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German Pages 314 Year 2017
Daehun Jung Subjektivität und Kunst
Edition Moderne Postmoderne
Für meine Eltern
Daehun Jung (Dr. phil.), geb. 1973, promovierte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sein Schwerpunkt liegt in der Geschichts-, Kunst-, und politischen Philosophie. Er ist Vorstandsmitglied der Koreanischen Hegel-Gesellschaft.
Daehun Jung
Subjektivität und Kunst Konstitution der Moderne nach Hegel und Nietzsche
D.30
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Inhalt Einleitung | 7
TEIL I: HEGEL UND DIE GENEALOGIE DER MODERNE 1.
Höhenflug des Geistes. Einführung in Teil I | 17
2.
Welt, Handlung und Tragik | 23
2.1 Konstitution einer sittlichen Welt | 24 2.2 Die Tragik im Sittlichen | 39 3.
Genealogien der modernen Subjektivität | 73 Vom Naturzustand zum Rechtszustand | 75
3.1 3.2 Sprache, Kunst und Subjektivität: Vom Volk zum Demos | 93
TEIL II: NIETZSCHE UND DIE NACHAHMUNG DER MODERNE 4.
Künstlerische Technik der Kulturgründung. Einführung in Teil II | 125
5.
Figuren des Dionysischen und Kritik des Ursprungsbegriffs | 129
5.1 Poetologie, Kulturhistorie und Philosophie des Griechischen: Diskursebenen in der Geburt der Tragödie | 129 5.2 Ursprung der Kultur, Grund des Selbst: Von der Romantik zum Modernen | 141 6.
6.1 6.2
Kunst, Schein, Klassik. Geschichtsphilosophie, Ästhetik und Ontologie der Nachahmung | 183 Konstitution der Kultur | 185 Nachahmung der Kultur | 205
7.
Kunst nach der Kunst und die moderne Welt | 227
7.1 Eine selbstveräußernde Geschichte der Tragödie | 228 7.2 Politische Kunst der Tragödie | 280 Literatur | 301
Einleitung
Moderne ist unsere Zeit. Dies ist die einfachste und genaueste Definition der Moderne. Daher enthält die Moderne in ihrer Definition notwendig den Bezug auf ihr Pendant – die Moderne identifiziert sich als unsere Zeit dadurch, dass sie sich von der vorangegangenen Zeit, von der Vormoderne abhebt. Moderne definiert sich nämlich im Hinblick auf ihre Vorzeit, im Hinblick darauf, was sie im Abstand zu ihrer Vergangenheit neu gewonnen und was sie damit verloren hat. Der Blick auf ihre Vergangenheit ist für die Moderne wesentlich. Eine gewöhnliche und eingespielte Weise, die Gewinn- und Verlustbilanz der Moderne zu betrachten, ist die, das Verlorene in dem substanziellen Inhalt und das Gewonnene in der selbständigen Form zu sehen – davon auszugehen, dass die feste Grundlage der vormodernen und die freie Bewegung der modernen Zeit eigentümlich ist. Demnach ist die Moderne eine Zeit der ›Aufklärung‹ auf Kosten des festen Bodens, während der Versuch, diese bezahlten Kosten zurückzuerstatten oder die Geistesgesinnung, das Verlorene zu vermissen, ›Romantizismus‹ genannt wird. Und an diese Entgegensetzung schließt eine unbestimmte Reihe von Gegensatzpaaren an, in denen jeweils das eine Glied die Moderne und das andere die Vormoderne repräsentieren soll: Subjekt und Substanz, Form und Inhalt, Rationalität und Gefühl, Geist und Natur, Reflexion und Unmittelbarkeit, Vernunft und Mythos. Dabei scheint es zunächst so, als handle es sich bei diesen Gegensätzen nicht bloß um eine Frage des Entweder-Oder, um eine Wahl zwischen Optionen, sondern als sei die Zeit der Vormoderne endgültig vorbei, sodass wir nunmehr irreversibel in der Moderne leben. Infolgedessen scheint der naheliegende Wunsch oder die naheliegende Frage, ob und wie wir, die Modernen, den Vorzug der Vormoderne zurückgewinnen können, ohne dabei denjenigen der Moderne zu verlieren – die Frage also, die aus jener Bilanz verständlicherweise entstehen mag – gegenstandslos zu sein: Die feste Grundlage ist nicht bloß aufgelöst, sondern auch nicht mehr wieder aufzubauen, nicht mehr möglich. Denn sie hat sich endgültig in die vergangene Zeit zurückgezogen und ist für uns
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ein nie mehr zugänglicher Ursprung geworden. Sobald die moderne Zeit beginnt, sobald damit die Geschichte der Moderne beginnt, ist der feste Grund zu einer vergangenen Gegenwart geworden. Die Moderne ist eine Zeit des »Rückzugs des Ursprungs«.1 Sie ist eine Zeit, in der der feste Grund als der erste Ursprung in der vergangenen Zeit verlorengegangen ist. Das Bewusstsein dieses Verlusts der festen Stütze und des Alleingelassenseins mit dem Problem der normativen Gründung ist das Merkmal der Moderne: »[D]ie Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne Möglichkeit der Ausflucht, an sich selbst verwiesen. Das erklärt die Irritierbarkeit ihres Selbstverständnisses, die Dynamik der ruhelos bis in unsere Zeit fortgesetzten Versuche, sich selbst ›festzustellen‹.«2
Die bisherige Diagnose, die auf jener oben genannten Bilanzierung beruht, also vom Verlust des Grundes und dem Gewinn der ›Autonomie‹ ausgeht, beschreibt aber die moderne Situation insofern unzureichend, als sie innerhalb der einfachen Konzeption von Gewinn und Verlust bleibt, ohne nach der inneren Verbindung zwischen dem Gewinn und dem Verlust zu fragen – ohne also nach dem Zusammenhang zu fragen, in dem der Ursprung sich zurückgezogen hat und der feste Grund endgültig verlorengegangen ist. Der Rückzug des Ursprungs und der Verlust des Grundes beziehen sich – davon geht die vorliegende Arbeit aus – auf die Setzung des Subjekts: Rückzug und Verlust der Substanz verdanken sich der Subjektsetzung. Dadurch, dass das Subjekt (sich) setzt, geht der substanzielle Grund verloren. Hinter der Rede vom ›Tod‹ steht die Subjektsetzung. Das Problem der Gründung, das der Moderne eigentümlich ist, entsteht nicht erst daraus, dass es ihr unmöglich ist oder sie es ablehnt, die vormodernen Vorbilder zu »entlehnen« (Habermas), sondern ist verursacht durch einen Akt, der die Grundlage der vormodernen Zeit, das An-sich-Sein des Grundes des Selbst, nunmehr unmöglich macht: durch die Setzung des Selbst. Das Subjekt ist nichts anderes als der Name für diesen Selbstsetzungsakt des Selbst.3 Der ›Tod Gottes‹ ist als das
1
Für den Ausdruck und den Kontext, in dem dieser liegt, vgl. Foucault, Die Ordnung
2
Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 16; Herv. i.O.
3
In diesem Zusammenhang wäre es nicht überflüssig, noch einmal auf ein Theorem zu-
der Dinge, S. 396 ff.
rückzukommen, das zwar vor Jahrzehnten heftige Diskussionen hervorgerufen hat, das uns aber nun ohne ein weiterreichendes Verständnis schon als längst antiquiert erscheint: der Tod des Subjekts. Der zu Unrecht postmodernistisch verstandene ›Tod des
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Resultat dieses Akts zu verstehen. So, also im Blick auf den Setzungsakt des Subjekts verstanden, kann jedoch der Sackgassen-Charakter der Moderne, die Grundlosigkeit, nicht überwunden werden, er radikalisiert sich vielmehr noch: Die Moderne tritt nur insofern ein, als sie die substanzielle Grundlage nicht bloß verliert, sondern zerstört. Durch den Eintritt der Moderne ist damit die Zeit des an-sich-seienden Grunds erst zu einer Zeit vor der Moderne, zur Vormoderne geworden, die unverrückbar und entschieden vergangen ist. Das endgültige Vergangensein der Zeit des Substanziellen ist damit besiegelt. Die Moderne tritt nach der Zeit der Vormoderne apriorisch verspätet ein. Damit ist der Grund für die Moderne ein Problem, und das Problem des Grundes ist, sei es implizit oder explizit, die Frage nach der Gründung im Vakuum der Substanz geworden. Und aus dieser Frage ergibt sich ein Paradox der Setzung: Wer seinen Grund setzt, der sichert erst durch diesen Grund seine Existenz; dass das Subjekt sich setzt, heißt, dass es erst durch diese Setzung überhaupt zur Existenz kommt oder sich dadurch erst als derjenige konstituiert, dem der für die Setzung eines Grundes erforderliche Status zukommt. Das Wer der Setzung selbst ist infolge dieses Paradoxes ungesichert – und damit auch jeder (Be-)Gründungsversuch, der auf diesem Subjektstatus beruht.4 Das Problem des
Subjekts‹ ergibt sich nämlich aus einer zu unbestimmten Verallgemeinerung davon. Michel Foucault, der berühmteste Autor, der als Verkünder dieses Todes bekannt ist, beschränkt seine Rede auf eine bestimmte Form des Subjekts: die Form des Subjekts, die nach seiner Theorie der Episteme als eines historischen Apriori seit dem 19. Jahrhundert in einem ›anthropologisch‹ dogmatisierten Wissensmilieu eingetreten ist; vgl. dazu Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 410 ff. (»Der anthropologische Schlaf«). 4
Dieses Problem der Setzung wurde Kant zwar seit seiner transzendentalen Wendung und bereits in seiner theoretischen Philosophie völlig gewahr, aber er hat es so formuliert, dass es in das transzendentale System integriert werden kann und soll: »Was Gegenstände betrifft, sofern sie bloß durch Vernunft und zwar notwendig gedacht, die aber [...] gar nicht in der Erfahrung gegeben werden können, so werden die Versuche sie zu denken […] hernach einen herrlichen Probierstein desjenigen abgeben, was wir als die veränderte Methode der Denkungsart annehmen, daß wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen« (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, »Vorrede zur zweiten Auflage«, B XVIII, S. 21; Hervorh. von mir). Das Bewusstsein der Setzung hat sich danach in seiner praktischen Philosophie, also auf der handlungstheoretischen Ebene und im Hinblick auf das Gesetz der Handlung zugespitzt (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 57 und 75). Inzwischen ist das Setzungsproblem bei der Handlung als ›Paradox der Autono-
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Grundes, die Frage nach der Gründung und das Paradox der Setzung sind modern, also in der und durch die Moderne zum Zuge gekommen. Und zwar insofern so, als die moderne Selbstsetzung an die Stelle der nun vormodern gewordenen Substanzbildung getreten ist. In der vorliegenden Untersuchung geht es nicht um eine Lösung dieses Problems, dieser Frage oder dieses Paradoxes – ich würde sie vielmehr im Grunde für unlösbar halten. Ich gehe davon aus, dass sie keine möglichen Gegenstände einer ›Lösung‹ sind; Lösungsvorschläge für derart fundamentale ›Probleme‹ wären in manchen Fällen naiv oder gar gefährlich. Wohl aber ist diese Beschreibung unerlässlich, um die Ausgangslage der Betrachtung der Moderne zu verstehen – im Sinne eines Verständnisses der Bedingung, die der Moderne innerlich angelegt und für sie konstitutiv ist. In dieser Untersuchung geht es also nicht um die Lösung des Problems und des Paradoxes der Setzung; vielmehr geht es darum, die Frage oder das Paradox der Setzung erneut in einem geschichtsphilosophischen Zusammenhang zu denken. Den geschichtsphilosophischen Zusammenhang, in dem diese Frage oder dieses Paradox steht, erneut zu denken, bedeutet – auf der Thesenebene vorliegender Arbeit –, das Schema der Entgegensetzung oder des Gegensatzes zwischen der Moderne und der Vormoderne in Frage zu stellen, dadurch die beiden Relata, die Moderne und die Vormoderne, aus dem Verhältnis des äußeren Gegensatzes herauszulösen und in einem neuen Verhältnis zu verstehen. Nennen wir kurz die Merkmale dieses Schemas. Der Auffassung des Verhältnisses von Moderne und Vormoderne als einer äußeren Entgegensetzung liegen nämlich einige Annahmen zugrunde, die dieses Verhältnis besonders durch die Charakterisierung der Eigentümlichkeiten der Vor-Moderne bestimmen: dass die substanzielle Grundlage, die das Merkmal der Vormoderne ist, in dieser Zeit ihrem Substanzcharakter gemäß in sich vollendet und vollkommen, weil unmittelbar, gegeben war; dass die vormoderne Zeit eine vergangene, nicht mehr zugängliche Zeit ist; dass die substanzielle Grundlage nurmehr als das »Objekt der Erinnerung das unauslöschliche Zeichen des Verlusts trägt«.5 Die in sich vollendete Unmittelbarkeit, Zugehörigkeit zu einer endgültig verstrichenen Zeit und der unwiederbringliche Verlust sind die Charaktere der substanziellen Grundlage der vormodernen Zeit, die mit der äußeren Entgegensetzung von Moderne und Vormoderne zusammenhängen. Den geschichtsphilosophischen Zusammenhang der Setzungsfrage oder des Setzungsparadoxes neu zu denken, hängt davon ab,
mie‹ bezeichnet und viel diskutiert; vgl. dafür Khurana/Menke (Hg.), Paradoxien der Autonomie. 5
Ricoeur, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, S. 27.
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diese Merkmale, die, wie man sieht, eine in einem höchsten Maße feste und in sich geschlossene Struktur der vormodern-substanziellen Grundlage repräsentieren, in einer dynamischen Auffassung neu zu konstellieren. Von dieser dynamischen Auffassung, für die eine Rettung der Vergangenheit als Aufgabe auf dem Spiel steht, hängt das Gelingen des Versuchs der Moderne ab, ihre apriorische Verspätung in Bezug auf die Gründungsfrage aufzuholen. Hegel und Nietzsche sind meines Erachtens die Autoren, die sich nach Kant mit dem modernen Problem der Setzung und mit der Frage der Nachholung der apriorischen Verspätung der Moderne im Hinblick auf den geschichtsphilosophischen Zusammenhang am meisten beschäftigt haben. Ihr Interesse daran zeigt sich exemplarisch an der Zentralität, die dem Problem des Todes Gottes in ihren Philosophien zukommt. Dies bedeutet nicht nur, dass der Tod Gottes ein zentrales Anliegen bei beiden Philosophen ist: Der Tod Gottes ist vielmehr von beiden als ein Ereignis interpretiert worden, das mit dem Akt des Subjekts eng zusammenhängt. Aber die aufsehenerregende Wirkung, das Spektakuläre dieses Ereignisses, behindert nicht nur die sachliche Behandlung der Modernitätsproblematik; sondern vor allem die Tatsache, dass dieses Ereignis für das Verständnis einer genetischen Konstitution der Moderne als eine schon späte Erscheinung, sogar als ein Resultat von etwas Vorangegangenem zu verstehen ist, erfordert es, unser Augenmerk auf eine frühere Phase zu verschieben, in der sich die Moderne zwar in einer scharfen Diskontinuität, aber immanenterweise aus der wiederum ihr vorangegangenen Zeit zu entwickeln beginnt. Der Setzungsakt, der für den Tod Gottes verantwortlich ist, sollte sich also als etwas zeigen, das diesem Ereignis strukturell vorangegangen sein muss. Diese Phase, in der es um die ›Geburt‹ des Setzungsaktes, um ein neues Verständnis der Handlung durch deren neue Darstellung geht, hängt historisch wie systematisch gesehen mit der Epoche der klassischen griechischen Tragödie als der Epoche des Übergangs zur Moderne zusammen. Für Hegel wie Nietzsche ist diese Phase, obschon auf je unterschiedliche Weise, gleichsam eine Scharnierstelle, an der ein Rückblick auf die klassisch-urbildliche Größe und ein Vorblick auf die noch unbestimmt offen kommende Moderne zugleich möglich sind. Die Phase der Tragödie ist eine der Simultaneität eines in sich vollendeten Weltzustandes und einer in diesem verlaufenden Handlung, die sich aber auf einen neuen Weltzustand hin öffnet, eine Phase also, die weniger ein abgetrennter eigener Zeitraum als ein Kraftfeld ist, in dem dargestellt wird, wie sich die eine und die andere Welt ineinander erstrecken. Ich versuche in der vorliegenden Arbeit aus der geschichtsphilosophischen und kulturphilosophischen Perspektive bei Hegel und Nietzsche die Dynamiken zu rekonstruieren, nach denen sich zeigen lässt, wie eine moderne Welt errichtet
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werden kann, die, nachdem eine in sich vollkommene Welt, die ihr vorangegangen ist, eine endgültig vergangene geworden ist, als diejenige eintreten sollte, die dieser Vollkommenheit gerecht wird. Dabei verbindet sich – und hier ist eine Problematik angesiedelt, die nicht nur bei Hegel und Nietzsche angelegt ist, sondern von einer ganzen Tradition getragen worden ist, die von Winckelmann über Nietzsche bis in die Gegenwart reicht – die Frage, wie sich die moderne Welt selbst gründet und konstituiert, wie also überhaupt in der Moderne von (der Konstruktion) einer Welt, die dann – sei es kulturell oder politisch oder anders – weiter bestimmt werden mag, die Rede sein kann, unerlässlich mit der Frage, wie die eigentümliche Vollkommenheit der vormodernen Welt aufgefasst werden kann und muss, damit daraus noch einmal eine Welt entstehen kann. Auf solcherart miteinander verbundene Fragen, die zusammen eine Frage der Wiederholung ausmachen, reagieren beide Philosophen, so die Basisannahme der vorliegenden Arbeit, mit dem Konzept eines Werdeprozesses – mit einem Konzept, das auf einem dezentrierenden Selbstbezug beruht, durch den das in der und für die Moderne unvermeidbare Paradox der Setzung als eine konstitutive Bedingung in das ›Innere‹ der Moderne übertragen wird, ohne dass damit eine Anmaßung einer Lösung dieses Paradoxes oder einer Mäßigung des Paradoxes verbunden wäre. Dieser Werdeprozess ist, wenn man zunächst mit Blick auf Hegels Überlegungen spricht, als ein Subjektivwerden des Subjekts zu bezeichnen, durch das dieses aber nicht mehr bloß subjektiv im Sinne der Zentrierung auf sich wird. Die Subjektivität, die darin zum Zuge kommt, besteht nämlich in einem Bezug auf sich, dessen Bezugscharakter selbst in die Selbstheit des Subjekts eine grundsätzliche, für das Selbst konstitutive Spaltung einschreibt. Und in diesem Werdegang spielt – das ist die Zone, in der Hegelʼscher und Nietzscheʼscher Ansatz aneinander anknüpfen oder miteinander kommunizieren – die Kunst eine wesentliche Rolle. Der Prozess, in dem die Subjektivität als jener Selbstbezug des Selbst, in dem das Selbst dadurch sich konstituiert, dass es sich selbst äußerlich wird, in ihrer Selbstdarstellung zum Zuge kommt, ist als ein Prozess des Kunstwerden der Kunst aufzufassen, in dem der ›Geist‹ als eine naturhaftschönen Gestalt im Substanziellen zu einem absoluten Selbstverhältnis gelangt. Dieser Prozess, den Hegel in der Phänomenologie des Geistes, besonders in seinem Konzept der Kunstreligion dargelegt hat, – ein Prozess des Kunst-Werdens der Kunst durch ihren veräußerlichenden Selbstbezug – liegt Nietzsches Versuch zugrunde, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie eine moderne Kultur im Hinblick auf die klassische antike Kultur möglich ist. Sowohl für Hegel wie auch für Nietzsche erscheint die Kunst dabei als der Kulturträger – und zwar in einem doppelten Sinne: zum ersten Mal als das, was der vormodernen, der klassischen Welt einen – schönen – Schein der Natur hat verleihen können und sich selbst
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nicht als Kunst, sondern als Natur präsentierte; und zum zweiten Mal (und zum dritten, vierten Mal usw.) als das, was an der modernen Konstitution der Welt teilnimmt, wenn die Kunst selbst als Kunst über sich hinausgeht und sich auf die Nicht-Kunst, auf die Welt bezieht. Die Modernität kommt da zum Zuge, wo die Subjektivität als der selbstdezentrierende Selbstbezug in solch einem Prozess des Kunst-Werdens der Kunst zum Vorschein kommt, in dem die Kunst ihrerseits durch diesen selbstspaltenden Bezug erst sich als Kunst einrichtet. Die moderne Welt lässt sich nämlich erst da gründen, wo das Subjekt sich als eine aus-setzende Handlung darstellt, indem es seine Wirklichkeit in seinem entwirklichenden Selbstbezug, in seinem wesentlichen Bezug auf das NichtSubjekt setzt, und wo die Kunst sich als Kunst einrichtet, indem sie in ihrem exteriorisierenden Selbstbezug auf die Nicht-Kunst hin geöffnet wird. Die moderne Kultur lässt sich erst da konstituieren, wo das Subjekt sich als Subjekt, aber als ein sich nicht mehr auf sich zentrierendes, ein nicht mehr subjektives Subjekt, als ein entsubjektiviertes Subjekt und die Kunst sich als Kunst, aber als nicht mehr schöne Kunst, sondern als eine entkunstete Kunst findet. Wo also die so definierte Subjektivität und die so konzipierte Kunst in einem wesentlichen Sichselbst-äußerlich-Werden miteinander zusammenhängen. Im Folgenden werde ich gemäß diesen einleitenden Vorbemerkungen die Konstitution der Moderne anhand zweier ihrer zentralen Begriffe, Subjektivität und Kunst, so zu verfolgen versuchen, dass die Analysen der vorliegenden Untersuchung gezielt und mich bewusst auf bestimmte Texte von beiden Autoren (Hegels Phänomenologie des Geistes und Nietzsches Geburt der Tragödie) als Basistexte, die den Fragestellungen der Untersuchung entsprechen, konzentrieren und unter Absehung von deren ›idealistischen‹ bzw. ›romantischen‹ Färbungen die eigentlichen Dynamiken der Begriffe von Subjektivität und Kunst, die der Klärung der Konstitution der Moderne dienen sollten, rekonstruieren. Dabei ist zunächst allerdings ein allgemeiner Unterschied festzustellen, der zwischen Hegels und Nietzsches Thematisierung der Moderne der Tendenz nach besteht: Hegel strebt danach, zu zeigen, wie sich die moderne Welt aus dem Zusammenbruch der vormodernen, klassischen Welt entwickelt, während sich Nietzsche darum bemüht, darzulegen, wie die Struktur der Kultur dieser vergangenenen Welt in der Moderne nachgeahmt werden kann. Jedoch erscheint dieser Unterschied, der dem Anschein nach die beiden Autoren in zwei entgegengesetzte Richtungen gehen lässt, insofern als untergeordnet, als wir danach fragen, in welcher Form Hegel die genealogische Entstehung der Moderne aus der Vormoderne und Nietzsche die nachahmende Wiederholung der Vormoderne in der Moderne ins Visier nimmt. Es wäre nachlässig, wenn man am Eindruck der Entgegensetzung festhielte, der zwischen der genetisch und der nachahmungstheore-
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tisch verstandenen Konstitution der Moderne zu bestehen scheint. Denn solcher Eindruck wird sich als umso substanzloser erweisen, je konsequenter wir auf die Fragen zu antworten versuchen, wie sich jene Genese und wie diese Wiederholung vollzieht und vollziehen sollte, und je angemessener wir verstehen, dass und wie diese Fragen wiederum mit der Frage zusammenhängen, was und wie das ist, woraus die moderne Gestalt der Welt entsteht, und, was und wie das ist, was in der Moderne nachgeahmt werden muss. Aus diesem Zusammenhang kann erst auf die Frage geantwortet werden, wie strukturiert ist, was sich aus dieser Entstehung bzw. aus dieser Nachahmung ergibt. Diese Fragen oder besser diese Art der Fragen liegt der vorliegenden Arbeit zugrunde. Das Ziel dieser Arbeit ist demnach weder eine textphilologische Engführung zwischen beiden Philosophen durch eine bloße Feststellung der Ähnlichkeiten bei den behandelten Themen noch das Herausarbeiten einer gemeinsamen Grundlage beider für das dementsprechend eine ›große Theorie‹ erforderlich wäre. Vielmehr ist es das Ziel der Arbeit, zwei Versuche zur Konstitution der Moderne, die im Hinblick auf die Diagnose wie auf den Ausgang durch ein stark geschichtsphilosophisches Bewusstsein geprägt sind, nach jenen Fragen zu untersuchen, die sich darauf richten, nach den Schlüsselbegriffen von Subjektivität und Kunst eine Konstitution der Moderne zu verfolgen.
Teil I: Hegel und die Genealogie der Moderne
1. Höhenflug des Geistes Einführung in Teil I
Nach der gewöhnlichen Auffassung erleidet das moderne Bewusstsein, das grundsätzlich als ›subjektiv‹ bezeichnet werden kann, den Verlust seiner ›substanziellen‹ Grundlage und muss eine neue Grundlage ›aus sich selber‹ setzen: Das Bewusstsein dieses Verlustes und der Notwendigkeit, den eigenen Grund selbst zu setzen, ist die Vorbedingung der Geburt des modernen Subjekts. Die Moderne entsteht aus einem Bruch mit Substanziellem, wobei der Verlust als solcher nie wiedergutzumachen ist und sie aus eigener Kraft bestehen muss; die eventuellen Versuche zur Wiederherstellung dessen, was verloren gegangen ist, sind dem Verdacht unterworfen, anachronistisch, ja in manchen Fällen – insbesondere politisch – gefährlich zu sein. Die Subjektivität, von der in der Moderne die Rede ist, kann nur um einen hohen Preis entstehen und bestehen – um den Preis des Verlusts der Substanzialität, die für die Zeit vor dem Aufbruch der Moderne einen psychologischen, sozio-politischen und ontologischen Zusammenhalt garantiert hatte. Soweit die Diagnose der Moderne, die eine allgemeine Zustimmung erhalten hat. Wie auch immer dieser Zusammenhang formuliert werden mag und so sehr verbreitet diese Art der Ansicht ist – etwa in der Formel ›Subjektivität statt Substanzialität‹ oder in der These eines Bruchs zwischen beiden oder aber als ein Alternativverhältnis zwischen der freien (aber leeren) Subjektivität und der heteronomen (aber erfüllten) Substanzialität –, so ausweglos führt sie zu einer leeren Souveränität der Subjektivität. In den letzten Jahrzehnten hat es Versuche gegeben, sich dieser leeren Zuspitzung der Subjektivität im Anschluss an Hegels Philosophie zu entziehen. Zu diesen gegenwärtigen Positionen der Hegel-Interpretation, die sich besonders auf Hegels Konzeption der Sittlichkeit beziehen, gehören zum Beispiel die diskursethische Einlösung der Sittlichkeit (Habermas), deren anerkennungstheoretische
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Entwicklung (Honneth) oder die Rekonstruktion dieser Konzeption in einem Modell kollektiver Agency (Pippin, Pinkard). Diese Autoren gehen bei allen Unterschieden in Details von einer doppelten Sozialpraxis aus, die zugleich einen konstitutiven und einen kritischen Aspekt hat: Die (moderne) Subjektivität kann zum einen nur durch die Individuierung als die gelingende Teilnahme an sozialen Normen konstituiert werden, die erst dem Subjekt seinen normativen Status oder seine praktische Identität sichert; zum anderen können diese Normen durch die kollektive Tätigkeit des Austauschs von Gründen kritisch rekonstruiert werden, durch eine Tätigkeit also, die auf der wechselseitigen Anerkennung als Partner solcher Verständigung beruht. Diese sowohl konstitutive wie kritische Praxis der Subjektivität macht die »Lebenswelt« (Habermas) oder den »social place« (Pinkard, Pippin) aus, jene Sphäre also, in der die Selbstbestimmung und die Selbstverwirklichung der individuellen Subjekte aufgrund solcher Praxis gesichert werden. Diese Positionen scheinen auf solche Weise eine relativ sichere Grundlage der Subjektivität anzubieten. Vergegenwärtigt man sich aber, dass die Lebenswelt bzw. der soziale Raum selbst keineswegs von Anbeginn vorgegeben ist, vielmehr nur insofern existiert, als die Subjekte die sowohl konstitutive wie kritische Tätigkeit vollziehen, und vergegenwärtigt man sich weiterhin, dass dieser Vollzug nur dadurch ermöglicht wird, dass die Subjekte wechselseitig ihren Status als Partner der rationalen Verständigung anerkennen, so bemerkt man, dass sich die Konstitution der Lebenswelt oder des sozialen Raums als ganze letztlich auf die Wechselanerkennung dieses Status zwischen den Subjekten stützt. Und die Subjekte, die sich als die Agenten der Wechselverständigung anerkennen, können erst solche Subjekte sein, nachdem sich solche Anerkennung vollzogen hat: »[B]eing a free rational agent consists in being recognized as one, and one can only be so recognized if the other’s recognition is freely given; and this effectively means only if I recognize the other as a free individual«.1 Dieses Aner-
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Pippin, Hegel’s Practical Philosophy, S. 198. Ein solches Anerkennungsverhältnis, das an dem Subjektstatus festhält, der zwischen den zunächst einander fremden Agenten wechselseitig gesichert werden will, ist aber weniger hegelianisch als vielmehr fichtianisch: »Das Verhältnis freier Wesen zueinander ist demnach notwendig auf folgende Weise bestimmt, und wird gesetzt, als so bestimmt: Die Erkenntnis des Einen [sic] Individuums vom anderen, ist bedingt dadurch, daß das andere es als ein freies behandele, (d. i. seine Freiheit beschränke durch den Begriff der Freiheit des ersten). Diese Weise der Behandlung aber ist bedingt, durch die Handelsweise des ersten gegen das andere; diese durch die Handelsweise, und durch die Erkenntnis des anderen, und so ins Unendliche fort. Das Verhältnis freier Wesen zueinander ist daher das Ver-
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kennungsverhältnis impliziert aber, wie es diese Formulierung offensichtlich zeigt, eine unendliche Zirkularität: Das Subjekt kann erst dann ein Subjekt sein, wenn ein anderes Subjekt es als solches anerkennt, das wiederum erst dann Subjekt sein kann, wenn das erste es als Subjekt anerkennt… Diese Zirkularität bedeutet, dass es für die Gründung ihres Verständigungsraums eines gemeinsamen Sprungs bedarf, der zur beiderseitigen Entstehung des Subjektstatus führt. Diese sprunghafte Entstehung des – auch und vor allem kollektiven – Subjektstatus stellt sich bei der Gründung der Gesellschaft in der Moderne als Paradox dar. Die Autorschaft der Subjekte, die einen gesellschaftlichen Raum zu gründen vermag, kann notwendigerweise erst nach diesem gemeinsamen Gründungsakt gesichert werden. 2 Anders ausgedrückt: Es handelt sich um das Paradox des Aufbruchs der modernen Gesellschaft aus dem Nichts. Nach meiner Lektüre von Hegel, die sich insbesondere auf die Phänomenologie des Geistes (im Folgenden: PhäG) bezieht, bietet er eine andere Perspektive an als die des Bruchs zwischen dem Modernen und dem Traditionellen oder die des Ersatzes der Substanzialität durch die Subjektivität. Ich erläutere vorausschickend Hegels Perspektive zur Konstitution der Moderne; diese Erläuterung liegt als ›methodische‹ Grundlage dem ganzen ersten Teil dieser Arbeit zugrunde. Seine Alternative zur Bruch- oder Ersatzthese drückt sich nämlich in einem Satz in der Vorrede der PhäG prägnant aus: »Es kommt […] alles darauf an, das Wahre nicht [nur] als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und
hältnis einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit. Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen: und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln«. (Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, S. 43 f.) Hegels Darstellung der Bewegung der Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes (im Abschnitt »Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins«) vollzieht sich im Unterschied zu Fichtes Darstellung in einer Begrifflichkeit der »Einheit in [der] Verdopplung« (Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3, 145 ff.; im Folgenden zitiere ich aus diesem zentralen Band für den ersten Teil der Arbeit im Fließtext nur mit Seitenangaben); eine Analyse davon ließe sich hier aber nicht weiter vollziehen. 2
Habermas scheint sich eines solchen Paradoxes bewusst zu sein. Sein Ausdruck dafür ist: »die paradoxe Entstehung von Legitimität aus Legalität«. Er versucht aber dieses Paradox zur konstitutiven Spannungsquelle seiner Rechts- und Demokratietheorie umzuwandeln: Vgl. ders., Faktizität und Geltung, S. 110-111.
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auszudrücken«. (23; Herv. i.O.)3 In diesem Satz ist ein vierfacher Ansatz für die Alternative zur oben beschriebenen Moderne-Diagnose zusammengefasst. 1) Hegel geht über jene Diagnose, die durch die Formel ›Subjekt statt Substanz‹ zum Ausdruck kommt, um einen Schritt hinaus, indem er die Modernität durch die Formel ›Substanz als Subjekt‹ zum Ausdruck bringt. 2) Er versteht aber diesen Subjekt-Status der Substanz nicht essentialistisch. Die Identifizierung der Substanz als Subjekt wird vielmehr durch die Darstellung der Substanz als Subjekt vollzogen. Diese Darstellung bedeutet aber nicht eine distanzierte Feststellung; sie ist vielmehr in Hegels Dialektik so beschaffen, dass die Substanz durch eine (Selbst-)Darstellung sich als Subjekt identifiziert.4 3) Daraus, dass sich die Identität der Substanz mit dem Subjekt aus ihrer Darstellung ergibt, folgt, dass diese Identität als das Ergebnis eines Prozesses der Wandlung der Substanz zum Subjekt durch die Darstellung verstanden werden muss. 4) Der Träger dieser Darstellung steht aber nicht außerhalb des Wandlungsprozesses, sondern verwickelt sich von Anfang an in diesen Prozess: Die Substanz stellt sich als das Subjekt dar. Der durch den vierfachen Ansatz geprägte Gedanke, das Verhältnis von Substanz und Subjekt sei im Prozess der Selbstdarstellung der Substanz als Subjekt zu verstehen, liegt also als Ansatz Hegels eigener Konzeption der Moderne in der PhäG zugrunde. Dieselbe sagt er in den allerletzten Seiten des Buches noch einmal: Die »Substanz hat, als Subjekt, die erst innere Notwendigkeit an ihr, sich an ihr selbst als das darzustellen, was sie an sich ist, als Geist«. (585; Herv. i.O.) Und aufgrund dieser vier Momente des darstellerischen Wandlungsprozesses der Substanz als Subjekts wird schließlich die Zeitlichkeit dieses Prozesses selbst verändert: Das Subjekt-Werden der Substanz in der Selbstdarstellung ist weder so zu verstehen, dass eine Entwicklung von der Substanz zum Subjekt wie
3
In diesen viel zitierten Satz, der von vielen Hegel-Forschern aus ganz unterschiedlichen Positionen wie beispielsweise Rüdiger Bubner, Gerhard Gamm und Slavoj Žižek als ein Leitsatz der Hegel-Lektüre angesehen wurde, lässt sich das Wort »nur« kontextgerecht hineinlesen; auch der englische Übersetzer der PhäG hat so getan; vgl. Hegel, Phenomenology of Spirit, S. 9 f.
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Deshalb kann von einer »tätigen Darstellung« die Rede sein; vgl. Thomas Sören Hoffmann, »Hegels phänomenologische Dialektik. Darstellung, Zeitbezug und Wahrheit des erscheinenden Wissens – Thesen zur ›Vorrede‹«, S. 34; Heidegger sagt in seinem ausführlichen Kommentar zu Hegels »Einleitung« der PhäG, dass die »Darstellung […] selbst das Tun selber [ist]« und dass »die Darstellung das erscheinende Wissen in sein Erscheinen hervorbringt« (Heidegger, »Hegels Begriff der Erfahrung«, S. 141 und 165; Hervorh. von mir).
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im Prozess der Menschwerdung eines Kindes stattfände, als ob die Substanz wie der Keim des Subjekts wäre; noch ist es so der Fall, dass das unter einem Deckmantel der Substanz verborgene Subjekt wie eine Entität endlich als solches erschiene. Die Subjektivität ist nach Hegel zwar in gewissem Sinne bereits von Anfang an da gewesen – sie ist aber nur insofern da gewesen, als sich die Substanz endlich als das Subjekt darstellt. Die Zeit läuft so ab, dass sich das Spätere allerdings aus dem Früheren ergibt, dass das Sein des Früheren aber von der Perspektive abhängt, die sich zum Zeitpunkt des Eintritts des Späteren wirklich einstellt, also von der Perspektive des Ganzen. Die frühere Zeit, auf die die spätere folgt, muss unbedingt da sein – aber aus der Perspektive, die sich am Ende einstellt. Der Selbstdarstellungsprozess der Substanz als Subjekt folgt also insofern einer immanenten Genealogie der (modernen) Subjektivität, als sich der Anfang und das Ende des Prozesses in einer zeitlichen Spannung, also im Ganzen, gegeneinander behaupten. Die Genealogie der Moderne als die Konstitution der Subjektivität hat daher eine besondere Form: Sie wird durch die sich wiederholende(n) Darstellung(en) vollzogen – und diese Wiederholung lässt eine ›höhere‹ Perspektive für die Konstitution der Subjektivität erscheinen. In Hegels Worten: Der Geist erhält durch diese Wiederholung ein wahreres Selbstwissen. Das heißt, dass sich Hegels Darstellung in den einzelnen Kapiteln der PhäG erst im Licht der Darstellung des jeweils nächsten Kapitels als unvollkommen erweist und in der Wiederholung durch diese nächste Darstellung vollkommener wird. Für die genetische Konstitution der modernen Subjektivität bedeutet dies, dass die frühere Perspektive auf diese Konstitution im Licht der späteren als unvollkommen oder irrtümlich erscheint. Im ersten Teil dieses Buches versuche ich, die Genealogie der Moderne durch die Wiederholung der Darstellung in der PhäG auf der weltgeschichtlichen Ebene zu rekonstruieren. Dabei geht meine Arbeit von den folgenden drei Punkten aus: 1) Ich stütze mich bei dieser Rekonstruktion der Moderne auf die Hegelʼsche Konzeption der »Weltgeschichte«, die nicht bloß etwa eine Geschichte der verschiedenen Völker auf der Erdoberfläche, sondern die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Kulturwelt ist. 2) Meine Arbeit beschäftigt sich insofern mit dieser Entwicklungsgeschichte, als sie einen Übergang von der vormodernen zur modernen Form der Welt darstellt. Sie beschränkt sich nämlich auf die Entwicklungsgeschichte der Welt als eine Geschichte des Übergangs zur Moderne. 3) Die Rekonstruktion dieses Weltübergangs hängt mit dem Hegelʼschen Ansatz zusammen, dass dieser Übergang mit dem oben genannten Gesichtspunkt, nämlich mit dem Werden der Substanz zum Subjekt einhergeht.
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Gemäß den Hegelʼschen Ansätzen soll sich die genetische Konstitution der Moderne in zwei Schritten zeigen: Im ersten Schritt (2. Kapitel) ist darzustellen, wie eine vormoderne Welt aufgrund ihrer Vollkommenheit zu ihrem »Untergang« kommt; diese Darstellung wird wiederum in zwei Stufen geteilt: 1) Eine vormoderne Welt, die Hegel »sittliche Welt« nennt und in der die Handlungsnormen unmittelbar gelten, genießt als Ganze dadurch ihre Vollkommenheit, dass der Konflikt, der aus der Vielheit der unmittelbar geltenden Handlungsgesetzen hervorgeht, eher zu einem Gleichgewicht des Ganzen konstitutiv beiträgt (2.1: »Konstitution einer sittlichen Welt«). 2) Dieser Konflikt als der Reproduktionsfaktor der sittlichen Weltordnung transformiert sich dadurch zur Tragik, dass sich die Handlung in diesem Konflikt durch den eigenen perspektivischen Wert definiert, dass sich damit die unmittelbare Perspektive aus dem Ganzen und die singuläre Perspektive der Handlung, zwei Perspektiven also, die sich miteinander nicht vertragen, im Handelnden zusammen befinden. Und diese innere Kluft bedeutet für die Integralität der sittlichen Welt ihren Untergang (2.2: »Die Tragik im Sittlichen«). Im zweiten Schritt (3. Kapitel) werde ich mich mit der Frage beschäftigen, in welcher Form sich der mit der Tragik begonnene Übergang zur Moderne vollzieht. Dabei stelle ich zwei Übergangsformen fest, die sich jeweils auf die unterschiedlichen Auffassungen des Substanz-SubjektVerhältnisses stützen: Die eine Form beruht auf der Auffassung ›Subjekt statt Substanz‹, also auf dem Ersatzverhältnis zwischen Substanz und Subjekt, während die andere auf der Auffassung ›Substanz als Subjekt‹, also auf dem (darstellerischen) Werden der Substanz zum Subjekt basiert. Aus der ersten Übergangsform ergibt sich eine von Hegel »Rechtszustand« genannte Weltform; diese Form des Übergangs beschreibt meiner Ansicht nach die Übergangsdarstellung im Geistkapitel der PhäG (Kapitel 3.1: »Vom Natur- zum Rechtszustand«). Dagegen kommt eine dem reinen Tätigkeitszug des Geistes entsprechende Form der Subjektivität aus der zweiten Übergangsform zum Vorschein; diese legt die Darstellung des Religionskapitels der PhäG dar, die dieselbe Phase der Welt behandelt, wie sie das Geistkapitel behandelt hat (Kapitel 3.2: »Sprache, Kunst und Subjektivität«).5
5
Die Frage nach den Übergängen zwischen den einzelnen Kapiteln der PhäG, insbesondere dem Übergang vom Vernunft- zum Geistkapitel oder demjenigen vom Geistzum Religionskapitel, stellt sich in meiner Arbeit nicht.
2. Welt, Handlung und Tragik
Eine Welt verewigt sich und geht dadurch unter. Diese Welt ist so schön, dass sie aufgrund dieser Schönheit in sich zusammenbricht. Ihre Struktur ist so, dass sie aus ihrer eigenen Dynamik nicht nur zum Ende, sondern zu Grunde geht. So impliziert die Hegelʼsche Darstellung dieser Welt zugleich eine Kritik an ihr, und zwar eine immanente Kritik, die sich aus der so dargestellten Logik ergibt. Diese kritische Logik artikuliert Hegel durch eine zweimalige Beschreibung ein und derselben Welt. So werde ich in diesem Kapitel versuchen, das erste Geistkapitel (»Der wahre Geist«) der PhäG aus zweifacher Perspektive zu lesen: aus der einen Perspektive, nach der sich diese Welt durch einen Gegensatz strukturiert – durch einen Gegensatz zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen (erster Abschnitt: »Die sittliche Welt«) –, und aus der anderen, der zufolge sie durch einen besonderen, nämlich tragischen Konflikt untergeht (zweiter Abschnitt: »Die sittliche Handlung«). Dabei habe ich ein interpretatives Ziel, das aber durch einen polemischen Zug zu erreichen ist: 1) Ich werde gegen die gewöhnliche Vorstellung der Hegelʼschen Konzeption des Tragischen, der zufolge die Tragik im Gegensatz eines Gesetzes gegen ein anderes, einer Pflicht gegen eine andere, im Gegensatz zwischen zwei berechtigten Interessen bestehe und darin die eine Seite die allgemeine und die andere die besondere sei,1 zeigen – so die erste These meiner HegelLektüre in polemischer Formulierung –, dass dieser Gegensatz vielmehr für die sittliche Welt konstitutiv ist und als solcher mit dem Tragischen nichts zu tun hat. 2) Anhand der Interpretation des Begriffs des tragischen Handelns im zweiten Abschnitt des Sittlichkeitskapitels werde ich darlegen – so meine zweite
1
Die meisten Autoren des letzten Jahrhunderts, die sich mit der Tragödie Antigone beschäftigt haben, wie zum Beispiel M. Heidegger, J. Lacan oder J. Butler sind gegenüber Hegel im Großen und Ganzen einer solchen Meinung.
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These –, dass und wie sich die Tragik nicht allein im oben genannten Gegensatz, der nur den Hintergrund, aber einen notwendigen Hintergrund für die Tragik ausmacht, sondern in einer Verdopplung durch einen immanenten Perspektivwechsel im Handeln, durch eine Perspektivierung überhaupt, ereignet, die das Handeln konstituiert. Um diese Thesen zu begründen, werde ich im Folgenden Hegels zweimaligen Beschreibungen der sittlichen Welt nach der Textteilung Hegels in zwei Schritten nachgehen: 1) Im ersten Schritt geht es um einen konstitutiven Gegensatz, der eine ruhige Schönheit des Ganzen zustande bringt, obwohl und gerade weil er drastisch und im hohen Maße sichtbar ist (»a. Die sittliche Welt«). 2) Im zweiten Schritt geht es dagegen um einen andersartigen, ja destruktiven Gegensatz, eher um eine Verdopplung im Handeln, nämlich um die Verdopplung, die darin besteht, dass die sittlich-mythologische Handlungsordnung durch eine reflexive Perspektivierung wiederholt wird, und ich schlage damit vor, diese Verdopplung als die wesentliche Struktur der Tragik aufzufassen. Diese Verdopplung der Handlungsordnung gibt uns zu erkennen, wie die sittliche Welt aus ihrer eigenen Logik zum tragischen Ausgang kommt (»b. Die sittliche Handlung«).
2.1 K ONSTITUTION EINER
SITTLICHEN
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In einer späteren Stelle der PhäG sagt Hegel, es sei »das Gemeine an dem Kunstwerke, daß es […] von Menschenhänden gemacht ist« (517; vgl. auch S. 535). Für die Konstitution der sittlichen Welt ist aber noch etwas anderes ebenso wesentlich, nämlich dieses Gemachtsein zu vergessen: »[D]ieser [: der ›Begriff‹, der hier mit dem ›Geist‹ gleichzusetzen ist], als Künstler oder als Betrachter, [ist uneigennützig genug,] das Kunstwerk als an ihm selbst absolut beseelt auszusprechen und sich, den Tuenden oder Schauenden, zu vergessen«. (517) Diese Welt kommt nämlich erst durch diese doppelte Arbeit von Machen und Vergessen zustande. In dieser Welt macht der Geist zwar aus der Natur seine Werke, aber er vergisst ihr Werk-Sein, indem er seine Werke mit dem in der Natur Gewordenen verwechselt. Vergessen ist ein Schlüsselwort der sittlichen Welt: »Das sittliche Bewußtsein aber hat aus der Schale der absoluten Substanz die Vergessenheit aller Einseitigkeit des Fürsichseins, seiner Zwecke und eigentümlichen Begriffe getrunken und darum in diesem stygischen Wasser zugleich alle eigene Wesenheit und selbständige Bedeutung der gegenständlichen Wirklichkeit er-
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tränkt«. (344) 2 Aufgrund dieses ideologieähnlichen Charakters der ›sittlichen‹ Tätigkeiten zeigt sich also die sittliche Welt stets unter zwei gleichsam miteinander verschmolzenen Aspekten: Sie wird auf der einen Seite durch die fortwährende, tätige Gestaltung der Natur dynamisiert, auf der anderen aber verharrt sie aufgrund der Objektivierung dieser Gestaltungsarbeit in einer als schön wahrgenommenen Ruhe. In dem schönen Schein der Natürlichkeit steckt eine ganze Dynamik, durch die sich der Geist aus den zufälligen Mannigfaltigkeiten der Natur erhebt und seine sittlichen Gestalten bildet. Die sittliche Welt hat die doppelte Form der Natürlichkeit und Geistigkeit. Die Sittlichkeit ist nicht irgendeine Moralität oder Ähnliches, sondern sie besteht in einer gewordenen Naturhaftigkeit, in einer sich immer zur Statik verwandelnden Dynamik. Diese doppelte Struktur der sittlichen Welt werde ich in diesem Kapitel ausführlich darstellen, indem ich 1) den Charakter der naturhaften Unmittelbarkeit im schönen Schein der sittlichen Welt erläutere, 2) die Dynamik des Zustandekommens dieser Unmittelbarkeit durch die Analyse der Strukturen der sittlichen Tätigkeiten rekonstruiere und 3) zeige, dass der Doppelstruktur dieser Welt eine besondere Art der Subjektivität, die ich eine mythologische nennen würde, zugrunde liegt.
2
Zum Vergessen als der Arbeit, aufgrund derer sich die sittliche Welt vollendet konstruiert, vgl. den Abschnitt »Vergessen der Vielheit und Verdrängung der Handlung« in diesem Kapitel. Siehe dazu Hegels schöne Beschreibung, wie die griechische Antike, die der sittlichen Welt in der PhäG entspricht, mit der Natur »poetisch« umgeht (Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 12, S. 288-292; aus diesem Band zitiere ich im Folgenden mit dem Sigel VPhG und der Seitenangabe): Ihr poetischer, ihr mantischer und semantischer Umgang mit der Natur bedeutet weder eine willkürliche Sinngebung gegenüber der Natur noch ein Aberglaube, sondern er besteht in einem geistigen Prozess, in dem eine Reihe von Verhalten gegenüber der Natur, also zunächst das Verwundern, dann das Hineininterpretieren des Sinns, dann das Vergessen dieses Hineingebens und schließlich die Objektivierung des Sinns gleichzeitig erfolgen. Dazu vgl. W. Hamachers Kommentar zu dieser Stelle (Hamacher, »Prämissen. Zur Einleitung«, in: ders., Entferntes Verstehen, S. 7-48, hier S. 11-16); dort bemerkt Hamacher richtig: »Versteht sich das Verstehen [des Geistes], so hat es schon die Erschütterung, das Schauern, Verwundern und Lauschen [gegenüber der Natur], von dem es ausgegangen ist, vergessen«. (S. 15)
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2.1.1 Das Sein der sittlichen Welt: der schöne Schein der Welt Für das Verständnis der Konstitution der sittlichen Welt ist das gängige Schema nicht angemessen, das jede Hegel-Lektüre vorzubestimmen scheint, nämlich das Schema, nach dem der Geist dazu bestimmt sei, ausgehend von der expressiven Verwirklichung seiner Wahrheit in der Natur durch den hierarchischen Unterschied zu ihr aus der Abhängigkeit von ihr in seine Selbständigkeit zurückzukehren. Dieses Schema ist aus zwei Gründen unangemessen oder falsch, aus einem allgemeinen und aus einem kontextbezogenen Grund: 1) Dieses Schema geht von dem »Geist« als einer Entität aus, die zwar durch einen Vorgang hindurch eine ihr gemäßere Selbsterkenntnis erhält, im Grunde aber gleichsam dasselbe Subjekt bleibt, die die verschiedenen Grade dieser Erkenntnis nur als seine wechselnden Prädikate hat. Dies ist gerade das, was Hegel mit seiner Theorie eines ›spekulativen Satzes‹ kritisiert: Das Subjekt am spekulativen Satz ist nicht das grammatikalische Subjekt im Gegensatz zum Prädikat, sondern der Übergang vom ersteren zum letzteren, die Bewegung dieses Übergangs und das Ganze bzw. das Resultat dieser Bewegung.3 Der Geist erweist oder bewährt sich also auf diese Weise nur als dieses Resultat. 2) Nach diesem Schema soll die sittliche Welt in einer Stufe des Geistes strukturiert sein, in der der Geist noch an die Sinnlichkeit der Natur gebunden ist, was wiederum bedeuten soll, dass der Geist noch nicht frei sei, dass er sich noch von der Natur befreien, also über den Zustand der sittlichen Welt hinausgehen müsse, um zu sich zu kommen oder um eine ihm gemäßere Selbsterkenntnis zu erhalten. Aufgrund der Bestimmung der Naturgebundenheit und Unfreiheit des Geistes lassen sich aber die besonderen Charaktere der sittlichen Welt – die Schönheit und die Unmittelbarkeit – nicht genau verstehen. Anstatt der dualistisch-hierarchisch-expressiven Konzeption,4 die im oben genannten Schema das Verhältnis von Geist und Natur bestimmt, werde ich mich für das Verständnis des ästhetisch-ontologisch besonderen Charakters der sittlichen Welt vielmehr auf eine andere Lesart beziehen, die auf einer eigentümlichen Konstellation von Geist und Natur beruht, die sich nicht nur
3
PhäG, 58 ff.; dazu vgl. Werner Hamacher, »pleroma – zu Genesis und Struktur einer
4
Pippin bezieht diese Konzeption sogar auf eine »ungewöhnliche Theologie«. Das Ent-
dialektischen Hermeneutik bei Hegel«, S.15 ff. äußerungs- oder Ausdrucksmodell vom Verhältnis des Geistes und der Natur hängt zuletzt von einer Theologie des Geistes ab, die sich auf »sowohl die Darstellung der Schöpfung in der hebräischen Bibel als auch die christliche Inkarnationslehre« bezieht; siehe ders., »Hegels Ästhetik ohne Ästhetik. Hegels Philosophie der Kunst«, S. 37 und Anm. 8.
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durch eine untrennbare und ununterscheidbare Einheit beider bildet, sondern dabei auf eine dritte Kategorie zurückführt – die Kategorie des Scheins: In diesem Verhältnis wolle der Geist eine »sinnliche Gegenwart, die zwar sinnlich bleiben, aber ebenso sehr von dem Gerüste seiner bloßen Materialität befreit werden soll«; darin wird das bloß Sinnliche, nämlich das »unmittelbare […] Dasein der Naturdinge« abgestreift und erhebt sich »zum bloßen Schein«; dieser Schein stehe »in der Mitte zwischen der unmittelbaren Sinnlichkeit und dem ideellen Gedanken«; er sei »noch nicht reiner Gedanke, aber seiner Sinnlichkeit zum Trotz auch nicht mehr bloßes materielles Dasein«; vielmehr sei er selber ein ideeller, der »aber, als nicht das Ideelle des Gedankens, zugleich als Ding noch äußerlich vorhanden ist.«5 »In dieser Weise« sei der Schein »vergeistigt, da das Geistige« in ihm »versinnlicht erscheint« (Ä I, 61; Herv. i.O.). Daraus ergeben sich zwei Charakterzüge des Scheins: Freiheit und Selbständigkeit. 1) »Den Mittelpunkt der Kunst macht die zu freier Totalität in sich abgeschlossene Einigung des Inhalts und der ihm schlechthin angemessenen Gestalt aus« (Ä II, 13; Hervorh. von mir; vgl. Ä II, 20). Der Zustand des schönen Scheins ist in dem Maße frei, wie der Schein etwas außer sich nicht hätte, an was er gebunden wäre: Der Schein macht eine freie Totalität aus. Und diese Totalität ist aufgrund einer »Einigung« zustandegekommen, in der der Geist und die Natur voneinander nicht mehr differenziert sind – der Einigung also, in der der Geist im Schein vollständig aufgegangen ist. Dem Schein wird jenes dualistisch-hierarchisch-expressive Verhältnis zwischen dem Geist und der Natur völlig irrelevant. 2) Und die Freiheit des Scheins, die auf seiner Totalität beruht, bezieht sich wiederum darauf, dass der Schein dabei seine »reale [...] Selbständigkeit« erhalte. Er ist weder die Darstellung des reinen Gedankens noch an die sinnlichen Naturdingen gebunden. Der Schein ist selbständig. Und seine Selbständigkeit besteht darin, »daß er selbst durch sich hindurchdeutet« (Ä I, 23). Seine Deutung und Bedeutung hängt ganz von ihm selbst ab, deutet nicht auf etwas anderes, weder etwas Höheres noch etwas Niedrigeres, nie auf das, was außer ihm liegt, hin. Der Schein kann »auf ein Geistiges [deuten], welches durch ihn soll zur Vorstellung kommen« (Ä I, 23), insofern er selbst geistig ist. »Das Schöne nämlich muß wahr an sich selbst sein« (Ä I, 151). Nur wenn dieser Verweis auf etwas anderes vollkommen ausbleibt, erhält der Schein ihre Geltung.
5
Vorlesungen über die Ästhetik I-III, Werke in zwanzig Bänden Bd. 13-15, hier Bd. 13, S. 60; Herv. i.O.; im Folgenden mit dem Sigel Ä I, Ä II, Ä III und der Seitenangabe zitiert.
28 | S UBJEKTIVITÄT UND K UNST »Denn die klassische Schönheit hat zu ihrem Inneren[: zu einem Inneren, das aber aufgrund des Freiheitscharakters des Scheins zugleich schon das Äußere ist] die freie, selbständige Bedeutung, d. i. nicht eine Bedeutung von irgend etwas, sondern das sich selbst Bedeutende und damit auch sich selber Deutende. Dies ist das Geistige, welches überhaupt sich selbst zum Gegenstande seiner macht. An dieser Gegenständlichkeit seiner selbst hat es dann die Form der Äußerlichkeit, welche, als mit ihrem Inneren identisch, dadurch auch ihrerseits unmittelbar die Bedeutung ihrer selbst ist und, indem sie sich weiß, sich weist«. (Ä II, 13)6
6
Die Selbstreferentialität des Scheins erläutere ich ausführlicher in meiner NietzscheLektüre; vgl. dazu Abschnitt 5.2.9 und 6.1.4 dieses Textes. Zu beachten ist im jetzigen Kontext, dass Hegel in seiner Konzipierung einer sittlich-schönen Epoche an Schillers Konzeption des ›selbständigen und aufrichtigen‹ Scheins (Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, S. 99) anknüpfte und dabei zwei wichtige Modifizierungen vornahm: Er hat diese Konzeption einerseits geschichtsphilosophisch in einer Epoche lokalisiert und ihren Geltungsumfang eingegrenzt, andererseits aber innerhalb dieses Umfangs ihren Geltungsanspruch in einem unvergleichlichen Maße verstärkt: Hegel formuliert zwar terminologisch nach Schiller den Schein als einen dritten Bereich neben Geist und Natur (bei Schiller: neben Form und Stoff), aber schreibt im Gegensatz zu Schiller dem Schein einen Wahrheitsanspruch zu: »Das Große an dieser Lehre[: Ästhetik] Hegels ist, daß sie die Schönheit als Wahrheit begreift. Und zwar nicht im banalen Sinne einer Nachbildung des Gegebenen«. (Patocka, »Zur Entwicklung der ästhetischen Auffassung Hegels«, S. 56) Hervorzuheben ist noch, dass der (schöne) Schein in seinem starken Geltungsanspruch bei Hegels geschichtsphilosophischer Einschränkung nicht bloß etwa Ausdruck oder Darstellung der Wahrheit, geschweige denn der vorgegebenen Wahrheit, ist. In diesem Sinne ist Hegels Ästhetik gerade in ihrer Theorie des schönen Scheins keine ›Darstellungsästhetik‹ oder ›Inhaltsästhetik‹. Günter Figal und Hans-Georg Flickinger haben in ihrer Diskussion zur schönen und nicht mehr schönen Kunst im Hinblick auf Hegel das Unterscheidungsmerkmal zwischen beiden Arten der Kunst darin gesehen, dass die erstere an die Darstellung der »vorgegebene[n] Wahrheit« gebunden und die letztere »von der darstellungsästhetischen Orientierung, vom Bann des Wahrheitsbegriffs als vorgegebener Rationalität« befreit ist (Figal/Flickinger, »Die Aufhebung des schönen Scheins. Schöne und nicht mehr schöne Kunst im Anschluß an Hegel und Adorno«, S. 205 und 210). Eine Kategorie der Wahrheitsgebundenheit, und zwar einer Gebundenheit an die vorgegebene Wahrheit ist aber für das Verständnis des schönen Scheins, dessen zentrale Bestimmung Freiheit ist, nicht entscheidend: »Schönheit, Wahrheit und Freiheit hängen […] in der engsten Art zusammen« (Patocka, »Zur Entwicklung der ästhetischen Auffassung Hegels«, S. 49). Eine nachträgliche Darstel-
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Im Schein der Schönheit ist der Geist äußerlich: In der Schönheit ist nur geistig und nur bedeutend, was äußerlich ist. Es ist demnach so, dass der schöne Schein »nicht nur nichts anderes als die Idee, sondern auch nichts anderes als sich selbst zeigt, da [er] selber ja die Realität der Idee ist«.7 Es muss für die Gestaltung des schönen Scheins kein vom Äußeren differenziertes Innere geben; für das Gelingen des Scheins bedarf es der »eigene[n] Äußerlichkeit des Geistes, d.h. seine[r] immanente[n] Entäußerung«.8
lung der vorgegebenen Wahrheit wäre nicht mehr schön und nicht mehr scheinhaft. In der klassischen Kunst ist die Schönheit keine Nachbildung der vorgegebenen Wahrheit, sondern die Schönheit und die Wahrheit, die Kunst und die Religion sind konstitutiv voneinander nicht zu trennen – diese wechselseitige Verbundenheit ist konstitutiv sowohl für die Kunst wie auch für die Religion Griechenlands; sie ist unabdingbar im Moment der Stiftung, im Moment des Anfangs. Hegel versteht die griechischen Dichter als diejenigen, die sich bei ihrer Kunstproduktion nicht nach der Vorlage der allgemein-abstrakten Sätze, die das Wissen der Wahrheit formulieren, richten, sondern ihre Kunstwerke als überhaupt die erste Form der Wahrheit gestalten – sie sind die ersten, die die Wahrheit schaffen. 7 8
Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, S. 154. Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, S. 155. Das hierarchische und expressive Verhältnis von Geist und Natur, das im schönen Schein herrschen soll, drückt sich repräsentativ in der berühmten Formel des Schönen als des ›sinnlichen Scheinen[s] der Idee‹ aus. Hans-Georg Gadamer hat diese Formel mit Hilfe von A. Gethmann-Sieferts Bearbeitung der »von Hegel tatsächlich gehaltenen« ÄsthetikVorlesungen auf H. Hothos redaktionelle Arbeit zurückgeführt; Hotho verwendet nach Gadamer diese »im Grunde platonische« Formel, die »in Hegels Berliner [Ästhetik-]Vorlesungen offenbar nicht nachweisbar ist«; diese Formel ist also geeignet »in einem traditionalistischen Zusammenhang, nämlich bei der Erörterung des Verhältnisses von Wahrheit und Schönheit«, also eines Urbild-Abbild-Verhältnisses, das Hegels Bevorzugung des Kunstschönen gegenüber dem Naturschönen nicht gerecht wird; statt dieser Formel wird bei Gadamer die »durch die Nachschriften besser beglaubigte […]« Formel des ›Ideals des Schönen‹ vorgezogen, die »im Grunde dem kantischen Sprachgebrauch« folgt. Gadamer, »Die Stellung der Poesie im System der Hegelʼschen Ästhetik und die Frage des Vergangenheitscharakters der Kunst«, S. 213 (Anm. 1) und S. 216. Gerrit Steunebrink hat auch ähnlich die Formel des ›sinnlichen Scheinens der Idee‹, die der Hegelʼschen »Absolutsetzung der Kunstschönheit« nicht entspricht, auf die »neuplatonische […] und scholastische […] Tradition« zurückgeführt (Steunebrink, »Hegel und die unbewältigte Romantik in der These vom Ende der Kunst«, S. 104).
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Aus dem Schein als einem Geist-Natur-Komplex gehen zwei wesentliche Kategorien hervor, aufgrund derer sich die sowohl ästhetische als auch ontologische Dimension der sittlichen Welt beschreiben lässt: Schönheit und Unmittelbarkeit. 1) Diese Welt ist wesentlich schön. Diese Schönheit bestimmt Hegel des Weiteren als sittlich schön. Denn das Sittliche dieser Welt ist fest daran gebunden, die sinnliche Natur zu gestalten. Diese muss, auch und besonders wenn sie eine innere Natur ist, sittlich gestaltet werden, bis sie schön strahlt. Die sittliche Welt ist grundsätzlich schön-sittlich, eine Welt der Kalokagathie. Sie ist nicht mehr an die Sinnlichkeit gebunden und erscheint nur sinnlich; sie erscheint also selbst, als sei sie eine sinnliche; sie erscheint in einem dicken Schein. ›Schön‹ ist nicht ein beliebiges Prädikat der sittlichen Welt, das ihr äußerlich zukäme, sondern ihr wesentliches. Und diese Verbindung von Sittlichkeit und Schönheit beruht darin auf einer weiteren Dimension dieser Welt: 2) Die schöne Sittlichkeit dieser Welt ist harmonisch, sicher und von einem friedlichen und langsamen Rhythmus geprägt, wie es die griechische Skulptur typischerweise darstellt. Diese Welt ist so, als wäre sie schon seit langem, gar seit Ewigkeit, vollkommen und als würde sie ihre ewige Ruhe bewahren: Sie kennt keine Bildung, keine Entwicklung; sie bleibt nach ihrem Anschein und in ihrem Selbstverständnis immer das, was sie ist; sie ist an sich und ist in sich ›gebildet‹; sie ist unmittelbar; die schöne sittliche Welt existiert unmittelbar. Diese unmittelbare ›Gebildetheit‹ ist der Grund dafür, dass die Sittlichkeit dieser Welt eine schöne ist. Sie kennt keine Vermittlung, keine Reflexion, die der Schönheit Schaden zufügen könnte. Sie kennt aber vor allem keine Reflexion über sich selbst. Sie kennt also kein Selbst. Denn sie leidet nicht an der reflexiven Selbstspaltung, die mit der Schönheit nichts zu tun hat; sie kennt keine solche Subjektivität; denn Subjektivität heißt Selbstbewusstsein, Selbstreflexion, Reflexion von sich selbst und in sich selbst. Man könnte auch sagen, dass ihr ›Selbst‹ unmittelbar bei sich bleibt; sie kennt kein Bewusstsein von sich selbst – so ist diese Welt schön, weil unmittelbar sinnlich-sittlich – und damit glücklich. Sie ist ›naiv‹. Sie bewahrt und genießt ihre unmittelbare Integrität. Sie ist selbst eine »schöne Individualität« (Vorlesungen über die Ästhetik). Sie ist selbst ein »Individuum« (326).9 So bildet die Unmittelbarkeit die ontologische Struktur der sittlichen Welt. Die Unmittelbarkeit ist die grundlegende Bestimmung dieser Welt. Das Sittliche dieser Welt ist, ebenso wie das Schöne in dieser Welt ist. Dies sagt Hegel in folgender Weise
9
»Deshalb auch war die individuelle Freiheit unbekannt, so daß der einzelne sein Gewissen der Allmacht des Staates nicht zu entziehen vermochte. […] Die Stadt war die einzige existierende Macht; nichts stand über, nichts unter ihr«. (De Coulanges, Der antike Staat, S. 463; Hervorh. von mir.)
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(unter der bewussten Entgegensetzung zur kantischen Regel der Widerspruchlosigkeit als Grundlage der Moralität): »Nicht darum also, weil ich etwas sich nicht widersprechend finde, ist es Recht; sondern weil es das Rechte ist, ist es Recht«. (322) Das Gesetz dieser Welt »gilt, weil es Gesetz ist, nach seiner Unmittelbarkeit« (VPhG, 308). Die sittliche Gesinnung gegenüber dem Gesetz drückt sich nach Hegel am besten in der Äußerung von sophokleischer Antigone aus, die er selber zitiert: »nicht etwa jetzt und gestern, sondern immerdar/lebt es[: das Recht], und keiner weiß, von wannen es erschien« (322; Sophokles, Antigone, v. 456 f.). 2.1.2 Das Werden der sittlichen Welt: Strukturen der sittlichen Tätigkeiten Diese Naturhaftigkeit, Unmittelbarkeit und Schönheit sind aber in Wahrheit geworden, gebildet und gestaltet.10 Der schöne Schein, der durch die sittliche Welt hindurch erscheint, ist doch ein Schein. Er scheint schön; er strahlt; er verblendet aber alles andere als sich selbst – er verblendet vor allem die Tatsache, dass er das Werk, das Resultat der Tätigkeit ist und dass hinter diesem Überstrahlen, hinter dieser Blendung die Tätigkeit, die diese Schönheit zustande bringt, verborgen ist. Denn der Schein scheint nur, so nach Hegels Strukturanalyse der sittlichen Welt, indem er etwas verbirgt; er scheint nur, wenn er die Wahrheit ›hinter‹ sich lässt – die Wahrheit, die aber nicht substanziell hinter dem Schein zurückbleibt, sondern seine Wahrheit ist, sodass also der Schein ein Vollzugselement in sich enthält. Der Schein des Seins ist verbunden mit der Wahrheit seines Werdens. Der schöne Schein des ewig ruhigen Seins ist in Wahrheit geworden: »[D]enn die Unmittelbarkeit hat die widersprechende Bedeutung, die bewußtlose Ruhe der Natur und die selbstbewußte unruhige Ruhe des Geistes zu sein«. (354). Wie also der Schein der sittlichen Welt wird, ist nun näher zu betrachten. Dabei stehen zwei sittliche Pole im Zentrum, nämlich das Gemeinwesen und die Familie, die das prozessuale Werden dieser Welt inhaltlich konstituieren. Die konstitutiven Verhältnisse zwischen dem Gemeinwesen und der Familie sind aber ihrerseits in doppelter Hinsicht zu betrachten: (a) nach der wechselseitigen Beziehung zwischen den beiden und (b) nach der jeweiligen Beziehung beider
10 Die Unmittelbarkeit dieser Welt, die naturhaft ist, ist also eine Art der ›zweiten Natur‹; zur Unterscheidung zweier Untermittelbarkeiten der Natur in der sittlichen Welt vgl. den Abschnitt »Schein und Natur: zwei Bedeutungen der Unmittelbarkeit« des nächsten Kapitels.
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zum Ganzen, zur ganzen sittlichen Welt. Durch diese Betrachtungen werde ich im Folgenden entgegen der üblichen Auffassung der Hegelʼschen Tragik-Konzeption (dass nämlich der Konflikt zwischen dem Gemeinwesen und der Familie die Hauptursache der Tragik sei) darlegen, dass die Beziehungen von Gemeinwesen und Familie als solche keineswegs zur Tragik führen würden, sondern vielmehr für die sittliche Welt erst konstitutiv sind. (a) Die gegensätzliche Symbiose zwischen dem Gemeinwesen und der Familie Hannah Arendt hat einst zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre, zwischen dem Gemeinwesen und der Familie nachdrücklich unterschieden.11 Nach ihrer Auffassung können sich nur Menschen, die sich durch ihren familiären Haushalt von materieller Notwendigkeit befreit haben, im öffentlichen Raum an den politischen Angelegenheiten beteiligen; sie sind dort unter den Augen und Ohren anderer völlig bloßgelegt und werden nach ihrer Tugend und ihrem Verdienst anerkannt (oder nicht anerkannt), während sie bei der Familie, also im Haus, vor diesem schonungslosen Blick geschützt sind und sich geborgen fühlen. Zwischen diesen beiden Feldern gibt es eine tiefe »Kluft«, die zu »übersteigen«12 schon eine Tugend, nämlich die ›Tapferkeit‹, erfordert und Bildung bedeutet. Aber wie Ch. Menkes an Hegel orientierte Kritik dieser strengen Grenzziehung zwischen zwei Sphären gezeigt hat,13 ist der Aspekt der Trennung nur eine von zwei Seiten: Es gibt zwar zwei völlig unterschiedliche, gar gegensätzliche Sphären, die jeweils – Hegels Terminologie zufolge – nach dem menschlichen und dem göttlichen Gesetz reguliert werden und in denen der Verstoß des einen Gesetzes gegen das andere und die Verletzung der einen Macht durch die andere meistens gewaltsam geahndet werden; aber das Gemeinwesen und die Familie genießen dabei keineswegs eine je eigene, selbständige Existenz, sondern sie sind grundsätzlich voneinander abhängig: Ohne die materielle Sicherung auf der Seite der Familie wäre das öffentliche Leben unmöglich und der familiäre Haushalt hat keineswegs nur eine selbständige Funktion für das Leben innerhalb der Familie. Er steht vielmehr strukturell für die Unterstützung des öffentlichen Lebens und die Tätigkeiten der Familienmitglieder erhalten ihre allgemeinen Best-
11 Arendt, Vita Activa, S. 27-75 (»Der Raum des Öffentlichen und der Bereich des Privaten«). 12 Ebd., S. 35-36. 13 Menke, Die Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, S. 150154; Arendt schreibt den Übergang zwischen den Sphären einem »Sprung« zu.
