhr gedauert. Sechsunddreißig Jahre lang habe sie im Geschäft essen müssen, denn Tischzeit sei nicht gewährt wor­ den. Das Essen wurde „in aller Eile heruntergeschlungen, erstens damit man nicht von Kundschaft gestört oder gar ganz daran verhindert wurde, und zweitens, weil es in den Augen des Chefs

als ein Verbrechen galt, mehr als zehn Minuten darauf zu verwenden. […] Nie durften

wir sitzen, auch an der Kasse nicht und auch wenn der Laden ganz leer war.“ (Lebens­ bilder 1895, 5)

Ein Ohrenleiden wird chronisch, weil sie keine Zeit hat, zum Arzt gehen. Erstmals Urlaub erhält sie nach siebenundzwanzig Jahren: acht Tage; im Laufe der nächsten elf Jahre gibt es noch zweimal Urlaub: acht und drei Tage. Mit dreiundfünfzig 34 Vgl. Adler 1891; Baum 1906, 120 ff.; Löwenstein 1937; vgl. Nienhaus 1981; Timoschenko 2005, 51 ff.

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Jahren wird sie für zu alt gehalten und soll entlassen werden, nachdem sie sieben­ unddreißig Jahre im Geschäft gearbeitet hat. Der Chef bietet ihr an, mit einem um 20 % verminderten Gehalt bleiben zu können: „Heute will es mir fast als eine Schande erscheinen, daß ich mit ­diesem Leben zufrie­ den war. […] Man sagt, es sollen Gesetze kommen, daß kein Chef mehr seine Leute

so lange beschäftigen dürfte. Wenn ich das doch noch erlebe! Das Stehen, das Stehen, das ist ja der Anfang von so viel Elend, und dann das verstohlene Essen immer, wobei

man sich nicht traut, den Bissen zu kauen, und die ganze Behandlung, als ob man nicht

auch von Fleisch und Blut wäre […]. Und wenn es mir selber auch nichts mehr nützt, es wird mein schönster Augenblick sein, wenn ich es erlebe, daß es die Verkäuferinnen

besser haben, durch Gesetz besser haben müssen, als ich es hatte.“ (Lebensbilder 1895, 6)

Auch wenn außer Frage steht, dass der Bericht der Verkäuferin rhetorisch und narrativ aufbereitet ist,35 stellt der geschilderte Arbeitsalltag keineswegs einen ­extremen Einzelfall dar, sondern gehört zur Regel. Laut Georg Adler sind bei Kaufmannsgehilfinnen und -gehilfen Arbeitszeiten von achtzig bis neunzig Stun­ den pro Woche, also täg­lich vierzehn Stunden und mehr üb­lich (vgl. Adler 1891, 6; vgl. Nienhaus 1982, 133 ff.). Für die Vereinigten Staaten berichtet H ­ endrickson (1979, 327) sogar von Arbeitszeiten von bis zu einhundertzwölf Stunden pro Woche.36 Es nimmt nicht wunder, wenn es über eine andere Verkäuferin in den Mitteilungen für weib­liche Angestellte vom 1. 8. 1898 heißt: „Sie machte sich gar keine Gedanken darüber, daß man noch andere Interessen haben konnte als das Geschäft.“ (zit. nach Nienhaus 1981, 325).37 Bis zum Ladenschlussgesetz vom 30. 6. 1900 sind im Deutschen Reich die Öffnungszeiten für „offene Verkaufs­ stellen“, sprich Einzelhandelsgeschäfte, nicht festgelegt, was bedeutet, „je kleiner das Geschäft, desto ungeregelter war die Ladenzeit“ (Timoschenko 2005, 52; vgl. Baum 1906, 125 ff.) und sind es damit auch die Arbeitszeiten der Angestellten. Geöffnet haben die Geschäfte meist sieben Tage in der Woche, auch wenn seit

35 Der Bericht erschien am 5. 1. 1895 in der von der Deutschen Gesellschaft für Ethische Kul­ tur herausgegebenen Wochenschrift Ethische Kultur. 36 Ähn­liches gilt auch für Großbritannien, wie Adler (1891, 6) berichtet (vgl. Lancaster 1995, 135). Zur franzö­sischen Situa­tion vgl. Miller 1981, 94. 37 Zur „spär­lichen“ Freizeit des Verkaufspersonals im damaligen Einzelhandel vgl. Nienhaus 1981, 328.

Verlusterzählungen

1891 eine „begrenzte Sonntagsruhe im Handelsgewerbe“ (Spiekermann 1999a, 358) eingeführt wird. Kontrolliert wird die Einhaltung dieser Vorschrift allerdings kaum (vgl. Baum 1906, 125 ff.). Nach Ladenschluss muss das Verkaufspersonal Aufräum- und Putzarbeiten erledigen sowie den Kassenabschluss machen. Aus dieser enormen Arbeitsbelas­ tung ergeben sich typische Berufskrankheiten wie Übermüdung, Nervosität und Bein- und Magenleiden.38 Im mittelständischen Einzelhandel gibt es überdies vielfach keine Arbeitsverträge, d. h. die Angestellten können jederzeit entlassen werden (vgl. Löwenstein 1937, 15). Aufstiegsmög­lichkeiten haben, wenn überhaupt, nur Männer (vgl. Timoschenko 2005, 69).39 Die Behandlung der Angestellten lässt oft zu wünschen übrig. Viele Gehilfinnen und Gehilfen wohnen im Haus des Brotgebers und werden dort wie Dienstboten behandelt (vgl. Baum 1906, 144 ff.; Lancaster 1995, 126 ff.).40 Die historischen Quellen über die Arbeitsbedingungen im mittelständischen Einzelhandel zeigen nicht nur die Konstruiertheit der Gegenüberstellung von „altem“ Einzelhandel und „neuen“ Warenhäusern, sondern zeigen die an das Warenhaus geknüpfte Verlusterzählung als fik­tionales Produkt einer die fak­ tischen Sachverhalte in hohem Maße verzerrenden kulturkritischen Rhetorik. Die Metaphorisierung der Arbeitsbedingungen im Warenhaus als barbarischer Zustand oder entseelte Maschinenwelt dient einerseits der beglaubigenden Ver­ stärkung der Verlusterzählung, w ­ elche die „gute, alte Zeit“ des früheren Einzel­ handels als umso erstrebenswerter hinstellt. Andererseits erweisen sich die mit 38 Vgl. Timoschenko 2005, 57 ff.; Löwenstein 1937, 29 u. 70, dort Tabelle; Kern 1910, 29. Sogar in literarischen Darstellungen wird das ununterbrochene Stehen im Warenhaus und die damit einhergehenden Ermüdungserscheinungen Thema. Vgl. Hughes 1911, 61 f.; ­Zugsmith 1937, 55 f. S. auch Böhme 1911, 128: „[D]iese nervöse Unrast und Zerfahrenheit findet man mehr oder weniger bei allen Warenhausmädchen. […] [D]as Warenhaus in seiner gegenwärti­ gen Form ist ein Hexenkessel aller mög­lichen Gefährnisse [sic] und Unzuträg­lichkeiten für seine Angestellten.“ Zu den deutschen Diskussionen um 1900, Sitzgelegenheiten in „offenen Verkaufsstellen“ vorzuschreiben, vgl. Spiekermann 1999a, 591. 39 Zu den mit den Verhältnissen im Deutschen Reich vergleichbaren eng­lischen Bedingun­ gen vgl. Lancaster 1995, 141. Zu den „Karrieren“ von Verkäuferinnen vgl. Kapitel 6.2. 40 Literarische Darstellungen dieser Verhältnisse in „offenen Verkaufsstellen“ finden sich in Balzacs Erzählung La Maison du Chat-­qui-­pelote (1829) und in dem Kapitel „The Emporium“ in H. ­G. Wells Kipps. The Story of a Simple Soul (1905). Ähn­lich, wenn auch durch die andere kaufmännische Branche in manchen Aspekten verschieden, sind die Schilderun­ gen der Arbeitsbedingungen in Gustav Freytags Soll und Haben (1855) und Thomas Manns ­Buddenbrooks (1901).

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Figuren der Limita­tion

der „guten, alten Zeit“ verbundenen Attribute „familiär“, „persön­lich“, „beständig“ usw. selbst als Metaphern im Rahmen einer Fik­tion, die in Form einer rück­ wärtsgewandten Utopie Menschen und Wirtschaft als von den zeitgenös­sischen Modernisierungsprozessen und -erfahrungen noch unberührt und unbeschädigt imaginiert. Die Fallhöhe ­zwischen der „guten, alten Zeit“ und der Gegenwart wird dabei mit einem generellen kulturellen Verfall identifiziert. Beide Fik­tio­ nen, die der „guten, alten Zeit“ und die des modernen „Verfalls“, sind in einer rekursiven Schleife aufeinander bezogen: Je besser die „gute, alte Zeit“ war, desto schlechter ist die aktuelle. In diese rekursive Schleife schreibt sich schließ­lich eine zweite, zeitgenös­sische Narra­tion ein, ­welche die ele­gische Verlusterzählung der Warenhausgegner bzw. Modernekritiker durch eine optimistische Gewinnerzählung zu ersetzen ver­ sucht.41 Im Rahmen dieser von den Warenhauskonzernen bzw. deren Verbänden verbreiteten Narra­tion (vgl. etwa Wernicke 1928, 36 ff.) wird auf die verbesserten Arbeitszeiten in Warenhäusern, auf die verbesserten sozialen Bedingungen (Sonn­ tagsruhe, Pensionskassen, regelmäßiger Urlaub) sowie auf die insgesamt höhere Entlohnung hingewiesen.42 Alles dies mag ebenso richtig und historisch verbürgt sein wie die teilweise miserablen Arbeitsbedingungen im mittelständischen Ein­ zelhandel und in manchen Warenhäusern. Aus diskurstheoretischer Perspektive kehrt diese Gewinnerzählung die Verlusterzählung der Warenhausgegner jedoch ledig­lich um, während das grundlegende Erzählschema erhalten bleibt.43 Die Retrofik­tion basiert hier auf der Vorstellung einer „schlechten, alten Zeit“, die durch die gegenwärtigen positiven „Fortschritte“ überholt wird. Die Gewinnerzählung reduziert die Komplexität der historischen Wirk­ lich­keit ebenfalls auf eine schlichte Polarität und bietet, nicht anders als die 41 „Eine Geschichte entkräften heißt, ersatzweise eine andere Geschichte erzählen.“ (Koschorke 2012, 253) Vgl. dazu die Ausführungen im Schlusskapitel unter Punkt 2. 42 Vgl. Jäh 1900, 737 sowie insbesondere die beiden Schriften des Halberstädter Waren­ hausbesitzers Willy Cohn: Ferienheime für die weib­lichen Angestellten. Ein Aufruf an meine Berufskollegen (1910) und Verkäuferinnen. Gedanken und Vorschläge eines Praktikers (1911). Zu den verbesserten Arbeitsbedingungen bei Harrods vgl. Sanders 2006, 62, bei Bon Marché vgl. Miller 1981, 89 ff., bei Tietz vgl. Busch-­Petersen 2004, 20 f., Timoschenko 2005, 107 f. sowie bei den Filene Brothers vgl. Harris 1979, 10 f.; Hendrickson 1979, 333 f. 43 Dabei demonstriert schon Zolas Au Bonheur des Dames, dass diese beiden Narra­tionen reziprok aufeinander bezogen sind, so dass es im optimistischen Ende des Romans mög­ lich wird, die anfäng­liche Verlusterzählung in eine Gewinnerzählung umzuwandeln. Eine Analyse des Endes von Zolas Roman findet sich in Kapitel 11.1.

Verlusterzählungen

Verlusterzählung, ein simplifizierendes Deutungsschema der Modernisierungs­ prozesse des ausgehenden 19. Jahrhunderts an. Der Paternalismus wird, wie das nächste Kapitel zeigen wird, noch eine weitere Variante dieser Gewinnerzäh­ lung formulieren, innerhalb derer der vermeint­liche Gegensatz ­zwischen „altem“ Einzelhandel und „neuen“ Warenhäusern in eine Synthese überführt wird. Auf diese Weise wird es mög­lich, das ele­gische Gesamtnarrativ der Modernisierung in eine gegenwartsbezogene Utopie aufzulösen.

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Kapitel 11

Familienökonomie und Globalisierung

1.  Paternalismus und Modernisierung In Zolas Au Bonheur de Dames sind Zählen und Erzählen fest miteinander ver­ knüpft. Die Narra­tion über den wirtschaft­lichen Aufstieg des Warenhauses verdichtet sich an drei entscheidenden Stellen des Romans in einer Zahl. Wenn am Ende der Sonderverkaufstage die Tageseinnahme bilanziert und bekannt gegeben wird, wird alles, was Zola zuvor in einem metaphorischen Feuerwerk sprach­lich entfaltet hat, in einen einfachen Betrag überführt (vgl. Zola 1964, 501, 645, 800).1 Dieser verdeut­licht nicht nur die zentrale Bedeutung des Geldes in Zolas Roman. Die Narra­tion selbst schnurrt an diesen drei Scharnierstellen des Romans in einem Zahlzeichen zusammen, das metonymisch für die Erfolgs­ geschichte Mourets steht.2 Was anfangs Jubel bei den Angestellten auslöst, als die erste Tageseinnahme eines Sonderverkaufstages bekannt gegeben wird (vgl. Zola 1964, 501), wird jedoch schon bei der zweiten Bekanntgabe von gegenläu­ figen Ereignissen überschattet: einerseits von der abend­lichen Erschöpfung des Personals nach dem Ende des Sonderverkaufs, andererseits von der unerfüll­ ten Liebe Mourets zu Denise. Wenn im Schlusskapitel das heterogene Set der ­Themen Arbeit, Liebe und Ökonomie erneut zusammengeführt wird,3 ereignet sich ein signifikanter Bruch in der Erzähllogik des Romans. Der ökonomische Primat wird durch einen emotiv-­intimen substituiert: Mouret macht Denise einen Heiratsantrag, da ihr mit Geld bzw. Sozialprestige nicht „beizukommen“ ist (vgl. Zola 1964, 646). Die Abwertung des ökonomischen Primats impliziert bei Zola keineswegs dessen generelle Zurückweisung. Am Ende von Zolas Roman heißt die Alter­ native nicht Geld oder Liebe, sondern beides wird in eine Synthese überführt. Je mehr emotive „Macht“ Denise über Mouret gewinnt, umso mehr können die 1 Die Einnahmen steigen von 80742,10 Francs über 587210,30 Francs bis auf 1000247,95 Francs. 2 An einer Stelle heißt es sogar, dass Mouret es gewohnt sei „à chiffrer ses tendresses“ (Zola 1964, 454). 3 Vgl. die Strukturanalyse zu Zolas Roman in Kapitel 3.2.

Familienökonomie und Globalisierung

entfesselten Kräfte des Geldes in Bezug auf die vom Konkurrenzprinzip und von einer Dissipa­tionsökonomie (vgl. Priddat 2002) bestimmten Arbeits- und Sozial­verhältnisse durch eine von Denise initiierte Angestelltenfürsorge ent­ schärft werden.4 Was im ökonomischen Erfolg Mourets zunächst als ­soziale und mora­lische Krise erscheint, kann auf diese Weise in eine fortschrittsoptimis­tische Gewinnerzählung transformiert werden.5 Im Heiratsantrag vollzieht Mouret symbo­lisch nach, was Denise praktisch zu verwirk­lichen sucht. Mouret hält nicht nur um ihre Hand an, sondern verpflichtet sich zugleich, die Verantwortung für ihre Brüder zu übernehmen (vgl. Zola 1964, 802). So gipfelt der Roman in einem Märchenmotiv: Aus einem skrupellosen, einzig auf seinen Erfolg bedach­ ten kapitalistischen Unternehmer wird durch die versöhnende, alle Gegensätze überwindende „Kraft der Liebe“ ein verantwortungsvoll handelnder pater familias. Was Zola am Ende seines Roman schildert, rekurriert auf eine Entwicklung, innerhalb derer Warenhäuser seit den 1870er Jahren versuchen, ihre deperso­ nalisierte und bürokratisierte Organisa­tion zu repersonalisieren.6 Richtung­ weisend ist das Pariser Warenhaus Bon Marché, das sich früh als grande famille inszeniert (vgl. Miller 1981, 111, 224 f.) und das Zola im Zuge der Vorbereitung seines Romans intensiv studiert. Neben verbesserten Arbeitsbedingungen wer­ den Hilfs- und Rentenfonds gegründet, Unterrichts- und Freizeitprogramme 4 Die zentrale Stelle in Zolas Roman lautet: „[E]lle [Denise] plaidait la cause des rouages de la machine, non par des raisons sentimentales, mais par des arguments tirés de l’intérêt même des patrons. Quand on veut une machine solide, on emploie du bon fer; si le fer casse ou si on le casse, il y a un arrêt de travail, des frais répétés de mise en train, toute une déperdi­tion de force. Parfois, elle s’animait, elle voyait l’immense bazar idéal, le phalanstère du négoce, où chacun aurait sa part exacte des bénéfices, selon ses mérites, avec la certitude du lendemain, assurée à l’aide d’un contrat. […] et il [Mouret] l’écoutait en la plaisantant, le sort des vendeurs était amélioré peu à peu, on remplaçait les renvois en masse par un système de congés accordés aux mortes-­saisons, enfin on allait créer une caisse de secours mutuels, qui mettrait les employés à l’abri des chômages forcés, et leur assurerait une retraite. C’était l’embryon des vastes sociétés ouvrières du vingtième siècle.“ (Zola 1964, 728) 5 Man könnte einwenden, dass die schlussend­liche Gewinnerzählung mit dem Bankrott der umliegenden Kleinhändler erkauft sei (vgl. Gumbrecht 1978, 35). Das ist zweifellos richtig, und dennoch erscheint mir diese Interpreta­tion zu sehr von einem simplen Antagonismus von Warenhaus und Kleinhandel her gedacht. Mit Denise etabliert Zola ausdrück­lich ein vermittelndes Element z­ wischen beiden Posi­tionen (s. Anm. 4), so dass es mög­lich wird, den Antagonismus zu überwinden und aus der Fortschrittserzählung des Romans auch eine Gewinnerzählung zu machen. 6 Zur apersonalen Organisa­tion von Warenhäusern vgl. Kapitel 1.2.