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immungen erst in der Öffentlichkeit; der Haushalt erhält also seine strukturelle »Bestimmung« (331) erst durch die Beziehung zum Gemeinwesen. Auf diese Weise gehören Gegensatz und Symbiose in der Beziehung zwischen dem Gemeinwesen und der Familie zusammen: Der »Gegensatz« zwischen zwei sittlichen Mächten sei »die Bewährung« der einen durch die andere (341); die gegensätzliche Symbiose ist das dynamische Prinzip für die Erhaltung, für die Reproduktion der ganzen sittlichen Welt. »Das sittliche Reich ist auf diese Weise in seinem Bestehen eine unbefleckte, durch keinen Zwiespalt verunreinigte Welt. Ebenso ist seine Bewegung ein ruhiges Werden der einen Macht desselben zur anderen, so daß jede die andere selbst erhält und hervorbringt« (ebd.; erste Hervorh. im Original; die beiden letzten Hervorh. von mir). Durch diese Dynamik des gegensätzlichen Ineinanders von gemeinschaftlicher und familiärer Funktion kann die »ruhige Organisation und Bewegung« (342; Hervorh. von mir) der ganzen sittlichen Welt zustande kommen. Die konflikthafte Bewegung zwischen dem Gemeinwesen und der Familie ist die Grundlage der ruhigen Schönheit dieser Welt – so sehr sich diese Bewegung nur durch die Verselbständigung und den Widerstand auf der einen und durch die Unterdrückung und Einverleibung auf der anderen Seite durchsetzen kann. Die Wahrheit der Schönheit ist die gewaltsame Bewegung, aber auch umgekehrt ist die Wahrheit dieser Bewegung das Scheinen des schönen Scheins, der in aller Ewigkeit ihre Ruhigkeit genießen will. (b) Verewigung der Welt Die schöne Einheit der sittlichen Welt entsteht und erhält sich durch diese wechselseitigen Bewegungen zwischen dem Gemeinwesen und der Familie. Aber für das Sittliche dieser Welt sind allein diese Bewegungen deshalb nicht genügend, weil »das Sittliche das an sich Allgemeine ist« (330 f.): Die Erhaltung des Gemeinwesens, wie sie oben beschrieben wurde, besteht in der Unterdrückung und Einverleibung des familiären Elements, während der familiale Haushalt nur eine sekundäre Bedeutung hat, nämlich nur zur Unterstützung der Öffentlichkeit existiert. Die materielle Ausbeutung einerseits und die funktionale Nachgeordnetheit des Haushalts andererseits sind zufällig, partikular und vor allem an die Sinnlichkeit gebunden, noch nicht schön-sittlich; sie konstituieren als solche nicht die Sittlichkeit, denn das Sittliche muss allgemein, notwendig sein und sich von der Willkürlichkeit, Vergänglichkeit und Abhängigkeit der Natur befreien. So besteht das Sittliche nach Hegel in dem Streben, sich über die sinnliche Zerstreuung zu erheben und damit allgemeine und ewige Bestimmungen zu erhalten. In dieser Welt ist der höchste Zweck aller Tätigkeiten die Verallgemeinerung des Sinns der Tätigkeiten, ihre Notwendigmachung, also die Verewigung der sittli-
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chen Ordnungen dieser Welt und die Erzeugung und Verstetigung der unmittelbaren Wahrheiten dieser Ordnungen im schönen Schein. Die Kriegsführung und die Bestattung sind zwei solche Tätigkeiten. Zum einen ist der Krieg nicht nur eine militärische, sondern eine sich beständig etablierende Tätigkeit der Gemeinschaft. Er ist eine Unternehmung, durch die das Gemeinwesen über die individuell-privaten Interessen hinaus auf die Erzeugung gemeinsamer Erinnerungen an öffentlich-kriegerische Erfahrungen abzielt, um mit diesen Erinnerungen seine andauernde Existenz zu sichern.14 Diese gemeinschaftliche Existenz wird nicht bloß durch materielle Unterstützung geschaffen, sondern sie ist vor allem eine ›politische‹ Existenz, die nur durch die bürgerlichen Tugenden und Tüchtigkeiten, aber vor allem durch die Tugend par excellence, nämlich die Tapferkeit, gesichert werden kann. »Der Krieg ist der Geist und die Form, worin das wesentliche Moment der sittlichen Substanz, die absolute Freiheit des sittlichen Selbstwesens von allem Dasein, in ihrer Wirklichkeit und Bewährung vorhanden ist« (353; Herv. i.O.). Der Krieg bedeutet hier nicht bloß den Kampf um das eigene Dasein auf dem Schlachtfeld, sondern er ist ein Feld, in dem Ruhm und Ansehen der Bürger-Krieger geschaffen werden können, indem sie ihre Tugenden und Tüchtigkeiten vor den Augen anderer zur Schau stellen und für deren Gehör vernehmlich werden lassen;15 dabei geht es nicht um das eigene Dasein, sondern um die »Freiheit des sittlichen Selbstwesens«, die sich gegenüber »allem Dasein« gleichgültig verhält. Schließlich also: Der Tod im Krieg ist eine höchst sittliche, eine höchste Tugendtat im öffentlichen Raum.16 Der Krieg ist die konkrete Gestalt der sittlichen Öffentlichkeit, in
14 Vgl. Arendt, Vita Activa, S. 191: »Die Organisation der Polis […] ist ihrem Wesen nach ein organisiertes Andenken«. Die Erinnerung, also eine Verewigung sowohl in der Verbildlichung im Gedächtnis wie in der Vergegenwärtigung durch das künstlerische Hervorrufen, das sich in der epischen Kunst vollzieht, ist eine konstitutive Dimension der sittlichen Welt, in der diese Welt sich dadurch reproduziert, dass sie sich zugleich durch diese Kunst ver(sinn)bildlicht. Zur epischen Kunst vgl. Abschnitt 3.2.2. 15 »Das frohe Selbstgefühl gegen die sinnliche Natürlichkeit und das Bedürfnis, nicht nur sich zu vergnügen, sondern sich zu zeigen, dadurch vornehmlich zu gelten und sich zu genießen, macht nun die Hauptbestimmung und das Hauptgeschäft der Griechen aus. […] [S]o äußert hier nur der Mensch, was in seiner unverkümmerten menschlichen Natur liegt, um sich durch solche Äußerung zu beweisen und Anerkennung zu erwerben.« (VPhG, S. 296; Hervorh. von mir) 16 Arendt hat also nicht zufällig am Beispiel von Achills Tod die Zuspitzung der Tugendhaftigkeit im öffentlichen Raum erläutert; siehe dies., a.a.O., S. 185-193.
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der alles durch die Zurschaustellung und das Gehörtwerden ›an dem Tag offen liegt‹ (vgl. 329) und nach den geltenden Gesetzen, nach dem »menschlichen Gesetz« beurteilt wird. Zum anderen trägt die familiäre Bestattung der Toten durch ihre Verwandten wesentlich zur Erhaltung der familialen Ordnung bei und zwar zu ihrer unaufhörlichen Erhaltung. Für diese Erhaltung ist allein der Betrieb des familiären Haushalts nicht hinreichend. Dafür nennt Hegel zwei Gründe: Der Haushaltsbetrieb dient einerseits zunächst nur der Befriedigung des jeweiligen Existenzbedarfs, der zugleich mit dieser Befriedigung gestillt wird: »Erwerbung und Erhaltung von Macht und Reichtum geht nur auf das Bedürfnis und gehört der Begierde an«. (331) Er steht also nur für die biologische Existenz, die wesentlich endlich und vergänglich ist. Die Unzulänglichkeit des familiären Haushalts für die anhaltende, also sittliche Erhaltung der Familie besteht andererseits darin, dass er nicht nur für die Familie, sondern vor allem für das Gemeinwesen steht, d.h. dass der Haushalt der Familie nur ein Mittel, »etwas nur Mittelbares« für seine »höhere […] Bestimmung« (ebd.), nämlich nur eine sekundäre Funktion für die politischen Tätigkeiten in der Öffentlichkeit ist. Die eigentümliche Tätigkeit der Familie – nur für die Familie und für die andauernde Erhaltung der Familie – besteht in der Bestattung. Denn die Bestattung bedeutet keinen Abschied vom Toten, sondern ganz umgekehrt ermöglicht sie erst das Fortleben der Familienmitglieder als Familienmitglieder in der Familie. Durch die Bestattung gehört der Tote erst wieder vollkommen zu seiner Familie, nachdem er im politischen Raum eine Reihe seiner öffentlichen Tätigkeiten hinter sich gelassen hat. Er kehrt zur Familie zurück – aber nicht mehr als ein »Bürger« (332), der als ein Tugendhafter, ein Tüchtiger erzogen wurde und nach seinen bestimmten Kompetenzen im öffentlichen Raum ausgezeichnet wurde, sondern als ein reines Familienmitglied, also als das pure ›Blut‹ der Familie, dem sowohl die politischen Unterschiede als auch die natürlichen Mannigfaltigkeiten nichts mehr gelten und das als ein bloßer ›Einzelner‹ durch die Erlöschung seiner bestimmten Eigenschaften eine »einfache […] Allgemeinheit« (332) oder »allgemeine […] Individualität« erhält (333; Herv. i.O.). Als dieser allgemeine Einzelne, und nur als dieser, kann der ehemalige Bürger in der Familie permanent leben. Das ununterbrochene Leben des Familienmitglieds kann auf diese Weise nur nach dem Tod gesichert, ja unsterblich gemacht werden – durch die Bestattung. Die Bestattung bezeichnet nicht bloß das Ende des sozialen Lebens, sie bezieht sich nicht auf einen Mangel, sondern sie ist eine aktive, eine etwas ›hinzufügende‹ (vgl. 332, 333) Tätigkeit, durch die der Tote, der ansonsten bloßer Leichnam, »das unmittelbare natürliche Gewordensein« (332; Herv. i.O.), bliebe und durch die bloße Macht der Natur ohnmächtig zerstreut, also »aller niedrigen vernunftlosen Indi-
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vidualität und den Kräften abstrakter Stoffe preisgegeben« würde (333), eine sittliche Stellung erhalten kann. Zugleich erhält die Familie – neben ihrer biologischen Existenz durch die Fortpflanzung (336) – durch die allgemein gewordenen Individualitäten ihre geistige Selbständigkeit.17 2.1.3 Subjektivität in der sittlichen Welt: eine mythologische Subjektivität Durch die Kriegsführung und die Bestattung werden zwei Erinnerungsformen geschaffen, die der Erhaltung, ja dem Unsterblichwerden dieser Welt dienen. Krieg und Bestattung sind zwei sittliche Formen, durch die die natürlichen Zufälligkeiten, Willkürlichkeiten und Endlichkeiten überwunden werden können. Der Krieg ist in diesem Sinne die vorzügliche Tätigkeit des Gemeinwesens und die Bestattung die vorzügliche Tätigkeit der Familie. Krieg und Bestattung sind nicht nur die soziohistorisch-deskriptive Termini der sittlichen Welt, sondern vor allem Begriffe für die strukturellen Funktionen einer Welt, die ihre Existenz vor dem Verfall in sinnliche Zufälligkeiten schützen und sich in die allgemeine Notwendigkeit und damit in eine Unsterblichkeit erheben will. Sie dienen einer ›monumentalischen Historie‹, die sich um eine »irdische Unsterblichkeit« im Unterschied zur platonischen Ewigkeit bemüht.18 Diese Funktionen konstituieren
17 Der Tod ist also sowohl in der öffentlichen als auch in der familialen Tätigkeit von zentraler Bedeutung: Durch ihn vollendet sich die Sittlichkeit der sittlichen Welt. Tod bedeutet keineswegs das Ende des sittlichen Lebens, sondern vielmehr dessen Vollendung. Das sittliche Leben – im Derridaʼschen Sinne des Wortes – überlebt sich selbst im Tod. Das ist die Dialektik des sittlichen Lebens. Der Tod ist der Vermittler, der der ganzen sittlichen Welt in ihrer Zweiteilung in das Gemeinwesen und die Familie eine Zirkulation in sich verbürgt. Diese Welt wird nämlich durch denjenigen wechselseitigen Übergang zwischen der Familie und dem Gemeinwesen immer wieder dynamisiert, der durch den Tod vermittelt wird. Zu diesem Übergang vgl. im Folgenden den Abschnitt 2.2.1. 18 Arendt, Vita Activa, S. 54; Arendt unterscheidet zwischen der ›philosophischen Ewigkeit‹ und der ›politischen Unsterblichkeit‹ (vgl. ebd., S. 23-26). Aber sie behält die Tatsache nicht im Auge, dass zugleich im familiären Bereich der sittlichen Welt nach einer anderen, nicht- oder vorpolitischen »irdische[n] Unsterblichkeit« gestrebt wird, die durch die Bestattung ermöglicht wird und die hier von Hegel zu Recht gleichermaßen betont wird: Es sind nicht nur die ›politischen‹ Tätigkeiten, sondern auch die Bestattungen, die »dafür bestimmt war[en], sterblichen Menschen Unsterblichkeit zu gewähren« (ebd., S. 55).
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diese Welt nicht nur soziohistorisch, sondern vor allem (sozio-)ontologisch. Der Krieg und die Bestattung sind zwei Funktionen für die Verewigung oder das Unsterblichwerden dieser Welt: Das Verdienst des tapferen Bürgers im Krieg wird zur gemeinsamen Erinnerung verewigt und das Leben des Familienmitglieds wird durch die Bestattung unsterblich gemacht. Der sittlichen Welt wird durch diese Tätigkeiten eine unaufhörliche Existenz gesichert. Nur durch die sittlichen Tätigkeiten kann das ewige Sein dieser Welt, ihr An-sich-Sein, erreicht werden – nur dass dieses Sein nur als Schein, als schöner Schein erreicht wird: Die erreichte Sittlichkeit ist schön-sittlich, insofern dieses Erreichtsein sich in ein Immer-so-Sein verwandelt. Die sittliche Welt ist dadurch bewegungslos und ruhig geworden – so bewegungslos und ruhig, dass sie schön erscheint. Der schöne Schein dieser Welt wird also einerseits durch die sittlichen Tätigkeiten zustande gebracht. Das bedeutet aber andererseits, dass sich alle sittlichen Tätigkeiten dieser Welt nach der schönen Ewigkeit richten: Sittliche Tätigkeit vollendet sich paradoxerweise in einem Vergessen von deren Tätigkeitszug.19 Die sittliche Tätigkeit produziert zwar den schönen Schein des An-sich-Seins dieser Welt. In diesem »Werk«20 ist aber der Tätigkeitszug, der dieses Werk produziert hat, selbst nicht ausgedrückt, sondern vielmehr verdeckt, verwischt, unsichtbar gemacht – nur das erreichte Werk wird in einer Apotheose ›verdinglicht‹. Diese Welt ist zwar eine der Kunstreligion, aber die der Kunstreligion unter dem Implizitma-
19 Michael Schulte zieht daraus zu Recht folgenden Schluss: »[W]enn entsprechend dieses sittliche Bewußtsein nicht Subjekt des Handelns ist, wenn es nicht dieser Einzelne ist, der handelt, dann kann in der sittlichen Welt auch schlechthin nichts geschehen, das man zu Recht eine Handlung nennen kann. Denn die entwickelten Voraussetzungen schließen ja gerade die Möglichkeit aus, eine individuelle Aktivität, die man als Handlung ansprechen könnte, zu isolieren« (Schulte, Die »Tragödie im Sittlichen«. Zur Dramentheorie Hegels, S. 202 f.; Herv. i.O.); in diesem Sinn kann man sagen, »daß in der sittlichen Welt eigentlich nicht gehandelt werden kann« (S. 205). 20 Hegel hat in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte das antike Griechenland im Ganzen in der Tat unter dem Gesichtspunkt des ›Kunstwerkes‹ dargestellt und darin zwischen ›subjektivem‹, ›objektivem‹ und ›politischem‹ Kunstwerk, also zwischen dem Zeigen des Menschenkörpers vor den anderen, der Darstellung der Götter und der politischen Konstitution unterschieden; vgl. VPhG, S. 295-334. Diese allgemeine, undifferenzierte Beschreibung der unterschiedlichen Werk-Charaktere als Kunstwerke ist aber darin ungenügend, dass sie den unmittelbaren Charakter dieser Werke nicht erfasst, der darin besteht, dass diese Werke nur insofern ihre Geltung und Wirkung haben, als sie als unmittelbar gelten und wirken, also nicht mehr als Werke angesehen werden, geschweige denn als Kunstwerke.
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chen der Dynamik, der zufolge diese Welt als ein Werk zustande kommen kann. Wenn man hier also von einem Subjekt als Träger dieser Tätigkeiten reden kann, findet es seine volle Selbstverwirklichung in einem schönen An-sich-Sein, in dem man aber keiner subjektiven Tätigkeit mehr auf die Spur kommen kann. Der sittliche Handlungsträger ist in der sittlichen Substanzialisierung, die sich so darstellt, dass sie sich bereits vollzogen hat, zur Wirklichkeit gelangt. Die »Sittlichkeit«, wie sie Hegel hier betrachtet, besteht in diesem Eingeschriebensein der Subjektivität in die Substanzialität. Sie besteht in einem ständigen und spurlosen Verwandeltsein von jener in diese, wobei die Subjektivität zu keinem Zeitpunkt ›selbst‹ zum Vorschein gekommen ist: Die Subjektivität lässt sich gleichsam nur in einer angenommenen Vorexistenz vermuten. Denn sie hat keinen Platz in der anerkannten Existenzfläche der sittlichen Welt, die keine Instanz kennt, die auf so etwas wie Autonomie Anspruch erheben könnte. Der sittliche Tätigkeitszug, der das schöne Werk erzeugt, existiert nur unterschwellig in der sittlichen Wirklichkeit. Denn die Sittlichkeit in ihrer schönen Form nimmt den tätigen Vollzug und dessen Darstellung nur ungern an – die Darstellung dieses Vollzuges im sittlichen Werk schadet der Vollkommenheit des Werkes.21 Die Subjektivität ist darin also unterbestimmt. Sie muss es sein. Auch wenn man in dem Sinne über die Subjekte in der sittlichen Welt sprechen kann, dass die sittlichen Tätigkeiten wie Krieg und Bestattung von Handlungsträgern ausgeführt werden, tritt die Subjektivität in dieser Welt gleichwohl immer nur im Modus der Unterbestimmtheit in Erscheinung. Sie lässt sich – paradoxerweise – nur in ihrer Un(ter)bestimmtheit, Unsichtbarkeit und Unhörbarkeit bestätigen. Bestimmt sichtbar und hörbar ist weniger der Tätigkeitsvollzug als vielmehr das Resultat dieses Vollzuges, das gewissermaßen bereits kunstwerkmäßig ›verdinglicht‹ ist. In der sittlichen Welt hat die Subjektivität des Subjekts nur insoweit Bedeutung, als sie durch die gänzliche Substanzialisierung verschwunden ist. Nicht mehr und nicht weniger. Im schönen An-sich-Sein, in dem sich das Subjekt, das sich in die sittliche Arbeit der Verewigung vertieft hat, seiner Arbeit und damit seiner selbst nicht mehr bewusst ist, ist »die reale Freiheit der Subjektivität«22 verwirklicht, in der »ihm als sittlichem das Wesen erschienen sei, wie es an sich ist« (345; Herv. i.O.).
21 »Denn das Bewußtsein des Unmittelbaren ist nicht das Bewußtsein des Unmittelbaren, weil jede Darstellung des Unmittelbaren ihm, dem Unmittelbaren, inadäquat ist« (Bensch, »›Aus dem Glück herausgetreten‹ – Zur Ästhetisierung der griechischen Welt«, S. 111). 22 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 17, S. 98 (Hervorh. modifiziert).
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In dieser Undifferenziertheit der Subjektivität, in diesem Schein der Subjektlosigkeit steckt aber in Wahrheit eine ganz starke Subjektivität, die nur in einem ewigen An-sich-Sein, in einem Schein der ontologischen Vollendung Bestand haben will. Dieser Wille ist so stark, dass die Subjektivität paradoxerweise in der Verwischung ihrer selbst ihr Dasein sichern will. Das wirkliche »Individuum« ist nur eines in dieser Welt: diese Welt selbst oder das gesamte Volk dieser Welt: »Der Geist ist das sittliche Leben eines Volkes, insofern er die unmittelbare Wahrheit ist; das Individuum, das eine Welt ist.« (326; Herv. i.O.) Von Subjektivität kann die Rede nur sein, insofern sich die Subjektivität der handelnden Subjekte in das Volk einschreibt, das das große und allein sichtbare und darstellbare Subjektivität repräsentiert. Diese im und als Volk dargestellte Subjektivität, die Hegel als den »wahren Geist« bezeichnet, würde ich deshalb eine mythologische nennen, weil sie in ihrer Vollkommenheit und in ihrer vollkommenen Identität mit sich selbst notwendig das nicht kennt, was sie ist. Eine mythologische Subjektivität, die dieser Welt eigen ist, kommt zum Zuge, indem sie sich in den schönen Schein des An-sich-Seins unterschwellig einschreibt. Die Subjektivität des Subjekts der sittlichen Welt will, sie möchte so sein, dass sie nur in diesem substanziellen, mythologisierten Zustand ist; dass sie nur darin »real« ist; in dieser Realität ist aber das Subjekt verschwunden, indem es sich selbst vergessen hat; und es hat vergessen, dass es sich vergessen hat – als ob das Subjekt niemals gewesen wäre, als ob das Vergessen selbst sich vergessen hätte, als ob dieses Vergessen selbst das Subjekt dieser Welt wäre. In dieser Welt der Vergessenheit seiner selbst, einer apriorischen Vergessenheit, die also keinen vorgängigen nüchternen Zustand des wachen Gedächtnisses der ›Wahrheit‹ voraussetzt, erhält und genießt das mythologische Selbst, der wahre Geist, erst seine volle Wirklichkeit.
2.2 D IE T RAGIK IM S ITTLICHEN 2.2.1 Gerechtigkeit im Konflikt: Übergänge in der sittlichen Welt Erinnern wir uns an die Beschreibung von zwei zentralen sittlichen Handlungen, der Kriegsführung und der Bestattung, so können wir erkennen, dass der Tod dabei sowohl in der öffentlichen wie in der familialen Tätigkeit von zentraler Bedeutung ist: Durch ihn vollendet sich die Sittlichkeit der sittlichen Welt; Tod bedeutet keineswegs das Ende des sittlichen Lebens, sondern vielmehr dessen Vollendung. Der tapfere Bürger, der sich in der Familie herausgebildet hat und
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in die Öffentlichkeit hinausgeht, findet die höchste Gestalt der Sittlichkeit im Kriegstod; und dieser tote Bürger kehrt durch die Bestattung als ein reines Familienmitglied in den frommen Bereich der Familie zurück. Das ist eine Dialektik des sittlichen Lebens, in der der Tod dasjenige ist, worin für das Ganze der sittlichen Welt in ihrer Zweiteilung in Gemeinwesen und Familie eine Zirkulation verbürgt ist, die diese Ganzheit reproduziert. Die sittliche Welt wird nämlich durch den wechselseitigen Übergang zwischen der Familie und dem Gemeinwesen, der durch den Tod vermittelt wird, immer wieder dynamisiert und dadurch erhalten: Der Bürger-Krieger geht aus der Familie zur Öffentlichkeit über, indem seine Karriere auf den Tod im Krieg als Höchstmaß des Sittlichen hinausläuft; er geht aber wieder in die Familie zurück, indem er durch die Bestattung zum reinen Einzelnen der Familie wird. Der beiderseitige Übergang ist also insofern die Kerndynamik der sittlichen Welt, als er ein »Gleichgewicht«, eine Gerechtigkeit zwischen beiden Sphären dieser Welt unterstützt. Diese Gerechtigkeit des Gleichgewichts kann aber auch gestört werden, wenn von einer der beiden Seiten Unrecht begangen wird – wenn also einerseits die familiale Seite sich gegen die öffentliche Dienstleistung stemmt und den Übergang des Individuums in die staatlich-öffentliche Sphäre verweigert oder wenn andererseits die Rückkehr des Einzelnen zur Familie durch die Bestattung von der staatlichen Seite verhindert wird. In beiden Fällen finden die Versuche statt, den Übergang von der einen zu der anderen Sphäre wieder in Ordnung zu bringen – Versuche, die allerdings Konflikte hervorbringen: Der Staat mobilisiert ab und zu die sich verselbständigenden Individuen gewaltsam zum Krieg; und das Familienmitglied – für Hegel die weibliche Figur, die er im Abschnitt »Die sittliche Welt« noch nicht mit dem Namen Antigone benennt, sondern anonym bleiben lässt – riskiert eventuell den tödlichen Konflikt mit dem Staat, um den Verstorbenen zu bestatten. Auch durch diese Versuche, die extreme Konflikte, Gegensätze und Widersprüche hervorrufen können, wird aber das Gleichgewicht des Ganzen der sittlichen Weltordnung wieder hergestellt. Die zwei zentralen sittlichen Tätigkeiten, die staatliche Kriegsführung und die familiale Bestattung, und die damit zusammenhängenden Werte, die Tapferkeit für den Staat und die Frömmigkeit für die Familie, geraten also zwar gegebenenfalls unweigerlich in den Konflikt. Aber ebendieser Konflikt ist der dynamische Kern, der den inneren Übergangsmechnismus der sittlichen Welt ermöglicht. Der beiderseitige Übergang, dessen Störung, deren Beseitigung und die Wiederherstellung der »Gerechtigkeit« machen die Dynamik der sittlichen Welt aus. Diese kann »nur dadurch lebendig sein« (340). Ohne diese Dynamik, die konflikthaft ist, wäre die Welt nicht mehr lebendig. Störung, Konflikt, und Tod im Konflikt sind das Wodurch der Erhaltung dieser Welt. Sie sind ihr Konstitutionsprinzip – kein Prinzip ihrer Auflösung, ihres Untergangs. Der
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Konflikt zwischen den sittlichen Gesetzen, sittlichen Mächten, und der möglicherweise darauf folgende Tod (re-)produzieren und erhalten erst diese Welt, sie machen sie erst »lebendig« – sie lösen sie nicht auf, sie lassen sie nicht untergehen.23 Nach der gängigen Auffassung beruht Hegels Tragik-Konzeption auf einem unvermeidlichen Konflikt zwischen zwei Gesetzen, Pflichten oder Werten. Diese Auffassung greift kurz. Denn der Gegensatz eines Gesetzes gegen ein anderes, der Widerspruch einer Pflicht gegen eine andere oder der Konflikt zwischen zwei sittlichen Mächten führen als solche nicht zur Tragik. Sondern ganz im Gegenteil: All diese gegensätzlichen Bewegungen schlagen nach der inneren Dynamik der sittlichen Welt in die Reproduktion dieser Welt um. In der sittlichen Welt, wie sie unter der Rekonstruktion des Abschnitts »Die sittliche Welt« bisher beschrieben worden ist, ist keine Tragik geschehen, weil sich darin keine (tragische) Handlung vollzogen hat. Die Tragik beschreibt Hegel erst im Abschnitt »Die sittliche Handlung«. Der Vergleich zwischen beiden Titeln24 weist darauf hin, dass die sittlich-tragische Handlung über den Umstand hinausgeht, dass die Handelnden den sittlichen Gesetzen, die nach der geschlechtlichen Trennlinie unmittelbar zugeordnet sind, folgen: Die Tätigkeit in der sittlichen Welt wird dann tragisch, wenn ihr eine Dimension des (Un-)Wissens zukommt, die diese Tätigkeit zu einer sittlichen Handlung, wie Hegel sie nennt, macht. Die gesetzbezogene Unterscheidung zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichem, die im ersteren Titel mit der Unterscheidung zwischen Mann und Weib verbunden war, verwandelt sich im letzteren Titel zur wissensoder handlungsbezogenen Unterscheidung, die sich nun nicht nur auf die Trennung der Tätigkeitssphären nach der Geschlechtsdifferenz – Staat und Familie –, sondern auf eine handlungsinnere, eine durch die Handlung hervorgebrachte Spaltung des Wissens und Unwissens bezieht, die die Ursache von oder gleichursprünglich mit der Schuld und dem Schicksal der tragischen Handlung ist. Nicht ohne Grund – einen Grund nennt er aber nicht ganz klar – behauptet Hegel am Anfang des Abschnitts über die sittliche Handlung: »Es ist noch keine Tat begangen« (342). Diese Behauptung, die insofern auf den ersten Blick völlig verblüffend erscheint, als er bisher, also im Abschnitt »Die sittliche Welt«, von
23 Vgl. dazu auch Jung, »Geschwister-Welt, Geschwister-Staat«, S. 66. Der Tod als solcher ist nämlich, wenn er auch gegebenenfalls unvermeidlich wäre, kein tragisches Ereignis. 24 Ausgeschriebene Titel lauten: »a. Die sittliche Welt. Das menschliche und göttliche Gesetz, der Mann und das Weib« und »b. Die sittliche Handlung. Das menschliche und göttliche Wissen, die Schuld und das Schicksal«.
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den sittlichen Tätigkeiten wie Kriegsführung und Bestattung genug erläutert hat, sollte im Folgenden nach ihrem Sinn verstanden werden. Es wird aber schon mit dieser Behauptung nahegelegt, dass noch keine tragische Handlung begangen ist, dass nämlich noch keine Tragik geschehen ist. Die Fragen, die sich dann stellen, wären folgende: Worin besteht dann die Tragik und die tragische Handlung? Wenn sich die Tragik auf jenen Gegensatz zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Gesetz, den Gegensatz, der nach der Trennlinie der geschlechtlichen Zuordnung zwischen Mann und Weib eingetreten ist, nicht reduzieren lässt, was macht die Tragik eigentlich aus? Weshalb und wodurch geschieht die Verwandlung oder der Umschlag 25 des sittlichen Gegensatzes der sittlichen Gesetze in den tragischen Gegensatz des (Un-)Wissens? Um diesen Fragen nachzugehen, werde ich im Folgenden die Tragik, die im zweiten Abschnitt (»b. Die sittliche Handlung«) des Sittlichkeitskapitels der PhäG beschrieben ist, als die Logik des Strukturwandels der Subjektivität durch einen Perspektivwechsel umreißen (2.2.2 »Tragik des Selbst«), die ›modernen‹ Aspekte der tragischen Handlung feststellen (2.2.3 »Die Modernität der Handlung«) und schließlich die Tragik als eine geschichtsphilosophische Form der Verdopplung der Handlung in sich selbst analysieren (2.2.4 »Tragik im Sittlichen«) . 2.2.2 Tragik des Selbst (a) Das Versöhnungsschema in den Vorlesungen über die Ästhetik Die Tragik geht, wie wir gesehen haben, in dem Gegensatz zwischen zwei Gesetzen, Pflichten oder Werten in der sittlichen Welt nicht auf. Die Vorstellung, Tragik sei mit einer Entgegensetzung zwischen konfligierenden Ansprüchen oder Berechtigungen gleichzusetzen, ist aber deshalb irreführend, weil sie von einer versöhnungsgemäßen und außenperspektivischen Hegel-Lektüre herrührt, die, durch den höheren Blickwinkel der Aufhebung der Gegensätze in die Irre geführt, stets von dem Ziel der Auflösung des Gegensatzes und Konflikts inspiriert ist. Diese Konklusionsart, die – und das ist tatsächlich die Ansicht Hegels über die Tragödie in den Vorlesungen über die Ästhetik – die »Einseitigkeit« beider sittlichen Parteien in diesem Gegensatz und die Beseitigung oder Korrektur der beiderseitigen Einseitigkeit im tragischen »Ausgang« betont, ist das Re-
25 Michael Schulte spricht zu Recht über einen Umschlag. Schulte, Die »Tragödie im Sittlichen«, S. 181.
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sultat einer Vogelperspektive, die außerhalb der Szene dieses Gegensatzes steht und von Anfang an das Drama der Entgegensetzung inszeniert.26 Und das Versöhnungsschema der Tragödie in den Vorlesungen über die Ästhetik (im Folgenden: Ästhetik) erweist sich schließlich als eines, das zu einem Rückgang in den ›epischen‹ Zustand führt, in dem »eine vielfache, […] auseinandergelegte Totalität« (Ä III, 521-522) herrscht und aufgrund dieser vielfältigen Auseinanderlegung die verschiedenen sittlichen Mächte innerhalb der »Totalität« in Einklang stehen. D.h. der tragische ›Ausgang‹ bedeutet hier die Wiedergewinnung einer »Totalität unterschiedener Verhältnisse und Mächte, welche jedoch nur in tatlosem Zustande als selige Götter das Werk des Geistes im Genuß eines ungestörten Lebens vollbringen« (Ä III, 523; Herv. i.O.). Diesen angeblich durch den tragischen Ausgang zu restaurierenden Zustand repräsentiert in der Tragödienausführung, so Hegel in Ästhetik, der Chor: »Das Resultat endlich der tragischen Verwicklung leitet nun keinem anderen Ausgang zu, als daß sich die beiderseitige Berechtigung der gegeneinander kämpfenden Seiten zwar bewährt, die Einseitigkeit ihrer Behauptung aber abgestreift wird und die ungestörte innere Harmonie, jener Zustand des Chors zurückkehrt, welcher allen Göttern ungetrübt die gleiche Ehre gibt«. (Ä III, 547; Herv. i.O.)27
Aber die Einseitigkeit der heroischen Haltungen, die hier für die Wiederherstellung der chorisch-harmonischen Koexistenz der verschiedenen Werte »abgestreift« (Ä III, 527) oder »aufgehoben« (Ä III, 524) werden müsste, ist in Wahrheit der konstitutive Kern der Tragik, der für jene Wiederherstellung nicht einfach beseitigt, korrigiert oder ausgeglichen werden kann; der tragische Ausgang durch den Ausgleich der Einseitigkeit würde nicht mehr zur Tragödie gehören,
26 Ä III, S. 521-527, 547 und 549. Allerdings sehen zahlreiche Autoren zwischen den Tragik-Auffassungen von der PhäG und von den Vorlesungen über die Ästhetik aufgrund dieses Versöhnungsschemas nur eine kontinuierliche Ähnlichkeit, was ich im Folgenden bestreiten will; um nur ein Beispiel davon zu nennen: Kurt von Fritz, »Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit in der griechischen Tragödie«, S. 88 f. 27 Dagegen hat Menke überzeugend dargelegt, dass die anscheinend »polytheistische« Haltung des Chors in Wirklichkeit von der »resignativen Kraftlosigkeit« gegenüber den sittlichen Mächten abhängt, und dass die »wertepluralistische« Lösung der Tragik beim Chor, die M. Nussbaum vorgeschlagen hatte, bestritten werden muss; vgl. ders., Tragödie im Sittlichen, S. 85-93; dabei bezieht er sich auf die Stelle der Phänomenologie des Geistes, wo Hegel im Unterschied zur Ästhetik die Versöhnungsunfähigkeit des Chors betont (vgl. PhäG, S. 535 f.).
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sondern bedeutet eine Rückkehr zur Epik, in der sich die tragische Spannung in »die bloße Unterschiedenheit« (Ä III, 523) der zwar gleichrangigen, aber bloß nebeneinandergestellten und miteinander nur in einem losen Verhältnis stehenden Ansprüche auflöst. Der Blickwinkel auf die Aufhebung, Auflösung und Beseitigung der tragischen Spannung, der sich von Anfang an einstellt, kanalisiert diese in einen seligen epischen Zustand. Das aber widerspricht der grundsätzlich immanenten Methodik Hegels, nämlich der Dialektik. (b) Tragik der Welt, Tragik der Perspektive, Tragik des Selbst Ganz anders als in jener versöhnungsorientierten und außenperspektivischen Ansicht kann und muss das Tragische vor allem nach Hegels Beschreibung im Sittlichkeitskapitel der PhäG, so meine These, als eine Verdopplung von zwei Perspektiven, von der Perspektive der Welt und der Perspektive des Handelnden, verstanden werden, die zwei miteinander unverträgliche Perspektiven der Subjektivität implizieren: Das Tragische entsteht durch eine unlösbare Verwicklung von (einerseits) einer zwar sehr starken, aber in der unmittelbaren Einheit mit dem sittlichen Ganzen ihrer selbst nicht bewussten Subjektivität, die sich von dem An-sich-Sein einer sittlichen Welt nicht mehr unterscheidet, und (andererseits) einer sich ihres Selbstsetzungsaktes völlig bewussten Subjektivität, deren substanzielle Grundlage gerade durch dieses reflexive Bewusstsein erschüttert wird. Aufgrund dieser Bestimmung des Tragischen lässt sich die Tragik definieren: Tragik ist das Ereignis, in dem sich der für die sittliche Welt konstitutive Konflikt zwischen den unmittelbar-sittlichen Mächten durch eine solche Selbstentzweiung innerhalb eines Handelnden, in der dieser in zwei völlig entgegengesetzte Richtungen – in die eine Richtung, in der die selbstvergessene SichEinschreibung in die sittliche Substanz paradox eine Selbstverwirklichung des Selbst garantiert, und in die andere Richtung, in der das Subjekt bis zu dem Grad völlig in sich, in seinen Grund ›reflektiert‹ ist, dass das ›Subjekt selbst‹ fraglich wird – gerissen ist, zu dem Konflikt verwandelt, in dem die Integrität der sittlichen Welt durch die Perspektivierung des Handelns geteilt wird und aufgrund dessen das Ganze des Sittlichen zusammenbricht. Die Tragik – hier im Sittlichkeitskapitel der PhäG kann man noch nicht von einer Tragödie sprechen; darauf komme ich gleich zurück – findet grundsätzlich als ein Ereignis des Übergangs, eines Übergangs von einer zu einer anderen Welt statt. Tragik ist eine Tragik der Welt. Als eine Welt-Tragik hat die Tragik folgende Charakteristika. 1) Tragik ist doppelt strukturiert: Der innerweltliche Gegensatz zwischen den Gesetzen oder Pflichten, die jeweils einen von den beiden Polen – Staat und Familie, der öffentlichen und der privaten Sphäre – normativ repräsentierten, ist selbst nicht die Tragik, sondern macht ihren Hintergrund, ihren »Grund« (342), ein Element der
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Tragik aus. Es bedarf eines anderen Elements, damit sich jener Gegensatz zur Tragik verwandelt. Auf die Doppelstruktur der Tragik weist Hegel am Eingang des Sittlichkeitskapitels hin: »Es[: das Selbstbewusstsein] erfährt also in seiner Tat sowohl den Widerspruch jener Mächte, worein die Substanz sich entzweite, und ihre gegenseitige Zerstörung, wie den Widerspruch seines Wissens von der Sittlichkeit seines Handelns mit dem, was an und für sich sittlich ist, und findet seinen eigenen Untergang. […] Darin ist eben die Sittlichkeit zugrunde gegangen«. (328; Hervorh. modifiziert)28
Der eine »Widerspruch« spielt sich nämlich zwischen den sittlichen Mächten ab, während der andere von einem Handelnden getragen wird, der in sich eine Spaltung des Wissens seines Rechts erfährt. 2) Diese doppelte Struktur der Tragik ist perspektivisch angelegt: Der erstere Widerspruch ereignet sich gänzlich innerhalb der sittlichen Weltordnung und die Perspektive der Beschreibung dieses Ereignisses ist die Perspektive aus dem Ganzen der Welt; der letztere vollzieht sich hingegen zwar ebenso in der sittlichen Welt, seine Beschreibungsperspektive ist aber die Perspektive aus dem Handelnden, die der Perspektive aus dem Weltganzen selbst fremd ist. Die erste Perspektive der Beschreibung ist also in der Tat keine, weil die Perspektive auf die sittliche Welt von dieser Welt als Ganzer nicht differenziert ist; die zweite Perspektive der Beschreibung ist dagegen für diese mit dem Ganzen verschmolzene Perspektive überhaupt fremd, weil sie aus dem einzelnen Handelnden gleichsam herausstrahlt. Der eine Widerspruch wird aus der Perspektive des Ganzen, die keine ist, beschrieben, während der zweite aus der Perspektive der Singularität des Handelnden beschrieben wird. Die erste Perspektive stellt das Ganze der Welt dar, wohingegen die zweite die Einzelheit der Handlung in ihrem Verhältnis mit dem Ganzen darstellt. 3) Die Perspektive des Handelns in der Tragik ist eine dem Handeln eigene: Der zweite Widerspruch, der aus der Perspektive des Handelnden entsteht, kommt also nicht dem ersten Widerspruch nicht wie eine äußerliche Entität und nicht von außen hinzu. Vielmehr kommt nichts hinzu; ganz im Gegenteil: Die zweite Perspektive geht von dem Blickwinkel des Handelnden aus, der gerade inmitten der sittlichen Welt handelt. Diese Perspektive ist die dem Handelnden eigene oder eigenste. Diese dem Handeln eigenste Perspektive ist aber der vollkommenen Immanenz des Ganzen der sittlichen Welt fremd. Das »Selbst«, das allein dieser Handlung
28 Szondi betont, dass Hegel den Untergang der sittlichen Ordnung als einen tragischen Vorgang versteht, ohne dabei den Namen ›Tragik‹ zu erwähnen; vgl. Peter Szondi, Versuch über das Tragische, S. 172.
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gehört und insofern eine Wirklichkeit erhält, als es vom Ganzheitscharakter der sittlichen Weltordnung abweicht, ist der entscheidende Faktor, der die Handlung von der bloß und völlig innerweltlichen Tätigkeit – aber noch als diese – unterscheidet und zu einer tragischen macht. »[D]ie Tat aber ist das wirkliche Selbst«. (342; Herv. i.O.) Das Handeln, die Hegel »das wirkliche Selbst« nennt, ist nichts anderes als die Perspektive des Handelns, die eine ›Tiefe‹ hat, von der aus die Handlungsperspektive herausstrahlt. Die Beschreibung als eine Selbstbeschreibung des Geistes, die bisher in einer natürlichen Weise mit dem Ganzen der Weltordnung koordiniert ist, muss zugleich der singulären Augenhöhe des Handelnden gerecht werden. Dies führt zu einer tragischen Spaltung. Die Tragik besteht aus dem doppelten Ereignis, dessen Doppelheit sich aus der Verdopplung der Perspektive ergibt. Die Tragik ist demnach ein Ereignis, das die sittlich-unmittelbare Welt aus dem Innen her subversiert, oder eines, in dem diese Welt aus dem Innen her sich subversiert, ohne dabei etwas ›inhaltlich Neues‹ hinzuzufügen. Die Tragik ist ein Übergangsereignis oder eine Übergangsform, in der sich die sittliche Welt zu einer nachsittlichen noch in ihr selbst transformiert. Die Tragik ist also ein Ereignis weder innerhalb noch außerhalb der sittlichen Welt, sondern an der Grenze dieser Welt: »Der Grund, von dem diese Bewegung aus- und auf dem sie vorgeht, ist das Reich der Sittlichkeit«. (342) Die sittliche Welt ist der Ort des Anfangs, des Ablaufs und des Endes der Bewegung der Tragik, gleichsam eine ›Bühne‹ der Tragik, wo aber die Zuschauer unbestimmt fehlen. Diese Gleichzeitigkeit von Vorgang (in einer Welt) und Ausgang (von und aus dieser Welt) bezeichnet die Logik des Tragischen. Die Tragik ist ein Ereignis des Ausgangs aus der sittlichen Welt heraus, das noch innerhalb dieser Welt abläuft. Die Tragik spielt sich also aufgrund der Spannung zwischen dem immerwährenden Verweilen in der sittlichen Welt und dem plötzlichen Heraussteigen aus dieser Welt inmitten der Welt – also zwischen dem zentripetalen Bindungszwang und der zentrifugalen Entbindungsbewegung ab. Dieses Sich-Abspielen der Tragik, dessen Rahmen das Sittliche der sittlichschönen Welt ist, dieser Verlauf ist ein ›Drama‹,29 in dem der Handelnde in sich ein Auseinanderreißen seines Selbst in die mythologische und die reflexive Ordnung und in diesem Selbstauseinanderreißen das Selbst erfährt. Die Erfahrung der Tragik ist eine des Selbst, eine des Subjekts, das nur im Moment seines Aus-
29 Der Verlauf der Tragik in der sittlichen Welt ließe sich schwerlich als eine Tragödie nennen; denn jene Tragik spielt sich in ihrer Beschreibung im Geistkapitel der PhäG noch ohne Zuschauer ab. Die entscheidende Bedeutung des Bezugs auf das Zuschauen erläutere ich im dritten Kapitel (3.2.3) und im ganzen siebten Kapitel der vorliegenden Arbeit.
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einanderreißens wahrgenommen wird, eine Erfahrung der Subjektivität, eine ›weltgeschichtliche‹ Selbsterfahrung des Subjekts in statu nascendi, dessen Selbst sich in einer Selbstentzweiung erst selbst erfährt, die sich in der Tragik als der ›Untergang‹ des Handelnden ausdrückt. Die Tragik ist ein Ereignis der Subjektivität, ein Geschehen der Handlung des Subjekts, das an der Grenze seiner selbst handelt. Die Tragik hängt von der Überbelastung einer Selbstentzweiung des handelnden Subjekts ab, von der abzuweichen an der geschichtsphilosophischen Schwelle von einer vormodernen zu einer modernen Welt unmöglich ist.30 Der Untergang des tragisch Handelnden ist darin unvermeidlich; der Tod ist sein »Schicksal«, er ist der »Rahmen«, wie Benjamin sagt, dieser Übergangsphase. Das ist aber weder in dem Sinne der Fall, dass innerhalb der sittlichen Welt ein normativer Konflikt zwischen Gesetzen, Pflichten und Werten unvermeidlich wäre, noch in dem Sinne, dass das Verhängnis des Handelnden in dieser mythologischen Welt und daher in einer mythologischen Weise im Voraus bestimmt wäre, sondern in dem Sinne, dass sich der handelnde Held zwischen zwei Welten zwängt, in einen Raum, der weder der einen noch der anderen Welt angehört, vielmehr ein Nicht-Raum ist, in dem er seine Subjektivität, die sich gerade im Moment des subjektiven Handelns um sich selbst bringt, erfährt. Diese Interpretation der Tragik als der Verdopplungs- und Übergangsform von zwei Welten, von zwei Perspektiven und als der Form der Erfahrung der Subjektivität in diesem geschichtsphilosophischen Wandel entfernt sich also von der Auffassung, die Tragik bzw. das Tragische sei eine Grunddimension der menschlichen Konflikterfahrung in der Welt überhaupt, gleich wie unterschiedlich dieser Konflikt verstanden wird: zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, dem Staatlichen und dem Familialen, dem Göttlichen und dem Menschlichen, dem Willentlichen und dem Vernünftigen und so weiter. Die Auffassung also, die Tragik sei ein Ereignis in einer Welt, die selbst unveränderlich bleibe, greift zu kurz; sie wäre zu bestreiten oder insofern zumindest zu ergänzen, als die Tragik zugleich ein Erfahrungsereignis ist, in dem sich diejenigen Weltverhältnisse, in denen jener Konflikt stattfindet, selbst verändern, indem die Subjektivität der Erfahrung anders wahrgenommen wird. Die Tragik ist ein grundsätzlich geschichtliches und geschichtsphilosophisches Geschehen, in dem die Welt, die Subjektivität und die Handlung an deren Grenze erfahren werden.
30 Vgl. Jean-Pierre Vernant, »Tensions et ambiguїtés dans la tragédie grecque«, S. 25.
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2.2.3 Die Modernität der Handlung (a) Die Singularität der Handlung Hegel fragt eingangs des Abschnitts, in dem er über die sittliche Handlung zu sprechen beginnt, wie der tragisch handelnde Held aussehe, und antwortet, dass er eine »einzelne Individualität« sei (342). Im Feld des Gegensatzes der unmittelbar gültigen Gesetze der sittlichen Welt sei die einzelne Individualität noch nicht aufgetreten (ebd.). Denn die einzelne Individualität, die Hegel hier meint, ist dieser Welt nicht ganz eigen – der Welt des Gegensatzes zwischen der Allgemeinheit und der Besonderheit, zwischen dem Staat und der Familie, zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen. Diese Gegensatzpaare sind Bestimmungen der unmittelbar-sittlichen Weltordnungen, die sich durch den Gegensatz und die Symbiose zwischen beiden sittlichen Polen reproduzieren, wobei die einzelne Individualität des (tragisch) Handelnden nicht der Besonderheit zuzuordnen ist, geschweige denn der Allgemeinheit (347). Sie ist vielmehr singulär in dem Sinn, dass sie über die Oberfläche der Werteskala, die sich zwischen Allgemeinheit und Besonderheit erstreckt, gleichsam hinaussteigt. Sie handelt in einem qualitativen Sprung, der eine quantitative Ordnung der »Gattung« und »Art« (ebd.) in der sittlichen Welt zerreißt. Sie kann nicht in die Ordnung des Gegensatzes zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen integriert werden. Die Handlung der einzelnen Individualität vollzieht sich zwar in der sittlichen Welt und innerhalb des sittlichen Gegensatzes; sie gehört aber in gewissem Sinne nicht mehr zur sittlichen Welt. Dieses ›Zwar … aber‹ macht das Tragische der tragischen Handlung aus: Die Handlung des Handelnden wiederholt das Gegensatzspiel der sittlichen Welt, und in dieser Wiederholung verdoppelt sich die Handlung so, dass sich die Welt, in der er handelt, selbst verdoppelt; dass sich die Welt selbst in die Weltlichkeit und die Weltlosigkeit entzweit. Die Tragik ist nicht nur ein Ereignis des Handelnden an der Grenze der Welt, sondern Geschehen der Weltordnung, die selbst an ihre äußerste Grenze gedrängt und gespalten wird. In der tragischen Handlung findet im Schatten der Sittlichkeit ein sprunghaftes Aussteigen aus der sittlichen Ordnung der Allgemeinheit und Besonderheit statt. Der Handelnde ist darin tragisch, dass sich seine Existenz beim Vollzug seiner innerweltlichen Handlung während dieses Vollzugs als das »Selbst« (342; Herv. i.O.) bis zu dem Grad singularisiert, dass sie zu einer gleichsam entweltlichten Existenz wird. Er steht da inmitten der Welt ›selbständiger und einsamer‹ (Ä III, 476). »Das Selbst weiß ja von nichts außer sich, es ist einsam schlechthin.«31 Seine »Tat« – so nennt Hegel die tragische Handlung – besteht
31 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 98 f.
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nicht nur etwa in der tapferen Kriegsführung oder der frommen Bestattung, sondern in der Erzeugung seiner Einsamkeit mitten in der Welt. Diese Einsamkeit, diese Alleinigkeit in der Welt, dieser Rückzug in sich mitten in der Handlung durch die Verdopplung der Handlung ist selbst seine Tat. Eine ungeheure, eine unerhörte Wirklichkeit kommt der Handlung und dem Selbst der Handlung zu, indem die Handlung des Selbst die Wirklichkeit der sittlichen Ordnung überhaupt übertrifft. Dieses Übertreffen der Wirklichkeit selbst ist ein Übertreten, ein Überschreiten ihres Maßes. Die Handlung ist also ein begangenes Übermaß im globalen Ausmaß – das ist die sittliche Handlung, wie Hegel sie nennt. Hier ist also das Prädikat »sittlich« mit der »Handlung« inkommensurabel, und umgekehrt: Die sittliche Handlung als die Handlung, die sich in der sittlichen Welt vollzieht, ist für die Sittlichkeit überhaupt widrig. Diese Handlung ist zwar eine begangene Tat, deren Tatort die sittliche Welt ist; diese Tat ist aber nicht nur ein Verbrechen gegen dieses oder jenes Gesetz (etwa gegen das Gesetz der staatlichen Loyalität oder der familialen Frömmigkeit), sondern gegen die sittliche Gesetzlichkeit überhaupt. Die Handlung ist nichts anderes als das Selbst, das wirklich wird, indem es die Wirklichkeit seiner Welt selbst übertrifft und übertritt, indem es aus der »Wahrheit« der sittlichen Welt herausbricht: »Die Tat aber ist das wirkliche Selbst« (342; Herv. i.O.). Der »wahre Geist« wird durch die Handlung zum wirklichen; die »wahre« Welt tritt auf dem Weg zu einer wirklichen. (b) Handlung als Sich-Setzung: Sehen, Wissen und Sprechen Durch diesen radikalen Bruch mit der Welt aber öffnet sich ein neuer Raum, in dem sich eine ganz neue Weise des Sehens, Wissens und Sprechens auftut und sich ein radikaler Perspektivenwechsel vollzieht – oder besser: sich ein Raum auftut, in dem der Held erst sieht, weiß bzw. spricht und in dem seine Perspektive überhaupt entsteht: Dem tragischen Helden erscheint nicht mehr »das Wesen«, »wie es an sich ist« (345; Herv. i.O.), wie es noch beim sittlichen Bewusstsein der Fall ist. Dass dem sittlichen Bewusstsein »das Wesen erschienen sei, wie es an sich ist«, bedeutet zweierlei. Es bedeutet erstens, dass dem sittlichen Bewusstsein das Sein und die Erscheinung identisch sind; dass ihm der Schein die Wahrheit ist. Und es bedeutet zweitens, dass das sittliche Bewusstsein ein unmittelbares Bewusstsein ist, das sich in diese scheinbare Wahrheit wie in diesen wahrhaften Schein verliert; dass es sich nicht nur mit der unmittelbaren Wahrheit identifiziert, sondern sich seiner selbst in dieser Identifizierung nicht mehr bewusst ist; dass es also in sie einfach eingegangen ist; dass es in der Einheit mit ihr verschwindet; dass es in der sittlichen Welt deshalb überhaupt kein Bewusstsein mehr ist, weil das »einfache Bewusstsein« (ebd.; Herv. i.O.), das mit sich selbst gleich ist und sich als mit seiner Welt gleich weiß, kein Bewusst-
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sein mehr im Hinblick darauf ist, dass es »die Natur des Bewußtseins« ist, »sich in sich selbst zu unterscheiden« (328); dass das Bewusstsein der sittlichen Welt also in der »absoluten Substanz« (344) selbstvergessen ist; dass es schließlich für dieses Bewusstsein keine Handlung im emphatischen Sinn mehr gibt; dass alles trotz und aufgrund der dynamischen Gegensätze letzten Endes in Ruhe zurückbleibt; dass alles in ihr die »schöne Einmütigkeit und das ruhige Gleichgewicht« (354) ist, wie Hegel in Anlehnung an die berühmte Formel Winckelmanns über die antike Plastik – »edle Einfalt und stille Größe« – sagt. Aus dieser Welt heraus handelt der tragische Held – er sieht, weiß und spricht: Er unter- und entscheidet zwischen dem Recht und dem Unrecht, indem er »das Recht nur auf seiner Seite, das Unrecht aber auf der anderen sieht« (344; Hervorh. hinzugefügt); sein Blick auf Recht und Unrecht ist selbst seine Handlung; sein »Erblicken« (ebd.) des Rechts, dessen Ergreifen ist sein Handeln. Er weiß dies als sein Recht; er ist sich dessen bewusst, dass dies das Recht ist; er weiß, dass er im Recht ist; er ist das »Selbstbewusstsein« (343) dessen, dass er recht handelt; sein Bewusstsein seines Rechts ist seine Tat; »die Handlung ist das ausgeführte Wollen, das zugleich ein gewußtes ist« (Ä III, 478; Herv. i.O.). Und schließlich wird dem Handeln die Sprache zugeeignet: »[D]ie Vollbringung [der Tat] spricht es selbst aus, daß, was sittlich ist, wirklich sein müsse […]. Das Handeln spricht gerade die Einheit der Wirklichkeit und der Substanz aus, es spricht aus, daß die Wirklichkeit dem Wesen nicht zufällig ist, sondern mit ihm im Bunde keinem gegeben wird, das nicht wahres Recht ist« (348; Herv. i.O.). Eine Aussprache der sittlichen Einheit oder Wirklichkeit der Handlung, die aus dem Handlungsvollzug selber herkommt, unterscheidet die sittliche Handlung, die in diesem Selbst-Sprechen oder Selbst-Beschreiben eine Singularität erhält, von der sittlichen Tätigkeit, die sich in ihrer unmittelbaren Integration zum Ganzen stumm vollzieht und von außen beschrieben wird. Oder dieses SelberAussprechen, die Vollzugsdimension des Aussprechens macht diese sittliche Tätigkeit erst zur sittlichen Handlung. Sehen, Wissen und Sprechen sind nicht zusätzliche Tätigkeiten des Helden, die er tun oder nicht tun kann und die er zu seinen sittlichen Tätigkeiten wie Kriegsführung oder Bestattung hinzuzufügen vermag. Sehen, Wissen und Sprechen sind umgekehrt deshalb grundsätzlich von diesen Tätigkeiten unterschieden und grundlegender als sie, weil Krieg und Bestattung sich nach den vorgegebenen Gesetzen einer sittlichen Welt zur Sicherung dieser Welt inhaltlich vollziehen, während Sehen, Wissen und Sprechen das eigentliche Handeln des tragischen Helden sind, durch das er erst zum Vorschein kommt, indem er die Bedeu-
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tung der sittlichen Tätigkeiten, also ihre Formen, gänzlich verändert.32 Sehen, Wissen und Sprechen sind seine wesentlichen Seinsmodi, ohne die er als der Handelnde überhaupt nicht existieren könnte. Er setzt sich erst durch das Sehen, das Wissen und das Sprechen. Das »Tun« bedeutet, »sich für sich […] zu setzen« (346) durch Sehen, Wissen und Sprechen – nicht einfach durch die sittlichen Tätigkeiten wie Kriegsführung und Bestattung. Das Sehen, das Wissen und das Sprechen eigenen Rechts sind das Setzen seines eigenen Grundes – und dadurch die Setzung des Selbst. Die Handlung ist grundsätzlich eine GrundSetzung, wodurch der Handelnde sich selbst setzt und sowohl diesen Grund wie sich selbst als gesetzt weiß. Dieses Wissen über die Gesetztheit seines Grunds wie seiner selbst durch sich selbst bezeichnet die Modernität der Handlung des tragischen Helden. Dagegen beziehen sich die Tätigkeiten des sittlichen Bewusstseins, so sehr sie auch immer »lebendig« (340) sein mögen, gänzlich auf die Unmittelbarkeit der sittlichen Gesetze; die »sittlichen« Gründe dieser Tätigkeiten sind in ihrer unmittelbaren Gültigkeit vorgegeben, gleich ob sie in der Offenheit der politischen Sphäre zutage treten oder in der Verborgenheit der Familie geheim bleiben. Die unmittelbare Gegebenheit der sittlichen Gründe verbürgt dem sittlichen Bewusstsein »das sichere Vertrauen zum Ganzen«; in dieser unmittelbaren Vertrautheit gibt es »nichts Fremdes« (347): Alles ist von vornherein durch die »allgemeinen« Gesetze des Gemeinwesens oder die »besonderen« der Familie in das sittliche Bewusstsein unmittelbar eingeschrieben; hier herrscht »das Unmittelbare, Unwankende, Widerspruchlose« (342) in einer sicheren Einheit mit dem Ganzen, in der das sittliche Bewusstsein noch nicht und nicht mehr das Bewusstsein des Handelns zu sein braucht (und – paradoxerweise – überhaupt kein Bewusstsein zu sein braucht); es braucht das Recht und das Unrecht nicht zu sehen; es braucht kein Wissen über den Grund seiner Tätigkeiten; es braucht nicht über ihn zu sprechen; es ist blind, unwissend und stumm in seiner
32 Judith Butler hat zu Recht beim Handeln von Antigone die tatsächliche Handlung, nämlich die Bestattung ihres Bruders, und die sprachliche Handlung, mit der sie gegen Kreon ihr Recht verkündet, unterschieden und die eigentliche Bedeutung ihres Handelns dieser letzteren Tat zugesprochen: »Antigone handelt, aber was tut sie? Sie begräbt ihren Bruder […]. Als sie vor Kreon erscheint, handelt sie noch einmal, diesmal verbal, indem sie sich weigert, ihre Tat zu leugnen. […] Zu sagen: ›Ja, ich habe es getan‹ bedeutet, den Akt für sich in Anspruch zu nehmen, aber es bedeutet auch, eben mit dieser Inanspruchnahme eine weitere Tat zu tun, nämlich den Akt der Öffentlichmachung der eigenen Tat zu vollziehen, ein neuerliches kriminelles Tun, das das erste verdoppelt und ersetzt« (Butler, Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, S. 21 und 23; Hervorh. von mir).
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schön-sittlichen Welt. Sehen, Wissen und Sprechen wären in der Ungeschiedenheit vom sittlichen Ganzen unnötig und vor allem unmöglich. In dieser sich von Ewigkeit zu Ewigkeit tradierenden Welt gibt es kein Platz für Bewusstsein überhaupt – für das Bewusstsein, das das Sehen, das Wissen und das Sprechen ist. Hingegen ist das handelnde Bewusstsein, das von seinem Recht zum Handeln ebenso weiß wie es davon spricht und damit seinen Grund bzw. sich selbst setzt, ein radikaler Bruch mit dieser ganzen unmittelbaren Gegebenheit; es ist überhaupt ein plötzlicher Sprung aus dieser selbstverständlichen Welt; es kann nur das sein, was es ist, indem es springt, d.h. indem es handelt, wenn es sich von allen selbstverständlich tradierten Dingen loslöst. Es sieht, weiß und spricht so, dass es selbst seinen eigenen Grund setzt – womit aber zugleich sein unmittelbarer Grund verlorengegangen ist; denn der Grund muss per definitionem so sein, als ob er an sich absolut sei; der Grund, der nicht an sich und absolut ist, ist kein Grund mehr. Dadurch, dass das handelnde Bewusstsein seinen Grund und damit sich selbst setzt und sie als gesetzt weiß, schafft es gleichzeitig den Grund überhaupt ab. 2.2.4 Tragik im Sittlichen Wir haben gesehen, wie modern der tragische Held und seine Handlung sind, als ob sie die Modernität selbständig beinhalteten. In Wirklichkeit verhält es sich aber ganz anders. Denn die Handlung des tragischen Helden vollzieht sich nicht außerhalb, sondern innerhalb der sittlichen Welt, in der er immer noch »einheimisch« (340) ist. Seine Handlung kommt zwar aus ihm selbst heraus, aber ihr Resultat hat einen Rückbezug auf die sittlichen Ordnungen, in denen er sich bewegt: »[D]ie Handlung ist das ausgeführte Wollen, das zugleich ein gewußtes ist, sowohl in betreff [sic] auf seinen Ursprung und Ausgangspunkt im Innern als auch in Rücksicht auf sein Endresultat«. (Ä III, 478; Herv. i.O.) Denn »[d]er Grund, von dem diese Bewegung«, also die tragische Handlung, »aus- und auf dem sie vorgeht, ist das Reich der Sittlichkeit« (342; Herv. i.O.). Diese doppelte Bewegung der tragischen Handlung, also ihre gleichzeitige Bewegung des Ausgangs aus und des Vorgangs in dem »Reich der Sittlichkeit«, sieht ganz anders aus als wir im vorangegangenen Abschnitt gesehen haben. Dort haben wir die tragische Handlung so betrachtet, als handelte der Held ohne Welt. Der tragische Held existiert aber in der Welt; er ist ›modern‹ – aber in einer seit Ewigkeit tradierten Welt. Er ist ein einsames Selbst, aber noch inmitten der sittlichen Welt. Seine Bewegung des Aussteigens ist ein gebundener Sprung; sein wachsames Bewusstsein ist ein Traum in der vergesslichen Welt der Sittlichkeit; seine Singularität ist ein augenblicklicher Riss in einer ewigen Welt – ein kleiner Riss, der
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aber die ganzen ewigen Ordnungen der unmittelbaren Gültigkeit entwerten wird; ein Traum, aber ein solcher, der die Realität umstürzt; ein Sprung in der Gebundenheit, die aber durch diesen tödlichen Sprung zur Auflösung kommt. In diesem Abschnitt werde ich also versuchen, die Struktur dieser widersprüchlichen Bewegung der tragischen Handlung durch die Verfolgung der begrifflichen Vorgehensweise Hegels im zweiten Abschnitt des Sittlichkeitskapitels zu rekonstruieren. Dafür werde ich zunächst (a) durch die Unterscheidung zweier Funktionen in den sittlichen Weltordnungen, nämlich durch die des Vergessens der Vielheit und der Verdrängung des Handlungsbewusstseins, verdeutlichen, wo das eigentliche ›Potenzial‹ der Tragik liegt, und dann darstellen, wie sich dieses Potenzial durch (b) die Struktur des Gegensatzes zwischen dem Wissen und Unwissen und durch die Begriffe (c) des tragischen Charakters sowie (d) der Schuld zur Tragik entwickelt. (a) Vergessen der Vielheit und Verdrängung der Handlung Die sittliche Welt in ihrer unmittelbaren Einheit reproduziert sich durch eine Doppelstruktur, die aus den sittlichen Tätigkeiten und deren Vergessen gebildet wird, wie ich oben dargelegt habe. Aber wie ist dieses Vergessen möglich, obwohl unter den Bedingungen der sittlichen Tätigkeiten immer der Konflikt, die Gewalt, die Unterdrückung und sogar der Tod drohen? Dieses Vergessen ist darum möglich, weil diese Konflikthaftigkeit der sittlichen Gegensätze durch eine zweifache Unmittelbarkeit in der sittlichen Welt in eine Art von Bestimmungslosigkeit gerät, nämlich durch die Unmittelbarkeit des Vollzugs der sittlichen Tätigkeiten und die Unmittelbarkeit des schönen Scheins der dadurch hervorgebrachten sittlichen Einheit: Die sittlichen Tätigkeiten vollziehen sich unmittelbar und anonym. Ihr Träger steht wie ein Bild, eine sich bewegende Skulptur ohne Perspektive auf Handlung; die sittlichen Tätigkeiten vollziehen sich also in der unmittelbaren Identifizierung mit den – sei es auch entgegengesetzten – sittlichen Gesetzen; sie werden deshalb ohne das Bewusstsein der Gültigkeit der Gesetze, denen sie folgen, ausgeführt, weil es keine Distanz zwischen den Tätigkeiten und ihren Gesetzen gibt; das Gesetz »gilt, weil es Gesetz ist, nach seiner Unmittelbarkeit« (VPhG, 308). Diese unmittelbar-distanzlosen sittlichen Vollzüge werden durch ihre zweifache Arbeit der gegensätzlichen Symbiose und der Verewigung hindurch in die sittliche Einheit absorbiert, die durch diese Arbeit ihrerseits die Unmittelbarkeit des schönen Scheins erhält, wie ich oben dargestellt habe. Und diese zweifache Unmittelbarkeit, also die des Vollzugs der sittlichen Tätigkeiten und die des sittlichen Werkes, bedeutet weiterhin, dass die Konflikthaftigkeit der sittlichen Tätigkeiten, die beim Streben nach der sittlichen Einheit durch die Vielheit und Verschiedenheit der Gesetze, nach denen sie sich
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unmittelbar richten, verursacht wird, in dieser zweifachen Unmittelbarkeit unsichtbar wird. Denn die Partikularitäten oder Mannigfaltigkeiten von Konflikt, Gewalt, Schmerz und Leid, die durch die Vielheit und Verschiedenheit sittlicher Tätigkeiten hervorgerufen werden, sind in der doppelten Unmittelbarkeit unterbestimmt; d.h. sie werden in den Bestimmungsordnungen der sittlichen Welt nicht (an-)erkannt. Im »objektive[n] Willen« (VPhG, 308 und 309), der die sittlichen Werke zustande bringen will, sind sie unhörbar und bleiben stumm; sie werden in ihrem unmittelbaren Eingehen in die Arbeit der Verewigung und Verunsterblichung des sittlichen Sinns vernachlässigt. Sie werden vernachlässigt, aber nicht durch die Missachtung ihres Anspruchs auf ein (An-)Erkennen – denn die Erhebung eines Anspruchs und dessen Missachtung sind etwas der Ordnung der Unmittelbarkeit völlig Fremdes –, sondern durch ihre grundsätzliche Unterbestimmung, d.h. ihr Verbleiben unter der Schwelle der sittlichen Bestimmungsordnungen; sie bleiben in der Verwirklichung dieser »Gestalt der Freiheit« (ebd.) bestimmungslos und werden so wahrgenommen – sie werden, so könnte man sagen, als abwesend wahrgenommen; sie geraten in diesen Ordnungen ins Vergessen. Die Konflikthaftigkeit, die sich aus der Vielheit der sittlichen Parteien und der Verschiedenheit ihrer Gesetze ergibt, fällt infolge der Unmittelbarkeit des Vollzugs der Tätigkeiten und der Unmittelbarkeit der dadurch hervorgebrachten sittlichen Werke der Unterbestimmtheit anheim und wird vergessen. Die »Vielheit und Verschiedenheit« in der sittlichen Einheit ist nicht so beschaffen, dass sie durch diese Einheit nicht ›ausgehalten‹ werden könnte und dass diese Unfähigkeit, sie auszuhalten, zur Tragik führen würde, wie Ch. Menke behauptet.33 Es ist also nicht so, dass die Vielheit und Verschiedenheit in der sittlich-schönen Einheit verdrängt worden wäre und diese Verdrängung die Tragik verursachen würde. Vielmehr trägt die Vielheit und Verschiedenheit, wie ich gezeigt habe, aufgrund ihrer Konflikthaftigkeit zu einer »lebendigen« Erhaltung der sittlichen Einheit, zu der Ruhe des Ganzen bei – nur ist eben die Vielheit und Verschiedenheit durch eine zweifache Unmittelbarkeit und in einer anonymen Unterbestimmtheit34 vergessen worden. Die sittliche Welt ist also aufgrund dieser vergesslichen Unmittelbarkeit und Unterbestimmtheit eine »Organisation in eine Vielheit von Rechten und Pflichten sowie in die Verteilung in die Massen der Stände und ihres besonderen Tuns, das zum Ganzen zusammenwirkt« (513). Ei-
33 Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 42-56; zit. S. 50 und 55. 34 Man bemerke, dass der oder die Handelnde im Abschnitt »a. Die sittliche Welt« anonymisiert ist, während sie erst im Abschnitt »b. Die sittliche Handlung« mit dem Namen Antigone benannt wird.
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ne ›Verdrängung‹ ist insofern keine Vokabel der sittlichen Welt, als diese unmittelbare und damit ›oberflächliche‹ Welt eine ›Tiefe‹ für die Verdrängung in sich nicht kennt und sich mit einer ›Innerlichkeit‹ für diese Tiefe nicht verträgt. Diese Welt kennt nur die Verbannung in einem eigenen Bereich, also noch in ihr: Der Verbrecher gegen den Staat wird zwar jenseits der Stadtgrenze verbannt; die Funktion dieser Verbannung besteht aber nur darin, das Übermaß der Tätigkeit im Hinblick auf das Ganze auszugleichen – wie sehr dieser Ausgleich unerbittlich sein mag. Die Vielheit und Verschiedenheit wird in der sittlichen Einheit nicht etwa in eine unsichtbare Tiefenschicht verdrängt, sondern im Gegenteil unter einer evidenten Ausscheidung verbannt. Sie gerät unter dieser Ausscheidung einfach ins Vergessen und wird in diesem Vergessen er- und ausgetragen. In der sittlichen Welt wird nur derjenige verbannt, der gegen die Gesetze der Loyalität oder der Frömmigkeit verstößt – also nur der innerweltliche Akteur, der aber selbst mit seinem Verstoß die Unmittelbarkeit der sittlichen Ordnung selbst nie berührt. Was in der sittlichen Welt nicht ausgehalten werden könnte und verdrängt werden müsste, wäre nicht die Vielheit und Verschiedenheit in ihrer Unmittelbarkeit, Unterbestimmtheit und Anonymität, sondern umgekehrt das Bewusstsein des Handelns, nämlich das Verhältnis des Sehens, Wissens und Sprechens zum Gesetztsein der Gesetze dieser Welt oder die Perspektive auf dieses Gesetztsein. Dabei ist aber das Missverständnis zu vermeiden, die sittlich-vergessliche Struktur habe den Keim des für sie zerstörerischen Faktors vorher verdrängt, der nachher diese Struktur zerstören werde – dieser reflexive Faktor sei also nach wie vor vorhanden, nämlich in der sittlichen Welt implizit gewesen und werde in einer nachsittlichen Welt explizit. Die Verdrängung der Handlung(sperspektive) wäre dagegen für die sittliche Welt zwar apriorisch notwendig, aber diese Notwendigkeit erweist sich nur nachträglich. Die Hegelʼsche und hegelianische These, dass die Tragik der sittlichen Ordnung innerlich ist, dass sie sich aus dem Inneren dieser Ordnung ergibt, bedeutet also nicht, dass in oder unter dieser unmittelbaren Ordnung das tragische Potenzial unentfaltet läge und auf seine Entwicklung wartete. Die ›Tatsache‹ der Innerlichkeit oder Innerweltlichkeit des tragischen Potenzials als eine nachträglich apriorische Tatsache ergibt sich vielmehr daraus, dass sich die sittliche Handlung vollzogen hat, die die Sittlichkeit als solche perspektivisch wiederholt und in dieser Wiederholung zerreißt. Dass das Handlungsbewusstsein als eine innere Differenz der Welt wahrgenommen wird, ist das Zeichen dafür, dass die Integralität der sittlichen Welt nicht mehr ›dran‹ ist; eine Bestätigung des Vollzugs der Verdrängung der (Perspektive der) Handlung ist das Zeichen eines schon vollzogenen tragischen Risses.
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Hegels zweiter, wiederholter Gang der Beschreibung der sittlichen Welt, also der Beschreibung ihrer tragischen Logik, die sich im zweiten Abschnitt des Sittlichkeitskapitels (b. »Die sittliche Handlung«) artikuliert, zeigt, inwiefern sich die tragische Perspektive von der Perspektive differenziert, die die Integrität der sittlichen Welt beschreibt, obwohl beide Perspektiven dieselbe Welt beschreiben: Die eine Perspektive beschreibt eine in sich so vollkommene und geschlossene Welt, dass sich selbst die unerbittliche Verbannung der Vielheit mit Hilfe der Funktion des Vergessens in einer evidenten eindimensionalen Oberfläche unschuldig vollzieht; die andere Perspektive beschreibt zwar die sittliche Welt, die aber insofern nicht mehr dieselbe bleibt, als sich in ihr die (tragische) Handlung schon vollzogen hat, die an sich selbst behauptet, dass sie sich aus dem in der sittlichen Welt ›verdrängten Potenzial‹ entwickelt habe. Im zweiten Gang der Beschreibung der sittlichen Welt geht es also um eine Spannung, die zwischen zwei sich behauptenden Ansprüchen entstanden ist, die einen neuen, einen ›höheren‹ Gegensatz ausmachen – Gegensatz zwischen der Unmittelbarkeitsordnung selbst und dem Handlungsbewusstsein, das insofern mit dieser Ordnung innerlich widersprüchlich ist, als es nachträglich beweist, dass die Verdrängung dieses Bewusstseins in der sittlichen Welt apriorisch notwendig war. Dieser Gegensatz ist die Grundlage eines neuartigen Gegensatzes von Wissen und Unwissen im Bewusstsein des Handelnden. (b) Gegensatz von Wissen und Unwissen Die Tragik geschieht, insofern sich dieser neue Gegensatz im alten, im substanziellen inhaltlichen Gegensatz wiederholt. Für das Verständnis der Tragik ist also Hegels eigene Unterscheidung zwischen zwei Arten des Gegensatzes entscheidend. Diese Unterscheidung ist für Hegel so wichtig, dass er sie in diesem Abschnitt mehrmals, mindestens dreimal, ins Spiel bringt: »Es entsteht hierdurch am Bewußtsein der Gegensatz des Gewußten und Nichtgewußten, wie in der Substanz der des Bewußten und Bewußtlosen«. »Der Charakter gehört ebenso teils nach seinem Pathos oder Substanz nur der einen [Macht] an, teils ist nach der Seite des Wissens der eine wie der andere in ein Bewußtes und Unbewußtes entzweit; und indem jeder selbst diesen Gegensatz hervorruft und durch die Tat auch das Nichtwissen sein Werk ist, setzt er sich in die Schuld, die ihn verzehrt.« »[D]as Tun ist [der Form nach] selbst diese Entzweiung, sich für sich und diesem gegenüber eine fremde äußerliche Wirklichkeit zu setzen; daß eine solche ist, gehört dem Tun selbst an und ist durch dasselbe. Unschuldig ist daher nur das Nichttun wie das Sein eines Steines, nicht einmal eines Kindes. – Dem Inhalte nach aber hat die sittliche Handlung das Moment des Verbrechens an ihr, weil sie die natürliche Verteilung der beiden Gesetze
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an die beiden Geschlechter nicht aufhebt, sondern vielmehr als unentzweite Richtung auf das Gesetz innerhalb der natürlichen Unmittelbarkeit bleibt und als Tun diese Einseitigkeit zur Schuld macht, nur die eine der Seiten des Wesens zu ergreifen und gegen die andere sich negativ zu verhalten, d.h. sie zu verletzen.« (344, 346, 349; Hervorh. modifiziert)35
Hegel verdeutlicht hier nämlich zwei voneinander ganz unterschiedliche Gesichtspunkte: einen inhaltlichen und einen formalen oder einen nach der ›Substanz‹ und einen nach dem Wissen. Zwei Gesichtspunkte, die zwei Dimensionen ausmachen, in denen sich der/die Handelnde beim Handeln entzweit situiert: Auf der einen Seite handelt der ›Held‹/die ›Heldin‹ entweder nach dem Gesetz des Staates oder nach dem der Familie; auf der anderen aber handelt er/sie, gleichgültig nach welchem Gesetz er/sie folgt, in einer Entzweiung in das Wissen und das Unwissen, die die Entzweiung in das Recht und das Unrecht nach sich zieht, insofern er/sie handelt. In der ersten Dimension der Handlung, derjenigen nach dem Gesichtspunkt des Inhalts, handelt der Held/die Heldin, indem er/sie ausschließlich zu einer der beiden geteilten Sphären der sittlichen Welt, Staat oder Familie, gehört. Und diese Ausschließlichkeit der topologischen Zugehörigkeit ruft den Konflikt hervor, der aber durch die Ausgleichsleistungen – Mobilisierung zum Krieg oder Verfolgung durch die »Erinnyen« – wieder in den Gleichgewichtszustand gebracht wird. Demgegenüber erfährt in der zweiten Dimension die Handlung in sich eine Entzweiung, weil sie eine ist: Die Handlung impliziert notwendig eine wissende bzw. sprechende Perspektivierung, die eine ursprüngliche Teilung, ein Ur-Teil hervorruft. Und durch dieses Ur-Teil findet eine zweifache Teilung statt. Erstens wird durch dieses Ur-Teil zwischen dem Recht und dem Unrecht, zwischen dem Wissen des Rechts und dem Unwissen über das Un-
35 Es gibt darüber hinaus noch eine spätere Stelle, an der Hegel im Kontext der ›Kunstreligion‹ noch einmal die Diskussion über Tragik und Tragödie aufgreift: »Wenn also die sittliche Substanz sich durch ihren Begriff, ihrem Inhalte nach, in die beiden Mächte entzweite, die als göttliches und menschliches oder unterirdisches und oberes Recht bestimmt wurden – jenes die Familie, dies die Staatmacht – und deren das erstere der weibliche, das andere der männliche Charakter war, […]. / Zugleich teilt sich das Wesen seiner Form oder dem Wissen nach. Der handelnde Geist tritt als Bewußtsein dem Gegenstand gegenüber, auf den es tätig und der somit als das Negative des Wissenden bestimmt ist; der Handelnde befindet sich dadurch im Gegensatz des Wissens und Nichtwissens. Er nimmt aus seinem Charakter seinen Zweck und weiß ihn als die sittliche Wesenheit; aber durch die Bestimmtheit des Charakters weiß er nur die eine Macht der Substanz, und die andere ist für ihn verborgen«. (536 f.; Hervorh. modifiziert.)
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recht, das dem durch dieses Wissen im Schatten Gelassenen zugefügt wird, unterschieden. Zweitens vollzieht sich durch dieses Ur-Teil nicht nur im Hinblick auf das Rechtswissen eine (Unter- und Ent-)Scheidung, sondern damit wird die Welt, in der gehandelt wird, selbst geteilt. Diese Teilung der Welt, die mit jener Teilung der Bezirke der Welt zwischen Staat und Familie nicht verwechselt werden darf, ist eine, in der die Welt sich in die Welt und die Nicht-Welt in ihr selbst entzweit. Sie ereignet sich an der Welt, an der Grenze der Welt. Wie wir schon gesehen haben, erhält sich die sittliche Welt durch einen symbiotischen Gegensatz zwischen dem Gemeinwesen und der Familie, zwischen dem ›allgemeinen‹ und dem ›besonderen‹ Gesetz, zwischen den entsprechenden Pflichten aus beiden Sphären und zwischen beiden Arten von Interessen. Auf der einen Seite gibt es eine allen »bekannte« (329; Herv. i.O.), also bekanntgegebene Art von Gesetz, die in einer Gemeinschaft für alle Bürger gilt. Hegel nennt diese Art des Gesetzes ›bewusst‹. Denn sie bezieht sich in der »an dem Tage liegende[n]« (ebd.) Öffentlichkeit auf das helle Bewusstsein der Bürger und geht vor allem die dort Lebenden an. Auf der anderen Seite existiert eine andere, nur in der eigenen Familie geltende Art von Gesetz, die vor allem den Toten betrifft, also der Bestattung des toten ›Blutsverwandten‹ gilt. ›Bewusstlos‹ bezeichnet Hegel diese Art des Gesetzes. Sie liegt im verborgenen Innern des eigenen Hauses in den Händen der Familienmitglieder und bezieht sich dort vor allem auf die – im buchstäblichen Sinn des Wortes – ›Bewusstlosen‹, also die Toten. Diese zwei Arten des Gesetzes, eine »des Bewußten« und eine des »Bewußtlosen«, sind die inhaltlichen Pole der Sittlichkeit der sittlichen Welt, und durch das Verhältnis dieser zwei Arten von Normativität erhält sich diese Welt – durch ihren Gegensatz und ihre Symbiose. Der Gegensatz »des Bewußten und Bewußtlosen« ist also ein symbiotischer. Dieser symbiotische Gegensatz ist der Mechanismus der Selbsterhaltung der sittlichen Welt. Die Unterscheidung von Bewusstheit und Bewusstlosigkeit in diesem Gegensatz bedeutet nicht die von Subjekthaftigkeit und Subjektlosigkeit; sondern sie bezeichnet den Unterschied der Anwendungssphäre der Gesetze – zwischen dem Gemeinwesen und der Familie – und die quantitative Differenz der sittlichen Ordnungen – die Differenz zwischen der Allgemeinheit und Besonderheit oder, wie Hegel sagt, zwischen der »Gattung« und »Art« der Ordnungen (347). Durch diesen Gegensatz der sittlichen Ordnungen erhält sich die sittliche Welt. Dieser Gegensatz erscheint als ein Konflikt zwischen zwei Akteuren, die jeweils das Recht ihres eigenen Gesetzes in sich verkörpern. Und diese Art von Konflikt gehört in der sittlichen Welt zur Normalität, die zur Erhaltung dieser Welt dient, obwohl sie mitunter fatale Folgen wie den Tod nach sich zieht oder sogar erfordert; der Tod als solcher hat aber mit dem Tragischen nichts zu tun;
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der Tod als ein natürliches Vorkommnis macht die Tragik nicht aus (Ä III, 526) – und erst recht als ein ›sittliches‹ Vorkommnis reicht er nicht aus, um von Tragik zu sprechen; denn der Konflikt zwischen entgegengesetzten Gesetzen oder Pflichten, der womöglich den Tod eines von zwei Akteuren fordert, kann vielmehr zur Erhaltung der sittlichen Ordnungen beitragen: Diese Art von Konflikt und diese Art des Todes ist für die sittliche Welt produktiv. Sie ist wesentlich inhaltlich oder substanziell; die Gleichberechtigung beider Seiten ist für die Hervorrufung der Tragik nicht hinreichend: denn diese gleichen Berechtigungen werden, je unmittelbarer und in je höherem Maße sie verkörpert sind, um so mehr zur Erhaltung der sittlichen Ordnungen in diese Ordnung absorbiert; die unmittelbare Verkörperung des Gesetzes kann zwar die Vorbedingung zur Tragik, der »Grund« (342; Herv. i.O.), also der Boden sein, auf dem die Tragik sich vollzieht, aber als solche nicht ihre genügende Bedingung; denn dieser Konflikt als solcher zwischen gleichberechtigten Parteien vollzieht sich nicht »am Bewußtsein«, das handelt, nämlich das sieht, weiß, spricht und sich damit setzt, sondern »in der Substanz«, also in der unmittelbaren Angehörigkeit zum Ganzen und im »sichere[n] Vertrauen zum Ganzen« (347), obwohl der Konflikt so gewaltig sein mag, dass er zum Tod führen kann. Unter diesem Konflikt oder im Ergebnis dieses Konflikts gibt es deshalb paradoxerweise »kein[en] Kampf« (342), »keine Furcht noch Feindschaft« (347); in den sittlichen Ordnungen, die sich auf der Ebene der »Substanz« oder des »Inhalt[s]« realisieren, gibt es keinen Platz für das »Bewusstsein« zum Handeln, für das Handlungswissen: »Es ist noch keine Tat begangen« (342; Herv. i.O.). Im Gegensatz zu jener Interpretation von Hegels Tragik-Auffassung, der zufolge der »Mangel an innerer Subjektivität« beim sittlichen Gegensatz zur Tragik führe,36 ist dieser Mangel in Wirklichkeit die Bedingung für die Erhaltung der sittlichen Welt – nicht für ihre Tragik. Der Gegensatz wie der Konflikt bleiben substanziell, finden also unter den unmittelbaren Wertorientierungen statt, was diese Welt andauern lässt. Solange der Gegensatz zwischen den Gesetzen und Verpflichtungen zum InhaltlichSubstanziellen der sittlichen Welt, zu ihrem ganz unmittelbaren Bewusstsein, zu ihrer Bewusstlosigkeit und zu ihrer Naivität gehört, solange in ihm »das unendlich Subjektive« fehlt (Ä II, 110), das sein Recht zu sehen, zu wissen und zu sprechen bzw. sich damit selbst zu setzen vermag, findet keine Tragik statt. Denn sie kann sich nur »am Bewusstsein« und im auf das Handeln gerichteten Wissen vollziehen; denn sie kann nur durch den ›formalen‹ Gegensatz im Bewusstsein zwischen der subjektlos bleibenden unmittelbaren Ordnungen und der »unendlich wissende[n] Innerlichkeit« (ebd.) eines solchen Subjekts, das das
36 Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 54-56.
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wirkliche Gesetztsein dieses scheinbaren Unmittelbarseins sieht, weiß und spricht, hervorgerufen werden. Im Gegensatz zum produktiven Konflikt in den sittlichen Ordnungen ist »der Gegensatz des Gewußten und des Nichtgewußten«, also der Gegensatz zwischen dem Wissen und Unwissen, der Tragik wesentlich. Die Tragik ereignet sich nicht durch parallele Verabsolutierungen in der Reflexionslosigkeit beider Parteien – Verabsolutierung enthält nämlich das Moment der Reflexionslosigkeit –, sondern vielmehr durch eine solche Koexistenz einer radikalen Reflexivität und einer extremen Unmittelbarkeit in einem Subjekt, die rein logisch gesehen undenkbar wäre.37 »[D]er Gegensatz des Gewußten und des Nichtgewußten« am tragischen »Bewusstsein« unterscheidet sich in dieser Koexistenz völlig von der inhaltlichen Entgegensetzung in den sittlichen Ordnungen, die der Erhaltung der sittlichen Welt dient. Erst diese verdoppelnde Koexistenz von zwei Gegensätzen macht die tragische Logik aus, nach der sich die sittliche Welt in sich, auf ihrem eigenen »Grund«, auflöst. Der tragische Gegensatz verdankt sich einer SelbstSpaltung der Handlung, die auf dem Boden der sittlichen Welt vollzogen wird. Aufgrund dieser Verdopplungsstruktur der Tragik beschreibt Hegel dieselbe Welt zweimal: Im ersten Durchgang dieser Beschreibung geht es um die Konstitutionslogik dieser Welt, nach deren Maßgabe ein für das ›gerechte‹ Gleichgewicht des Ganzen produktiver unmittelbar-inhaltlicher Gegensatz ins Zentrum der Beschreibung rückt (»a. Die sittliche Welt«). Im zweiten Durchgang beschreibt er ihre tragische Logik, die durch die Überlagerung der mythologischen und der modernen Subjektivität entsteht (b. »Die sittliche Handlung«). Diese zweimalige Beschreibung war durch die Doppelheit der tragischen Logik für Hegel unvermeidlich. Die tragische Logik ist in diesem Sinne eine Art der Wiederholung ihrer Konstitutionslogik: Die Ausgangslogik »aus« dieser Welt vollzieht sich nur »auf« dem »Grund« der Vorgangslogik in dieser Welt (342). Die
37 Die tragische »Logik« ist aber, so J.-P. Vernant, »[c]ontraire à la verité philosophique, bien entendu. Et peut-être aussi à cette logique philosophique, qui admet que de deux propositions contradictoires, si l’une est vraie, l’autre doit nécessairement être fausse. L’homme tragique apparaît de ce point de vue solidaire d’une autre logique qui n’établit pas une coupure aussi tranché entre le vrai et le faux: logique […] qui, à l’époque même où s’épanouit la tragédie, fait encore une place à l’ambiguité, puisqu’elle ne cherche pas, sur les questions qu’elle examine, à démontrer l’absolue validité d’une thèse, mais à construire des dissoi lógoi, des discours doubles [Hervorh. von mir] qui, dans leur opposition, se combattent sans se détruire […]« (Vernant, »Tensions et ambiguїtés dans la tragédie grecque«, S. 21, Anm. 1).
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Tragik ereignet sich aufgrund dieser doppelschichtigen Struktur der tragischen Handlung. Die Handlung in dieser Welt ist zwar ein »Dazutun« (Ä III, 526). Aber sie ist keineswegs eine Hinzufügung von etwas inhaltlich Neuem, sondern eine Art der Wiederholung der Erhaltungslogik der sittlichen Ordnungen – aber aus einer ganz neuen Perspektive. Oder: Die Tragik folgt in gewissem Sinne aus der Entstehung der Perspektive überhaupt. Diese Perspektive ist die Perspektive auf die Handlung, eine eigentliche Handlungsperspektive, der wissende Blick auf die Handlung des/der Handelnden überhaupt im Augenblick des eigenen Sprechens aus seinem/ihrem Recht – in dem Augenblick, wo aber in diesem singulären Moment des Wissens und Sprechens die Unmittelbarkeit des Rechts überhaupt, des anonym-sittlichen Rechts gespalten wird. Der Blick des singulären Urhebers der sittlichen Handlung, ihres ›Wer‹ in der sittlichen Welt, wirkt für die Ordnung dieser unmittelbar ›wahren‹ Welt tragisch – für diese anonyme Welt, in der man nur im Namen des Gemeinwesens und der Familie, nur im Namen des Ganzen tätig ist, in der man durch die »unwankende[…]« (342) Verkörperung des vorgegebenen Gesetzes lebt, »indem das Geben und das Prüfen der Gesetze aufgegeben worden« ist (ebd.) und in der man im »sichere[n] Vertrauen zum Ganzen« (347) lebt und in einer Welt stirbt, die einen überdauert. Dieser Blick, der Handlungsblick, der handelnde Blick ist insofern tragisch, als er sich auf die Handlung selbst zurückbezieht und eine unmittelbare Handlung verunmöglicht, die er ebenso ›begleitet‹, wie das kantische ›Ich denke‹ alle seine Vorstellungen begleitet, und durch diese Begleitung spaltet, indem diese selbst in der Handlung thematisiert wird: »Denn dieses[: das Selbstbewusstsein], eben indem es sich als Selbst ist und zur Tat schreitet, erhebt sich aus der einfachen Unmittelbarkeit und setzt selbst die Entzweiung. Es gibt durch die Tat die Bestimmtheit der Sittlichkeit auf, die einfache Gewißheit der unmittelbaren Wahrheit zu sein, und setzt die Trennung seiner selbst in sich als das Tätige und in die gegenüberstehende, für es negative Wirklichkeit.« (345; Herv. i.O.)
Die Tragik ereignet sich also eher wie ein Spuk der Zweideutigkeit, in dem eine Inkompatibilität zwischen zwei Elementen der Handlung, zwischen der unmittelbaren Gegebenheit des Rechts und seiner radikalen Gesetztheit in derselben Handlung auftritt – wie ein Spuk der Zweideutigkeit, weil sich eine vollkommene Sichtbarkeit der Handlung und eine Unsichtbarkeit derselben in jener Sichtbarkeit miteinander verkoppeln. Die tragische Zweideutigkeit schattiert also das »absolute Recht des sittlichen Bewußtseins« in der Tragik. Hegel sagt, das »absolute Recht des sittlichen Bewußtseins ist daher, daß die Tat […] nichts anderes
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sei, als es weiß« (345; Herv. i.O.). Die Absolutheit des Rechts ist das eine und das Wissen davon etwas anderes; beide sind wesentlich unterschieden für die Sache der Tragik: Zum einem gehört die Absolutheit des Rechts, die nichts anderes als die unmittelbare Sicherheit dieses Rechts bedeutet, zum wesentlichen Element der Logik der Selbsterhaltung der sittlichen Welt. Zum anderen bedeutet das Wissen von dieser Absolutheit eine radikale Reflexivität des eigenen Rechts, also das Wissen von der Gesetztheit des Rechts. Auf der einen Seite gehört es zu seinem »absoluten Rechte«, »daß ihm als sittlichem das Wesen erschienen sei, wie es an sich ist« (ebd.; Herv. i.O.): Die Absolutheit des Rechts rührt daher, dass nichts zum Wesen hinzugefügt wird; dass nichts zu seiner unmittelbaren Erscheinung getan wird; dass das Wesen ohne die Vermittlung des Bewusstseins erscheint; dass es in einer Art der Bewusstlosigkeit, nämlich im unmittelbaren Unwissen, zum Vorschein kommt. Auf der anderen Seite aber besteht das »absolute Recht des sittlichen Bewußtseins« bei der Tragik zugleich darin, dass das Wesen, das erscheint, »das eigene Wesen des Selbstbewußtseins« ist, und dass es »die Tat« dieses Bewusstseins ist – nicht darin, »daß es irgendwo anders wäre« (ebd.) als am Tatort des Bewusstseins; durch diese Tat »erhebt sich« das Bewusstsein »aus der einfachen Unmittelbarkeit« der Einheit mit dem Wesen (345; Herv. i.O.) zum Wissen über dieses Wesen, nämlich zum Wissen über das Gesetztsein dieses Wesens durch jenes Bewusstsein, das sich mit diesem Wissen nicht mehr als das unmittelbare, sondern als Handlungsbewusstsein, nämlich als das »Selbstbewusstsein […]« (344; Herv. i.O.), findet und jetzt in eine »Entzweiung« (345 und 346) gerät, die keine inhaltliche Entgegensetzung des allgemeinen und des besonderen Gesetzes, sondern einen formellen Gegensatz zwischen der extremen Unmittelbarkeit und der radikalen Reflexivität in sich bedeutet. Ohne diesen Zwiespalt zwischen Unmittelbarkeit und Reflexivität, zwischen dem An-sich-Sein und dem Gesetztsein, zwischen dem Wissen und dem Unwissen, ohne die Verdopplung des inhaltlichen Gegensatzes durch diesen formalen, der die Handlung im ersteren perspektiviert und singularisiert, gibt es keine Tragik. Durch den formalen Gegensatz erhält der/die Handelnde noch im inhaltlichen gleichsam eine Stellung der ersten Person Singular, die Stellung des Selbersprechens, der aus eigener Perspektive sein Recht und damit das Unrecht des Gegenübers spricht, und die Stellung des Wissenden, der seine Gegen- oder Rückseite des Unwissens dadurch produziert, dass sich eine ursprüngliche, eine Archi-Perspektivierung, -Teilung und -Positionierung vollzieht – und dadurch, dass ein Raum für diese Perspektivierung, Teilung und Positionierung entsteht, den die unmittelbar-sittliche Ordnung überhaupt nicht kennt. Ein Raum, der aber
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nicht außerhalb der sittlichen Welt, sondern durch die Wiederholung dieser Welt durch die Handlung in dieser und als diese Welt entsteht. Verliert man diese Verdopplung des inhaltlichen Gegensatzes durch den formalen in der Tragik nicht aus der Sicht, kann man erkennen, dass sich der tragische Konflikt ausschließlich weder aus der Absolutheit eines Rechts noch aus der Verabsolutierung dieses Rechts ergibt. Die Tragik erfolgt vielmehr durch eine Verabsolutierung des absoluten Rechts. Das Absolute des sittlichen Rechts in der Tragik ist also zweifach: Das absolute Recht wird durch den Handelnden selbst verabsolutiert, ihm durch ihn selbst zugeschrieben. Diese Zuschreibung des Rechts, das nicht nur deshalb absolut ist, weil es nach der sittlichunmittelbaren Seinsweise ist, sondern deshalb, weil es ausschließlich einer von beiden Seiten zugeschrieben wird, ist eine Handlung, ein produzierender Vollzug, der sich selbst und sein Gegenüber zugleich »setzt« (345, 346). Diese setzende Zuschreibung ist von jener »natürliche[n] Verteilung« (346; Herv. i.O.) völlig zu unterscheiden, durch welche die einander entgegengesetzten zwei Gesetze – das menschlich-staatliche und das weiblich-familiale Gesetz – in zwei Sphären der sittlichen Welt etabliert sind, und macht den nach Maßgabe dieser Verteilung ›natürlichen‹ Gegensatz erst zu einem tragischen Konflikt. Tragisch, weil dieser natürlich-unmittelbare, der innersittliche Gegensatz durch eine ursprüngliche Teilung geprägt wird, die eine unerhörte Trennung, »Trennung seiner selbst« (345 f.), also eine Selbst-Trennung der sittlichen Welt in die sittliche Welt und die sittliche Nicht-Welt hervorruft, die das Gleiche der sittlichen Welt unwiederbringlich zerstört, indem sie diese Welt an ihre Grenze bringt, sie über sich hinaustreibt. Die Verabsolutierung des absoluten Rechts in der sittlichen Handlung ›übertreibt‹ die sittliche Ordnung. Die Verabsolutierung des absoluten Rechts in der tragischen Handlung ist nicht bloß im Sinne eines ›reflexionslos‹ auf ihre ausschließliche Berechtigung pochenden und ›Wertepluralismus‹ nicht anerkennenden Rechts zu verstehen, sondern als ein Vollzug zu verstehen, in dem das sittliche Recht der Handlung in seiner Verabsolutierung seine Absolutheit absolviert. Hegel wiederholt in der Ästhetik diese Unterscheidung von zwei Arten des Gegensatzes: eines inhaltlichen und eines formellen. Zum einen gibt es den inhaltlichen »Hauptgegensatz«, also »de[n] des Staats, des sittlichen Lebens in seiner geistigen Allgemeinheit, und der Familie als der natürlichen Sittlichkeit« (Ä III, 544; Herv. i.O.). Zum anderen gibt es »eine zweite Hauptkollision«, die »formeller ist« als der erste Gegensatz und in der »es sich um das Recht des wachen Bewußtseins, um die Berechtigung dessen [handelt], was der Mensch mit selbstbewußtem Wollen vollbringt, dem gegenüber, was er unbewußt und willenlos nach der Bestimmung der Götter wirklich getan hat« (Ä III, 545). Hegel
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verdeutlicht zwar in der Ästhetik zu Recht die Unterscheidung zweier Gegensätze, die er in der PhäG formuliert hat, er täuscht sich jedoch insofern, als er diese Gegensätze in zwei »Hauptgegensätze« oder »Hauptkollisionen« der Tragödie teilt und sie damit nebeneinanderstellt – täuscht sich also nach Maßgabe seiner Erläuterung der Tragik in der PhäG, der zufolge der Gegensatz von Staat und Familie als solcher mit der Tragik nicht unmittelbar und notwendig zu tun hat, vielmehr unter der ausgleichenden Gerechtigkeit zur Erhaltung des Ganzen der sittlichen Ordnungen der Welt beiträgt und nur infolge der Verdopplung durch den formalen Gegensatz von Wissen und Unwissen des aus eigener Perspektive sein Recht sprechenden Akteurs zu einem tragischen wird. Wie bekannt zieht Hegel in den ersten beiden Abschnitten des ersten Geistkapitels Antigone als Hauptfigur der Darstellung heran – allerdings ist nicht zu übersehen, dass die Lektüre von König Ödipus bei seiner Erläuterung der Tragik der vormodernen Welt den wesentlichen Hintergrund ausmacht.38 Die trennende Nebeneinanderstellung zweier Gegensätze in der Ästhetik verliert dagegen diese Verdopplungsstruktur der Tragik aus dem Auge, die einen geschichtsphilosophischen Übergang der sittlich-schönen Welt auszeichnet. (c) Zweideutigkeit im Charakter Geprägt wird durch diese Struktur des doppelten Gegensatzes in der tragischen Handlung der Charakter des Handelnden. Die »Entschiedenheit« (343) des tragischen Charakters besteht nicht nur in der Determiniertheit durch die unmittelbare Gültigkeit der Gesetze, denen er folgt; sondern sie bedeutet auch ein ›Erblicken‹ und Erfassen des Rechts, dessen Entscheidung, die Unterscheidung von Recht und Unrecht, also eine aktive Haltung, eine Aktion des Sich-Richtens auf dieses Recht, dessen Aneignung in sich, dessen Gründung und Setzung in sich, die das Recht des Gesetzes erst zur Geltung bringt; sie enthält zugleich eine »natürliche […] Unmittelbarkeit« (346; originale Hervorh. getilgt) einerseits und den Ausdruck des »Entschlusses und Beginnens« (534; Hervorh. von mir) andererseits. Der Charakter des tragischen Helden ist notwendig durch diese Verdopplung der unmittelbaren Determiniertheit und der radikalen Aktion der Grundsetzung geprägt. Durch diese Zweideutigkeit »gehört« der Charakter einerseits »nach seinem Pathos oder Substanz«, also auf der Ebene der unmittelbar gültigen sittli-
38 Dass die Figur des Ödipus im Tragik-Verständnis ins Spiel kommt, wird noch deutlicher in der entsprechenden Passage im späteren Kunstreligionskapitel: »Der, welcher die rätselhafte Sphinx selbst aufzuschließen vermochte, wie der kindlich Vertrauende werden darum durch das, was der Gott ihnen offenbart, ins Verderben geschickt.« (537)
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chen Ordnungen, »nur der einen [Macht dieser Ordnungen] an«, aber andererseits sei er »nach der Seite des Wissens«, also nachdem das Setzungsbewusstsein seines Rechts durch jene unmittelbare Angehörigkeit verdoppelt worden ist, »in ein Bewußtes und Unbewußtes«, nämlich in das Handlungsbewusstsein und die selbstlose Teilnahme an der sittlichen Ordnung, »entzweit«. Und »indem jeder [Charakter] selbst diesen [zweideutigen] Gegensatz [in sich selbst] hervorruft und durch die Tat auch das Nichtwissen [also: die substanziell sittliche Geltung] sein Werk[: das Resultat seiner bewussten Grundsetzung] ist, setzt er sich in die Schuld, die ihn verzehrt« (349).39 »Sie[: tragische Charaktere] sind durchaus das, was sie ihrem Begriff gemäß sein können und müssen« (Ä III, 521; Hervorh. hinzugefügt): Der tragische Charakter ist durch die Duplizität des radikal reflexiven Vermögens und der extrem unmittelbaren Verpflichtung gestaltet; durch diese zweifache Prägung seines Charakters ist der Held der Tragik zwar einerseits bei seiner Tat ganz determiniert, aber andererseits stehe er mit seinem ganzen Herzen, »mit [sein]em ganzen Selbst« für sein Recht ein (ebd., 478 und 526). Der zweite Abschnitt des Sittlichkeitskapitels (b. »Die sittliche Handlung«) ist auffällig dadurch, dass in ihm im Gegensatz zum vorigen (a. »Die sittliche Welt«) viele Vokabeln, die ›psychologisch-subjektiv‹ genannt werden könnten, wie »[sich] richten auf...«, »wissen«, »ausschließen«, »sehen«, »erblicken«, »finden« usw. auftauchen. Diese Worte sind ebenso zweideutig geprägt wie »Charakter« und »entschieden« bzw. »Entschiedenheit«; sie bezeichnen, genauer besehen, aber keineswegs psychologisch-subjektive Tätigkeiten, die einem Subjekt zur Verfügung stünden und zusätzliche Vollzüge dieses Subjekts wären, dessen Bestehen von diesen Tätigkeiten nicht abhinge; sondern sie deuten auf die Grundverfassung des Subjekts hin, das in der eigenen unmittelbar-sittlichen Determiniertheit seine Fähigkeit der Grundsetzung ausübt. Der tragische Charakter ist grundsätzlich widersprüchlich; er ist in seiner ursprünglichen Teilung bodenlos fest; er ist eine in seinem gründenden Gestus schwebende Steinfigur, so könnte man sagen. Auf der Basis dieser Widersprüchlichkeit des Charakters kann die ›Einseitigkeit‹ der Haltung des tragischen Helden richtig verstanden werden: Seine Einseitigkeit, also die Verabsolutierung seines Rechts, ist nicht nur durch die unmittelbare Geltung des Wertes, nach dem er sich richtet, sondern durch sein absolut aktives Setzungsbewusstsein dieses Wertes geprägt. Wenn man sagen kann, dass die Einseitigkeit des normativen Einsatzes des Helden zur Tragik führt, bezeichnet das nicht bloß die Notwendigkeit des wechselseitigen Konflikts zwischen beiden sittlichen Parteien, sondern vor allem die innere Entzweiung in der ein-
39 Zur tragischen Schuld vgl. die Erläuterung im folgenden Abschnitt.
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seitigen Haltung des Helden: Entzweiung zwischen seinem radikalen Handlungsbewusstsein und seiner unmittelbar-sittlichen Zugehörigkeit. (d) Die Schuld der tragischen Handlung So rührt die tragische Schuld von dieser Zweideutigkeit des tragischen Charakters her, die ihrerseits von der Doppelstruktur des Wissens und Unwissens in der tragischen Handlung abhängt. Durch diese Zweideutigkeit im Charakter ist der Held »ebenso schuldig als unschuldig« (Ä III, 545): Er ist auf der analytischen Ebene der Tragik deshalb unschuldig, und zwar zweimal unschuldig, weil zum einen da nicht von Schuld die Rede sein kann, wo nach der »natürliche[n] Verteilung«, gar einer geschlechtlich-biologischen Verteilung gehandelt wird, wo das Gesetz, das auf dem »sichere[n] Vertrauen zum Ganzen« (347) beruht, so vorherrscht, dass die Distanz zu diesem Gesetz, die Reflexivität zu ihm und das Bewusstsein von ihm überhaupt unmöglich zu denken ist, d.h. wo der Zwischenraum fehlt, in dem man sich überhaupt schuldig fühlen könnte, kurzum: wo das ›Gewissen‹ abwesend ist. Zum anderen wäre der Held in seiner reinen Handlung da auch unschuldig, wo er durch einen Sichsetzungsakt in sich frei wäre und eine absolute Alleinheit genösse, in der eine pure Aktion überwältigend wäre. In diesen zwei analytischen Aspekten der Tragik wäre der Held ganz unschuldig. Die tragische Schuld entsteht dagegen in der wirklichen tragischen Ebene, in der diese Aspekte synthetisiert sind. Durch diesen synthetischen Zug nimmt sie folgende Züge an: Sie entsteht nicht – zumindest nicht direkt – aus dem Gegensatz zwischen den Gesetzen, nicht aus dem Verstoß eines Rechts gegen ein anderes. Denn sie besteht nicht im Verstoß gegen ein anderes Gesetz, sondern wesentlich in der Verletzung des eigenen Wesens – aber nicht in einer behebbaren oder heilbaren, sondern einer unwiederbringlichen Verletzung. Die Schuld in der Tragik ist also nach Hegel fatal, und zwar so zweifach fatal, dass die Schuld des tragischen Helden nie wiedergutgemacht werden kann und dass deren ebenfalls unwiderrufliche Folge der Untergang einer Weltordnung ist, in der er handelt. Referentialität der Zuschreibung auf den Handelnden selbst, Unausgleichbarkeit in ihrer Qualität und Totalität in ihrer Tragweite sind wesentliche Züge der tragischen Schuld. α) Referentialität auf den Handelnden selbst: In der Verdopplung der unmittelbaren Einheit mit den sittlich-schönen Ordnungen und der radikalen Reflexivität des eigenen Sichsetzungsakts handelt der tragische Held notwendig gegen sich selbst. Denn in dieser Doppelstruktur befindet er sich zugleich auf zwei Ebenen, deren Überlagerung eine wechselseitige Verletzung bedeutet: Die Unmittelbarkeit überlebt nur durch den Ausschluss der Reflexivität, und die Reflexivität ruiniert die Unmittelbarkeit. Der Held, der innerhalb seiner sittlich-un-
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mittelbaren Welt handelt, verstößt nicht bloß gegen das andere Gesetz, sondern verletzt vor allem die Weltordnung, die der »Grund« ist, auf dem seine Handlung sich vollzieht (342); er verletzt nicht bloß ein anderes unmittelbares Recht, sondern vor allem die Unmittelbarkeit selbst der sittlichen Ordnungen, in denen er noch »einheimisch« ist (340): Seine Verletzung ist darum eine Selbstverletzung; seine Schuld ist selbstreferentiell: »Was nämlich aus der Tat herauskommt, […] übt seine Rückschläge auf den subjektiven Charakter und dessen Zustände aus«. (Ä III, 478) Daraus entsteht der eigentümliche Charakter des Leidens des Helden: Das tragische Leiden ist immer ein Selbst-Leiden, ein durch eigene Handlung hervorgerufenes Leiden; es wird nicht von außen her angetan, sondern es ist das Ergebnis der Selbstverletzung. So lautet die Rede von Antigone – hier nennt Hegel den Namen explizit –, die diese Selbstreferentialität der Schuld und des Leidens der Tragik zusammenfasst: »weil wir leiden, anerkennen wir, daß wir gefehlt« (348; Herv. i.O.). Dieser Satz bedeutet weder eine unsinnige Schlussfolgerung vom Leiden auf die Schuld noch – wie üblicherweise behauptet – eine Resignation angesichts der eigenen sittlichen ›Einseitigkeit‹ und Anerkennung der anderen Perspektive, sondern bezeichnet die selbstreferentielle Struktur der tragischen Schuld – unabhängig davon, dass die Übersetzung jener Rede der Antigone umstritten sein mag. Das Leiden und die Schuld des/der Handelnden stammen aus der Selbstverletzung, die aus der Konfrontation seiner/ihrer sich-setzenden Handlung und der unmittelbar gültigen sittlichen Ordnungen, in der er/sie handelt, hervorgeht. Die Anerkennung seiner/ihrer Schuld bedeutet deshalb nicht die Preisgabe der Vereinseitigung oder Verabsolutierung des eigenen Rechts, sondern umgekehrt die Zuspitzung des Handlungsbewusstseins. Dieses Bewusstsein der Selbstreferentialität von Schuld und Leiden spitzt sich so zu, dass »man […] darum sagen [kann], nie hat die Unschuld gelitten, jedes Leiden ist Schuld. Aber die Ehre einer reinen Seele ist um so größer, mit je mehr Bewußtsein sie Leben verletzt hat, um das Höchste zu erhalten«.40 Das tragische Bewusstsein ist in diesem Sinn »vollständiger« und »reiner«, wenn es das, was es verletzt, »vorher kennt« und seine Schuld anerkennt (348; Herv. i.O.).41
40 Hegel, »Der Geist des Christentums«. Schriften 1796-1800. Mit bislang unveröffentlichten Texten, S. 460. 41 Hegel scheint in diesem Sinne sogar die Überlegenheit von Antigone gegenüber Ödipus zu sehen, der davon, was seine Schuld ist, erst nachträglich weiß (347). Antigones Rede der Anerkennung des eigenen Fehlers oder ihre Gleichsetzung von Handlung, Leiden und Fehler bedeutet also, dass sie weiß, dass ihre Handlung zwar Unrecht begeht, dass sie aber noch ›im Recht‹ ist. Dies hat Terry Pinkard zu Recht hervorge-
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β) Unausgleichbarkeit: Die Selbstreferentialität der Schuld bzw. eine ›Symmetrie‹ zwischen Schuld und Leiden bedeutet aber nicht, dass das tragische Leiden einem exakten Schuld-Kalkül folgen würde, dass die Schuld der tragischen Handlung nach dem ›strafrechtlichen‹ Maß gemessen werden könnte. Um den Aspekt der tragischen Schuld weiter zu verdeutlichen, ist zwischen Schuld und Verbrechen zu unterscheiden: 1) Die sittlichen Tätigkeiten in der unmittelbaren Identifizierung, die sich jeweils gegen das andere Gesetz wenden, können zwar zum Verbrechen gegen dieses Gesetz führen: »[D]ie Schuld erhält auch die Bedeutung des Verbrechens: denn als einfaches sittliches Bewußtsein hat es sich dem einen Gesetze zugewandt, dem anderen aber abgesagt und verletzt dieses durch seine Tat«. (346) Dieses Verbrechen gegen das andere Recht als eine geschehene »Ungleichheit« in der sittlichen Welt ist aber nach der Dynamik dieser Welt gemäß dem »Gleichgewicht« (340) des Ganzen auszugleichen. Das Verbrechen ist also ein innerlich-konstitutives Element in der Dynamik der sittlichen Welt, die damit eher »lebendig« (ebd.) wird. Durch diese Dynamik, in der das Verbrechen begangen und wieder ausgeglichen wird, erhält die sittliche Welt im Ganzen jene Ruhe, in der diese Dynamik vergessen wird und das geschehene Verbrechen in diesem Vergessen ›freigesprochen‹ wird: »Die Versöhnung des Gegensatzes mit sich ist die Lethe der Unterwelt im Tode, – oder die Lethe der Oberwelt, als Freisprechung […] von Verbrechen, und seine sühnende Beruhigung. Beide sind die Vergessenheit«. (540; Herv. i.O.) Das Verbrechen ist in dieser stabilisierenden Dynamik für die sittliche Welt »einheimisch« (340); es ist ihr konstitutives Element; dessen Ausgleich, dessen ›Sühne‹ bringt die »Lethe« im Schein des Nicht-Geschehens nach sich: »Das sittliche Reich ist auf diese Weise in seinem Bestehen eine unbefleckte, durch keinen Zwiespalt verunreinigte Welt« (ebd.; Herv. i.O.). 2) Im Unterschied zum Verbrechen in der sittlichen Welt besteht die tragische Schuld in der Verdopplung dieser gesamten Ökono-
hoben: »The corresponding guilt that Antigone feels (by violating Creon’s edicts) is matched by her conviction that she is also right«; »there is a realisation that as she acts she is already, necessarily, guilty while still being in the right« (Pinkard, »Symbolic, classical, and romantic art«, S. 16 und 17; Herv. i.O.). Das Festhalten trotz des Schuldbewusstseins daran, dass die eigene Handlung noch im Recht ist, bedeutet allerdings nicht bloß ein Pochen auf die partielle Richtigkeit der Handlung, die nach der Beseitigung der »Einseitigkeit« oder »unmittelbaren Entschiedenheit« der Handlung in einem rationalen Maße erlaubt werden könnte, sondern impliziert auf einer tieferen Ebene einen Selbstbezug, aufgrund dessen die Handelnde selbst zum Ursprung ihrer Handlung wird. Für die Auszeichnung Antigones gegenüber Ödipus vgl. Menke, Die Tragödie im Sittlichen, S. 101.
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mie der vermittelten Unmittelbarkeit, des gewordenen Seins und der lebendigen Bewusstlosigkeit durch das Handlungsbewusstsein des Wissens, Sehens und Sprechens: Das wechselseitige Verbrechen, das in der spektakulär sichtbaren Entgegensetzung begangen wird, wird durch diese Verdopplung zur tragischen Schuld. Es »wird durch die Tat zur Schuld« (346; Herv. i.O.).42 Die Schuld »ist sein Tun«, Tun des Handelnden, des handelnden Selbstbewusstseins (ebd.; Herv. i.O.). In der Überlagerung der zwei Ebenen, in denen sich der Handelnde zugleich situiert, wird seine Schuld unausgleichbar. Denn die Schuld stammt daraus, dass überhaupt gehandelt wird, dass es sich überhaupt um eine perspektivische (Sprech-)Handlung handelt, die ursprünglich teilt, indem sie sein Recht und das Unrecht des Gegenübers erst »setzt« und gleichsam in die Szene führt (345). Die »Schuld erhält [zwar] auch die Bedeutung des Verbrechens«, aber sie stammt im Unterschied zum Verbrechen daraus, dass »das Tun […] selbst diese Entzweiung [ist], sich für sich und diesem gegenüber eine fremde äußerliche Wirklichkeit zu setzen« (346; Herv. i.O.), eine Wirklichkeit, die nicht nur eine der sittlichen Parteien – Staat oder Familie –, sondern eine Wirklichkeit der anderen Handlungsposition ist, die sich darin von der eigenen Position wie durch eine Kluft (die die sittlich-schöne Ordnung nicht kennt) unterscheidet, dass auch von dieser anderen Position her überhaupt perspektivisch gehandelt werden kann. Der Schuld der Handlung liegt also gleichsam ein ursprüngliches ›InSzene-Setzen‹ der Handelnden zugrunde, die sich in ihren Positionen singularisieren, und damit eine Eröffnung eines Raums der Singularität in der sittlichen Welt, die sich mit der singulären Handlungsordnung nicht verträgt. Die Schuld »erhält [zwar] auch die Bedeutung des Verbrechens«, geht aber insofern darüber hinaus, als das Handeln daran schuldig ist, dass es die Einheit der sittlichen Ordnung, das Gleiche des sittlichen Ganzen unwiederbringlich spaltet. Die Schuld entsteht, sobald gehandelt wird: »Unschuldig ist daher nur das Nichttun wie das Sein eines Steines, nicht einmal eines Kindes«. (346) Die tragische Schuld ist also ›apriorisch‹ im Handeln selbst angelegt.43 Die Schuld und das Leiden als der Ausgleich dieser Schuld sind nicht danach zu bemessen, ob und wie der Handelnde »etwas Äußerliches« begangen hat, »das dem Tun nicht angehörte« (ebd.). Schuld und Leiden sind, insofern gehandelt wird, ›apriorisch‹ und nicht nach dem, was getan worden ist, symmetrisch zuzuschreiben. Die Schuld und das Leiden in der Tragik sind nach dem Maß der sittlichen Welt überhaupt zu bemessen. Sie gehen über dieses Maß hinaus, weil die tragische Handlung selbst
42 »[…] Freisprechung nicht von der Schuld, denn diese kann das Bewusstsein, weil es handelte, nicht verleugnen, sondern vom Verbrechen […]« (540). 43 Vgl. Derrida, Glas, S. 192 und 195.
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darüber hinausgeht. Das tragische Übermaß, die tragische ›Einseitigkeit‹ ist also – entgegen Hegels eigenen Worten, hier geht man aber mit Hegel über Hegel hinaus – nicht zu beseitigen.44 Das tragische Leiden des Handelnden geht daraus hervor, dass er sich in einer Grenzregion befindet und zwischen zwei Ebenen hin- und hergerissen ist. Er gehört zu beiden und zugleich zu keiner davon; er gehört zu der sittlichen Welt und zugleich ist er weltlos; er steht an der Grenze der Welt; er steht in einem Nirgendwo – aber in der Welt; er steht hier allein und einsam. Er lebt in der Welt und wird zugleich aus der Welt geworfen; er lebt und ist zugleich tot; er lebt ein totes Leben, wie J. Butler über das Leben der Antigone sagt.45 Ihr Leben in dieser Welt der sittlichen Verewigung und Verunsterblichung ist eine unmögliche Möglichkeit. Sie »stirbt an Unsterblichkeit«.46 γ) Totalität: Die tragische Schuld bezieht sich also nicht nur auf den/die Handelnden, sondern auf die Welt, in der er/sie handelt. Die Schuld führt nicht nur zur Selbstvernichtung des/der tragischen Handelnden, sondern auch zur Auflösung einer Weltordnung, zu der er/sie gehört. Denn die Verdopplung zweier Handlungsebenen im Handelnden bedeutet zugleich eine fatale Überlagerung zweier Ordnungen in der sittlichen Welt. Die Tragik bedeutet nicht nur den Untergang eines Handelnden, sondern zuletzt den einer Welt, einer Weltordnung, hier: einer sittlichen Weltordnung, deren Erhaltungsprinzip, deren erhaltende Gerechtigkeit in einem Zustand des Gleichgewichts, des Ausgleichs oder der Harmonie des Ganzen besteht. In der Tat blieb Hegel dieser Gerechtigkeitsauf-
44 Peter Szondi bemerkt, dass Goethe, »als Kritik an Hegels Antigone-Interpretation gemeint«, das Tragische in einer Unausgleichbarkeit des Gegensatzes sieht. Bei Goethe heißt es: »Alles Tragische beruht auf einem unausgleichbaren Gegensatz. Sowie Ausgleichung eintritt, oder möglich wird, schwindet das Tragische«. Dieser Zug des Tragischen, der zwar von Goethe erkannt werden könne, ihn aber aufs höchste befremde, werde, so Szondi, »vom idealistischen System Schellings und auch noch Hegels verdeckt« (Szondi, Versuch über das Tragische, 176; Goethe-Zitat aus: Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, S. 87). Die ›Verdeckung‹ des Unausgleichbarkeitszugs des Tragischen stammt insbesondere bei Hegel m.E. aus seiner Gerechtigkeitsauffassung; dies erläutere ich im Folgenden. 45 Zu diesem Leben an der Grenze der Welt schreibt Butler: »Zwischen Leben und Tod lebt Antigone schon vor ihrer Verbannung in einem Grab« (Antigones Verlangen, S. 125); so auch Lacan: »Es sind die Personen[: Helden], die von Anfang an in eine Grenzzone zwischen Leben und Tod gestellt sind«. (Jacque Lacan, Das Seminar VII: Die Ethik der Psychoanalyse, S. 326) Vorher hat Walter Benjamin über den Tod als »Rahmen« gesprochen (Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 292 ff.). 46 Benjamin, »Trauerspiel und Tragödie«, S. 135.
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fassung auf Dauer verhaftet – man könnte sogar sagen, dass diese Auffassung durch seine Werke hindurch auf ihn Einfluss genommen hat, und zwar gerade auf seine Tragik-Auffassung: Ein tragischer Ausgang bestehe in einem Ausgleich zwischen zwei sich einseitig verabsolutierenden und anderen verletzenden Berechtigungen; diese Auffassung herrscht, wie wir gesehen haben, in der Ästhetik, und zum Teil auch in der PhäG.47 Wenn wir aber, wie wir bisher herausgestellt haben, daran festhalten, dass die Tragik kein Ereignis ist, das sich innerhalb der sittlichen Weltordnung vollzieht und seinen Ausgang findet, dass sie vielmehr in der Verdopplung zweier Gegensätze, eines inhaltlich-substanziellen und eines formal-wissensbezogenen, besteht, dass sie damit ein Ereignis an der Grenze der sittlichen Weltordnung ist, das auf einer Gerechtigkeit beruht, die diese Ordnung erhaltende Gerechtigkeit auf eine neue unbekannte Ordnung hin öffnet, dann gewinnen wir ein Verständnis davon, wie es dazu gekommen ist, dass die überhaupt erste Gestalt der Welt als eine unmittelbar sittlich-schöne zusammengebrochen ist – diese Frage war ja die Leitfrage der einführenden Passage zum Sittlichkeitskapitel. Ein solches Verständnis wird dann möglich, ohne dass wir uns auf jenes Schema stützen müssen, das einen allen seinen Gestaltwechseln vorausliegenden ›Geist‹ voraussetzt, der sich nicht mit der unmittelbarnaturhaften Selbsterkenntnis in der ersten Stufe der ›Weltgeschichte‹, in der sittlich-schönen Welt, zufriedengibt und der sich daher von seinem Zustand einer unmittelbaren Naturgebundenheit befreien will.
47 Kurt von Fritz hat richtig bemerkt, dass Hegels Konzeption der poetischen Gerechtigkeit nicht mehr in einem »bloßen moralischen Ausgang […], demgemäß das Böse bestraft und die Tugend belohnt ist«, besteht, sondern in einer »Wiederherstellung der Harmonie der Weltordnung, die durch ein Handeln, das in sich berechtigt und in diesem Sinne gut, aber einseitig war, gestört worden ist« (Von Fritz, »Tragische Schuld«, S. 84 f.
3. Genealogien der modernen Subjektivität
Jenes Schema, das für die Erklärung des Zusammenbruchs oder des Untergangs der sittlichen Welt den Geist als eine bleibende Entität inmitten des Gestaltwechsels und die Natur als einen Faktor von Unfreiheit des Geistes einführt und das damit essentialistisch und dualistisch vorgeht, ist es, das Hegel konsequent ablehnen wollte. Und dieses Schema ist vor allem im Kontext meiner Arbeit aus drei Gründen zurückzuweisen; zwei davon sind aus den Ausführungen im vorangegangenen Kapitel zu erklären. 1) Dieses Schema ist erstens insofern für das Verständnis des schönen Scheins, der für die Konstitution der sittlichen Welt angelegt ist, unangemessen, als darin der schöne Schein in jener Entwicklungsstufe des Geistes (miss-)verstanden wird, in der dieser noch an die Natur gebunden ist, und damit die Freiheit und die Selbständigkeit der Schönheit nicht richtig aufgefasst wird. Sie lässt sich nicht auf einen Zustand der Naturgebundenheit des Geistes, also auf einen Modus seiner Unfreiheit reduzieren, sondern beruht darauf, dass der Geist vollständig naturhaft geworden, völlig äußerlich geworden und darin mit sich vollkommen identisch ist; sie beruht also auf einem Zustand, in dem der Geist in einem Völlig-äußerlich-Werden in sich frei ist und in dieser Freiheit, die unmittelbar eine Schönheit ist, als die überhaupt erste Gestalt des Geistes, als die erste Gestalt des freien Geistes, als Gestalt des sittlichen Weltgeistes1 erscheint. 2) Und jenes essentialistisch-dualistische Schema ist des Wei-
1
Dies wäre vermutlich der Grund dafür, weshalb das Geistkapitel der PhäG mit der Beschreibung einer sittlichen Welt beginnt, die der griechischen Welt der Antike entspricht – die griechisch-sittliche Welt ist die erste Gestalt der Welt in der ›Weltgeschichte‹, die frei ist, die Gestalt der Welt, in der der Geist nämlich in dessen vollständiger Äußerlichkeit unmittelbar frei und in dieser schönen Unmittelbarkeit in dem Sinne zum ersten Mal sich selbst weiß, dass er sich, obschon oder gerade in einem unmittelbaren Grade, über sich selbst im Klaren ist, während sich der Geist in den
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teren insofern zurückzuweisen, als es für das Verständnis des tragischen Untergangs der Ordnung selbst der sittlichen Welt als der vormodernen Welt hinderlich ist. Dieses Schema sucht den Untergang der sittlichen Welt wiederum darin, dass das Sittlich-Schöne dieser Welt im Grunde an die Natur gebunden ist; und diese Naturgebundenheit ist nach diesem Schema aus zwei Perspektiven am Untergang der sittlichen Welt schuldig: Aus der Perspektive der sittlichen Gestaltung ist das sittlich Allgemeine als der Strukturträger der sittlichen Welt am Natürlich-Partikularen zusammengebrochen; aus der Perspektive der Selbsterkenntnis des Geistes muss die unmittelbar-schöne Gestalt durch den Geist überboten werden, weil die sinnliche Schönheit eine Beschränkung dieser Erkenntnis bedeutet. Innerhalb dieser Auffassung des Untergangs oder Überbotenwerdens der sittlichen Weltordnung – einer Auffassung, die von der Natur als einem hindernden, damit herabzusetzenden Faktor gegenüber der sittlichen Gestaltung wie der Selbsterkenntnis des Geistes ausgeht und darin den Geist als eine von Anfang an getrennt zu identifizierende Entität voraussetzt – kann aber der besondere Charakter jenes tragischen Ereignisses nicht verstanden werden. Und der dritte Grund für die Zurückweisung dieses Geist-Natur-Schemas, der mit den ersten zwei Gründen eng verbunden ist und dessen Ausführung eine der Aufgaben dieses Kapitels ausmacht, besteht darin, dass es für das Verständnis des Übergangs zur bzw. der Entstehung der modernen Welt, die dem Untergang der sittlichen Welt unmittelbar folgt, irreführend ist. Denn die Natur, die diesem Schema zufolge in der Struktur der sittlichen Welt bzw. in der Phase ihres Untergangs als ein bindender und hindernder Faktor gegenüber der Freiheit des Geistes verstanden wurde, wird in und nach diesem Untergang als ein vernichtender und verheerender Faktor angenommen, der zu einem substanzlosen, sittlich ganz entleerten Zustand führt; der Geist tritt dann gegenüber oder in einem Naturzustand auf und muss sich als ein substanzloses Subjekt einrichten. Dem liegt aber eine Auffassung der Entgegensetzung von Geist und Natur oder von Subjekt und Substanz zugrunde, über welche hinauszugehen ein zentrales Anliegen des Hegelʼschen Denkens der Moderne ausmacht. Hegels Auffassung der Moderne beruht aber, wie ich eingangs des ersten Teils erläutert habe, auf
vorgriechischen oder vorklassischen Welten in dem Zustand befand, in dem er sich noch sucht, also noch unfrei ist, in dem er also noch nicht Geist ist. Die unmittelbarsittliche Form des Geistes hat als die erste also ihre Vorgeschichte, in der aber der Geist noch gar nicht ist, was er ist. Das Religionskapitel der PhäG beginnt mit der Beschreibung dieser vorklassischen Form, der ›natürlichen Religion‹, in der der Geist als das Absolute in dem Sinn noch fehlt, dass er sich noch sucht, dass er für sich eine freie Form nicht gefunden hat.
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dem, was als ›Substanz als Subjekt‹ zusammenzufassen ist, ohne dabei in die Auffassung ›Subjekt statt Substanz‹ zurückzufallen. Aus meiner Sicht aber ist die Perspektive, die den Übergang der Vormoderne zur Moderne darstellt, im Geistkapitel der PhäG (darunter im Unterkapitel »a. Der wahre Geist«) noch an die Konzeption ›Subjekt statt Substanz‹ gebunden, während jene Perspektive von ›Substanz als Subjekt‹ erst im Religionskapitel (darunter im Kunstreligionskapitel) ins Spiel gebracht wird. Das Defizit der ersten Darstellung wird dabei unter dem Licht der zweiten Darstellung deutlicher profiliert. Demzufolge werde ich in diesem Kapitel zweierlei zeigen: 1) Die Perspektive der ersten Darstellung ist die des Bruchs zwischen dem Modernen und dem Vor-Modernen bzw. die eines Ersatzverhältnisses zwischen der Substanzialität und der Subjektivität; und die moderne Subjektivität, die durch diesen radikalen Bruch mit der Substanzialität ihren Bestand sichern will, mündet schließlich in ein Herrschaftsverhältnis, dessen Verwirklichung Hegel im »Rechtszustand« sieht (1. Unterkapitel). 2) Die Perspektive der zweiten Darstellung ist die einer immanenten Genesis von dem Vormodernen zum Modernen bzw. die eines Zum-Subjekt-Werdens der Substanz; und unter dieser Perspektive lässt sich der Vorgang rekonstruieren, in dem sich das Volk als die vormoderne Gestalt der Subjektivität zum Demos als ihrer (ersten) modernen transformiert (2. Unterkapitel).
3.1 V OM N ATURZUSTAND
ZUM
R ECHTSZUSTAND
3.1.1 Volk und Bürger: eine »sittliche« Form der Subjektivität Es ist ein Gemeinplatz, dass die Subjektivität erst eine moderne Erscheinung ist. Eine Lektüre des ersten Geistkapitels der PhäG lässt jedoch erkennen, dass es auch in der noch nicht modernen Welt strukturgemäß eine Subjektivität gibt – in jener Welt also, die Hegel »sittlich« nennt und in der gerade und bereits die Bewegung zur Moderne stattfinden soll. Wie ist diese Subjektivität beschaffen? Ohne das Verständnis dieses früheren Zustands wäre der Versuch einer Konstruktion der modernen Subjektivität genealogisch irreführend. Die sittliche Welt wird als solche als ein »Individuum« (326) verstanden, also als etwas, das eine sehr starke Integrität besitzt. Und der Träger der objektiven Wirklichkeit dieser Individualität, also deren Gestaltungsform, ist das »Volk«, dessen Mitglieder »Bürger« sind. Umgekehrt kann ein Bürger insofern einer sein, als er ein Bürger des Volkes ist, am Volk seinen (An-)Teil hat, also durch seine Tätigkeit an der Konstitution des Volkes teilnimmt. Durch diese Teilnahme
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subjektiviert oder ›individuiert‹ er sich selbst. Die Besonderheit dieser Welt besteht aber darin, dass die Subjektivierung oder Individuierung des Bürgers durch seine Tätigkeit mit der Totalisierung des Volkes gleichbedeutend ist, d.h. dass es zwischen der Individuierung und der Totalisierung keine Differenz geben sollte.2 Das führt zu einer spezifischen Form der Subjektivierung des ›sittlichen‹ Bürgers: Die Verwirklichung seiner Subjektivität besteht in der Einschreibung dieser Subjektivität in die totale Objektivität des Volkes. Die Subjektivität in der ›sittlichen‹ Welt wird erst in ihrer Absorbierung in das Ganze des Volkes vervollständigt. Sie definiert sich durch ein Selbstvergessen in der »absoluten Substanz« als Ganzes (344). Diese Form der Subjektivität nimmt eine undurchsichtige Form an, in der die Subjektivität des Handlungsträgers nur in der Form der Substanzialität verwirklicht werden kann. In dieser Form der Selbstverwirklichung ist die Subjektivität paradoxerweise unsichtbar: In der sittlichen Welt kann von der Subjektivität nur in dem Maße die Rede sein, als sie sich in dieser vollkommenen Verwirklichung in der Substanzialität verwischt und vergessen hat. Eine Subjektivität des Bürgers der sittlichen Welt bestimmt sich nur in einem vollkommenen Schein, im schönen Schein des Seins des Ganzen, das sich nicht mehr selbst als ein Werk, sondern als eine Natur darstellt. Der handelnde Bürger geht im Volk als der repräsentativen Gestalt der ›natürlichen‹ Substanzialität vollkommen auf. In dieser Welt gibt es so wenig Platz für etwas wie das unentwickelt bleibende Subjektivierungspotenzial, das eine Entfaltung noch erwartet, wie es für ein inneres Gewissen Platz gibt. Es besteht vielmehr in dieser Welt der Raum nur für die Fülle der Wirklichkeit. Diese Fülle wäre aber keine der Verwirklichung, sondern des schon Verwirklichten – und in einer gerade perfektionierten, perfekt scheinenden und im Perfekt erscheinenden Vollbestimmtheit herrscht eine gegenwärtige Lebendigkeit, in der jeder ›subjektive‹ Tätigkeitszug sich in eine substanzielle Vollendetheit verwandelt hat. Das Handeln des Bürgers wird insofern als tugendhaft anerkannt, als es zur Erhaltung der Identität des Volkes, zu deren (Re-)Produktion, beiträgt; sie stellt sich auf die gegebenen Sitten dieser Welt völlig ein; die Richtlinien für die Handlung sind so festgestellt, dass es bei der Handlung kein Schwanken, keine Reflexion gibt; dem Handelnden ist das Schwanken zwischen den Wahlmöglichkeiten für verschiedenen Handlungsoptionen überhaupt fremd. Es gibt ein volles, ja distanzloses »Vertrauen« (347 ff.) auf das Ganze und in diesem Vertrauen, in dieser vertraulichen Selbstverwischung im Ganzen genießt die Subjektivität des Handelnden ihre volle Verwirklichung. Diese Form der Subjektivität schafft eine Form der Substanzialität, die sich derart erschlossen hat, dass sie in
2
Vgl. Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 47.
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sich völlig abgeschlossen und verschlossen ist. Das Volk ist die wirkliche Gestaltungsform dieser Substanzialität, an deren Mythologisierung jeder Bürger durch seine Handlung mitwirkt. Ein Mythos der Sittlichkeit dieser Welt ist es, der durch die Handlung des Bürgers hervorgebracht wird – ein schöner Schein, der den Tätigkeits-Charakter dieser Handlung, den eigentlich dynamischen Ursprung des Substanziellen abblendet, gleichsam auf die Schattenseite verschiebt und sich nur durch diese Verschiebung erhalten kann. Dieser Schein ist eine zweite Natur, die zwar in der Tat zustande gebracht ist, die sich aber nur durch die Bewahrung des Scheins des Ansichseins erhalten kann. 3.1.2 Schein und Natur: zwei Bedeutungen der Unmittelbarkeit In Hegels Darstellung wird die Erklärung für den Untergang der sittlichen Welt und für den Übergang zur ›modernen‹ in einem tragischen Ereignis gesucht, die ich im vorangegangenen Kapitel als eine Verdopplung von zwei Gegensätzen herauszuarbeiten versucht habe, von dem einen Gegensatz zwischen zwei sittlichen Mächten und dem anderen zwischen dem Wissen und dem Unwissen im Handlungsbewusstsein: »Es[: das Selbstbewusstsein] erfährt also in seiner Tat sowohl den Widerspruch jener Mächte, worein die Substanz sich entzweite, und ihre gegenseitige Zerstörung, wie den Widerspruch seines Wissens von der Sittlichkeit seines Handelns mit dem, was an und für sich sittlich ist, und findet seinen eigenen Untergang«. (328; Hervorh. modifiziert.)
In seiner weiteren Darstellung bleibt aber dieser tragische Untergang durch diejenige Denkfigur verdunkelt, die Hegel in der Mitte des zweiten Unterkapitels (»b. Die sittliche Handlung«) einführt und die an das Gerechtigkeits-Schema erinnert, das er in Frankfurter und Jenaer Zeiten für die Überwindung der Weltzerrissenheit in der jeweils modifizierten Version immer wieder dargeboten hat und dessen Spuren man auch in den späteren Zeiten sehen kann – das Schema der Verletzung der ursprünglichen Einheit des substanziellen Lebens durch das verbrecherische Unrecht und dann aber der Wiederherstellung dieser Einheit durch den versöhnenden Ausgleich: »Der Sieg der einen Macht und ihres Charakters und das Unterliegen der anderen Seite [im tragischen Konflikt] wäre also nur der Teil und das unvollendete Werk, das unaufhaltsam zum Gleichgewichte beider fortschreitet. Erst in der gleichen Unterwerfung beider Seiten ist das absolute Recht vollbracht und die sittliche Substanz [Hervorh. von mir] als
78 | S UBJEKTIVITÄT UND K UNST die negative Macht, welche beide Seiten verschlinge, oder das allmächtige und gerechte Schicksal [Herv. i.O.] aufgetreten«. (349)
Dabei bleibt unklar, ob in diesem schicksalhaft hergestellten »Gleichgewicht« der Grundzug der sittlichen Ordnung restauriert oder unwiderruflich geändert wird. Anstelle dieser unklaren Darstellung in der Mitte des zweiten Unterkapitels macht Hegel an dessen Ende für den tragischen Untergang der ›sittlichen‹ Welt, wie in seinen späteren Schriften (besonders in Vorlesungen über die Ästhetik), die einseitige – »unmittelbare« – Verabsolutierung des jeweiligen Rechts, also des Rechts der staatlichen Gemeinschaft und des Rechts der Familie, verantwortlich: »Dieser Untergang der sittlichen Substanz […] ist also dadurch bestimmt, daß das sittliche Bewußtsein auf das Gesetz[: Gesetz der staatlichen oder familiären Sittlichkeit] wesentlich unmittelbar gerichtet ist«. (354; Herv. i.O.) Aber sogleich – im nächsten Satz – ergänzt er diese Bezugnahme auf die einseitige Verabsolutierung des einen oder des anderen sittlichen Rechts, als ob er erkannt hätte, dass diese als Erklärung für den tragischen Untergang der sittlichen Welt nicht hinreichend ist,3 durch ein völlig anderes Element: »[I]n dieser Bestimmung der Unmittelbarkeit liegt, daß in die Handlung der Sittlichkeit die Natur überhaupt hereinkommt«. (Ebd.) Wenn man die Argumentation zwischen diesen zwei unmittelbar nacheinander stehenden Sätzen genau liest, lässt sich erkennen, dass sich die Gegenüberstellung, die zur Erklärung des Zusammenbruchs der sittlichen Welt herangezogen wird, überraschend verändert: Nicht mehr der Gegensatz zwischen zwei Arten sittlichen Rechts, sondern der zwischen Natürlichkeit und Sittlichkeit ist es, der als die Ursache der Tragik dient – der Gegensatz also zwischen der sinnlichen Natur, die sich nicht der sittlichen Bildung unterwirft, sich dieser vielmehr entzieht, und der ›zweiten‹ Natur, die durch sittliche Handlungen wie die tapfere Teilnahme am Krieg (als der Hauptangelegenheit des Staates) oder durch die fromme Bestattung der Familienmitglieder hervorgebracht worden ist: Der Gegensatz nämlich zwischen der unmittelbaren Natürlichkeit, die die Grundlage des Privatzweckes und -interesses einzelner Menschen ausmacht, und der vermittelten Natürlichkeit, die den sittlichen Charakter des Bürgers ausmacht. Dieser Gegensatz kann aber den Zusammenbruch der sittlichen Welt nicht darum erklären, weil er etwa irreversibel immer krasser vertieft worden wäre,
3
Zu einer Erläuterung der Unzulänglichkeit dieser Erklärung der Tragik durch die einseitige Verabsolutierung des Rechts und einer anderen Erklärung der Tragik der sittlichen Welt durch eine Neulektüre von demselben Text Hegels vgl. das zweite Kapitel dieser Arbeit.
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sondern deshalb, so Hegel, weil er in einer Verwechselung zweier Naturen unbemerkt in Gang gesetzt wird: Die unmittelbare Natur schleicht sich in die vermittelte Natur ein: »[…] daß in die Handlung der Sittlichkeit die Natur überhaupt hereinkommt […]« (354). Dieses diskrete ›Hereinkommen‹ der bloßen Natur in die sittliche ist aber nur deswegen möglich, weil diese zwei Naturen – obwohl die ›zweite‹ Natur in der Tat eine vermittelte ist – eine gleiche Bestimmung der Unmittelbarkeit haben und dadurch leicht miteinander vermischt werden können. Diese Unmittelbarkeitsbestimmung ist aber auszudifferenzieren nach dem Kriterium, ob die Natur als bloßes Naturinteresse der Einzelnen oder als sittlich-schöner Schein gedacht wird: (α) In letzterem Fall ist die Unmittelbarkeit eine vermittelte: In der sittlichen Welt erhält sich die Existenz des substanziellen Ganzen zwar zum einen durch die subjektiven Tätigkeiten sittlicher Akteure – durch die tapfere Kriegführung, in der der Bürger aufgrund seiner öffentlichen Leistungen als Mitglied des Gemeinwesens anerkannt wird, und durch die fromme familiäre Bestattung, bei der die Familienmitglieder nach ihrem Tod, abgelöst von der Berufung zum öffentlichen Leben, zu ›reinen‹ Einzelnen in der Familie erhoben werden (332 f.). Zum anderen sehen aber bei all diesen sittlichen Tätigkeiten die sittlichen Akteure die Selbsteinschreibung in das substanzielle Ganze als ihre vollständige Selbstverwirklichung an, durch die die sittliche Welt als solche in der Verwischung ihres Gemachtseins den Aspekt des ständigen Vorhandenseins, also ihren Schein der Naturhaftigkeit erhält; die Tätigkeiten der sittlich Handelnden tragen zur Bildung dieser zweiten Natur des Ganzen bei, gehen aber auf eine implizite, unsichtbare Weise in sie ein. Dadurch erhält die sittliche Welt die Bestimmung der Unmittelbarkeit, die aber in der Tat durch die sittlichen Tätigkeiten vermittelt worden ist; ihr unmittelbarer Charakter ist ein Schein, durch den aber allein die Vollständigkeit dieser Welt erreicht werden kann. (β) Von dieser scheinbaren Unmittelbarkeit ist die Unmittelbarkeit der natürlichen Interessen, die Hegel hier einsetzt, völlig zu unterscheiden; sie ist die Unmittelbarkeit schlechthin; sie ist die einfache ›Geistlosigkeit‹ – im Unterschied zur ›geistgedrungenen‹ sittlichen Natürlichkeit. Diese zwei gegensätzlichen Naturen sind jedoch in deren gemeinsamer Unmittelbarkeitsbestimmung vermischt, und in dieser Vermischung verdirbt die eine Natur die andere. Ihrer Länge zum Trotz zitiere ich die hierfür zentrale Textpassage ausführlich, weil sie für die weitere Argumentation noch von Bedeutung ist: »[D]er tapfere Jüngling, an welchem die Weiblichkeit ihre Lust hat, das unterdrückte Prinzip des Verderbens tritt an den Tag und ist das Geltende. Nun ist die natürliche Kraft und das, was als Zufall des Glücks erscheint, welche über das Dasein des sittlichen We-
80 | S UBJEKTIVITÄT UND K UNST sens […] entscheiden; weil auf Stärke und Glück das Dasein des sittlichen Wesens beruht, so ist schon entschieden, daß es zugrunde gegangen. […] Dieser Untergang der sittlichen Substanz […] ist also dadurch bestimmt, daß das sittliche Bewußtsein auf das Gesetz wesentlich unmittelbar gerichtet ist; in dieser Bestimmung der Unmittelbarkeit liegt, daß in die Handlung der Sittlichkeit die Natur überhaupt hereinkommt. Ihre Wirklichkeit offenbart nur den Widerspruch und den Keim des Verderbens, den die schöne Einmütigkeit und das ruhige Gleichgewicht des sittlichen Geistes eben an dieser Ruhe und Schönheit selbst hat; denn die Unmittelbarkeit hat die widersprechende Bedeutung, die bewußtlose Ruhe der Natur und die selbstbewußte unruhige Ruhe des Geistes zu sein. – Um dieser Natürlichkeit willen ist überhaupt dieses sittliche Volk eine durch die Natur bestimmte und daher beschränkte Individualität […]«. (353 f.; Herv. i.O.)