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Figuren der Limita­tion

(Sprach- und Fechtkurse, ein Firmenorchester) sowie gemeinsame Firmenrituale (Betriebsausflüge, Weihnachtsfeiern usw.) geschaffen.7 Von der Öffent­lichkeit wird der Gründer des Bon Marché, Aristide Boucicaut, bald als Philanthrop und Wohltäter gefeiert und gewinnt Preise für die sozialen Einrichtungen seines Warenhauses (vgl. Miller 1981, 224).8 Die paternalistische Firmenideologie beinhaltet jedoch mehr als ­soziale Ver­ besserungen für die Angestellten oder eine Stärkung der Corporate Identity. Sie liefert zugleich eine wirkungsmächtige Deutung der Modernisierungsprozesse der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, indem sie den Kapitalismus in einem nostal­gischen Rekurs an den vermeint­lich homogenen sozialen Körper vormo­ derner „familiärer“ Verhältnisse zurückbindet. Damit stellt der Paternalismus sich nicht nur in einen dezidierten Gegensatz zum Laissez-­faire-­Kapitalismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sondern rekurriert gleichfalls auf die Figur der „guten alten Zeit“.9 Hierbei ähnelt die paternalistische Narra­tion in auffälliger Weise der von der Mittelstandsagita­tion propagierten Erzählung über den Untergang des Einzelhandels durch die Warenhäuser. Die paternalistische Narra­tion ersetzt jedoch die diachrone Perspektive durch eine synchrone, um in einem analeptischen Rekurs die „gute alte Zeit“ auf die Gegenwart projizieren zu können. Auf diese Weise vermag der Paternalismus den homogenen sozia­ len Körper vormoderner Verhältnisse nicht nur narrativ, sondern in Form einer Sozialfik­tion  10 institu­tionell einzuholen. Was im Rahmen der Mittelstandsagita­ tion Verlusterzählung ist und bleiben muss, da sich die Zeit nicht zurückdrehen 7 Vgl. Miller 1981, 89 ff., 100 ff., 111 f., 121 ff.; Nord 1986, 63 ff. 8 Andere Warenhäuser in Europa und Amerika folgen Bon Marché: Harrods in England, Oscar Tietz und Willy Cohn im Deutschen Reich oder die Filene Brothers in den USA. Einzelne Warenhäuser wie Printemps machen in ihren Katalogen sogar Werbung mit ihren sozialen Einrichtungen. Vgl. Deslandres 1911. 9 Zur narrativen Figur der „guten alten Zeit“ vgl. die Ausführungen in Kapitel 10.1 und 10.5. 10 „Im literarischen Sinn meint ‚Fik­tion‘ die Erfindung einer zweiten, alternativen Welt mit freier Beziehung auf die gegebene Wirk­lichkeit […]. Ganz anders ist die ontolo­gische Beschaffenheit von Sozialfik­tionen. Darunter fallen all jene konstruierten sozialen Ein­ heiten und Akteure [etwa der Kaufmann als „Familienvater“], über die Gesellschaften sich in ihrer jeweiligen Gegenwart Form zu geben versuchen. Das sind ‚vorgestellte Gemein­ schaften‘ (imagined communities) aller Größenordnungen; Institu­tionen und Machtkör­ per, die allein durch das Faktum ihrer kollektiven Anerkennung existieren; unpersön­liche Rechtssubjekte, die ihr Dasein mitunter virtuosen Als-­ob-­Konstruk­tionen verdanken; und schließ­lich die Grundelemente ökonomischen Handelns, in denen Konven­tionen sich in Rechengrößen verwandeln: Geld und Preise.“ (Koschorke 2012, 229)

Familienökonomie und Globalisierung

lässt, wird im Rahmen der paternalistischen Firmenideologie zu einer Gewinn­ erzählung umgedeutet: Moderne („kalte“) Funk­tionalitäten werden über die paternalistische Indienstnahme der Familienidee als („warme“) genealo­gische Zusammenhänge semantisiert. Die Klage der kleinen Einzelhändler über die Warenhäuser wird vor d ­ iesem Hintergrund gegenstandslos, denn die „gute alte Zeit“ wird vom Paternalismus in der Gegenwart aktualisiert. Die Modernisie­ rung selbst kann familiär erscheinen.11

2.  Erbschaft und Kredit Der Konflikt z­ wischen Tradi­tion und Modernisierung wird in Zolas Roman noch auf einer weiteren Ebene gespiegelt. Nicht nur bildet Mourets „tote Frau […] in Zolas Roman den buchstäb­lichen Untergrund des florierenden Unternehmens“ (Schössler 2009, 285). Sie ist es auch, die einem weitgehend mittellosen jungen Mann 12 überhaupt die Mög­lichkeit verschafft, im großen Maßstab kaufmän­ nisch tätig zu sein (vgl. Zola 1964, 408).13 Entscheidend ist, dass in Zolas Roman das Erbe der toten Frau zwar das Fundament von Mourets Erfolg ist, dennoch aber bei Weitem nicht ausreicht, um dessen ehrgeizige Pläne zu verwirk­lichen. Mouret benötigt Kredit, und schon früh im Roman fädelt er ein Treffen mit dem Pariser Bankier Baron Hartmann ein.14 11 Die sozialfürsorg­lichen Einrichtungen der Warenhäuser sind im Übrigen keineswegs philan­thropischer Selbstzweck, sondern dienen dem Erhalt und der effizienten Nutzung der Ressource Arbeitskraft. Im Fall von Bon Marché ist die paternalistische Reorganisa­ tion der Firma eine unmittelbare Reak­tion auf einen Streik. In Frankreich kämpfen schon seit Mitte der 1860er Jahren die Chambre syndicale des employés de commerce für bessere Arbeitsbedingungen in den Magasins de Nouveauté. In ­diesem Zuge kommt es 1869 in Paris zu einem dreimonatigen Streik. Auch wenn dieser insgesamt nicht erfolgreich ist und viele Warenhausangestellte ihren Arbeitsplatz verlieren (vgl. Office du travail 1904, 614 ff.), führt er bei Bon Marché dazu, dass eine Angestelltenfürsorge eingerichtet wird. Vgl. Miller 1981, 148. 12 Vgl. Zolas Roman Pot-­Bouille (1882). 13 Zola rekurriert mit dieser Fik­tion auf die „Geschichte“ eines Teils der Gründer der Pariser Warenhäuser, w ­ elche die üppige Mitgift ihrer Ehefrauen in ihre Geschäftsgründungen investierten (vgl. Nord 1986, 81; Perrot 1994, 58). 14 Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist das Warenhaus eine kreditbasierte Handelsform, d. h. ohne Kredite wäre die rasche Expansion der Warenhäuser in den urba­ nen Zentren Europas und Amerikas nicht denkbar gewesen (vgl. Spiekermann 1999a, 378). Schon 1884 bemerkt Clara Schreiber in ­diesem Sinne: „Paris zählt fünf bis sechs Bazare,

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Figuren der Limita­tion

Ein Kredit ermög­licht nicht nur das Wirtschaften über das eigene Kapital hin­ aus, sondern bezieht die Ressource Zeit in die ökonomische Kalkula­tion mit ein: „Formal gesehen, und von jeder mora­lischen Implika­tion befreit, besteht Kredit vorerst in nichts anderem als in einer Gabe, deren Gegengabe aufgeschoben ist.“ (Heidenreich/Heidenreich 2008, 129). Was Schössler für die Kreditgeber feststellt, dass das Kreditsystem „Geld durch Zinsen, genauer: durch Temporalisierung [vermehrt]. Nicht Arbeit als substanzielle Größe schöpft Wert, sondern Vertrag und Zeit“ (Schössler 2009, 103 f.; vgl. Stäheli 2007, 270 ff.), trifft nicht weniger auf die Schuldner zu, sofern der Kredit nicht für Konsum verbraucht,15 sondern in zukunftsträchtige Projekte investiert wird.16 Im Kredit werden „ökonomische mit emo­tionalen Haltungen wie Vertrauen und Glauben“ (Schössler 2009, 106) überblendet. Schon im Begriff selbst zeichnet sich dies ab: Creditum ist das auf Treu und Glauben Übergebene (vgl. Schirmer 1911, 112). In der Szene, in der Mouret erstmals Baron Hartmann begegnet (vgl. Zola 1964, 454 ff.), gilt es daher für ihn, glaubwürdig seine Zukunftspläne zu entwickeln, um das Vertrauen des Bankiers zu erwerben.17 Was Baron Hartmann Mouret anfangs vorwirft, nachdem er sich dessen Erweiterungspläne angehört hat, dass diese kaum mehr als die Phantasien eines

die, glänzend fundirt, mit riesigen Mitteln das Geschäft monopolisiren. […] Das Capital, mit welchem die Bazare arbeiten, ist zum Theil durch Actien aufgebracht. In einem der Bazare sind selbst Geschäftsangehörige des Hauses mit drei Millionen Einlagen bethei­ ligt. Ein anderer Bazar arbeitet mit dem Gelde geist­licher Congrega­tionen.“ (Schreiber 1884, 217 f.) Allgemein gilt, dass im ausgehenden 19. Jahrhundert „das Kreditgeschäft zur zentralen Bedingung expansiver Transak­tionen und des erfolgreichen Wirtschaftens“ (Schössler 2009, 104) wird. 15 Vgl. die Ausführungen zu Madame Bovary in Kapitel 4.1. 16 Dabei weiß auch Mouret sehr gut, wie man durch Temporalisierung von Geld Wert schöp­ fen kann. Er erklärt Baron Hartmann: „Ce commerce était basé maintenant sur le renou­ vellement continu et rapide du capital, s’il s’agissait de faire passer en marchandises le plus de fois possible, dans la même année. Ainsi, cette année-­là, son capital, qui était seulement de cinq cent mille francs, venait de passer quatre fois et avait ainsi produit deux millions d’affaires. Une misère, d’ailleurs, qu’on décuplerait, car il se disait certain de faire plus tard reparaître le capital quinze et vingt fois, dans certains comptoirs.“ (Zola 1964, 458) Durch die Erhöhung des Kapitaldurchlaufs pro Jahr kann sich das Warenhaus über das Grund­ kapital hinaus gewissermaßen selbst Kredit geben, ohne sich etwas leihen zu müssen. 17 „Wer vertraut, schließt eine Art Pakt mit der Zukunft, der es ihm erlaubt, nicht auf alle eventuellen Gefahren oder drohenden Übervorteilungen vorbereitet sein zu müssen, was jedes Engagement, jede Investi­tion lähmen würde.“ (Koschorke 2012, 310)

Familienökonomie und Globalisierung

Dichters ­seien,18 erweist sich zum Schluss als ausschlaggebend dafür, dass sich der Bankier entschließt, Mouret einen Kredit zu gewähren. Er beobachtet, wie es M ­ ouret gelingt, die im Salon anwesenden Frauen innerhalb kürzester Zeit in seine rhetorische und erzählerische „Gewalt“ zu bringen (vgl. Zola 1964, 462 ff.). In d ­ iesem Moment versteht Baron Hartmann nicht nur, dass die Sphäre des Kon­ sums unmittelbar mit der Tätigkeit der Imagina­tion verbunden ist,19 dass also das dichterische „Talent“ Mourets manifeste ökonomische Effekte zeitigt. Indem er Mouret bei der imaginativen „Arbeit“ mit den Frauen sieht, gewinnt auch die ökonomische Zukunft des Warenhauses an realistischer Kontur. Was zunächst Misstrauen erzeugt hat, wird jetzt zur Basis des Vertrauens und damit des Kredits. Indem Mouret mit bzw. auf Kredit zu arbeiten beginnt, tritt er in der ökono­ mischen Sphäre „in den Raum der Konven­tionalität, Arbitrarität, Fik­tionalität und Temporalität“ (Schössler 2009, 106)20 ein. Dies korrespondiert nicht nur damit, dass Mouret im Roman beispielhaft für die Verabschiedung des heredi­ tären Dispositivs 21 des 19. Jahrhunderts steht, d. h. für eine zukunftsorientierte Offenheit jenseits genealo­gischer Zusammenhänge, und dies nicht zuletzt in dezidiertem Gegensatz zu Zolas grundlegendem Konzept einer negativen Verer­ bung als zentralem Bezugssystem des Rougon-­Macquart-­Zyklus (vgl. Gumbrecht 1978, 78).22 Es korrespondiert auch dazu, dass Mouret wie keine andere Figur in 18 Es heißt in Zolas Text: „Puis, malgré sa passion de l’activité [die von Baron Hartmann], qui lui faisait ouvrir sa bourse à tous les garçons d’intelligence et de courage, le coup de génie commercial de Mouret l’étonnait plus qu’il ne le séduisait. N’était-­ce pas une opéra­ tion fantaisiste et imprudente, ce magasin gigantesque? Ne risquait-­on pas une catastrophe certaine, à vouloir élargir ainsi hors de toute mesure le commerce des nouveautés? Enfin, il ne croyait pas, il refusait. / – Sans doute, l’idée peut séduire, disait-­il [Baron Hartmann]. Seulement, elle est d’un poète …“ (Zola 1964, 457) 19 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 4.2 f. 20 Schössler bezieht diese Formulierung auf den „Paradigmenwechsel in der wirt­schafts­wissen­ schaft­lichen Theoriebildung“ Anfang des 20. Jahrhunderts: „An die Stelle von objektiven Werttheorien – Wert entstehe beispielsweise durch Arbeit (Marx) – treten zu Beginn des 20. Jahrhunderts subjektive, die den persön­lichen Nutzen ins Zentrum stellen. Die Ver­ abschiedung von essentialistischen Substanztheorien lässt sich (auch aus zeichentheore­ tischer Sicht) als Eintritt in den Raum der Konven­tionalität, Arbitrarität, Fik­tionalität und Tempo­ralität beschreiben.“ (Schössler 2009, 106) Mir scheint jedoch, dass sich dies in Bezug auf die Erbschafts-­Kredit-­Frage ebenso gut schon auf Zolas Roman beziehen lässt. 21 Zum hereditären Dispositiv vgl. López-­Beltran 1994. 22 Eine in ­diesem Zusammenhang interessante Varia­tion des Themas Erbschaft und Kre­ dit bietet Vachells Watling’s for Worth (1925). Hier verliebt sich June, die Tochter des

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Figuren der Limita­tion

Zolas Roman die Auflösung sozialer Bindungen zugunsten funk­tionaler, d. h. schwach motivierter und zukunftsoffener Beziehungen forciert. Dies lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass er sich – sieht man von der paternalistischen Wende am Schluss ab – über weite Strecken des Romans ausdrück­lich einer fami­ liären Rekontextualisierung verweigert. Dass Mouret also mit bzw. auf Kredit arbeitet, statt sich mit dem ererbten Vermögen zufriedenzugeben, reicht tief in die im Roman dargestellte Sozialstruktur hinein und zeigt, wie sehr Mouret als Gegenfigur zu den Einzelhändlern in der Nähe des Warenhauses konzipiert ist. Deren ökonomisches Ziel lautet Bestandssicherung, Bewahrung der Tradi­tion sowie Fortsetzung der genealo­gischen Linie, innerhalb derer das Geschäft von einer Genera­tion an die nächste „vererbt“ wird.23 In Robert Saudeks Roman Dämon Berlin (um 1907) wird das System des Kre­ dits universell, d. h. zum Signum einer Epoche, in der nicht nur der ökonomi­ sche Bereich, sondern auch der ­soziale Raum von Konven­tionalität, Arbitrarität, Fik­tionalität und Temporalität bestimmt wird. Nur so wird es mög­lich, dass die männ­liche Hauptfigur, Hans Mühlbrecht, innerhalb kürzester Zeit von einem unbedeutenden Reklamefachmann zum Leiter eines Warenhauskonzerns auf­ steigen kann.24 Entscheidend für den Fortgang von Mühlbrechts Karriere ist, wie es ihm gelingt, an den Schaltstellen von Kapital (Banken), Spekula­tion (Börse) und Konsum (Warenhaus) nicht nur finanziellen, sondern symbo­lischen Kre­ dit, sprich Vertrauen zu gewinnen.25 Im Gegensatz zum Warenhausbesitzer ­Brüggemann, der aus einer „Kaufmannsfamilie“ stammt und „das Ideal eines tüchtigen Mannes verkörpert“ (Saudek 1907, 79), ist Mühlbrecht eine Figur ohne spezifische Herkunft, spezifische Eigenschaften oder ein spezifisches Können Warenhausbesitzers, in den jungen Adeligen Gerry. Im Roman geht es u. a. darum, wie und ob Standesgrenzen überwunden werden können, und zwar sowohl von der adeligen Seite aus, denn Gerrys Vater ist einer Heirat mit einer Bürger­lichen zunächst abgeneigt, als auch von der Seite von Junes Vater, der Adel (aus Tradi­tion und Herkunft) ablehnt und auf ein bürger­liches Leistungsethos setzt. Bevor er in die Heirat einwilligt, muss sich Gerry im Warenhaus beweisen. 23 Vgl. folgende Äußerung von Franz C. ­Huber: „Die Mehrzahl der Detaillisten setzt voraus, dass sie gleichsam ein naturgemässes und ererbtes Recht darauf hätten, wie bisher, so für alle Zeit ihr Geschäft auf kleinem Fusse zu betreiben.“ (Huber 1899, 20) Vgl. Kapitel 10.1. 24 Mühlbrecht setzt beim Aufbau d ­ ieses Konzerns modernste Methoden der Betriebsfüh­ rung, insbesondere die Statistik, ein. 25 Man vgl. hierzu insbesondere Kapitel 3 im ersten Teil des Romans, wo sich Mühlbrecht dem Bankier Bock vorstellt. Vgl. Saudek 1907, 60 ff.

Familienökonomie und Globalisierung

(vgl. Saudek 1907, 73, 83, 94). Dass Brüggemann dem in kaufmännischen Fra­ gen unerfahrenen Mühlbrecht sein Unternehmen anvertraut,26 liegt daran, dass der Warenhausbesitzer an einem Punkt steht, an dem es für ihn persön­lich und beruf­lich nicht weiterzugehen scheint.27 Was schon bei Zola thematisiert wird, tritt bei Saudek vollends an die Oberfläche. Der Roman zeigt Banken, Börse, Zeitungen und Warenhäuser als Orte der Manipula­tion von Kapital-, Informa­ tions-, Waren- und Menschenströmen, wo nur wenige Hintermänner die Fäden ziehen. Diesen Hintermännern geht es nicht allein darum, Kapital zu akkumu­ lieren, sondern Macht auszuüben, die weit über die Sphäre des Ökonomischen im engeren Sinne hinausreicht.28 Mit dieser These steht Saudeks Roman in der Linie einer Kapitalismus­kritik, die das Schreckgespenst einer in nur wenigen Händen liegenden Macht des Kapitals skizziert. In Theodor Duimchens Die Trusts und die Zukunft der Kulturmenschheit (1903) heißt es über den amerikanischen Unternehmer und Bankier John Pierpont Morgan: „Persön­lich kenne ich ihn nicht. Eine Zeitungsnotiz beschreibt ihn wie folgt: Eine

Landknechtsgestalt, beinahe 6 Fuss hoch, vierschrötig und ungeschlacht gebaut. Auf breiten Schultern trägt ein kurzer fetter Hals einen Kopf mit breiter, niedriger Stirn

und unregelmässigen Gesichtszüge ohne ausgeprägten Rassentypus. Struppige Brauen

überschatten runde, ziem­lich kleine graue Augen. Eine brutale knotige Nase; unter schlecht gepflegtem, abgebissenem Schnurrbart vorsichtige schmale Lippen und ein

massiver Unterkiefer. Die ganze Erscheinung macht mehr den Eindruck körper­licher als geistiger Kraft. So sehen die neuen Weltbeherrscher aus, denen alle Na­tionen und

Stämme der Erde frohnden [sic].“ (Duimchen 1903, 129)

Eine vergleichbare narrative Strategie der individuellen Zuschreibung von Wirtschafts- und Kapitalmacht steht im Mittelpunkt von Saudeks Roman. So unscheinbar und eigenschaftslos Mühlbrecht ist, so sehr konzentriert sich

26 Auch wenn Mühlbrecht keinen Trust im engeren Sinne initiiert, so fungiert er in Bezug auf Brüggemann dennoch als Treuhänder. 27 „Er [Brüggemann] besaß eine Macht und wußte sie nicht zu n ­ utzen und konnte nicht wehren, daß sie sich gegen ihn selber kehrte, seine feinsinnigen Instinkte höhnte, seine Lebenslinie zersetzte.“ (Saudek 1907, 81) 28 Vgl. die Zitate aus Saudeks Roman in Kapitel 5.3.

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Figuren der Limita­tion

zunehmend Macht in seinen Händen. Wenn über Zolas Roman gesagt wurde, dass hier das Warenhaus als Metapher für die moderne Gesellschaft in ihrer ökonomischen Verfasstheit verstanden werden kann,29 so gilt dies nicht weniger für Saudeks Text. Im Unterschied zu Zola hat sich die Perspektive jedoch ver­ schoben: Erstens, weil das, was die wirtschaft­lichen Konzentra­tionsbewegungen des modernen Kapitals an Anschau­lichkeit ermangeln, also das „Zusammen“, das je spezifische „Mit“ und „Bezogen auf“ der einzelnen Aspekte, Funk­tionen, Wirkungen und Bedeutungen, auf eine einzige Figur, näm­lich Mühlbrecht selbst, projiziert wird; zweitens, weil das, was anschau­lich gemacht werden soll – die ökonomische Interak­tion ­zwischen Banken, Börse, Massenmedien und Waren­ häusern – eine makroökonomische Dimension gewinnt, die zu der Zeit, in der Au Bonheur des Dames spielt, noch undenkbar ist. So plötz­lich der Aufstieg Mühlbrechts ist, so unvermittelt endet er. Am Schluss verfällt Mühlbrecht einem aus arbeitsmäßiger Überlastung und sexueller Impo­ tenz resultierenden „Wahn“ (vgl. Saudek 1907, 336). Mit ­diesem Ende wird die Romanhandlung im Nachhinein moralisiert.30 Während Mühlbrecht anfangs für das ra­tionalistische Prinzip des modernen Wirtschaftens steht, wird er am Ende zu einer genia­lisch-­dämonischen Künstlerfigur stilisiert.31 Zwar kann auf diese Weise der poetical justice zum Sieg verholfen werden, aber durch die Dämo­ nisierung der Hauptfigur werden abermals jene systemischen Zusammenhänge verkannt, die im Verlauf des Romans für den ökonomischen Bereich mit großer Detailgenauigkeit, nicht zuletzt im Begriff­lichen, entfaltet wurden.

29 Vgl. Kapitel 3.3. 30 Diese mora­lische Ebene deutet sich schon früher in einer Nebenhandlung an: der anfangs glück­lichen, zunehmend aber krisenhafter werdenden Ehe mit seiner Frau Trude. 31 Schon zu Beginn heißt es: „Seine Augen glühten. Sein rechtes Auge erglänzte so sonderbar, als ob darin ein feuriger Funke aufblitze.“ (Saudek 1907, 9 f.) Am Ende wird er sogar zu einer Teufelsfigur stilisiert: „Ganz klar fühlte er es in sich, daß sein eigenes Schicksal dasjenige war, das er am wenigsten zu lenken vermochte, und daß es einem abgrundtiefen Nichts entgegenrollte. Der Fluch der Vernichtung lag in ihm. […] Einem Edelmann [gemeint ist Brüggemann] war er begegnet, einem reinen tiefen Menschen, und hatte sein Lebenswerk als teuf­lisches Werkzeug verwendet, Massen zu hetzen und in Taumel zu versetzen. Ein Heiliger war in ihm selbst in einer andachtsvollen Stunde erwacht und er hatte ihn in sich niedergekämpft und sich in einen Teufel gewandelt.“ (Saudek 1907, 322 f.)

Familienökonomie und Globalisierung

3.  Die Macht des Trusts In Dämon Berlin fungiert Mühlbrecht als Treuhänder des Brüggemann’schen Unternehmens. Mit dieser unternehmerischen Konstruk­tion reflektiert Saudeks Roman eine zeitgenös­sische Entwicklung, die, von den Vereinigten Staaten aus­ gehend, zu bis dahin ungekannten Monopolisierungstendenzen innerhalb der Wirtschaft führt und eine neue Form der Unternehmensorganisa­tion mit einer für die damaligen Verhältnisse ungeheuren Wirtschafts- und Kapitalmacht her­ vorbringt: den Trust. Duimchen schreibt über den Standard Oil Trust, den ersten Trust in modernem Sinne 32: „Das Kapital, mit welchem dieser Riesenpolyp die Erde umspannen will, soll unge­ fähr 4000 Millionen Mark betragen. Man halte sich vor Augen, dass […] das

halbe Dutzend Geldfürsten, w ­ elche diesen Ring bilden, und deren mächtigster […]

Rockefeller ist, schon jetzt einen beherrschenden Einfluss auf das amerikanische

Geschäft ausübt. Auf Stahl und ­Kaffee [nach dem Erdöl] sollen sie schon jetzt ihre

Hände gelegt haben. Die Schiffahrt auf den grossen Seeen [sic] folgt schon in der hervorragenden Masse ihren Winken. Sie sind schon jetzt beteiligt an mehreren

grossen Eisenbahnen, die den Kontinent durchschneiden, und können thatsäch­

lich in dem ganzen Transportwesen der Union die Frachtsätze durchdrücken, die

ihnen passen. Man geht so weit zu behaupten, dass sie jähr­lich 200 Millionen Mark

Überschüsse erzielen, für die sie selbstverständ­lich neue Anlegewerte suchen müs­ sen, und es ist begreif­lich, dass sie […] an allen Orten des Landes auf der Lauer

liegen, um neue Unternehmungen zu gründen, bestehende aufzukaufen und über­

haupt jedes Geschäft in ihre Hände zu bringen, das einen Gewinn verspricht […].“

(Duimchen 1903, 126 f.)33

32 Der Standard Oil Trust entsteht in den frühen 1860er Jahren in den USA. 33 Parallele wirtschaft­liche Entwicklungen sind im Übrigen auch im Deutschen Reich zu beobachten; man denke z. B. an den Krupp-­Konzern. Gebräuch­lich sind im deutschspra­ chigen Raum neben dem Konzernbegriff auch „Syndikat“, „Kartell“, „Fusion“, „Ring“ oder – unspezifischer – „Monopol“, um trustähn­liche Unternehmensstrukturen zu kennzeichnen. Zur seinerzeitigen Diskussion vgl. Liefmann 1897, 1927; Huber 1903; Duimchen 1903; 1908; Baumgarten/Meszlény 1906 und Levy 1909. Der im Fließtext umfäng­lich zitierte Hilbig versucht, aus einer Kritik der Verwendung der Begriff­lichkeiten klarere Konturen des Trustbegriffs zu gewinnen, vor allem in Abgrenzung zum Kartell und zum Monopol. Zur Trustproblematik aus moderner Perspektive vgl. Pohl 1985.

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Figuren der Limita­tion

Der Trust stellt eine „Besitzgemeinschaft“ dar, die „auf der Zusammenfassung von bisher selbständigen Unternehmungen beruht“. Im Rahmen dieser „Besitz­ gemeinschaft“ findet jedoch keine „Eigentumsübertragung“ statt, „sondern es liegt nur eine treuhänderische Überlassung zur Verwaltung und Verwertung vor. Sie bedeutet die Zusammenfassung der Interessen und Kapitalien zur bestmög­ lichen Ausnutzung in den Händen sog. Trustee’s, ­seien sie private oder juristische Personen.“ (Hilbig 1935, 61 f.) Im Gegensatz zum Kartell oder zur Interessenge­ meinschaft wird der Trust nicht für eine „bestimmte Zeit“, sondern „für immer“ gegründet (Hilbig 1935, 62). Gewöhn­lich bringen die einzelnen Unternehmen ihre Aktien in den Trust ein und erhalten dafür Trustzertifikate. In der Passage aus Duimchens Text steht Rockefeller metonymisch für das kapitalistische Prinzip der Vernetzung von Macht und Geld mit dem Ziel der „Vertrustung“ Amerikas. Der Trust ist Sinnbild unübersicht­licher makroökono­ mischer Konglomerate, deren Verflechtungen zwar darstellbar, aber in ihrer Ver­ strickung von unterschied­lichen Interessen kaum mehr nachzuvollziehen sind. Der Trust ist sichtbar in Bezug auf das, was von ihm „beherrscht“ wird, jedoch unsichtbar in Bezug auf sein zukünftiges Handeln. Dadurch wird er omnipräsent und impliziert eine ökonomische Macht, die ihre kollektivsymbo­lische Kraft aus seiner imaginativen Präsenz bezieht. Der Trust verkörpert das kapitalistische Gegenprinzip zum Paternalismus des 19. Jahrhunderts. Während der Paternalismus eine Repersonalisierung unübersicht­ lich gewordener Firmenstrukturen anstrebt, wird diese Unübersicht­lichkeit zum Hauptmerkmal des Trusts. Die Firmeninhaber übergeben hier die „Verwaltung“ und „Verwertung“ ihrer Firmen an Treuhänder. Dezentrierung und Depersonali­ sierung des Unternehmens sind nicht nur Effekte der umfangreichen Organisa­tion im Trust,34 sondern werden in der Unternehmensstruktur institu­tionell verankert. Nicht nur weil Trusts eine ungeheuere Wirtschaft- und Kapitalmacht entfalten, sind sie aus zeitgenös­sischer Sicht so gefähr­lich für andere, kleinere Unterneh­ men, sondern auch, weil in ihnen jede Form von persön­licher Rücksichtnahme auf ein Minimum reduziert wird. Während also der Paternalismus die Konven­ tionalität, Arbitrarität, Fik­tionalität und Temporalität der modernen Ökonomie einzugrenzen versucht, steht der Trust schon auf organisatorischer Ebene für die Entfaltung dieser Prinzipien.

34 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 1.2.

Familienökonomie und Globalisierung

In Max Freunds Roman Der Warenhauskönig (1912)35 verkörpert Otto Stauff den Typus des ehr­lichen deutschen Kaufmanns, der sich aus „kleinen Anfän­ gen […] emporgearbeitet“ (Freund 1912, 7) hat.36 Stauff gegenüber steht ein Warenhaustrust als eine Vereinigung von Warenhausbesitzern und Bankiers 37, die durch den Zusammenschluss ihren Gewinn zu mehren hoffen. Der Trust selbst wird im Roman durch die Figur des Aufsichtsratsvorsitzenden, Carl Pniover, repräsentiert, der selbst kein Kapital, dafür aber sein strate­gisches Geschick in die Trustgründung einbringt.38 Während sich Stauff alles selbst 35 Schon in Böhmes W. A. G. M. U. S. wird das Trust-­Thema kurz angerissen, ohne dass es näher ausgeführt wird. Hier glaubt der Chef des Warenhauses, Josua Müllenmeister, der im Roman eine paternalistische Doktrin verkörpert (vgl. Böhme 1911, 448 f.), für die Zukunft, dass „die Zeiten immer näher kommen, wo sich die Warenhäuser zu einem Riesentrust vereinigten“. Nur „Unternehmungen von dem Umfang und der Art der Wagmus“ hätten dann noch „Aussicht zu reüssieren“ (Böhme 1911, 497). 36 Stauff wird als „Kaufmann alter Couleur“ geschildert (Schössler 2009, 312; vgl. Freund 1912, 3). Körper­lich ist er ein „Riese“ (Freund 1912, 14) und sein „Privatkontor bedeutete eine Welt“ (Freund 1912, 4). Seine Warenhäuser findet man in „fast allen mittleren und gro­ ßen Städten“ (Freund 1912, 5). Wenngleich nicht ausdrück­lich von einer paternalistischen Doktrin die Rede ist, herrschen in Stauffs Warenhäusern gute Arbeitsbedingungen und es werden gute Gehälter gezahlt (vgl. Freund 1912, 5). Zur Fik­tion des ehrbaren Kaufmanns im Rahmen der mittelständigen Agita­tion gegenüber Warenhäusern vgl. Spiekermann 2013, 45 f. 37 Die Warenhausbesitzer in Freunds Roman sind der aus Norddeutschland stammende Walters und die beiden jüdischen Cohen und Rietze; die Bankiers heißen Brauer und von Kamphausen. Freund spielt mit der Herkunft bzw. Namen der Warenhausbesitzer auf die damals größten deutschen Warenhauskonzerne an: Walters steht für Karstadt, der zunächst nur im norddeutschen Raum Warenhäuser besaß. Mit Cohen wird offenbar auf Wertheim angespielt. Georg Wertheims Vater hieß Joseph Cohn und benannte sich erst ­später in Wertheim um (vgl. Fischer/Ladwig-­Winters 2007, 21 f.). Im Namen Rietze steckt, wie unschwer zu erkennen ist, der Name Tietz. In Bezug auf die beiden Bankiers sind Anspielungen auf damalige „Finanzgrößen“ nicht so leicht zu entziffern. Zur Finanzwelt um 1900 vgl. Achterberg 1965. Im Gegensatz zu den Analysen bei Schössler (2009, 311 ff.) und Lenz (2011, 170 ff.) erscheint mir der in den jüdischen Warenhausbesitzern aufgerufene antisemitische Kontext nicht zentral für den Roman zu sein. Zwar wird bei der Darstellung der jüdischen Warenhausbesitzer auf antisemitische K­lischees zurückgegriffen, und dies durchaus in denunziatorischer Weise. Nicht weniger aber betrifft diese Stereotypisierung auch die anderen Figuren des Romans, etwa Stauff selbst oder den hackenschlagenden Bankier von Kamphausen. Alle Akteure sind karikaturistisch überzeichnet, die für die ver­ schiedenen Etappen des Kapitalismus auf dem Weg zur sozialistischen Revolu­tion stehen. 38 Pniover besitzt eine „schlangenartige[] Geschmeidigkeit“ und versteht es, „den Menschen Gedanken abzulesen, ihre Absichten zu erraten, ihre geheimen Wünschen zu verstehen.“

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Figuren der Limita­tion

erarbeitet hat, besteht Pniovers Hauptziel darin, „Geld mühelos zu verdienen“ (Freund 1912, 65).39 Im Roman wird das inhabergeführte Warenhaus im Verhältnis zum Trust in eine vergleichbare ökonomische Posi­tion gerückt wie der „kleine“ Einzelhandel im Verhältnis zu den Warenhäusern. Schon früh heißt es im Roman: „Überall Trusts, Syndikate, Aktiengesellschaften! Wo kommen sie denn her? Doch

nicht so ganz aus der Luft! Kann da ein einzelner Mann noch etwas ausrichten? Gar­ nichts! – er wird erdrückt massakriert, ohne Gnade […]. Wer nicht mitmacht, wird

von dem größeren Kapital erdrosselt.“ (Freund 1912, 30 f.)40

Was bei Zola am Schluss in eine Gewinnerzählung einmünden kann, droht bei Freund in eine Verlusterzählung umzuschlagen.41 Doch Freund lässt es bei dieser pessimistischen Aussicht nicht bewenden, sondern mobilisiert eine weitere Kraft gegen den Trust: die organisierte Arbeiterschaft. Als am Ende des Romans der Trust auf ganzer Linie zu siegen scheint, werden von den Arbeitern ausgehende politische Unruhen geschildert. Diese Unruhen führen zum Sturz von König und Regierung und damit des kapitalistischen Wirtschaftssystems, in dessen Kontext der wirtschaft­liche Aufstieg des Trusts überhaupt mög­lich war. In dieser Wendung münzt Freund die Verlusterzählung seines Romans doch noch in eine Gewinnerzählung um. Die organisierte Arbeiterschaft betritt als Deus ex Machina die Bühne des Romans und löst narrativ einen Konflikt, dem (Freund 1912, 66) Besonders hervorgehoben werden seine rhetorischen Fähigkeiten (vgl. Freund 1912, 67 ff.). 39 Später wird Pniover im Übrigen als Hochstapler enttarnt (vgl. Freund 1912, 92) und wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten entlassen (vgl. Freund 1912, 255). 40 Vgl. auch folgendes Zitat, das bis in die Wortwahl hinein das Untergangsszenario des „kleinen“ Einzelhandels reproduziert. Wofür dort das Warenhaus stand, dafür steht jetzt der Trust: „Eine Magenverstimmung Morgans aber […], die einen bestimmten geschäft­ lichen Entschluss so statt so fallen lässt, vernichtet unter Umständen heute schon viele Hunderttausende von Existenzen, das Glück einer unübersehbaren Anzahl von Familien, wirkt verheerend über den ganzen Erdball hinweg, soweit er ‚zivilisiert‘, d. h. merkantili­ siert, industrialisiert ist.“ (Duimchen 1903, 133) Vgl. die Zitate in Kapitel 7.2. 41 Dabei wird dasselbe narrative Schema aufgerufen, das dem Mythos vom Untergang des Kleinhandels durch die Warenhäuser zugrunde liegt – mit zwei Unterschieden: Erstens hat sich die Dimension von einer lokalen Auseinandersetzung hin zu einem na­tionalen Problem verschoben, zweitens wird das diachrone Schema des Kleinhandel-­Untergangsszenarios zu einer synchronen Polarität ­zwischen Stauff und dem Trust.