Diese Erklärung, die Auflösung der sittlichen Welt in einer Angewiesenheit auf die sinnliche Natur sehen zu wollen, hat aber mindestens zwei Probleme: 1) Die Erklärung der Auflösung der sittlichen Welt aufgrund der in ihr angelegten Natürlichkeit und Sinnlichkeit rückt den vermeintlichen Befund der Gebundenheit der schönen Sittlichkeit an die Natur ins Zentrum, die Hegel auch in seinen späteren Vorlesungen oft für die Erklärung des Gestaltwechsels des »Geistes« von der antiken sittlichen Welt zur christlichen heranzieht, ist aber in dem Maße irreführend, als die Konstitution des schönen Scheins der sittlichen Welt nicht auf diese Gebundenheit zurückgeht. Der schöne Schein ist nämlich nur insofern schön, als er sich gerade von der Gebundenheit an die sinnliche Natur befreit und in der Befreiung vom Schwergewicht dieser Natur eine Leichtigkeit, eine Freiheit erhält, die sowohl ästhetisch wie auch – hierfür wichtiger – ontologisch ist. Die Schönheit des Scheins ist ein ›autonomes‹ Phänomen, das weder auf die sinnliche Natürlichkeit noch auf die geistige Idealität reduzieren ließe.4 2) Die zustandegekommene Unmittelbarkeit der sittlichen Natur, in der die Akteure »auf das Gesetz wesentlich unmittelbar gerichtet« sind, ist das Resultat einer Sublimierungsarbeit an der Unmittelbarkeit der bloß ›zufälligen‹ und ›besonderen‹ Natur. Wenn wir diese Unterscheidung zwischen zwei Naturen im Auge behalten, können wir uns darüber klar werden, dass Hegels Darstellung des Untergangs der sittlichen Welt ein Misslingen dieser Sublimierungsarbeit an der natürlichen Mannigfaltigkeit oder das Abweichen dieser Natürlichkeit von jener Arbeit oder aber die Schwächung der sittlichen Kontrollmacht über die natürli-
4
Dafür vgl. das zweite Kapitel (Abschnitt 2.1.1) der vorliegenden Arbeit. Eine Autonomie des (schönen) Scheins ist ein langhaltendes Thema von Schiller bis Adorno; dafür vgl. das fünfte Kapitel (Abschnitt 5.2.9).
3. G ENEALOGIEN
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che Unbefangenheit unterstellt; dann wird aber seine Darstellung in ein ziemlich allgemeines Schema gelockert, das für jede Erklärung des ›Untergangs‹ oder ›Verderbens‹ aller großen ›Zivilisationen‹ oder ›Völker‹ gelten könnte und das nicht die spezifische Bezeichnung »tragisch« verdient: Das Schema der individuellen Ausgelassenheit und des darauf folgenden Sitten- und Geschmacksverfalls, wie typischerweise vom angeblichen Verfall des Roms die Rede ist; dieses farblose, undifferenzierte Schema klärt nicht die Tragik der sittlichen Welt. Es liegt auf der Hand, dass diese Darstellung auf einer gewöhnlichen, allgemein hierarchischen Vorstellung des Verhältnisses von Geist und Natur beruht, die immer wieder Hegels Gedanken in einem beträchtlichen Maße beeinflusst: Hegel macht für den Untergang der sittlichen Welt die bloße Natur verantwortlich, die als wesentliches Moment für die Konstitution dieser Welt in diese eingeschrieben sein soll und die doch insofern stets vom Geist kategorial unterschieden und als zufällig, willkürlich und unterschiedslos-mannigfaltig verurteilt wird, als sie nicht sittlich gebildet und sublimiert wird. Aber diese Natur spielt, wie wir im Folgenden sehen werden, bei Hegels (kritischer) Darstellung der Konstruktion des ›Rechtszustandes‹ als der vermeintlich ersten Gestalt des ›modernen‹ Weltzustandes eine wesentliche Rolle. 3.1.3 Vom Naturzustand zum Rechtszustand? Wir haben gesehen, dass Hegels Darstellung des Untergangs der sittlichen Welt am Ende des ersten Geistkapitels auf der Bestimmung der bloßen Natur beruht. Sie ist aber problematisch, weil sie Hegels eigene Behauptung am Anfang desselben Kapitels nicht einlösen kann, dass der Untergang dieser Welt ein tragischer Vorgang sei.5 Aber noch wichtiger ist, dass jene Darstellung nicht geeignet zu sein scheint, auf eine andere Frage zu antworten: die Frage nach dem Übergang zur modernen Welt. Dass die familiäre Besonderheit in ihrer natürlichen Lebendigkeit von der Regierung des allgemeinen Gemeinwesens abweicht, ist das »Prinzip des Verderbens« (353) der sittlichen Welt. Hegel beschreibt den Untergang der sittlichen Welt durch diese niederträchtige – bestimmt nicht aufständische – Abweichung so, dass sich die sittliche Einheit beider Seiten in die »formale Allgemeinheit«
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»Es[: das Selbstbewusstsein] erfährt also in seiner Tat sowohl den Widerspruch jener Mächte, worein die Substanz sich entzweite, und ihre gegenseitige Zerstörung, wie den Widerspruch seines Wissens von der Sittlichkeit seines Handelns mit dem, was an und für sich sittlich ist, und findet seinen eigenen Untergang«. (328; Hervorh. modifiziert.)
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und das »einzelne Individuum« entzweit (354; Herv. i.O.). Und er charakterisiert gleich zu Beginn der Darstellung der neuen, ja überhaupt der ersten ›modernen‹ Gestalt der Welt (»c. Der Rechtszustand«) diese Allgemeinheit als die rechtliche Ordnung und dieses einzelne Individuum als Rechtsperson. Die Darstellung des Übergangs ist aber verblüffend: Wie kommen der Rechtszustand und die Rechtsperson zustande? Wodurch erlangt das »einzelne Individuum« seinen rechtlichen Status als Rechtsperson? Wie transformiert sich dieses Individuum, das am Ausgang der sittlichen Welt als ein natürlicher Mensch nur die »natürliche Kraft« (354) und den »Privatzweck« (352) als »Prinzip des Verderbens« dieser Welt aufwies, zur Person, die nun den allgemeinen und gleichen Rechtsstatus wie die anderen erhalten hat?6 In Hegels Darstellung ist die sittliche Welt bei ihrem Untergang auseinandergefallen in die Seite des natürlichen Menschen, dessen Privatinteresse die ausschließliche Priorität in Anspruch nimmt, und in die des nun kraft- und rechtlose Gemeinwesens, das darum zugleich seine Macht und sein Recht verloren hat, weil in diesem Auseinanderfallen die lebendige Macht auf die Seite des privaten Individuums übergegangen ist und das Recht des Gemeinwesens nur in jener sittlichen Einheit galt, in der dieses die familiäre Einzelheit als ihre zwar konstitutive aber quasi unsichtbare Rückseite hatte. In diesem Auseinanderfallen herrschen nun bloß das unmittelbare Naturinteresse und die natürlichen Leidenschaften; es herrschen nur der Selbsterhaltungstrieb, der Zufall, die Willkür, die unbefangene Rücksichtslosigkeit, der Selbstgenuss (»Lust«, »Genuß«, »Glück«, »Mutwille«; 353), die Niederträchtigkeit (»Intrige«; 352) und schließlich die Gewalt (»Kraft« und »Stärke«; 354); nur sie sind »das Geltende« (353, 354); also gilt nur die nackte Natürlichkeit; die Naturkräfte kommen schlechthin entblößt zum Zuge – in unbeschränktem Maße; es herrscht die schlechthinnige Unmittelbarkeit der Natur. Wodurch kommt es von hier aus zu einem Zustand, in dem das Recht herrscht, in dem das gleiche Recht allen und jedem zugeschrieben ist und in dem alle und jeder als Gleiche anerkannt sind? Kurzum: Wie kann es vom Naturzustand zum Rechtszustand kommen? In Hegels Darstellung findet dieser Statuswechsel, ja diese Statusentstehung, ziemlich plötzlich statt; die Erklärung dafür fehlt einfach. Aber diese Plötzlichkeit hat, wie ich meine, einen guten Grund: Der »Rechtszustand« ist in die Ge-
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Menke hat seinerseits diese Übergangslücke ›individualitätstheoretisch‹ eindrucksvollerweise ergänzt und rekonstruiert; und seine Strategie für eigene Rekonstruktion des ›Rechtszustandes‹ besteht in einer Unterscheidung zwischen der »phänomenologischen« und der »genealogischen« Lesart des Textes (»c. Der Rechtszustand«). Vgl. Menke, Tragödie im Sittlichen, besonders Kap. 2, 3, 4, 5 (Zitat aus S. 204).
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schichte eingebrochen, er hat sie nämlich in der Weise unterbrochen, dass er nicht von der geschichtlichen Transformation der traditionellen Welt, sondern von einem speziellen »Weltzustand« ausgegangen ist, der die wesentlichen Aspekte des daraus abgeleiteten Rechtszustands prägt – vom Naturzustand. 3.1.4 Aufhebung des Naturzustandes im Rechtszustand Wie kann es vom Naturzustand zum Rechtszustand kommen? Auf diese Frage antwortet Hegel nicht in der PhäG – und auch nie in seinen späteren Werken.7 Er versuchte es nur in den Jenaer Schriften, die dank seiner Anerkennungskonzeption in neuerer Zeit große und ständige Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben; und tatsächlich spielt die Anerkennungskonzeption bei der ›Ableitung‹ des Rechtszustands eine wesentliche Rolle. Aber ich möchte neben dieser Konzeption auf eine andere Sachlage aufmerksam machen: das Woher dieser ›Ableitung‹ des Rechtszustands. Hegels spekulativer und bewusstseinsphilosophischer Versuch zielt darauf ab, den Rechtszustand aus dem Naturzustand abzuleiten.8
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Die Rechtsphilosophie von 1821 setzt ihrerseits die Ableitung des Rechtszustands voraus: »Der Begriff des Rechts fällt daher seinem Werden nach außerhalb der Wissenschaft des Rechts, seine Deduktion ist hier vorausgesetzt, und er ist als gegeben aufzunehmen« (Hegel, Werke in zwanzig Bänden Bd. 7, 30; Herv. i.O.). Im Gegensatz zu dieser Ausgabe gehen die Vorlesungen 1817/18 noch von der Überlegung zum Naturzustand, in dem »[j]eder […] auf die gesamte Erde ein Recht [hat], weil sie Rechtloses ist« aus, ohne dabei den Übergang vom Besitz zum Eigentum in einer so intensiven Auseinandersetzung mit der Naturzustandstheorie wie in den Jenaer Texten zu behandeln (Hegel, Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft. S. 20 ff., hier: 20).
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Allerdings ist Hegel kein Theoretiker des Naturzustandes wie Hobbes, Locke oder Rousseau. Aber in Jenenser Texten versucht Hegel wie in keinem anderen, sich intensiv mit den Naturzustandstheoretikern auseinanderzusetzen, allen voran mit Hobbes. Diese Intensivität veranlasst Hegel dazu, zu versuchen, einen anderen Weg als Hobbes’ zu ebnen, der vom Naturzustand zum Rechtszustand führt. Ich beschränke meine Diskussion auf zwei Texte aus den Jenaer Schriften: Jenenser Systementwürfe I (darin besonders Fragm. 22; ich zitiere sie als JS I mit Seitenanzahl) und Jenaer Realphilosophie (darin besonders S. 205-212; zitiert als JR mit Seitenanzahl). Denn nur von diesen Texten an scheint der Naturzustand als der Ausgangspunkt angenommen zu werden, von dem aus den Rechtszustand herzuleiten versucht wird; dagegen sind seine vorherigen Texte bis 1802 noch im ›mythologischen‹ Schema befangen, in dem es um die ursprüngliche Einheit des substantiellen Lebens, dessen Verletzung und die Wiederherstellung dieser Einheit geht, wobei der Naturzustand als solcher nicht sinn-
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Diese ›Ableitung‹ unternimmt Hegel in Auseinandersetzung mit Hobbes’ Versuch einer Konstruktion des Staates. Dabei geht er von zwei Voraussetzungen aus: (α) Er legt Hobbes’ anthropologische Beschreibung über den Naturmenschen zugrunde; (β) er führt zugleich dabei eine modifizierte Version des Kantischen und Fichte’schen bewusstseinsphilosophischen Ansatzes ein.9 Nach Maßgabe dieser beiden Voraussetzungen gliedert sich die Ableitung des Rechtszustands in zwei Schritte. (α) Der Mensch im Naturzustand als der individuelle Naturmensch verfügt unendlich frei über unbestimmte Dinge und unternimmt nach dem Prinzip der »Angemessenheit zum Bedürfnisse« (JR 208) die »sinnliche Bemächtigung« eines beliebigen Gegenstands. Er ist frei, »in Besitz zu nehmen, was er als Einzelner kann. […] [D]adurch ist er die Macht gegen alle Dinge« (JR 207). Im Naturzustand stehen alle Dinge jedem Menschen zur Verfügung. Diese Bestimmungen »jeder« und »alle« implizieren schon den »Krieg aller gegen alle«: Ein beliebiges Ding zu bearbeiten und ihm Form zu geben oder einfach – wie Hegel im Anschluss an Rousseau sagt – »ein eingeschlossenes Erdreich« »als mein« zu bezeichnen, kurzum: überhaupt etwas in Besitz zu nehmen, bedeutet schon die Verletzung der »Möglichkeit« (JS I 310) der Besitznahme des Anderen und den Konflikt mit ihm. (β) Die Furcht vor dem allseitigen und ständigen »Kriegszustand« (Hobbes), zu dem dieser Konflikt notwendigerweise führen muss, zwingt nach der Hobbes’schen Erläuterung zu einer doppelten Selbstbeschränkung, nämlich zum Aufgeben der eigenen Möglichkeit allumfassender Besitznahme und zur vertraglichen Errichtung eines absoluten Machtapparates, der diesem furchtbaren Zustand ein Ende setzen und allen ihre Sicherheit bringen kann. Aber bei Hegel – und das ist die Konsequenz seiner bewusstseinsphilosophischen Annahme und damit sein Kritikpunkt gegenüber der Vertragstheorie – spielt in diesem Konflikt, der aus der reziproken Verletzung der Verfügungsmöglichkeiten hervorgeht, die Furcht vor dem Tod nicht mehr die entscheidende Rolle – die Furcht also, die bei Hobbes ein psychologischer Ausdruck der mechanistischen Gesetzmäßigkeit und der biologischen Zweckmäßigkeit des Menschen ist. Vielmehr geht es um die Bewahrung des eigenen »Fürsichseins« trotz der »Gefahr« des Todes (JR 211): In Hegels bewusstseinsphilosophischer Umschreibung des Naturzustandes geben die Einzelmenschen trotz dieser Gefahr die Möglichkeit der
voll thematisiert werden kann. Vgl. hierzu Siep, »Der Kampf um Anerkennung. Zu Hegels Auseinandersetzung mit Hobbes in den Jenaer Schriften«, S. 175; Honneth, Kampf um Anerkennung, S. 47-53; Jaeschcke, »Kunst und Religion«, S. 178. 9
Vgl. dazu Honneth, a.a.O., S. 47-53; Habermas, »Arbeit und Interaktion«, S. 11-16.
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unendlich freien Verfügung aller Dinge nicht auf. Denn diese Verfügungschance bedeutet für den Einzelmenschen nicht bloß sein physisches Überleben, sondern die notwendige Bedingung für sein Fürsichsein: Die unendliche Freiheit der unbestimmten Verfügung bezieht sich nicht nur auf die materielle Besitznahme, sondern vor allem auf die ›Erweiterung des Ich‹ (ebd., Randbm. 2), also auf das »Selbst« (ebd.; Randbm. 5). Dadurch enthält aber der wechselseitige Anspruch auf das ausschließliche Selbst, also darauf, dem Anderen »als absolut zu gelten«, einen »absolute[n] Widerspruch« (JS I 312) in sich: Einerseits führt dieser Anspruch auf Ausschließlichkeit zum »Kampf auf Leben und Tod« (JR 212), wobei das Selbst »auf den Tod eines Andern geht« und sich »der Gefahr« von eigenem Tod, vom »Selbstmord« aussetzt (JR 211); andererseits aber setzt derselbe Anspruch auf Ausschließlichkeit das andere Bewusstsein voraus, in dem sich das Selbst als ein ausschließliches »anerkannt wissen« will (JS I 308). Dieser widersprüchliche Anspruch auf die anerkannte Ausschließlichkeit zieht eine dialektische Konsequenz nach sich: Aufhebung dieser Ausschließlichkeit in der Form des Rechts. Im Recht wird die Ausschließlichkeit jedes Selbst zugleich überwunden und bewahrt: »Diese drey Formen, des Seyns, Aufhebens, und Seyns als Aufgehobenseins, sind absolut als Eines gesetzt«. (JS I 313-314) Das ist der Zustand der allgemeinen Anerkennung, der Rechtszustand nämlich, in dem jedes Selbst gleichermaßen Person ist. Der Rechtszustand steht mit dem Naturzustand in einem doppelten Verhältnis der Überwindung und Aufbewahrung. Die Ausschließlichkeit des Selbst im Naturzustand überlebt ja im Rechtszustand in ihrer aufgehobenen Form. Das Individuum gibt – wie bei Hobbes – seine unendliche Möglichkeit der materiellen Verfügung deshalb nicht auf, weil dieses Aufgeben die Zerstörung seines Fürsichseins, seines Bewusstseins überhaupt, bedeuten würde. Das ausschließliche Selbst bleibt noch im Rechtszustand »als absolutes numerisches Eins« (JS I 312), das das andere Selbst ausschließen will – aber aufgehoben in der Form der Person. Wer den Abschnitt im Geistkapitel der PhäG, der den modernen Rechtszustand darstellt (»c. Der Rechtszustand«), liest, der kann nicht umhin, vom ausweglos dunklen Ton der Darstellung überrascht zu sein: Der Rechtszustand wird so beschrieben, dass er von Gewalt, Willkür und Zufall wimmele und dass ja ein »Chaos« (358) drohe, eine »Verwüstung« (360) herrsche. Diese Beschreibung erweckt Bedenken, ob sich nicht der so beschriebene Zustand eher einem Naturzustand nähere. Dieser Eindruck hat, wie ich meine, einen guten Grund, – den Grund nämlich, dass das ausschließliche Selbst des Naturzustands in einer aufgehobenen Form in den Rechtszustand eingegangen ist. In der allgemeinen Anerkennungsordnung im Rechtszustand sind deshalb die Personen sowohl wechselseitig anerkannt als auch noch miteinander verfeindet. Diese Doppelbeziehung
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zwischen Personen, die allgemein anerkannte Feindseligkeit oder feindselige Anerkanntheit, führt zu einer Ordnung »der absoluten Sprödigkeit ihrer Punktualität« (ebd.), zu einer »Zerstreuung in die absolute Vielheit der persönlichen Atome« gerade noch im Rechtszustand (357; Herv. i.O.). Daher versteht sich das analogische Verhältnis zwischen den Naturmenschen, denen eine ausschließliche oder exklusive Entscheidung im Kampf auf Leben und Tod unvermeidlich dünkt, und den Rechtspersonen, die sich um das ebenso ausschließliche oder exklusive Eigentum kümmern. Das erklärt nämlich, weshalb das natürliche Gegeneinander und das rechtliche Gegeneinander die Spiegelbilder zueinander sind. 3.1.5 Doppelerzeugung der Natur und des Rechts Der Naturzustand, in dem die unendliche Freiheit der Verfügung über alle Dinge gegeben war, ist im Rechtszustand nicht abgeschafft, sondern in diesen eingeschrieben. Aber diese Einschreibung scheint mir nicht erst im Errichtungsmoment des Rechtszustandes getreten, sondern von Anfang von dessen ›Ableitung‹ an angelegt zu sein. Hegels Projekt der Ableitung des Rechtszustands aus dem Naturzustand will die transzendentalische oder bloß empirische Begründung des Rechts vermeiden und zielt stattdessen auf eine immanente oder eher zirkuläre Ableitung, wie sich bei seinen Kritiken an der Kantʼschen oder Hobbes’schen Naturrechtslehre in seinem Naturrechtsaufsatz zeigt. Aber die grundsätzliche Schwierigkeit besteht darin, dass aus dem bloßen Naturzustand der Rechtszustand unmöglich abgeleitet werden kann. Denn die einzelnen Menschen im Naturzustand sind ganz in ihr materielles Bedürfnis versenkt; sie sind »Naturwesen« (JR 205; Randbm. 2) und existieren einfach nach der »Seite der Zufälligkeit« (JR 208; Randbm. 5) – nach ihrer Faktizität schlechthin; ihre Existenz ist das bloße Leben, ein »[S]o ist es« (ebd.). Daher scheint die normative Frage, »was nach diesem Verhältnisse[: nach dem Naturzustand] die Individuen für Rechte und Pflichten gegeneinander haben« (JR 205), unsinnig zu sein;10 sie beruht auf einer Kategorienverwechselung oder -mischung zwischen Natur und Recht, zwischen quid facti und quid iuris. Was ist dann Hegels Lösung für dieses Problem? Sie besteht gleichsam in einer Richtungsumkehrung der Ableitung: nicht mehr vom Naturzustand zum Rechtszustand, sondern von diesem zu jenem, wobei die Argumentation nicht mehr linear, sondern vielmehr in einer zirkulären Form abläuft und sich damit die Natur und das Recht, die Faktizität und die Normativität nicht mehr voneinander trennen, sondern ineinander verweben. Der Naturzustand ist von Anfang
10 Diese »Frage widerspricht sich unmittelbar« (JR 205; Randbm. 2).
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an als ein zu verlassender Zustand eingeführt und als solcher definiert: »Das einzige Verhältnis derselben[: der Individuen im Naturzustand] aber ist, eben dies Verhältnis aufzuheben« (JR 205). Der Naturzustand ist von Anfang an nur zu dessen Verlassen und zum »Erzeugen des Rechts überhaupt« (JR 206) ins Spiel gebracht. Er ist erzeugt, damit der Rechtszustand erzeugt werden kann; der Rechtszustand wird dadurch erzeugt, dass der Naturzustand dafür erzeugt worden ist. Mit dieser Erzeugung des Naturzustandes ist auch die Figur des Naturmenschen erzeugt. Naturzustand und Naturmensch sind rechtliche Erzeugungen; sie sind bei der Ableitung des Rechtszustandes von Anfang an diesem als seine Möglichkeitsbedingungen eingeschrieben. Diese Erzeugung ist aber, so Hegel, keine bloße »Herbeibringung« oder »Ausheckung« (ebd.), sondern entspricht der Bewegung des Begriffs, der ›spekulativen‹ Bewegung: Rechtszustand und Rechtsperson werden »erzeugt aus dem Begriffe« (ebd.). Das, was aus dem Begriff erzeugt wird, ist ein Komplex von Natur- und Rechtszustand bzw. von Naturmensch und Person: ein natürlicher Rechtszustand oder rechtlicher Naturzustand bzw. eine begriffliche Vermischung von Naturmensch und Person. Denn wer ist das »Individuum« (JR 205, 206), das am Anfang der Bewegung des Begriffs steht, aber das nach seinem Begriff bereits »notwendig anerkannt und […] notwendig anerkennend« (JR 206) ist? Ist es bloß Naturmensch oder schon Person? Was ist »das freie gleichgültige Sein von Individuen gegeneinander« (JR 205), das den anfänglichen Zustand der Individuen in der Natur kennzeichnet, das sich aber bereits mit Notwendigkeit – nach dem »Begriff« – am Rechtszustand orientiert? Ist es bloß Naturzustand oder schon Rechtszustand? Ist das Fürsichsein des Individuums, das mitten im Kampf um Leben und Tod für seine unendlich freie Verfügung über unbestimmte Dinge auf seine Ausschließlichkeit einen Anspruch erhebt, aber sogleich nach seinem Begriff in die allgemeine Anerkennungsordnung eintritt, noch Naturmensch oder schon Person? Sind die beiden überhaupt unterscheidbar? Wo lässt sich die Unterscheidungslinie ziehen? Wo kann die Grenze zwischen Naturzustand und Rechtszustand, zwischen Naturmensch und Person gezogen werden? Nach dem »Begriff« sind beide ununterscheidbar, wenn die bisherige Lektüre richtig ist. Naturzustand und Naturmensch sind selbst die Grenzfiguren, von denen der Rechtszustand oder die Rechtsperson erst ausgehen und durch die hindurch sie erst konstituiert werden können. Exkurs. Hobbes und die Kritiken des Naturzustandes Die Hobbesʼsche Auffassung des Naturzustandes selbst basiert auf einem in hohem Maße konstruierten Theoriebau, in dem der Mensch, nämlich der Natur-
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mensch, nicht bloß seinen unmittelbar natürlichen Begierden und Trieben folgt, sondern sich in einer Situation vorfindet, in der es um eine unbestimmte und unendliche Machtvermehrung geht, die für die Selbsterhaltung im Naturzustand als unentbehrlich erscheint.11 Das Leben im Naturzustand Hobbesʼscher Art ist kein animalisches, auch kein ›quasi-animalisches‹ Leben. Das Leben des Naturzustandes repräsentiert unmittelbar keine elementare Art des Lebens. Der natürliche Mensch oder das natürliche Individuum ist kein selbstverständlicher Ansatz, von dem man harmlos ausgehen kann, um sodann zu einem Rechts- oder Gesellschaftszustand zu gelangen. Vielmehr sind der Naturzustand und das natürliche Individuum Konstrukte,12 die mit der Konstruktion des Rechtszustandes in einem komplementären Verhältnis stehen. Die Theoreme des Naturzustandes und des natürlichen Individuums repräsentieren nicht bloß die Gefahr des Rückgangs aus dem Rechtszustand in ein gefährliches Chaos der wechselseitigen Vernichtung, sondern im Grunde eine genetische Grundlage für den Übergang zum Rechtszustand. Ein Widerspruch von Geist und Natur, von Selbst- und Fremdbestimmung, von allgemeinem und individuellem Willen ist nicht nur ein Gegenstand der Aufhebung, sondern als solcher selbst ein Theorieelement des Naturrechts. Das Theorem oder die Vorstellung des rohen und wilden Naturzustandes repräsentiert eine Gefahr für den Rechtszustand, die als solche der Konstruktion des Rechtszustandes selbst theoretisch zugrunde liegt. Der Naturzustand ist also ein theoretisch innerliches Element des Rechtszustandes. Der allgemeine Kriegszustand, in dem der Tod droht, ist, wie Foucault in seinen Vorlesungen In Verteidigung der Gesellschaft herausgestellt hat, nie eine reale Gegebenheit gewesen,
11 Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, S. 95. Das Problem der theoretischen Aufladung der Hobbesʼschen Konstruktion des Naturzustandes haben Hegel (in seinem Naturrechtsaufsatz), Foucault (in seiner Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft) und Agamben (in Homo Sacer) jeweils unter verschiedenen Aspekten behandelt. 12 Hegel bemerkt zu Recht, dass die Konzeption des Naturzustands sich aus der Abstraktion des Gesellschaftszustands ergeben hat: »[D]ie abgesonderten Energien des Sittlichen müssen in dem Naturzustande oder im dem Abstraktum des Menschen als in einem sich gegenseitig vernichtenden Kriege gedacht werden« (Hegel, Wissenschaftliche Behandlungsarten des Naturrechts, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 2, S. 434-532; hier S. 446). In Vom Bürger von Hobbes selbst heißt es: »Ebenso muß bei der Ermittlung des Rechtes des Staates und der Pflichten der Bürger der Staat zwar nicht aufgelöst, aber doch gleichsam als aufgelöst (tanquam dissoluta) betrachtet werden« (zitiert nach Agamben, Homo Sacer, S. 9).
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vielmehr immer nur ein Vorstellungsgegenstand.13 Die Logik der Doppelerzeugung, wie ich sie oben im Hegelʼschen Text aufzuweisen versucht habe, gilt also auch für Hobbes’ Konstruktion des Staates. In dieser Hinsicht ist Habermas’ Einschätzung des Hobbes’schen Verfahrens für die Staatskonstruktion wesentlich unzutreffend. Er behauptet, dass bei dieser Konstruktion eine unmögliche Ableitung stattgefunden habe, die darin bestehe, aus der faktischen anthropologischen Feststellung des Menschen im Naturzustand den normativen Gesellschaftszustand zu schlussfolgern.14 Diese Diagnose berücksichtigt aber den Charakter der Doppelerzeugung von Naturmensch und Rechtsperson, von Natur- und Rechtszustand nicht, der auch bei Hobbes für die Grundlegung der sozialen Normativität eine konstitutive Rolle spielt. Axel Honneth folgt in seiner Interpretation der Anerkennungsbewegung in Hegels Jenaer Schriften15 unabsichtlich dieser Logik der Doppelerzeugung, indem er seinerseits diese Logik in Gestalt einer teleologischen Unterschiebung wiederholt: Er unterschiebt dem Naturzustand das, was aus diesem Zustand erst abgeleitet werden sollte, also die Anerkennungsbeziehung oder das »Rechtsbewußtsein«, das im Naturzustand in »eine[r] erste[n], noch implizite[n] Gestalt«16 vorhanden sei und das sich sodann verwirklicht werde. Sein Argument besagt aufgrund einer Passage Hegels, die selber noch einer Analyse unterzogen werden müsste,17 dass es im Naturzustand die »vorgängigen Anerkennungsbeziehungen« deshalb geben müssen, weil es im Rechtszustand die ›bewußten‹ (ebd.) Anerkennungsbeziehungen geben müssen, die aus dem Naturzustand abgeleitet werden sollten. Aufgrund dieser Teleologie vereinfacht Honneth Hegels »entscheidendes Argument« so, dass »jedes menschliche Zusammenleben eine Art von elementarer gegenseitiger Bejahung zwischen Subjekten voraussetzt, weil anders ein wie
13 Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), S. 101-106. 14 Habermas, Theorie und Praxis, S. 67-72. 15 Honneth, Kampf um Anerkennung, besonders S. 68-83. 16 Honneth, a.a.O., S. 73. 17 In der Passage, deren Logik oben von mir analysiert wurde, heißt es: »In dem Anerkennen hört das Selbst auf, dies Einzelne zu sein; es ist rechtlich im Anerkennen, d.h. nicht mehr in seinem unmittelbaren Dasein. Das Anerkannte ist anerkannt als unmittelbar geltend, durch sein Sein, aber eben dies Sein ist erzeugt aus dem Begriffe; es ist anerkanntes Sein. Der Mensch wird notwendig anerkannt und ist notwendig anerkennend. Diese Notwendigkeit ist seine eigene, nicht die unseres Denkens im Gegensatz gegen den Inhalt. Als Anerkennen ist er selbst die Bewegung und diese Bewegung hebt eben seinen Naturzustand auf: Er ist Anerkennen.« (JR 206)
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auch immer geartetes Miteinandersein erst gar nicht zustandekommen könnte«. (Ebd.) Diese Unterschiebung ist aber nicht zufällig. Sie ist vielmehr umso mehr unvermeidlich, je treuer er der Hegel’schen Spekulation folgen will, vermöge derer man aus dem Naturzustand, so wie Hobbes ihn aufgefasst hat, den Rechtszustand abzuleiten versucht. 3.1.6 Willkür zwischen Form und Inhalt Neben dem doppelten, als Überwindung und der Bewahrung zu verstehenden Verhältnis von Naturzustand und Rechtszustand (3.1.4) bzw. der ebenso doppelten, nämlich im Sinne einer Ununterscheidbarkeit zu verstehenden Figur der Naturmensch-Person (3.1.5) ist ein weiterer Charakter des Naturzustands in den Rechtszustand eingeschrieben: Wie gezeigt, kann der Mensch im Naturzustand alles, was er will, in Besitz nehmen. Bei dieser freien Verfügungsmöglichkeit muss ein grundlegender Aspekt der Besitznahme, nämlich ihre Unbestimmtheit, näher betrachtet werden: Die Besitznahme steht zu den Dingen in einem Verhältnis der Gleichgültigkeit; die Verbindung zwischen Besitznahme und besetzten Dingen ist beliebig; es fehlt die Notwendigkeit der Besitznahme von diesem Ding; das, was notwendig bleibt, ist nur die unbestimmte Möglichkeit der Besitznahme selbst oder ihre Macht gegenüber den Dingen; zwischen der Form der Besitznahme und ihrem Inhalt besteht eine willkürliche Beziehung; Form und Inhalt sind gegeneinander äußerlich: »Das sinnliche Unmittelbare, worauf das Allgemeine angewandt ist, entspricht diesem nicht[, ist] nicht von ihm umgeben«. (JR 208; Hinzufg. vom Herausgeber des Textes.) Dieses zufällige, äußerliche, beliebige und willkürliche Verhältnis zwischen der Besitznahme und dem besetzten Ding im Naturzustand wird im Rechtszustand transportiert ins Verhältnis zwischen dem Eigentümer als Person und seinem Eigentum: Das, was das Wesen des Eigentums ausmacht, ist nicht sein Inhalt, sondern der »Formalismus des Rechts«, der vom »eigentümlichen Inhalt« (357) oder vom »reichere[n] und mächtigere[n] Dasein des Individuums als eines solchen« (356) abstrahiert. In dieser »abstrakte[n] Allgemeinheit« ist »der wirkliche Inhalt« nicht »enthalten und geht sie nichts an«; der Inhalt bleibt für »das Formal-Allgemeine« (357) des Eigentums zufällig. Die Rechtsperson ist vielmehr das Prinzip der Abstraktion oder der Entleerung des Inhalts, eine Einheit, die diese Entleerung vollzieht. »Dies leere Eins«, »das reine leere Eins« (356; Herv. i.O.) oder die »leere Einzelheit« (357) ist die Rechtsperson. Sie ist grundsätzlich ein durchaus »negativer« Begriff, der nur seine Negativität selbst affirmiert, wie Hegel später in seiner Rechtsphilosophie verdeutlichen wird.
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Dieser negativistische Zug der Subjektivität, der sich in der Rechtsperson verkörpert, die alle – einschließlich der sittlichen – Verbindlichkeit zwischen ihr und dem Inhalt ihres Eigentums entwertet, ist die Konsequenz der Ableitung des Rechtszustands aus dem Naturzustand als dem Nichts des Gesellschaftszustands, jenem Naturzustand, der einen völlig neuen Ausgangspunkt für die Konstitution der (neuen) Subjektivität anbieten soll, nachdem die substanzielle Einheit der sittlichen Welt zusammengebrochen ist. Demzufolge tritt die Subjektivität im Vakuum der Substanzialität auf. Die Subjektivität im Rechtszustand ist ohne Inhalt; sie ist eine Form ohne »Erfüllung« (356; Herv. i.O.); in ihr manifestiert sich die Abstraktion der Substanz; sie ist ohne die notwendige Verbindung mit der Substanzialität; sie ist ohne substanzielle Grundlage. Das Supplement dieser verlorengegangenen Substanzialität ist der Naturzustand, von dessen Scheinobjektivität aus die Subjektivität der Rechtsperson ihre Grundlage erhalten will. 3.1.7 Subjektivität und Herrschaft im Rechtszustand Diesen Verlust der Substanzialität in der Subjektivität der Rechtsperson will diese Subjektivität durch die Verstärkung, ja durch die Verabsolutierung ihrer selbst ausgleichen. Aus dieser Verabsolutierung ergibt sich aber eine unerwartete Konsequenz: ein rechtliches Herrschaftssystem als das erste Herrschaftssystem überhaupt. Im Rechtszustand sind die Personen, wie gesagt (3.1.4), in der allgemeinen Ordnung des verfeindeten Anerkanntseins einander entfremdet. Sie sind aber nicht nur einander fremd, sondern sie sind entfremdet gegenüber dem Rechtssystem selbst, das die allgemeine Anerkennungsordnung sichern soll: Die in sich völlig zurückgezogenen Personen können nur »gesammelt« werden (ebd.) durch die fremde Systemordnung, die einen »Macht«-Apparat darstellt, der seinerseits wiederum zur Verabsolutierung, zur Verselbständigung gelangt und der sich damit selbst personifiziert. Die selbständige Rechtsinstanz wird selbst zu einer »Person« (357, 358) verdichtet, zu einer einzigen Person als »Herr[n] der Welt« (ebd.), dem sich alle anderen Personen als »Untertanen« (358) unterwerfen müssen. Diese verselbständigte und personifizierte Institution der allgemeinen Rechtsordnung wird als die höchste Instanz angenommen, über der »kein höherer Geist existiert« (357 f.) und die »sich als den wirklichen Gott weiß« (358).18
18 Diese Stelle erinnert nicht zufällig sehr stark an die Hobbes’sche Bestimmung des Souveräns als einer einzigen Person und als des »sterblichen Gottes« (Leviathan). Aus meiner Sicht kann dieser Abschnitt des ersten Geistkapitels (»c. Der Rechtszustand«) gelesen werden als die kritische Darstellung des Gesellschaftszustands, der nach Hobbes’scher Art vom Naturzustand abgeleitet oder konstruiert wird. Dagegen kann man
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Diese in einem höchsten Maße subjektivierte, also souverän gewordene rechtssystematische Instanz gilt aber als eine ›objektive‹ Wirklichkeit, »welche allen gegenüber[tritt]« (ebd.; Herv. i.O.): Die Verabsolutierung der Subjektivität der Rechtsperson schlägt in eine ebenso verabsolutierte Objektivität des Rechtssystems um. Dieser Umschlag ist ja eine Selbstverstrickung der Subjektivität der Rechtsperson im eigenen Netz. Wenn man sie aber in einem breiteren Kontext der Modernitätsproblematik in den Blick nimmt, ist dieses Souveränwerden der rechtssystematischen Instanz eine ferne Konsequenz der Bruch-These der Moderne, also die Konsequenz der Zuspitzung der Subjektivität durch die Entleerung der Substanzialität. Sie ist nämlich die Konsequenz der These, dass die Moderne in die Geschichte eingebrochen sei, dass sie sie unterbrochen habe, dass die Moderne von der Entleerung der Substanz, von der Reinigung der ›Tradition‹, von dem dabei entstandenen vakanten Raum ausgehen müsse, dass sie aus einem reinen Zustand ohne tradierte, ›sittliche‹ Zusätze, dass sie aus einem entblößten, ja einem nackten Zustand des Menschen, aus dem Naturzustand, ihre normative Grundlage schöpfen müsse. Der Naturzustand ist aber ein negatives Spiegelbild, in dem die Subjektivität ihr positives Gesicht reflektieren will; er ist ein Grenzbegriff, durch den hindurch sie erst konstruiert werden konnte. Zwischen eine vor-moderne und die moderne Welt eingefügt, funktioniert der Naturzustand als eine Scharnierstelle, durch die hindurch die eine Welt geschlossen und die andere geöffnet werden soll; er wird gleichsam als eine tabula rasa angenommen, auf der die obsolete Kryptographie der alten Welt verwischt und das neue Alphabet der Moderne geschaffen werden muss. 19 Der Naturzustand ist also weder eine geschichtliche noch eine objektive Tatsache, sondern eine Rückprojektion der leeren Subjektivität auf ihre nie dagewesene Vergangenheit, ihre Erzeugung nämlich, die ihre
einen Einwand erheben: Es sei in der Hegel-Forschung ein Gemeinplatz, dass Hegels Darstellung des Rechtszustands in der PhäG seiner Beschreibung des römischen Reichs (insbesondere der Kaiserzeit) in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 12, 3. Teil) entspricht. Aber es geht im Geistkapitel der PhäG hauptsächlich nicht um die Darstellung der welthistorischen Phasen, sondern um die des geschichtsphilosophisch-strukturellen Übergangs zur Moderne bzw. deren Strukturwandels. Die historiographische Frage, ob der Abschnitt der Hobbes’schen Staatskonstruktion oder dem römischen Reich entspricht, ist dabei von untergeordneter Bedeutung. Wichtiger ist die strukturelle Frage, wie es zum Rechtszustand als der vermeintlich ersten Gestalt der modernen Welt gekommen ist. 19 Vgl. Siep, »Kampf um Anerkennung«, S. 160, 172, und 175 ff.
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reine subjektive Grundlosigkeit zu verbergen oder zu kompensieren versucht, indem sie den Anschein erzeugt, ihre rechtliche Grundlage sei aus dem vermeintlichen objektiven Naturzustand abgeleitet worden; die Subjektivität will dabei auf die Scheinobjektivität des Naturzustands gründen; auf diesem beruht die systematische Objektivität des Rechtszustands, worin zwar das Subjekt glaubt, seine Grundlage gesichert zu haben, durch die es aber in Wahrheit seine Hypersubjektivität verraten hat, indem es durch die Ableitung des Rechtszustands hindurch letzten Endes zu einer neuen Figur der Souveränität gelangt ist: zur Figur des »Herr[en] der Welt«, der kurioserweise die Ultraobjektivität einer rechtlichen Herrschaftsordnung repräsentiert.
3.2 S PRACHE , K UNST UND S UBJEKTIVITÄT : V OM V OLK ZUM D EMOS 3.2.1 Äußerliche Subjektivität Hegels Darstellung der Entstehung der modernen Welt im Geistkapitel der PhäG kann auf diese Weise durchaus von der Bruchthese her charakterisiert werden. Sie erscheint aber zugleich als eine kritische gegenüber dieser These, wenn man im Auge behält, dass die jeweilige Darstellung der Gestalt des Geistes in der PhäG in der jeweils nächsten Darstellung höherstufig aufgehoben wird: Die Perspektive, die im Geistkapitel die Darstellung jenes Übergangs leitet, 20 erweist sich als unvollkommen oder irrtümlich – unvollkommen oder irrtümlich aber im Licht der späteren Perspektive, also der Perspektive der Darstellung im Religionskapitel. Ein wesentlicher Unterschied dieser letzteren Perspektive zu jener ersteren besteht darin, dass sie die Substanzialität wesentlich als eine besondere Form der Subjektivität darstellt. Dies bedeutet aber nicht einfach, dass die noch nicht moderne Form der Subjektivität sich nur als Substanzialität zu verwirklichen wusste und eine sich selbst noch nicht bewusste Subjektivität war, wohingegen die mo-
20 Diese Perspektive liegt nach Hegel in Glaube und Wissen der Kantʼschen, Fichte’schen und Jacobi’schen ›Subjektsphilosophie‹ zugrunde, die die Konstellation von Subjekt und Substanz nur in einem Gegensatz-Verhältnis konzipieren kann, indem sie die Substanz der Sphäre des bloßen Glaubens anheimgibt und die das Wissen oder Denken nur auf den Bereich des Phänomenalen beschränkt. Hegels Unterfangen besteht dagegen in einer philosophischen Aufhebung dieses Gegensatzes zwischen dem Subjekt und der Substanz. Dazu vgl. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, S. 83-101.
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derne Form in einer Selbstfindung dieser Subjektivität besteht. Dies ist gerade die Auffassung, über welche Hegels phänomenologische Darstellung hinausgehen wollte – dass Subjektivität eine Entität sei, die zwar von Anfang an da gewesen sei, die sich aber selbst bis jetzt nicht und erst jetzt gefunden habe. Diese Auffassung ist, mit Hegel gesprochen, nicht spekulativ. Das Subjekt wird nämlich einer immanent-dialektischen Auffassung zufolge nicht dann präsent, wenn das Subjekt die Substanz als es selbst darstellt – sondern erst dann, wenn die Substanz sich als Subjekt darstellt. Die Selbstdarstellung oder Selbstäußerung des Subjekts folgt einer Zeitlichkeit, in der sich seine Präsenz genau in dem Maße bestätigen lässt, wie es sich ausdrückt und ausspricht.21 Die Subjektivität besteht nach Hegel in ihrer Äußerlichkeit. In dieser Hinsicht spielt in der Darstellung im Religionskapitel über die Konstitution der (modernen) Subjektivität ein darstellungstheoretischer Ansatz die zentrale Rolle: Die »sittliche« Form der Subjektivität stellt sich selbst als die Substanzialität vor. Anders gesagt besteht sie in der Vorstellung ihrer selbst als Substanzialität. In der Selbstvorstellung als Substanzialität und nur darin vervollständigt sich diese Form der Subjektivität. Sie existiert im Re-Präsentieren ihrer selbst als Substanzialität. Dagegen besteht die moderne Subjektivität darin, dass sie sich für sich nicht mehr re-präsentiert, sich also nicht mehr vorstellt, sondern dass sie sich als Subjektivität präsentiert oder präsent macht. Sie besteht darin, sagt Hegel, dass sie »aus der Form der Substanz in die des Subjekts getreten« ist (545).22 In dieser Weise verschiebt sich der Gegensatz zwischen Substanzialität und Subjektivität im Geistkapitel zu dem zwischen vor-moderner und moderner Subjektivität im Religionskapitel. Und aus diesem Gesichtspunkt heraus ist noch ein begrifflicher Ansatz hervorzuheben, der sich im Begriffspaar Wirklichkeit-Potenzialität artikuliert: Die Selbstrepräsentation der vormodernen Subjektivität als Substanzialität ist unmittelbar. Sie erkennt sich als diese unmittelbar. Das bedeutet, dass sie als sie existiert. Denn hier sind die epistemologische und die ontologische Dimension undifferenziert. Diese Undifferenziertheit ist gerade die Grundlage der »sittlichen« Form der Subjektivität. Die Substanzialität ist die wirkliche Existenzform dieser
21 »Die Kraft des Geistes ist nur so groß als ihre Äußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verlieren getraut«. (PhäG 18) »[D]as ganz an die Oberfläche herausgetretene Offenbare ist eben darin das Tiefste«. (PhäG 554; Herv. i.O.) 22 Der Unterschied zwischen der Repräsentation und der Präsentation in meiner Erläuterung entspricht dem, was Hegel im ganzen Religionskapitel den Gegensatz zwischen der »Vorstellung« und dem »Denken« oder »Begreifen« nennt.
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Subjektivität. Diese verwirklicht sich in der Form der Substanzialität. Die Form der Substanzialität macht die Wirklichkeit der Subjektivität aus. Dagegen unterbricht die moderne Subjektivität in der Selbstpräsenz die repräsentative Form der sittlichen Subjektivität, also die Form der Substanzialität. Sie erhält dabei ihre Wirklichkeit erst, indem sie diese Form der Substanzialität entwirklicht und in dieser Entwirklichung, im Akt der Entwirklichung wirklich ist. Diese Entwirklichung bedeutet in der Darstellung im Religionskapitel – und das ist der entscheidende Unterschied zur Darstellung im Geisteskapitel –, dass die Wirklichkeit der Substanzialität in der Selbstpräsentation der Subjektivität in ihrer Potenzialisierung aufgefasst wird: Die Substanzialität selbst geht in der (modernen) Subjektivität nicht einfach verloren, sondern ihre Wirklichkeit bleibt erhalten in dem Modus der Potenzialität, die nichts anderes als die Wirklichkeit der Subjektivität ausmacht – Wirklichkeit, die im Selbstdarstellungsakt des Subjekts besteht. Das Subjektsein bedeutet also, dass seine Wirklichkeit in seiner Potenz besteht und dass sich die Potenz des Subjekts nur in ihrer wirklichen »Äußerung« (18) bestätigen lässt. Das, was dort verloren geht, ist die Form der Substanzialität, die die Wirklichkeit der vor-modernen Subjektivität ausmachte. Die Subjektivität ist damit – ich zitiere noch einmal den zentralen Satz, aber mit modifizierter Betonung – »aus der Form der Substanz in die des Subjekts getreten« (545).23 Vor dem Hintergrund dieser beiden Ansätze – der darstellungstheoretischen Verdopplung der sittlichen und der modernen Subjektivität bzw. der Wirklichkeit und der Potenzialität – rückt schließlich noch ein anderes Element in den Vordergrund der Darstellung, das nach Hegel jene Verdopplung am besten verkörpern kann: die Sprache. Die Sprache ist nach Hegel das Präsentations- und Daseinsmedium des Geistes par excellence. Denn in der Sprache sind die Materialität und die Idealität, die Wirklichkeit und die Innerlichkeit, die Dinghaftigkeit und die Spiritualität, die Einzelheit und die Allgemeinheit, die Form und der Inhalt, die Geistigkeit und die Gegenständlichkeit, das An-sich-Sein und das Für-sich-Sein, das Selbstsein und das Anderssein und schließlich das Für-sichSein und das Für-andere-Sein unmittelbar zusammengebunden. Die Sprache ist also nicht bloß das Ausdrucks- oder Äußerungsmittel dessen, was bedeutungsvoll im ›Inneren‹ zurückgezogen bleibt, sondern das wesentliche Medium, in dem erst der Geist seine Geistigkeit unmittelbar erkennt, oder das Medium, das das Selbst ist. Hegel versteht im Einsatz der Sprache diese als eine Tätigkeit oder Handlung, die unmittelbar an ihr die Wirklichkeit vermittelt (und die sich in ih-
23 Ähnlich liest Rüdiger Bubner diesen Satz so, dass der Prozess des Subjektwerdens der Substanz »without any loss of substanziality« vorgeht (Bubner, »The ›Religion of Art‹«, S. 305).
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rer Einzelheit unmittelbar verallgemeinert). Die Sprache ist eine Sprachtätigkeit oder die Sprechhandlung, wenn sie den Geist oder das Subjekt, oder genauer: wenn sie sich als Geist oder Subjekt zum Ausdruck bringen muss.24
24 Zum-Ausdruck-bringen oder Ausdrücken ist in der Subjekt-Werdung der Substanz ein wesentliches Moment, das nicht mehr aus der dichotomischen Innen-AußenPerspektive gedacht werden kann, sodass es nicht mehr der Fall ist, dass etwas Äußerliches etwas Innerliches wahrnehmbar macht, das von dem Ersteren getrennt zurückbleibt: »Es kommt […] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken«. (PhäG 23; Hervorh. modifiziert.) Die Sprache oder die Sprachtätigkeit als (das Moment von) Handlung des Subjekts, das damit wirklich ist und ›objektlos‹ zu sich erst gekommen ist, kommt bei Hegel wiederholt vor, um über den status quo des Geistes hinauszugelangen – schon zweimal im Geistkapitel der PhäG: 1) Der »sich entfremdete Geist« hebt sich über sich selbst empor, indem er über seinen »zerrissenen« Zustand spricht: »Die Sprache der Zerrissenheit aber ist die vollkommene Sprache und der wahre existierende Geist dieser ganzen Welt der Bildung[: Welt einer allgemeinen Entfremdung]«. (384) 2) Der »seiner selbst gewisse Geist« ist insofern wirklich, als der »Inhalt der Sprache [Hervorh. von mir] des Gewissens [nichts anderes als] das sich als Wesen wissende Selbst [ist]« (479; Herv. i.O.) – als es nämlich zur sowohl individuellen wie allgemeinen Wirklichkeit des Selbst kommt, indem die Sprache die »Versicherung versichert« (480). Diese doppelte Versicherung durch die Sprache ist aber nicht ein Rückzug in die reflexive und innere Meta-Ebene, sondern umgekehrt erhält der Geist des Gewissens oder der Gewissheit durch diese sprachliche Versicherung erst seine Wirklichkeit. Die Sprache wird dagegen im Sittlichkeitskapitel, das den »wahren Geist« behandelt, nicht thematisiert. An dieser Stelle scheint Hegels Sprachphilosophie einer der wichtigsten Sprachphilosophien der Gegenwart ganz nah zu sein: der Sprachphilosophie von Benjamin. An einer Stelle, wo dieser über Sprache diskutiert, heißt es: »Die Sprache ist ihrem mitteilenden Wesen, ihrer Universalität nach, da unvollkommen, wo das geistige Wesen, das aus ihr spricht, nicht in seiner ganzen Struktur sprachliches, das heißt mitteilbares ist. Der Mensch allein hat die nach Universalität und Intensität vollkommene Sprache« (Walter Benjamin, »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, S. 71; Herv. i.O.). In dieser Hinsicht hat Giorgio Agamben unrecht, wenn er Hegels Sprachkonzeption so versteht, dass die Sprache ähnlich wie das Recht und die Politik, die er unter der Souveränitätstheorie analysiert, insofern eine »voraussetzende Struktur« habe, als sie wie »der Souverän« und »als reine Potenz der Bezeichnung« erst das »Sprachliche vom Nichtsprachlichen[: dem durch Sprache Bezeichneten; D. J]« teile, »indem sie[: die Sprache] sich aus jedem konkreten Redevollzug zurückzieht«, und dass sie in dieser Struktur das »Band der
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Durch die Sprache als eine Handlung bildet sich und dynamisiert sich die Konstellation zwischen Handeln, (Schau-)Spielen, Zuhören und Zuschauen als den wesentlichen Momenten in der Konstitution der Subjektivität. Durch die wesentlich sprachliche Erfahrung verwandelt sich die »sittliche« in die moderne Subjektivität. Im Folgenden werde ich insbesondere durch die Lektüre des dritten Abschnitts des zweiten Religionskapitels (»c. Das geistige Kunstwerk«), in dem sich diese genetische Dynamik prozesshaft darstellt, diese Verwandlung rekonstruieren; dabei folge ich der Hegelʼschen Darstellung, in der das Epos, die Tragödie und die Komödie einen stufenweisen Übergang ausmachen. Diese drei Arten des sprachlichen Werkes des Geistes sind es, die die sittliche Welt sowohl prägen als auch verändern. Und am Ende dieses Übergangs stellt sich das Demos als die (erste) Figur der modernen Subjektivität heraus. 3.2.2 Die epische Sprache: Monumentalisierung der Welt Jeder handelnde Bürger der sittlichen Welt ist ein Held, der ohne Zweifel, Zögern und Schwanken nach seinem sittlichen »Charakter« handelt; er braucht keine Sprache, die seine Absicht, seinen Willen und Charakter zum Ausdruck bringt; denn solche Sprache wäre eine Redundanz, gleichsam eine Tautologie, weil sein Sprechakt mit seinem Akt deckungsgleich wäre. Anders ausgedrückt: »Die Sprache des sittlichen Geistes ist das Gesetz und der einfache Befehl und die Klage, die mehr eine Träne über die Notwendigkeit ist«. (479) Die Sprache als ein Reflexionsmedium fehlt dem sittlichen Geist, dem Handelnden, der nach der sittlich-episch-mythologischen Ordnung handelt. Der »sittliche« Bürger ist in dieser Hinsicht der Handelnde, der keiner Sprache bedarf. Er ist ein schweigsamer Handelnder. 25 Die Sprache braucht man aber aus einem ganz anderen Grund: Die Sprache ist zur Selbstäußerung dessen, der handelt, nicht nötig, sondern zur Rettung der Welt selbst, in der die Bürger handeln – der Welt, der ein Verschwinden im stummen Vergessen droht. Die Sprache rettet sie in ein ewig-
einschließenden Ausschließung [formuliert], dem ein Ding[: ein sprachlich Bezeichnetes] aufgrund der Tatsache, in der Sprache zu sein, genannt zu werden, unterworfen ist« (Agamben, Homo Sacer, S. 31). Die Sprache nach Hegel hat eine solche Stellung der »reine[n] Potenz« oder des Rückzugs »aus jedem konkreten Redevollzug« nicht. Vielmehr ist sie im konkreten Redevollzug, im einzelnen Aussprechen zugleich die allgemeine Wirklichkeit des Geistes, dessen vollkommene(s) Reflexion(smedium) in sich, die Subjektivität in ihrer restlosen, restlos äußerlichen Präsentation. 25 »In der erzählerischen Dichtung ist das Schweigen die Regel«. (Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 83)
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schönes Bild: Eine bildliche Sprache vervollständigt, verherrlicht, vergöttlicht sie. Und die Art und Weise, diese Welt sprachlich zu vervollständigen, ist das vergegenwärtigende Vorstellen vergangener Handlungen und dadurch das Errichten eines sprachlichen Denkmals für sie, in dem sie verewigt werden. Diese Sprache ist grundsätzlich die der »Erinnerung« (531). Und das Epos ist die Form der Sprache, die Kunstsprache dieser sprachlichen Erinnerung. Die epische Sprache ist aber nicht bloß ein widerspiegelndes Medium der stummen Wirklichkeit, sondern sie selbst schafft durch sich eine Wirklichkeit, die durch diese Sprache vereinheitlicht wird. Diese Wirklichkeit der Einheit ist die Einheit des Volkes, ein »Volksgeist«, »eine Nation« (529; Herv. i.O.). Die epische Sprache schafft ein Volk, sie ist eine »Versammlung« (530) des Volkes überhaupt – und nicht umgekehrt.26 Im Epos ist das »Gesamtvolk« (ebd.) erst dadurch geschaffen, dass das Bild »erzeugt« (531) wird, in dem dieses Volk erst angeschaut wird als die »erste Gemeinschaftlichkeit« (530) überhaupt, als die erste Einheit der Welt überhaupt, »als allgemeine […] Menschlichkeit« (529; Herv. i.O.). Das Epos ist »die erste Sprache« (531). Dem epischen »Gesang« (ebd.) zuzuhören, bedeutet die Bildung des sittlichen Bewusstseins, die Erziehung des sittlichen Bürgers, der sich nach dem ewig schönen Handlungsvorbild in einem Volk richtet. Die gesungene Sprache des epischen Vorbildes bezieht die Zuhörer direkt in die »allgemeine« (ebd.) Handlungsordnung dieser Welt hinein; zwischen dem Hören der epischen Sprache und dem Handeln danach gibt es keine Distanz. Die Zuhörer der epischen Sprache sind zugleich die Handelnden, die einerseits nach dem wesentlich vergangenen und als vergangen vergegenwärtigten (Vor-)Bild handeln und andererseits in der Selbsteinschreibung in dieses Vergangenheitsbild erst ihre vollständige ›Subjektivierung‹ finden. In der sittlich-epischen Welt stellen die Bürger sich ihre ›Subjektivität‹ in einer kristallisierten Welt-Sprache vor. Die sittlich-epische Welt ist wesentlich eine Welt der Vergangenheit, eine vergangene Welt, die sich in der epischen Sprache vergegenwärtigt. Das Handeln vollzieht sich nach der Ordnung, die sich durch die sittlich-epische Sprache schafft; das ›subjektive‹ Handeln »stört« zwar »die Ruhe der Substanz und erregt das Wesen« (ebd.), aber es stört oder verletzt nicht die sittlich-epische Weltordnung selbst, sondern
26 »Die Homerische Poesie gehört der Zeit an, da das hellenische Volk sich entscheidet, da es sich aus der allgemeinen Menschheit als Volk herausschneidet […]. Die Menschheit sammelt sich vor Troja und die Ilias kennt noch nicht den Unterschied zwischen Hellenen und Barbaren. In Homer ist der entschiedene Übergang zum Okzidentalismus mit gänzlicher Überwindung des Orientalischen.« (Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Philosophie der Offenbarung 1841/42, S. 233; Herv. i.O.)
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schafft vielmehr eine »mannigfaltige Welt« (ebd.), in der sich eine eher »komische« Verdopplung der »ewigen Natur« (533) der Götter durch die Mannigfaltigkeit abspielt, die die episch-sittliche Welt verlebendigt. Da gibt es kein Handeln, das die Ordnung der sittlichen Welt selbst stört und verletzt. Es gibt noch kein Handeln überhaupt. Ein ›Handeln‹ innerhalb dieser Ordnung ist vielmehr nur eine »synthetische Verknüpfung« (531), eine »Vermischung« (532), eine Verdopplung der Einfachheit und der Mannigfaltigkeit, des Göttlichen und des Menschlichen – eine Verdopplung, die die »Handlung überflüssigerweise von der einen Seite zur anderen herüberwirft« (ebd.), ein »lächerlicher Überfluß« (ebd.). Dieses ›Handeln‹ vollzieht sich, so Hegel, in der Vorstellung, die die Einfachheit und die Mannigfaltigkeit, das Göttliche und das Menschliche, das Wesen und die Wirklichkeit zwar in ihrem wechselseitigen Hin- und Herübergehen, aber in einer Ebene repräsentiert, die keine Teilung erfahren hat. In diesem ›Handeln‹ sind die handelnden Helden zwar »einzelne Menschen […] aber nur vorgestellte und dadurch zugleich allgemeine« (531; Herv. i.O.). Ein Handeln, das in der epischen Vorstellung repräsentiert ist, ist noch keines. Und derjenige, der so handelt, ist noch kein Handelnder. Es wird zwar gegenwärtig ›gehandelt‹, aber in der vorstellenden »Erinnerung« des »vorhin« gegenwärtig Gewesenen (531). Eine episch repräsentierende Sprache schließt in ihrer geschlossenen Gegenwart die Präsentation des Handelns aus, die eine offene Gegenwart fordert, in der erst die Subjektivität als solche zum Zuge kommen könnte. 3.2.3 Dreifache Identität des Bürgers: Handelnder, Schauspieler und Zuschauer Wer in der episch repräsentierenden Sprache spricht, bleibt anonym und unsichtbar. Es ist gleichsam niemand, der die epische Sprache spricht. Selbst der epische »Sänger« (531, 534) ist nur das Mittel dieser Sprache, das Sprachrohr, das das »in seinem Inhalt verschwindende Organ« (531) ist. Hier spricht die Sprache selber oder die Welt selber dieser Sprache in ihrer unmittelbaren Identität mit sich: Diese Sprache ist selbständig. Und sie selbst beherrscht die Handlungs- und Subjektivierungsordnung der Bürger: Sie ist substanziell. Die Subjektivität dieser Welt unterwirft sich der Substanzialität dieser Sprache. Sie ist eine substanzielle, eine in der epischen Bildlichkeit kristallisierte Subjektivität. Diese Sprache selbst (re-)produziert die mythologische Ordnung der sittlichen Welt, indem sie anonym spricht, substanziell ausgesprochen wird.27
27 Zur Vorführungsweise des epischen Sängers, der sich hinter dem Vorhang dem Blick des Zuhörers eher entziehen sollte, und zu ihrem Effekt der Unpersönlichkeit vgl. Jo-
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Wodurch kann aber diese totale Ordnung der sprachlichen Substanzialisierung gespalten werden – und damit die Subjektivität als solche zum Zuge kommen? Das ist möglich auch durch die Sprache selber. Aber das Gesprochene bleibt dasselbe – es ist nämlich nicht die Erzeugung irgendwelcher neuen Inhalte der Sprache, sondern die Veränderung der Art und Weise des Sprechens, die diese Spaltung mit sich bringt: Die episch-mythologische Welt- und Handlungsordnung wird dadurch gebrochen, dass die Sprache dem Handelnden selbst zugesprochen wird, dass das Sprechen selbst zur Handlung wird. Die ›dramatische‹ Sprache, in der der Handelnde »selbst der Sprechende« sei (534), ist es, die der epischen Konstellation von Substanzialität und Subjektivität einen schweren Schlag versetzt. Im dramatischen Sprechen handelt der Sprechende selbst und darin spricht der Handelnde selbst.28 Diejenigen, die auf diese Weise sprechen, sind die, die »ihr Recht und ihren Zweck, die Macht und den Willen ihrer Bestimmtheit wissen und zu sagen wissen« (ebd.; Herv. i.O.). Und eine tragische Dimension ergibt sich notwendigerweise daraus, dass die Sprache, die der Handelnde spricht, noch die epische ist, dass der ›dramatisch‹ Handelnde die epische Sprache sich aneignet: Die episch-sittliche Sprache beeinflusst zwar noch auf den Handelnden dadurch, dass sie ihn im distanzlosen Wirken in den Bann der sittlichen Unmittelbarkeit bringt. Aber dadurch, dass er zugleich diese Sprache selbst spricht, wird die Festigkeit der epischen Sprache und der daran gebundenen Ordnung der schönen Sittlichkeit gespalten. In diesem Selbst-Sprechen, in diesem Sprechakt, der die Handlung erst zur Handlung macht, also singularisiert, in dieser aussprechenden Wiederholung der epischen Sprache entzweit sich das Bewusstsein des Handelnden: In der tragischen Sprache befinden sich zwei Sprachen und zwei Stimmen in ihrer Verdopplung. Der Handelnde nimmt also die Stimme der episch-mythologischen Sprache wahr, die ihm zwar fremd, ihn aber unentzweit oder – wie Nietzsche später sagt – unwillkürlich zum Handeln bringt, und zugleich seine eigene, die diese Sprache in sich wiederholt und damit das Handeln entzweit. Der Handelnde erfährt eine Selbstentzweiung, indem er zugleich hört und spricht, indem er persönlich spricht, die
hann Wolfgang Goethe, »Über epische und dramatische Dichtung«, S. 251; und zur epischen Erzählung als »Darstellung einer Macht-Ordnung« vgl. Hans-Ties Lehmann, Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, S. 63-65. 28 So versteht sich, dass und wie die »Differenz [des Dramas] zum Epos [...] darin [liegt], daß im Drama die Handlung als solche relevant wird«, oder, dass und wie »es im Drama auf die Handlung als Handlung ankommt« (Paetzold, Ästhetik des deutschen Idealismus, S. 376 und 377).
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Sprache an seinem Körper verortet. Diese Verortung der Sprache an dem »eigenem« (535) Körper, am eigenen »Dasein« (534; Herv. i.O.) des Handelnden ist das entscheidende Moment, durch das sich die Welt des Episch-Mythologischen entzweit und sich damit die Welt selber an ihrem Rand oder inmitten ihrer selbst verändert. Der eigene Körper, das eigenes Dasein als der Ort des Aussprechens ist ein ganz neuer und fremder Ort der Welt in der Welt, ein Ort, an dem sich die Handlung präsentiert, an dem sie sich durch eigene Sprache, durch eigenen Körper zeigt. Das eigene Aussprechen paart sich damit, dass sich der Handelnde, der wesentlich sprachlich handelt, als Gezeigtes, als Gegenstand des Zuschauens zeigt. Die Welt teilt sich damit dreigliedrig: Indem sich die episch-mythologische ›Handlung‹ durch die eigene Sprechhandlung zeigt, wird sie geschaut. Daraus nämlich, dass die Handlung sich in die objektiv-sprachlose und die ›subjektiv‹aussprechende Handlung entzweit, folgt die Zweiteilung in das Zeigen und das Zuschauen. Wer schaut der Handlung aber zu? Wer ist der Zuschauer dieser zweideutigen, zwiespältigen Handlung? Der Handelnde selbst – der aber seine Handlung (zuerst für eine Weile – diese Weile wäre aber entscheidend) unterlässt und sich zum ersten Mal die Möglichkeit gönnt, sich aus der Handlung in die Zuschauerbänke zurückzuziehen, um zuzuschauen. Dieser Zuschauer ist aber nicht derselbe, der selber als handelnder Bürger in der sittlichen Handlungsordnung die Handlungen anderer beurteilt und seinerseits aufgrund seiner Handlung beurteilt wird. Er ist also nicht ein engagierter Beurteiler, der sich ganz in der Ordnung der sittlichen Welt verliert. Er schaut vielmehr einem Vorgang zu, wie ein Handelnder, der er auch ist, unter der beginnenden Entzweiung der Welt zwischen zwei Ordnungen handelt und damit leidet. Das Leiden der sich am eigenen Körper vollziehenden Sprechhandlung und das Zuschauen beim Unterlassen der Handlung hängen miteinander zusammen. Denn die handelnden Bürger werden durch die eigene Sprechhandlung, die sich am Körper zeigt, zu den Zuschauern ihrer selbst:29 Die »allgemeine Individualisierung«, nämlich die Subjektivierung nach der sittlich-epischen Handlungsordnung, »steigt […] zur unmittelbaren Wirklichkeit des eigentlichen Daseins herunter und stellt sich eine Menge von Zuschauern dar« (536). Die Bürger sehen bei »eigenem Sprechen« (535), bei der doppelten Sprache der epischen Sprache sich selbst in der epischsittlichen Welt handeln. Dabei erfährt die sittliche Welt selbst eine Teilung: Die Welt, in der gehandelt wird, wird dadurch zugleich eine Bühne, auf der die Han-
29 Christoph Menke hat zu Recht auch darüber gesprochen, dass die Helden in der Tragödie »zu Zuschauern ihrer selbst werden« (Menke, Die Tragödie im Sittlichen, S. 101).
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delnden sich handeln sehen. Sie handeln in der Welt und auf der Bühne – auf der Bühne gegenüber sich selbst als Zuschauer ihrer selbst; sie stellen sich selbst gegenüber sich selbst zur Schau; sie sind die Schauspieler, die vor sich selbst spielen. Im Zuge dessen wird die epische Handlungsordnung durch zwei Relativierungen problematisiert, dass ihre mythologische Wirkmächtigkeit durch die Sprechhandlung verdoppelt wird und dass sie damit zur Schau gestellt wird.30 Zugleich mit dieser Problematisierung wird aber das Bewusstsein der handelnden Bürger in eine besondere Konstellation verwickelt: Sie sind zugleich die Handelnden und die Schau-Spielenden, die gegenüber den Zuschauern als NichtHandelnden die Handlung am eigenen Dasein zur Schau stellten. Sie sind die Masken, die sie selbst bei diesem Schauspielen anlegen; die Person oder der Charakter der handelnden Bürger ist ihr wahres Gesicht und zugleich ihre Maske. Ihre Handlung, die im selben Zug ihr Schau-Spiel ist, ist ernsthaft und zugleich spielerisch. Die handelnden wie die zuschauenden Bürger sind in dieser tragischen Teilung unfähig, zwischen Spiel und Wirklichkeit zu ent- und unterscheiden, beide voneinander zu trennen. Diese Unfähigkeit definiert gerade das Bewusstsein der Bürger, die im distanzlosen Vernehmen der epischen Sprache handeln wollen und die auf der Zuschauerbank bloß zusehen, ohne zu handeln: In diesem schizophrenen Zwiespalt von Spiel und Wirklichkeit trachten sie doch nach ihrer Identität, die im Insistieren auf der Einheit von Maske und Gesicht, von Handeln und Spielen besteht. In der Entzweiung zwischen dem Sprechen und dem Zuhören, zwischen dem Handeln und dem Schauspielern, zwischen der Welt und der Bühne bleibt der Bürger zwar ein und derselbe; er verwechselt aber darin sich selbst, er kann über sich selbst nicht entscheiden: Er weiß nicht, wer er ist, – ob er Handelnder oder (Schau-)Spieler ist, ob er noch in die sittliche Welt gehört oder im Ansässigwerden als Zuschauer schon im Begriff ist, aus der Ordnung dieser Welt gerade auszusteigen. Er weiß nicht, worin die Wirklichkeit und worin die Fiktion liegt, – ob die mythologisch-göttliche oder die theatralischmenschliche Dimension wirklich ist.31 Das Mitleid, das die Zuschauer für die Handelnden empfinden, gilt denjenigen, mit denen diese Zuschauer in dieser
30 Zur Tragödie als Fragestellung vgl. Vernant, »Tensions et ambiguïté dans la tragédie grecque«, S. 25-26; dieses Thema behandelt Lehmann in Theater und Mythos durch sein gesamtes Buch hindurch. 31 Der Zuschauer der Tragödie komme »von sich selbst nicht los: Der Zuschauer bleibt selbst Handelnder und daher auf das Handeln in der Tragödie bezogen« Menke, Die Gegenwart der Tragödie, S. 119).