Familienökonomie und Globalisierung

alle anderen Kräfte, ­seien sie staat­licher oder wirtschaft­licher Provenienz, hilflos gegenüberstehen. Was Freund literarisch gestaltet, rekurriert auf einen gängi­ gen Topos der marxistischen Literatur (vgl. etwa Hilferding 1947/1923, 517 f.). In ­Wertheim von Maximilian Harden werden einem überzeugten Sozialisten fol­ gende Worte in den Mund gelegt: „Ihre kapitalistische Gesellschaft unterwühlt selbst ihre Grundmauern; und jedes Kar­

tell, jedes Syndikat, jedes Großmagazin bringt uns einen Schritt vorwärts. Der interna­ tionalen Vereinigung des Kapitals wird das Proletariat aller Länder sich entgegen­ stemmen und dann wird Ausbeutung und Hungerlohn unmög­lich gemacht sein.“

(Harden 1898, 15)

Im Gegensatz zu Freund gibt es in Manfred Georgs Roman Aufruhr im Warenhaus keine Gegenkraft zum Trust. Das ökonomische System hat sich verselbstän­ digt und der wirtschaft­liche Primat alle anderen, insbesondere den politischen, ersetzt.42 Selbst als der ehemalige Anarchist Victor kurzzeitig zu einem Indus­ triemagnaten avanciert und einen weltumspannenden Trust beherrscht, scheitert er an einem System, das keine Reform zulässt, w ­ elche die Gewinnspanne des Konzerns schmälern könnte.43 In Georgs Roman handeln nicht mehr einzelne Personen, sondern der Trust wird in all seiner Abstraktheit selbst zum Akteur. Schon früh im Roman heißt es: „[O]b Sie für den Staat oder für die Gemeinschaft oder für die Company arbeiten, was

macht denn das für einen Unterschied. Das sind doch nur Begriffe des Sentiments für den einzelnen. […] Die Arbeit ist wichtig und nicht der Mensch. […] Schimpfen Sie

42 Vgl.: „Die kapitalistische Konzentra­tion in ihrer Gesamtheit bringt diesen normalen [wirtschaft­lichen] Lauf in Gefahr. Hierfür bieten uns augenblick­lich die Vereinigten Staaten von Amerika ein schlagendes Beispiel. Die industrielle und kaufmännische Konzentra­tion erreichte hier bald das Endstadium: das Monopol. Man sah, wie die Trustinteressen ganz offen eine politische Partei unterhielten und beträcht­liche Summen opferten, um sich der Mitwirkung der Gesetzgebung an dieser monopolistischen Organisa­tion zu versichern.“ (Lambrechts 1913, 81) 43 Victor gelingt es nicht, die Massen der Arbeiter für seine „Revolu­tion“ zu mobilisieren. Nur eine Handvoll europäischer Immigranten und radikaler Farbiger sowie einige Chi­ nesen schließen sich ihm an (vgl. Georg 1928 362 f., 324, 345 ff.). Das Warenhaus, in dem sich Victor und seine Getreuen verschanzt haben, wird bombardiert und schließ­lich in die Luft gesprengt.

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nicht auf die Milliardäre. Haben Sie schon einmal einen Milliardär gesehen, der sich eingebildet hat, daß er unersetz­lich ist?“ (Georg 1928, 124)

Wenig s­päter ergänzt der führende Industriemagnat des Trusts, Winfried T. ­Brooker: „Ja gewiß, ich habe mehr Macht, weil ich das Instrument der Macht selber bin. Der Trust ist die Macht, und ich bin sein Prophet. Der Trust will das Glück, wie Gott das

Glück der Menschen will. Irgendeiner Ihrer [europäischen] Philosophen hat gesagt, man müsse die Menschen zu ihrem Glücke zwingen. Darum muß man sie auch unter den Trust zwingen.“ (Georg 1928, 125)

Wie sehr sich das System verselbständigt hat, reflektiert der Roman an mehre­ ren Stellen nicht zuletzt im Rahmen seiner depersonalisierten Erzähltechnik: „Mitunter kam es vor, daß kleine Parteien von Eingeborenen, von einige Intellektuel­ len geführt, revoltierten und ein paar Petroleumtanks oder ein Amtsgebäude in Brand

steckten. Sie standen bald als Bolschewisten vor Wänden, die vom Sonnen­licht hart

und grell waren, und die Kugeln, die sie zusammensinken ließen, stammten aus den

Stahlwerken der nordamerikanischen Muni­tionsfabriken. Jedes Gefühl der Freiheit

wurde als Neigung zur Unordnung denunziert. Der Versuch, die Bedrückungen der

amerikanischen Trusts abzuwehren, die Ländereien um Ländereien, Äcker um Äcker,

Städte um Städte, Goldgruben, Bergwerke, Salzminen, Kohlevorkommen, Kupfer­ schächte, Zinngruben, Getreidefelder, Weinberge, Ölquellen erwarben, scheiterte

an der politischen Ohnmacht der Landesregierung. Einige politische Aufständische

zogen sich bisweilen in die Berge zurück und versuchten einen Kleinkrieg zu führen, der zwar die New Yorker Blätter zur Entsendung von Berichterstattern veranlaßte, aber

im übrigen unromantisch verlief und mit irgendeinem Verrat zu enden pflegte. […]

Die Trusts hatten das gesamte mittelamerikanische Land zu einer Filiale verwandelt,

in der es keine Bevölkerung mehr, sondern nur noch auf Gedeih und Verderb ausge­ lieferte Angestellte gab.“ (Georg 1928, 121 f.)

Bei Georg ist der antiamerikanische Impuls der Darstellungen klar ersicht­lich: Die Amerikanisierung der Welt ist abgeschlossen und unwiderruf­lich. Der Dollar­ imperialismus hat auf ganzer Linie gesiegt. Auch die vereinigte Arbeiterschaft in Person des sozialreformerischen Victors hat dem nichts mehr entgegenzusetzen.

Familienökonomie und Globalisierung

Der Trust stellt den End- und Gipfelpunkt in der langen Reihe der Transgressi­ onsfiguren dar, die im Rahmen der an die moderne Konsum- und Massengesell­ schaft geknüpften Kollektivsymbolik entwickelt werden. Was im antisemitischen Schrifttum als weltumspannendes Netz jüdisch kontrollierter Finanzinstitute imaginiert wird,44 kristallisiert sich im Trust zu einem konkreten ökonomischen Schreckensszenario globalen Ausmaßes. Mit seiner ungeheuren Wirtschafts- und Kapitalmacht vermag der Trust alle Bereiche des wirtschaft­lichen, sozialen und politischen Lebens zu unterwandern: „Je grösser die Bedeutung einer Ware, desto grösser das Kartell. Wir sind in der Ent­ wickelung nur noch zurück. Viele der deutschen Kartelle sind den amerikanischen

Trusts aber heute schon in jeder Beziehung sehr ähn­lich, und alles, was wir Kartelle nennen, sind wie gesagt nur Vorstufen zum Trust. Jeder wichtigere deutsche Trust wird

aber früher oder s­ päter in einen interna­tionalen Trust aufgehen und jeder interna­tionale

Trust wird eines Tages Rockefellern gehören oder doch gehorchen. Es unterliegt gar keinem Zweifel, dass der territoriale Staat – sei er Monarchie oder Republik – abdankt und zwar in einer nahe an die Gegenwart heranreichenden Zukunft abdankt, wenn

diese Entwickelung auch nur in demselben Tempo wie bisher weiter geht; das Tempo

wächst aber in beängstigender Weise, wächst wie die Geschwindigkeit eines Körpers im freien Fall.“ (Duimchen 1903, 132 f.)

4.  Globale Warenströme Auch wenn das Warenhaus um 1900 keine globale Wirtschafts- und Kapitalmacht impliziert, ist es über seine interna­tionalen Wirtschaftsbeziehungen gleichwohl global präsent. In Böhmes W. A. G. M. U. S. heißt es: „Bis in die fernsten Erdteile greift der Mechanismus des Hauses, macht sich alle

Produkte, alle Kräfte der Na­tionen dienstbar. Für Müllenmeister klappern die Web­ stühle des Orients, rauschen die Mahagoniewälder, reisen die Früchte des Südens,

befördern die Bergleute aus dem Schoß der Erde Mineralien und edle Erze zu

Tage, knallen in einsamen Schneenächten der arktischen Zonen die Büchsen, ziehen

44 Vgl. Kapitel 7.3.

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Dampfer und Segler durch die grauen, schaumumsprühten Straßen der Ozeane …“ (Böhme 1911, 355)45

In d ­ iesem Sinne versteht sich William Whiteley als „Universal Provider“ (vgl. ­ ancaster 1995, 21); Harrod’s wirbt sogar mit dem Slogan: „Omnia Omnibus L Ubique“ (zit. nach Frei 1997, 45). Ebenso ist es kein Zufall, dass sich die deut­ schen Warenhauskonzerne Wertheim und Tietz einen Globus zum Marken­ zeichen wählen.46 Wenn das Warenhaus mit dem Anspruch auf universelle Verfügbarkeit der Dinge auftritt, heißt dies, dass es zu einer enormen Ausweitung der Wirtschafts­ beziehungen kommen muss. In der gleichzeitigen Präsenz aller Dinge an einem Ort verdichtet das Warenhaus einerseits den globalen Raum im Lokalen und entgrenzt andererseits den lokalen Raum ins Globale. Dabei ist schon um 1900 die gesamte Welt zum Markplatz geworden. Kein Winkel der Erde scheint noch sicher vor dem Zugriff europäischer und amerikanischer Handelsfirmen: „Schon in den 80er Jahren des verflossenen Jahrhunderts erzählte […] der Reisende

eines großen eng­lischen Exporthauses, daß er nach einer mühevollen Reise ins Innere

Kolumbiens (von der Küste aus einen Tag Bahnfahrt, 14 Tage Dampferfahrt und 8 Tage

45 Vgl. Armin T. ­Wegners Gedicht Das Warenhaus (1917): „Von den ewigen Fernen der Erde trafen / Die Dinge in d ­ ieses Hauses dunkel zerwühltem Hafen / Wie Schiffe auf weiter Reise zusammen. / Die über die Flüsse Ägyptens schwammen, / Per­sische Teppiche, japa­ nische Seide, / Irische Pelze, peruaner Geschmeide, / Die über die weglosen Meere kamen, // Der fremden Lande dunkles Gerät: / Sie alle sind, ein unfruchtbarer Samen, / Über die schwellende Diele des Hauses gesät. / Die Dinge zu Städten gebaut und Gassen, / Um deren Besitz sie morden und stehlen, / Um deren Glück sie einander lassen, / Millionen in Arbeit, in Wahnsinn sich quälen.“ (Wegner 1973, 12) S. auch Werner Bergengruens Gedicht Das Warenhaus (1924): „Rasiert, hellbraun montiert, betreßt und goldbeknöpft / sonst nichts – steht der Portier auf seiner Stelle. / Du ahnst, woraus er seine Größe schöpft; / er hütet stumm der ganzen Schöpfung Schwelle. / Sibirien, China! Sachsen und Peru! / Meer! Atelier! Fabrik und Tropenwelt / Er weiß, was sie nur liefern, findest du hier alles, alles, alles aufgestellt!“ (Bergengruen 1924, 118) 46 Das seit 1899 eingetragene Warenzeichen von Wertheim war eine „von dem Buchstaben W getragene Weltkugel“ (Fischer/Ladwig-­Winters 2007, 103; vgl. ebd., 129 sowie die Abb. der Wertheim-­Notgeldmünze, ebd., 223). Bei Tietz schmückte ein riesiger, schräg gestellter Globus das Dach des Warenhauses in der Leipziger Straße in Berlin. Über ­dieses Waren­ zeichen gerieten Wertheim und Tietz in einen Gerichtsprozess, weil Wertheim glaubte, Tietz verletze die Rechte des Markenzeichens. Vgl. Fischer/Ladwig-­W inters 2007, 102.

Familienökonomie und Globalisierung

Maultierreise) an einen kleinen Platz kam, wo er im einzigen Hotel nicht weniger als

sechs seiner intimsten Konkurrenten vorfand, und von einer anderen besonders kon­

kurrenzlustigen Manchester Exportfirma wurde zu jener Zeit als bezeichnende Anek­ dote erzählt, daß sie alle Inseln des Großen Ozeans, bewohnte wie unbewohnte, mit

Agenten besetzt habe, deren Aufgabe es sei, den Schiffbrüchigen, die an jene Inseln geworfen wurden, die neuesten Baumwollstoffe anzubieten.“ ( Jaffé 1915, 13)

Die Warenströme verlaufen allerdings nicht nur von ärmeren Weltregionen in die reicheren, sondern auch in umgekehrter Richtung. In Vicki Baums Der grosse Ausverkauf heißt es: „Was geschieht mit den Ladenhütern? […]. Da gibt es eine Firma, die alles Unbrauchbare

aufkauft, so scheint es. Sie nehmen dem Warenhaus die ganz unbrauchbar gewordenen

Rückstände ab und verschiffen sie irgend wohin, nach Neu-­Guinea oder in sonstwelche menschenfresserische Gegenden der Welt.“ (Baum 1937, 74)47

So fern sich Trust und Warenhaus in ökonomischer Hinsicht um die Jahrhun­ dertwende stehen,48 so sehr nähert die damalige Antiwarenhausagita­tion sie in Bezug auf deren geopolitische Dimension symbo­lisch an. Ob das Warenhaus de facto eine globale Wirtschafts- und Kapitalmacht besitzt oder ob es ledig­lich in interna­tionale Wirtschaftszusammenhänge eingebunden ist, scheint letzt­ lich gleichgültig. Für die Antiwarenhausagita­tion ist entscheidend, dass eine Aufwertung des Globalen eine Abwertung des Lokalen bedeutet, und diese Abwertung des Lokalen führt unmittelbar zu einer weiteren, durch das Waren­ haus „produzierten“ Nivellierung. Im Unterschied zu anderen Nivellierungen, die dem Warenhaus zugeschrieben werden,49 lassen sich mit dieser Nivellierung „na­tionale“ Ängste schüren. In Im Paradies der Damen heißt es: 47 Was Baum in ihrem Roman beschreibt, ist keineswegs bloße Fik­tion. So berichtet etwa Georg Tietz, Sohn von Oscar Tietz, der sich zunächst mit einer Im- und Exportfirma in Paris selbständig machte, über die Geschäfte mit seinem Vater: „Ich stellte ihm sogar in Aussicht, daß ich die Ware, falls er wieder auf ihr ‚sitzen bleiben‘ würde, in Südamerika unterbringen würde.“ (Tietz 1965, 102) 48 Vgl. die Zahlen über die vergleichsweise geringe wirtschaft­liche Bedeutung von Waren­ häusern im frühen 20. Jahrhundert in Kapitel 3.1. 49 Hier wäre etwa an die Vermengung unterschied­licher Warengruppen, die Unterminierung der Grenze z­ wischen privatem und öffent­lichem Raum oder die Vermischung sozialer

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Figuren der Limita­tion

„Wehe uns allen, wenn erst das Großkapital [der Warenhäuser und die sie finanzierenden

Banken] die übrige Konkurrenz besiegt und seine brutale Monopolherrschaft errichtet hat: Was angeb­lich klein angefangen, bedeutet alsdann Hunger und Sklaventum des ganzen Volkes!“ (Im Paradies der Damen 1903, 53)

Auch Hector Lambrechts befürchtet in Warenhäuser und Konsumvereine vom ­sozialen Standpunkte betrachtet (1913), dass „die Warenhäuser bereits am Vorabende eines Welttrusts stehen“ (Lambrechts 1913, 25).50 Das im Kontext der antisemi­ tischen Hetzpropaganda gegen Warenhäuser geschilderte Überwältigungs- und Zerstörungsszenario, in dem jüdische Warenhausbesitzer als Erzfeinde einer mittelständisch geprägten, deutsch-­na­tional gesinnten Ökonomie stigmatisiert werden,51 wird hier auf die vermeint­lich geopolitische Bedeutung der Waren­ häuser projiziert. Nun erscheint nicht mehr nur der jüdische Warenhausbesitzer als Sachverwalter „vollendete[r] Indifferenz“ (Sombart 1911, 178), sondern das Warenhaus selbst wird zum Medium einer transna­tional verstandenen Indifferenz, indem es im Rahmen seiner Wirtschaftsbeziehungen scheinbar mühelos na­tio­ nale Grenzen zu überschreiten vermag. Nicht nur die bestehende Ordnung der „Dinge“ wird somit in Frage gestellt.52 Nicht nur kann das Warenhaus als „Feind im Innern“ auf diese Weise zu einer Bedrohung von außen stilisiert werden.53 Auch die Modernisierungsprozesse selbst enthalten in diesen Zuschreibungen eine transna­tionale Dimension. Wie der Trust steht das Warenhaus paradigmatisch für die globale Dimension der Modernisierung, die umso bedroh­licher wirkt, als sie sich nicht mehr na­tional, sprich mit genuin na­tionalstaat­lichen Maßnahmen steuern oder bekämpfen lässt.