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Entzweiung sympathisieren. 32 Zwischen Handelnden und Zuschauern herrscht diese verwirrte Identifizierung vor, die also weder Identität noch Trennung, sondern eine identifikatorische Entzweiung, eine Teilung ist. Dieses Verhältnis der Teilung besteht dann zwischen dem »Gesamtvolk« (530), das die Gesamtheit der nach sittlich-epischer Ordnung handelnden Bürger repräsentiert, und dem »gemeine[n] Volk« (535), das als die »Menge von Zuschauern« »untätig« (536) bleibt. Zwei Allgemeinheiten, zwei Arten der Gesammeltheit des Volkes sind dabei: die Gesamtheit und die Gemeinheit des Volkes. Die Sprechhandlung, die am eigenen Körper die sittliche Handlung wiederholt, vermittelt und teilt gleichzeitig die Gesamtheit und die Gemeinheit. Und durch diese Sprechhandlung, die mit der »einfachen Entzweiung des Begriffs« (536) einhergeht, wird die Welt selbst in sich geteilt: Innerhalb der Welt des Sittlichen richtet sich eine Innen-Welt ein, in der das Handeln gegenüber einem Nicht-Handeln, also dem Zuschauen, eine Suspendierung bei sich erfährt. Die tragische Sprache, die tragische Art des Sprechens und die Kunst dieses Sprechens machen erst diese Teilung, diese Entzweiung der sittlichen Welt in sich: Die episch-mythologische Ordnung der sittlichen Totalität wird durch das sprechende bzw. zuschauende Bewusstsein relativiert, während zugleich diese Relativierung in der Wiederidentifizierung durch die Verschränkung zweier Wirklichkeiten, zweier Identitäten erneut unterdrückt wird. Der Handelnde erfährt so in der Teilung in zwei Wirklichkeiten, zwei Identitäten, ja in zwei Welten sprechend diese Unterdrückung. Er erfährt diese erst, indem er selbst spricht. Und diese Erfahrung ist eine der fremden Notwendigkeit, die sich durch den Handelnden nicht einsehen lässt – eine Erfahrung des Schicksals, das erst durch
32 Hegel sagt aber an der Stelle im Hinblick auf das Mitleiden über das »zuschauende […] Bewußtsein« (536), das die Handelnden »zugleich als dasselbe mit sich selbst weiß« (535 f.; Hervorh. von mir). Hegels Feststellung der Identität zwischen dem Mitleidenden und dem Bemitleideten ist aber insofern zu stark, als in der Tat zwischen beiden kein Identitäts-, sondern ein Verhältnis der Entzweiung besteht – ein Verhältnis der Nähe, wenn man Aristoteles’ Erläuterung von zwei ›tragischen‹ Affekten, nämlich Furcht und Mitleid, im Auge behält; vgl. dazu Aristoteles, Rhetorik, 1382a, 1385b, 1386a. Zur weiteren Erläuterung des Nähe-Verhältnisses im Zuschauen der Tragödie, das durch den geschichtlich-geschichtsphilosophischen Zusammenhang geprägt ist, so wie es hier der Fall ist, vgl. den elften Abschnitt des fünften Kapitels dieser Arbeit.
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die sprechende Handlung eintritt und diese unterdrückt.33 Dem tragischen Bewusstsein schwebt immer jene Form der episch-totalitären Substanzialität vor, die in der Tragödie als die Figur des allherrschaftlichen Schicksals vorgestellt wird und die in dieser Figur die Subjektivität dieser Welt repräsentiert. 3.2.4 Die komische Sprache: Sprache als Kraft Beim tragischen Bewusstsein erscheint die Subjektivität einerseits unter der mythischen Ordnung geopfert, aber andererseits unter dem repräsentativen Regime der »Sittlichkeit« in der Form der Substanzialität als Schicksal vorgestellt. Die Veränderung des Wer des Sprechens in der Tragödie, dass nämlich die Handelnden selber über »ihr Recht und ihren Zweck, die Macht und den Willen ihrer Bestimmtheit« (534) sprechen, ist also keine hinreichende Bedingung dafür, dass die Subjektivität als solche zum Zuge kommt. Hegels Antwort auf die Frage nach dieser Bedingung ist – und das markiert der Übergang zur Sprache der Komödie – eine selbstreflexive Wendung des Was dieses Selber-Sprechens. Die Sprache bzw. die Sprechhandlung, die die Subjektivität als solche zum Ausdruck bringen kann, ist nicht die, die über das Recht, den Zweck, die Macht und den Willen der Handlung, kurzum deren Inhalt spricht. Was spricht derjenige, der in der Komödie spricht? Er spricht die Macht oder die Kraft der Sprache. Die komische Weise des Sprechens und des sprachlichen Darstellens repräsentiert nicht mehr den Handlungsinhalt, sondern präsentiert sich selbst. Der Gegenstand dieser Sprache ist nicht mehr der Vorstellungsinhalt, sondern die »Tätigkeit« (514; Herv. i.O.) der vorstellenden Sprache selbst; die Subjektivität erscheint also in dem Maße in ihrem befreiten, in ihrem selbstbewussten Zustand, wie sich die sprechende Handlung nicht mehr auf die hervorgebrachten Vorstellungen, sondern auf das Hervorbringen selbst bezieht. 34 Diese Sprache als Kraft des Hervorbringens repräsentiert nicht etwas anderes, auch nicht sich selbst, sondern
33 So wird die Sprache der Tragödie kaum gesprochen. Vielmehr bleibt sie stumm. Dazu vgl. Walter Benjamin »Schicksal und Charakter«, S. 45. Und vgl. auch Lehmann, Theater und Mythos, S. 115-133. 34 »Hervorbringen« ist also ein Schlüsselwort des Kunstreligionskapitels; dieses Wort taucht wiederholt auf, um die Stufe der »Kunstreligion« zu beschreiben; dazu vgl. PhäG, S. 502, 512, 514, 518, 545. Hegel bezeichnet die Kunstreligion als eine »künstliche Religion« (502; Herv. i.O.). Und das »Hervorbringen« als ein Schlüsselbegriff, der die Darstellung der sittlichen Welt im Religionskapitel charakterisiert, kontrastiert mit dem Begriff des »Vergessens« (der Tatsache dieses Hervorbringens), der die Darstellung derselben Welt im Geistkapitel prägt.
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macht sich selbst präsent. Sie spricht über sich selbst als diese Hervorbringungstätigkeit oder die Kraft dieser Hervorbringung – nicht mehr über die Macht der Vorstellungen, die die Handlungen regulieren, sondern über die Macht der Produktion dieser Vorstellungen selbst. Diese Sprache spricht nicht mehr über den Inhalt, sondern dessen »reine Form« oder den »Begriff« (ebd.). In dieser Sprache ist es aber nicht nur so, dass die Macht sich von den wirklichen Vorstellungsinhalten, die die Handlungen normativ lenken, zur Potenz verschiebt, die diese Inhalte hervorbringen kann, sondern diese Potenz der Sprache selbst wird die Wirklichkeit. In dieser Veränderung des Gegenstands der Sprache vollzieht sich die Formänderung der Subjektivität: Die vor-moderne Subjektivität, die in der substanzialisierten Form der episch-mythologischen Handlungsordnung repräsentiert wurde, wandelt sich zur modernen, deren Wirklichkeit in der potenzialisierten Form jener Kraft präsentiert wird, die diese Ordnung hervorbringen – und damit auch zurücknehmen kann. Aus ebendiesem Grund wirkt gegenüber den bestehenden sittlichen Gestalten die Subjektivität, die durch die komische Sprache und als diese Sprache zum Zuge kommt, negativ, zerstörerisch, ruinös, subversiv, anarchistisch. Dieses Präsentmachen – nicht mehr Repräsentieren, nicht mehr Vorstellen – der Subjektivität in der reinen Darstellung der Potenz geht mit der Möglichkeit der Entwirklichung der Handlungsordnung überhaupt einher: »[Z]ugleich ist es[: das Selbst der komischen Sprechhandlung] nicht die Leerheit des Verschwindens [der sittlichen Bestimmungen], sondern erhält sich in dieser Nichtigkeit selbst, ist bei sich und die einzige Wirklichkeit«. (544) Diese Potenz der Subjektivität, die zugleich die Wirklichkeit derselben ist, erscheint deshalb als eine »negative Kraft« (ebd.), die durch die ironische Verdopplung den Ernst aller Handlungsordnungen für die Selbstverwirklichung der Handelnden depotenziert. Hier müssen wir an einem wichtigen Zusammenhang festhalten, in dem wir die Neuigkeit der Perspektive des Religionskapitels gegenüber der des Geistkapitels feststellen können: Dem Zusammenhang, in dem Hegel die Metapher von ›Nackheit‹ gebraucht. Die Nackheit (und Bekleidung) ist nämlich im Hinblick auf die religiöse Erkenntnis des Absoluten oder die Selbsterkenntnis des Geistes in der Stufe der Religion insofern eine zentrale Metapher, als die Verbindung zwischen der Metapher der Bekleidung und dem Vorstellen als der religiösen Erkenntnisweise des Absoluten wesentlich ist. So heißt es am Anfang des Religionskapitels: »Insofern der Geist in der Religion sich ihm selbst vorstellt, ist er zwar Bewußtsein, und die in ihr eingeschlossene Wirklichkeit ist die Gestalt und das Kleid seiner Vorstellung. Der Wirklichkeit widerfährt aber in dieser Vorstellung nicht ihr vollkommenes Recht, nämlich nicht nur Kleid zu sein, sondern selbständiges freies Dasein«. (497 f.; vgl. S. 550) Das »selbständige und freie«
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Dasein des Geistes wäre nämlich ein Zustand der Entkleidetheit und der Nacktheit, in dem er sich nicht mehr »vorstellt«, sondern offenbart und begreift – in dem er also nicht mehr in der Form des substatiellen Gegenstandes, sondern des Subjekts existiert. Hegel spricht über die Nackheit zweimal, indem er am Ende des Kunstreligionskapitels über das Spiel des komischen Bewusstseins mit (der Maske) der nun hohl gewordenen sittlichen Bestimmung spricht (542, 543). Was ist aber es was durch die komische Sprache in dessen »unmittelbare[m] Dasein […]« (543), in dessen »Nacktheit« dargestellt wird und bei der Komödie als unsittlich, als skandalös, obszön, schamlos erscheint? Das ist zweierlei: Es ist erstens die bisher verdrängte, hässliche Kehrseite des Bestehenden, also die Seite des individuellen Interesses am Eigennutz, das die allgemeinen Güter der gemeinsamen Regierung bloß als Mittel seiner privaten Sicherung verwendet, die zur Zeit der attischen Komödie die aktuelle Geltung in Anspruch genommen hat und wirklich zum Zuge gekommen war. Es geht aber zweitens in der komischen Darstellung um etwas ganz Neues, was also durch die Darstellung des Religionskapitels im Unterschied zur Darstellung des Geistkapitels erschlossen wird: Was in der komischen Darstellung ›nackt‹ zum Zuge kommt, ist die Tatsache, dass überhaupt etwas hervorgebracht worden ist, der Umstand also, dass diese Handlung(skraft) der Hervorbringung selbst der einzige Darstellungsgegenstand der sprachlichen Darstellung sein sollte. Das bedeutet, dass die komische Sprache damit sich selbst spricht und darstellt, ihr Selbst, ihre nackte »Kraft«, die Kraft des Sprechens selbst, die sowohl setzend35 wie auch – daran zugleich – aussetzend ist. Was gesprochen und gezeigt wird, ist nun das, was »als diese ab-
35 In Hegels Theorie des komischen Selbstbewusstseins geht es um die »Bewährung der thetischen Kraft noch in der Aufhebung des substantiellen Selbst« (Hamacher, »(Das Ende der Kunst mit der Maske)«, S. 134, Anmerkung 3; Hervorh. von mir). Wolfgang Heise, der das »materialistische« Moment des Komischen bei Hegel zu entwickeln versucht hat, sieht eine »überragende Funktion« des Komischen in der »Entlarvung der fremden Macht über den Menschen als besiegbares Menschenprodukt und [in dem] Bewußtmachen der menschlichen Kräfte, deren Durchsetzung Freiheit ermöglicht«. Er hält die »große Möglichkeit des Komischen« für den »Befreiungs- und Freiheitsimpuls, der in ihm liegt«, und die Freiheit, die sich im Komischen darstellt, für »bewußte, produktive Macht – nicht bloß Enthemmung«. Denn der Inhalt der Freiheit sei gestaltende Tat; das Komische, als dessen Erbe die »Komödie Brechtschen Typs« gilt, »provoziert [aber] die Erkenntnis der Änderbarkeit [des Bestehenden], ohne schon die Änderung zu zeigen, die ändernden Kräfte nur als Potenz gestaltend« (Heise, »Gedanken zu Hegels Konzeption des Komischen und der Komödie«, S. 20 f. und 30; Hervorh. von mir).
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solute Macht sich darstellt« (544). Die eine Nacktheit ist die der nach dem ›Tod‹ der sittlichen Substanz entblößt zum Zuge kommenden einzelnen Individuen, die die sittlichen Bestimmungen als Vorwände ihres Eigennutzes ausnutzen; die andere Nacktheit ist aber die der dargestellten Kräfte, die der Form nach den sittlichen Inhalten überhaupt zugrundeliegen sollen und die für diese sowohl konstitutiv wie destruktiv sind. Mit dem ›unmittelbaren Dasein‹ des »einzelne[n] Selbst« und seiner »negative[n] Kraft« (544; Herv. i.O.) scheint Hegel nicht bloß die erste Bedeutung der Nacktheit, Nacktheit der auf den Eigennutz orientierten Individuen, gemeint zu haben – die zweite Bedeutung der Nacktheit, Nacktheit der Darstellung der (de)potenzierenden Tätigkeit, in welcher die Verwandlung der Form der Substanz in die des Subjekts erfährt wird, ist darin, in einer komischen Nacktheit, zumindest impliziert, wenn Hegel über die Wandlung von der tragischen zur komischen Darstellungsweise sagt: »Das Selbstbewußtsein der Helden muß aus seiner Maske [als das einzelne Selbst] hervortreten, und sich darstellen, wie es sich als das Schicksal sowohl der Götter des Chors, als der absoluten Mächte selbst weiß […]. / Die Komödie hat also vorerst die Seite, daß das wirkliche Selbstbewußtsein sich als das Schicksal der Götter darstellt«. (541; Herv. i.O.)
Demnach ist eine weitere Unterscheidung zu treffen: Die Ironie des komischen Sprechens in der Darstellung der Subjektivität als solcher ist durch die Differenzierung von einer anderen Art der Ironie zu spezifizieren. Die komische Ironie ist nicht eine spöttische oder satirische. Beide sind zwar anscheinend ähnlich: In beiden Fällen verhält sich das Bewusstsein gegenüber den sittlichen Ordnungen überhaupt ironisch. Aber sie sind im Bezug auf das Selbst- und Weltverhältnis voneinander ganz verschieden: Das spöttisch-ironische Bewusstsein stößt in gewisser Affinität mit dem ›stoischen‹ Bewusstsein in einem Doppelverhalten des resignativen Rückzugs aus der Welt und der diskreten Überlegenheit gegenüber der Welt die Wirklichkeit annehmend ab, wie Hegel in der Ästhetik erläutert; es behält also eine zurückgezogene Innerlichkeit, die gegenüber der äußeren Welt in einem mal passiven, mal aktiven Missklang steht, 36 was Hegel ›prosaisch‹ nennt (Ä II, 123). Diese Innerlichkeit, die von einer mehr oder weniger expliziten Priorität des Individuums ausgeht, ist spröde, ungesellig, einsam, selbstherrlich, ver- und abgeschlossen in sich; sie ist gerade das, was Hegel konsequent kritisiert, so wie er sich gegenüber der ›kantischen‹ oder der ›romantischen‹ Subjek-
36 Zum ironischen Bewusstsein des Stoizismus vgl. Agamben, »Comedy«, S. 17-18; Berman, The Politics of Authenticity. Radical Individualism and the Emergence of Modern Society, (darin: Introduction).
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tivität deshalb kritisch verhält, weil sie – sei es moralisch oder poetisch – die Innerlichkeit des Subjekts verabsolutieren.37 Dagegen weist das komisch-ironische Bewusstsein eine Subjektivität auf, die vielmehr vor der subjektiven Verinnerlichung steht und die deshalb keinen Rückzug in die eigene Innerlichkeit, keinen (selbst-)reflexiven Innenraum kennt, weil es sich beim Komischen nicht um die Unterscheidung zwischen dem Innen und dem Außen, sondern primär um die Feststellung der Potenz als Wirklichkeit handelt, von der her diese Unterscheidung selber hervorgebracht werden könnte. Die Verinnerlichung und die Verwirklichung sind zwei Seiten oder Richtungen der Subjektivierung. Das Komische stellt eher eine Subjektivität, die der Subjektivierung transzendental vorangeht, dar. Mit dem Satirischen, dem Spöttischen, dem Lächerlichen oder gar dem Reflexiven ist das Komische nach Hegel nicht zu verwechseln; es will keineswegs das Andere bloß entwürdigen oder vernichten, sondern die Kraft des Wirklichen überhaupt, d.h. einschließlich seiner selbst zeigen. Sowohl das Andere als auch das Eigene, sowohl das Äußere als auch das Innere sind der Gegenstand der komischen (De-)Potenzierung.38
37 Tatsächlich hat Hegel die romantische Ironie, die er in der Ästhetik und der Rechtsphilosophie mit Blick auf Friedrich Schlegels Ironie-Begriff kritisiert hat, auf diese Weise ›subjektivistisch‹ missverstanden – und eine weitere Diskussion darüber erübrigt sich: Es gibt nach den Kritiken vieler Forscher an Hegels Polemik »über Hegels Verkennung als solche keinen Meinungsunterschied« (Karl Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, S. 146). Bohrer – und nicht nur er – nennt Oskar Walzel den ersten entscheidenden Kritiker Hegels: Walzel, »Methode? Ironie bei Friedrich Schlegel und bei Solger«, insbesondere S. 47 f. Mit seiner impliziten Kritik an Hegels Zurückführung des Schlegelʼschen Ironie-Begriffs auf Fichtes Subjektphilosophie hat Werner Hamacher dargestellt, wie Schlegel Fichtes Ansatz poetologisch umgesetzt hat (Hamacher, »Der ausgesetzte Satz. Friedrich Schlegels poetologische Umsetzung von Fichtes absolutem Grundsatz«). 38 An dieser Stelle ist ein zwar diskretes, aber in gewisser Hinsicht entscheidendes Einflussverhältnis bemerkenswert: der Einfluss Friedrich Schlegels auf Hegel. Karl Heinz Bohrer hat im Anschluss an Ernst Behler bemerkt, dass Schlegel »zum Katalysator in Hegels systematischem Denken geworden« sei (Bohrer, Die Kritik der Romantik, S. 143, Anmerkung 12). In diesem Zusammenhang ist ein kurzer, aber wichtiger Aufsatz zu erwähnen, nämlich »Vom ästhetischen Werte der griechischen Komödie« von Friedrich Schlegel. Dieser Aufsatz wurde gut zehn Jahre vor der PhäG geschrieben (1794). – Werner Hamacher hat darauf hingewiesen, dass Hegel möglicherweise Schlegels Aufsatz gelesen hat (dazu vgl. Hamacher, »(Das Ende der Kunst mit der
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3.2.5 Prosopon und persona: zwei Figuren der Maske am Übergang zur Moderne Hegel unterscheidet also zwischen der komischen und der spöttischen Ironie. Dementsprechend differenziert er zwischen dem Lächerlichen als einem Fremdbezug und dem Komischen als einem Selbstbezug in der Ästhetik (Ä III, 527 f., 530, 552, 569).39 Aber genauer betrachtet geht es beim Komischen, wie es Hegel
Maske)«, S. 146). In diesem Aufsatz lassen sich jene zwei Punkte feststellen, die in den letzten zwei Absätzen des gerade abgeschlossenen Abschnittes erläutert wurden: 1) Es geht der Komödie nicht mehr um die Vorstellungen, sondern um die Darstellung der Kraft zum Hervorbringen der Vorstellungen; dies sieht Schlegel in der Parekbase, in der der Chor der Komödie den Rahmen des Spiels überschreitet und mit dem Publikum direkt redet, und hält sie für einen Ausdruck des »besonnene[n] Mutwille[ns], [der] überschäumende[n] Lebensfülle« (Friedrich Schlegel, »Vom ästhetischen Werte der griechischen Komödie«, S. 30; Hegel hat seinerseits in der PhäG diesen über den Bereich der ›Kunstreligion‹ selbst und damit über die sittliche Welt überhaupt hinausgehenden Gestus als das ›Spiel mit der Maske‹ bezeichnet (vgl. S. 542). 2) Die Kraft, die durch die komische Sprache dargestellt wird, wirkt nicht bloß nach außen, sondern bezieht sich auch – und darin drückt sich die wesentliche Dimension derselben aus – auf sich selbst: »Die höchste Regsamkeit des Lebens[, die durch die Komödie dargestellt wird,] muß wirken, muß zerstören; findet sie nichts außer sich, so wendet sie sich zurück auf einen geliebten Gegenstand, auf sich selbst, ihr eigen Werk; sie verletzt dann, um zu reizen, ohne zu zerstören.« (Schlegel, »Vom ästhetischen Werte der griechischen Komödie«, S. 30) 39 Vgl. dazu auch Gasché, »Self-dissolving seriousness: on the comic in the Hegelian concept of tragedy«, S. 50 f.; Hervorzuheben ist aber, dass die Selbstbezüglichkeit in der Darstellung der Ästhetik jenes Moments des Hervorbringens entbehrt, das im Kunstreligionskapitels der PhäG als das Element angenommen ist, das für die Subjektivität, also für den Prozess des Subjektwerdens der Substanz konstitutiv ist. Die Ästhetik betont nur das Moment der Subjektivität, das darin besteht, sich der Wirklichkeit zu entheben, in der das Subjekt seinen Willen nicht auszuführen vermag, und sich in dieser Enthebung mit nichts anderem als mit eigener Selbstgenügsamkeit zu begnügen; diesen Unterschied zwischen der PhäG und der Ästhetik bei der Darstellung des Komischen bemerkt Wolfgang Heise richtig (Heise, »Gedanken zu Hegels Konzeption des Komischen und der Komödie«, S. 11); Heise hebt aber aufgrund seiner Ausrichtung auf die Konzeptionen der Klassengesellschaft bzw. der sozialen Antagonismen und auf die »Intention auf Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit« (a.a.O, S. 14) vor allem die »aggressive Seite des Komischen, die Satire« (S. 18) her-
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darstellt, überhaupt nicht um den Gegensatz zwischen der Fremdheit und der Selbstheit, zwischen dem Innen und dem Außen. Die Maske, die der komische Schauspieler anlegt, bezeichnet keineswegs die Grenze zwischen dem falschen Aussehen und dem wahren, authentischen Inneren; sie bedeutet nicht den Rückzug des komischen Bewusstseins hinter seine Maske, in seine eigene Innerlichkeit. Sie verbirgt nicht; sie verbirgt Nichts; sie hat Nichts zu verbergen. Vielmehr offenbart sie – sie offenbart aber nicht das wahre Gesicht; das, was sich durch die Maske offenbart, ist die Offenbarung selbst, die Handlung der Offenbarung. In diesem Zusammenhang scheint mir Hegels These der Entsprechung und Zuspitzung des komischen Bewusstseins in derjenigen Rechtsperson, die in einem »vollkommenen Verlust« des sittlichen Sachverhalts schließlich zum »unglücklichen Bewusstsein« wird, 40 unzutreffend zu sein. Denn das, was die Rechtsperson definiert, ist das absolute Für-sich-Sein, die absolute Innerlichkeit, die alles andere als sich selbst auszuschließen befähigt und berechtigt ist, also davon absolut abstrahieren kann: »Aber dies Selbst [der Rechtsperson] hat durch seine Leerheit den Inhalt freigelassen« (546). Die Rechtsperson besteht in der absoluten Trennung zwischen dem Innen und dem Außen, in der absoluten Sicherung ihres eigenen Innenraumes, die die Grundlage des Eigentums ausmacht. Der Eigentumsinhalt ist aber selbst zufällig; notwendig ist nur das »leere Eins der Person« (356). Im Vergleich dazu behält das komische Bewusstsein, wie erläutert, keine solche Innerlichkeit; ihm ist der Gegensatz zwischen dem Innen
vor und spricht schließlich von einem »aktiven, auf Veränderung drängenden sozial engagierten Charakter der komischen Gestaltung« (S. 17). Dies scheint aber dem zu widersprechen, was er im selben Text gesprochen hat; dazu vgl. Anm. 92. Was hier also auf dem Spiel steht, ist die Frage, wie Hegels Konzeption des Komischen und der komischen Ironie einen balancierten Mittelweg, der eine einseitige Agressivität oder Passivität der Ironie vermeidet, oder eher einen doppelten Weg, der beide Seiten bei sich hält, einschlägt. Die komische Ironie ist weder ›romantische‹ bzw. satirische Ironie, die in der Absolutsetzung des Selbst und der agressiv-vernichtenden Abwertung des Fremden besteht, noch bloß humoristische Ironie, die auf einer passiv-zurückhaltenden Distanzierung sowohl von der Welt wie auch vom Selbst beruht. Der Wirkungsumfang der komischen Ironie ist nur dann gänzlich zu ermessen, wenn sie so verstanden wird, dass sie sich umfassend auf eine Aus-Setzung sowohl des Selbst als auch der Bestimmungen der Außenwelt bezieht. 40 »Wir sehen, daß dies unglückliche Bewußtsein [als die auf die Rechtsperson folgende Figur] die Gegenseite und Vervollständigung des in sich vollkommen glücklichen, des komischen Bewußtseins ausmacht«. (PhäG, 547)
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und dem Außen überhaupt fremd. Wie Françoise Frontisi-Ducroux herausgestellt hat, unterscheiden sich die Maske und das Gesicht beim prosopon – dem griechischen Wort, das sowohl die Maske wie auch das Gesicht bedeutet – semantisch nicht; das ›wahre‹ Gesicht vermischt sich dabei mit dem, was durch andere gesehen wird; es trennt sich nicht vom Aussehen. Dagegen bildet sich bei der lateinischen persona die aus dem Begriff der Rechtsperson hervorgegangen ist, die »conception de l’homme, défini par sa singularité intérieure«41 heraus, und erst damit öffnet sich die Dimension derjenigen Problematik der innerlichen Authentizität, des theatralischen Rollenspiels und des resignierenden Rückzugs überhaupt, für die die Äußerung von Epiktetus das bekannteste Beispiel wäre.42 Zwischen prosopon und persona, zwischen dem komischen Bewusstsein und der Rechtsperson besteht eine große, fast kategoriale, ja eine geschichtsphilosophische Kluft. Das, was, wenn überhaupt, ›unter‹ dem prosopon verborgen werden kann, ist die Handlung selber, durch die etwas in dessen Artikulierung nach außen wie nach innen überhaupt erst hervorgebracht werden kann – sonst nichts. Dagegen verweist die persona nicht auf eine solche Handlung, sondern auf ein selbständiges innerliches Wesen, das sich in sich und für sich genügt und sich gegenüber dem Außen gleichgültig und distanziert verhält. Ob sich dieses innerliche Wesen gegenüber dem Außen verwüstend (wie im Abschnitt »Rechtszustand« der PhäG) oder sich-fügend (wie im Fall des Epiktet) verhält – es bleibt doch unverändert und erhält sein eigenes Wesen unversehrt.43
41 Frontisi-Ducroux, Du masque au visage. Aspects de l’identité en grèce ancienne, S. 55; Hervorh. von mir. 42 »Remember that you are like an actor in the part that the playwright wanted to assign you: brief, if it is brief; long, it is long. If he wants you to perform the part of the beggar, perform it well. Do the same for the party of a lame person, a magistrate, or an ordinary citizen. For your task is to perform well the character that has been assigned to you; to choose the character is that of another«. (Epiktetus, Epict. Ench., XVII; zitiert aus Agamben, »Comedy«, S. 141) 43 Heidegger erläutert in einem ähnlichen Zusammenhang den Unterschied zwischen dem griechischen Wort pseudos und dem (vermeintlich) entsprechenden lateinischen Wort falsum. (Heidegger, Parmenides, S. 42 ff.) Dabei ist pseudos weit davon entfernt, so etwas wie Unaufrichtigkeit, Tücke oder Hinterlist zu bedeuten; pseudos besteht vielmehr darin, dass etwas sich dadurch offenbart, dass es sich verbirgt; dagegen bedeutet falsum grundsätzlich ›Zu-Fall-Bringen‹ des Anderen. Im Wortpaar prosopon/pseudos geht es um eine Doppelfigur der Potenzialität-Wirklichkeit, die erst in der komischen Sprache als (selbst-)hervorbringende Handlung selber zum Zuge kommt; im Gegensatz dazu besteht im lateinischen Wortpaar persona/falsum ein herr-
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Diese nicht nur semantische, sondern geschichtsphilosophische und subjektivitätstheoretische Differenz zwischen prosopon und persona berücksichtigt aber Hegels These, die Rechtsperson sei die »Gegenseite und Vervollständigung« des komischen Bewusstseins, nicht. Denn diese These besagt nur, dass die Rechtsperson die entsprechende Rückseite des komischen Bewusstseins sei bzw. dass sie die Tendenz dieses Bewusstseins fortsetze. Sie supponiert zwischen dem komischen Bewusstsein und der Rechtsperson ein Verhältnis der Entsprechung und der kontinuierlichen Steigerung so, als ob die rechtspersönliche Abstraktion als die gleichzeitige Schattenseite die komische Depotenzierung radikalisieren und ins Extrem treiben würde. 3.2.6 Der Demos und die Subjektivität Das komische Bewusstsein, die der ›Subjektivierung‹ vorangeht, ist – selbst wenn dies nicht im Zentrum von Hegels Darstellung thematisiert ist – in der Gestalt des Demos zu finden. Der Demos verkörpert sich in einer »Menge« (536, 541) oder »Masse« (542), in der die ›Einzelnen‹, wie diese Bezeichnungen anzeigen, in ihrem nicht individuierten Zustand bleiben und überhaupt noch vor der Individuierung stehen. Dabei sind aber zwei Figuren des Demos zu unterscheiden, indem man die Bedeutung der ›Gemeinheit‹ (vgl. 535, 543) oder »Nacktheit« (542, 543) des Demos ausdifferenziert: (α) Die Gemeinheit des Demos kann einerseits die Pöbelhaftigkeit bedeuten, bei der es sich um die Fixierung auf den Eigennutz handelt. Diese Gemeinheit steht mit dem spöttischen Bewusstsein in einer engen Beziehung, das gegenüber dem sittlich Allgemeinen – das nun, wenn es dem »Spott« (543) ausgesetzt ist, schon entleert ist – das Natürlich-Partikulare ausmacht.44 (β) Die Gemeinheit des Demos bedeutet aber andererseits die Gemeinsamkeit, die Allgemeinheit, die Offenheit und die Öffent-
schaftlicher, ein ›imperialer‹ Zusammenhang, in dem sich ein ganz anderes Selbstund Weltverständnis um jus, jubeo, imperium, also um das Recht, den Befehl, die Herrschaft, die Hierarchie, den Rang, das Gebot und das Verbot herum herausbildet (Heidegger, a.a.O., S. 57 ff.). Eine hierzu parallele Darstellung können wir im Abschnitt »Rechtszustand« der PhäG sehen; zum Herrschaftsgebilde in der Gestalt des ›Herren der Welt‹ im Rechtszustand vgl. meine Erklärung in der ersten Hälfte dieses Kapitels. 44 Hier setzt Hegels Kritik an der »Freiheit partikularer Individuen« an, die nach seinem Verständnis mit der »in der ironischen Haltung des Künstlersubjekts zum Ausdruck kommende[n] Willkürfreiheit gegenüber allem und jedem« zusammenhängt (Juliane Rebentisch, »Hegels Missverständnis der ästhetischen Freiheit«, S. 175).
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lichkeit, in der die Potenz zur Individuierung oder zur Subjektivierung gezeigt und kommuniziert werden kann. Dieser Demos ist also der Ort, an dem über die Subjektivität selbst gesprochen werden kann. Das, was dort kommuniziert und gesprochen wird, sind nicht nur irgendwelche normativen Gehalte der ›intersubjektiven‹ Subjektivierung, sondern ist vor allem dieses Kommunizieren oder dieses Sprechen selbst als Öffnung der Sphäre, in der überhaupt erst individuiert, subjektiviert, personalisiert, normalisiert werden und in der überhaupt erst ›gehandelt‹ werden kann. Die komische Sprache, die im Demos gesprochen wird, lässt die selbstbewusste Subjektivität als solche zirkulieren, deren Darstellung weder der Ordnung der Anschauung noch der der Vorstellung noch der des Begriffs gehört.45
45 Ich stelle mir die Frage, ob man hier nicht – trotz gewisser Plötzlichkeit – eine Annäherung sehen kann zwischen der bei Hegel angedeuteten Gemeinheit und derjenige, die in Kants Überlegung zur »Zweideutigkeit« der Gemeinheit im Hinblick auf die allgemeine Mitteilbarkeit des Geschmacksurteils auftaucht, die sich weder sinnlichempirisch noch durch Begriffe, doch aber apriorisch vollziehen soll (Kant, Kritik der Urteilskraft, B 157), um die Gemeinheit des Demos richtig zu verstehen – derjenige, der wie Hegel den Sinn für ein Spiel mit der Zweideutigkeit eines Wortes hat, hat vermutlich die Doppelbedeutung des Wortes ›gemein‹ nicht übersehen können. Und diese Annäherung an Kant, dem das Thema der ästhetischen Erfahrung ein zentrales ist, wäre nicht unplausibel, wenn man den Umstand berücksichtigt, dass die Gemeinheit des Demos hier in Bezug auf die Zuschauer der Komödie als eines Gegenstandes in Frage kommt, der in den Bereich des ›Geschmacksurteils‹ fällt (und erinnere man sich auch daran, dass die Zuschauer der Tragödie auch das »gemeine Volk« (PhäG, 535) waren) und dass hier im Bereich der schauspieler- und zuschauerbezogenen dramatischen Poesie, Tragödie und Komödie, eine solche ›Wahrheits-‹ oder ›Inhaltsästhetik‹ nicht mehr gilt, die, wie Rüdiger Bubner beobachtet, in ihrer Vollendung in der ›klassischen Kunstform‹ keine ästhetische Erfahrung zulasse (Rüdiger Bubner, »Gibt es ästhetische Erfahrung bei Hegel?«). Wenn wir beachten, dass der Geschmack insofern auf einem »Gemeinsinn« (Kritik der Urteilskraft, B 156) oder »gemeinen Sinn« (B 158) als einem gemeinschaftlichen Sinn (B 157, B 160) beruht, als er das »Vermögen« ist, »die Mittelbarkeit der Gefühle, welche mit gegebener Vorstellung (ohne Vermittlung eines Begriffs) verbunden sind, a priori zu beurteilen«, dass es also beim Geschmacksurteil um die »bloße allgemeine Mitteilbarkeit seines[: des ästhetisch anschauenden Gemüts] Gefühls« (B 161), um den reflexiven Bezug auf den bloßen »Vorstellungszustand« (B 157) vor den Vorstellungsinhalten geht, und dass der Geschmack demnach »eher als die intellektuelle [Urteilskraft] den Namen eines gemeinschaftlichen Sinnes führen« (B 160) kann, dann können wir uns fragen, ob sich die
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Während die eine Perspektive des Ausgangs von der sittlichen Welt und des Übergangs zur nachsittlichen davon ausgeht, dass der pöbelhafte Demos – mit einem anderen griechischen Wort: ochlos46 – nach dem Zusammenbruch der sittlichen Welt eine angenommene Wirklichkeit ausmacht, deren partikulare Wirklichkeiten die einzelnen Naturmenschen sind, die in ihrem eigenen Interesse verschlossen bleiben, macht dieser andere Demos nach der anderen Perspektive des Übergangs eine potenzialisierte Potenzialität aus, die aus den singulären Potenzialitäten besteht, die ihrerseits nur in einer »Menge« offen existieren können. Diese Menge ist weder bloßer Stoff, dem die ›subjektive‹ Form erst gegeben werden müsste, noch schlafende Möglichkeit, die ihre Verwirklichung erwartete, sondern sie ist die Gestalt, in der die Subjektivität selbst gesprochen und darin kommuniziert wird, die gerade in diesem Sprechen und in diesem Kommunizieren ihre ›Wirklichkeit‹ erhält. Auf der Grundlage dieser Ausdifferenzierung des Demos und seiner Gemeinheit lässt sich der Unterschied zwischen den beiden Darstellungen zur Entstehung der Moderne und zwischen den beiden genealogischen Konstruktionen der modernen Subjektivität im Geistkapitel und im Religionskapitel der PhäG verschärfen: (α) In der ersten Darstellung – im Geistkapitel – ist der Demos, wie wir schon gesehen haben (3.1.3), nur als das Aggregat der Einzelmenschen im Naturzustand verstanden worden, die sich nur für ihren jeweiligen Eigennutz interessieren und ihre Kräfte zur Intrige, zum Betrug und zur Gewalt benutzen. Hier ist der Demos gedacht in seinem Naturzustand, in dem sich die sittliche Kraft und Macht des sozialen Zusammenhalts völlig aufgelöst hat; dabei ist die Substanzialität, die im sittlichen Zusammenhalt und in der Versammlung eines Volkes bestand, zersprengt worden und vollkommen verloren gegangen. Diesen leeren Raum der verwüsteten Substanzialität hat der »Rechtszustand« besetzt, dessen Gründung sich der vermeintlichen Ableitung aus dem Naturzustand ver-
Gemeinheit des Demos als Zuschauermasse der Komödie nicht mit der allgemeinen Mitteilbarkeit oder Kommunizierbarkeit jener Kraft selbst in der komischen Darstellung verbindet, die sich auf die Vorstellungsinhalte transzendental bezieht – also der Kraft, aufgrund derer diese Inhalte sowohl hervorgebracht wie auch destruiert werden kann. Zur besonderen Stellung der komischen Darstellung in der Entwicklung des Geistes in der PhäG vgl. den nächsten Abschnitt der vorliegenden Arbeit. 46 ochlos: Pöbel. Dazu vgl. Hegels Unterscheidung zwischen der Demokratie und Ochlokratie (Werke in zwanzig Bänden, Bd. 4, S. 249): Dort definiert sich die Ochlokratie durch das Defizit des Eigentums. Und die Gegenüberstellung zwischen demos und ochlos ist ein wesentlicher Punkt von Jacques Rancières politischer Philosophie (vgl. Rancière, On the Shores of Politics, S. 31 f.).
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dankt und in dem die Subjektivität in der Figur der Rechtsperson und schließlich in einer Personifikation des ganzen Rechtssystems, im »Herr der Welt«, besteht. Bei dieser krassen Ersetzung der Substanzialität durch die Subjektivität spielt aber der Demos als ochlos – das ist erst jetzt, also von einem späteren, retrospektiven Gesichtspunkt her deutlich geworden – eine vermittelnde Rolle, eine Rolle der Überbrückung von einem Regime zu einem anderen, von einem Herrschaftssystem zu einem anderen: Demos bezeichnet einen negativen Zwischenzustand, der für die Konstitution eines neuen Regimes so schnell wie möglich überwunden werden müsste; Demos fungiert hier als der negative Bezugspunkt, den aufzuheben oder zu domestizieren einen konstitutiven und legitimierenden Kern beider Regime – eines mythischen Sittlichkeitssystems und eines abstrakten Rechtssystems – ausmacht. (β) In der zweiten Darstellung – im Religionskapitel – ist Demos dagegen (wenn auch ganz in der Nähe des ochlos situiert oder gar mit diesem vermischt dargestellt47) ein genealogisches Resultat, das sich nicht aus dem Zusammenbruch des Sittlichen, sondern aus der stufenweisen Selbstverwandlung des »sittlichen« Volkes ergibt: Die Bürger, die in der Handlung nach dem identifikatorischen Hören der epischen Sprache versucht haben, ihre Welt zu vervollständigen und darin ihre Subjektivität verwirklichen zu wollen, verwandeln sich, vermittelt über das tragische Doppelgängertum von Handelndem und Zuschauendem, in solche, die in der Ausübung der komischen Sprache die episch-mythischen Vorstellungen der Welt, der Handlung und der Subjektivierung (de-)potenzieren und in der nicht-individuierten Form ihre eigene Kraft der Subjektivierung darstellen und kommunizieren. Der Demos ist das potenzialisierte Volk, das »aus der Form der Substanz in die des Subjekts getreten« ist (545). Damit ist die Transformation von der Substanzialität zur Subjektivität vollzogen worden.48
47 Vgl. Schlegel, »Vom ästhetischen Werte der griechischen Komödie«, S. 26. 48 Dass der Prozess des Subjektwerdens der Substanz, wie er im Kunstreligionskapitel dargestellt wurde, nicht einfach in den Zustand, der von den atomischen Individuen ausgeht, mündet, hat Rüdiger Bubner richtig gesehen: »The religion of art imparts to substanzial ethical life a self-relation which raw substance, to which one adheres merely through trust, was not able to construct for itself. Yet this self-relation does not in any way favor individuality in the modern sense or the articulated ›I‹ that sets itself over against substance in order to observe it or even dissolve it. It is precisely substance itself that gains a relation to itself in the mode of the aesthetic«. (Bubner, »The ›Religion of Art‹«, S. 305; Herv. i.O.) Er geht aber dahingehend zu weit, dass er darin sieht, dass die »move ›from substance to subject‹ is to be regarded as the crowning of the whole, not as something bought at the price of political division« (ebd.) und dass
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3.2.7 Subjektivität und Kunst: Hegels Konzeption der Kunstreligion In der komischen Sprache hat sich eine potenzialisierende Formänderung der Wirklichkeit der Substanz zur Wirklichkeit des Subjekts vollzogen und damit ein Prozess, zumindest eine Runde oder ein Zirkel des Prozesses des Subjektwerdens der Substanz vollendet.49 Aber dieser Prozess, durch den das Selbstwissen des »Geistes« zum ersten Mal durch das nicht mehr anschauliche bzw. nicht mehr vorstellungsmäßige 50 – aber noch nicht begriffliche – Medium zustande gekommen ist, hat sich nicht nur durch die Komödie, sondern durch eine ganze
»the universal must come to itself […] without break« (306); dies wäre weniger hegelianisch als vielmehr à la Schiller, wie er darauf hinweist: »Such had already been the judgement of Schiller and others«. (Ebd.) 49 Das komische Bewusstsein stellt zwar tatsächlich in der PhäG eine Übergangsform von der »Kunstreligion« zur »offenbaren Religion« dar, aber es hat, wie P. Ricoeur zu Recht bemerkt hat, den Charakter derjenigen Aufhebung des Vorstellungssystems der Religion überhaupt, die bei Hegel auf das absolute Wissen abzielt: »Man kann sich schon fragen, ob nicht diese Apologie der ironischen Distanzierung [der Komödie] […] über die Strategie Hegels bezüglich nicht nur der griechischen Religion, sondern der Religion überhaupt etwas mitteilt«. (Ricoeur, »La ›Vorstellung‹ dans la philosophie hégelienne«, S. 46 f.; Hervorh. von mir.) Das absolute Selbstwissen des Geistes, das nicht mehr die Form der Vorstellung, sondern die des »Denkens« oder »Begriffs« annimmt, besteht darin, dass sich der Wissensgegenstand nicht mehr von dem Wissen selbst trennt, dass das Wissen diesen Gegenstand in der Wissenstätigkeit selbst sieht; oder um den sichwissenden Geist in der Terminologie der offenbaren Religion zu definieren: Beim absoluten Wissen des Geistes geht es nicht mehr um die Offenbarungsinhalte, sondern um die Offenbarung selbst (vgl. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, § 383, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 10, S. 27 ff.; vgl. auch Žižek, Die Nacht der Welt, S. 147). Das komische Bewusstsein nimmt insofern jene Form des Nicht-Mehr-Vorstellens vorweg, die das absolute Wissen erst ausmacht, als es durch ihre Sprechweise nicht nur die Vorstellungsinhalte überhaupt suspendiert, sondern vor allem als Inhalt die Sprechhandlung selber nimmt, die der komischen Sprechweise entspricht. 50 »Dadurch, daß das einzelne Bewußtsein in der Gewißheit seiner selbst es ist, das als diese absolute Macht sich darstellt, hat diese die Form eines Vorgestellten, von dem Bewußtsein überhaupt Getrennten und ihm Fremden verloren, wie die Bildsäule, auch die lebendige schöne Körperlichkeit oder der Inhalt des Epos und die Mächte und Personen der Tragödie waren«. (544; Herv. i.O.)
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Reihe von Kunstarten, 51 von künstlerischen Weltbetrachtungsarten hindurch vollzogen. Darin ist das Verhältnis zwischen der Subjektivität und der Kunst von besonderer Art: Das Subjekt oder die Subjektivität ist nicht einfach bloß durch die Kunst, sondern dadurch eingetreten, dass die Kunst durch die »Kunstreligion« als eine Form der Religion, eine Religion der schönen Kunst, oder als eine Form, in der die Kunst und die Religion in besonderer Weise miteinander verbunden sind, sowohl zum Vorschein wie auch zum Verschwinden gekommen ist. Das Subjekt als die Form des Selbstwissens des Geistes, dessen Wirklichkeit in einem potenzialisierenden Rücktritt in den Zustand der (aus-)setzenden Kraft besteht, ist nämlich durch eine Formänderung der Kunst eingetreten, deren Dynamik Hegel mit seiner Konzeption der »Kunstreligion« artikulieren konnte52 – dadurch also, dass die Kunst sich von einer Form der sinnlichen Darstellung des Absoluten zur Form der entsinnlichten Darstellung der absoluten Kraft zur sinnlichen Hervorbringung des Absoluten verwandelt. Der Prozess, in dem der Geist »aus der Form der Substanz in die des Subjekts getreten« ist, geht mit dem der »absolute[n] Kunst« (514), mit dem des Absolutwerdens, der Selbst-Verabsolutierung bzw. Selbst-Absolvierung der Kunst einher. Das Werden des Subjekts hängt mit dem Werden der Kunst zusammen. In diesem doppelten Werden ist aber der Charakter des gewordenen Subjekts bzw. der gewordenen Kunst genau zu verstehen: Das Subjekt, das durch die Dynamik der Kunstentwicklung geworden ist, ist nicht einfach als so etwas wie ein einzelnes Subjekt, ein individuelles Subjekt anzusehen; dem Subjekt als der Form des Selbstwissens des Geistes, der sich zum ersten Mal in ihrer nicht mehr anchaulichen oder vorgestellten Gestalt darstellt, liegt vielmehr eine Subjektivität zugrunde, die nicht ›subjektiv‹ ist, die also nicht zu einem Subjekt subjektiviert feststeht. Dies, also die Auffassung der Subjektivität als einer subjektiven oder subjektivierten Gestalt, würde bedeuten – so kann man im Vorblick auf die weitere Entwicklung der PhäG sagen –, dass sich die Subjektivität wieder in das Vorstellungssystem, diesmal in die Vorstellungsweise der »offenbaren Religion« einfügt. Damit verliert die Kunst wiederum ihre ›Absolutheit‹, ihren verabsolutierten bzw. absolvierten Charakter, den sie durch die Kunstreligion hindurch erhalten hat, und wird – das ist durchaus bekannt im System der Künste der Hegelʼschen Ästhetik – eine »romantische« Kunst, eine Kunst des romantisch-christlichen Zeitalters, die der
51 Aber nicht: der Kunstgattungen. 52 Gegenüber diesem dynamischen Aspekt von Hegels Kunstreligionskonzept bleibt die Ansicht, dass Hegels Begriff der Kunstreligion entscheidend von Moritz’ und Schellings Kunstphilosophie mitgeprägt sei (Oelmüller, »Hegels Satz vom Ende der Kunst und das Problem der Philosophie der Kunst nach Hegel«, S. 92), blind.
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Religion, die nun herrschend geworden ist, untergeordnet ist und dazu dienen muss, die transzendent entschwundene Gottheit in sekundärer Weise darzustellen. Der Augenblick also, in dem sich aus dem doppelten Werden, dem Werden des Subjekts und dem Werden der Kunst, durch die Kunstreligion das Subjekt, das nicht subjektiv ist, und die Kunst, die verabsolutiert ist, ergeben haben, ist in dem Entwicklungssystem der PhäG insofern einzigartig und einmalig, als die Kunst in der weiteren Entwicklung nicht mehr in ihrer verabsolutierten Form und das Subjekt nicht mehr in seiner nicht-mehr-vorgestellten und noch-nichtbegrifflichen Form auftritt. Ein Kunst-Geist stellt sich in diesem Augenblick gleichsam als das Pendant des sich später begreifenden Geistes dar, der sich zwar in der höheren Form als der Anschauung und Vorstellung erkennt, der aber nichts anderes als das ist, was jener Kunst-Geist, der selbst weder angeschaut noch vorgestellt wird und der sich in seiner bloßen Subjektivität und in seiner absolvierten Kunstform darstellt, als ihn selbst in der Form des Begriffs darstellt, in der er selbst, der Kunst-Geist, verschwindet.53 Die Kunstreligion, wie sie Hegel konzipiert, ist vom geschichtsphilosophischen Gesichtspunkt her so doppelt, gar selbstwidersprüchlich zu akzentuieren, dass diese Doppeltheit und Selbstwidersprüchlichkeit die eigentümliche Dynamik der Kunstreligion ausmacht: Zum einen ist sie eine Kunstreligion, in der die Kunst nicht bloß nur an eine Religion gebunden ist, sondern als Religion gemäß der Ordnung des Weltzustands, der »sittlichen Welt«, das Absolute unmittelbar, also in der sinnlichen Anschauung darstellt; darin geht die Kunst in dieser Funktion der unmittelbaren Darstellung des Wahren bis zu dem Punkt völlig auf, an dem sie als Produzent des schönen Schein frei, also an nichts gebunden ist; der Charakterzug der Kunst in der Kunstreligion besteht demnach in der paradoxen Lage, dass der Aspekt der Kunsthaftigkeit oder Kunsttätigkeit eher gleichsam hinter der naturhaft schönen Substanzialität völlig verborgen, in ihr völlig vergessen bleibt;54 in dieser Hinsicht ist die Kunst zwar das angemessene Darstel-
53 Das Verschwinden ist aber selbst ein wesentliches Moment im erscheinenden Selbstwissen des Geistes: »Das Verschwindende ist vielmehr selbst als wesentlich zu betrachten, nicht in der Bestimmung eines Festen, das vom Wahren abgeschnitten, außer ihm, man weiß nicht wo, liegen zu lassen sei, so wie auch das Wahre nicht als das auf der andern Seite ruhende, tote Positive. Die Erscheinung ist das Entstehen und Vergehen, das selbst nicht entsteht und vergeht, sondern an sich ist und die Wirklichkeit und Bewegung des Lebens der Wahrheit ausmacht«. (46) 54 »Jede Differenz innerhalb der Unmittelbarkeit ist ein Schritt über sie hinaus. Das hat zur Folge, daß es keine Geschichte eines Unmittelbarkeitsideals geben kann. […] / Darum darf das Gemachtsein dieser Unmittelbarkeit sich nicht zeigen, es soll im ge-
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lungsmedium des Absoluten, aber sie ist es gerade dadurch, dass diese Angemessenheit von einer derart vollkommenen Konvergenz zwischen Medium und Inhalt abhängt, dass die Kunst nicht bloß als Medium dem Inhalt verpflichtet ist, sondern dass die Kunst nur sich selbst als Inhalt verpflichtet ist; sie ist eine vollkommene Kunst, eine Kunst, die in ihrem Werk die Spur des Kunstseins verwischt und dieses Werk als Natur, und zwar als schöne, erscheinen lässt. Zum anderen ist die Kunstreligion aber eine Kunstreligion, in der sich die Kunst von dieser Religion, also von sich stufenweise abtrennt – von der Religion, die mit der unmittelbar-schönen Darstellung des Absoluten verbunden ist; sie legt einen Prozess dar, in dem sich der Aspekt selbst tendenziell darstellt, nach dem weniger die hergestellte Ding-Seite als vielmehr die Tätigkeit oder die Kraft des Hervorbringens selbst in den Vordergrund der Darstellung kommt; die Kunst besteht dabei – noch einmal, aber in der entgegengesetzten Richtung – in einer paradoxen Lage, dass der Akzent von der hergestellten sinnlich-schönen Anschauung zur Tätigkeit dieser Herstellung selbst verschoben wird, die als solche den Bereich des Sinnlich-Schönen, den der Kunst, übertrifft; die Kunst der Kunstreligion besteht in dieser Hinsicht darin, die tätige Subjektivität selbst nun in der nicht-anschaulichen bzw. nicht-vorstellungsmäßigen, aber noch nicht begriffsmäßigen Weise darzustellen, deren Dimension der Selbstdarstellung der reinen (Un-)Tätigkeit über die Schönheit hinausgeht. Die Kunst als Kunst(un)tätigkeit, die durch die Dynamik der Kunstreligion dargestellt wird, wird jedoch nicht bloß so aufgefasst, dass sie gegenüber dem Darstellungsinhalt in dem Sinn vollkommen gleichgültig ist, dass sie an den (bestimmten) Inhalt nicht mehr gebunden ist, mit ihm in einem Verhältnis des wie auch immer freien Spiels steht; die Kunst als Kunst(un)tätigkeit, die durch die Kunstreligion zur Darstellung kommt, ist entgegen dieser Auffassung, die bei Hegel eine Entgegensetzung von Inhaltsästhetik und formeller Ästhetik oder eine Entwicklung von der ersteren zur letzteren sieht,55 vielmehr so zu verstehen, dass
lungenen Werk verschwinden«. (Steunebrink, »Hegel und die unbewältigte Romantik in der These vom Ende der Kunst«, S. 106) 55 Dies wäre eine Auffassung der »romantischen Kunstform«, die in der Ästhetik zu finden ist und die betont, dass diese von der ›Inhaltsästhetik‹, der Ästhetik, die dem Darstellungsinhalt verpflichtet ist, befreit ist; manche Kommentatoren verstehen im Sinne dieser Auffassung die Kunst nach der Kunst als Kunst, die sich von jeglichem bestimmten Inhalt befreit und in jedem Stoff eine Gelegenheit der Verwirklichung der künstlerischen Freiheit findet, wie sehr diese Verwirklichung auch ›objektiv‹ verstanden sein mag, etwa in der Rede vom »objektiven Humor«.
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diese (Un-)Tätigkeit selber ins Zentrum des Darstellungsinhalts rückt.56 Dieser Inhalt ist gerade die ›Subjektivität‹, aber nicht die des bestimmten, des individuellen Künstlersubjekts, sondern eine nicht-›subjektive‹ Subjektivität, eine entsubjektivierte (Künstler-)Tätigkeit, die in ihrer Grenze der darstellerischen Entsinnlichung sich selber als Darstellungsobjekt nimmt – darin sind der Darsteller, das Dargestellte und der Betrachter der Darstellung einzigartigerweise identisch; der Darsteller, das Dargestellte und der Betrachter ist/sind Subjekt(e). Das Subjekt in seiner nicht-subjektiven Subjektivität ist gleichsam »zu Hause« (544). In der Komödie als der allein durch die Dynamik der Kunstreligion zu sich gekommenen (Nicht-mehr-)Kunst, als der letzten Kunstart, die sich als Kunst vollund beendet, ist das Subjekt zu sich als Nicht-Subjekt, als einer selbständig gewordenen (Un-)Tätigkeit gekommen. In diesem sowohl unmittelbaren wie auch reflexiven Zusammenfallen der Tätigkeit und des Inhalt, der Subjektivität und der Kunst kommen beide Prozesse des Autonomwerdens zustande: das Subjektivwerden des Subjekts und das Kunst-Werden der Kunst. An der Stelle, an der die Komödie »zugleich zur Auflösung der Kunst überhaupt« führe (Ä III, 572), an dieser Stelle stellt der Geist als Subjekt in einer Weise, die sich in das dreigliedrige System – Anschauung, Vorstellung und Begriff – seines Darstellungsmediums nicht einfügt, insofern sich selbst dar, als die Kunst als Kunst dadurch sich autonom macht, dass sie sich von seinem ›Wesen‹ befreit, sich gegenüber sich selbst äußerlich macht. Durch Hegels Konzeption der Kunstreligion, die, außer in der Heidelberger Zeit, nie entwickelt oder vorgezeichnet worden ist,57
56 Zwei Kommentare, die nicht bloß innerhalb des Wortlauts Hegels bleiben, sondern sich aus den Bemühungen ergeben haben, die systematischen Konsequenzen seiner Gedanken zu ziehen, betreffen diesen Punkt: »Der Künstler hat davon auszugehen, daß Reflexion und Kritik zu Elementen seiner eigenen Arbeit geworden sind, und diesen Sachverhalt im Werk zuzugeben«; (Henrich, »Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart [Überlegung mit Rücksicht auf Hegel]«, S. 14) »Gegenwärtiger Kunst ist, im Anschluß an Hegels systematische Überlegungen, der Widerspruch zwischen Reflexion und Unmittelbarkeit immanent«. (Figal/Flickinger, »Die Aufhebung des schönen Scheins«, S. 215) 57 Hier setze ich mich Walter Jaeschke entgegen, der ohne weiteres Bedenken behauptet, dass die Konzeption der Kunstreligion in Hegels Entwicklung die Stufe aufweist, die an das »Unvermögen […] des Autors der Phänomenologie« gebunden war, »auch sie[: Kunst] noch in der Selbständigkeit, die er ihr schon [in Jaenaer Zeit] zugesprochen hatte, in den Argumentationsgang der Phänomenologie einzubeziehen« (Jaeschke, »Kunst und Religion«, S. 170); allerdings sieht er den Charakter eines dynami-
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erkennen wir, dass sich das Zum-Vorschein-Kommen des Subjekts als Subjektwerden der Substanz der doppelten Struktur verdankt, die zeigt, wie die Kunst, die im schönen Schein substanziell aufgeht, sich als Kunst konstituiert. Der Prozess, in dem die Kunst sich als Nicht-Kunst konstituiert, hängt mit dem Prozess zusammen, in dem das Subjekt als Nicht-Subjekt sich subjektiviert. In der Moderne also, die so gerade zum Vorschein kommt, erscheinen die Kunst und das Subjekt in dieser dynamisch-genetischen Wechselbeziehung: Die Kunst lässt in ihrer sich entsinnlichenden Darstellung das Subjekt erscheinen, während das Subjekt in seinem reinen (Un-)Tätigkeitszug die Kunst in ihrer modernen Form ermöglicht.
schen Prozesses der Kunstreligion nicht, in dem der Kunst dadurch eine »Selbständigkeit« zugesprochen wird, dass die Kunst als »absolute Kunst« sich selbst absolviert.
Teil II: Nietzsche und die Nachahmung der Moderne
4. Künstlerische Technik der Kulturgründung Einführung in Teil II
In der Hegelʼschen genetischen Darstellung zur Doppelerscheinung des Subjekts und der Kunst der Moderne, die ich im ersten Teil der Arbeit darzulegen versucht habe, spielt die Diskontinuität eine wesentliche Rolle: Im Prozess des Subjektwerdens der Substanz konstituiert sich das Subjekt nur in dem Maße, wie es sich als Subjekt entsubjektiviert; damit zusammenhängend entsteht Kunst als Kunst erst, wenn sie sich als Nicht-Kunst errichtet. Dem Werdeprozess der Kunst und des Subjekts wohnt eine innerliche Diskontinuität inne, die die Kunst als Kunst autonom macht und die das Subjekt als Subjekt erscheinen lässt. In der Konstitution der Moderne, die genetisch ist, ist die Diskontinuität wesentlich. In der Nietzscheʼschen Darstellung der – nach seinem Verständnis noch zu konstituierenden – Moderne ist auch eine Diskontinuität wesentlich. Wenn aber die Diskontinuität bei Hegels Darstellung der Moderne genealogisch ist, ist sie bei Nietzsches Darstellung nachahmungstheoretisch: Diese Diskontinuität ist wie bei manchen Analytikern der Moderne zunächst ein Bruch, vor dem die Kultur bestand und nach dem das entstanden ist, was Nietzsche als den Defekt der Moderne ansieht, der darin besteht, dass der substanzielle Inhalt fehlt: Die Moderne ist, so zunächst diagnostisch, die Zeit der Kultur mit fehlender Grundlage, die nichts anderes als eine Barbarei ist. Er versucht demnach zu ergründen, ob und wie Kultur in der Moderne noch einmal möglich ist, ob und wie also eine moderne Kultur möglich ist. Sein Augenmerk richtet sich damit auf die Zeit vor dem Bruch, auf die vormoderne Zeit, in der die Kultur mit ihrem substanziellen Fundament noch bestand, um herauszufinden, ob und wie eine Wiederholung bzw. eine Nachahmung der Kultur trotz einer Diskontinuität, trotz eines Bruchs möglich ist. Und für die Antwort auf diese Frage, ob und wie also die Kultur mit diesem Fundament in der Moderne tragfähig wiederholt oder nachgeahmt werden kann, muss geklärt werden, wie die vormoderne Kultur als Kultur konstitu-
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iert war. Daraus ergeben sich zwei Fragen, auf die der zweite Teil der Arbeit zu antworten versucht: zum einen die Frage nach der Möglichkeit einer Wiederholung der Kultur trotz einer Diskontinuität, zum anderen jene nach der Konstitution der klassischen Kultur als Kultur. Beide Fragen affektieren, also beeinflussen dabei in dem Maße einander, wie sich sowohl der Charakter der Wiederholung als das Verständnis der Klassizität selbst ändern: Bei der Überlegung zur Frage nach der Konstitution der Klassizität der Kultur, die mit der Wiederholung der Kultur verbunden ist, darf die Diskontinuität nicht übersehen werden – vielmehr muss die Diskontinuität berücksichtigt werden; sie muss dabei aber nicht bloß als ein äußerlicher Bruch beachtet werden, sondern als ein innerliches Moment in dieser Wiederholung, als die innerliche Bedingung für das Gelingen der Wiederholung. Und zwar muss sie als ein innerliches Moment derart berücksichtigt werden, dass sie in das Verständnis des Fundaments der vormodernen, klassischen Kultur als Nachahmungsgegenstand einfließt. Dass die Diskontinuität im Fundament der Kultur selbst verortet wird, so kann man meines Erachtens Nietzsches Errungenschaft in der Geburt der Tragödie (im Folgenden: GT) rekonstruieren, ist das zentrale Anliegen sowohl für die Frage nach der Konstitution der Klassizität der Kultur wie auch für die nach der Wiederholung der Kultur. Demnach gehe ich im zweiten Teil der Arbeit in folgenden Schritten vor: Bietet Nietzsche bekanntermaßen angesichts jener beiden Fragen sein Begriffspaar apollinisch-dionysisch an, müssen im ersten Schritt der Arbeit doch diese Termini, die er in der GT vorschlägt, selbst der Analyse unterzogen werden. Denn die Begriffe selbst sind so kompliziert und bedürfen einer Analyse, da die vielen verschiedenen Diskursebenen, die sich darin überlagern, und vor allem die unterschiedlichen Figuren des Dionysischen, die der junge Autor in der bewussten Distanzierung zum Klassizismus zu entwickeln versucht, voneinander unterschieden werden müssen. Nur so können sich eine für das Verständnis der Grundlage der Kultur und ihrer Wiederholung sinnvolle Diskursebene und eine tragfähige Figur des Dionysischen, das notwendig mit dem Apollinischen verbunden ist, ergeben. Daraus wird deutlich, wie die für das Verständnis der Grundlage der Kultur angemessenen Begriffe des Ursprungs und des Grundes, des Scheins und der Kunst aussehen sollten, die wiederum ein verändertes Verständnis des Dionysischen ausmachen (5. Kapitel). Aufgrund dieses Verständnisses der Grundlage der (klassischen) Kultur ist im zweiten Schritt zu zeigen, dass sich der Unmittelbarkeitscharakter, also der Charakter der Naturhaftigkeit der klassischen Kultur, die Nietzsche apollinisch nennt, als derjenige des Scheins, der nicht bloß eine Täuschung, sondern eine nicht hintergehbare Dimension der (ersten) Kultur ausmacht, verstehen lässt. Diese ist zwar nicht hintergehbar, aber in dem Maße hinterfragbar, wie es um die Wiederholung dieser
4. K ÜNSTLERISCHE T ECHNIK DER K ULTURGRÜNDUNG | 127
Kultur geht. Diese Hinterfragung führt auf die neu verstandene Frage sowohl des Grunds der klassischen Kultur als auch des Kunstcharakters der sich wiederholenden Kultur; und gemäß dieser doppelten Frage muss die Kunst in einer doppelten Weise verstanden werden: Sie produziert die Klassizität der Kultur und vollzieht sich darin wie Natur, während sie sich als Wiederholungsträger der Kultur in der Moderne gegenüber sich selbst ›reflexiv‹ verhalten muss (6. Kapitel). Im dritten Schritt ist zu zeigen, wie die Tragödie als eine tragische Kunst der Aufgabe der Wiederholung der Kultur gerecht wird, indem sie sich zum ersten Mal als Kunst ›autonom‹ errichtet. Dies bedeutet, dass sich mit der Tragödie sowohl der Charakter der Kunst selbst wie auch der Bezugscharakter der Kunst gegenüber der Kulturwelt verändern. Zunächst ist also darzulegen, wie die Tragödie als Kunst die ihr ›innerliches‹ Wesen konstituierende Naivität verliert, während sie darin noch Kunst ist, dass sie ihr Sich-selbst-äußerlich-Sein selbst naiv darstellt; die Tragödie verdankt sich von ihrer Geburt als Kunst an den äußerlichen Momenten, wie es sich schon anhand von Aristoteles’ Darstellung in der Poetik zeigen lässt. Durch Rekonstruktion lässt sich feststellen, dass die Tragödie als Kunst erst geboren wird, indem sie aus dem Chor als ihrem reinen Element heraustritt und sich dem Dialog als einem heterogenen Element öffnet; und sodann muss gezeigt werden, wie die Tragödie als eine Kunst der angeborenen Fremdheit mit der Welt eine brüchige Beziehung unterhält und wie sich infolgedessen sowohl die Kunst wie auch die Welt einer Reorganisierung aussetzen (7. Kapitel).
5. Figuren des Dionysischen und Kritik des Ursprungsbegriffs
5.1 P OETOLOGIE , K ULTURHISTORIE UND P HILOSOPHIE DES G RIECHISCHEN : D ISKURSEBENEN IN DER G EBURT DER T RAGÖDIE 5.1.1 Poetologie der griechischen Kunstgeschichte In der Darstellung des Ursprungs, der Genese, der Vollendung – und des Todes, der Wiedergeburt – der griechischen Tragödie in der GT spielen bekanntlich zwei »Kunsttriebe« (31, 38 und passim) oder »zwei feindselige […] Principien« (42), die vom Autor ›apollinisch‹ und ›dionysisch‹ genannt werden, die zentrale Rolle. 1 Trotz eines »ungeheure[n] Gegensatz[es]« (25), der zwischen beiden Mächten bestehe, und gerade kraft dieses Gegensatzes bringen sie durch eine konfliktreiche Zusammenarbeit verschiedene Kunstgattungen wie Epos, Lyrik und Drama hervor und in der Tragödie als dem letzten Produkt, dem »gemeinsame[n] Ziel« (42) der Entwicklung werden sie – ausnahmsweise oder, wie der Autor sagt, auf eine ›wunderliche‹, ›geheimnisvolle‹ oder gar ›mysteriöse‹ Weise – »gepaart« (25) und schließlich vereinigt. So stellt der Autor auf den ersten Seiten der Schrift eine programmatische Aussage gleichsam als Ausgangsannahme, – als ob sie als vorausgeschickte Lektüreanweisung für den ganzen Text diene:
1
Ich zitiere Die Geburt der Tragödie aus: Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hg.), Kritische Studienausgabe Bd. 1, München, 1999 mit Seitenangabe im Fließtext; und außerdem zitiere ich aus dieser Ausgabe im Folgenden mit dem Siegel KSA, Bandund Seitenangabe.
130 | S UBJEKTIVITÄT UND K UNST »An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntniss, dass in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus, besteht: beide so verschiedne Triebe gehen neben einander her, zumeist im offnen Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuiren, den das gemeinsame Wort ›Kunst‹ nur scheinbar überbrückt; bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen ›Willens‹, mit einander gepaart erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen«. (25 f.)
Im Prozess der sukzessiven Hervorbringung der griechischen Kunstgattungen ergibt sich immer deutlicher, dass das Dionysische nur unter der gestaltenden Wirkung des Apollinischen griechisch sein kann und dass das Apollinische nur aus dem Untergrund des Dionysischen hervorgehen kann. »[A]n sich getrennte« (104) zwei Elemente erscheinen also im Verlauf der Entwicklung zugleich als innerlich aufeinander angewiesen; ohne das Apollinische gäbe es kein Dionysisches und ohne das Dionysische kein Apollinisches.2 Dieses Prinzip erreicht, so der Autor, in der attischen Tragödie, also in den Tragödien von drei großen Tragikern, seine Zuspitzung. Das dialektisch anmutende Entwicklungsprinzip, dem zufolge zwei anfänglich als jedes für sich selbstständig und daher miteinander konfligierend angenommene Elemente sich als voneinander abhängig erweisen und sich schließlich auf einer neuen, höheren Stufe miteinander ›versöhnen‹ und vereinigen, – dieses Prinzip, das Nietzsche selber später in Ecce Homo retrospektiv als »hegelisch« verurteilt3 und damit als ein fremdes Element seiner Erstlingsschrift ansieht, beherrscht den Text so massiv und substanziell, dass man zunächst nicht zu erkennen vermag, wie ein Ausweg, eine Loslösung überhaupt möglich wäre. In der Struktur der griechischen Kunst- und Kulturentwicklung bilden das Apollinische und das Dionysische, die »an sich getrennt« sind, also je ein getrenntes Dasein haben, Nietzsches programmatischen Aussagen zufolge den Ausgangspunkt. Diese zwei Kunst- und Kulturmächte stehen wie Zwillinge, die gleichzeitig erscheinen, sich aber nicht ähneln, am Ursprung des Griechischen
2
Dieser Ansatz der wechselseitigen Abhängigkeit kündigt sich relativ früh im Text an: »Und siehe! Apollo konnte nicht ohne Dionysus leben! Das ›Titanische‹ und das ›Barbarische‹ war zuletzt eine eben solche Nothwendigkeit wie das Apollinische!« (40)
3
Vgl. dazu Deleuze, Nietzsche et la philosophie, S. 9-19.