Schichten zu denken. Vgl. Kapitel 1.1 und 5.1. 50 Vgl. dagegen Hirsch 1910, 107: „Wenn ein Teil der 472 Geschäfte, w ­ elche 1908 zum Ver­ bande [Deutscher Waren- und Kaufhäuser] auch nur für gewisse Waren zu gemeinsamen Einkauf zusammengeht, können die Warenhäuser einen weiteren erheb­lichen Vorsprung erreichen. Für die Erwartung, daß dies schon bald der Fall sein wird, sprechen die Erfah­ rungen der neueren Zeit auf allen Wirtschaftsgebieten. Ein solcher Zusammenschluß wird ein bedeutsames Gegengewicht gegenüber den Kartellen der Industrie bieten.“ 51 Vgl. Kapitel 7.2. 52 Vgl. Kapitel 1.1. 53 Vgl. Kapitel 7.4.

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Kapitel 12

Gegenwelten

1.  Kooperative Republik und Staatssozialismus Wenn der Primat des Ökonomischen alle Lebensbereiche durchdringt und die Omnipräsenz Gottes durch die des Geldes ersetzt wird, stellt sich für viele Zeit­ genossen Ende des 19. Jahrhunderts die dring­liche Frage, was in einer Welt, die durch den Kapitalismus und seine Folgen scheinbar aus den Fugen geraten ist, noch Halt und Gewissheit bieten kann. Antisemitismus und Antiamerikanismus beantworten diese Frage, indem beide einen homogenen Volks-, Wirtschafts- bzw. Staatskörper imaginieren, der sich, auf autarke „innere“ Kräfte vertrauend, gegen „äußere“ Einflüsse abzuschotten vermag und seine Homogenität durch ethnische Diskriminierung und kulturpolitische Exklusion gewinnt.1 Während Antisemitismus und Antiamerikanismus einem rousseauistischen Narrativ folgen, das seine Überzeugungskraft aus dem Rückblick auf eine frei­lich immer schon erzählerisch konstruierte, bessere Vergangenheit gewinnt, gibt es um 1900 noch andere Konzepte, die der kapitalistischen Ökonomisierung aller Lebenssphären entgegenzuwirken und im Gegensatz zu Antisemitismus und Antiamerikanismus eine zukunftsorientierte Perspektive zu entwickeln versuchen. Im ökonomischen Feld sind es vor allem die Ideen kooperativer Wirtschaftsfor­ men, die als probates Mittel gegen die Konzentra­tions- und Monopolisierungs­ bewegungen der Wirtschaft angesehen werden.2 Schon 1889 skizziert Charles Gide in der Auftaktrede zum Genossenschafts­ kongress während der Pariser Weltausstellung die Vision einer „République coopérative“3, in der „pacifiquement, mais radicalement le régime économique actuel“ reformiert worden sei, „en faisant passer la possession des instruments

1 Vgl. Kapitel 10. 2 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 8.2. 3 Die Rede Gides trägt den Titel De la Coopéra­tion et des transforma­tions qu’elle est appelée à réaliser dans l’ordre économique. Discours d’ouverture du congrès interna­tional des sociétés coopératives de consomma­tion, tenu à Paris, au palais du Trocadéro, le 8 septembre 1889 und wurde zunächst in den Akten des Kongresses veröffent­licht.

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de produc­tion, et avec elle la suprématie économique, des mains des producteurs qui les détiennent aujourd’hui entre les mains des consommateurs.“ (Gide 1900, 105) Hundert Jahre nach der Franzö­sischen Revolu­tion sei es an der Zeit, diese neue Revolu­tion zu initiieren; zweihundert Jahre ­später, also 1989, könnte diese Republik Realität sein (vgl. Gide 1900, 108). Für die Verwirk­lichung seiner Vision entwirft Gide einen dreischrittigen Plan. Zunächst müsse man das in den ein­ zelnen Genossenschaften verstreute Kapital akkumulieren. Nur auf diese Weise sei es mög­lich, genügend Kapitalkraft zu entwickeln, um in makroökonomischer Hinsicht größeren kapitalistischen Unternehmungen Paroli bieten zu können, wobei Gide ausdrück­lich an die neuen wirtschaft­lichen Monopole wie Syndikate, Kartelle oder Trusts denkt (vgl. Gide 1900, 89 f.). In einem zweiten Schritt gehe es darum, nicht nur Waren günstig einzukaufen, sondern sie auch auf eigene Rech­ nung herzustellen „en créant boulangeries, meuneries, manufactures de draps et de vêtements confec­tionnés, fabriques de chaussures, de cha­peaux, de savon, de biscuits, de papier“ (Gide 1900, 92). Der dritte Schritt sei, Land und entspre­ chende Produk­tionsbetriebe zu erwerben, um alle Grundstoffe und Grundnah­ rungsmittel selbst produzieren zu können (vgl. Gide 1900, 92). Damit werde es mög­lich, sowohl den Gegensatz ­zwischen Produk­tion und Konsump­tion als auch den z­ wischen individueller Bedürfnisbefriedigung und Allgemeinwohl zu versöhnen. Würde d ­ ieses Ziel erreicht, verschwänden alle Folgeerscheinungen der modernen kapitalistischen Wirtschaftsweise: „[…] les falsifica­tions de marchandises, les mensonges commerciaux, les réclames aussi coûteuses que grotesques, le marchandage, la spécula­tion éhontée, la concurrence

acharnée, la lutte pour la vie, la guerre au couteau et ce ‚malheur aux vaincus‘ qui est devenu aujourd’hui le seul droit économique!“ (Gide 1900, 96)

Die Kooperative Republik sei eine „école de paix, de solidarité et d’harmonie“, und zwar nicht aufgrund einer „magie de quelque formule sonore“4, sondern „par la force même des choses, c’est-­à-­dire par l’identité désormais établie entre les 4 Dies muss ausdrück­lich als polemische Spitze gegen kommunistische und sozialistische Programmatiken gelesen werden. So sehr die von Gide genannten Ziele einer Kooperati­ ven Republik kommunistischen und sozialistischen Programmatiken zu ähneln scheinen, so sehr legt er auf den antiideolo­gischen Charakter der kooperativen Idee Wert (vgl. Gide 1900, 99 f.). Vgl. die Ausführungen in Kapitel 8.2.

Gegenwelten

intérêts particuliers et l’intérêt général.“ (Gide 1900, 96; Hervorheb. U. ­L.) Gide reagiert mit seiner Vision auf eine Reihe zeitgenös­sischer Konfliktlagen, ins­ besondere auf die hochvirulente Arbeiterfrage und die damit eng verbundene ­soziale Frage. Das Prinzip der Solidarität bzw. der Koopera­tion (als institu­tionell gefasster Solidarität) soll die auf Profitmaximierung zielende und auf Konkur­ renz basierende kapitalistische Wirtschaftsordnung aushebeln und damit alle Probleme beseitigen, die aus dem fortgesetzten Kampf um Ressourcen, Löhne oder Produk­tionsmittel resultieren.5 Fast zeitgleich mit Gide entwirft der amerikanische Schriftsteller Edward Bellamy in der meistgelesenen literarischen Utopie des ausgehenden 19. Jahr­ hunderts, Looking Backward 2000 – 1887 (1888), einen idealen Zukunftsstaat, in dem ebenfalls alle sozialen Konflikte gelöst sind. Bellamys Roman steht in der langen Tradi­tion utopischer Texte, die versuchen, mit Hilfe eines vernunftgelei­ teten, egalitären Kollektivismus die beste aller mög­lichen Welten zu erschaffen, in der irra­tionale, affektgeleitete Handlungen unbekannt sind oder unterdrückt werden.6 Im Gegensatz zu Gides Vision einer Kooperativen Republik beruht Bellamys fik­tionaler Staat nicht auf solidarischen Ideen, sondern er wird durch einen aufoktroyierten, alle öffent­lichen und privaten Belange reglementieren­ den, stark na­tionalistisch geprägten Staatssozialismus getragen. Was bei Gide auf privatem, freiwilligem Engagement beruht, wird bei Bellamy hierarchisch-­ direktiv erzwungen, wobei der für alle Staatsbürger verpflichtende Arbeitszwang prominent hervorsticht. Wie bei Gide steht bei Bellamy die ­soziale Frage im Mittelpunkt (vgl. Beaumont 2006, 198 f.), dessen Lösung ebenfalls in einer Neubzw. Umstrukturierung der Konsumsphäre, sprich in der gerechten Verteilung der Güter gesehen wird. Kein Zufall ist es, dass die „Besichtigung“ der Utopie durch Julian West, der Hauptfigur des Romans, in einem Warenhaus der Zukunft beginnt.7 ­Eingeleitet 5 Zur Einordnung Gides in die damalige franzö­sische Wirtschaftstheorie vgl. Williams 1982, 276 – 321. 6 Vgl. Kämmerer/Lindemann 2004, 118 ff.; dort weiterführende Literatur. 7 Schon sehr früh wird auf die Rolle von Warenhäusern als Zentren sozialistischer Utopien hingewiesen. 1852 kommentiert Edmond Texier in Tableau de Paris die durch die neuen Magasins de Nouveauté ermög­lichten Preissenkungen: „En un mot, les prix du commerce s’approcheraient de plus en plus des prix de revient et l’acheteur du producteur, par la réduc­tion du nombre évidemment exagéré des entremises. Nous ne faisons pas d’utopie; nous constatons tout simplement ce qui a déjà commercé d’être et ce qui sera. Et voilà

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wird die Schilderung des Warenhauses durch ein Gespräch ­zwischen West und seiner attraktiven und gebildeten Führerin, Edith Leete, über die Praxis des Shoppings Ende des 19. Jahrhunderts (vgl. Bellamy 2007, 59 f.). Vor dieser Kon­ trastfolie hebt sich die Anders- bzw. Neuartigkeit des Zukunftswarenhauses umso deut­licher ab: „There was nothing in the exterior aspect of the edifice to suggest a store to a represen­ tative of the nineteenth century. There was no display of goods in the great windows, or any device to advertise wares, or attract custom. Nor was there any sort of sign or

legend on the front of the building to indicate the character of the business carried on there; but instead, above the portal, standing out from the front of the building, a

majestic life-­size group of statuary, the central figure of which was a female of Plenty,

with her cornucopia. Judging from the composi­tion of the throng passing in and out, about the same porpor­tion of the sexes among shoppers obtained as in the nineteenth

century. As we entered, Edith said that there was one of these great distributing estab­

lishments in each ward of the city […]. It was the first interior of a twentieth-­century

public building that I had ever beheld […]. I was in a vast hall full of light, received

not alone from the windows on all sides, but from the dome, the point of which was a

hundred feet above. Beneath it, in the centre of the hall, a magnificient fountain played, cooling the atmosphere to a delicious freshness with its spray.“ (Bellamy 2007, 60)

Im Warenhaus selbst gibt es keine Verkäufer, ­welche die angebotene Ware anprei­ sen, sondern ledig­lich Muster der Waren, die von Angaben über deren Fabrika­ tion, Beschaffenheit, Qualität und Preis begleitet sind: „All our stores are sample stores, except as to a few classes of articles. The goods, with these excep­tions, are all at the great central warehouse of the city, to which they are

shipped directly from the producers […]. The orders are sent to the warehouse, and

the goods distributed from there.“ (Bellamy 2007, 62)

Bellamys Schilderung des Zukunftswarenhauses zielt – ähn­lich wie es für die moderne Konsumtechnikerin beschrieben wurde 8 – auf eine vollständige R ­ a­tionalisierung comment les hauts barons du négoce et de la finance font tous les jours depuis vingt ans du socialisme sans le vouloir.“ (Texier 1852, 231) 8 Vgl. Kapitel 8.4.

Gegenwelten

des Konsums ab. Während die Konsumtechnikerin ihren eigenen Haushalt nach tayloristischen Prinzipien organisiert, wird bei Bellamy die Konsumsphäre selbst aller konsumistischen Praktiken entleert, ­welche die Konsumgesellschaft des spä­ ten 19. Jahrhunderts bestimmen.9 Ohne Schaufenster und Reklame, ohne Wett­ bewerb um Kunden und Provisionen und mit nur als Pars pro Toto gegenwärtigen Waren entzieht das Zukunftswarenhaus dem Konsumismus der modernen Mas­ sengesellschaft die materielle Grundlage. Damit werden nicht nur die modernen Modi sozialer Distink­tion und Repräsenta­tion obsolet (vgl. Bellamy 2007, 64). Indem die Waren entmaterialisiert werden, werden sie auch desexualisiert und der Mög­lichkeit konsumistischer Fetischisierung beraubt (vgl. Beaumont 2006, 206). Das einzige, was in Bellamys Zukunftswarenhaus im Vergleich zum ausgehenden 19. Jahrhundert offenbar unverändert geblieben ist, ist das Innenraumerlebnis, das in auffälliger Weise an die Warenhausschilderungen des 19. Jahrhunderts erinnert (vgl. Beaumont 2006, 204).10 Die durch einen Springbrunnen gekühlte Luft macht dabei auf symbo­lischer Ebene deut­lich: Eine im Kaufrausch erhitzte und entfesselte Menschenmenge ist im Zukunftswarenhaus undenkbar geworden. Bei Bellamy wird das Ritual des Shoppings zwar entleert, gleichwohl aber bleibt dessen Basis – die bürger­lich-­kapitalistisch-­urbane Ideologie – im Kern erhalten. Schon William Morris, der mit News from Nowhere, or, An Epoch of Rest (1890) eine pastoral-­sozialistische Antwort auf Looking Backward veröffent­licht, notiert in seiner Rezension über Bellamys Roman: „In short a machine life is the best which Mr. Bellamy can imagine for us on all sides; […] I believe that […] the multiplica­tion of machinery will just multiply machinery; I believe

that the ideal of the future does not point to the lessening of men’s energy by the reduc­ tion of labor to a minimum, but rather the reduc­tion of pain in labor to a minimum, so

small that it will cease to be pain; a dream to humanity which can only be dreamed of

till men are even more completely equal than Mr. Bellamy’s utopia would allow them

to be, but which will most assuredly come about when men are really equal in condi­

tion […].“ (Morris in: Commonweal, 21. 6. 1889)11

9 Vgl. hierzu den Alptraum der Hauptfigur kurz vor Ende des Romans. Vgl. Bellamy 2007, 183 ff. 10 Beaumont sieht hier eine direkte intertextuelle Bezugnahme auf Zolas Au Bonheur des Dames. Vgl. Beaumont 2007, XVI. 11 Morris liest Bellamys Roman nicht als Literatur, sondern misst ihn an der damaligen sozia­listischen Theoriebildung.

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Auch wenn bei Bellamy das münzförmige Geld abgeschafft und durch Kredit­ karten ersetzt ist, die man aus heutiger Sicht wohl eher als Couponhefte bezeich­ nen würde, wird Arbeit gleichwohl, wenn auch indirekt, entlohnt und somit die Logik der kapitalistischen Wirtschaftsform beibehalten. Demgegenüber fußt Morris’ Vision eines Zukunftsstaats in News from Nowhere auf einer postkapita­ listischen Geschenkökonomie in einem dezentral organisierten Staatswesen und macht somit Ernst, was bei Bellamy im Rekurs auf zeitgenös­sische Praktiken des Konsums noch ambivalent bleibt.12 Bradford Pecks The World a Department Store. A Story of Life Under a Coöperative System (1900) wäre, zumal unter literarästhetischen Gesichtspunkten (vgl. Davies 1947, 474), vernachlässigenswert, da es sich ledig­lich um eine von vielen minderen Nachahmungen von Bellamys Roman handelt,13 wäre der Autor, ein erfolgreicher Kaufmann aus New England, nicht bald nach der Veröffent­lichung seines Romans daran gegangen, seine Fik­tion in die Tat umzusetzen. Was von Bellamy vorbereitet worden sei, werde von Peck, so propagiert es das Vorwort zu The World a Department Store, in einer „Social und Industrial Revolu­tion“ umgesetzt: „It is intended to unite producer and consumer […] into one combina­tion, eliminating all waste and loss of energy, and for the benefit of all. Every department of life finds

its place in his coöperative scheme.

Mr. Peck, the writer of the book and organizer of the combina­tion, is no visionist,

but a practical business man of thirty-­five years’ standing, president of the B. ­Peck Co., of Lewiston, Me., the largest department store in New England, outside Boston […].

His ideas are the result of close study and practical experience in human affairs, and have evolved from his belief that the ‚conserva­tion of energy‘ is the keynote to the business life of the future.“ (Peck 1900, VIIf.)14

Wie bei Bellamy lässt Peck in seinem Roman einen Schläfer in der Zukunft erwachen, in der die kapitalistische Wirtschaftsform durch die Gründung der

12 Vgl. insbesondere das 6. Kapitel („A Little Shopping“) in Morris’ Roman, das einen dezi­ dierten Gegenentwurf zu Bellamys Zukunftswarenhaus darstellt. Vgl. Beaumont 2006, 191 ff. 13 Es erscheinen über sechzig Nachahmungen von Bellamys Roman vor 1900. Vgl. Beaumont 2007, X. ­Zur enormen Rezep­tion des Romans vgl. Bowman 1962. 14 Weitere biografische Daten zu Peck in Davis 1947, 471 ff.

Gegenwelten

sogenannten Coöperative Associa­tion of America eine fundamentale Neuorien­ tierung erfahren hat. Peck kombiniert in seiner Beschreibung einer nicht näher bezeichneten amerikanischen, vermut­lich aber an Boston angelehnten Idealstadt Elemente aus Bellamys Staatssozialismus mit dem Zwang zu wirtschaft­licher Koopera­tion. Im Gegensatz zu Gide, für den der Aspekt freiwilliger Solidarität wesent­lich ist, also Kollektivität durch die Bündelung individueller Interessen im ökonomischen Bereich zustande kommt, dient der Zwang zur Koopera­tion bei Peck als staat­liches Instrument zur monopolistischen Regulierung der Wirt­ schaft. In Bezug auf die Produk­tion und Distribu­tion von Waren heißt das, dass durch den Koopera­tionszwang nicht allein jede Form von Zwischenhandel aus­ geschaltet wird, sondern dass auch die Preise „kooperativ“, d. h. nur mit geringem Profit ­zwischen den Wirtschaftspartnern festgesetzt werden. Der Leitbegriff in Pecks Zukunftsvision ist „economy“. Damit ist gemeint: „to save wasted energy“ (Peck 1900, 34 f.; vgl. ebd., 84, 129). Der Zwang zur Koopera­ tion wird in d ­ iesem Sinne verstanden als der Versuch einer mög­lichst ra­tionellen Organisa­tion der Wirtschaft, um vorhandene Ressourcen optimal, sprich ohne Energieverlust zu ­nutzen.15 Dadurch werde es sogar mög­lich, so Peck, Preise festzusetzen, die weit unter denen lägen, die in einer kapitalistischen Ökonomie mit freier Marktwirtschaft mög­lich sind (vgl. Peck 1900, 84). Das Prinzip der effizienten Organisa­tion wird schließ­lich auf alle Lebensbereiche übertragen in einer von allen Bewohnern der Utopie akzeptierten Uniformität. Uniform sind (wie in den meisten Utopien seit Thomas Morus’ Utopia, 1516) Stadtpla­ nung, Architektur, Kleidung, Ausbildung, Lebensweise sowie die Ideologie und Gedanken der Bewohner: „By coöpera­tion we have been able to so regulate the general affairs, in every department

of life, that today there is no such thing known as hard times or failures. Our system of

life […] will show that what was known as wasted energy and social and commercial

dishonesty, has been practically eliminated, making life at present a deligthful existence“

(Peck 1900, 22), wobei „each human being is considered as an investment. Whenever

15 Während bei Gide Kartelle, Syndikate und Trusts diejenigen wirtschaft­lichen Entwick­ lungen darstellen, gegen die das Konzept einer Kooperativen Republik entworfen wird, begrüßt Peck diese im Sinne seiner Leitmaxime. Vgl. Davies 1947, 476. Zum Begriff der Energie und seiner Popularität im ausgehenden 19. Jahrhundert vgl. Neswald 2006.

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a child is born, the name of this child is placed on record at the treasury department, and as a member, the child is given a number.“ (Peck 1900, 37)

Mehr noch als bei Bellamy wird das Leben bei Peck bis ins letzte Detail unter einen wirtschaft­lichen Primat gestellt, als könne die theoretische Figur des Homo oeconomicus faktisch zum Leben erweckt werden.16 Der Titel von Pecks Text The World a Department Store ist daher wört­lich zu verstehen. Die komplexe Organisa­tionsstruktur moderner Warenhäuser bildet das Modell und ist gleich­ zeitig die zentrale Metapher der utopischen Gesellschaft.17 Die Erlöse aus Pecks Roman sollen den Grundstock für die Gründung der Coöperative Associa­tion of America legen (vgl. Peck 1900, 312). An ­diesem Punkt überblendet der Text Fakt und Fik­tion. Peck gründet im Januar 1900 tatsäch­ lich die Coöperative Associa­tion of America, allerdings keineswegs nur mit den Erlösen seines Buches, sondern unter Einsatz erheb­licher privater Mittel. 1901 eröffnet die Associa­tion in Lewiston ein Lebensmittelgeschäft und ein Restau­ rant nach dem Vorbild der britischen Rochdale-­Koopera­tion (vgl. Davies 1947, 480; zu Rochdale vgl. Prinz 1996, 40 ff.). Bald darauf zählt die Associa­tion mehr als tausend Mitglieder, von denen die meisten allerdings „were more interested in saving money than in reorganizing society.“ (Davies 1947, 482) Darüber hin­ aus wird eine Druckerei und in Boston eine kooperative Einkaufsgesellschaft gegründet: die Boston Coöperative Exchange. Schon 1904 beginnt jedoch der Niedergang der Associa­tion. Zum einen gelingt es Peck nicht, andere Koopera­tionen zum Beitritt zu seiner Organisa­tion zu bewe­ gen. Zum anderen erweist sich die auf ihn fokussierte Struktur nicht als tragfähig:

16 Nur auf den ersten Blick quer zu d ­ iesem vollends ökonomisierten Gesellschaftskörper steht der stark christ­liche Impuls, von dem Pecks Vision getragen wird: „The Coöperative Associa­tion of America, in founding a true Christian existence, presented the people [with] an opportunity whereby they could practice every day a living gospel.“ (Pechk 1900, 181; vgl. ebd., 309 ff.) In Pecks Utopie finden sich wichtige Elemente des amerikanischen Purita­ nismus (die Betonung des Ökonomischen, das Moment der Selbstdisziplin, die Zurück­ weisung welt­licher Vergnügungen usw.), dessen Zentrum seit der Einwanderungswelle aus Europa im 17. Jahrhundert in New England liegt, wo Peck sein Koopera­tionsexperiment wagt. Vgl. die christ­lich motivierten Reformen in dem fiktiven Warenhauses in Sheldons For Gold or Soul? (1900). 17 Das 7. Kapitel bei Peck ist den Warenhäusern der Utopie gewidmet, die sich konzeptuell kaum von denen bei Bellamy unterscheiden.

Gegenwelten

„His enterprises failed very largely because they were never genuine coöperatives of the Rochdale type, democratically controlled by the members. Since they were to a

great extent the arbitrary crea­tions of Peck, usually responsive to his whims, consider­

able feeling against his domina­tion prevented any extensive or permanent expansion.“

(Davies 1947, 488)

Nachdem der Mietvertrag für das Lebensmittelgeschäft nicht verlängert wird, löst sich 1912 die Associa­tion wieder auf: „The only reminders of the earlier dreams were a mild form of profit-­sharing [in Pecks eigenem Warenhaus] […] and the continued propaganda of the Boston Coöperative

Exchange for private retailers to adopt coöperative methods.“ (Davies 147, 490)

Sowohl Gides Kooperative Republik, Bellamys Staatssozialismus als auch Pecks Warenhausutopie müssen nicht zuletzt als theoretische und praktische Antworten auf den Paternalismus Ende des 19. Jahrhunderts gesehen werden, in dem – trotz der Einrichtung von Fürsorgeeinrichtungen für die Angestellten – grundsätz­lich die Prinzipien des kapitalistischen Wirtschaftens gewahrt bleiben.18 Das Beispiel Pecks zeigt, dass offenbar kein mittlerer Weg z­ wischen einem hierarchisch struk­ turierten Paternalismus und einem egalitär-­demokratischem Kooperatismus zu existieren scheint. Zwar gibt es schon Ende des 19. Jahrhunderts, so im Fall von Bon Marché, Beteiligungen seitens des Personals an Warenhäusern. Doch sind diese eher im Sinne eines Aktienanteils aufzufassen und kaum als Schritte hin zu einer Koopera­tion zu werten (vgl. Miller 1981, 118 f.). Was der sozialrevolu­ tionär eingestellte Journalist Hans Matrei in Böhmes W. A. G. M. U. S. skizziert, ist und bleibt Fik­tion: „Das Warenhaus der Zukunft soll nicht in der Hand eines oder mehrerer Kapitalisten liegen, es soll auch nicht als eine Kombina­tion vieler Spezialgeschäfte ledig­lich eine

andere äußere Form der Ausbeutung von Produzenten und Angestellten repräsentierten;

in dem Warenhaus der Zukunft soll jeder Produzent und jeder Angestellte bis hinab zum

Hausdiener Mitinhaber und somit Nutznießer des Gewinns sein …“ (Böhme 1911, 129)

18 Zum Paternalismus vgl. die Ausführungen in Kapitel 11.

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Als der Bostoner Warenhausbesitzer Edward A. ­Filene in den 1910er Jahren ver­ sucht, seine gemeinsam mit seinem Bruder geleiteten Warenhäuser den Ange­ stellten zur Selbstverwaltung zu übergeben, stößt er auf massiven Widerstand seitens des Bruders wie der leitenden Direktoren der Firma. Sein Plan scheitert schließ­lich und er selbst zieht sich aus der Firma zurück (vgl. Harris 1979, 19 f., 25). Wenn es, was selten genug ist, Warenhäuser gibt, die nach kooperativen Prinzi­ pien organisiert sind, werden diese von Konsumgenossenschaften selbst betrieben (vgl. Lancaster 1995, 95). Freiwillige Umwandlungen von nach kapitalistischen Prinzipen geführten Warenhäusern in kooperative Unternehmungen scheint es in Europa und Amerika Ende des 19. Jahrhunderts sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht gegeben zu haben. Selbst Peck betreibt sein eigenes Warenhaus weiterhin neben seiner Associa­tion.

2.  Die reine Liebe Im fünfzehnten Kapitel von Bellamys Looking Backward wird Julian West über die Institu­tionen, Formen und Rezep­tion von Literatur in der Zukunftsge­ sellschaft unterrichtet und man übergibt ihm das „Meisterwerk“ eines Dich­ ters des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Nach der Lektüre resümiert er „that at the first reading what most impressed me was not so much what was in the book as what was left out of it.“ (Bellamy 2007, 99 f.) Bemerkenswert an Wests Resümee ist nicht nur die offensicht­liche Enttäuschung, obgleich er versucht, diese positiv zu reformulieren: Durch die Romanlektüre habe er erstmals eine „general impression of the social aspect of the twentieth century“ (Bellamy 2007, 100) erhalten. Bemerkenswert ist auch, dass die Lektüre bei West offenbar keine emotiven Reak­tionen oder ästhetischen Urteile auslöst, was im höchs­ ten Maße konträr zum Hauptthema der Zukunftsliteratur steht: der Liebe. In einer Gesellschaft, in der alle Konfliktpotenziale auf ein Minimum reduziert sind, gibt es kaum ­Themen, deren Gestaltung literarisch mög­lich oder sinnvoll wäre. Im Gegensatz zur realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts, die aus sozialen Kontrasten z­ wischen „wealth and poverty, educa­tion and ignorance, coarseness and refinement, high and low” (Bellamy 2007, 100) wesent­liche inhalt­ liche Impulse bezieht, entsprechen diese Themenfelder in Looking Backward keiner gesellschaft­lichen Realität und fallen somit als Identifika­tionsangebote für potenzielle Leser aus. Was bleibt, ist die Liebe, die daher zum Hauptthema der Zukunftsliteratur avanciert.

Gegenwelten

Die Liebe der Zukunft, wie sie Bellamy skizziert, unterscheidet sich grundsätz­ lich von den Liebesvorstellungen des 19. Jahrhunderts. Sie ist einerseits egalitär. Die aus geschlechterspezifischen Rollenzuschreibungen resultierenden Asymme­ trien ­zwischen Männern und Frauen sind in der Zukunftsgesellschaft soweit als mög­lich eingeebnet (vgl. Bellamy 2007, 152 ff.). Andererseits existiert freie Partner­ wahl. Ehen können also nicht mehr für andere Zwecke, etwa für die Sicherung des sozialen Status, instrumentalisiert werden (vgl. Bellamy 2007, 156).19 Bellamy schließt mit seinem Liebeskonzept stark an die Vorstellungen der Romantik an 20 – mit dem Unterschied, dass bei ihm Liebe und Ehe, analog zu den ande­ ren wirtschaft­lichen und sozialen Feldern der Utopie, als konfliktarm gedacht werden und damit von allen Komplika­tionen befreit, die für Liebesbeziehungen in Europa seit dem 18. Jahrhundert kennzeichnend sind (vgl. Luhmann 1994a). Diese simplifizierende Tendenz wird durch die Liebesgeschichte z­ wischen der Hauptfigur des Romans und seiner Führerin durch die Utopie bestätigt. Zwar bedient sich Bellamy bei der Eheanbahnung aus dem motivischen Fundus des klas­sischen Liebesromans (vgl. Werber 2003). Entsprechend der Vorgabe uto­ pischer Konfliktminimierung verzichtet er aber darauf, in die Eheanbahnung romantische Verwicklungen einzubauen.21 19 Beispielhaft werden die verschiedenen Ehekonzepte des 19. Jahrhunderts in Balzacs La Maison du Chat-­qui-­pelote (1829) geschildert: Erstens die Konvenienzehe ­zwischen Joseph Lebas und Virginie, die einer Logik des Hereditären folgt und der familiären Nachfolge­ sicherung für das von Virginies Vater betriebene Tuchgeschäft dient. Ehe ist ein Geschäft und Liebe spielt für die Heirat nur eine untergeordnete Rolle. Zweitens die romantische Liebe und Ehe z­ wischen dem adeligen Künstler Théodore de Sommervieux und Augus­ tine, der zweitältesten Tochter des Tuchhändlers, die an Standes-, Bildungs- und Men­ talitätsdifferenzen scheitert. Drittens die Ehe ­zwischen der Herzogin Carigliano und ihrem Ehemann, die für Erstere ­soziale Sicherung und gesellschaft­lichen Status bedeutet, außerehe­liche Beziehungen jedoch keineswegs ausschließt. Hier werden nicht nur Liebe und Ehe entkoppelt, sondern es wird im Sinne alteuropäisch-­aristokratischer Vorstellun­ gen auch Sexualität von Liebe und Ehe separiert. 20 Zu den kommunikativen Zumutungen romantischer Liebe vgl. Luhmann 1994a, 163 ff. An einer Stelle heißt es über die paradoxe Aufgabe der romantischen Liebe: „Einheit in der Zweiheit zu sein […], in der Selbsthingabe das Selbst zu bewahren und zu steigern, die Liebe voll und zugleich reflektiert, ekstatisch und zugleich ironisch zu vollziehen.“ (­Luhmann 1994a, 172) 21 Gleichwohl hat die Liebesgeschichte wichtige narrative Funk­tionen: Erstens lockert sie die akkumulative Reihung der Erzählsegmente auf, zweitens steigert sie die psycholo­gische Glaubwürdigkeit der Hauptfigur und drittens verleiht sie dem Roman einen durchgehen­ den Handlungsfaden.