5. F IGUREN
DES
D IONYSISCHEN
UND
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nebeneinander – am Ursprung seiner Kunst, Kultur und Geschichte. Und sie stehen, so könnte man des Weiteren sagen, am Eingang zum Griechischen gleichsam als zwei Grenzbeamte, die gemeinsam die Einbürgerung kontrollieren. Sie stehen damit aber auch am Ursprung der – so könnte man sagen, indem man einem gewissen Nietzsche treu bleibt – Geschichte des Europäischen, ja des Abendländischen, also am Ursprung von Kunst, Kultur und Geschichte überhaupt. Das Dionysische und das Apollinische stehen an der Schwelle von NichtKünstlerischem, Nicht-Kulturellem und Vor-Geschichtlichem zu Künstlerischem, Kulturellem und Geschichtlichem; am Nullpunkt von Kunst, Kultur und Geschichte. So könnte man die möglichen Implikationen der Ausgangsannahmen beschreiben – des Rahmens, der das gesamte Buch und seine Bedeutungsökonomie strukturieren und kontrollieren soll. In diesem Rahmen werden das Apollinische und das Dionysische als ursprüngliche Elemente vorgestellt, die nicht mehr hintergehbar sind. Diese zwei Faktoren bringen in einem Prozess der tendenziellen Konvergenz zueinander die späteren, insbesondere die künstlerischen Darstellungsarten der Welt- und Selbstbilder des Griechischen bis zur Tragödie hervor, »in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt« (25). Damit sind der Ursprung und das Ziel der griechischen Kunst und Kultur vorbestimmt: Deren Ursprünge sind das Apollinische und das Dionysische als zwei Urelemente, und ihr Ziel ist die attische Tragödie als die Vereinigung beider. Mit der Entwicklung und Darstellung dieses Ausgangsrahmens glaubt Nietzsche eine poetologische Aufgabe in Angriff zu nehmen, von deren erfolgreicher Erfüllung er einen großen Fortschritt der »aesthetische[n] Wissenschaft« erwartet. Der allererste Satz der Schrift lautet also: »Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwicklung der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist«. (25)4 Er zielt anhand des Doppelprinzips apollinisch/dionysisch darauf ab, zum einen die griechische Kunstgeschichte angemessener als je zuvor zu beschreiben, d.h. eine literarische Geschichtsschreibung zu bieten, die besser etwa als F. Schlegel oder G. W. F. Hegel die Geschichte der griechischen Kunst auffassen kann,5 und zum anderen begriffliche Mittel zu schaffen,
4
Und: »Die Griechen helfen uns mehr als unsre Aesthetiker in ihrer Hauptunterscheidung des Dionysischen und Apollinischen«. (Nachlass 1871, 9[34], KSA 7, 284)
5
Für eine Übersicht der literaturtheoretischen und geschichtsphilosophischen Erörterungen von Winckelmann bis Hegel vgl. Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie I:
132 | S UBJEKTIVITÄT UND K UNST
die sich besser als Schillers Begriffspaar naiv/sentimentalisch zur gattungspoetologischen Betrachtung verschiedener Kunstproduktionsweisen eignen.6 5.1.2 Kulturhistorie des Griechischen: Hellenisierung des Dionysischen Dieses poetologisch-ästhetische Programm geht von einer gleichermaßen ›wissenschaftlich‹ distanzierenden, neutralen Haltung gegenüber zwei Elementen des Griechischen aus und durchzieht in der Tat, wenn man diesem Argumentationsstrang folgt, die ganze Schrift. Zugleich kann man aber auch bemerken, dass unauffällig eine argumentative Verschiebung stattfindet, in deren Folge der Autor jene Elemente, ganz anders als in den direkt vorangegangenen Passagen, perspektivisch darstellt: Bekanntlich verdeutlicht und veranschaulicht der Autor das Apollinische am Phänomen des Traums und das Dionysische an dem des Rauschs (§ 1). Nach dieser allgemeinen Vorüberlegung versucht er dann beide Phänomene in der griechischen Welt zu erläutern (§ 2). Dabei erscheint es zunächst problemlos, zu sagen, dass das Apollinische in der Vortrefflichkeit der »plastischen Befähigung« der Griechen (31) auch und besonders am Phänomen des Traumes zu bezeugen ist und dass bei ihnen diese traumhafte Gestaltungskraft gleichsam beheimatet war. Ein Problem tritt aber hervor, wenn das Dionysische bei den Griechen und ihr Rausch erläutert werden muss. Denn es geht hier, wie man sich leicht klarmachen kann, um den Skandal der erschreckenden Unordnung des Rauschs, darum also, ihn bei der Erläuterung des griechischen Rauschs zu vermeiden. Zu diesem Zweck führt der Autor – neben der noch fortgehenden gattungspoetologischen Geschichtsschreibung – einen anderen, einen kulturhistorischen Argumentationsstrang ein: Er unterscheidet zwischen dem Dionysischen bei den Griechen und demselben bei den Barbaren, um die ästhetische und kulturelle Qualifikation des ersteren auf der Folie des letzteren zu profilieren. Also »brauchen wir«, sagt der Autor, »nicht nur vermuthungsweise zu sprechen, wenn
Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. Hegels Lehre von der Dichtung. Nietzsches poetologischem Schema in der Geburt der Tragödie, das darin besteht, dass die Tragödie eine Vereinigung von apollinischer Epik und dionysischer Lyrik sei, geht aber als paradigmatisches Vorbild etwa Hegels Schema in den Vorlesungen über die Ästhetik voraus, dem zufolge das Drama die Synthese des Epos und der Lyrik ist. 6
Nietzsches nachgelassene Aufzeichnungen aus der Zeit des Tragödienbuches enthalten kritische Überlegungen zu Schillers begrifflicher Unterscheidung; vgl. beispielsweise Nachlass 1870-1871, 7[126], KSA 7, 184.
5. F IGUREN
DES
D IONYSISCHEN
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die ungeheure Kluft aufgedeckt werden soll, welche die dionysischen Griechen von den dionysischen Barbaren trennt« (ebd.; Hervorh. von mir; originale Hervorh. getilgt). Trotz dieser Unterscheidung oder gerade durch sie ist aber schon klar, dass das Dionysische »an sich« nicht ursprünglich griechisch ist, dass es vielmehr indifferent gegenüber dieser Unterscheidung ist: Hier wird das Dionysische gleichsam als eine Eigenschaft beschrieben, die als Prädikat sowohl dem Griechischen als auch dem Barbarischen zukommen kann. Die kulturhistorische Typologie des Dionysischen, die nach der poetologischen Absicht Nietzsches zur Beschwichtigung des Skandals des Rauschs und damit zur Qualifizierung des Dionysischen als Griechisches eingeführt worden ist, überschießt diese Absicht, also die des Ausgangsrahmens, in dem angenommen wurde, dass das Dionysische eines der zwei griechischen Urelemente ist: Es ist nicht ein solcher absoluter Ausgangspunkt des Griechischen, es behält nicht seinen eindeutig griechischen Geburtsschein, es ist nicht unhintergehbar griechisch. Das spezifisch griechische Dionysische und damit die griechische Art des Rausches ist nicht eine Selbstverständlichkeit, ist nicht von Anfang an da, sondern nach der geänderten Ansicht des Autors: geworden. Es ist aus dem nicht-griechischen, aus dem barbarischen Dionysischen entstanden.7 Nietzsche stellt aber noch eine weitere kulturhistorische These auf: Das Dionysische wird erst dadurch griechisch, dass es von dem Apollinischen aufgenommen wird, also von diesem – am Anfang noch unter der Vorsichtsmaßnahme eines »Friedensschlusses« zwischen beiden – ins hellenische Reich eingebürgert wird. Folgen wir Nietzsches Darstellung dieses kulturhistorischen Prozesses einen Schritt weiter, insofern sie sowohl für seine weitere Argumentation wie auch für unsere Rekonstruktion derselben von Bedeutung ist: Der apollinische Grieche, der so dargestellt ist, als habe er bereits seine eigene Kunst und Kultur, die in der olympischen Götterdarstellung der homerischen Epik wurzeln, begegnet dem dionysischen Barbaren, der ursprünglich überhaupt nicht zur griechischen Welt gehört und der in den verschiedenen außergriechischen Gegenden – an »allen Enden der alten Welt« (31) – »über jedes Familienthum und dessen ehrwürdige Satzungen« (32) und über »jedes staatliche und soziale Band« (DW 1, KSA 1, 558) hinwegflutende Feste, mithin einen »Naturkult« treibt, in dem »die roheste Entfesselung der niederen Triebe« (DW 1, KSA 1, 556), »eine […] überschwängliche […] geschlechtliche […] Zuchtlosigkeit« (32), »ein panhetärisches Thierleben« (DW 1, KSA 1, 556), ein »Rückschritt […] des Menschen zum Ti-
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Diese These des Werdens des Dionysischen stellt sich aber erst deutlich dar, wenn wir einen anderen Text mit berücksichtigen, der als ein Teilmanuskript der GT geschrieben wurde: Die dionysische Weltanschauung (im Folgenden als DW zitiert).
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ger und Affen« (32) periodisch etwa »in fünftägiger Fortdauer« (DW 1, KSA 1, 558) unumschränkt erlaubt waren. Am Anfang wird zwar gegen diese unumschränkte Triebüberflutung Widerstand geleistet durch einen »majestätischablehnende[n]« (32) Kampf mit diesem Barbarischen, und auf solcher Ablehnung beruhen der »so trotzig-spröde« dorische Staat (41) und die ihm entsprechende Kunst. Diese Art des Widerstandes erweist sich aber als »unmöglich« einerseits und als unklug andererseits. Unmöglich deshalb, weil sich diese barbarische Triebüberflutung zugleich im Apollinischen selbst vorfindet, d.h. weil sie sich nicht als fremde, sondern als eigene erwiesen hat: »Bedenklicher und sogar unmöglich wurde dieser Widerstand, als endlich aus der tiefsten Wurzel des Hellenischen heraus sich ähnliche Triebe Bahn brachen«. (32) Und unklug deshalb, weil sich diese tierische Überflutung trotz ihrer Gefährlichkeit als nützlich für die Reproduktion der Kultur erwiesen hat: Da glänzt die zivilisatorische Weisheit »des delphischen Apollo«, indem er »widerstrebend […] den gewaltigen Gegner[: das Dionysische] mit dem feinsten Gespinnst [umspann], so daß dieser kaum merken konnte, daß er in halber Gefangenschaft einherwandele«, indem er »den aus Asien [»Asien« repräsentiert hier alle außergriechischen Gegenden] heranstürmenden Dionysos so weit mäßigte«, dass »die delphische Priesterschaft den neuen Kult[: den dionysisch-barbarischen Kult] in seiner tiefen Wirkung auf sociale Regenerationsprozesse durchschaute und ihn gemäß ihrer politischreligiösen Absicht förderte« (DW 1, KSA 1, 556). Unter diesen Umständen kommt es zu einer Überlagerung des Apollinischen und des Dionysischen, in der sich die »rohesten«, »niederen«, »tierischen« Triebe durch »Mäßigung«, durch die »halbe Gefangenschaft« zu »sublimen« (ebd.) wandeln und sich damit eine vertikale Doppelstruktur bildet, in welcher der dionysisch-barbarische Trieb auf die apollinische Kulturebene sublimiert wird. Diese Überlagerung des Apollinischen und des Dionysischen, in der sich das Griechisch-Werden des Dionysischen durch das Apollinische vollzieht, findet im Zuge einer apollinischen Aneignung der dionysisch-barbarischen Orgie statt, durch die aus dieser die dionysisch-griechische Orgie wird; letztere erst verdient die Bezeichnung »künstlerisch« (33). Das Dionysische ist also nicht »an sich«, nicht von Hause aus im griechisch-hellenischen Kulturreich beheimatet, sondern es wird durch die apollinische Kanalisierung oder, wie Nietzsche sagt, »Idealisierung« (DW 1, KSA 1, 556) erst griechisch.8
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Diese Hellenisierung des Dionysischen beschreibt Nietzsche, wie gesagt, deutlicher in Die dionysische Weltanschauung, während in der GT als Endfassung eher die Aspekte des gegenseitigen Kampfes und des »Friedensschlusses« zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen hervorgehoben werden, in dem beide noch »mit scharfer Be-
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5.1.3 Perspektive des Apollinischen, apollinische Perspektive: die Struktur des Selbst der Kultur Mit der Einführung des kulturhistorischen Diskurses findet aber eine grundlegende perspektivische Verschiebung statt, die von nun an in gewissem Sinn die gesamte Darstellungsperspektive der GT beherrscht und zu jener ästhetischpoetologischen Aufgabenstellung vom Anfang des Textes in einem Spannungsverhältnis steht, die darauf abzielte, das Apollinische und das Dionysische in wissenschaftlicher Äquidistanz als zwei Gestaltungsprinzipien des Griechischen zu betrachten und das »Hin und Her«9 ihres Prioritätskampfes zu beschreiben. Das Apollinische wird nun nämlich entgegen dieser dialektisch anmutende Duellkampf-Darstellung in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt, während das Dionysische anlässlich dieser apollinischen Kulturgestaltung als ein eingeweihtes Fremdes, als ein aus der Ferne entgegenkommendes Kulturelement vorgestellt wird; die Perspektive der Beschreibung ist überwiegend und ausschließlich apollinisch: »[U]rsprünglich ist nur Apollo ein hellenischer Kunstgott«. (DW 1, KSA 1, 556) Am Ursprung der hellenischen Kunst und Kultur steht »nur« das Apollinische. Hier wird die Szene so beschrieben, als ob das Apollinische allein den Ausgangspunkt der griechischen Kunst und Kultur ausmache, als sei nur dies von Anfang an vorhanden und im Griechischen von Ewigkeit her beheimatet gewesen, wobei man nicht weiß, seit wann das der Fall war: als wäre es nicht entstanden, nicht entsprungen, als hätte es also keinen Ursprung, als bliebe und als wäre es immer das geblieben, was es ist, was es als das Selbst der griechischen Kultur ist – und als sei gegenüber diesem einzigen Gastgeber dieser Kultur alles andere, einschließlich vor allem des Dionysischen, »hostis in jedem Sinne« (DW 2, KSA 1, 563), also sowohl Fremdling als auch Feind. Die Darstellungsoder Erzählperspektive privilegiert eindeutig das Apollinische. Hier ist das Dionysische keineswegs, wie in der Ausgangsannahme, als ein von Hause aus griechisches Kunst- und Kulturelement, sondern ganz im Gegenteil als ein Fremd-
stimmung ihrer von jetzt ab einzuhaltenden Grenzlinien« (32) gleichberechtigt sind. Die Beschreibung des apollinischen »Idealismus« oder der apollinischen »Idealisierung« des Dionysischen ist aus der Endfassung weggefallen und nur die Formulierungen, die die Nebeneinanderstellung beider metaphorisieren – »Brüderbund« oder »Ehebündniss« (42) etc. –, sind in die GT eingegangen. 9
Peter Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus, S. 55.
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ling oder Feind gedacht, der durch das Apollinische erst hellenisiert werden muss.10 An dieser Darstellung sind drei Dinge zu beachten: 1) Sie ist fast unauffällig von der poetologischen zu der kulturhistorischen übergegangen. 2) Die leitenden Annahmen beider Betrachtungsweisen scheinen, wie angedeutet, im Widerspruch zueinander zu stehen: Nietzsche ist zwar vom ursprünglich griechischen Charakter beider Kunstprinzipien ausgegangen, er vertritt aber nunmehr die These, allein das Apollinische sei autochthon und das Dionysische sei importiert. Das Dionysische als ein griechisches Kunstprinzip steht demnach nicht am Beginn des Griechischen, es ist nicht ein unhintergehbares, ein unhinterfragbares griechisches Element, es ist vielmehr erst vom Apollinischen gebildet, es setzt einen Bildungsprozess voraus, einen Prozess vom Barbarischen zum Griechischen, vom Nicht-Kulturellen zum Kulturellen. 3) Bei der Betonung des Gegensatzes zwischen der Autochthonie des Apollinischen und der Fremdheit des Dionysischen scheint Nietzsche aber – und das wäre das Wichtigste – über die kulturhistorische Betrachtung des Apollinischen und des Dionysischen in der griechischen Welt hinauszugehen: Apollo ist hier nicht nur als eine spezifische Gottheit gedacht, die für die griechische Kulturgestaltung verantwortlich ist, sondern repräsentiert das Kultur-Selbst überhaupt, das nicht nur für die griechische Welt zu gelten scheint – das Selbst also, das seine kulturelle Identität bewahren will und das sowohl fremde wie in sich selbst gefundene Element zur Regeneration seiner selbst anerkennt. Das Dionysische ist demgegenüber als prinzipiell fremd
10 Die Frage aber, ob das Dionysische eine ursprünglich hellenische oder eine aus der außerhellenischen Welt importierte Gottheit ist, ist hier nicht von Interesse. Diese altertumswissenschaftliche Frage ist seit Langem umstritten. Vgl. dazu eine auf die Autochthonie des Dionysischen abhebende These von Walter F. Otto (Dionysos. Mythos und Kultus, S. 182-189), dessen Argumentation ansonsten großenteils ›nietzscheanisch‹ bleibt. J.-P. Vernant stellt im Vergleich dazu gemäß der mythischen Überlieferung dar, dass Dionysos in Theben geboren, dann verbannt worden, schließlich aber dorthin zurückgekommen sei; dabei hebt er aber nicht den Geburtsort des Dionysos, sondern seine Mobilität, also das Charakteristikum der beständigen NichtAnsässigkeit hervor (Vernant, L’univers, les dieux, les hommes. Récits grecs des origines, S. 108-111); diese Mobilität des Dionysischen hat auch G. Deleuze als seinen wesentlichen Charakterzug betont (Deleuze, Nietzsche et la philosophie, S. 20 f.). Bei den letzteren zwei Autoren also wird der Akzent von der kulturhistorisch undeutlichen Autochthonie zur wesentlichen Mobilität verschoben. In dieser Richtung geht auch Nietzsche hier – das ist noch zu zeigen – über das kulturhistorische Interesse an der Frage nach dem kulturhistorischen ›Wo‹ des Dionysischen weit hinaus.
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vorgestellt; die beschreibende Perspektive kann niemals ›dionysisch‹ sein; eine ›dionysische‹ Perspektive oder eine Perspektive des Dionysischen, eine Perspektive, die dem Dionysischen eigen und deren Träger oder Subjekt das Dionysische wäre, kann es nicht geben; denn das Dionysische ist im Prinzip kein Terminus des Eigenen oder des Subjektiven; diese Fremdheit des Dionysischen verschwindet also selbst in dem Augenblick nicht, wo es so angenommen wird, dass es innerhalb der Reproduktion des eigenen Selbst gleichsam als ›innere Natur‹ am Werk ist.11 Diese prinzipielle Fremdheit des Dionysischen lässt sich an jener Unterscheidung verdeutlichen, die zwischen dem ›dionysischen Griechen‹ und dem ›dionysischen Barbaren‹ vorgenommen wurde: In dieser Unterscheidung zeigte sich das Prädikat ›dionysisch‹ als indifferent; es kommt gemeinsam und gleichermaßen dem Griechischen und dem Barbarischen zu. Das Dionysische zeigt sich also wesentlich als weder griechisch noch barbarisch; es zeigt sich ursprünglich als weder kulturell noch nicht-kulturell. Das Dionysische selbst ist nach seinem Ursprung indifferent gegenüber der »ungeheure[n] Kluft«, die zwischen dem kulturellen und dem nicht-kulturellen Leben »trennt«. Es kursiert über die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits der Kultur hinaus; sein Ursprungsort ist das Jenseits von Jenseits und Diesseits der Kultur; topologisch ist es charakterisiert als das Außerhalb von Außerhalb und Innerhalb der Kultur. Das wahre Jenseits, das in seiner wesentlichen Immanenz über den Dualismus von Jenseits und Diesseits hinausgeht, oder das wahre Außerhalb, das in seiner konstitutiven Intimität die Geschlossenheit des Innerhalb offen lässt, ist sein ursprünglicher Ort. Das Dionysische ist nicht bloß das Fremde der Kultur, sondern in dem Sinne radikal und überhaupt fremd, dass es über die Grenze hinaus, über die Unterscheidung zwischen der Kultur und der Nicht-Kultur hinaus kursiert. Das Apollinische ist also das Selbst der Kultur, während das Dionysische sein Fremder ist, der überhaupt fremd ist; sein Anderer, der überhaupt anders ist. Hier stellt sich eine als unvermeidlich erscheinende Lage der Perspektivierung ein. Unvermeidlich ist sie dann, wenn man nicht mehr nur einen ›wissenschaft-
11 Für weitere Überlegungen über die Dichotomie des (Hellenisch-)Apollinischen als Selbst der Kultur und des (Barbarisch-)Dionysischen als Fremden der Kultur, die über die begrenzte hellenische Historie hinaus als ein allgemeines Modell für das basale Verständnis der Kulturgestaltung dient, vgl. Koselleck, »Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe«, S. 211-259. Koselleck verwendet dafür die Konzeption der »asymmetrischen Gegenbegriffe«, sieht dabei jedoch nicht den besonderen Charakter des Fremden, das – wie ich noch ausführen werde – für das Selbst konstitutiv ist und quasi transzendental wirkt.
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lich‹ – sei es poetologisch-ästhetisch oder kulturhistorisch – etablierten Diskurs betreibt, sondern, wie Nietzsche selbst bekennt,12 die Betrachtung des Problems der Grundlage der Kultur überhaupt mit einer ›praktischen‹ Absicht betreibt, wenn also das Problem so zu formulieren ist: Was soll die Grundlage der Kultur sein – insbesondere die unserer Kultur von heute? Die Grundlage also des modernen Kultur-Selbst? Die GT ist in diesem Sinn eine Reflexion über die Grundlage des kulturellen ›Wir‹, ›Ich‹ oder ›Selbst‹.13 Die Perspektive des Apollinischen als Kultur-Selbst fällt mit derjenigen des Autors fast in eins, die sich (wie jene) im Laufe des Textes weiteren Selbstüberprüfungen in Bezug auf ihre Grundlage aussetzen muss. Die beschreibende und darstellende Sprache der GT ist nicht nur apollinisch, sondern sie ist die des Apollinischen, die des apollinischen Selbst. In dieser ›praktischen‹ Dimension ist der Autor nicht mehr ›wissenschaftlich‹ distanziert, sondern vielmehr engagiert
12 »Es ist der Zauber dieser Kämpfe, dass, wer sie schaut, sie auch kämpfen muss!« (102) 13 Nietzsches Radikalität bei der kritischen Reflexion des ›Wir‹ und des ›Ich‹ geht so weit, dass er sagt: »Alle ›uns‹ und ›wir‹ und ›ich‹ [sind] wegzulassen. Auch die Sätze mit ›daß‹ zu beschränken. Jedes Kunstwort, soweit möglich, zu meiden«; (Nachlass 1872-1873, 19 [208], KSA 7, 482) die ›Kunstwörter‹ von Wir oder Ich »soweit möglich« zu vermeiden, impliziert aber nicht etwa den Unsinn von Wörtern wie Selbstheit, Identität, autos, sondern bedeutet, die – grammatikalische oder wie auch immer geartete – Substanzialisierung des ›Wir‹ oder ›Ich‹ zu vermeiden; davon aber muss die Unvermeidlichkeit der – zumindest nominalistischen – Perspektive des Selbst unterschieden werden: Das Selbst ist in gewissem Sinn unhintergehbar; denn selbst wenn es eine Illusion, ein Bild, ein Phänomen und ein Schein ist, ist es als solches unhintergehbar. Selbst Derrida, der nach verbreiteter Auffassung an der radikalen Dezentrierung des Anderen des Logos festhielte, sagt über die Unhintergehbarkeit des Selbst und seiner Sprache anlässlich eines kritischen Kommentars zu Levinas (vgl. Derrida, »Gewalt und Metaphysik«): »Daß der Andere als solcher nur in seinem Verhältnis zum Selbst in Erscheinung tritt, ist eine Evidenz, zu deren Erkenntnis die Griechen keiner transzendentalen Egologie, die sie später bestätigen sollte, bedurften«. (S. 195; Hervorh. von mir.) »Wenn man in der Sprache der Totalität den Überstieg des Unendlichen über die Totalität aussprechen, wenn man den Andern in der Sprache des Selbst bezeichnen muß, wenn die wahre Äußerlichkeit als Nicht-Äußerlichkeit, das heißt immer noch in der Struktur des Innen-Außen und in der Raummetapher gedacht werden muß, so heißt das unter Umständen, daß es keinen philosophischen Logos gibt, der nicht gezwungen ist, sich zunächst in der Struktur des Innen-Außen expatriieren zu lassen«. (171; Hervorh. von mir.)
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– und zwar so engagiert, dass es nun schwer wird, seine Sprache von der Sprache des Betrachtungsgegenstands des Textes zu unterscheiden.14 In dieser Lage der Perspektivierung geht es aber nicht bloß um diese oder jene bestimmte Perspektive, sondern um die Perspektive überhaupt, um eine Proto-Perspektive als die Grundbedingung der Kulturgestaltung überhaupt. Dabei geht es nämlich um die Perspektive des Selbst der Kultur – des Selbst nämlich, das sieht oder schaut, das die Perspektive selbst ist. In dieser Perspektivierung behält das Selbst unweigerlich eine Art des undurchdringlichen oder undurchsichtigen Seins. Das Selbst der Kultur sieht sich seinem Anderen gegenüber, das durch dieses Gegenüber-Sehen erst als bestimmtes – sei’s als gefährliches, sei’s als heilbringendes – in Erscheinung tritt, das aber als solches dem Selbst gegenüber fremd und unbestimmt bleibt. Denn wer beschreibt und mit welcher Sprache, wenn nicht das Selbst und wenn nicht mit der Sprache des Selbst? Zumindest aber: Durch wen kann überhaupt beschrieben und gesprochen werden, wenn nicht durch das Selbst? Die Perspektive des Selbst ist die einzig mögliche, aus der heraus oder durch die hindurch geschrieben und gesprochen werden kann. Das Selbst sieht und damit spricht durch seine Perspektive. Die sprechende Perspektive ist die des Selbst. Der sprechende Blick ist der des Selbst. Das Selbst, seine Sprache oder sein Diskurs sind in diesem Sinne zunächst eine einzig mögliche Ausgangslage der Betrachtung, gleich welche Ergebnisse aus dieser Betrachtung dem Selbst am Ende widerfahren mögen. Das Selbst, das hier das Apollinische repräsentiert, steht am Anfang – am Anfang der Betrachtung und der Beschreibung, am Anfang der Rede und der Sprache; und zwar insbesondere mit Blick auf das Verhältnis zum Anderen. Dass »der Andere als solcher nur in seinem Verhältnis zum Selbst in Erscheinung tritt«, ist in dem Maße »eine Evidenz«, wie »man den Andern in der Sprache des Selbst bezeichnen muß«.15 Das muss so sein, es kann nicht anders sein. In der so perspektivierten Ausgangslage der Betrachtung drängt sich das Apollinische so direkt dem betrachtenden Auge auf, dass die apollinische Perspektive mit derjenigen des Betrachters nahezu in eins fällt. Dagegen wird das Dionysische so dargestellt, dass es dem Betrachter aus einer unbekannten Ferne entgegenkommt; dass es ›selbst‹ ursprünglich unbekannt ist. Es ist aber, wie oben erläutert, so ursprünglich unbekannt, dass es nicht bloß nicht griechisch, sondern weder griechisch noch nicht-griechisch ist; dass es sich ursprünglich der Entscheidung und Unterscheidung zwischen dem
14 »Es ist charakteristisch für einen Typus bedeutender Kunsttheorien, daß sie nie über ein Phänomen sprechen, ohne daß etwas vom Besprochenen im Vortrag selbst wirksam würde«. (Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, S. 35) 15 Derrida, Schrift und Differenz, S. 171 und 195.
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Griechischen und dem Nicht-Griechischen entzieht; es entzieht sich aber als Ursprung der Kulturhistorie des Griechischen selbst dieser Historie. So steht am Anfang der Beschreibung des Autors der Geburt der Tragödie, die sich von seiner Beschreibung von der Lage eigener Kultur nahezu nicht unterscheidet,16 die Notwendigkeit eines Selbst und die Unverfügbarkeit seines Anderen.17 Nennen wir diesen Diskurs, der sich gleichsam unter einer Verdoppelung mit dem kulturhistorischen Diskurs über das Griechische fortsetzt, im Unterschied zum kulturhistorischen einen ›philosophischen‹; erst aus der Hervorhebung dieses Diskurses wird sichtbar, dass Nietzsches Erstlingsschrift sich weder auf eine poetologisch-ästhetische Diskussion der griechischen Kunstgeschichte noch auf eine historische Erörterung der hellenischen Kulturgeschichte beschränkt, sondern eine Dimension erschließt, in der eine Reflexion über die Grundlage von Begriffen wie Selbst, Subjekt, ›Wir‹ und ›Ich‹ dadurch notwendig wird, dass die Frage
16 Für die Doppelseitigkeit von Nietzsches Rede in der Geburt der Tragödie, in welcher es sich um ein spezifisch altertumswissenschaftliches und zugleich um ein allgemein kulturelles Thema handelt, vgl. auch den nächsten Abschnitt. 17 Die GT lässt sich also nicht, wie häufig behauptet wird, einfach als ein marginalisierender oder gar vernichtender Angriff auf die ›Subjektivität‹ verstehen. Denn sie geht von dem Selbst (und seinem Anderen) aus. Zu dieser Art Behauptung vgl. beispielsweise Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, S. 37-38: »Ja, geht es nicht […] vielmehr […] um eine Überschwemmung durch impersonale Energien und um die Rücknahme des Subjekts in einen Effekt von antagonistischen Gewalten und von gegensätzlichen ›Kunsttrieben der Natur‹[: das Apollinische und das Dionysische]? Das Ich – mitsamt seinem konstitutiven Traum von Autonomie – wäre demnach nur der irreale Saum, an dem die dionysische Vital- und Sexualkraft auf die apollinische Schau- und Traumlust stößt. Subjekthaftigkeit erscheint im Licht dieser Spekulation als Epiphänomen eines Spiels subjektloser kosmischer Größen – als ein irrlichtender Zwischenraum zwischen Selbsterhaltungs- und Selbstverschwendungstendenzen in einem grausam überschäumenden absichtslosen Naturprozeß.« Diese ›kosmologisch‹ zu nennende Darstellungsperspektive nimmt, wie die poetologisch-ästhetische, die ich eingangs als eine leitende der GT erläutert habe, das Apollonische und das Dionysische als zwei gleichrangige Grundkräfte an und kann damit nicht das grundsätzliche Problemfeld des Selbst (der Kultur) im Blick nehmen. Aber während er hier die Perspektive des Selbst völlig ohnmächtig macht, hebt Sloterdijk im weiteren Verlauf des Textes ohne Weiteres die apollinisch zentrierte Perspektive als die Grundlage der Darstellung der GT hervor (ebd., S. 53-56). Das ist inkonsequent – vielleicht nicht ohne Grund; darauf kann ich hier aber nicht mehr eingehen.
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nach dem Grund bzw. Ursprung der Kultur überhaupt in völlig neuer Weise gestellt wird.
5.2 U RSPRUNG DER K ULTUR , G RUND DES S ELBST : V ON DER R OMANTIK ZUM M ODERNEN 5.2.1 Deduktive Genealogie des Ursprungs Bei derjenigen Beschreibungsweise, die ich kulturhistorisch oder ›zivilisatorisch‹ nennen würde, geht es um das Werden des Kultur-Selbst; in diesem Werden erfährt das Selbst nur eine Regeneration seiner selbst durch die zivilisatorische Aneignung des Anderen, das sich gleichwohl selbst auf diese kulturelle Identifizierung nicht reduzieren oder darin erschöpfen lässt. Dem liegt eine ›freudianisch‹ anmutende zivilisatorische These der Regeneration des KulturSelbst durch die sublimierende Aufarbeitung des wilden Triebimpulses zugrunde. Das Fundament dieser These sind, wie ich angedeutet habe, zwei ›philosophische‹ Annahmen, die sich jeweils gleichsam auf die ›subjektive‹ und die ›objektive‹ Seite des Hellenentums beziehen. 1) Sie geht von der Perspektive des bereits bestehenden apollinischen Selbst aus: »[U]rsprünglich ist nur Apollo ein hellenischer Kunstgott«. (KSA 1, 556) Das apollinische Selbst ist das Selbst des Hellenentums, der hellenischen Kultur. Es ist insofern von vornherein gegeben, als die hellenische Kulturgeschichte nur aus der Perspektive des Apollinischen als Selbst des Hellenentums beschrieben werden kann. Das hellenische KulturSelbst ist in seiner Geschichte nach seinem eigenen Selbstverständnis von Anfang an da. Es gebärdet und versteht sich gleichsam als ein bleibendes Substrat, als ein hypokeimenon, ein Subjectum der Kultur. 2) Dieses Selbst bleibt zwar das, was es ist: das Apollinische. Es erfährt aber eventuelle – sei es als nützlich oder als gefährlich angesehene – Modifikationen sowohl von außen wie von innen her. Die Beschreibung dieses Selbst, in der es scheint, als ob es seine Geschichte beschreibe, informiert nämlich über die kulturelle Herausbildung jener leiblichen Matrix, die als eine noch nicht angeglichene, sowohl fremde als auch feindliche ›erste Natur‹ innerhalb und außerhalb des Kultur-Selbst der Gegenstand des kulturellen Zurechtfeilens ist. Sie stellt die psycho-physische Ausarbeitung der noch rohen Natur dar, deren Präsenz im Kulturreich an sich nicht erlaubt ist und die deshalb als ein außerkulturelles Element vorgestellt und sodann als das ›Dionysisch-Barbarische‹ veräußerlicht wird. Die ›erste Natur‹ muss sich also unter der teleologischen Entwicklung zur zweiten Natur als Kultur unter-
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werfen. Als unmittelbare Natur kann sie allein durch ihre kulturelle Vermittlung ihren Sinn erhalten. Sie überlebt zwar durch ihre »Idealisierung« innerhalb der Kultur, bleibt aber prinzipiell nur als der Gegenstand, das Gegenüberstehende der kulturellen Negation erhalten. In ihrer Primitivität ist sie zwar aller Kultur vorgängig, wird aber ihr gegenüber als unterlegen herabgestuft. Sie ist der Gegenstand der Aneignung des kulturellen Selbst, das sein bereits bestehendes Dasein revidieren und erweitern will. Die Kulturgeschichte des apollinischen Selbst als eine Geschichte seiner eigenen kulturellen Modifikationen bedeutet immer nur seine Weiterbildung, Fortentwicklung, die mit der Aneignung der fremden Natur zusammenhängt. In seinem Werden, das mit dem Hellenisch-Werden des Dionysischen einhergeht, gibt es keinen wesentlichen Sprung, weil das Dasein und die Perspektive des Selbst der apollinischen Kultur von vornherein vorausgesetzt ist. Es gibt also kein Entspringen des Selbst der Kultur selber. Darüber hinaus ist aber Folgendes zu beachten: Der kulturhistorische oder ›zivilisatorische‹ Diskurs der hellenischen Kultur in der GT ist, wie bereits hingedeutet, ein doppelter Diskurs, der sich sowohl kulturhistorisch auf die Geschichte der hellenischen Kultur als auch philosophisch auf die Bedingung von Kultur überhaupt bezieht. Dieser Diskurs, der dem philologisch-philosophischen Doppel-Auge Nietzsches nicht nur kulturhistorisch, sondern auch kulturphilosophisch als »klassizistisch« beschränkt erschien, ist die Stelle, an der er kritisch einsetzt: Im ganzen Tragödienbuch geht es immer um eine doppelte Kritik in Bezug auf die Frage nach dem Ursprung sowohl der griechischen Kultur wie der Kultur überhaupt. Das ist der Grund dafür, dass Nietzsche, der »den Ursprung der griechischen Tragödie« als »Labyrinth« bezeichnet, sagen kann, »dass das Problem dieses Ursprungs bis jetzt noch nicht einmal ernsthaft aufgestellt, geschweige denn gelöst ist, so oft auch die zerflatternden Fetzen der antiken Ueberlieferung schon combinatorisch an einander genäht und wieder aus einander gerissen sind. Diese Ueberlieferung sagt uns mit voller Entschiedenheit, dass die Tragödie aus dem tragischen Chore entstanden ist und ursprünglich nur Chor und nichts als Chor war« (52; Hervorh. von mir).
Diese Aussage erscheint auf den ersten Blick ziemlich verblüffend. Denn der Befund, dass die griechische Tragödie ihrem Ursprung nach auf den Chor zurückzuführen ist, findet sich bereits am Anfang der Geschichte der abendländischen Ästhetik ausdrücklich, nämlich in Aristoteles’ Poetik (1449 a 10), und hat
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sich wiederholt behauptet.18 Nietzsche ist also nicht der erste Vertreter der Behauptung, der Chor sei der Ursprung der Tragödie. Er meint hier anderes: nicht bloß eine kulturhistorische oder altertumswissenschaftliche Tatsache, sondern deren Bedeutung für die Frage nach der Grundlage der Kulturgestaltung, nach dem Ursprung der Kultur, nach dem Grund des Selbst der Kultur, des Subjekts in der Kultur, nach der Grundlage des ›Wir‹ und schließlich nach der Semantik des Begriffs des Ursprungs. So konnte Nietzsche sagen, »dass das Problem [des] Ursprungs bis jetzt noch nicht einmal ernsthaft aufgestellt« sei, und damit selbst den Anspruch erheben, eine solche ernsthafte Fragestellung erstmals zu formulieren. Mit dieser ernsthaften Fragestellung hinsichtlich des Problems des Ursprungs steht nicht bloß der Ursprung der griechischen Tragödie, sondern der Ursprung der Kultur überhaupt auf dem Spiel. Das Problem des Ursprungs ist also für Nietzsche nicht bloß eines der tatsächlichen Genealogie als Studie zu den primitivsten Formen, sondern das der Grundlegung, Instituierung oder (mit dem Ausdruck, den Nietzsche in der GT wenn auch nicht ganz ernsthaft verwendet, gesprochen) »Rechtfertigung« der Kultur – im Hinblick auf die Kultur seiner Zeit, einer Kultur der Moderne. Das Problem des Ursprungs der modernen Kultur oder einfach der Modernität erscheint Nietzsche als ein echtes »Labyrinth«, weil es nicht bloß de facto die Quelle der Kultur, sondern de jure ihren Grund betrifft. Diese Suche nach dem Ursprung ist zwar eine Genealogie, aber nicht bloß eine tatsächliche, sondern eine – im kantischen Sinn des Wortes – deduktive Genealogie.19
18 Friedrich Schiller, Ueber den Gebrauch des Chors in der Tragödie, S. 127; von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, S. 183 und 216. 19 Vgl. zur Definition der Deduktion bei Immanuel Kant: Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 116; man könnte diese Genealogie auch eine ›transzendentale‹ nennen. Zur Bedeutung der Deduktion bei Kant, deren Verfahren »von dem einer Ableitung aus als wahr vorausgesetzten Prämissen verschieden« ist und die sich bei der Rechtsfrage im Unterschied zum ›Beweisen‹ auf den »Ursprung« zurückbezieht, um auf die Frage zu antworten, »wie man überhaupt zugunsten von Sätzen argumentieren könne, die sich im direkten Beweisführen nicht sichern lassen«, vgl. Henrich, »Die Deduktion des Sittengesetzes«, S. 55-112, besonders S. 76-84; hier zit. aus S. 79. In der Tat zeigt sich an zahlreichen Aufzeichnungen im Umfeld der Geburt der Tragödie, dass Nietzsche bei seiner Beschäftigung mit dem Problem der Grundlage – des Ursprungs im hier gebrauchten Sinne – der Kultur seiner Zeit, also der Kultur der Moderne, an kantische Überlegungen angeschlossen hat; vgl. dazu besonders die Aufzeichnungen von Sommer 1872 bis Anfang 1873, die gewöhnlich unter dem Titel Philosophenbuch zusam-
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Die weitere Darstellung der GT beschränkt sich also nicht auf die ›zivilisatorische‹ Darstellung. In demselben Abschnitt, wo der Autor den apollinischen, anscheinend konfliktreichen Prozess der Aneignung des Dionysisch-Barbarischen beschreibt (§ 2), führt er nämlich – neben dem poetologischen und dem kulturhistorischen – noch einen anderen Diskurs über die (dionysische) Natur ein, in dem diese nicht mehr als die ›materielle‹ Quelle der Kultur, sondern als ihr Ursprung dargestellt wird – aber in einer spezifischen Form des Ursprungsdiskurses, nämlich der romantischen. Und dabei sind mindestens vier Züge im romantischen Diskurs des Ursprungs hervorzuheben: 1) Jene Natur als Ursprung fungiert ganz im Gegensatz zum zivilisatorischen Diskurs, in dem Natur stets als unterlegen erschien, nunmehr als eine Größe, der gegenüber das Kultur-Selbst seinerseits als klein oder epigonenhaft erscheint. Der Ursprung als der Ort einer »höheren und idealeren Gemeinsamkeit« (DW 1, KSA 1, 555) im Vergleich zur isolierten Lage der Kultur ist als solcher mit dem kulturellen Maßstab unvereinbar und inkommensurabel. Der Kulturzustand erscheint gegenüber der ursprünglichen Natur als ein späteres Epiphänomen. 2) Von diesem Späteren her ist es nicht mehr möglich, einen direkten Zugang zur Natur als Ursprung zu gewinnen. Nur noch Umwege, indirekte Wege sind denkbar. 3) Der Ursprung der Kultur wird so dargestellt, dass er nicht nur nicht direkt zugänglich ist; er ist vor allem deswegen nicht direkt zugänglich, weil er verloren ist: Er ist wesentlich vergangenes Phänomen.20 4) Und eine Art und Weise, diesen romantischen Ursprung zu vergegenwärtigen, ist die symbolische, um die es dem Autor des Tragödienbuches als ersten Schritt der Reflexion auf das Problem des Ursprungs geht. Überlegenheit, Indirektheit, Unzugänglichkeit und Vermitteltheit durch Symbol sind wesentliche Charakterzüge des romantischen Ursprungs. Schauen wir uns diese Züge näher an.
mengefasst werden (Nachlass Sommer 1872-Anfang 1873, 19[1]-21[25], KSA 7, 417531). 20 Vgl. für eine nähere geschichtliche Erläuterung der Bedeutung des Wortes ›romantisch‹ Jauß, »Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität«, S. 44-50; nach ihm ist einer der wesentlichen Züge, die den »Reiz« des Romantischen ausmachen, die Beschwörung des »Fernen« und »Abwesenden« (S. 49): Diese spezifisch romantische Figur manifestiert sich also erstens in dem Abstand […] zum gegenwärtigen Leben« (S. 44) oder in »einer in der Zeitenferne versunkenen, nur noch in Relikten faßbaren Welt« (S. 48) und zweitens in der »verlorenen Natur einer anderen, fremd gewordenen und uns gleichwohl vertrauten Zeit« (S. 49).
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5.2.2 Das Symbolische des Dionysischen In der zivilisatorischen Darstellung der Hellenisierung des Dionysischen durch das Apollinische ist das Dionysische als das vermittelte, aufgehobene, sublimierte Triebleben gedacht worden, das ansonsten als primitiv, wild, tierisch, gefährlich und bedrohlich für das soziale oder kulturelle Leben vorgestellt wird. Auf dieses Schema der Kultur als des sublimierten, aufgehobenen oder aufgeschobenen Trieb-Impulses, auf dieses allgemeine Schema, von dem man sagen könnte, dass es sich, mit freudianischen Termini gesagt, auf das Spiel von ›Lustprinzip‹ und ›Realitätsprinzip‹ stützt, lässt sich aber der Aspekt der Kultur nicht reduzieren, den Nietzsche hier in Bezug auf den Ursprung der Kultur darstellt. Durch die apollinisch-zivilisatorische Weisheit hindurch erweist sich das Dionysische nicht bloß als ein Funktionsträger für die fortzusetzende gesellschaftliche Reproduktion, sondern erhält seine eigenständige »Bedeutung« (32). Ein kulturell grundlegendes transformatives Ereignis findet statt, das sich allein durch das Sublimierungsschema nicht in den Griff bekommen lässt: Aus dem DionysischBarbarischen, das in den überflutenden »niederen« Trieben bestand – denen es zum Zwecke der gesellschaftlichen Regeneration vorläufig erlaubt ist, alle sozialen Identifikations- oder Individualisierungsmuster zu suspendieren –, entsteht durch den apollinischen Aneignungsprozess »in den dionysischen Orgien der Griechen« (33) eine jenseitige Instanz, die in der Weise angenommen wird, dass es einst einen einheitlichen, vollkommenen Urzustand gegeben habe, der aber gerade durch diesen Prozess der Aneignung verloren gegangen sei – und zwar endgültig. Aufgrund dieses neuen Aspekts – des Aspekts also, dass der dionysische Ideal- und Naturzustand zwar ursprünglich da gewesen, aber unwiderruflich verloren gegangen sei –, nimmt die griechische Orgie den Charakter von »Welterlösungsfesten und Verklärungstagen« (32) an, die mit der ›barbarischen‹ Orgie, mit der wirklichen Überflutung der »niederen«, besonders geschlechtlichen Triebe nichts mehr zu tun haben,21 sondern Feste sind, in denen es vielmehr um »künstlerische […]« (33) Akte und »Kräfte« (34) geht, durch die mit der »höchsten Freude« (33) jener verlorene Zustand noch einmal ersehnt und zugleich voller Trauer der »unersetzliche […] Verlust« beklagt wird, wobei »gleichsam ein sentimentalischer Zug der Natur hervor[bricht]« (ebd.; beide
21 »Sehen wir aber, wie sich unter dem Drucke jenes Friedensschlusses die dionysische Macht offenbarte, so erkennen wir jetzt, im Vergleiche mit jenen babylonischen Sakäen und ihrem Rückschritte des Menschen zum Tiger und Affen, in den dionysischen Orgien der Griechen die Bedeutung von Welterlösungsfesten und Verklärungstagen«. (32)
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Hervorh. von mir). Bei diesen griechischen Festen, die die Unerreichbarkeit, ja die wesentliche Vergangenheit des einheitlichen Urzustandes voraussetzen, werden alle Akte und Kräfte symbolisch eingesetzt, deren Überspitzung es dringlich bedarf, um diesen Zustand zu indizieren oder zu signifizieren, um ihn symbolisch nachzuahmen, um ihn zu bedeuten; der hier symbolisierte dionysische Zustand wird nicht mehr als der sublimierte barbarische Triebzustand, sondern als ein von der Bedeutsamkeit her gegenüber dem apollinisch individuierten Zustand unendlich überlegener, unvergleichlich ursprünglicherer, vollkommenerer, natürlicherer, vor allem einheitlicherer Zustand aufgefasst – als Zustand also des Ur-Einen ohne Zerrissenheit und Entfremdung zwischen den Menschen, zwischen Mensch und Natur. Bei diesen Festen ist ein »künstlerisches« (33) Element zu beachten: Bei der festlichen Orgie werden alle Akte nämlich inszeniert, um diesen Zustand in der symbolischen Ebene noch einmal zu wiederholen;22 alles wird inszeniert, »als ob der Schleier der Maja[: Ausdruck für das principium individuationis, den Nietzsche von Schopenhauer übernommen hat] zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere« (29-30; Hervorh. von mir). Und für diese Inszenierung werden alle »symbolischen Kräfte« und »Fähigkeiten« (33) mobilisiert, um ihn nachzuahmen: zunächst durch »die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde«; sodann durch »die anderen symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie«, die »plötzlich ungestüm« »wachsen« (33 f.).23 In seiner Inszenierung ist also der griechisch-dionysische Rausch nicht nur ein religiöses Phänomen, in dem sich der Zustand des Ur-Einen als ureinheitlich manifestiert, sondern es eröffnet sich eine semiotische Dimension, in der auf diesen Zustand symbolisch referiert wird. Durch diesen semiotischen Zug unterscheidet sich, so Nietzsche, diese griechische Art der Orgie von der »barbarischen«; das ist »die ungeheure Kluft […], welche die dionysischen Griechen von den dionysischen Barbaren trennt« (31). Diese Veranstaltung hat mit der Überflutung der rohen Natur nichts mehr zu tun, sondern: »Jetzt soll sich das Wesen der Natur«, also:
22 »Nicht mehr ist jenes Singen und Tanzen instinktiver Naturrausch: nicht mehr ist die dionysisch erregte Chormasse die unbewußt vom Frühlingstrieb gepackte Volksmasse. Die Wahrheit wird jetzt symbolisirt«. (KSA 1, 571; Herv. i.O.) 23 »Daß er[: der Mensch] aufhört individueller Mensch zu sein, s y m b o l i s c h dargestellt durch die Satyrnschwärme; er wird Naturmensch unter Naturmenschen. Er redet jetzt durch die Mimik (Symbolik) und ahmt das allgemein Menschliche nach«. (Nachlass 1869-1870, 3[21], KSA 7, 66)
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nicht der ›wilden‹ Natur, sondern umgekehrt der Natur in ihrer höchsten Form, »symbolisch ausdrücken« (33). Hier wird klar, inwiefern sich Nietzsches Charakterisierung des Dionysischen durch den Übergang von der zivilisatorisch-kulturgeschichtlichen zur symbolischen Deutung verändert hat. Die Veränderung lässt sich auf zweierlei Weise bestimmen: zum einen auf eine typologische und zum anderen auf eine topologische Weise. Typologisch ist das Dionysische, wie bereits gesagt, nicht mehr als ein materiell-leibliches Fundament der Kultur, sondern als deren romantisch-symbolische Idee dargestellt. Hinsichtlich seiner Topologie ist das Dionysische als das Andere der Kultur nicht mehr das fremde Gegenüber, das die gegenwärtige Gefahr der Zerstörung oder Chance der Nutzung darbietet, sondern es tritt nunmehr als der eigene Ursprung, als eine vergangene Vollkommenheit in Erscheinung. Diese zweite, topologische Charakteränderung ist aber auf der narrativen Ebene der GT nicht klar dargelegt; vielmehr tritt sie aufgrund der narrativen Strategie des Autors, die auf eine Hervorhebung des Gegensatzes von Apollinischem und Dionysischem abzielt, textlich in den Hintergrund. Es gilt daher unter dem Diskurs des Gegensatzes, der letztlich der poetologischästhetischen Zielsetzung Nietzsches dient, ein anderes Diskursfeld freizulegen oder zu rekonstruieren, damit seine Fragestellung bezüglich der Grundlage der Kultur zur Geltung kommen kann – ein Diskursfeld, in dem »das Problem [des] Ursprungs« allererst »ernsthaft aufgestellt« werden kann (52). Exkurs. Ein Missbrauch des Begriffs des Symbols In diesem symbolisch verstandenen Kontext ist eine ausdrucksstarke, inzwischen prominent gewordene Passage der GT zu nehmen; ich zitiere sie wegen des häufigen Missverständnisses (etwa auch bei Sloterdijk), es gehe in ihr bloß um eine vorkulturelle und vorkünstlerische Ausschweifung: »Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche und unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. […] Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus überschüttet: unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger. Man verwandele das Beethoven’sche Jubellied der ›Freude‹ in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder ›freche Mode‹ zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur verei-
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Im ähnlichen Zusammenhang spricht Karl Heinz Bohrer über den »reflexiven Modus« des Dionysischen im Unterschied zum »ekstatischen«. Ein nicht nur »[e]kstatischer Naturzustand«, sondern »reflexiver Naturverlust« macht, so Bohrer, die »Komplexität des Dionysos-Zeichens« in der früheren Phase Nietzsches aus. 24 Johan Huizingas kulturwissenschaftliche Spieltheorie bietet dafür einen wichtigen anthropologischen Befund, »daß der Geisteszustand, in dem große religiöse Feste von Wilden gefeiert und mitangesehen werden, nicht der einer vollkommenen Verzückung und Illusion ist. Ein hintergründiges Bewusstsein von ›Nichtechtsein‹ fehlt nicht«.25 Die Teilnahme, die Bereitschaft zur Teilnahme am Ritual ist sogar dann möglich, wenn sie sozial geregelt oder gezwungen ist: »Ils s’y prêtent pourtant, car la règle sociale consisiste à s’y prêter«.26 Im Unterschied zu meiner und diesen Erläuterungen bleibt Sloterdijks Darstellung zum Kulturell-Werden des Dionysischen beim freudianischen Schema der Sublimierung stehen, in dem das Dionysische nur als kulturfähig gezähmte Wildnis vorgestellt wird; dabei vernachlässigt er die erläuterte symbolische Dimension, in der das Dionysische nicht mehr als das Wilde, sondern als das Höhere gedacht wird; oder zumindest unterscheidet er diese zwei Dimensionen nicht klar. Seine Frage bleibt damit weniger nietzscheanisch als vielmehr freudianisch – die Frage nämlich, »wie die dionysische Wahrheiten des Schmerzlustgrundes in moderne Lebensformen zu ›integrieren‹ seien, ohne daß wir den barbarischen Risiken von Wahn und Gewalt erliegen müßten«.27 Sein Augenmerk ist auf die Vermeidung oder die Behebung der »wirkliche[n] Entfesselung dionysischer
24 Karl Heinz Bohrer, »Heißer und kalter Dionysos. Das Schillern einer Metapher Nietzsches«, S. 20 ff. 25 Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, S. 29. 26 Caillois, Les jeux et les hommes. Le masque et le vertige, S. 174. 27 Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, S. 58; im Folgenden zitiert nach Seitenangaben im Text.
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Kräfte« (ebd. Anm.) gerichtet. Diese Unfähigkeit zur Unterscheidung zwischen zwei Symbolisierungen – einer romantischen und einer quasi freudianischen – verursacht 1) eine begriffliche Verwechselung, 2) eine textliche Fehlinterpretation und ermöglicht schließlich 3) einen politischen Missbrauch des Passus: 1) Er versteht den Begriff des Symbols bei der GT allein im ›freudianisch‹ geprägten Sinn, also in der Weise, dass dieser Begriff die Funktion einer Vermittlung erfülle, kraft derer die ›wilden‹ Kräfte nicht direkt, sondern nur durch den apollinischen Umweg – wie Sloterdijk sagt: in apollinische »Anführungszeichen« gesetzt – wirksam werden: Sie könnten nur durch eine symbolische Depotenzierung hindurch die apollinische Kulturbühne betreten; Kultur bestehe in einer Wiederholung der wilden, »obszönen« Naturkräfte auf der symbolischen, »anständigen« Ebene (53 f. und 62). Davon unterscheidet sich aber Nietzsches Verwendung des Symbolbegriffs zumindest in dieser Rausch-Szene ganz deutlich und entscheidend: Diese bezieht sich – hier steht Nietzsche unter dem unverkennbaren Einfluss von Friedrich Creuzer, wie M. Frank gezeigt hat28 – nicht auf eine kulturelle Domestizierung der Triebe, sondern auf die Darstellung der höheren oder gar – nach Creuzer – höchsten Wahrheit oder Idee, deren Unendlichkeit darzustellen eine paradoxe Aufgabe des Symbols ist, weil das Symbol ein endliches Medium der Darstellung ist.29 Bei dieser paradoxen Aufgabe bedarf es, damit das Signifikat symbolisiert werden kann, der Überspitzung, Übertreibung, Aufdringlichkeit der symbolischen Kräfte; das hat aber mit der wirklichen Überflutung durch die ›niederen‹ Kräfte nichts zu tun: Nicht diese, sondern »die sublimen Triebe ihres Wesens offenbarten sich in dieser Idealisierung der Orgie« (DW 1, KSA 1, 556); Nietzsches Verwendung des Symbolbegriffs in jener Szene beschränkt sich streng nur auf diesen letzteren Kontext. 2) Als die Folge dieses begrifflichen Missverständnisses hat Sloterdijk zu Unrecht die Szene, die ich oben zitiert habe, mit der wirklichen Triebüberflutung identifiziert. 3) Noch schlimmer als das Missverständnis selbst ist dessen Motiv, das anscheinend in seiner politisch ›konservativen‹ Orientierung (60-63) liegt – seine politische Abneigung gegen eine »linksgrüne« (62) Tendenz und seine Absicht, diese mit dieser (Fehl-)Interpretation zu verbinden und herabzusetzen, sind unübersehbar.
28 Frank, Der kommende Gott. I. Teil, 3. Vorlesung. 29 Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen [181012], S. 524-561: »Ideen zu einer Physik des Symbols und des Mythus«.
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5.2.3 Verdopplung des »dionysischen« und des »apollinischen Griechen« Die Praxis der symbolischen Inszenierung des dionysischen Ursprungs der Kultur in den griechischen Orgien ist, wie gesehen, durch den apollinischen Aneignungsprozess des Fremden zustande gekommen. Sie ist also ein apollinisches Werk. Nietzsches These geht aber noch weiter: Jene symbolische Kultveranstaltung ist nicht nur mit Erlaubnis des apollinischen Kultur-Selbst eingerichtet, sie ist selbst apollinisch. Auch diese letztere These hebt Nietzsche zwar in der veröffentlichten GT nicht besonders hervor; denn deren poetologisch-ästhetische Ambition überdeckt sie – die Ambition also, anhand von zwei als voneinander unabhängig und gegensätzlich angenommenen Kunstprinzipien die griechische Kunstentwicklung zu erklären. Diese These wird aber durch Textstellen aus Die dionysische Weltanschauung und Die Geburt des tragischen Gedankens gestützt, die vor der Veröffentlichung der GT niedergeschrieben, in die Endfassung jedoch nicht aufgenommen wurden. Nietzsche erläutert hier den Charakter des griechischen Rauschs, den er als »künstlerisch« qualifiziert: »So muß der Dionysosdiener«, der nämlich die Aufgabe übernimmt, ekstatisch, d.h. transindividuell in den griechisch-dionysischen Festen den Zustand des Ur-Einen symbolisch darzustellen, »im Rausche sein und zugleich hinter sich als Beobachter auf der Lauer liegen« (DW 1, KSA 1, 555 und GG, KSA 1, 583; Hervorh. von mir). Der Rausch der griechischen Orgie ist demnach keineswegs bloß ein selbstvergessener Rausch, 30 sondern ein »Spiel mit dem Rausche« (DW 1, KSA 1, 555), an dem ein spielerisches, also ein unverkennbar apollinisches Element bereits beteiligt ist: »Das Spiel mit dem Rausche: Apollo als Sühngott«, heißt es in einem Fragment zwei Jahre vor der Veröffentlichung der Geburt der Tragödie.31 Zwei bemerkenswerte Punkte seien zu erwähnen: 1) Der griechische Rausch, der »künstlerisch« ist, hat also die – fast als unmöglich erscheinende – Struktur des wach bleibenden Spiels innerhalb einer »Selbstentäusserung«. 2) Und dieser Rausch zeigt eine gewisse Ähnlichkeit mit der apollinischen Traumerfahrung: »[E]s ist etwas Ähnliches, wenn man träumt und zugleich den Traum als Traum spürt. So muß der Dionysosdiener im Rausche sein und zugleich hinter sich als Beobachter auf der Lauer liegen«. (DW 1, KSA 1, 555) Nietzsches weitere Beschreibung geht aber über diese erste Stufe
30 Tatsächlich ist an einer Stelle der GT zwar von »völliger Selbstvergessenheit« im dionysischen Rausch die Rede, aber diese Selbstvergessenheit ist eine des »Subjective[n]« (GT 1, KSA 1.29), das hier nach dem Kontext das Individuelle bedeutet. 31 Nachlass 1869-1870, 3[12], KSA 7, 62.
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der Charakterisierung des griechischen Rauschs bezüglich dessen spielerischen Elements hinaus. Denn am Rausch ist das apollinische Element nicht nur spielerisch beteiligt, sondern auch spielerisch beteiligt: »So muß der Dionysosdiener im Rausche sein und zugleich hinter sich als Beobachter auf der Lauer liegen. Nicht im Wechsel von Besonnenheit und Rausch, sondern im Nebeneinander [also, in ihrer gleichzeitigen Koexistenz, die schwer zu denken ist] zeigt sich das dionysische Künstlerthum«. (DW 1, KSA 1, 555 f. und GG, KSA 1, 583; Hervorh. von mir) Die spielerische Beteiligung am Rausch ist nie eine Wechselbewegung zwischen der Teilnahme und der Distanznahme, sondern impliziert eine Bewahrung der Selbstheit unter dem Verlust der Individualität oder ein Selbstsein ohne das individuelle Bewusstsein. In der spielerisch-besonnenen Selbstentäußerung des Rauschs ist ein Selbst im Spiel oder ›am Werk‹, das in dieser ›Entäußerung‹ zwar seine Individualität, aber nicht seine Selbstheit vergisst oder verliert. Und dieses Selbst muss nichts anderes sein als das apollinische KulturSelbst, als jener »Apollo als Sühngott«, der aber sein Gesetz der Individualität,32 das principium individuationis, eingebüßt hat und nur noch eine Selbstheit bewahrt, um den Rausch zu einem sowohl künstlerischen wie kulturellen zu machen33 – das apollinische Selbst also, das unter Einbuße seiner reinen Apollinität im Sinne einer Selbstopferung dionysisch geworden ist. Um eine Selbstopferung handelt es sich deshalb, weil das eigene Grundgesetz, das einzige Gesetz des Apollinischen, welches das der Individualität ist, übertreten worden ist. Daraus wäre unvermeidlich eine bestimmte Schlussfolgerung zu ziehen: Der »dionysische Grieche«, der bei der Veranstaltung der Orgien »hinter sich als Beobachter auf der Lauer« liegt, ist kein anderer als das apollinische Kultur-Selbst – und umgekehrt. Dieses sich in der Selbstentäußerung selbst beobachtende Selbst ist zugleich dionysisch und apollinisch; es ist apollinisch-dionysisch. Das »Spiel mit dem Rausch« wäre also nicht bloß ein apollinisches, das in einer Distanz zum Rausch eine künstlerische Reflexivität erhielte; es wäre also nicht so, dass ein schillerndes Wechselspiel von Apollinität und Dionysität stattfände. Als Be-
32 »Diese [apollinische] Vergöttlichung der Individuation kennt […] nur Ein Gesetz, das Individuum, d.h. die Einhaltung der Grenzen des Individuums«. (40) 33 Nietzsche zieht die mythische Sage über Apollos Einsatz für die Rettung des Dionysos heran: »Der Mythus sagt, daß Apollo den zerrissenen Dionysos wieder zusammengefügt habe. Dies ist das Bild des durch Apollo neugeschaffenen, aus seiner asiatischen Zerreißung geretteten Dionysos«. (DW 1, KSA 1, 559) In dieser Beschreibung entfällt aber der Aspekt, nach dem der Apollo beim Rettungseinsatz für den Dionysos, bei der Teilnahme an dieser Rettung sich zu opfern wagen, also die Individualität als seine wesentliche ›Eigenschaft‹ aufgeben muss.
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obachter im Rausch hinter sich zu liegen heißt nicht, im Rausch sein Bewusstsein zu bewahren und ihn auf Distanz zu beobachten – dies wäre kein Rausch, nur ein Schein-Rausch. Vielmehr findet der Rausch der griechischen Orgie in einem »Nebeneinander« beider, also in einer Nicht-Mehr-Getrenntheit beider statt: Der Rausch in der Besonnenheit oder die Besonnenheit in dem Rausch bezeichnet das Griechisch-Dionysische, das bereits apollinisch ist. Ein Außer-sichSein im Bei-sich-Sein oder ein Bei-sich-Sein im Außer-sich-Sein. Die Selbstentäußerung im Rausch bedeutet also nicht einfach ein ›Nichts‹ des Selbst. Vielmehr charakterisiert eine sonderbare Empfindung diesen »künstlerischen« Zustand des Rauschs: »[E]twas Nieempfundenes drängt sich zur Aeusserung«. (33) In der orgiastischen »Selbstentäusserung« stellt sich also eine Empfindung des Ur-Einen, der Ur-Einheit, ›Verschmelzung‹ oder »Weltenharmonie« (29) ein. Diese Empfindung lässt sich aber durch einen zweifachen Mangel kennzeichnen: 1) Sie wird ohne individuelles Bewusstsein empfunden, weil sie in dessen Preisgabe, also im Rausch erlebt wird. 2) Sie hat keinen bestimmten Gegenstand: Der Zustand des Ur-Einen als der ›Gegenstand‹ dieser Empfindung wird so empfunden, dass er keine Begrenzung, keine Bestimmung, keine Differenz impliziert; keine Begrenzung, Bestimmung und Differenz also, die die basale Bedingung dafür ist, dass ein Gegenstand überhaupt als ein bestimmter erkannt, hier: empfunden werden kann – dass er überhaupt als ein Gegenstand identifiziert werden kann –, und die das Dasein eines anderen Gegenstands zur Folge haben muss. In diesem zweifachen Mangel – Mangel der Individualität des empfindenden Subjekts und der Bestimmtheit des empfundenen Objekts – wird die Grundfrage der Erkenntnis ›Wer erkennt was, wer empfindet was?‹ desartikuliert:34 In der Empfindung des Rauschs sind die subjektive Indi-
34 Dieser im Rausch auftretende apollinisch-dionysische »künstlerische« Zustand ohne oder vor ›subjektiver‹ Individualität und ›objektiver‹ Bestimmtheit lässt sich mit dem Moment des dichterischen Prozesses parallelisieren, das Nietzsche unter Verweis auf Schiller erläutert: »Ueber den Prozess seines Dichtens hat uns Schiller durch eine ihm selbst unerklärliche, doch nicht bedenklich scheinende psychologische Beobachtung Licht gebracht; er gesteht nämlich als den vorbereitenden Zustand vor dem Actus des Dichtens nicht etwa eine Reihe von Bildern, mit geordneter Causalität der Gedanken, vor sich und in sich gehabt zu haben, sondern vielmehr eine musikalische Stimmung (›Die Empfindung ist bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemüthsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee‹)«. (43; erste Hervorh. im Original, die zweite von mir.) Schiller berichtet über ein ›Selbstbewusstsein‹, das in diesem vordichterischen Zustand, noch ohne die Individualität des Dichters und ohne poetische
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vidualität und die objektive Bestimmtheit verschwommen und verschwunden; in der subjektiven Transindividualität und in der gegenständlichen Unbestimmtheit, also in der zweifachen Suspendierung des Subjektiven und des Objektiven, scheint es nichts anderes zu sein als diese Suspendierung selbst, die empfunden wird. Das, was im Rausch empfindet, ist also ein ›Selbst‹ der Suspendierung, das sich als suspendiert und suspendierend empfindet, ein Selbst als diese Suspendierung; ein Selbst, das sich in der Selbstsuspendierung befindet. Ein Selbst, das sich der Bestimmung, Identität, Identifizierung überhaupt entzieht, empfindet sich selbst als solches.35 In dieser Doppelheit des Apollinischen und des Dionysischen rückt der Funktionszusammenhang der symbolischen Veranstaltung des Rauschs in ein völlig neues Licht: In den griechisch-dionysischen Festtagen gedenkt also nicht nur der »dionysische Grieche« symbolisch seines Ursprungs, sondern auch das apollinische Kultur-Selbst, das nicht nur die Errichtung des dionysischen Festes in seinem Kulturreich erlaubt, sondern sich selbst in einer rauschhaften Besonnenheit und mit einem selbstlosen Selbst daran beteiligt. Die symbolischdionysische Kulturveranstaltung ist ein stillschweigendes Gedenken an den verlorenen Ursprung der apollinischen Kultur. Der ›dionysische Grieche‹ ist darin sozusagen der doppelgängerische Stellvertreter des apollinischen. Damit erweist sich die griechische Rausch-Veranstaltung als eine, in der sich das apollinische Kultur-Selbst an seinen Natur-Ursprung erinnert. So ist der Ursprung, dessen bei
Objektivität, einen Zustand empfindet, von dem man nur schwer angeben kann, ob er ein künstlerischer oder eher ein vor-künstlerischer ist und wer der ›psychologische‹ Beobachter dieses Zustands vor der Individualität, vor dem individuellen »Actus des Dichtens« ist. Zum »dunklen« Zustand, der über den zwar »klaren«, aber »verworrenen« ästhetischen Zustand hinausgeht, vgl. Menkes Darstellung der neuzeitlichen Geschichte der ästhetischen Konzeption der Kraft in: Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. 35 Nietzsche nennt dieses Selbst subjektiv als das »Generell-Menschliche […]« und objektiv als das »Allgemein-Natürliche […]« (DW 1, KSA 1, 555 und GG, KSA 1, 582), das sich also als eine »höhere […] idealere […] Gemeinsamkeit« (DW 1, KSA 1, 555) aufgrund seiner ›Allgemeinheit‹ der bestimmenden Identifizierung entzieht. In diesem Zustand des Selbst wird der gewöhnliche Unterschied zwischen Subjektivem und Objektivem selbst in Frage gestellt: »Der ästhetische Zustand ist weder etwas Subjektives noch etwas Objektives.« (Heidegger, Nietzsche I, S. 145)
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den dionysischen Orgien gedacht wird, zugleich der des apollinischen KulturSelbst.36 5.2.4 Zeit und Sein des Ursprungs: der vorausgesetzte Ursprung Und außer dem ›Wer‹ dieses Gedenkens ist des Weiteren das ›Wie‹ dieses Ursprungs wichtig. Die zeitliche Ordnung des Ursprungs und damit dessen Daseinsweise wird grundsätzlich geändert: Der symbolische Zustand des Ur-Einen, der durch die Hellenisierung des Dionysischen fast sprunghaft im hellenischen Kulturreich zum Vorschein gekommen zu sein scheint, wird, wie gesagt, als ein verlorener erlebt; vergegenwärtigt man sich aber noch einmal den Hellenisierungsprozess des Dionysischen, kann man bemerken, dass Nietzsches Argumentation über diese romantische Auffassung des Dionysischen weit hinausgeht; der Einheitszustand wird zwar als dagewesen erfahren, aber er wird erst nach der apollinischen »Idealisierung« (DW 1, KSA 1, 556) des Dionysischen so erfahren. Es ist keineswegs so, dass der dionysische Zustand der ursprünglichen Differenzlosigkeit früher einmal real da gewesen wäre – wann sollte das auch der Fall gewesen sein? –, dass er sodann nach dem Auftritt der apollinischen Kultur verloren gegangen wäre und dass in der griechischen Orgie seiner symbolisch gedacht würde. Vielmehr kann der Zustand des Ur-Einen nur als verlorener erlebt werden. Es ist so, dass er nie da gewesen ist und dass er sich nach der Etablierung der griechischen Feste oder gleichzeitig mit dieser Etablierung erst als ver-
36 Die Struktur von ›Spiel mit dem Rausch‹ ist nicht allein dem griechischen Orgienfest eigen, sondern zeigt schon in seiner keimhaften Gestalt die Struktur der dramatischen Kunst, die die höchste Stufe der Kunstentwicklung sein soll: »Im Schauspieler erkennen wir den dionysischen Menschen wieder, den instinktiven Dichter Sänger Tänzer, aber als gespielten dionysischen Menschen«. (KSA 1, 567) Der ›dionysische Mensch‹ in der griechischen Orgie ist das Urbild des Schauspielers im späteren attischen Drama. Das erlaubt sich zu fragen, ob das Spiel mit dem Rausch nicht eine basale Struktur der Kunst überhaupt ausmacht. Denn das Element, das die erste, uranfängliche Form der Kunst ermöglicht, erweist sich auch in ihrer letzten: in der Tragödie. Tatsächlich hat Schelling diese Zusammengehörigkeit des Spiels und des Rauschs, »[n]icht in verschiedenen Augenblicken, sondern in demselben Augenblick zugleich trunken und nüchtern zu seyn«, als Grundanliegen der Kunst bezeichnet (Schelling, Philosophie der Offenbarung, 2. Theil, S. 25). Zur Diskussion über diese Thematik besonders in ihrem geschichtsphilosophischen Kontext vgl. das nächste Kapitel der vorliegenden Arbeit.
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lorener manifestiert. Dabei wird der Ursprung nur in der kulturellen Ebene in dessen Verlust vorgestellt, erfahren, symbolisiert; er ist nie eine Gegenwart gewesen; er ist nie eine vergangene Gegenwart. Der Ursprung ist nicht gewesen.37 Die Natur als vergangene ›Wahrheit‹ der Kultur existierte nicht. Die ›romantische‹ Natur, ihre »unwiederbringlich entschwundene Gegenwart« und die »Empfindung des verlorenen Einklangs mit dem Ganzen der Welt«38 ist fiktiv. Der Ursprung existierte also nie wirklich für sich; er existiert vielmehr nur im Medium des Blicks in die Vergangenheit – er existiert erst durch den kulturellen Rückblick, durch den Rückblick des Kultur-Selbst auf seine genealogische Vergangenheit, die nur durch diesen Rückblick ihre zeitliche Existenz erhält. Der Ursprung muss, so könnte man sagen, gesehen werden, um derjenige der Kultur zu sein. Das Dargestellt-Werden ist das wesentliche Moment des Seins des Ursprungs.39 Ohne Kultur gäbe es also ihren Ursprung nicht. Den Ursprung des Selbst der Kultur gibt es nur, wenn sich eine Rückwendung des KulturSelbst vollzieht, die nichts anderes als seine Selbstgründung ist.40 Der auf den
37 Bereits zeigt Schiller in der kritischen Distanzierung von sowohl dem Klassizismus wie auch dem (Rousseauʼschen) Romantizismus das Bewusstsein der eigentümlichen Zeitlichkeit der Natur, nämlich ihrer »ewigen« Vergangenheit: »Sie[: die Natur als Gegenstand des Neides der Modernen] liegt hinter dir[: dem Leser als Modernem], sie muß ewig hinter dir liegen. Verlassen von der Leiter, die dich trug, bleibt dir jetzt keine andere Wahl mehr, als mit freiem Bewußtsein und Willen das Gesetz zu ergreifen, oder rettungslos in eine bodenlose Tiefe zu fallen«. (Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, S. 428, Hervorh. von mir.) 38 Jauß, »Literarische Tradition«, S. 49. 39 Über dieses wesentliche Moment des Gesehenwerdens im Ursprung der Kultur spricht Nietzsche in der GT im noch schopenhauerischen Wort: »In den Griechen wollte der ›Wille‹ sich selbst, in der Verklärung des Genius und der Kunstwelt, anschauen«. (37) 40 Die Paradoxie des Moments der Rückwendung hat Nietzsche in jener Passage veranschaulicht, in der er den »unheimlichen« Charakter des künstlerischen »Actus« des Kultur-»Genius« verbildlicht: »Nur soweit der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der Kunst; denn in jenem Zustand ist er, wunderbarerweise, dem unheimlichen Bild des Märchens gleich, das die Augen drehn und sich selbst anschaun kann; jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer«. (47 f.; Hervorh. von mir.) Wir können in dieser Passage trotz der schopenhauerischen Hinterlassenschaft der hypostasierten doppelten Figuren von »Genius«/»Urkünstler der Welt« die These herausformulieren, das Selbst der Kultur tritt in Erscheinung nur, indem es sich durch eine selbstreferentielle Rückwendung für sich selbst darstellt, in
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ersten Blick banal klingende Satz, dass der Ursprung der Kultur ihre Voraussetzung ist, bekommt also in diesem Zusammenhang eine neue zeitliche Dimension: Er verweist nicht mehr einfach auf die chronologische Ordnung, in der sich eine kausalhistorische Reihe von Tatbeständen von den vermeintlichen Ursprüngen bis zur gegenwärtigen Kultur erstreckt. Er weist vielmehr darauf hin, dass der Ursprung der Kultur das ist, was das Selbst der Kultur in seiner Selbststiftung im Voraus gesetzt hat, was es also darin voraus-gesetzt hat. Der Ursprung der Kultur als ihre Voraussetzung ist von ihr in einer Zeit des Voraus gesetzt – in einer Zeit, deren Dimension selber erst mit dieser Setzung geöffnet ist.41 Der Ursprung ist nicht an sich, nicht von Anfang an da, sondern entsprungen in dem sprunghaften Akt der Selbst-Gründung der Kultur selbst. Er ist ja eine ›Handlung‹ des Kultur-Selbst im Augenblick seiner Selbstgründung. Der Ursprung ist eine Handlung des Kultur-Selbst – er ist nicht ein Werk unter anderen, die das Kultur-Selbst aufgrund seiner bereits etablierten zivilisatorischen Verfasstheit geschaffen hat, sondern sein erstes, sein allererstes Werk in dem Sinne, dass er das Werk des Kultur-Selbst im Augenblick seines allerersten Handelns ist – desjenigen Handelns nämlich, durch das es sich erst setzt. Der Ursprung ist also nicht bloß ein Ergebnis der Setzungsakte des Kultur-Selbst,
deren Moment es nicht dieses oder jenes Objekt, sondern gerade den Akt des Sehens selbst verbildlicht. Damit der Zustand der Kultur zustande kommen kann, ist es nicht hinreichend, sich allein bestimmte Kulturobjekte anschauen und sie damit in eine Ordnung hineindifferenzieren zu können; dafür bedarf es noch, diesen Akt des Anschauens selbst veranschaulichen. (Man dürfte hier ein Luhmannsches systemtheoretisches Moment avant là lettre erkennen.) Erst durch diesen »künstlerischen« Akt der Selbstanschauung ist nämlich die »Zeugung« des Kultur-Selbst möglich. Die »Kunst« ist von Nietzsche spezifisch als bildliche Selbstzeugung definiert und hängt in erster Linie mit der Instanz der Instituierung des Kulturellen zusammen. »[D]ie eigentliche Kunst ist das Erschaffenkönnen von Bildern […]. Auf dieser Eigenschaft – einer allgemein menschlichen – beruht die Kulturbedeutung der Kunst«. (DW 2, KSA 1, 564; Herv. i.O.) Die Kunst ist die Fähigkeit zum Erschaffen des Selbst der Kultur durch das Erschaffen seiner Bilder, wobei der Genitiv ›des‹ zugleich genitivus objectivus und subjectivus ist. Die Kunst ist also eine höchst performative, generative Tätigkeit der Hervorbringung des Selbst. Zur Gründung als Darstellung vgl. auch den folgenden Abschnitt dieses Textes (»Eine moderne Hermeneutik des Ursprungs«). 41 Zur Voraus- oder Vor-Struktur dieser Voraussetzung des Ursprungs vgl. auch Werner Hamachers Nietzsche- und Kant-Interpretation: Hamacher, »Das Versprechen der Auslegung. Zum hermeneutischen Imperativ bei Kant und Nietzsche«, in: ders., Entferntes Verstehen, S. 49-112, hier S. 64 und 67-70.