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Luhmann schreibt in Knappheit, Geld und bürger­liche Gesellschaft (1972), Liebe sei „das gegenläufige Prinzip zum Geld“ ebenso wie „Geld das technische Gegenstück zur Liebe“ sei. Luhmann begründet seine These damit, dass in der bürger­lichen Gesellschaft Liebe „aus dem Katalog öffent­licher Tugenden ausgegliedert und als privates Gefühl, als Passion oder Sentiment, zur Ehegrundlage erklärt“ werde: „Daß gerade darin ein solides Fundament für Familiengründung und Familienleben

liegen könne, ist […] eine Entdeckung des 18./19. Jahrhunderts, eine Errungenschaft der bürger­lichen Gesellschaft, die voraussetzt, daß die ‚Ökonomie‘ aus dem Haus

ausdifferenziert und nur noch in der abstrakteren Form als Eigentum für die Familie

relevant ist.“ (Luhmann 1972, 204)

Folgt man dieser Argumenta­tion, können Liebe und Ehe bei Bellamy nicht als Gegensatz zu einer aus dem familiären Kontext ausgegliederten Ökonomie begriffen werden. Weder gibt es Geld in der Zukunftsgesellschaft noch die Mög­ lichkeit zur Eigentumsakkumula­tion wie im 19. Jahrhundert. Alle Ehen sind Lie­ besheiraten. Liebe und Ehe stehen bei Bellamy außerhalb der von Kapitalismus inaugurierten Zirkula­tionsprozesse. Liebe und Ehe sind nicht nur resistent gegen alle sozialen, wirtschaft­lichen oder konsumistischen Vereinnahmungen, sondern sie verdoppeln das von Staats wegen initiierte kooperative Modell zudem im Pri­ vaten. Eine so verstandene Liebe ist in der Tat utopisch. Antiinstitu­tionell und hedonistisch verweist sie auf das Andere der modernen Erfahrung. In Abwand­ lung von Luhmanns Beobachtung, dass im 19. Jahrhundert „die Omnipräsenz Gottes durch die Omnipräsenz des Geldes“ (Luhmann 1972, 191) ersetzt werde, ließe sich für Looking Backward formulieren, dass hier die Omnipräsenz des Gel­ des durch die der Liebe ersetzt ist. Die Schlichtheit und narrative Simplizität der Liebesgeschichte ­zwischen West und Edith expliziert diesen Aspekt beispielhaft. Was bei Bellamy programmatisch vorgeführt wird, ist in Zolas Au Bonheur des Dames vorformuliert, wo die Liebe ­zwischen Denise und Mouret am Schluss ähn­lich utopische Züge trägt. Was anfangs auf den mikrosoziolo­gischen Bereich beschränkt ist und von Mouret im Sinne der kapitalistischen Logik als Tauschver­ hältnis interpretiert wird,22 mündet in der paternalistischen Wende des Textes in eine dezidierte Zurückweisung dieser Logik. Im Einklang mit dem romantischen 22 Hierbei gewinnt der Körper der Frau, zumal mit Blick auf ihre Sexualität, Warenstatus. Vgl. insbesondere die Szene bei Zola (1964, 496), in der Denise von Mouret und anderen

Gegenwelten

Liebeskonzept versöhnt Zola am Ende Liebe, Ehe und Sexualität in der Liebes­ heirat ­zwischen Mouret und Denise. Diese Liebesheirat ermög­licht nicht nur die von Luhmann beschriebene Ausdifferenzierung der Ökonomie aus der Familie, sondern auch den Übertrag der Familienidee ins Ökonomische. Dabei wird das Verhältnis ­zwischen Familie und Ökonomie umgekehrt. Bei Zola usurpiert nicht mehr die Ökonomie das Familiäre, sondern das Familiäre die Ökonomie. Bei Zola ist der Paternalismus nichts anderes als der Versuch einer Refamiliarisierung einer ökonomisierten Moderne, wobei die private Liebe ­zwischen Mouret und Denise der entscheidende Katalysator ist, der diese Refamiliarisierung mög­lich macht. Bei Zola werden Liebe und Ehe als nicht korrumpierbare Gegenkräfte zur ökonomischen Durchdringung der modernen Lebenssphäre dargestellt. Im Unterschied zu Bellamy sind Geld und Liebe bei Zola jedoch kein Gegensatz; erst ihre strate­gische Vereinigung erlaubt es, die moderne kapitalistische Öko­ nomie, zumindest in ihren sozialen Härten, zu entdramatisieren. Das hereditäre Dispositiv wird dabei ostentativ aufgegeben, da es einer Refamiliarisierung der ökonomisierten Moderne entgegenstehen würde, die nicht mehr genealo­gisch, sondern funk­tional strukturiert ist.23 In Wilhelm Stücklens Melodrama Purpus (1918), das in vielerlei Hinsicht einen Gegenentwurf zu Zolas Roman darstellt, gelingt die Versöhnung ­zwischen Liebe, Ehe, Sexualität und Geld nicht. Wie eine parodistische Ausgabe von Mouret wirkt der alleinstehende Warenhausbesitzer T. ­T. Purpus, der davon überzeugt ist, dass ihn alle Frauen lieben, weil auch er alle Frauen liebt (vgl. Stücklen 1918, 20 f., 95). Seine Motiva­tion, ein Warenhaus zu gründen, ist es, „Frauen herbeizulocken“ (Stücklen 1918, 26). Purpus verliebt sich in die notorische Diebin Hulle, die aber nichts von ihm wissen will (vgl. Stücklen 1918, 41 ff.). Um Hulle an sich zu binden, verschafft er ihrem Liebhaber Orge eine führende Stellung im Warenhaus. Nun muss Hulle nicht mehr stehlen, sondern kann mit dem Geld, das Orge verdient, ordnungsgemäß einkaufen.24 Orge nutzt die Situa­tion jedoch aus und ­veruntreut leitenden Angestellten des Warenhauses hinsicht­lich ihrer körper­lichen Qualitäten beur­ teilt wird. Vgl. Kapitel 6.4. 23 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 11.1. 24 Dieses Motiv wird früh im Text angedeutet, als sich ein anderer Mann im Warenhaus um eine Stelle bewirbt. Purpus sagt: „Er behauptet, seine Frau habe ihn durch hemmungsloses Einkaufen zugrunde gerichtet! Durch hemmungsloses Einkaufen bei uns! Und er meint, es sei nur gerecht, wenn das Haus Purpus ihm nun wenigstens wieder zu einer Existenz verhelfen würde. Ich kann mich dieser Logik nicht verschließen.“ (Stücklen 1918, 10)

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Figuren der Limita­tion

große Geldsummen. Zwar wird sich Purpus dessen bald bewusst; um aber Hulle zu halten, verschließt er bis kurz vor Schluss die Augen davor. Als Orge befragt wird, warum er die Geldsummen veruntreut hat, gibt er an: „Ist es denn wirk­ lich das Äußerste, wenn man aus Liebe schnell ein reicher Mann werden will?“ (Stücklen 1918, 79) Das Stück endet in einem Wahnsinnsakt. Weil Purpus von Hulle nicht geliebt wird, ordnet er den Ausverkauf aller Waren an, deren Preis um die Hälfte redu­ ziert werden soll (vgl. Stücklen 1918, 85). Am nächsten Tag „stürmen“ die Frauen der Stadt das Warenhaus. Purpus interpretiert dies erneut als Liebesbeweis der Frauen, so dass er sich sogar entschließt, alle Waren zu verschenken (vgl. Stücklen 1918, 102 f.). Die Situa­tion spitzt sich zu, als Hulle Purpus mitteilt, dass sie Orge heiraten will. Gleichzeitig bietet sie ihm an, seine Geliebte zu werden. Daraufhin bricht Purpus zusammen. Das Drama endet offen. Liebe wird bei Stücklen unmittelbar an die Mög­lichkeit zu Statuskonsum ver­ knüpft.25 Die Rechtfertigung, die Orge für seine Veruntreuungen anführt, nimmt diesen Aspekt auf, wodurch sich Orges Absichten in Bezug auf Hulle letzt­lich nur graduell von denen von Purpus unterscheiden. Bei Stücklen scheint Liebe durch Konsum überhaupt erst mög­lich zu werden. Anfangs ist es so, als würde Hulle dieser Logik nicht folgen wollen. Aber im abschließenden Angebot an Purpus, seine Geliebte zu werden, verschreibt sie sich doch dieser Logik. Auch bei Stücklen werden Geld und Liebe nicht als Gegensatz gesehen. Im Unterschied zu Zola ist hier der Konsum das Medium, in dem Geld und Liebe verschränkt werden. Stücklens Text steht beispielhaft für eine Tendenz in der Warenhauslite­ ratur des frühen 20. Jahrhunderts, Liebe nur noch als Element einer weitgehend ökonomisierten Moderne zu interpretieren. Auch wenn es auf den ersten Blick so anmutet, als sei bei Stücklen die Reterritorialisierung der Liebe unter dem Primat des Ökonomischen ein Rekurs auf das alteuropäische Konzept der Konvenienz­ ehe,26 ist doch das Gegenteil der Fall. Die Eheanbahnung ist kein Handel mehr, sondern wird auf die modernen konsumistischen Praktiken hin kontextualisiert. Auf diese Weise wird die Liebe nicht nur aller utopischen Momente entkleidet,

25 Schon früh im Text werden in d ­ iesem Sinne die Diebstähle von Frauen interpretiert (vgl. Stücklen 1918, 8). Der Diebstahl erscheint nicht mehr als pathogen, sondern ist motiviert durch demonstratives Habenwollen. 26 Vgl. Anm. 19.

Gegenwelten

sondern an eine zeitgenös­sische Lebenswelt zurückgebunden, in welcher der „Konsum der Romantik“ (Illouz) längst alltäg­lich geworden ist. In Huxleys Brave New World (1932) wird ein Zukunftsstaat skizziert, des­ sen gesellschaft­liche Organisa­tion auf genetischer Manipula­tion, psychischer Kondi­tionierung und konsumistischen Freizeittechnologien einschließ­lich eines regelmäßigen Drogenkonsums und promiskuitiver Sexualität beruht. Konse­ quenterweise wird in Huxleys Roman nicht nur die Liebe, sondern auch alles, was damit im Zusammenhang steht wie „mother, monogamy, romance“ (Huxley 1992, 65), aus dem Staatswesen eliminiert. Hier kann die Idee der romantischen Liebe, die im Roman durch John Savage vertreten wird, keinen emo­tionalen, sozialen oder intellektuellen Ort mehr finden. Heterosexuelle Beziehungen sind auf fortpflanzungsfreie Sexualität reduziert und stets nur von kurzer Dauer. Bei Huxley werden alle Aspekte, die subversiv auf die Stabilität des Staates wirken könnten (Liebe, Religion, Kunst), in konsumistische Praktiken überführt. Dass es schließ­lich zu einer Revolte seitens einiger Romanfiguren kommt, resultiert paradoxerweise gerade aus einem Ungenügen am staat­lich verordneten Glücks­ zustand und endet deswegen vollkommen folgenlos. Was bei Bellamy in einer Zurückweisung des Konsumismus entmaterialisiert, desexualisiert und entfetischisiert wird, mündet bei Huxley in eine totale Herr­ schaft des Konsums ein. In der paradie­sischen Fülle nie endender konsumisti­ scher Zerstreuung wird die Welt bei Huxley – allerdings in anderem Sinne als bei Peck – ebenfalls zum Warenhaus. Bei Huxley gibt es kein Außerhalb des Konsums bzw. alles, was scheinbar „außerhalb“ steht, etwa die Reservate für die „Wilden“, ist längst Teil der konsumistischen Maschinerie des Weltstaates. Huxleys Text bildet einen dystopischen Extrempunkt der Konsumkritik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, indem er den ele­gischen Rekurs auf eine bessere Vergangenheit über die Gegenwart hinaus in die Zukunft verlängert und somit die moderne Verlusterzählung alternativlos totalisiert.

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SCHLUSS „Warum die Forschung […] die Warenhäuser so einseitig hervorhebt, ist und bleibt eine offene Frage“, so der Wirtschaftshistoriker Uwe Spiekermann (2013, 52) in einem jüngst veröffent­lichten Aufsatz. Mit dieser Frage versucht Spiekermann einerseits auf eine Schieflage hinsicht­lich der Erforschung des Einzelhandels in Deutschland im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert hinzuweisen. Seiner Einschätzung nach ist dem Warenhaus im Verhältnis zu den übrigen Formen des Einzelhandels zu viel wissenschaft­liche Aufmerksamkeit geschenkt worden. Andererseits wirft Spiekermann der historischen Forschung vor, der symbo­lischen Strahlkraft des Warenhauses selbst erlegen zu sein, die seiner faktischen ökono­ mischen Bedeutung um 1900 keineswegs entspreche: Mögen auch Warenhäu­ ser im Zentrum der Debatten um die sich konstituierende Konsumgesellschaft gestanden haben – die bis heute andauernde wissenschaft­liche Fokussierung auf ­dieses „prominente Beispiel“ verkenne, so Spiekermann, grundlegende „Kontu­ ren und Periodisierungen“: „Versandgeschäfte, Abzahlungsgeschäfte, Massenfilialbetriebe und Konsumgenossen­ schaften waren deut­lich früher am Markt, boten eine breite Warenpalette für fast alle

sozialen Klassen an, deckten nicht nur Massenbedarf, sondern weckten auch neue

Bedürfnisse eines neu beachteten Konsumenten.“ (Spiekermann 2013, 51)

Spiekermanns Argumenta­tion impliziert mehrere methodische Hintergrundan­ nahmen: Erstens die Mög­lichkeit einer prinzipiellen Unterscheidbarkeit ­zwischen historischen Fakten und diskursiven Konstruk­tionen, als könne man das Waren­ haus durch den Hinweis auf das größere wirtschaft­liche Gewicht anderer Formen des Einzelhandels um 1900 seiner symbo­lischen Valenz entkleiden; zweitens die Mög­lichkeit einer Beurteilung der wirtschaft­lichen Bedeutung des Warenhau­ ses unabhängig von seiner symbo­lischen Valenz sowie drittens die Annahme, die wirtschaftshistorischen „Fakten“ könnten, würden sie von der Wissenschaft nur erst zur Kenntnis genommen, die „wahre“ Geschichte des Warenhauses hervor­ treten lassen: als ein sowohl seinerzeit wie von der späteren Forschung in hohem Maße überschätztes Phänomen: „Warenhäuser waren wichtig, doch sie zum zen­ tralen Signum der modernen Konsumgesellschaft zu stilisieren, ist eine Über­ treibung.“ (Spiekermann 2013, 35, Anm. 12) Letzteres richtet sich auch gegen die

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Schluss

kulturhistorische Forschung zum Warenhaus, der Spiekermann diese Tendenz zur Übertreibung ebenfalls unterstellt (vgl. Spiekermann 2013, 50). Wenn diese Studie eins gezeigt hat, dann dies, dass es in Bezug auf das Waren­ hausthema kaum sinnvoll ist, ­zwischen der wirtschaft­lichen Bedeutung des Waren­ hauses und seiner symbo­lischen Valenz zu differenzieren. Mehr noch: Die diskur­ sive Präsenz des Warenhauses in unterschied­lichen kulturellen Feldern um 1900 erzeugt nicht allein seine wirtschaft­liche Bedeutung im zeitgenös­sischen Kontext, sondern auch seine wissenschaft­liche Bedeutsamkeit für die Forschung. Ebenso wenig wie das Erfahrungssubstrat Warenhaus von seiner Diskursivierungsform abtrennbar ist,1 lässt sich die wirtschaft­liche Bedeutung des Warenhauses von seinen symbo­lischen Zuschreibungen separieren. Die Warenhaussondersteuerge­ setze sind ein schlagendes Beispiel dafür, wie sich wirtschaft­liche Bedeutung und symbo­lische Valenz überlagern und verstärken, so dass Letztere sogar manifeste politische und ökonomische Effekte generieren kann.2 Auf der anderen Seite zeigt diese Studie die außerordent­liche Beharrungs­ kraft von bestimmten an das Warenhaus geknüpften Kollektivsymbolen und -narra­tionen, die über Jahrzehnte hinweg, ja teilweise bis heute Geltung bean­ spruchen, obwohl man deren Richtigkeit aufgrund historischer „Fakten“ leicht widerlegen könnte. Hier wäre etwa an den Untergang des Kleinhandels durch die Warenhäuser, an die Amerikanisierung der Welt qua Konsum, die Klepto­ manin oder den Kaufdilettanten zu denken, um nur einige Beispiele zu nennen. Das heißt, die „wahre“ Geschichte des Warenhauses ist – das zeigen alle diese Beispiele – gerade nicht die seiner historischen „Fakten“, sondern im Gegenteil die seiner symbo­lischen und erzählerischen Überhöhungen, Verfremdungen und Zuspitzungen, also diejenige Geschichte, w ­ elche die kollektiv-­imaginären Vorstellungen vom Warenhaus als „zentrale[s] Signum der modernen Konsum­ gesellschaft“ ausmachen. Mit diesen Feststellungen soll keineswegs einem methodischen Relativismus das Wort geredet werden, der Fakten und Fik­tionen als gleichwertig, ja konver­ tibel hinstellt. Aber es ist andererseits ebenfalls nicht damit getan, der Forschung die Verkennung historischer „Tatsachen“ vorzuwerfen. Vielmehr stellt sich die Frage, warum viele an das Warenhaus geknüpfte Vorstellungen, so falsch und widerlegbar sie sein mögen, derartig hartnäckig das kollektive Gedächtnis, auch 1 Vgl. Kapitel 3.4. 2 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 1.1.

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das der Wissenschaft, bevölkern, so dass man den Eindruck gewinnt, dass neben dem skizzierten erkenntnislo­gischen Dilemma 3 in Bezug auf das Warenhaus noch eine weitere Ebene der Vermischung von Fakten und Fik­tionen existiert. Hier scheinen die Fakten von den Fik­tionen nicht allein überlagert, sondern usurpiert, verkehrt, ja zum Verschwinden gebracht zu werden.4 Eine Antwort auf diese Frage kann nur gegeben werden, wenn die kollek­tiv­ symbo­lische Funk­tion des Warenhauses in Bezug zur narrativen Selbstthema­ tisierung der Moderne um 1900 gesetzt wird. Mit Albrecht Koschorke könnte man sagen, dass das Warenhaus mit seinen Kollektivsymbolen und -narra­tionen als „machtvolle[s] Narrativ“ funk­tioniert. Machtvoll werden diese Kollektivsym­ bole und -narra­tionen deshalb, weil sich an sie „Interessen oder starke affektive Besetzungen“ knüpfen. Darin liegt der Grund, warum ihnen „durch einfache Falsifika­tion in der Regel nicht beizukommen“ (Koschorke 2012, 42) ist. „Ein starkes Narrativ kann […] das kulturelle Gedächtnis in einer Weise formen, dass es sogar offensicht­liche Tatsachen nicht mehr zur Kenntnis nimmt oder von der

Gesamtsicht auf die Welt isoliert.“ (Koschorke 2012, 259)

Wie ein starkes Narrativ vermögen auch die an das Warenhaus geknüpften Kol­ lektivsymbole und -narra­tionen „kraft ihrer Mehrdeutigkeiten und Polyvalen­ zen große semantische Ressourcen“ zu mobilisieren: „Man kann sich dies durch das Bild eines narrativen Stromes veranschau­lichen, in den von allen Seiten die Nebenarme von Einzelgeschichten, Tropen, Metaphern einmünden, wodurch sich seine Umlaufmasse und Wucht vergrößern.“ (Koschorke 2012, 252) Wie ein starkes Narrativ drängen diese Kollektivsymbole und -narra­tionen auf „Wirk­ lichkeitsgeltung“. Dies erklärt nicht nur, warum das Warenhaus trotz seiner vergleichsweise marginalen ökonomischen Bedeutung in den Mittelpunkt der zeitgenös­sischen Debatten um die Konstitu­tion der modernen Konsumgesell­ schaft rückt. Es erklärt gleichfalls die anhaltende Faszina­tion der Forschung für das Warenhaus, der es bis heute nicht gelungen ist, die „Wirk­lichkeitsgeltung“ der mit dem Warenhaus verknüpften Kollektivsymbole und -narra­tionen abzubauen, 3 Die problematische Differenzierung ­zwischen Objekt- und Metasprache in Bezug auf das Warenhausthema. Vgl. die Ausführungen in Kapitel 3.4. 4 In Bezug auf die Kleptomanie ist dies unmittelbar evident. Nicht weniger trifft dies aber auch etwa auf die Sozialfik­tion des Paternalismus zu.

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auch Spiekermann nicht trotz seiner umfangreichen wirtschaftshistorischen Studien zum Einzelhandel im 19. und 20. Jahrhundert (s. Literaturverzeichnis). „Der Abbau einer solchen Wirk­lichkeitsgeltung kann nur dort gelingen, wo komple­ mentär eine narrative Realisierung erfolgt, die Funk­tionen und, in abgewandelter Form, auch manche der Inhalte der Vorgängerfigura­tion übernimmt. […] Eine Geschichte

entkräften heißt, ersatzweise eine andere Geschichte erzählen.“ (Koschorke 2012, 253)

Schließ­lich kann das Warenhaus als kollektivsymbo­lisches „Gravita­tionssystem“ sui generis verstanden werden. Über „Große Erzählungen“ schreibt Koschorke: „[D]ie Masse des durch die Großen Erzählungen aufbereiteten Wissens ist so unüber­ schaubar und das stabilisierende Geflecht ihrer internen Querverweise so dicht, dass

sie zu einem eigenständigen, von außen kaum mehr steuerbaren Gravita­tionssystem

werden können.“ (Koschorke 2012, 252).

Darin liegt begründet, warum die an das Warenhaus geknüpften Kollektivsym­ bole und -narra­tionen bis heute ein erstaun­liches Beharrungsvermögen haben.5 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich die interdiskursive Funk­ tion des Warenhauses als Konzept der Moderne weiter präzisieren.6 Im Rahmen seiner interdiskursiven Funk­tion dient es nicht nur als diskursive Vermittlungsin­ stanz, indem es das in den Spezialdiskursen verstreute Wissen bündelt und inter­ diskursiv verhandelbar macht, sondern es kann – wiederum mit Koschorke – als „Institu­tion[] im Reich der Semantik“ (Koschorke 2012, 293) aufgefasst werden. Indem das Warenhaus bzw. die mit ihm verbundenen Kollektivsymbole und -narra­tionen das in den Spezialdiskursen verstreute Wissen interdiskursiv bündeln,

5 Die Frage, die sich im Anschluss an die Überlegungen im Fließtext unweiger­lich auf­ drängt, ist folgende: Ist das Warenhaus nicht vielleicht selbst ein Narrativ, wenn es so viele Merkmale mit starken kollektiven Erzählungen teilt? Dies ist nicht leicht zu beant­ worten, da das Warenhaus ja nicht nur ein „starkes“ Symbol im Rahmen der Konstitu­tion der modernen Konsumgesellschaft ist, sondern auch als ein Erzählungen generierendes, in höchstem Maße affektiv besetztes Element im Kontext des zeitgenös­sischen Moder­ nenarrativs fungiert. Vielleicht lässt sich auf das Warenhaus übertragen, was Koschorke über Epochenbezeichnungen schreibt: Diese ­seien „Kontrak­tionsformen von Narrativen“ (Koschorke 2012, 254). 6 Vgl. Kapitel 2.1.

Schluss

erbringen sie eine „epistemische Organisa­tionsleistung“ (Koschorke 2012, 252): Das Warenhaus fungiert als epistemischer Filter, der nicht nur die Komplexität der modernen Erfahrungswirk­lichkeit reduziert und in einen holistischen Zusam­ menhang stellt, sondern das Wissen über die frühe Konsumgesellschaft auf eine bestimmte Weise ordnet. Dass auf einer tiefengrammatischen Ebene bestimmte Schemata in Bezug auf die verschiedenen über das Warenhausthema verhandel­ ten Problemlagen überhaupt wirksam werden können, hat hier seinen Grund, ebenso wie die erstaun­liche Homogenität vieler an das Warenhaus geknüpften Figurentypen, Szenen oder Geschichten, deren analoge Gestalt sich nicht bzw. nicht ausschließ­lich über Filia­tionsanalysen erklären oder erschließen lässt. Auf der tiefengrammatischen Ebene fungieren die Schemata als Strukturgeber. In ­diesem Sinne können die Transgressions- und Limita­tionsfiguren, das einge­ schlossene, ausgeschlossene Dritte oder die Motive des Gewinns und Verlusts verstanden werden, die in den Diskussionen um das Warenhaus in vielfältigen Abwandlungen und Ausprägungen auftreten. Diese Schemata sind, wenn auch in extrem reduzierter Form, als „narrative Strickmuster“ aufzufassen. Demgegen­ über stellen die einzelnen mit dem Warenhaus verknüpften Figurentypen, Szenen und Geschichten narrative Ausformungen der tiefengrammatischen Schemata dar, d. h., sie können als Varianzphänomene der individuellen Ausgestaltung des Schemas beschrieben werden: „Ein narratives Strickmuster wird erst durch seine konkrete Ausgestaltung lebendig. Während Redundanz – die Erfüllung des Schemas – ein vorhandenes Bedürfnis nach Erwartungssicherheit befriedigt, zieht Varianz – die individuelle Abweichung vom

Schema – die Aufmerksamkeit auf die jeweilige Erzählung; variatio delectat, wie es im

Lateinischen hieß.“ (Koschorke 2012, 49)

Was auf der inhalt­lichen Ebene überraschende Analogien hervorbringt, etwa die ­zwischen Judentum, Weib­lichkeit und Amerika 7 (als Ausformungen des Schemas „Transgression“) oder die ­zwischen Oniomanin, weib­licher Warenhausangestellter und jüdischem Kaufmann 8 (als Ausformungen der Figur des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten), ist in Bezug auf die tiefengrammatische Ebene und

7 Vgl. Kapitel 7.4. 8 Vgl. Kapitel 5.3 und 6.3.

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die dort wirksamen Schemata also redundant, wobei Redundanz nicht Repeti­ tion meint (vgl. Koschorke 2012, 49). Erst im Rahmen der epistemischen Organisa­tionsleistung kann das Waren­ haus zum Modell der Moderne werden. Varianz und Schema verstärken sich im Sinne der Anschau­lichkeit gegenseitig und erzeugen auf diese Weise die kultu­ relle Wirkungsmächtigkeit der Kollektivsymbole und -narra­tionen. Schon Zolas Roman Au Bonheur des Dames verdeut­licht diesen Mechanismus im Wechselspiel von Schematisierung auf der strukturellen Ebene und detailistischer Ausgestal­ tung auf der inhalt­lichen Ebene beispielhaft. Nicht zuletzt aus ­diesem Grund steht auch Zolas Text (mit einigen wenigen anderen, z. B. denen von d’Avenel oder – ­später – von Göhre) am Beginn der bis heute andauernden Faszina­tions­ geschichte des Warenhauses und nicht etwa der Roman von Rachilde, in dem das Warenhaus nicht (wie bei Zola, d’Avenel oder Göhre) als Medium der Modellie­ rung avancierter Modernität fungiert, sondern ledig­lich ein negativ aufgeladenes soziales Milieu darstellt. Das Warenhaus als Modell der Moderne hätte sich kollektivsymbo­lisch aller­ dings kaum dauerhaft durchsetzen können, hätte sich dessen Modellhaftigkeit einzig in der Veranschau­lichung der spezifischen modernen Existenzbedingungen erschöpft. Was die Diskussionen um das Warenhaus überdies vorführen, ist die Krisenhaftigkeit der Moderne. Diese kristallisiert sich in zahlreichen Konflikten und „Kämpfen“, die über das Thema Warenhaus diskursübergreifend ausge­ tragen werden. Daher geht es, wenn um 1900 kontrovers über das Warenhaus gesprochen wird, immer ums Ganze: um das Ganze der Wirtschaft, des Volkes oder des Staates. Dies zeigt sich nicht nur an der hohen affektiven Besetzung der verschiedenen über das Warenhaus verhandelten Problemlagen, sondern ebenfalls an der vielfach „gewalttätigen“ Metaphorik. Es ist kein Zufall, dass die dem Warenhaus zugeschriebenen Transgressionsphänomene stets als Überwäl­ tigungen, Verwilderungen oder gewaltsame Entortungen diskursiviert werden. Zugleich macht die Mög­lichkeit zur diskursübergreifenden Veranschau­lichung der modernen Krisenhaftigkeit das Warenhaus zu einer semiolo­gisch „heißen“ Zone: zu einem diskursiven Dauerbrenner und sichert ihm über Jahrzehnte hin­ weg eine Aufmerksamkeit, die es über seine ökonomischen, technischen oder werb­lichen Innova­tionen kaum hätte erzielen können. In ­diesem Sinne lässt sich das Warenhaus schließ­lich als Schauplatz der Moderne beschreiben. Weil das Warenhaus ein Ort ist, an dem landläufige Klassifizierungen und Differenzierungen interdiskursiv in Frage gestellt werden können, geraten

Schluss

diese Klassifizierungen und Differenzierungen in Fluss und werden durchlässig, so dass die Frage nach ihrer Geltungskraft und Legitimität gestellt werden kann. Was Koschorke allgemein in Bezug auf Narrative feststellt, trifft im Rahmen der Modernediskussion um 1900 insbesondere auf das Warenhaus zu: „Jede Gesellschaft [benötigt] Zonen und Praktiken der Entdifferenzierung […] – nicht

zuletzt, damit die Funk­tionscodes und Differenzierungsstile der diversen sozialen Sys­

teme überhaupt miteinander in Austausch treten können. Gerade dort, wo sich Differen­ zierungen auflösen oder noch nicht fixiert sind, wo sich alle Unterteilungen als vorläufig erweisen, wird gesellschaft­liche Selbstverständigung mög­lich.“ (Koschorke 2012, 40)

Die interdiskursive Funk­tion des Warenhauses, die den Blick aufs „Ganze“ der Moderne gestattet, ist somit unmittelbar mit der kulturellen Funk­tion des Waren­ hauses, näm­lich gesellschaft­liche Selbstverständigung zu ermög­lichen, verbunden. Hier liegt nicht zuletzt der Grund, warum die mit dem Warenhaus verbundenen kollektiven Imagina­tionen eine derartige Wirksamkeit entfalten konnten und teilweise bis heute entfalten.

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DANKSAGUNG Von der ersten Idee bis zur Niederschrift und Publika­tion ­dieses Buches ist fast ein Jahrzehnt vergangen. In dieser Zeit haben zahlreiche Kollegen und Freunde mit Anregungen, Hinweisen, Ermutigungen und Diskussionen die Entstehung des Buches begleitet und gefördert. In der Frühphase des Projekts haben mir insbesondere Sabine Biebl und Christiane Lamberty wichtige Hinweise zur Quellen- und Forschungssitua­tion gegeben. Darüber hinaus haben mich während der Ausarbeitung Monika Schmitz-­Emans und Gertrud Lehnert auf vielfältige Weise unterstützt. Für Diskussionen und zahlreiche Winke ­seien Christoph Asmuth, Kai Fischer, Thomas Lenz, Patrick Stoffel sowie Heiko Stul­lich gedankt. Zu besonderem Dank bin ich Ingo Stöckmann verpflichtet, der das Projekt von Anfang an mit produktiver Kritik begleitet hat. Darüber hinaus sei Anya Reichmann mein herz­licher Dank ausgesprochen, die mir in der „heißen“ Phase der Ausarbeitung nicht nur den Rücken gestärkt, sondern auch soweit als mög­lich freigehalten hat. Ralf Lindemann sei herz­lich für das sorgfältige Lektorat des Manuskripts gedankt, für die Unterstützung bei der Recherche Solvejg Nitzke, für die Über­ prüfung fremdsprachiger Zitate Michaela Schmidt und Anya Reichmann. Ohne die Gewährung einer Sachbeihilfe durch die DFG und die dadurch ermög­lichte Freistellung von meinen Lehrverpflichtungen wäre das Projekt nicht realisierbar gewesen. Dafür sei der DFG mein herz­licher Dank ausge­ sprochen. Für die finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung des Buches sei der DFG , der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswis­ senschaften und dem Handelsverband Berlin-Brandenburg e. V. in Person von Nils Busch­-Petersen gedankt. Gewidmet ist das Buch meinen Töchtern Ada und Mila. Sie wissen warum.

LITERATURVERZEICHNIS

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LYDIA LANGER

REVOLUTION IM EINZELHANDEL DIE EINFÜHRUNG DER SELBSTBEDIENUNG IN LEBENSMITTELGESCHÄFTEN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND (1949–1973) (KÖLNER HISTORISCHE ABHANDLUNGEN, BAND 51)

Die Eröffnung des ersten Selbstbedienungsladens in der Bundesrepublik Deutschland leitete im Jahr 1949 einen Innovationsprozess im Lebensmitteleinzelhandel ein, der das alltägliche Ein- und Verkaufen grundlegend umgestaltete. Im Verlauf der 1950er und 1960er Jahre versuchten die Einzelhandelsunternehmer, den neuen Anforderungen der Massenkonsumgesellschaft gerecht zu werden. Sie führten zunächst die Selbstbedienung, wenig später dann auch Supermärkte und Discounter ein. Wegweisend dafür war die Orientierung an den Entwicklungen des Einzelhandels in den USA sowie in anderen westeuropäischen Ländern. Da dieser Wandel die Rolle von Käufer und Verkäufer, die Ladengestaltung und die Warenpräsentation fundamental veränderte, war die Umstellung von Bedienung auf Selbstbedienung auch von zahlreichen praktischen Hindernissen und soziokulturellen Vorbehalten begleitet. 2013. IX, 445 S. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-21113-4

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VICTOR GRUEN

SHOPPING TOWN MEMOIREN EINES STADTPLANERS (1903–1980) HERAUSGEGEBEN VON ANETTE BALDAUF

Victor Gruen (1903–1980) zählt zu den einflussreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts: Beim Versuch, in der US-amerikanischen Vorstadt seine Geburtsstadt Wien zu rekonstruieren, erfand der Emigrant jüdischer Herkunft die Shopping Mall. „Ich weigere mich, Alimente für diese Bastardprojekte zu bezahlen, sie haben unsere Städte zerstört“, schrieb Gruen später angesichts der Mallisierung der Städte und setzte sich für Fußgängerzonen und das Konzept der zellularen Stadt ein. Zurück in Europa warnte er vor dem Modell Amerika und forderte ein Verständnis von Architektur als verantwortungsbewusste Umweltgestaltung. Die Autobiografie rekonstruiert ein Jahrhundert Stadtentwicklung und bezeugt eine visionäre Kraft, die, beflügelt von Gesellschaftskritik ebenso wie Gigantomanie, das Urbane kompromisslos verteidigt. Mit Beiträgen von Peggy Gruen und Victor Gruen. 2014. 408 S. 80 S/W-ABB. GB. 155 X 235 MM. | ISBN 978-3-205-79542-1

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JAN RÖHNERT (HG.)

DIE METAPHORIK DER AUTOBAHN LITERATUR, KUNST, FILM UND ARCHITEKTUR NACH 1945

In der Autobahn kommt die Idee der Straße zu sich selbst. Wie kaum ein anderes Bauwerk der Moderne bestimmt sie unsere Wahrnehmung von Verkehr und Mobilität. Wie sich ihre Erscheinungsformen in der Literatur, den Künsten, in Film und Architektur weltweit niederschlagen, ist Gegenstand der Beiträge dieses Sammelbandes. Er verlagert den Schwerpunkt des kulturwissenschaftlichen Interesses an der Autobahn von den sogenannten »Reichsautobahnen« hin zum internationalen Phänomen autobahnartiger Schnellstraßen und ihrer künstlerischen Inszenierung und Transformation. 2014. 328 S. 37 S/W- UND 32 FARB. ABB. FRANZ. BR. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-412-22421-9

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oK! aUc H als eBo

Theo Buck

Hans JoacHim scHädlicH LEBEN ZWISCHEN WIRKLICHKEIT UND FIKTION

Hans Joachim Schädlich, 1935 im Vogtland geboren, arbeitete nach seiner Promotion in Germanistik als Sprachwissenschaftler für die Akademie der Wissenschaften in Ostberlin. Dort verfasste er seit dem Ende der 1960er Jahre seine ersten literarischen Arbeiten. Doch diese regimekritischen Werke wur­ den in der DDR nicht veröffentlicht, vielmehr ließ ihn das Ministerium für Staatssicherheit bespitzeln. 1976 wurde Schädlich für die Regierenden zum Staatsfeind, nachdem er gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. 1977 reiste er mit seiner Familie aus der DDR in den Westen aus. Sein erster Erzählband »Versuchte Nähe« war kurz zuvor in der Bundesrepublik erschienen und hatte große Beachtung gefunden. In der Folge avancierte Schädlich mit seiner Prosa zu einem der bedeutendsten Autoren in der zeit­ genössischen deutschen Literatur. Der Germanist Theo Buck legt hier die erste Biografie und Werkanalyse des international renommierten und mit zahlreichen Literaturpreisen und Ehrungen ausgezeichneten Schriftstellers Hans Joachim Schädlich vor. 2015. 279 S. 14 S/W-ABB. GB. 135 X 210 MM | ISBN 978-3-412-22449-3

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