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sondern vielmehr seine allererste Wirklichkeit, seine allererste ›Werk-lichkeit‹,42 in der sein Tun und dessen Ergebnis, sein Tun und es selbst, mithin sein Tun und sein Leiden dieses Tuns, also seine reine Aktivität und seine reine Passivität nicht mehr unterschieden sind.43 Damit ist im Ursprung ein Doppelvollzug des kulturellen Selbst enthalten: 1) Der Ursprung ist ein tätiger Zeitpunkt, ja ein operierender Zeit-Generator, durch den überhaupt eine Zeit entsteht, die kulturell ist; er ist selber eine Öffnung der Zeit der Kultur. Ursprung ist damit eine Öffnung (innerhalb) der mechanischen Ordnung der chronologisch-tatsächlichen ZeitDimension. Der Ursprung ist ein Geschehen des öffnenden Sprungs, mit dem erst das Selbst der Kultur sich und seine Zeitlichkeit gründet und beginnen lässt. Er ist, ursprünglich gedacht, diese reine Wirklichkeit, die die kulturellen Wirklichkeiten sich allererst gestalten lässt – und 2) sie damit zugleich entstalten und vernichten kann. Der Ursprung ist eine Öffnung, in dem sowohl die Möglichkeit der Gestaltung der Kultur wie die ihrer Entstaltung enthalten ist.44 5.2.5 Eine moderne Hermeneutik des Ursprungs Die eigentliche Zeitlichkeit und Seinsweise des Ursprungs des Kultur-Selbst, wie sie oben dargestellt wurde, ist zwar nicht explizit auf der rhetorisch prunkhaften und narrativ eindrucksvollen Oberfläche des Textes formuliert, aber sie lässt sich mittels dessen argumentativ notwendiger Rekonstruktion deutlich genug artikulieren. Kurz zusammengefasst: a) Der Ursprung ist seitens des Kultur-Selbst im Augenblick seiner Selbstset-
zung vorausgesetzt.
42 Es handelt sich um eine Formulierung von Werner Hamacher. 43 Diesen in seinem frühen Denken noch impliziten Gedanken der Gleichsetzung des Tuns und des Leidens, die die Folge der In-Frage-Stellung der Unterscheidung zwischen dem Subjekt und seinem Tun ist, entwickelt Nietzsche explizit in seiner späten Phase; vgl. z.B. WM 546. 44 Walter Benjamin hat zu Recht zwischen dem Ursprung und der Entstehung unterschieden: »Ursprung, wiewohl durchaus historische Kategorie, hat mit Entstehung dennoch nichts gemein. Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint. Der Ursprung steht im Fluß des Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial hinein. Im nackten offenkundigen Bestand des Faktischen gibt das Ursprüngliche sich niemals zu erkennen«. (Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 28)
158 | S UBJEKTIVITÄT UND K UNST b) Er wird darin nicht einfach als eine feste Ausgangslage der Kultur, sondern
als ein die kulturelle Zeit öffnendes Geschehen gesetzt. c) Folglich ist der Ursprung, der hier als ein Ur-Sprung ist, nichts anderes als
die reine Aktion der Selbstgründung des Kultur-Selbst. d) Dieser Ursprung bietet als solch eine reine Öffnung die Möglichkeit sowohl
zur Gestaltung als auch zur ›Entstaltung‹ der Kultur. Diese Züge des Ursprungs – Retroaktivität, öffnende Ereignishaftigkeit, Doppelheit und Plastizität des Ursprungs in dessen Verhältnis zum Kultur-Selbst – gehören zu den begrifflichen Kernstücken des Tragödienbuches, die diese vielgeschmähte Schrift erst von jedem Verdacht des ›Romantischen‹, Restaurativen, Metaphysischen und – des Weiteren – des Pessimismus befreien und ihre Modernität in den Blick kommen lassen. Und noch mehr: Diese modern zu nennenden Dimensionen der Zeitlichkeit bzw. der Seinsweise des Ursprungs sind verbunden mit dessen epistemologischer oder darstellerischer Dimension und zwingen zu einer neuen Definition von dessen Hermeneutik: Der Ursprung der Kultur oder der Grund des Selbst ist nur nachträglich zu erkennen oder darzustellen; und dies ist deshalb so, weil nur durch die Selbsterrichtung des Kultur-Selbst, nur durch den Vollzug dieser Selbsterrichtung, die Darstellung des Ursprungs oder des Grunds ermöglicht wird; Selbstsetzung des Selbst der Kultur ist nämlich eine Tätigkeit des Erkennens oder Darstellens seines Ursprungs oder Grundes. Dass also der Ursprung an sich deshalb nicht mehr gedacht werden kann, weil das Selbst der Kultur ihn als seinen Grund setzt; dass der Ursprung selbst darum nicht mehr substanziell und substantiv gedacht werden kann, weil ein so gesetzter Ursprung ein geöffneter ist, weil er so ein Vollzug der Öffnung ist; dass er dem Selbst der Kultur gegenüber deshalb nicht mehr als ein unabhängiges Sein in Erscheinung treten kann, weil dieser Öffnungsvollzug der Kultur und ihrer Zeit nichts anderes als der Vollzug der Selbstgründung dieses Selbst ist; dass er deshalb kein fester, vertrauenswürdiger Grund der Kultur mehr sein kann, weil er eine indifferente Öffnung ist, die keine Teleologie der kulturellen Fortentwicklung mehr vorgibt – diese vier Züge des Ursprungs machen die Erkenntnis oder die Darstellung des Ursprungs der Kultur und des Grundes des Selbst zu einer besonderen Art von Hermeneutik, die sich von der ›traditionellen‹ grundlegend unterscheidet. Der traditionellen Hermeneutik liegt nämlich ein Dualismus von Sein und Erkenntnis zugrunde; ein Dualismus, der davon ausgeht, dass das Sein und dessen Erkenntnis ursprünglich gegeneinander indifferent, ursprünglich voneinander unabhängig sind, dass also das interpretative oder verstehende Erkennen sich auf das zu erkennende Sein als An-sich-Seiendes bezieht, das – nach Nietzsches kritischem
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Ausdruck sechs Jahre nach dem Tragödienbuch – als »Kern und Wesen des ›Dinges an sich‹«45 vor, bei und nach der Interpretation seinem Erkenntnisinhalt gemäß stets unaffiziert bleibt. Diese Art der Hermeneutik basiert auf einer »metaphysische[n] Philosophie«, die »für die höher gewertheten Dinge einen Wunder-Ursprung annahm« (ebd.), dessen Dasein und Wert durch ein nur passiv empfangendes Verstehen aufgefasst und dargestellt werden kann; die Interpretation beansprucht dabei nur einen späten Zugang zum Ursprung und Grund, zu dem Ersten der Dinge. Eine neue Art der Hermeneutik des Ursprungs, die dessen oben erläuterte neue Zeitlichkeit und Daseinsweise voraussetzt, basiert auf einer dialektischen oder genealogischen Kritik an deren traditioneller Spielart: Das, was als an-sichseiend gilt, muss sich erst als Geschaffenes erweisen.46 Sein ist immer schon interpretiertes Sein; die Selbstsetzung des Selbst der Kultur ist demnach immer schon eine interpretatorische Tätigkeit. Für das apollinische Selbst als den gegenwärtigen Kulturträger – und es kann kein anderes Selbst als ein gegenwärtiges sein – ist der Ursprung der Kultur und der Grund des Selbst einzig als ein interpretativ geschaffener ›zugänglich‹. Damit ist das Sein des Ursprungs oder des Grundes immer schon dessen Dargestellt-Sein. Die Selbstgründung des KulturSelbst ist nämlich ein grundsätzlich darstellendes Unternehmen; Grund-Setzen besteht basal im Darstellen des Grundes; die Gründung ist darstellerisch;47 sie vollzieht sich, indem sie zeigt. Es kann beim Auffassen des Ursprungs und der
45 Menschliches, Allzumenschliches I 1, KSA 2, 23. 46 »Nicht im Erkennen, im Schaffen liegt unser Heil!« (Nachlass 1872-1873, 19 [125], KSA 7, 459; Herv. i.O.) So lautet ein Fragment, das im Kontext der Überlegungen zur modernen Epistemologie (seit Kants erster Kritik) in der Entstehungszeit der GT gehört; hier bedeutet »Erkennen« eine passive Wahrnehmung des festen und vorgängig dastehenden Seins. Dieses »Erkennen« ist nicht mehr möglich – nicht weil es solches Sein überhaupt nicht gäbe, sondern – weil sich solches unmittelbare Sein aus einer aufgeklärten genealogischen Sicht als immer schon gesetztes erweist. »Il n’y a rien d’absolument premier à interpréter, car au fond, tout est déjà interprétation«; (Foucault, »Nietzsche, Freud, Marx«, in: Cahiers de Royaumont Philosophie 6 (1967): Nietzsche, S. 189; Hervorh. von mir) diese Art der – modernen – Hermeneutik sieht Foucault außer in der Genealogie der Moral auch in der GT am Werk (ebd., S. 185). 47 »Mann kann das eine Paradoxie der Darstellung nennen. Sie tritt immer dann auf, wenn der darzustellende Ursprung auch der Ursprung der dazu benötigten Darstellungsmittel ist«. (Albrecht Koschorke, »SYSTEM. Die Ästhetik und das Anfangsproblem«, hier: S. 152; Herv. i.O.)
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Erkenntnis des Grundes kein Unmittelbares mehr geben, sondern ein nur vermittelndes Verstehen stellt das Unmittelbare als solches dar. Dass das Sein noch als unmittelbar angenommen ist, ist also ein Zeichen des Noch-nicht-reflektiertSeins, ein Zeichen dafür, dass noch nicht eingesehen ist, dass das Sein ein Immer-schon-interpretiert-Sein, ein Immer-schon-dargestellt-Sein, ein Immerschon-geschaffen-Sein ist – dass das Sein gesetzt ist; dass es daher Schein ist; dass das unmittelbare Sein der unmittelbare Schein ist. 5.2.6 Schaffende Nachahmung der Kunst: Kritik und Metaphysik des Scheins (I) Das Sein in dessen Verständnis als hermeneutisch-darstellerisch Gesetzt ist Schein. Hier ist der Ort, an dem Nietzsche als das erkennende Medium des Seins – in einem post-kantischen Problembewusstsein hinsichtlich der »Wissenschaft« – die »Kunst« einsetzt, die sich hier zunächst in einem breiteren Sinn der techné verstehen sollte. Die interpretatorische Darstellung des Seins des Ursprungs oder des Grundes, die »schöpferisch« (H. Blumenberg) verstehende Hermeneutik der Natur ist dabei im zweifachen Sinn eine ›Kunst‹; besser gesagt ist die Kunst von Nietzsche in einer Konfrontation mit der Tradition in zwei Schritten konzipiert: 1) Sie wird zunächst traditionsgemäß als eine ›Nachahmung der Natur‹ aufgefasst: Die Kunst produziert nachahmungsmäßig das, was die Natur eigentlich und ursprünglich produziert oder produzieren sollte. Dies gilt auch im künstlerischen Bereich: »Diesen unmittelbaren Kunstzustände der Natur[: dem Traum und dem Rausch] gegenüber ist jeder Künstler ›Nachahmer‹«. (30) Nietzsche unterwirft sogar seine poetologische Betrachtung über die Entwicklung der griechischen Künste unter diese Formel: »Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen und Gegenüberstellungen[: nach dem apollinischen Phänomen des Traums und dem dionysischen des Rauschs] nahen wir uns jetzt den Griechen, um zu erkennen, in welchem Grade und bis zu welcher Höhe jene Kunsttriebe der Natur in ihnen entwickelt gewesen sind: wodurch wir in den Stand gesetzt werden, das Verhältniss des griechischen Künstlers zu seinen Urbildern, oder nach dem aristotelischen Ausdruck, ›die Nachahmung der Natur‹ tiefer zu verstehn und zu würdigen«. (31)
Die Entwicklung der Kunst richtet sich nach der Entwicklung der Natur. Dies zeigt, dass Nietzsche in diesem ersten Schritt seiner Konzipierung der Kunst noch in der aristotelischen These bleibt – in der These nämlich, die Kunst habe in der Nachahmung die Funktion der Ergänzung und Vollendung des Prozesses
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der Natur:48 Kunst ahme nicht nur die Naturphänomene nach, sie verwirkliche in ihrer Nachahmung auch das, was im Naturprozess ursprünglich programmiert, jedoch noch nicht in Erscheinung getreten sei.49 2) Die Kunst ist aber – darin geht die Funktionsbestimmung der Kunst bei Nietzsche über die Tradition Aristoteles’ hinaus – nicht bloß eine nach der vorgegebenen oder vorgeschriebenen Vorlage wiedergebende oder ergänzende Nachahmung der (sei es bereits in Erscheinung getretenen oder noch potenziell gebliebenen) Natur, sondern – und das ist ein paradoxer Kern des Verständnisses der Funktion der Kunst bei Nietzsche – deren schaffende Nachahmung insofern, als dieser Tätigkeit eine besondere Zeitlichkeit zugrunde liegt: Sie setzt in ihrer darstellend-nachahmenden Gründung die nachzuahmende Natur im Voraus; sie ergänzt und vollendet zwar die Natur – darin bleibt Nietzsche Aristoteles treu –, aber in einer besonderen Zeitlichkeit des Voraus. Das bedeutet, dass die Natur als solche als Urbild, als Ursprung der Kunst und Kultur nur erscheint, wenn sie nachgeahmt, wenn sie durch die Kunst ergänzt und erfüllt wird: »Derselbe Trieb, der die Kunst in’s Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische Welt entstehn, in der sich der hellenische ›Wille‹ einen verklärenden Spiegel vorhielt«. (36; Hervorh. von mir.) Die Kunst ist in ihrer Funktion für das Leben, oder genauer: in ihrer Funktion des Lebens, eine hervorbringende, eine produzierende Tätigkeit des Scheins (der Natur); sie ist poiesis des Scheins; sie ist techné des Scheins. Aber eine besondere Art der Kunst, einer Kunst des schönen Scheins. Sie produziert also die Schönheit, die nur durch ihren Schein der Natur das ist, was sie ist. Sie produziert den schönen Schein der Kultur, die vorgibt, natürlich zu sein,50 indem sie in der Zeitlichkeit des Voraus die Natur nachahmt – und indem sie in diesem Zusammenhang eine »metaphysische« Ergänzung zur Natur vollzieht. Die Kunst vollzieht sich nämlich als ein meta-physisches Ereignis im Augenblick der Nachahmung der Natur, die ihrerseits ›an sich‹ völlig unbestimmt bliebe. An dieser Stelle, an der die Natur ›an sich‹ als völlig unbestimmt erscheint und ihre eindeutige ontologische
48 Aristoteles, Physik, 199a15-17, 194a21. 49 Diesen letzten Punkt hebt Hans Blumenberg hervor: ders., ›Nachahmung der Natur‹. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen [1957], in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt am Main, 2001, S. 9-46, S. 9-12 und 18-27. 50 Die Dialektik der Schönheit und der Natürlichkeit, des Kunstschönen und des Naturschönen ist allerdings seit Kants Kritik der Urteilskraft (§ 45) in die ÄsthetikDiskussion gerückt; für den geschichtsphilosophischen Kontext dieser Dialektik vgl. das nächste Kapitel.
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Vorbildhaftigkeit gegenüber der Kunst verliert, weicht Nietzsche von der aristotelischen Tradition vollkommen ab. Durch die zweistufige Konzipierung der Kunst als Nachahmung der Natur gelangen die Begriffe wie die Kunst, die Natur und die Nachahmung zu deren völlig neuen Konzeptionen, »wodurch wir in den Stand gesetzt werden, [...] ›die Nachahmung der Natur‹ tiefer zu verstehn und zu würdigen« (31; Hervorh. von mir). Eine tieferes Verständnis und eine tiefere Würdigung der aristotelischen Formel der Nachahmung münden in die radikale Abweichung und damit Revision von dieser Tradition. Die Natur selbst oder Natur an sich existiert nicht – sondern nur die Natur als Natur in ihrer darstellerisch gründenden Nachahmung. So lautet also die entscheidende Aussage Nietzsches über die Kunst, dass »die Kunst nicht nur Nachahmung der Naturwirklichkeit, sondern gerade ein metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit ist, zu deren Ueberwindung neben sie gestellt« (151; Hervorh. von mir). Die Kunst ist also nicht mehr bloß eine verspätete Nachahmung der Natur oder der ›Wirklichkeit‹, sondern vielmehr in dem Sinn eine ›metaphysische‹, dass sie sich im dreifachen Sinne der Vorsilbe ›meta‹ (meta- kann, wie es im zitierten Satz zusammengefasst ist, zugleich ›nach-‹, ›über-‹ und ›neben-‹ bedeuten) auf die Natur bezieht: 1) Die Kunst ahmt die Natur nach; sie richtet sich nach der Natur; sie setzt in ihrer Nachahmung die Natur voraus. 2) Sie setzt aber im Augenblick der Nachahmung die Natur voraus; sie enthält also in sich ein über die Natur hinausgehendes, ein sie überbietendes, ein sie – aber in die Richtung der Vergangenheit – überholendes, ein damit ihr übergeordnetes Moment. 3) Sie (trans-)formiert die Natur durch deren Nachahmung (die Vorsilbe meta- bezeichnet auch eine Umwandlung oder einen Wechsel; demnach ist die Formierung zugleich Transformierung und umgekehrt); sie richtet sich nämlich nicht bloß nach der Natur, sondern sie ›ergänzt und vollendet‹ (36) durch Überholung und Überbietung die Natur als ihr »nothwendiges Correlativum und Supplement« (96) neben ihr; das Sein der Natur – und das heißt: das des Ursprungs der Kultur – steht in einer notwendigen Korrelation mit der überbietendnachahmenden Tätigkeit der Kunst neben ihr. Es gibt die Natur nur in ihrem wesentlichen Bezug zur Kunst, so könnte man sagen. Somit ist die Kunst eine ergänzende oder erfüllende Tätigkeit zugleich nach, über, und neben der Natur, in diesem Sinn also ein »metaphysisches Supplement« der Natur.51 Kunst ist nicht
51 Diese Ästhetik-Tradition, die die Natur als dasjenige, was wesentlich von Kunst ergänzt werden muss, betrachtet, lässt sich schon fast bis zum Anfang des Klassizismus zurück verfolgen, zumindest bei Karl Philipp Moritzens Konzept der ›Herausbildung des Schönen aus uns‹ und dann Friedrich Schillers Konzept der sentimentalischen Dichtung als der modernen Art der Dichtung: »Seine Stärke [sc. Stärke des sentimen-
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einfach, wie in der Formulierung von H. R. Jauß, eine »Anti-Natur«;52 Kunst und Natur sind auch nach der ›ästhetischen Wende‹ (Jauß) nicht einfach in einem Gegensatzverhältnis. Die Kunst ist vielmehr eine Para-Natur. Durch die Kunst, erst durch sie und nur dadurch, erhält die Natur ihre Kontur, erhält sie das Wissen von ihren »Regeln«.53 In diesem Sinne wird die Kunst von Nietzsche als »die eigentlich metaphysische Thätigkeit des Menschen« (»Versuch einer Selbstkritik« 5, KSA 1, 17) eingestuft. Sie ist eine metamimesis der Natur.54
talischen Genies, des Genies der Moderne] besteht darin, einen mangelhaften Gegenstand aus sich selbst heraus zu ergänzen, und sich durch eigene Macht aus einem begrenzten Zustand in einen Zustand der Freiheit zu versetzen«. (Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, S. 476; Herv. i.O.) 52 Vgl. Jauß, »Kunst als Anti-Natur: Zur ästhetischen Wende nach 1789«. 53 Vgl. Kants These, die Natur gebe durch das Genie der Kunst die Regel. 54 Blumenberg versteht im oben genannten Aufsatz die ›Kunst‹ – sowohl im Sinne von künstlerischer Tätigkeit wie auch im Sinne der Herstellung des Künstlichen – in ihrer Funktion der Befreiung von der Natur oder dem Sein, indem er Nietzsches Formel aus der GT treu bleibt: Kunst ist die »eigentlich metaphysische Tätigkeit des Menschen« (Herv. i.O.). Er zitiert in diesem klassisch gewordenen Aufsatz diese Formel mehrfach (Blumenberg, »Nachahmung der Natur«, S. 10, 43 und 45), um die Priorität der schaffenden »Kunst« als techné gegenüber der Natur in der Moderne zu demonstrieren; dabei steht das Wort ›metaphysisch‹, so wie es Nietzsche und Blumenberg verstehen, nicht mehr für eine Natur- oder Seinsunterworfenheit, sondern im Gegenteil für eine Sein-schaffende Nachahmung seitens des Menschen. Um diesen paradoxen Charakter einer ›Metaphysik der Kunst‹ zu bezeichnen, benennt Blumenberg die das Künstliche herstellende – nicht nur künstlerische – Tätigkeit des Menschen als »Vorahmung« (S. 45). Nach Nietzsche lässt sich aber diese wortspielerische Bezeichnung noch variieren: Kunst ist eine nicht nur Vor-, sondern auch Über- oder Nebenahmung der Natur, also deren metamimesis. Zu Nietzsches Gedanken der nicht mehr nur wiedergebenden Nachahmung zur Entstehungszeit des Tragödienbuches vgl. Nachlass 1872-1873, 19 [226], 19 [227], 19 [228], KSA 7, 489-491. Insofern wird die Kritik der Metaphysik bei Nietzsche nicht, wie häufig gemeint worden ist, so vollzogen, dass sie auf eine Zerstörung, ja eine Ausrottung der Metaphysik abzielte. Die Kritik der Metaphysik hat ihre Radikalität nicht einfach in einem Vernichtungsfeldzug gegen die metaphysische Tradition, sondern in einem dialektisch-genealogisch komplizierten Verhältnis zu ihr. Das gilt auch noch in seiner späten Phase, in der sein aggressiver Ton gegenüber der europäisch-abendländischen Metaphysik-Tradition immer deutlicher und bissiger wird. Als Beispiel kann Abschnitt 345 von Die fröhliche Wissenschaft herangezogen werden (dieser Abschnitt gehört zu jenem fünften Teil des Buches, der im Jahr 1887 –
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5.2.7 Eine Mythologie des ›romantischen‹ Ursprungs: Kritik der Romantik (I) Der symbolische Akt des Gedenkens an den verlorenen Ursprung der Kultur, an einen dionysischen Einheitszustand im griechischen Orgienfest erscheint nach all diesen Überlegungen in einem völlig neuen Licht: Diese symbolische Nachahmung des dionysischen Einheitszustands, dessen Darstellung eine umfassende körperliche Mimik im Rausch erforderte, erweist sich demnach nur als ein Versuch, sich den Ursprung der Kultur interpretativ vorzustellen, einen Ursprung, der aber selbst eigentlich nichts anderes als ein Geschehen, ein Vollzug der Öffnung der Kultur und ihrer Zeit ist. Die romantisch-symbolische Nachahmung ist in der Tat ein solcher Akt der Setzung des Ursprung, der, sobald der Ursprung gesetzt wird, sobald also die Vergangenheitsdimension des Ursprungs geöffnet wird, seinen Charakter einer Setzung als Öffnung verwischt, indem er den Ursprung der Kultur sentimentalisiert oder romantisiert, indem er ihn also in eine unvordenkliche, in eine unzugängliche und unwiederholbare Vergangenheit versetzt, die unverrückbar, ja gleichsam verdinglicht, als solche Vergangenheit bestehen bleiben muss; durch diesen Charakter des Un- wird der Grundvollzug des retrospektiven Geöffnet- bzw. Geschaffenwerdens der Zeit des Ursprungs durch
zwei Jahre vor Nietzsches ›Zusammenbruch‹ – in der zweiten Auflage dieses Buches zusätzlich erschien): »Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus will, nämlich dass es immer noch ein metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht, – dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist…«. (Fröhliche Wissenschaft § 345, KSA 3, 577; Herv. i.O.) Die Metaphysik, wie unterschiedlich dieses sich fast mit der westlichen Philosophiegeschichte deckende Wort auch immer gedeutet werden mag, markiert also bei Nietzsche, so könnte man sagen, eine wesentliche und unvermeidliche Grenze – wenn nicht des Menschen, dann des menschlichen Lebens oder der menschlichen Kultur; sie ist als Grenze in Letztere(s) immer schon eingeschrieben, angenommen, dass das Leben überhaupt geführt und dass die Kultur überhaupt errichtet werden muss – also auch im Grenzfall, in dem das Leben sich selbst überleben muss; die Herausforderung ist damit nur, dass jene Grenze weiterhin ein Gegenstand des Denkens bleiben muss. Dazu nimmt Nietzsche schon seit seiner frühen Phase – nicht Nicht-mehr-Metaphysik, sondern – eine »neue Metaphysik« (Nachlass 1872-1873, 19 [69], KSA 7, 441) in Anspruch, die vielleicht, provisorisch gesagt, eine Tätigkeit der Reflexion über nichts anderes als ihre eigene Grenze ist.
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das Kultur-Selbst im Augenblick seiner Selbstgründung verdeckt; und das reine Öffnungsgeschehen des Ursprungs, das nichts anderes als der pure Aktus der Selbstsetzung des Kultur-Selbst ist, wird damit in die positive Größe eines voroder nicht-kulturellen Ursprungs, also des Ursprungs in purer Natur, transformiert – in eine Größe, die zwar im Vergleich mit dem ›kleinlichen‹ Maß der Kultur inkommensurabel groß ist, dies aber nur insofern, als sie wesentlich und unwiderruflich vergangen ist und wesentlich in der Vergangenheit stecken bleibt.55 Hier wird eine56 metaphysische Funktion des romantischen Ursprungs sichtbar: Das Kultur-Selbst erinnert sich – und gedenkt im dionysischen Orgienfest symbolisch durch die Stellvertretung des »Dionysosdieners« – seines Ursprungs als seines wenn auch verlorengegangenen Grundes, der in einer unverrückbar bleibenden Vergangenheit, also in einer ›zeitlosen Vergangenheit‹ (Hegel) eine wunderliche Größe besitzt; ein »Wunder-Ursprung«57 verewigt sich auf diese Weise in der Vergangenheit als ein metaphysischer Grund des gegenwärtigen Kultur-Selbst und verweigert sich zugleich dem Zugang von der Gegenwart her. Hier zeigt sich die besondere Funktion, die dem romantischen Ursprung des
55 Diese Verwischung oder Verdeckung des Geschehenscharakters des Ursprungs und seine romantische Positivierung ließe sich des Weiteren parallelisieren mit der Verwischung oder Verdeckung des Geschehenscharakters der Handlung des Subjekts auf der anthropologischen Ebene. Diese letztere Überlegung, die Nietzsche erst in seiner Genealogie der Moral (insbesondere in der ersten Abhandlung, § 13) und in anderen späten Aufzeichnungen in vollem Umfang darlegen wird, entwickelt er zur Entstehungszeit des Tragödienbuches zwar erst fragmentarisch, aber doch bereits in einem deutlichen Bewusstsein der Idee; vgl. dafür Nachlass 1872-1873, 19 [204], 19 [209], 19 [217], KSA 7, 481, 483, 487. Es geht also nach Odo Marquard um eine »Entzauberung der romantischen Naturphilosophie«. Diese Naturphilosophie ist nach ihm eine Abwehrhaltung gegen die Natur: »[D]as ästhetische Genie [ist] diesem Problem der – in ihm selbst – übermächtigen Natur auch in besonderer Weise gewachsen: es hat die erstaunliche Fähigkeit, diese geschichtsbedrohende und geschichtsvernichtende Natur aus einem Schicksal der Realität in ein Spiel der Phantasie zu verwandeln und dadurch unriskant zu machen: und zwar nicht nur, indem es auf die mancherlei Gestalten der Natur sich allein durch Klage und Sehnsucht bezieht, damit sie die ›verlorene‹, die ›ferne‹ Natur sei und nicht die gefährlich-gegenwärtige; sondern auch, indem es die bedrohliche ›Gegenwart‹ dieser Natur ins Kunstwerk bannt«. (Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, S. 94, 96) 56 Noch eine andere metaphysische Funktion, oder besser: Figur des romantischen Ursprungs erläutere ich im Folgenden im Abschnitt 5.2.10. 57 Menschliches, Allzumenschliches I 1, KSA 2, 23.
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Selbst der Kultur zukommt: Er fungiert als metaphysischer Grund des KulturSelbst, der aber nie wiederhergestellt werden kann. Die Unerreichbarkeit des Grundes und Ursprungs unterstreicht dessen metaphysischen Charakter; durch sie nämlich ist die Absolutheit des Grundes und Ursprungs bewahrt. Die romantische Natur ist aber in der Tat eine romantisierte. Die ›reine‹ Natur, die vermeintlich am Eingang der Kultur steht und von allen Absätzen der Kultur noch nicht verunreinigt ist, existierte in der Tat an sich nicht58: Solche Natur kann nur in Korrelation mit dem originalen Akt, der jener ›Reinheit‹ der Natur vorangeht und als ein öffnender diese hervorbringt, seinen Bestand haben. Was dabei wirklich rein ist, ist nicht die ›reine‹ Natur, sondern der Akt der öffnenden Hervorbringung selbst. Aus diesen Überlegungen lässt sich eine Konsequenz ziehen, die sich in folgender Weise ideologiekritisch artikulieren lässt: Das, was als (unmittelbar) rein erscheint, erscheint nur insofern so, als es sich auf etwas anderes als auf seine Bedingung bezieht; d.h. es kann nur dann als rein erscheinen, wenn es einen ›unreinen‹ Bezug auf den Akt der Reinigung hat. Wenn man dies im Auge behält, kann man bemerken, dass die symbolische Vergegenwärtigung des dionysischen Ursprungs als eines ureinheitlichen Zustandes im griechischen Rausch also als eine Art und Weise der Bezugnahme auf diesen Akt anzusehen ist – und zwar als eine Art und Weise, die ›ideologisch‹ verfährt: Sie verwischt oder verdrängt diese Beziehung zum ursprünglichen Akt oder Akt des Sprungs, setzt an dessen Stelle ein Bild des Ursprungs, das bereits den Vollzugscharakter des Aktes verloren hat, und etabliert damit ein neues, aber verspätetes Verhältnis, das den ersten, den originalen Bezug zum ursprünglichen Akt ersetzt: ein romantisch-semiotisches Verhältnis zwischen dem uridealen Zustand einer »Gemeinsamkeit« (30), der als unwiderruflich vergangener vorgestellt
58 So die Kritik Nietzsches an der romantischen Vorstellung der Natur: »Hier muss nun ausgesprochen werden, dass diese von den neueren[: modernen] Menschen so sehnsüchtig angeschaute Harmonie, ja Einheit des Menschen mit der Natur, für die Schiller das Kunstwort ›naiv‹ in Geltung gebracht hat, keinesfalls ein so einfacher, sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeidlicher Zustand ist, dem wir an der Pforte jeder Cultur, als einem Paradies der Menschheit begegnen müssten: dies konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rousseau’s sich auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen solchen am Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil gefunden zu haben wähnte«. (37) Hier kritisiert Nietzsche aber, wie man sieht, sowohl die romantische als auch die klassizistische Vorstellung der Natur: Beide Vorstellungen stimmen darin überein, dass sie sich die Natur so vorstellen, dass sie am Ursprung der Kultur – »an der Pforte jeder Cultur« – in ihrem ›reinen‹ Zustand für sich bestehe.
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wird, und dem symbolischen Kultakt, durch den auf diesen Urzustand referiert wird.59 5.2.8 Von der Euphorie zur Düsterkeit: Eine Umkehrung in den Figuren des Dionysischen Der Ursprung »an sich« war nicht; der Grund »an sich« ist nicht; so lauten die kritischen, post-romantischen und post-metaphysischen Sätze der Geburt der Tragödie. Das substanzielle Sein ist in der Tat das substanzialisierte. Das Sein der Substanz bezieht sich auf die Aktion der Substanzialisierung; es ist in der Tat ein Geschehen – ein Geschehen, das aber nicht in seinem Vollzug, sondern in dessen Vorstellung, nicht in seiner Präsenz, sondern in seiner Repräsentanz aufgefasst ist. Ohne diese Aktion, die eine ›Kunst‹ der nachträglichen Hermeneutik ist, gäbe es kein Sein. Das ist das Zwischenfazit der Überlegungen zum Ursprung der Kultur. Aber diese kritische Einsicht enthält insofern ein Moment der Verführung, als sie ein Anlass sein könnte, eine umgekehrte metaphysische Position einzunehmen – eine pessimistische nämlich, sofern man in folgender Weise schlussfolgert: Der Ursprung »an sich« war nicht, deshalb war er ein Nichts; der Grund ›an sich‹ ist nicht, deshalb ist er ein Abgrund; in diesen Schlussfolgerungen werden das Nichts und der Abgrund substanzialisiert. Behält man diese Schlussfolgerungen, diese Paralogismen des Substanzialismus, wie ich sie nennen möchte, im Auge, in denen der Optimismus des Seins und der Pessimismus des Nichts ineinander umschlagen, lässt sich eine anscheinend sprunghafte, aber in der bisherigen Lektüre der GT meistens unbemerkt gebliebene Transformation in den Figuren des Dionysischen am Übergang zwischen dem zweiten und dem dritten Abschnitt des Buches aufklären: die Trans-
59 Und durch die Etablierung dieses Verhältnisses stellen sich weitere ein, die die narrativen Diskursebenen der GT ziemlich stark besetzen. Es sind mindestens drei: Erstens das semiotisch-hierarchische, das (infolge der Übernahme von Schopenhauers spezieller Bevorzugung der Musik unter den Kunstarten) eine Rangfolge bezüglich der (Re-) Präsentation der wahrhaften ›Idee‹ etabliert; zweitens das ontologisch-metaphysische, das es erlauben soll, trotz jenes romantischen Zuges oder gerade durch ihn eine ›ewig lebendige‹ Tiefenschicht unterhalb der ›lügenhaften‹ Kultur in den Blick zu bekommen; und drittens das teleologisch-restaurative, das infolge der Etablierung der ontologisch-metaphysischen Ebene des ›dionysischen‹ Seins ein kulturpolitisches Programm der Restauration jenes Kulturguts der archaischen Tiefenschicht lanciert. An der romantischen Darstellung des Ursprungs setzen nämlich hierarchischer Dualismus, ontologische Metaphysik und geschichtsphilosophische Teleologie an.
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formation von der Figur, dass im griechischen Rausch ein allgemeiner Befreiungszustand von Mensch und Natur – wenn auch symbolisch – gefeiert werde, zu derjenigen, dass das Dionysische als die erschreckende Lebenswahrheit verklärungsbedürftig sei; von einer euphorischen Ureinheit, die ein sentimentalischer Gegenstand sei, zu einer pessimistischen Nichtigkeit, die zu vermeiden sei; von einer »höheren Gemeinsamkeit« (30) des ureinheitlichen Seins, das wegen seiner inkommensurablen Größe nur einen symbolischen Zugang erlaubt, zur unvor- und undarstellbaren Grausamkeit einer Nullität, deren zerstörerische Qualität das Leben verschlingen würde; von einem romantischen Sentimentalismus also zu einem buddhistisch-schopenhauerschen Pessimismus. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Transformation, diesem Übergang aber nicht um das Auftauchen eines Widerspruchs, auch nicht um eine argumentative Kaprice; hier tritt vielmehr ein Wechsel des Gegenstands der Substanzialisierung ein: ein Wechsel vom Sein zum Nichts – ein Wechsel oder eine Verwechselung, die demjenigen leicht unterlaufen kann, der nur die ausschließliche Alternative zwischen dem metaphysisch-romantischen Sein und dem pessimistischen Nichts kennt. Und hier ist die Argumentation des Autors auch nicht, wie die narrative Oberfläche des Textes es nahelegen könnte, so auszuführen, dass der sich als apollinisch-maßvoll verstehende Grieche die dionysisch-spektakuläre Kultveranstaltung mit staunendem Auge sehe, dass er aber dabei seinen eigenen verborgenen Grund plötzlich so wahrnehme, dass dieser grausame Grund den Untergrund der apollinischen Kultur selbst ausmache, dass also die Aufgabe bei der Betrachtung der Szene von nun an darin bestehe, die apollinische Architektonik »Stein um Stein« (34) zu demontieren und jenen Untergrund vorzufinden. Dass dies die intendierte Argumentation war, ist kaum denkbar. Denn wenn man nur die explizite argumentative oder vielmehr narrative Oberfläche verfolgt, kann man die Umschläge in dieser ›dramatisch‹ aufgebauten Konfrontationsszene nicht erklären, kann etwa nicht erklären, wie es sein kann, dass »der apollinische Grieche« so abrupt in einem gleichsam mystischen Augenblick oder aufgrund einer Überempfindlichkeit seinen Untergrund wahrnehmen kann und dass überhaupt das Dionysische von einem Gegenüber des Apollinischen plötzlich zu dessen Untergrund wird.60 Vor allem aber: Wenn man argumentativ so naiv bleibt, kann man nicht umhin, das Dionysische – und damit auch das Apollinische – so zu hypos-
60 »Mit welchem Erstaunen musste der apollinische Grieche auf ihn [den dionysischen Griechen, der am Rausch teilnimmt] blicken! Mit einem Erstaunen, das um so grösser war, als sich ihm das Grausen beimischte, dass ihm jenes Alles [die symbolischen Akte im Rausch] doch eigentlich so fremd nicht sei, ja dass sein apollinisches Bewusstsein nur wie ein Schleier diese dionysische Welt vor ihm verdecke«. (34)
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tasieren, dass man sich das Hellenentum wie ein einstöckiges Haus vorstellt, in dem das Apollinische im Erdgeschoss, das Dionysische im Keller angesiedelt wäre. Diese räumliche Hypostasierung führt zu einem umgekehrten Platonismus, der besagt: ›Es ist im Untergrund der Kultur ein Nichts vorhanden, das dionysisch zu nennen ist; wenn das Kultur-Selbst zu diesem tatsächlich gelangen würde, würde es zerstört. Bleibe da oben!‹61 Damit bleibt die Lektüre noch in dem befangen, woraus sich Nietzsche – und wir als Lesende – gerade ›herausdrehen‹ (Heidegger) wollte: im Dualismus nämlich, dessen hartnäckiges Weiterleben er zunächst bei Platon, dann im Christentum, schließlich bei Kant, Schopenhauer und Wagner gesehen hat.62 5.2.9 Schein und Negation: Kritik und Metaphysik des Scheins (II) In diesem Umschlag vom Romantischen ins Pessimistische, vom sentimentalisierten Sein zum zu vermeidenden Nichts, stellt sich also ekliptisch ein Bewusstsein ein, das sich zwar gegen die romantische Auffassung des Ursprungs und die metaphysische des Grundes kritisch verhalten, das aber sodann das Nicht mit Nichts verwechselt hat: Es sieht in der Negation des Seins nur das Nichts; es übersieht unter dieser Substantivierung des Nichts das verbale Moment des Nichts, das Moment des Nichtens innerhalb des Seins als das Differential des Seins; es nimmt in der Denunzierung des Romantisch-Metaphysischen nur das Pessimistische wahr; es meint, dass die Reflexion auf den Ursprung und den
61 Sloterdijks Heranziehung des antiken Idioms »Cave canem!« (wörtlich: Hüte dich vor dem Hund!) für die Figurierung des Dionysischen – Sloterdijk umschreibt jenes Idiom mit »Vorsicht – furchtbare Wahrheit!« (Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, S. 72) – läuft Gefahr, in diese Hypostasierung zu verfallen. 62 Nietzsche wiederholte also, soweit er in einer bestimmten frühen Phase in einem romantisch-metaphysischen Verständnis des Seins befangen blieb, den platonischen Dualismus – allerdings in dessen umgedrehter Version: Er betrieb einen »Melozentrismus« statt des Logozentrismus, wie Bernard Pautrat formuliert (Pautrat, Versions du soleil. Figures et système de Nietzsche, S. 72). Tatsächlich hat Nietzsche sein Projekt zur Zeit der GT als einen »umgedrehte[n] Platonismus« bezeichnet (Nachlass 18701871, 7 [156], KSA 7, 199); diese Umdrehung lässt sich aber nicht einfach als ein ›Auf-den-Kopf-Stellen‹ verstehen; in diesem ›Nicht-Einfach‹ sollte Nietzsches Modernität bestehen; Heidegger hat zu Recht diese Umdrehung als eine »Herausdrehung aus« dem Platonismus bezeichnet (ders., Nietzsche I, S. 233); vgl. dazu Sallis, Crossings. Nietzsche and the Space of Tragedy, S. 2-3.
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Grund letzten Endes nur entweder zum Sein-an-Sich oder zum Nichts-an-Sich gelangen könne; es ist also unfähig, über das An-Sich überhaupt hinauszudenken – und zu leben. Sein oder Nichts, Leben im Sein oder Tod im Nichts – das ist die einzige Alternative seines Denkens und Lebens. Das romantische Bild des Dionysischen, das mit dessen metaphysischem in einer engen Komplizenschaft steht, repräsentiert das Sein ›an sich‹ des Ursprungs, während dessen pessimistisches Bild das Nichts ›an sich‹ des (Ab-)Grundes vertritt. Diese Auffassung, die entweder (romantisch) nur ein metaphysisch transzendentes Sein oder (pessimistisch) nur ein transzendentes Nichts jenseits der Kultur zulässt, mündet aber in den von Platonismus bis Schopenhauer herrschenden Dualismus. In der Transformation der Figuren des Dionysischen ist aber gegen solches Entweder-Oder-Verständnis des Seins und des Nichts ein zwar auf den ersten Blick nur geringfügig, tatsächlich aber entscheidend anderes Bewusstsein am Werk als jenes Bewusstsein, das aus der Negation des Seins-an-sich auf das Nichts-an-Sich (fehl-)geschlossen hat: ein anderes Bewusstsein nämlich, das die Etablierung des Ursprungs der Kultur und die Grundlegung des Grundes des Selbst darin sieht, das Nicht in das Sein einzuprägen oder einzuschreiben, anstatt das Nichts und das Sein substanzialistisch gegeneinander entgegentreten zu lassen.63 Dieses Bewusstsein, das einzig in der Lage zu sein scheint, sich vom Verdacht des Romantizismus, der Metaphysik und des Pessimismus, schließlich von jeder Art des Dualismus zu befreien, und das sich dadurch modern nennen lässt, kann einzig aus der Einsicht hervorgehen, dass das Sein die Negation oder das Nicht nicht als substantivum, sondern als ein Vollzugselement in sich enthält – ein Vollzugselement, das als das Moment der Setzung, Hervorbringung, Prozesshaftigkeit ins Sein eingeschrieben ist. Und dieses Sein, dessen Unmittelbarkeit eine negierte ist, nennt Nietzsche – noch einmal – Schein. Das Sein wird also in Nietzsches Überlegung in zweierlei Weise als Schein aufgefasst: Schein ist das Sein als darstellerisch gesetztes und als in sich negiertes. 1) Sein ist Schein, weil sich sein ›Wesen‹ – wie oben gesagt – darin erschöpft, darstellerisch gesetzt zu sein; weil es, das Sein, so gezeigt wird. Ohne darstellerische Interpretation gäbe es kein Sein. Sein ist das, was es ist, insofern es in seinem Innersten durch die Darstellung ist. 2) Eben daraus ergibt sich, dass Sein darum Schein ist, weil es in sich negiert ist. Das Sein ist in dem Maße hermeneutisch geschaffener Schein, wie es das Vollzugsmoment des Nicht, das Moment des »Depotenziren[s]« (39) in sich enthält – in dem Maße also, wie die
63 Wie man sieht, taucht diese Einprägung des Nicht in das Sein in Nietzsches später Zeit in seiner Konzeption des Werdens, das sich dem Sein nicht mehr entgegensetzt, wieder auf.
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Möglichkeit der Entsubstanzialisierung aus dem Innern des Seins herausleuchtet. Dass durch Schein das ›Wesen der Dinge‹ erscheine, gilt also nicht mehr; das darf allerdings andererseits nicht dahin führen – das wäre ein Paralogismus des Substanzialismus, wie ich es genannt habe –, dass anstelle dieses Wesens ein Nichts träte, das ebenso wie das ›Wesen‹ substanzialisiert ist und in der Weise erscheint, dass es durch den Schein – in einem von Nietzsche häufig verwendeten Wort – »verklärt« wird. Schein ist damit überhaupt nicht mehr Schein von etwas anderem, nicht mehr etwas, das etwas anderes repräsentiert; er referiert also nicht mehr auf etwas, das unter ihm subsistiert, sei es ›Wesen‹ oder ›Nichts‹. Schein ist vielmehr etwas – und das ist die einzig mögliche Bestimmung des Scheins, die sich der imperialen Herrschaft der onto-semiotischen Hierarchie seit Platon entziehen kann –, durch das hindurch sich eine Selbst(de)potenzierung desselben vollzieht; seine Funktion geht vollständig in derjenigen einer Selbstreferenzierung auf. In dieser erscheint das ›Wesen‹ nicht mehr durch Schein, sondern vielmehr als Schein. Schein als Wesen referiert darin auf nichts anderes als sich selbst, repräsentiert nichts anderes als sich selbst; genauer gesagt: Er repräsentiert überhaupt nichts mehr, vielmehr präsentiert er sich selbst in der Selbstreferenzierung. 64 Diese Auto-Referenz des Scheins bedeutet aber nicht einen in sich geschlossenen Zirkel der Referenz, in dem der Schein sein verdichtetes Sein vollenden würde, sondern vielmehr eine Schwächung seiner ontologisch unmittelbaren Dichte. Schein besteht demnach in einer widersprüchlichen Verdopplung von Verdichtung und Verdurchsichtigung seiner selbst. Schein ist nichts anderes als das Sein, das in einer Selbstnegierung, in einem Vollzug der Selbstnegierung, besteht; er durchscheint das Sein. In diesem Sinn ist das Sein als Schein, so Nietzsche, »Schein des Scheins« (ebd.); denn der Schein, wie er sich hier definiert, impliziert in sich das Moment der Selbstdepotenzierung, das »Depotenziren des Scheins zum Schein« (ebd.). Schein – als Sein – ist damit das durch dessen Vollzugsmoment in sich reflektierte Sein.65 Wäre der Schein Schein des
64 Zu einer zusammenfassenden Unterscheidung zwischen Repräsentation und Präsentation vgl. Nancy, »Préface«, in: Du Sublime, S. 5-8. 65 Das lässt sich als eine Zwischenstation in einer Reihe der begrifflichen Bemühungen darum betrachten, den Schein als selbstreferentiellen zu retten – in einer Reihe also, die zwar gewissermaßen sporadisch und vereinzelt, aber in einer greifbaren Folge von Schillers Bestimmung des Scheins als ›aufrichtigen und selbständigen‹ über Hegels Versuch zur Verselbständigung des Scheins bis hin zu Nietzsche festgestellt werden kann. Diese Reihe spitzt sich mit vollem Bewusstsein bei Adorno zu, dessen Rettungsaktion den Schein als einen des Scheinlosen definiert. Exemplarisch: Schiller
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Seins, wäre er kein Schein mehr, vielmehr nur noch das Symbol des Seins. Schein ist Schein, insofern er sich nicht dem onto-semiotischen Verweisungszusammenhang unterwirft, in dem das Sein (oder das Nichts) das letzte Signifikat ist. Schein ist Schein, insofern er der Schein des Scheins ist. Schein ist Schein, insofern er der zum Schein, aber nicht zum Symbol depotenzierte Schein ist.66 Will und muss man also bei der Herausarbeitung von Nietzsches nachmetaphysischer Konzeption des Scheins mit jenem ontologisch-hierarchischen Konzept der artistischen Mimesis nicht konform gehen, das – unter unkritischer Übernahme von Schopenhauers hierarchisierender Wertung der Kunstformen nach deren repräsentationaler Nähe oder Distanz zum »Willen« als wahrem Sein – die vordergründige Thesenebene des Tragödienbuches massiv prägt, so scheint es ratsam zu sein, jene Darstellung der Prozessualisierung des Scheins, die Nietzsche anhand der Kommentierung eines Gemäldes Rafaels, der »Transfiguration«, versucht und die er noch unter dem dualistischen, semiotisch hierarchischen Schema zweistufig konzipiert, nicht wörtlich zu nehmen.67 Denn die Hierarchisierungsthese, die dieser Kommentierung zugrunde liegt, ist, wie erwähnt, weder originär bei Nietzsche noch ertragreich für die weitere Theoriebildung. Sie ist vielmehr in zwei Punkten eine genau spiegelbildliche Umkehrung des platonischen Rahmens der Mimesis: 1) An die Stelle der ›Idee‹ als Form tritt das an sich formlose Dionysische. 2) Die Ordnung der Nähe zum wahren Sein ist dadurch umgekehrt, dass die künstlerische Nachahmung – und darunter in erster Linie: die Musik – gegenüber der begrifflichen Erkenntnis Priorität erhält. Diese
sagt etwa im 26. Brief von Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, »[n]ur soweit er aufrichtig ist (sich von allem Anspruch auf Realität ausdrücklich lossagt), und nur soweit er selbständig ist (allen Beistand der Realität entbehrt), ist der Schein ästhetisch«; für Hegel gilt, »daß er [der Schein der Kunst] selbst durch sich hindurchdeutet« (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, 23); und schließlich sagt Adorno, »was erscheint, ist durch seine Bestimmung als Erscheinendes vor dem Erscheinenden immer auch Hülle« (Adorno, Ästhetische Theorie, S. 167). 66 Nietzsche bleibt im Manuskript für die GT noch an diese Auffassung des Scheins als Symbols des Seins gebunden (KSA 1, 567, 571). 67 »In seiner [Rafaels] Transfiguration zeigt uns die untere Hälfte, mit dem besessenen Knaben, den verzweifelnden Trägern, den rathlos geängstigten Jüngern, die Wiederspiegelung des ewigen Urschmerzes, des einzigen Grundes der Welt: der ›Schein‹ ist hier Widerschein des ewigen Widerspruchs, des Vater der Dinge. Aus diesem Schein steigt nun, wie ein ambrosischer Duft, eine visiongleiche neue Scheinwelt empor, von der jene im ersten Schein Befangenen nichts sehen«. (39; Herv. i.O.)
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spiegelbildliche Entgegensetzung kann aber nur bedeuten, dass jene These gerade in dieser Umkehrung noch dem ›metaphysischen‹ Anliegen verhaftet bleibt.68 5.2.10 Romantik – Metaphysik – Pessimismus: Kritik der Romantik (II) Bei allen genealogischen Affinitäten besteht ein entscheidender Unterschied zwischen Nietzsches GT und Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung darin, dass Nietzsche das Grundprinzip ablehnt, das in Schopenhauers Hauptwerk als der wesentliche Aspekt des ›Willens‹ alle Bewegungen des Willens in Gang setzt: das Prinzip des Mangels, der »ursprünglich«, »unmittelbar« und in diesem Sinn »positiv«, d.h. primär sei und den zu erfüllen die Befriedigung heiße, wogegen das Prinzip des Willens oder des Seins nach Nietzsche die »Ueberfülle« (»Versuch einer Selbstkritik« 5, KSA 1, 17; Herv. i.O.) oder das »Uebermaass« (41; Herv. i.O.) ist.69 Und dem Mangel liegt eine Zeitdimension zugrunde, in der die Negation des gegenwärtigen Mangels auf die künftige Befriedigung abzielt. Demnach erscheint der gegenwärtige Zustand immer, also: im Prinzip als mangelhaft. Dieser prinzipielle Mangelzustand der Gegenwart macht, so Nietzsche, das Wesen der Romantik aus: Die Romantik beruht nach Nietzsche grundsätzlich auf Mangel, Entbehrung oder Armut der Gegenwart. Ihr wertschätzender Blick richtet sich von dem Mangel der Gegenwart ausgehend auf die Vergangenheit oder die Zukunft, in der die Unzufriedenheit des Mangels noch nicht vorhanden gewesen sei oder erst beseitigt werde; dabei sind im Grunde die Vergangenheit und die Zukunft nicht voneinander unterschieden – beide sind unter dem romantischen Blick differenzlos, weil die Vergangenheit, in der das, was jetzt mangelt, vorhanden war, als die Zukunft, in der es wieder vorhanden sein wird, wiederholt werden muss: Den vergangenen Ursprung – die Zeit, in der man keinen Mangel litt – hat es gegeben; er ist aber jetzt verloren und erst wieder zu erreichen. Die Romantik setzt also einen wertenden, einen normativen Dualismus voraus, der wie der Platonismus und das Christentum einen perfekten
68 Zu Arthur Schopenhauers Sortierung der Kunstformen nach der mimetischen Nähe zum »Willen« vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, § 52. 69 »Die Basis alles Wollens aber ist Bedürftigkeit, Mangel« oder: »Unmittelbar gegeben ist uns immer nur der Mangel, d.h. der Schmerz. […] [D]enn der Mangel, das Entbehren, das Leiden ist das Positive, sich unmittelbar Ankündigende«. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 406 und S. 416 sowie § 38.
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Zustand des Ursprungs als das Ideal setzt, das, noch einmal mit Hegels kritischem Ausdruck gesprochen, »zeitlos vergangen« ist.70 Diese Art der normativen Sentimentalisierung des Ursprungs ist insofern metaphysisch, als sie einen gewesenen Ursprung als denjenigen annimmt, der noch einmal sein wird – sie ist also metaphysisch, weil sie das – sei es das vergangene oder zukünftige – Sein des Ursprungs oder: dessen vergangene oder zukünftige Gegenwart annimmt und »nach Starr-machen, Verewigen, nach Sein« 71 verlangt.72 Die Romantik, die Nietzsche hier kritisiert, ist also nicht mehr ihre erste Form, die in einer Sehnsucht nach einem unwiderruflich vergangenen Zustand besteht – in der Sehnsucht nach dem, was endgültig vorbei ist, in einem Begehren nach dem Nicht-Wiederherstellbaren, also nach dem »sentimentalisch[en]« (33) Gegenstand. Romantik – im Sinne dieser ersten Form – besteht nach ihrem Selbstverständnis in einem Bewusstsein des prinzipiellen Scheiterns beim Versuch des Zugreifens auf den Gegenstand, eines Scheiterns, das eigentlich auf einer fundamentalen Unerreichbarkeit des Intendierten beruht, nämlich auf der grundsätzlichen Abwesenheit, der profunden ›Abgeschiedenheit‹ des Gegenstandes. Romantik besteht also in einer Sehnsucht nach dem Unerreichbaren; wer sich nach seinem sentimentalischen Gegenstand sehnt, der weiß, dass dieser nie und nimmer zur Verfügung steht und stehen wird. Dieses ›romantische‹ Bewusstsein geht aber, wie gezeigt (5.2.7), seinerseits aus der Geste hervor, mit der man sich gegen den ursprünglichen Akt des Ursprungs wehrt; an die Stelle dieses Akts setzt dieses Bewusstsein ein nachträgliches Bild desselben. Das ist die eine, die erste Form der Romantik, die Nietzsche kritisiert – das lässt sich, wenn nicht auf der expliziten narrativen Ebene, dann durch eine argumentative Rekonstruktion des Textes profilieren: Eine, so könnte man sagen, schwache Form der Romantik, die unmöglich begehrt; das Begehren selbst ist unmöglich, weil das
70 Das steht am Anfang seiner Wesenslogik (Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 13); für eine Lektüre, die Hegels Wesenslogik als eine Kritik an der traditionellen Metaphysik darstellt, vgl. Iber, Metaphysik absoluter Relationalität: Eine Studie zu den beiden ersten Kapiteln von Hegels Wesenslogik. 71 Fröhliche Wissenschaft § 370, KSA 3, 621. 72 Die einzige Differenz zwischen der Romantik und der Metaphysik besteht darin, ob man in der Gegenwart das Sein als Anwesendes oder als Abwesendes annimmt, ob man es sich also in der gegenwärtigen Gegenwart oder in der vergangenen bzw. zukünftigen Gegenwart vorstellt. Für die Romantik und die Metaphysik gibt es also nur eine Zeit: die Gegenwart und deren drei Modifikationen – vergangene, zukünftige und gegenwärtige Gegenwart.
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Sein als begehrter Gegenstand selbst als grundsätzlich abwesend angenommen ist. Die andere, eine ›starke‹ Form der Romantik, die Nietzsche hier kritisiert, ist eher eine, die letztendlich darauf hinausläuft, Unmögliches zu begehren. Dies artikuliert sich in zwei Schritten: 1) Sie ist zunächst eine Romantik, die ihre zeitliche Bestimmung überschreitet und ihre Zeitdimension entgrenzt: eine ›Romantik‹ nämlich, die den wesentlichen Vergangenheitscharakter ihres sentimentalischen Gegenstandes schwächen und das, was als endgültig vorbei gilt, wiederherstellen will; eine Romantik, die nicht mehr ›romantisch‹ ist und über sich selbst hinausgeht, indem sie ihren Gegenstand – das Sein – der Vergangenheit entreißt. Sie will dieses Sein erreichen, auf es zugreifen; sie will sich in eine metaphysische Vollkommenheit hinein erheben. Sie ist damit nicht mehr nur ›romantisch‹; sie ist vielmehr bereit, in einer künftigen Vollkommenheit zu triumphieren, indem sie sich vom gegenwärtigen Mangelzustand absetzt; sie würde dann Ruhe – »die Ruhe, Stille, glattes Meer«73 – finden, wenn die sentimentalische Bewegung die verlorene Gegenwart erreicht haben würde. 2) Dass sie, die starke Form der Romantik, jenes vollkommene – d.h.: metaphysische – Sein erreichen würde, dass sie auf es zugreifen würde, bedeutet aber auch, dass sie in dieses Sein hineindrängen,74 in es hineinblicken würde. Und die Folge davon wäre: Sie sähe nichts anderes als Nichts, eine einfache Leere, einen Zustand des »reine[n] Dionysismus«.75 Reines Sein, das zu begehren deshalb unmöglich ist, weil es wesentlich vergangen ist, schlägt dabei in reines Nichts um, das selbst »unmöglich[er]« (ebd.) Gegenstand des Begehrens ist, weil es eine einfache Leere, schlechterdings eine Null ist. Diese starke Form der Romantik – eine, die über sich selbst hinausgehen und das metaphysische Sein erhalten will – schlägt also in Pessimismus um. Sie ist selbstzerstörerisch, indem sie ein Unmögliches begehrt.
73 Fröhliche Wissenschaft § 370, KSA 3, 620. 74 An diesem Punkt knüpft die starke Form der Romantik an die von Nietzsche kritisierte Figur des »theoretischen« oder »sokratischen Menschen« an: »In jene Gründe [der Natur der Dinge] einzudringen und die wahre Erkenntnis vom Schein und vom Irrthum zu sondern, dünkte dem sokratischen Menschen der edelste, selbst der einzige wahrhaft menschliche Beruf zu sein« (GT 15, KSA 1.100; Hervorh. von mir). Auf die Verbindung zwischen jener Form der Romantik und der Figur des theoretischen Menschen kann ich aber hier nicht mehr eingehen. 75 Nachlass 1869-1870, KSA 7, 69.
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Im Geist der Kritik an dieser Form der Romantik lässt sich aber nicht nur die Schopenhauersche Romantik, sondern auch eine gewisse Geste der GT selbst kritisieren. Nur ein Beispiel unter vielen: »Alle unsere Hoffnungen strecken sich vielmehr sehnsuchtsvoll nach jener Wahrnehmung aus, dass unter diesem unruhig auf und nieder zuckenden Culturleben und Bildungskrampfe eine herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft verborgen liegt, die freilich nur in ungeheuren Momenten sich gewaltig einmal bewegt und dann wieder einem zukünftigen Erwachen entgegenträumt« (146 f.; Hervorh. von mir).
In diesem Zitat sind das Romantische und das Metaphysische miteinander verbunden dargestellt: Am Werk ist also hier eine Verbindung zwischen beiden, in der der Mangel des Romantischen und die Fülle des Metaphysischen in einem komplementären Verhältnis stehen; das Romantische entgrenzt sich in das Metaphysische, während sich das Letztere durch die Entgrenzung des Ersteren verwirklichen lässt. Nietzsche kritisiert aber ebendiese Haltung, indem er seine eigene Schrift über die griechische Tragödie retrospektiv rezensiert: »›Sollte es nicht nöthig sein?‹«, so zitiert er selbst eine Stelle der GT 76 , dann antwortet er negativ: »[…] Nein, drei Mal nein! Ihr jungen Romantiker: es sollte nicht nöthig sein! Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass es so endet, dass ihr so endet, nämlich ›getröstet‹, wie [in der selbst zitierten Stelle] geschrieben steht, […] ›metaphysisch getröstet‹, kurz, wie Romantiker enden, christlich …. .« (»Versuch einer Selbstkritik« 7, KSA 1, 22) Diese romantische Haltung kritisiert Nietzsche nach seiner frühen Phase konsequent.77 In seiner Selbstkritik an der GT wird gerade die ›romantisierte‹ Konzeption des dionysischen Ur-Einen denunziert, das als der Träger des ewigen, einheitlichen, nicht entfremdeten Lebens einen »metaphysischen
76 »[S]ollte es nicht nöthig sein, dass der tragische Mensch dieser Cultur […] eine neue Kunst, die Kunst des metaphysischen Trostes, die Tragödie als die ihm zugehörige Helena begehren und mit Faust ausrufen muss: ›Und sollt’ ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt, / In’s Leben zieh’n die einzigste Gestalt?‹« (»Versuch einer Selbstkritik« 7, KSA 1, 22; ursprünglich in der GT S. 119; Herv. i.O.; die Verse, die Nietzsche zitiert, stammen aus Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Zweiter Theil, in: Goethe’s sämmtliche Werke in vierzig Bänden, Bd. 12, Stuttgart/Augsburg/Tübingen: Cotta, 1856, S. 120 ). 77 Das gilt besonders für späte Texte: Fröhliche Wissenschaft (5. Teil, § 370) und Nietzsche contra Wagner (KSA 6, 424-427) sowie für den zitierten Versuch der Selbstkritik in der GT (KSA 1, 20 ff.).
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Trost« anbieten sollte, das in der jetzt herrschenden ›kulturellen Zerrissenheit‹ verschüttet sei und daher als ursprüngliche Natur erst wiederhergestellt werden müsste. Diese romantisch-metaphysische Konzeption des Dionysischen als ›Wahrheit‹ im Gegensatz zur »Culturlüge«, die das Apollinische der kulturellen – »üblen« – Individuierung hypostasiert, nimmt an, dass der dionysische ›Wahrheits‹-Zustand als ein ›archaischer‹ zugleich in der Zukunft wiederkehren soll.78 Diese Konzeption, die zugleich geschichtsphilosophisch restaurativ und ontologisch-substanzialistisch ist, ist zwar seit Jahrzehnten zu Recht Gegenstand der Kritik von den unterschiedlichen Seiten her. 79 Diese Kritiken ziehen aber Nietzsches Selbstkritik nicht hinreichend in Betracht, geschweige denn das, was im Text seine eigentümliche Konzeption sein sollte. Und wir wissen jetzt, warum: Sie ziehen sie nicht genug in Betracht, weil sie Nietzsches moderne Konzeption des Dionysischen von dessen romantischer wie metaphysischer Konzeption nicht klar genug unterscheiden können oder wollen; nur deshalb können sie Nietzsches Erstlingsschrift pauschal denunzieren.80 Denn infolge des Übergangs von der romantischen bzw. metaphysischen zur modernen Konzeption bezieht Nietzsches Auffassung des Dionysischen sich nicht mehr, wie etwa M. Frank und J. Habermas behauptet haben, auf eine ›messianische‹ Erwartung der Ankunft des Dionysischen als eines Heilsgottes, nicht mehr also auf eine solche nochmalige Gegenwart des ehemaligen Idealzustandes. Solche utopische oder ›messianische‹ Erwartung würde in einen ›pessimistischen‹ Schrecken umschlagen, der schlechterdings vermeidenswert wäre. Die Verwirklichung der messianischen Rettung, die eine metaphysische Vollendung bedeuten würde, wäre eine vollkommene Vernichtung; sie wäre schlechthin das Ende, das Nichts. Ihr verstecktes Motiv ist, so lautet Nietzsches wiederholte Kritik, in der Tat eine
78 Zu dieser romantischen Version des Dionysos, in der dieser – nach einer mythischen Sage – von den Titanen zerrissen wurde und durch die Zusammenfügung seiner zerrissenen Glieder noch einmal geboren wird, vgl. S. 72 f.; dabei schließt Nietzsche an Schellings mythologische Überlegung an (vgl. dazu Frank, Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie, II. Teil, S. 56 f.). Zur zeitlichen Äquivalenz zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, zwischen dem Ursprung und dem Zweck in Nietzsches romantischem Projekt der GT vgl. auch De Man, »Genese und Genealogie (Nietzsche)«. 79 Um zwei Beispiele davon zu nennen: Habermas, »Eintritt in die Postmoderne: Nietzsche als Drehscheibe« und De Man, »Genese und Genealogie (Nietzsche)«. 80 De Man sieht aber dabei einige Ansätze, die vom genetisch-ontologischen Schema abweichen (De Man, »Genese und Genealogie (Nietzsche)«, S. 141 ff.). Vgl. auch Lacoue-Labarthe, Le Sujet de la Philosophie. Typographies I, S. 23.
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»Sehnsucht in’s Nichts« (133), »ein Verlangen in’s Nichts«81 oder ein »Wille zum Ende«.82 Das »asketische Ideal« oder der Nihilismus.83 Metaphysische Vollendung und ›pessimistische‹ Vernichtung sind also zwei Seiten einer Medaille. Das reine Sein, nach dem sich die Romantik sehnt, und das reine Nichts, vor dem der Pessimismus resigniert, gehen im Grunde auf das Gleiche hinaus: Beide wünschen sich die Wahrheit des Seins, in der es keine Undurchsichtigkeit mehr gibt, in der alles vollkommen transparent bleibt. Der sich als rein gebärdende Romantizismus würde in einen perfekten Pessimismus, in einen »reine[n] Dionysismus« münden, der »unmöglich« wäre, der »praktisch und theoretisch unlogisch« wäre,84 weil er praktisch nicht gelebt werden könnte und weil er theoretisch der Artikulierbarkeit, Sprachlichkeit, Diskursivierbarkeit überhaupt widersprechen würde. Das würde nur zum »Entsetzliche[n] oder Ab-
81 »Versuch einer Selbstkritik« 5, KSA 1, 18. 82 Fröhliche Wissenschaft, KSA 6, 12. 83 Der Nihilismus überhaupt (oder das asketische Ideal in seiner besonderen Gestalt) verankert sich zwar in, unterscheidet sich aber von der »Grundtatsache des menschlichen Willens«, der sich in seinem Vollzug auch auf das »Nichts« bezieht: Darin, dass das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet habe, so Nietzsches Diagnose dieses Ideals, »drückt sich […] die Grundtatsache des menschlichen Willens aus, sein horror vacui: e r braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen« (Zur Genealogie der Moral III 1, KSA 5, 339; Herv. i.O.; diesen letzten Satz, der am Anfang der Abhandlung steht, wiederholt Nietzsche in signifikanter Weise am Ende der Abhandlung). Die »Grundtatsache«, die grundsätzliche Dimension des Menschen, des menschlichen Willens und der menschlichen Kultur ist zunächst dies: Der menschliche Wille braucht ein Ziel, genauer gesagt, eine Zielsetzung. Er setzt nicht nur ein Ziel, er setzt die Zielsetzung. Es geht um eine Struktur der zweiten Potenz, wie Nietzsche selber sagt (»[U]nd eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen« [Hervorh. modifiziert]). Diese zweite Potenz des Wollens als Zielsetzung bedeutet aber darüber hinaus, dass der menschliche Wille ein Wollen ist, das nicht nur EtwasWollen, sondern auch das Nichts-Wollen wollen kann, nicht bloß eine Setzung des bestimmten Ziels oder des Gegenstandes des Ziels, sondern die Setzung überhaupt, die einen Umschlag in die Aussetzung impliziert – die Aussetzung, in der wiederum nicht nur dieses oder jenes gesetzte Ding ausgesetzt wird, sondern der Setzungsakt überhaupt sich selbst widerspricht – was sich aber nicht schon beeilen sollte, diesen Akt zu ›suspendieren‹. Der Setzungsakt ist insofern einer, als er sich selbst aussetzen kann. 84 Nachlass 1869-1870, 3[32], KSA 7, 69.
5. F IGUREN
DES
D IONYSISCHEN
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K RITIK DES URSPRUNGSBEGRIFFS
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surde[n] des Menschenseins«, zum »Ekel« (DW 3, KSA 1, 566), zum »furchtbare[n] Vernichtungstreiben« (56) führen. Das wäre eine reine Nacht, in der es keine Gestalt, kein Bild, keine Sprache, kein Selbst mehr gäbe. Sie wäre aber die Nacht, die vollkommen durchsichtig und daher dem reinen Tag, dem reinen Licht ohne ein Stück Schatten gleich wäre, wobei über das Leben des Selbst oder das Selbst des Lebens nachzudenken und zu sprechen einfach ›unmöglich‹ wäre. Eine vollkommene Schattenlosigkeit wäre also die höchste, die schlimmste Gewalt für das Selbst. Das Kultur-Selbst darf diese Nacht oder dieses Licht nicht unmittelbar sehen, von Angesicht zu Angesicht sehen, damit es als es selbst bleiben kann. Nietzsche weist am Anfang des neunten Abschnitts des Textes auf diese Gleichheit zwischen dem reinen Sein und dem reinen Nichts, zwischen der reinen Nacht und dem reinen Licht, metaphorisch hin, wenn er das schöne mythische Charakterbild des tragischen Helden »gleichsam als Heilmittel« dessen versteht, der versucht hat, »die Sonne in’s Auge zu fassen«; und dabei ist der von der Sonne versehrte Blick von dem »von grausiger Nacht versehrten Blick« keineswegs unterschieden; die heroischen Charakterbilder dienen also ebenso als »dunkle farbige Flecken«, die sich gegen das reine Licht der Sonne wehren, wie als »Lichtbilderscheinungen« oder »gleichsam leuchtende Flecken«, die den Blick vor der reinen Dunkelheit der Nacht retten (65). Reine Nacht ist reines Licht; beide sind von einer völligen Unbestimmtheit beherrscht.85
85 Es handelt sich um eine völlige Unbestimmtheit in dem Sinne, wie Hegel sie am Anfang seiner Logik formuliert: »Aber man stellt sich wohl das Sein vor – etwa unter dem Bilde des reinen Lichts, als die Klarheit ungetrübten Sehens, das Nichts aber als die reine Nacht – und knüpft ihren Unterschied an diese wohlbekannte sinnliche Verschiedenheit. In der Tat aber, wenn man auch dies Sehen sich genauer vorstellt, so kann man leicht gewahr werden, daß man in der absoluten Klarheit soviel und sowenig sieht als in der absoluten Finsternis, daß das eine Sehen so gut als das andere, reines Sehen, Sehen von Nichts ist. Reines Licht und reine Finsternis sind zwei Leeren, welche dasselbe sind. Erst in dem bestimmten Lichte – und das Licht wird durch die Finsternis [also wie durch »dunkle farbige Flecken«] bestimmt –, also im getrübten Lichte, ebenso erst in der bestimmten Finsternis – und die Finsternis wird durch das Licht [wie durch »leuchtende Flecken«] bestimmt –, in der erhellten Finsternis kann etwas unterschieden werden, weil erst das getrübte Licht und die erhellte Finsternis den Unterschied an ihnen selbst haben und damit bestimmtes Sein, Dasein sind« (Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 96).Vgl. auch Derridas wiederholtes Aufgreifen dieses Themas – besonders in der Auseinandersetzung mit Levinas – in Derrida, Gewalt und Metaphysik, S. 130-133, 138-142 und passim. Wie Derrida erläutert, geht es um
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Zwischenfazit: Das, was nicht das Dionysische sein sollte Wir können nun anhand der bisherigen Erläuterungen auch die Figuren des Dionysischen aufführen, die Nietzsche in der GT als moderne nicht wollte. Es gibt fünf solche Figuren des Dionysischen: 1) Poetologisch-ästhetische: Ein anderes Prinzip, das zusammen mit dem des Apollinischen das Wesen und die Entwicklung der hellenischen Kunst und Kultur erklären soll. Nietzsche verspricht damit den Fortschritt unserer »Erkenntnis« in der »aesthetischen Wissenschaft«. Dies soll dadurch ermöglicht sein, dass die jeweiligen Strukturen der griechischen Kunstgattungen und der damit entsprechenden Entwicklungsstufen der Kultur durch die Konfiguration zweier gegensätzlicher Prinzipien erklärt werden können. In dieser Figur allein verhält sich Nietzsche wissenschaftlich-desengagiert. Damit ist eine Äquidistanz sowohl von Dionysischem als auch von Apollinischem gehalten. 2) Freudianisch-zivilisatorische: Eine äußere wie innere Natur, die als die leibliche Matrix der Kultur dient und der Gegenstand der aneignenden Sublimierung ist; sie reduziert das Verhältnis apollinisch/dionysisch gleichsam auf ein Form-Materie-Verhältnis. An dieser Figur ist zweierlei zu beachten: Erstens kommt in ihr eine kulturzentrierte Perspektive in Geltung, die unvermeidlich die Konsequenz hat, das Dionysische als das Andere der Kultur herabzusetzen. Zweitens erscheint in dieser Figur das Dionysische so, dass es zwar unter der Bedingung einer kulturellen Vermittlung erlaubt, in seinem unmittelbaren Zustand aber vermeidenswert ist; dieser letztere Zug stellt eine Verbindung zur fünften, pessimistischen Figur des Dionysischen her. 3) Romantisch-symbolische: Ein Natur-Ursprung, der als verlorener von seiner Bedeutsamkeit her unendlich höher und idealer ist als die Kultur-Gegenwart. Bei dieser Figur ist wiederum zweierlei zu betonen: Erstens hebt sie den kulturstiftenden Wert des Dionysischen hervor; aber sie hypostasiert es, wenn auch in einer unzugänglichen Vergangenheit, und verbindet sich dadurch mit der vierten, metaphysischen Figur des Dionysischen; zweitens mündet diese Figur dadurch, dass sich die romantische Hypostasierung als eine sentimentalische Erwartung des reinen Seins als reinen Nichts erweist, in eine nihilistische, damit wiederum in die fünfte, ›pessimistische‹ Figur des Dionysischen. 4) Metaphysisch-geschichtsphilosophische: Der ewige Untergrund der Kultur, der nicht verloren, sondern nur verschüttet ist und den wiederzugewinnen die
die Vermeidung der schlimmsten Gewalt, d.h. der reinen Nacht und des reinen Lichts; ein Stück Schatten wie auch ein Stück Licht ist das Selbst, das spricht, artikuliert, gestaltet, begrenzt.
5. F IGUREN
DES
D IONYSISCHEN
UND
K RITIK DES URSPRUNGSBEGRIFFS
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kulturreformatorische Aufgabe der Gegenwart ist; diese Figur ist an der narrativen Oberfläche der GT am deutlichsten ausgeprägt. 5) Pessimistisch-buddhistische: Das Nichts des Kultur-Selbst, das sich zwar, ebenso wie die metaphysische Figur, im Untergrund der Kultur lokalisiert (oder sich, ebenso wie in der romantischen Figur, in der Vergangenheit der Kultur chronologisiert), das aber zu vermeiden oder zu überwinden – anders als in der metaphysischen und der romantischen Figur – erst den Zugang zur Kultur eröffnet. Diesen fünf Figuren des Dionysischen liegt bei allen Unterschieden ein gemeinsamer Zug zugrunde: Sie hypostasieren das Dionysische – jeweils als ein Prinzip, das Andere, den Ursprung, das Sein und das Nichts der Kultur – und setzen das Apollinische damit dem Dionysischen auf verschiedene Weisen entgegen; sie lokalisieren sodann beides, das Dionysische und das Apollinische, räumlich oder chronologisch an zwei Polen der Genese, verleihen einmal dem einen, einmal dem anderen eine – kulturell, genealogisch, ontologisch oder wie auch immer geartete – Priorität; und sie nehmen zwischen beiden ein Spannungsverhältnis an, in dem zwei Elemente – die entweder gegensätzlich als Gestaltungs- und Vereinheitlichungstrieb oder hierarchisch als Ding-an-sich und dessen Erscheinung bestimmt werden – »in strenger wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Gerechtigkeit« (155) in Konstellation gesetzt werden. Das ist aber gerade das, was Nietzsche als hegelianisch-kantisch-schopenhauerisches Schema bezeichnet, das er retrospektiv in der GT als fremdes Strukturmoment am Werk sieht.86 Es gibt aber im selben Text Elemente, die sich nicht auf dieses Schema reduzieren lassen und damit diesem »fremd […]«, »unbekannt […]« und unter diesem Schema »noch namenlos […]« (»Versuch einer Selbstkritik« 3, KSA 1, 14 und 15) bleiben – Elemente, die noch keine »eigne Sprache« haben, weil der Autor »noch nicht den Muth […] hatte, [sich diese Sprache] zu erlauben« (ebd., 19). Behält man diese retrospektiven Bemerkungen des Autors im Sinn, kann man sich nicht damit zufrieden geben, diese Erstlingsschrift, die, wie bei vielen anderen Autoren auch, noch unter den Einflüssen der Tradition steht, pauschal als romantisch, restaurativ, metaphysisch oder ontologisch zu denunzieren. Die GT kann als »eine[r] der grundlegenden Texte der Moderne«87 auch nicht einfach als subjektvernichtend, archaisch orientiert oder autoritativ-geschichtsphilo-
86 »Versuch einer Selbstkritik« 3 und 6, KSA 1, 14 und 19; Ecce Homo, »Warum ich so gute Bücher schreibe: Geburt der Tragödie«, KSA 6, 310 und 312. 87 Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, S. 9.
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sophisch verurteilt werden.88 Denunziationen dieser Art können dem vielschichtig strukturierten und in vielerlei Hinsicht erst zu analysierenden Text nicht gerecht werden, sind vielmehr Zeichen einer ›ideologischen‹ Verfasstheit des diskursiven Feldes, aus dem sie hervorgehen.
88 Der Titel, den Habermas seiner Betrachtung von Nietzsches frühen Texten gegeben hat, ist dafür das lakonischste Beispiel: »Eintritt in die Postmoderne: Nietzsche als Drehscheibe« (Habermas, Der philosophische Diskurs, S. 104); hier meint er mit »Drehscheibe«, wie man sieht, zum einen eine Rückkehr vom Gegenwärtigen zum Archaischen statt zu einer künftigen Offenheit, und zum anderen beabsichtigt er damit, alle ›postmodernen‹ Nachfolger Nietzsches als restaurativ zu verurteilen.
6. Kunst, Schein, Klassik Geschichtsphilosophie, Ästhetik und Ontologie der Nachahmung
Im letzten Kapitel wurde erhellt, dass die Kultur ihren eigenen Ursprung im Voraus bestimmen muss. Die Kultur muss nämlich ihre Grundlagen im Voraus gesetzt haben. Dies ist die Bedingung der Kultur, die sich nie anders stiften kann, als sie sich gestiftet hat. Das Selbst der Kultur stellt, um sich zu stiften, seinen Grund als Natur dar. Diese darstellerische Vorgehensweise bei der Selbststiftung der Kultur lässt sich die Kunst des Scheins nennen – die Kunst, die Natur im Voraus nachzuahmen, eine Kunst der Voraus-Nachahmung, der »Vorahmung« (H. Blumenberg) der Natur. Sie ist eine Kunst, deren Vollzug vorzüglich darin besteht, ihren Vollzugscharakter performativ hinter dem Schein der Natur zu verbergen. Sie erscheint damit als die Nachahmung der Natur und schließlich als Natur. Sie ist eine besondere Art des Supplements der Natur, ein metaphysisches Supplement, wie Nietzsche es nennt. Das Dionysische bezeichnet darin die Vollzugsdimension der Kunst der apollinischen Kultur – diejenige Dimension, deren Vollzugscharakter sich in der Stiftung der Kultur vollendet und mit dem Schein der Natur endet. Am Ende dieser Bewegung des dionysischapollinischen Kunstvollzugs beginnt die Kultur. Die Kultur beginnt also in der Weise, dass sie da ist. Der Schein des Da-Seins als der Schein des Anfangs macht die Kultur oder – wie Nietzsche sagt – den »Horizont« der Kultur aus. Die Kultur fängt einfach als eine vollendete Kultur an. Als eine im Schein der Natur vollkommene Kultur. Die Kultur beginnt als Anfang in der Zeit des ImmerSchon und im Modus des Bereits-da-Seins. Die Kultur beruht auf dem Schein des Anfangs, während der wichtige Befund der Moderne in der Erkenntnis der Struktur der Voraus-Setzung besteht. Daraus ergibt sich ein Dilemma der modernen Kultur: Diese besteht in der durchdringenden Erkenntnis der voraussetzenden Struktur der Kultur; insofern
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sie sich aber als eine Kultur überhaupt behaupten oder setzen kann – ansonsten würde sie der Barbarei verfallen –, muss sie in ihrer Weise an (dem Schein) der Kultur festhalten. Wie ist es aber möglich, sich im Schein der Kultur, der der Schein der Natur ist, zu setzen? Was soll diese Kunst der Kultur sein, sich im Schein zu setzen? Wie ist in der Moderne, in der das Bewusstsein der Setzung Oberhand genommen hat, noch Kultur möglich? Wie ist sie wieder in der Moderne möglich? Wie kann sich die Kultur in der Moderne wiederholen? Mit dieser Problemlage, mit dem Dilemma der modernen Kultur zwischen Schein und Erkenntnis, zwischen Setzung und Voraussetzung, zwischen Kunst und Wissen sieht sich Nietzsche konfrontiert. Die Kultur muss in der Moderne wiederholt werden. Was muss dafür getan werden? Um diese Frage zu beantworten, muss man aber auf die Zeitlichkeit der Kultur achten: Die Kultur ist ihrer strengen Definition nach mit der Moderne, mit dem modernen Setzungsbewusstsein unverträglich; sie ist also in gewissem Sinne vormodern. Das heißt, sie ist im Wesentlichen vergangen, erscheint als vergangen, d.h. als in der Vergangenheit vollendet. Die Kultur erscheint in der Zeit der vollendeten Gegenwart im Vergangenen. Die Frage also ist dahingehend zu präzisieren, wie die vollendete Gegenwart der Kultur der Vergangenheit in der geöffneten Gegenwart der Moderne wiederholt werden kann. Um diese Frage zu beantworten, um also die Kultur wider ihrer Zeitlichkeit zu wiederholen, muss man – darin steht Nietzsche in einer Tradition des ›Studiums des Altertums‹, wie es sich im Folgenden zeigen wird – die Struktur der Kultur kennen. Nicht zu vergessen ist dabei, dass dieses Wissen der Wiederholung der Kultur dienen muss, dass es also ein ›praktisches‹, ein performatives Wissen der Kulturstiftung, ein kulturtechnisches Wissen ist. Hier verbinden sich also das Wissen von der Struktur der Kultur und das Wissen vom ›Wie‹ der Wiederholung der Kultur miteinander. Die Frage nach der Konstitution der Kultur und die Frage nach der Wiederholung der Kultur – zwei Fragen, die als die leitenden Fragen des zweiten Teils der Arbeit am Eingang des Teils gestellt wurden – sind miteinander verschränkt. In Bezug hierauf gehe ich in diesem Kapitel folgendermaßen vor: Im ersten Schritt, der das erste Unterkapitel (»Konstitution der Kultur«) ausmacht, zeigt sich zunächst im Anschluss an das vorangegangene Kapitel, wie das Dionysische, das von Nietzsche als ein neues Prinzip für die Kulturgestaltung eingeführt wurde, als ein nie zu substantivierendes Prinzip zu verstehen ist (Abschnitte 1 und 2). Sodann kann die Struktur der Klassizität der Kultur gezeigt werden, die aufgrund des auf solche Weise verstandenen Dionysischen, das nun mit dem ebenso neu verstandenen Apollinischen die Grundlage der klassischen Kultur ausmacht, zwar auf einem unvordenklichen Grund beruht, aber in einer Struktur
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des doppelten Schlusses die Darstellung dieser Unvordenklichkeit ausschließt (Abschnitt 3 und 4). In einem zweiten Schritt, der das zweite Unterkapitel (»Nachahmung der Kultur«) ausmacht, stelle ich dar, wie von einer Kunst die Rede sein kann, die dadurch die Klassizität der Kultur produzieren kann, dass sie sich wie Natur vollzieht, und wie sich gemäß der Problematik der Nachahmung der klassischen Kultur und der diese produzierenden Kunst die Konzeption der Nachahmung in den nacheinanderfolgenden Perioden verändert (Abschnitt 5 und 6). Dann muss dargelegt werden, wie eine Form der Kunst der Moderne, die durch einen Bruch mit der klassischen Kunst, die von der Kultur selbst, die sich aus dieser Kunst ergeben hat, undifferenziert bleibt und die sich damit wie Natur vollzieht, eben diese klassische Kunst wiederholen kann (Abschnitt 7).
6.1 K ONSTITUTION DER K ULTUR 6.1.1 Das Dionysische als ein Prinzip Nietzsche widersetzt sich bewusst dem Klassizismus. Darin führt er, zunächst wie manche andere ›romantische‹ Autoren, neben dem apollinischen Prinzip noch ein anderes Prinzip ein, das aus der Sicht des Klassizismus unmöglich ein Prinzip sein kann: das Dionysische, das nicht mehr wie bei der klassizistischen Annahme als nicht- oder vorhellenisch, sondern nunmehr als innerhellenisch, also für die Konstitution der griechischen Klassik mitverantwortlich, verstanden wird. So gibt es nun zwei »Prinzipien« (42), die für das Hellenentum konstitutiv wirken: das Apollinische und das Dionysische. Und die Frage stellt sich: Was konstituiert das dionysische Prinzip als Prinzip? Welches Wesensmerkmal hat es? Was ist seine definierte Bestimmung? Die Antwort lautet: das Übermaß im Vergleich zum Maß für das Apollinische.1 Da stellen sich weitere Fragen: Kann das Übermaß, das dem Maßlosen, der Hybris, dem ›Zuviel‹ etc. semantisch nahesteht und das einfach prinzipienlos oder prinzipienwidrig zu sein scheint, zu einem Prinzip erhoben werden und in welchem Verhältnis steht es mit dem Apollinischen? Welches Verhältnis zwischen den beiden ermöglicht es, dass das dionysische Prinzip im Zusammenspiel mit dem apollinischen den schönen Schein dieser Kultur gestalten kann? – Diese Fragen
1
Die ›Einheit‹ ist als Merkmal des Dionysischen – gegenüber der ›Vielheit‹ als Merkmal des Apollinischen – in dem Maße zu vermeiden, als sie von einer metaphysischen Basisannahme ausgeht, die aus der modernen Perspektive nicht haltbar ist.
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stehen zur Diskussion und die Antworten darauf lassen sich durch folgende Überlegungen rekonstruieren: A. Insofern das Übermaß als die Kernbestimmung des Dionysischen angesehen wird, vollzieht sich die Erhebung des Dionysischen zu einem Prinzip mit und in einer Schwierigkeit, die im Grundanliegen des Dionysischen selbst liegt: Das Dionysische ist als Prinzip ›prinzipienwidrig‹, weil es nach seiner Bestimmung überhaupt dazu zu neigen scheint, dasjenige Maß zu übertreten, das in einer Weise wesentlich mit dem ›Prinzip‹ verbunden ist und seinem Funktionieren dient. Dies sollte aber nicht bedeuten, dass das Dionysische sich darum einem Maß widersetzt, weil es sich nach einem anderen richtet. Das Dionysische ist vielmehr, wie es Nietzsche hervorzuheben scheint, 2 das Übermaß selbst, das prinzipielle Übermaß, das nicht nach irgendeinem Maß, sondern überhaupt unabhängig davon seinen ›Sinn‹ erhält; es ist als Prinzip das Aprinzipielle, das Maß-, Zweck-, Bedeutungs-, Richtungs- und Prinzipienlose; es ist sogar der »Wahnsinn« (16) als Prinzip, als Arche – eine Arche also, die aber überhaupt zu nichts dient. Es bezieht sich als Prinzip semantisch auf nichts. Es ist zunächst dem Maß gegenüber sozusagen etwas überhaupt Irrelevantes. Es ist sogar nicht einmal das Übermäßige in Bezug auf das Mäßige. Das Dionysische als ein Prinzip ist trotz des Anscheins nicht bloß als derjenige Gegenpol des Maßes aufzufassen, der nur darin seine Bestimmung fände, das Maß zu übertreten, zu überfluten – oder gar zu überwinden und sich darüber hinwegzusetzen, wie positiv dieses Letztere auch erscheinen mag. Denn die Übertretung des Maßes kann nicht ein anderes, ein selbständiges Prinzip sein, sondern bloß ein Gegenprinzip, ein Pseudoprinzip, dasjenige also, was bloß in Beziehung auf das Prinzip bzw. auf das Maß auftreten kann, dabei dem Prinzip hinterherkommt, gerade im Verstoß gegen das Prinzip von dem Prinzip abhängig und ein Derivat davon ist. Als bloßer Gegenpol zum Maß wäre das Dionysische nur als der Mangel an Maß zu verstehen, der behoben werden müsste. Bloß als Gegensatz zu dem (maßvollen, denn das Prinzip bietet das Maß) Prinzip wäre es eine mangelhafte, eine fehlerhafte, eine falsche Randerscheinung, die korrigiert werden müsste. Dann würde das Dionysische bloß einen Zustand der Privation repräsentieren, der sich der Teleologie der progressiven Vervollkommnung unterwerfen müsste.3 Dann wür-
2
»Das Uebermaass enthüllte sich als Wahrheit.« (40; Herv. i.O.)
3
Die Figur des Dionysischen, die aus der Perspektive der Korrektur, der Vervollkommnung und des Fortschritts gedacht wird, hängt mit dem sokratischen ErkenntnisOptimismus zusammen: »Nun steht […] eine tiefsinnige Wahnvorstellung, welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins rei-
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de sich das Übermaß auf einen Zustand reduzieren, der sich an dem Prinzip des Maßes messen müsste. Das wäre kein Prinzip, keine Arché, kein Anfang, Anfangendes oder Anfangen-Lassendes. Dies alles würde dem widersprechen, was Nietzsche ausdrücklich sagen wollte: Das Dionysische ist ein zweites, ein anderes, ein selbständiges Prinzip des Hellenischen. Und all dieser Wiederherabsetzung des Dionysischen zu einem derivativen und privativen Prinzip, das dann nicht mehr Prinzip wäre, liegt ein entgegengesetzt-hypostasierendes Verständnis des dionysischen Prinzips gegenüber dem Apollinischen zugrunde. Daher ist das Dionysische als Prinzip nicht als der Gegensatz von dem Apollinischen, nicht als außerhalb des Maßes, als außermaßlich zu betrachten. Dieser Umstand lässt uns verstehen, warum die Frage »was ist dionysisch?« so befremdlich anmutet und die Antwort darauf so schwierig ist. Und dies scheint der Grund dafür zu sein, dass Nietzsche dazu auffordert, ›philologisch‹ überhaupt zu erkennen, »dass es hier ein Problem vorliegt« (15), um jene Frage zu beantworten.4 Ein Problem nämlich, das zugleich eine Aufgabe wäre, das Dionysische jenseits des Gegensatzes zwischen dem Maß und dem Übermaß und das Verhältnis zwischen dem Maß und dem Übermaß über den Gegensatz hinaus denken zu müssen. Wie ist dann das Dionysische zu denken? Es wäre ein Außer-Außerhalb des Maßes. Denn es entweicht nicht dem Maß, sondern dem Gegensatz von Maß und Überoder Außermaß; es ist weder der Bestimmungsmacht des Maßes unterworfen noch bloß Bestimmungsloses oder Unbestimmtes außerhalb der Verfügung dieser Macht; es ist keineswegs eine ›nackte Existenz‹ ohne die bzw. außerhalb der Bestimmung oder Form; es fügt sich dem Gegensatz Existentia/Essentia überhaupt nicht.5
che, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei«. (99; Herv. i.O.) 4
Noch deutlicher nennt Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse den Dionysos den »grosse[n] Verborgene[n]«, »fragwürdigen Geist und Gott« (KSA 5, 237) oder »grosse[n] Zweideutige[n]« (238).
5
Es geht um eine Denkaufgabe, den Gegensatz überhaupt in Frage zu stellen. Den Gegensatz zwischen dem Maß und Übermaß, zwischen der Essenz und der Existenz, zwischen der Regel (od. der Norm) und dem Leben, zwischen dem Gerechten und dem Außer-Gerechten (od. dem Noch-nicht-Gerechten, nicht aber: dem Ungerechten) oder dem Recht und dem Außer-Recht (od. dem Noch-nicht-Recht, nicht aber: dem Unrecht) etc. Zu dieser Infragestellung vgl. Agambens Schriften wie Homo Sacer und die Höchste Armut. Denn es scheint mir, dass wir in Anbetracht solcher Gegensätze fragen müssen, ob sie nicht unter dem Verdacht stehen, das, was wir das eigentlich ›Dionysische‹ nennen können, aus dieser Sicht abzuschaffen oder es in eine teleolo-
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B. Das Dionysische ist damit nicht als ›Prinzip‹ zu hypostasieren oder zu substantivieren. Als Prinzip widersteht es einer solchen Hypostasierung und Substantivierung. Es widersetzt sich der Identifizierung als ›irgendetwas‹. Das Dionysische als Prinzip besteht allein als etwas Fließendes, Dynamisches, in diesem Sinne Unförmiges, damit aber nicht als ›Materielles‹, sondern vielmehr bereits der Form und Gestalt Innerliches, etwas also Gestaltendes, etwas Verbales und Vollziehendes. Als eine verbale und vollziehende »Kraft« (»Versuch einer Selbstkritik« 4, KSA 1, 16). Es ist als Verbales aber nicht etwa ein wesentliches Prädikat des Apollinischen, sondern bereits als das ›Subjekt‹ zu verstehen – als das Subjekt allerdings im spekulativ-hegelschen Sinne, das über jene metaphysische Satzgrammatik hinaus zirkuliert, die darauf basiert, zwischen dem Subjekt und dem Prädikat hypostasierend-fixierend zu unterscheiden und dieses jenem zuzuschreiben.6 Das Dionysische ist damit etwas vom Apollinischen nicht ›an sich Getrenntes‹, sondern vielmehr nichts anderes als ein am Formen und Formieren Mitwirkendes. Eine Kraftquelle also, aus der das Apollinische seine Kraft zum Formen und Formieren schöpft. Es ist nicht der eine Ursprung der Kunst und Kultur, der von dem anderen des Apollinischen »an sich getrennt« ist, sondern macht mit diesem – nicht zwei, sondern – einen »Doppelquell« (KSA 1, 553) aus und verdoppelt sich mit dem Apollinischen in der »Eine[n] Wurzel« (KSA 6, 310). Aus diesen paradoxen Sachverhalten, dass, erstens, das Dionysische als Prinzip nicht als ein Gegen-Prinzip zu konzipieren ist, und dass es, zweitens, als ein solches selbständiges Prinzip nicht zu verselbständigen ist, lässt sich schließen, dass das Dionysische als ein Prinzip nur als das möglich ist, was nicht außer, sondern in dem apollinischen Prinzip, sogar beinahe als das apollinische Prinzip wirkt und damit dieses erst zu dem macht, was es ist.7 Das Dionysische ist ein
gisch-hierarchische Ökonomie zu integrieren. Indem Nietzsche das Dionysische als ein Prinzip einführt, scheint er sich jeder Tradition zu widersetzen, die sich auf solche Gegensatz-Schemata stützt. 6
Es ist nicht zu übersehen, dass zwischen Hegels Kritik an der traditionellen Metaphysik, die auf der gewöhnlichen Satzgrammatik beruht, und Nietzsches Kritik am substantivischen Subjekt-Verständnis eine Affinität besteht, die sich an der Kritik der Metaphysik und der metaphysischen Subjektivität erkennen lässt. Vgl. Hegels Theorie des ›spekulativen Satzes‹ (PhäG, 57-61).
7
Dionysos ist nicht nur ein verborgener Gott, sondern, so der späte Nietzsche, einer, »zu dessen Meisterstück es gehört, dass er zu scheinen versteht« (KSA 5, 237). Dann könnte man sagen, dass das Apollinische die Maske des Dionysischen ist, ohne dabei dieses zu hypostasieren.
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solches Innerprinzip, ohne das das apollinische Prinzip nicht mehr das ist, was es ist, nämlich das Prinzip der Gestalt, der Form, des Bildes, das der Gestaltung, Formung, Bildung. Es ist ein dem apollinischen Prinzip »innerlich [...] verwandt[es]« (40) oder verbundenes Prinzip. Ein inneres Prinzip also, das dem apollinischen analog oder ähnlich ist, weil es mit diesem gleichsam von gleicher Abstammung ist und zur gleichen Familie gehört, wobei aber der Ursprung dieser Abstammung bei der eigentlichen, also klassischen Kunst- und Kulturgestaltung verborgen, als ein »Mysterium« bleibt. Dann gebührt dem Übermaß, das in der klassizistisch-idealistischen Hinsicht aus dem Hellenischen, aus dem Kulturellen überhaupt ausgeschlossen wurde, die Stellung eines Prinzips. Damit versteht Nietzsche das Hellenentum statt mit einem Prinzip mit zwei Prinzipien, nicht mehr mit einer – apollinischen – Archie (und einer dionysischen Anarchie), sondern mit zwei Archien. Denn die Zweiheit der Archien lässt sich nicht aus jenem Gegensatz heraus erhalten, sondern allein aus einer Differenz innerhalb des ›Einen‹. 8 6.1.2 Prinzip und Figur Manfred Franks Bemerkung gibt uns Anlass, über das Dionysische als Prinzip weiter zu denken: »Auch bei Nietzsche […] wird das Dionysische und das Apollinische nicht als Zweiheit von Wesenstendenzen gedacht, sondern als zwei Seiten eines und desselben Prinzips: eben des höchsten Seinsgrundes in seinen Formen als Wille und als Erscheinung.«9 Also ein zweideutiges Verhältnis beherrscht das Apollinische und das Dionysische, aber insbesondere das Letztere: Das Dionysische erscheint als solches zweimal. Zum einen als ein Prinzip, das nur in einer Verdopplung mit dem Apollinischen seine Kontur erhält; zum anderen – nicht mehr als Prinzip – als eine Figur, die das ›Übermaß‹ getrennt veranschaulicht und damit mit der apollinischen Figur im Gegensatz- oder Gegenüber-Verhältnis auftritt (Die Geburt der Tragödie, § 2). Diesen Sachverhalt könnte man mit dem systemtheoretischen Begriff des re-entry verstehen: Das Dionysische als der systemdynamische Faktor, als das systemerrichtende Element lässt sich nur in der Weise beschreiben und beobachten, dass es nachträglich als ein innersystemischer Protagonist im Gegensatz zum Apollinischen wahrnehmbar wird. Mit den Worten des jungen Nietzsche gesprochen: Der Wille ist nur als ›Wille‹ vorstellbar.
8
»Hauptgesichtspunkt: Distanzen aufreißen, aber keine Gegensätze schaffen«. (KSA
9
Frank, Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie II. Teil, S. 42.
12. 10 [63]; Herv. i.O.)
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Es ist also nicht genug, in der Lektüre der GT einen ›romantischen‹ Nietzsche zu verfolgen, der für das Verständnis des Hellenentums eine romantische Erweiterung des klassizistischen Gegensatzes unternimmt, indem er die Figur des Übermaßes derjenigen des Maßes entgegenstellt. Denn – wie wir gesehen haben – eine Entgegensetzung kann nicht zur Etablierung von zwei Prinzipien, wie sie Nietzsche für ein neues Verständnis des Hellenentums sich gewünscht hat, führen; sie etabliert nicht zwei Prinzipien, sondern höchstens zwei ›Figuren‹ von Apollinischem und Dionysischem, deren Gegensätze von Anfang bis Ende die Textoberfläche beherrschen. Es ist nicht genug, zu sehen und zu bestätigen, dass Nietzsche den klassizistischen Gegensatz zwischen dem Maß als eine Archie und dem Übermaß als eine Anarchie zu einem neuen Gegensatz zwischen der einen und der anderen Archie, zwischen zweier Archien erweitert und reformuliert. Wir müssen uns vielmehr fragen, ob er nicht bei der Einführung des Dionysischen ein neues, ein anderes Verhältnis zwischen den zwei Prinzipien als das Gegensätzliche voraussetzt, obwohl darin eine noch höhere und kompliziertere Spannung als bei jenem Gegensatz und ein zwar für die Kunst konstitutiver, aber in sich unauflösbarer Widerspruch enthalten sein mag. Denn von dieser Frage hängt die Beurteilung darüber ab, ob es Nietzsche mit dem Tragödienbuch gelungen ist, einen Begriff des Klassischen derart zu konzipieren, dass die Kunst in der Moderne nachahmbar werden kann und dass damit die Kultur der Moderne gestaltet werden kann. Jener romantisch erweiterte Gegensatz wäre aber nicht das Verdienst der Geburt der Tragödie. Das ist so aus zwei Gründen: Der Gegensatz zwischen zwei Prinzipien ist gar nicht neu. Vielmehr ist der neue Gegensatz ein ›romantischer‹ Gemeinplatz seit dem beginnenden 19. Jahrhundert. Der viel wichtigere Grund ist aber folgender: Solange Nietzsche bei der Gegensatz-Auffassung überhaupt bleibt, befindet sich sein Romantizismus noch innerhalb eines klassizistischen Spielfelds und damit verfehlt er noch das Wesen des Klassischen. In der Tat bleibt Nietzsche auf der dogmatischen Ebene des Textes bei diesem klassizistisch-idealistischen Verständnis der Kunst stehen, in dem das Apollinische und das Dionysische als vermeintlich zwei Prinzipien der Kunst gegensätzlich hypostasiert, sukzessiviert und ›dialektisiert‹ werden: »[S]ie[: Die Geburt der Tragödie] riecht«, so heißt es in dem fünfzehn Jahre später geschriebenen Ecce Homo, »anstössig Hegelisch […]. Eine ›Idee‹ – der Gegensatz dionysisch und apollinisch – ins Metaphysische übersetzt; die Geschichte selbst als die Entwicklung dieser ›Idee‹« (KSA 6, 310). Der romantisch erweiterte Klassizismus trennt, sukzessiviert und vereinigt wieder. Dies sind drei dem jungen Nietzsche überlieferte traditionelle Kniffe, auf die er aufgrund der begrifflichen Not zurückgreifen musste: Erstens geht er von dem Apollinischen und dem Dionysi-
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schen als zwei »an sich getrennten« (104) Prinzipien aus, die in dem Gegensatzverhältnis hypostasiert sind; zweitens macht er sie in einer chronologischen Reihe sukzessiv,10 in der aber drittens diese ›Prinzipien‹ am Ende versöhnt vereinigt sind. Diese drei Maßnahmen hindern ihn an dem richtigen Verständnis der hellenischen Kultur und Kunst, an dem richtigen Kunstwissen für die Nachahmung. Die Spannung des differentiellen Verhältnisses aus der ›Zweiheit im Einen‹ ist so groß, dass sie nie auflösbar ist,11 und der Umgang damit ist so anspruchsvoll, dass diese Maßnahmen notbedürftig ergriffen werden. Diese Kunstgriffe gehören aber einer abgegriffenen Tradition an. Eine tote Tradition wirkt in Nietzsches Klassizismus (oder: in seinem Romantizismus) verderblich auf die angemessene Konzipierung eines Verhältnisses zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen für die Nachahmung der Kunst. Eine gängige Auffassung der kantischhegelsch-schopenhauerschen Tradition macht die ›Sache‹ tot, indem sie trennt, sukzessiviert und ausbalanciert.12
10 Die Strategie der Sukzessivierung scheint aber auf gewisser Ebene prinzipiell verbindlich zu sein: »Die reine Wissenschaftslehre ist schon durch ihr Ausgangsmedium, die »vorhandene Wörtersprache« kontaminiert; damit geht die darstellungstechnische Notwendigkeit einher, das »absolut Vorhandene« zu verzeitlichen.« (Koschorke, »SYSTEM. Die Ästhetik und das Anfangsproblem«, S. 156) 11 Die Frage des Verhältnisses zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen war noch nie ausgemacht oder zugespitzter: kann nie ausgemacht werden: »Für Nietzsche blieb dieser Gegensatz [zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen] eine ständige Quelle unbewältigter Dunkelheiten und neuer Frage«. (Heidegger, Nietzsche I, 123; Herv. i.O.) Dieser Gegensatz sei bei Nietzsche seit seiner ersten Schrift, so Heidegger, zwar »geläufig«, aber »mehr geläufig […] als begriffen« (a.a.O., 117). 12 Ausbalancierung: »Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum inʼs Bewusstsein treten, als von jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden kann, sodass diese beiden Kunsttriebe ihre Kräfte in strenger wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Gerechtigkeit, zu entfalten genöthigt sind«. (155; Hervorh. von mir.) Diese ›Lösung‹ zeigt der Typ des hegelianischen Schemas der Thesis-Antithesis-Synthesis, die selbst allerdings mit der Hegelʼschen Dialektik überhaupt nicht deckungsgleich wäre; eine Stelle in Hegels Text aber, an der dieses Schema tatsächlich seine Wirkung zeigt, ist die, an der Hegel eine Tragik der »sittlichen Welt« beschreibt: »Der Sieg der einen Macht und ihres Charakters und das Unterliegen der anderen Seite wäre also nur der Teil und das unvollendete Werk, das unaufhaltsam zum Gleichgewichte beider Seiten fortschreitet. Erst in der gleichen Unterwerfung beider Seiten ist das absolute Recht vollbracht und die sittliche Substanz
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Wir sind nun in der Lage, besonders im Hinblick auf die Problematik der Nachahmung auf die folgende Frage zu antworten: Wie ist die Struktur des Klassischen, der klassischen Kulturgestaltung unter Vermeidung dieser falschen Kniffe und gemäß dem richtigen Verständnis der zwei Prinzipien zu begreifen? 6.1.3 Das absolute Alter des Klassischen Die homerische Welt gilt als der Anfang der Kulturwelten in der westlichen Tradition. Sie macht den Anfang dieser Tradition selbst aus. Alle anderen Kulturwelten referieren auf sie, während sie allein auf sich selbst referiert. Denn sie ist der Anfang der Welt, die angefangene Welt, eine Welt des Anfangs, der Jugend, der jugendlichen Natürlichkeit und Heiterkeit, eine jugendfrische, eine ewig jugendliche Welt, eine der »ewigen Jugend«. Sie ist – und das nach Einschätzung einer ganzen Tradition zumindest seit Winckelmann – der neidische Nachahmungsgegenstand jeder darauffolgenden Kulturgestaltung. Sie ist das kulturelle Muster. Sie ist klassisch. Der Satz, die homerische Welt sei die jugendliche, ist also in einer europäisch-westlich-abendländischen Tradition in gewissem Sinne niemals zu bestreiten. Ihn zu bestreiten wäre fast gleichbedeutend damit, diese Tradition selbst zu bestreiten. Deshalb ist folgende Bemerkung Nietzsches aus dem Brief an Erwin Rohde, sein Freund und klassischer Philologe wie Nietzsche, zunächst in den damaligen Verhältnissen und, wenn sie noch näher betrachtet wird, auch noch aus heutiger Sicht – provozierend und beunruhigend: »Daß ich nur nicht immer wieder die weichliche Behauptung von der homerischen Welt als der jugendlichen, dem Frühling des Volkes usw. hörte! In dem Sinne, wie sie ausgesprochen ist, ist sie falsch. Daß ein ungeheures, wildes Ringen, aus finsterer Rohheit und Grausamkeit heraus, vorhergeht, daß Homer als Sieger am Schluß dieser langen trostlosen Periode steht, ist mir eine meiner sichersten Überzeugungen. Die Griechen sind viel älter als man denkt.«13
als die negative Macht, welche beide Seiten verschlingt, oder das allmächtige und gerechte Schicksal aufgetreten«. (Hegel, Phänomenologie des Geistes, 349; Herv. i.O.) Diese Ausbalancierungs-Gedanke hängt mit jenem Gedanke der Gerechtigkeit zusammen, der auf dem Gleichgewichtsprinzip beruht und der sich mit der ›poetischen Gerechtigkeit‹ verbindet; für die Idee des Gleichgewichts bei Nietzsche vgl. Gerhardt, »Das ›Princip des Gleichgewichts‹«. 13 Nietzsche an E. Rohde, 16. Juli 1872 (zitiert nach Barbara von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, S. 136; Herv. i.O.).
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In diesen ein zentrales Theorem der GT zusammenfassenden Sätzen scheint Nietzsche sich auf den ersten Blick gegen die Klassizität der griechischen Kultur, gegen ihr traditionelles Verständnis zu stemmen, indem er die verborgene und nicht so gerne berücksichtigte Seite der Vergangenheit dieser Kultur zum Ausdruck bringt, um damit die romantische ›Revolution‹ noch einmal zu betonen, die den Ursprung des Hellenentums in eine noch fernere Vergangenheit zurückversetzt hat. Gegenüber dieser bekannten ›romantischen‹ Positionierung Nietzsches müssen wir aber bezüglich unserer Diskussion folgende Punkte beachten. 1) Er negiert hier, wie es auch im Tragödienbuch im Allgemeinen der Fall ist, nicht die Klassizität des Hellenischen, und besonders hier: des Homerischen, deren Hauptmerkmal die Heiterkeit und Naivität sind, sondern er bringt vielmehr die besondere Bedingung der Klassizität zum Ausdruck. Nietzsches These, die Griechen seien viel älter als man denkt, beeinträchtigt trotz des Anscheins die inhaltliche Bestimmung der Klassizität des Hellenentums gar nicht. Sie modifiziert den Grundzug des Hellenentums in einem anderen Aspekt, also in dessen formalem: Die hellenische Kultur wird auch bei Nietzsche so aufgefasst, dass sie »jugendlich«, anfänglich und naturhaft ist – unter dem Vorbehalt, dass die formal-ontologische Dichte dieser Bestimmungen neu gedacht werden muss. 2) Die »Behauptung«, die homerische Welt sei die jugendliche, ist demnach nur in »dem Sinne, wie sie ausgesprochen ist«, also in jenem klassizistischen Sinne »falsch«, in dem dieser Kultur-Welt ein vorangegangener Prozess, eine Vorgeschichte »ein[es] ungeheure[n], wilde[n] Ringen[s]« nicht zuerkannt wird. Sie ist also in dem Maße falsch, in dem der Umstand negiert wird, dass die Anfänglichkeit der hellenischen Kultur nichts anderes als den »Schluß [ein]er langen trostlosen Periode«, das Ende eines genetischen Prozesses bedeutet. Diese Negation macht die Behauptung der homerischen Welt als der jugendlichen »weichlich« – diese Prädikation erlaubt uns die weiteren Assoziationen, die bei Nietzsche gewöhnlich sind: Die Behauptung, die den ›harten‹ Prozess der Genese nicht anerkennen will, ist weiblich, idyllisch, rousseauisch, statisch... Und dies impliziert, dass Nietzsche jene Behauptung unter der Bedingung der Akzeptanz dieses Umstandes für richtig oder zulässig hält. Hier kann man sagen, Nietzsche unterscheidet zwischen dem Klassizistischen und dem Klassischen, gesetzt dass er die richtige Struktur dieses Letzteren zur Darstellung bringt.14 Die Behaup-
14 »Nietzsche ist der erste, wenn wir von Hölderlin absehen, der das ›Klassische‹ wieder aus der Mißdeutung des Klassizistischen und Humanistischen gelöst hat.« (Heidegger, Nietzsche I, S. 150)
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tung, die homerische Welt sei die jugendliche, ist dann, wenn sie in ihrem klassischen Sinne verstanden wird, für Nietzsche zulässig. 3) Das Klassische muss nämlich zwei Bedingungen, die sich einander zu widersprechen scheinen, gewachsen sein können: Damit kann Nietzsche zum einen die Anfänglichkeit (die in Übereinstimmung mit dem damaligen Epochenbewusstsein immer wieder die ›Jugendlichkeit‹ genannt wird) der homerischen Welt affirmieren und zum anderen besteht er zugleich darauf, dass diese der »Schluß« oder das Ende einer angeblich vorangegangenen »Periode« ist. Wie sind diese beiden Elemente miteinander verträglich? Wir sollten nicht einen selbstreferentiellen Zug in der Rede vom »Schluß« außer Acht lassen: Der Schluss bezieht sich nicht auf eine andere Zeit irgendwelcher primitiven Mächte, sondern auf die der eigenen Vergangenheit, in der sich das im Prozess der Genese und des Werdens befindet, was wir das Selbst, Bewusstsein oder, wenn man so will, die Subjektivität des Hellenentums nennen könnten. Der Schluss oder das Ende einer »Periode« versteht sich deshalb hier als eine Vollendung in ihrem zweifachen Wortsinn – Beendung und Vervollkommnung –, weil diese »Periode« nicht bloß eine fremde, sondern die der eigenen Genese ist: »[d]iese vollendete Welt der Anschauung[...]« (38; Hervorh. von mir.). Das Klassische besteht darin, überhaupt anfangen zu können, indem es den Prozess der eigenen Genese (ab-)schließt.15 Der Anfang ist als solcher zugleich eine ›späte‹ Sache. 4) Da muss der neu konzipierte Begriff des Klassischen auf eine Reihe von Fragen antworten können, die das Problem der Zeitlichkeit der – transzendentalen – Genese der homerischen Welt, der Zeitlichkeit des Klassischen, also der Zeitlichkeit der Entstehung des Zeitlosen angehen: Wie sind der Anfänglichkeits- und der Schlusscharakter dieser Welt miteinander vereinbar? Wie ist also eine überhaupt von sich aus beginnende Kulturwelt zugleich das Ende ihres eigenen genetischen Prozesses, der sich der junge Nietzsche noch mit einer Ambiguität als eine »lange Periode« vorgestellt hat? Wie ist die Länge der Vorge-
15 Es ist aber darauf zu achten, dass die ›Eigenheit‹ der genetischen Vergangenheit nicht eine Selbstverständlichkeit ist. Wo liegt nämlich dabei der Maßstab für die Beurteilung der Eigenheit oder der Fremdheit? Die Frage also, ob die Vergangenheit des werdenden Selbst als seine Vergangenheit zu diesem gehört oder in dem Sinne noch fremd ist, dass sie der ›Geburt‹ des Selbst vorangegangen ist, – diese Frage ist eine, deren Antwort ein höchstes Maß der Ambivalenz nicht vermeiden kann. Denn die genetische Vergangenheit lässt sich dem ›Selbst‹ nicht eindeutig zuschreiben, weil die ›Entität‹ des Selbst im Werden noch prekär ist – dieses Prekäre ist aber nicht etwa irgendeiner Schwäche der Selbstbehauptung verschuldet, sondern der ontologischen Unsicherheit, die jedem Theorem der Selbstsetzung oder der ›Autonomie‹ innewohnt.
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schichte in das Neue, in das Jugendliche der homerischen Welt verschwunden? Wie erscheint das überhaupt Vollendete als das überhaupt Anfangende, als das überhaupt Neue? Wie kann das überhaupt Anfangende als das überhaupt Vollendete anfangen? Die Struktur der genetischen Zeitlichkeit des Klassischen muss analysiert werden und vier Momente machen diese Struktur aus: 1) Wie erläutert, hat das Ende des genetischen Prozesses einen selbstreferentiellen Aspekt. Das »ungeheure […], wilde […] Ringen«, das in diesem Prozess stattgefunden haben soll, ›war‹ nicht bloß ein Ringen mit irgendwelchen archaischen Mächten, die chronologischer Ordnung sind, nicht bloß ein Ringen für die Befreiung des apollinisch-olympischen Kultur-Selbst, das jenen Mächten unterworfen gewesen und sodann aber durch einen Befreiungskampf zu seiner unabhängigen Stellung gelangt wäre.16 Es ›war‹ vielmehr ein Ringen eigener Geburt, eines also, in dem das Kultur-Selbst überhaupt erst zum Vorschein, zur Existenz kommt. Dieses Ringen ist »ungeheuer und wild« nicht bloß deshalb, weil da ein »harter« Kampf mit den barbarischen Mächten stattgefunden hätte. Denn wer hätte da gekämpft? Das apollinisch-olympische Selbst, das durch diesen Kampf erst zur Existenz kommen wird? Jenes Ringen ist also vor allem darum »ungeheuer und wild«, weil da das Selbst(-bewusstsein) einer Kulturwelt wie aus nichts entstanden, ja entsprungen ist. Dieser Zusammenhang des Entspringens – der des Anfangens durch den Abschluss des Prozesses der eigenen Genese – scheint das zu sein, was in den zitierten Sätzen gemeint ist, was Nietzsche also in der Distanznahme von dem weichlich-klassizistischen Verständnis erfasst hat. Dies ist ein in den konsequenten Begriffen unfassbarer Gründungszusammenhang. Der gesteigerte Komparativ ›Viel-älter-als-man-denkt‹ scheint also hier ein Alter bedeuten zu wollen, das nicht bloß in eine fernere Vergangenheit zurückdatiert werden kann. Man kann es nicht übersehen – man erinnere sich daran, dass Nietzsche im zweiten Vorwort zum Tragödienbuch den Ausdrucksmangel oder eine Gedankenunreife der frühen Zeit autobiographisch bedauert –, dass mit dem Komparativ etwas Darüberhinausgehendes angedeutet wird: Ein Alter nämlich, das man schlechterdings nicht denken kann, ein unzählbares, weil die Ver-
16 Auf diese Hypostase des apollinischen Selbst weisen aber mehrere Ausdrücke der GT hin (etwa: »Wo uns das ›Naive‹ in der Kunst begegnet, haben wir die höchste Wirkung der apollinischen Cultur zu erkennen: welche immer erst ein Titangenreich zu stürzen und Ungesthüme zu tödten hat« [37; Hervorh. von mir]); diese Art des metaphorischen Ausdrucks verleitet zur Vorstellung, die das Apollinische zuerst als eine unterworfene oder latente, sodann aber als eine explizite und frei gewordene Macht begreift.
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gangenheit des Klassischen eine unvordenkliche17 ist, weil es über die chronologische Dimension hinaus auf einen ›dunklen‹ Gründungszusammenhang verweist, der der Raum eines «ungeheuren und wilden« Aufbruchs des Hellenentums ist. Nietzsches These, die Griechen seien viel älter als man denkt, impliziert also einen paradoxen Sachverhalt des Klassisch-Naiven, der von einem Gründungszusammenhang herrührt, in dem sich die Klassizität so definieren lässt, dass sie in einer Fähigkeit besteht, die eine Endlichkeit nach sich zieht: Diese Fähigkeit ist ein Anfangen-Können, das mit einer Ohnmacht einhergeht, die eigene ›Vergangenheit‹ selbst nicht zu denken. Das Klassisch-Naive wurzelt in einem, sagen wir, absoluten Alter, in einer unvordenklichen Vergangenheit. Es hat nur insofern Bestand, als sich seine Wurzeln in eine ›dunkle‹ Unvordenklichkeit verlieren. 2) Zu sagen, dass die Unabzählbarkeit des absoluten Alters dem Klassischen zugrunde liegt, ist aber ungenügend. Denn das Zugrundeliegen des unvordenklichen Ursprungs schließt nicht die Möglichkeit aus, dass das Klassische und sein Ursprung – noch einmal – hypostasierend so aufgefasst werden, dass die beiden – das Klassische und sein Ursprung – »an sich getrennt« und sodann erst miteinander gedanklich verbunden werden. Dies muss gedanklich vermieden werden, seit wir das Dionysische und das Apollinische nicht im Gegensatz-, sondern im Differenz-Verhältnis auffassen wollen. Vielmehr sollte die These folgende sein: Dass das Klassische mit seinem absoluten Alter unabdingbar zusammengeht, heißt also zugleich, dass das Anfangen-Können des Klassisch-Naiven, um anzufangen, dessen Ursprung, der für dieses Können eine unvordenkliche Größe ist, als seine Voraus-Setzung überhaupt erschließt. Eine Bedingung für das Klassische ist, als seinen Ursprung das ›setzen‹ zu können, was zu denken es nicht fähig ist. Damit erweist sich die Unfähigkeit, die Unvordenklichkeit der eigenen Vergangenheit nicht zu denken, als eine Fähigkeit, ein »Talent« (38), diese undenkbare Unvordenklichkeit erst spüren und – Nietzsche sagt – daran leiden zu können. Nicht das Leiden, sondern die Leidensfähigkeit, 18 die sich bis dahin zu-
17 Dieses Wort und dessen Bedeutung, wie man sieht, entlehne ich Schellings später Philosophie. 18 Nietzsche erwähnt mehrmals diese Fähigkeit: »reizbarste Leidensfähigkeit« (37), »zum Leiden so einzig befähigte Volk« (36; Herv. i.O.). »Spricht bei ihnen der Verstand: wie herbe und grausam erscheint dann das Leben! Sie täuschen sich nicht«. (Menschliches, Allzumenschliches, § 154, KSA 2, 146) Und die Fähigkeit, die Endlichkeit oder die Nichtigkeit des Daseins der Dinge zu spüren, bezeichnet Nietzsche bereits im allgemeinen Kontext unter schopenhauerscher Inspiration als ein Sonder-
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spitzt, dass das Leben als solches als wertlos aufgefasst werden kann, ist die Voraussetzung für die Gestaltung der Kultur. Es geht also beim (griechischen) Pessimismus19 nicht um das Nichts des Lebens, sondern um die »Sensibilität« für dieses Nichts: »Eine Grundfrage ist das Verhältniss des Griechen zum Schmerz, sein Grad von Sensibilität« (15). Der Grad des Leidens ist so wenig wie der Wert des Daseins objektiv gegeben. Der Schmerz ist so wenig wie die Freude eine objektiv existierende Wahrheit des Lebens. Diese Fähigkeit zu leiden, diese »Sensibilität« (KSA 1, 15) ist mit der »künstlerischen«, mit der Fähigkeit zur klassischen Gestaltung »correlativ« (38). Hier wird eine Doppelfähigkeit markiert, die Nietzsche mehrmals als das ausgezeichnete Charakteristikum der Griechen qua eines für die Kunst- und Kulturgestaltung exemplarischen Volkes bezeichnet: Diese Fähigkeit, klassisch-naiv zu gestalten, und jene, eine unvordenkliche und undenkbare »Tiefe« vorauszusetzen, sind voneinander untrennbar, bedingen sich gegenseitig; ohne die eine Fähigkeit könnte es die andere nicht geben: Sie sind korrelativ. Nietzsches These lautet, um argumentativ genauer und konsequenter zu sein, nicht einfach wie folgt: Die Griechen wären zunächst überempfindsam gegenüber dem Leiden des Lebens, das als ›objektive‹ Wahrheit in der Welt überall zugegen wäre, dann hätten sie eine künstlerische Fähigkeit entwickelt, dieses grundsätzlich leidvolle und unerträgliche Leben zu verklären und erträglich zu machen. Nein! Nietzsche sagt vielmehr: Wir können uns so wenig einen Griechen, der ohne die Fähigkeit, die ›Tiefe des Lebens‹ zu spüren, nur diejenige zur klassischen Gestaltung hat, vorstellen, wie wir uns einen Hellenen vergegenwärtigen können, der nur die
vermögen des Philosophen: »Schopenhauer bezeichnet geradezu die Gabe, dass Einem zu Zeiten die Menschen und alle Dinge als blosse Phantome oder Traumbilder vorkommen, als das Kennzeichen philosophischer Befähigung.« (26 f.) Das Theorem der Leidensfähigkeit taucht auch in späterer Zeit als ein zentrales Moment auf, wenn er die Theorie über den Willen zur Macht zu formieren versucht; nur ein Beispiel dafür: »Die Unlust ist ein Gefühl bei einer Hemmung: da aber die Macht ihrer nur bei Hemmung bewußt werden kann, so ist die Unlust ein nothwendiges Ingrediens aller Thätigkeit (alle Thätigkeit ist gegen etwas gerichtet, das überwunden werden soll) Der Wille zur Macht strebt also nach Widerständen, nach Unlust. Es giebt einen Willen zum Leiden im Grunde alles organischen Lebens (gegen ›Glück‹ als ›Ziel‹).« (KSA 11, 222; Herv. i.O.; die letzte Hervorh. von mir.) 19 Zum Pessimismus als einer basalen Einstellung der Griechen vgl. Burkhardt, »Zur Gesamtbilanz des griechischen Lebens«, S. 317-395, bes. 349-372. Allerdings ist dieser Pessimismus bei Nietzsche nicht bloß als eine archaische Lebenshaltung, sondern vor allem als eine ›Tiefenschicht‹ aufgenommen worden, die die Kultur ermöglicht.
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Leidens- ohne Gestaltungsfähigkeit hat. Zum einen ist die Leidensfähigkeit die Voraussetzung für die Gestaltungsfähigkeit; jene veranlasst diese; zum anderen aber kann die ›vergangene‹ Existenz der Leidensfähigkeit nur aus der Gegenwärtigkeit der Gestaltungsfähigkeit vermutet werden. Die Klassizität geht zwar von der Fähigkeit aus, in der Weise der Voraus-Setzung eine Unvordenklichkeit überhaupt erst zu schaffen, die das Zeichen ihrer Ohnmacht, Endlichkeit oder gar Nichtigkeit ist. Die Leidensfähigkeit kann aber – und Nietzsche selbst scheint manchmal diesen Punkt aus der Sicht zu verlieren – nur demjenigen Griechen nachträglich zugeschrieben werden, der von dem verspürten Leiden gedrängt die hellenische Kultur- und Kunstgestaltung zustande gebracht hat.20 3) Die Leidens- und Gestaltungsfähigkeit sind auf diese Weise korrelativ. Demgemäß ist auf den Doppelcharakter des Vollzugs des Schlusses zu achten: Die unvordenkliche Vergangenheit ist so erschlossen, dass sie damit zugleich (ab-)geschlossen ist. Das Anfangen-Können des Klassischen verdankt sich einer Doppelbewegung des Schlusses, einem Zugleich des Auf und Ab des Schließens. Anfangen ist nicht bloß ein Etwas-von-vorne-Tun; es ist ein totaler Ab-
20 Ein Grieche, der ohne Kenntnis der olympischen Götter nur die vorolympischen Titanen gekannt hätte, wäre nämlich unvorstellbar; dies ist der Punkt, den WilamowitzMoellendorf in der Polemik gegen Nietzsche hervorheben wollte: »[A]llein es darf als ausgemacht gelten, dass die titanomachie, nun gar die hesiodischen dynastien und genealogien dem hellenischen bewußtsein teils ferner liegen, teils erweislich jünger sind, als der olympische götterkreis Homers; geschweige, dass es je eine zeit gegeben hätte, wo ein Hellene unbekannt mit Zeus Athena Apollon einem Uranos oder Kronos oder gar Erikapaios und Phanes geopfert hätte.« (Gründer, Der Streit um Nietzsches Geburt der Tragödie: Die Schriften von Erwin Rohde, Richard Wagner, Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff, S. 36 f.) Dementsprechend ist der »Untergrund« des dionysischen »Ur-Einen« als »das Ewig Leidende und Widerspruchsvolle« (38), genauer besehen, allein eine hypothetische Entität: Er hat keinen zu hypostasierenden Stellenwert gegenüber der Schein-Welt; er wird vielmehr als die Vorbedingung der künstlerischen Gestaltung der Welt nachträglich zugeschrieben: Er lässt sich nie als solcher oder an sich bestätigen, sondern seine vorausliegende Existenz ist nur da zu vermuten oder schlusszufolgern, wo hypothetisch angenommen werden kann, dass sich ein »inbrünstiger« Wille im schönen Schein entladet; seine Existenz ist »a priori verspätet« (Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, S. 66) – Diese wird auch von Nietzsche mehrmals nur als eine »metaphysische Annahme« (ebd.; vgl. auch 47) konzipiert. Ähnlich hat Eva Geulen die »Vorstellung von den Schrecken der tragischen Erkenntnis« als »nachträgliche[n] Effekt und nicht als Axiom der Geburt der Tragödie« herausgestellt (Geulen, Das Ende der Kunst, S. 83, Anmerkung).
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bruch, ein absoluter Zug, mit dem eine Tiefe des ›nichts-zu-sein‹ (35) aufgeschlossen wird, und der Akt, der diese Öffnung schließt. Das Anfangen-Können ist das Vermögen zur Voraus-Setzung des Ursprungs und dasselbe Vermögen zur Abschließung dieses aufgeschlagenen Ursprungs, der für das AnfangenKönnen unvordenklich und nur auszuschließen ist. Der Aufschluss einer unvordenklich-ursprünglichen Vergangenheit und der Schluss dieser Öffnung sind die zwei Momente ein und desselben Aktes des klassischen Anfangens, der nur in einer Momentaneität dauert. Sobald die Öffnung geöffnet wird, wird sie geschlossen. Besser gesagt aber: Nur dort, wo sie überhaupt geschlossen ist, lässt sich ›philologisch‹ erkennen, dass sie überhaupt geöffnet worden war. Nicht einmal folgen diese ›zwei‹ Momente in der griechischen Kultur- und Kunstgeschichte chronologisch in einer sukzessiven Reihe aufeinander – nicht so, wie sich Nietzsche nach der Art hesiodischer Theogonie eine von den Titanen besetzte griechische Vergangenheit vorzustellen geneigt zu sein scheint. 4) Die so auf- und ausgeschlossene Vergangenheit macht demnach nicht einmal einen dunklen Horizont aus, von dessen Folie sich die klassische Naivität abhebt; sie übt vielmehr allein eine durchaus unsichtbare Transzendentalität aus. Das Klassische erhält dessen Naivität also erst, wenn der (Auf- und Ab-)Schluss vollkommen ist.21 Und diese Vollkommenheit besteht nicht bloß darin, dass der Schluss etwa ein entschiedener wäre, sondern darin, dass die homerische Welt mit der Aktion des Schlusses selbst Schluss gemacht hat, also damit nichts (mehr) zu tun hat. Der Schluss ist also in dem Sinne vollständig, dass von jenem ›ungeheuren und wilden Ringen‹ der Genese, von dem Zug des Schließens selbst keine Spur bleibt.22 Der (Auf- und Ab-)Schluss des ursprünglichen Abgrunds,
21 »Die homerische ›Naivität‹ ist nur als der vollkommene Sieg der apollinischen Illusion zu begreifen.« (37; Hervorh. von mir) 22 Der Systemtheoretiker würde, wie so oft auch hier mit Verweis auf Derrida, sagen: »Der Rückzug ins Unbeobachtbare läßt nichts in der Welt zurück, er löscht, um es mit Jacques Derrida zu formulieren, seine Spuren.« (Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 96); Derrida selber sagt mit dem kritischen Bewusstsein gegenüber der Metaphysik: »Le mode d’inscription d’une telle trace dans le texte métaphysique est si impensable qu’il faut le décrire comme un effacement de la trace elle-même. La trace s’y produit comme son propre effacement. Et il appartient à la trace de s’effacer elle-même, de dérober elle-même ce qui pourrait la maintenir en presence. La trace n’est ni perceptible ni imperceptible.« (Derrida, »ousia et grammè«, S. 76) Es bleibt also noch danach zu fragen, inwiefern das klassisch-naive Anfangen metaphysisch strukturiert ist, ob nicht die Reichweite der Metaphysik – oder, mit Luhmann gesprochen, des Systems – bis zum Anfang der westlichen Kulturgestaltung überhaupt zurückreicht.
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der die Naivität des Klassischen zur Folge hat, ist absolut spurlos geschehen, als wäre nichts geschehen. Der Schluss ist, streng genommen, nur insofern die Bedingung der Naivität und Naturhaftigkeit des Klassischen, als er in dem Modus der kompletten Spurlosigkeit und Unsichtbarkeit und in dem Anschein des Nichts-Geschehens geschieht. Die homerisch-klassische Welt ist durch diese vier Momente – die Unvordenklichkeit der Vergangenheit, die Erschließung des Ursprungs, das Zugleich der Er- und Ausschließung und das Schließen des Schließens – so durchaus vollendet, dass sie als der naive Anfang erscheint. Damit ist die Struktur des Zugleichs des Anfänglichkeits- und Schlusscharakters des Klassischen geklärt. 6.1.4 Globaler Apollinismus: eine ontologische Allgemeinheit des Scheins Die klassische Welt des Homers fußt zwar auf und wurzelt in dem unvordenklichen Ursprung, ja der ›schrecklichen Tiefe‹, die für das Anfangen auf- und ausgeschlossen worden war; sie scheint aber auf der Grundlage jener Vollständigkeit der Bewegung des Schlusses, in der sich der Schluss damit vollendet, sich selbst auszuschließen – sie scheint aufgrund dieser Vollständigkeit auf sich selbst zu beruhen, von sich selbst anzufangen. Sie fängt von ihrem unsichtbaren Ursprung (un-)abhängig an. Sie fängt nur an, indem sie von ihm unabhängig scheint. Damit fängt sie an, zu scheinen und als eine sichtbare zu scheinen. Sie fängt als Schein an. Die viel besprochene Selbständigkeit und Freiheit, die die homerische Welt in uns erwecken soll, ist wesentlich sowohl der Schein der Freiheit wie die Freiheit des Scheins, die sich jener Komplettheit des Schlusses verdankt. Insofern dieses Welt-Gebilde Schein ist, ist es frei. Schein ist das Sein dieser Welt des Anfangs. Und insofern ist ihr Sein das Frei-Sein. Die Freiheit des Scheins ist also nicht bloß ›ästhetischer‹, sondern grundsätzlich ontologischer Natur. Die Freiheit, die die homerische Welt zeigt, ist von Anfang an und vor allem an ihrem Anfang eine von der ontologischen Schwere oder von dem ontologischen ›Ernst‹ befreite. Denn sie kann nur als eine ontologisch leichte anfangen. Sie ist als Anfangswelt ontologisch leicht. Und die ontologische Leichtigkeit und Freiheit des Scheins der homerischen Welt hängt auf der semiologischen Ebene mit ihrem viel besprochenen SpielCharakter zusammen, der besagt, dass das homerische Gebilde weder Abbild noch Trugbild des Urbildes, keine Allegorie für die verborgene Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit, für die tief angelegte Wahrheit oder Wahrheitslosigkeit ist
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und dass es keine Fremdreferenz hat.23 Und hier setzt die Kunst an. Man darf nicht die Rede oder die These Nietzsches von der Funktion der Kunst, ›Kunst verklärt oder verschönert‹, missverstehen: Kunst ist nämlich nicht die Verschönerung des Nicht-Schönen, nicht ein Schöner-Machen des Weniger-Schönen oder Hässlichen, sie hat keine solche Fremdreferenz, keine ontologisch vorangehende Entität, an der sie erst ›künstlerisch‹ arbeitet. Kunst als techné des Scheins, als Produktion des Scheins basiert, so Nietzsche, auf einer ontologischen Freiheit. Kunst hat keine ontologische, ontologisch absolute Grundlage. So kann Nietzsche über die ›Kunst als eigentlich metaphysische Tätigkeit‹ sagen, und dies heißt wiederum: ›Kunst betrügt nicht, sondern täuscht bloß‹. Der Anspruch auf das Sein oder die Wirklichkeit verdirbt die Kunst und den Schein, macht diese »plump […]« (28). Nietzsche landet aber nicht und auch provisorisch nicht bei der ›strukturalistisch‹ oder ›postmodernistisch‹ anmutenden These, dass die spielerische Naivität des homerischen Welt-Gebildes so ›autonom‹ ist, wie die Zeichenkette zum Bedeutungskern keine Beziehung mehr unterhält.24 Vielmehr spielt die Naivität auf eine besondere Weise noch mit ihrem unvordenklichen Ursprung: Denn die unvordenkliche Vergangenheit sorgt aber gerade durch ihr komplett spurloses Geschehen für die Leichtigkeit der homerischen Naivität. Die ›Wirkung‹ der Unvordenklichkeit lässt sich nämlich trotz, genauer: wegen ihrer prinzipiellen Spurlosigkeit und Unsichtbarkeit – in einer ›philologischen‹ Weise – daran erkennen, dass das olympisch-homerische Gebilde keine ontologische Dichte oder Schwere hat.25 Daran, dass die homerische Welt oder die olympische Kultur sich nicht (mehr) auf den Ursprung bezieht, lässt sich die (nicht mehr vorhandene) Beziehung erkennen, deren Gelingen sich nur daran messen kann, dass überhaupt keine solche Beziehung (mehr) vorhanden ist, die, wenn überhaupt, eine ontologi-
23 Schelling nennt dies in der Distanznahme von »Allegorie« und im Anschluss an Coleridge »Tautegorie« (Schelling, Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie. 1842, S. 205 f.). 24 Sloterdijk scheint auch bei seiner Lektüre des Tragödienbuches dasselbe zu sagen, mit der Absicht, schnell zu einer apollinischen Freiheit zu gelangen, ohne sich um die ›ernste‹ Bezugnahme auf die ›Wahrheit‹ kümmern zu müssen (Sloterdijk, Denker auf der Bühne, S. 87-88). Dagegen vgl. Menke, Kraft, 110-113 (Mit dem Titel: »Nichtkönnen können«.) 25 »Wo uns das ›Naive‹ in der Kunst begegnet, haben wir die höchste Wirkung der apollinischen Cultur zu erkennen.« (37) Diese ›Wirkung der apollinischen Kultur‹ ist aus dieser Perspektive sowohl von dem Verhältnis des Genitivus subjektivus als auch von dem des Genitivus objektivus her zu verstehen.
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sche Referenz hätte. Die Unvordenklichkeit der Vergangenheit und die Undenkbarkeit des Ursprungs geschehen nämlich nur spurlos und unsichtbar – nicht bloß als eine Eigenschaft eines ursprünglichen Zustandes, sondern vielmehr als ein Geschehen, als das Geschehen, das aber so geschieht, als wäre nichts geschehen. Gerade durch die Spurlosigkeit und Unerkennbarkeit des Geschehens des Ursprungs ist die ontologische Leichte der homerischen Welt zustande gekommen. Der unvordenkliche Ursprung ist seiner Unvordenklichkeit wegen nicht etwa eine Entität oder ein fester Ort, sondern vielmehr ein Geschehen, das sich bei der Entstehung der homerischen Welt als solcher Entzug ereignet, dem sich die ontologische Leichte dieser Welt in dem Maße verdankt, wie dieser Entzug die ontologische Schwere mit sich entrissen hat und damit der Effekt des Immer-schon-Da der Welt bewirkt hat. Das eine Verschwinden des Ursprungs ist mit dem anderen der Schwere einhergegangen. Die Auffassung aber, dass die scheinende Welt ohne weiteres dadurch zustande gekommen ist, dass die Welt von ihrem Ursprung unabhängig wird, greift zu kurz; sie würde zu einer solchen postmodernistischen Privilegierung der ›Autonomie‹ des Spiels führen, die allein letzten Endes in nichts anderes als eine Hypostase oder eine Tyrannei des Scheins münden würde, wobei Schein nicht mehr Schein wäre. Dagegen ist die scheinende Welt dadurch zustande gekommen, dass sie von ihrem Ursprung in der Weise unabhängig wird, dass diese Unabhängigkeit selber von dem Entzug des Ursprungs abhängig ist und als die ›Wirkung‹ dieses Entzugs geschieht. Für die Freiheit des Scheins ist allein der Verzicht auf die ontologische Schwere, auf die Schwere des Seins, die Vermeidung derjenigen Schwerkraft des Seins ungenügend, die dazu neigt, alles nach unten zu ziehen. Die Vorstellung dieser Verzichtleistung oder Vermeidung der Schwere, Schrecklichkeit oder Unerträglichkeit usw. geht immer noch von jenem entgegensetzend-hypostasierenden Dualismus von Schein/Sein aus, von dem sich ja der Nietzsche der GT noch nicht befreit hat.26 Diese Vorstellung wäre selber ein Zeichen dafür, dass die Spur jenes ›harten‹ Kampfes der Befreiung noch bleibt – dies wäre nicht naiv, weder jugendlich noch jugendfrisch.27
26 Die Metapher Sloterdijks für die dionysische Wahrheit, die zu vermeiden ist – Cave canem: Hüte dich vor dem Hund! – ist aus diesem Grund irreführend (ders., Der Denker auf der Bühne, S. 72). 27 Dafür ist Schellings Analogie zutreffend: »Das Kind, vom ersten Lebensgefühl durchdrungen, weiß nichts von dem Prozeß, durch den es wundervoll gebildet ist. So, wie nach Sturm und Regen die Sonne, aus der Entwicklung hervortretend, herrlicher glänzt, so tritt uns die Jugendfrische Homers entgegen.« (Schelling, Philosophie der Offenbarung 1841/42, S. 233)
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Dagegen scheint die These Nietzsches folgende zu sein: Die Spur der Unvordenklichkeit der Vergangenheit ist die vollkommene Naivität selbst – und nur diese vollkommene –, an der sich die Vergangenheit nie spüren lässt. Die bei der Rede von dem homerischen Epos ausgezeichnete vollkommene Immanenz, die keine Spur der genetischen Transzendentalität zeigt28 – diese vollkommene Immanenz selbst, und nur diese, ist die Spur der Transzendenz der genetischen Vergangenheit. Sie unterhält erst dann ein Verhältnis mit dieser, wenn sie überhaupt keine Spur des Verhältnisses in sich trägt: Keine Spur des Verhältnisses (mehr), kein Verhältnis (mehr) ist das Zeichen für das Gelingen des Verhältnisses. Dies bedeutet nicht, dass dieses Verhältnis diskret, irgendwie noch unterschwellig wirksam wäre. Denn dieses Verhältnis verleiht nur als ein kompletter Entzug, als das Geschehnis einer kompletten Verhältnislosigkeit erst die ontologische Freiheit und Leichtigkeit, also: den Charakter des Scheins. Die Komplettheit und Vollendetheit, das Durch-und-Durch ist die Bedingung und das Zeichen des Scheins. So kann bei Nietzsche davon gesprochen werden, dass die Figur Homers als des naiven Künstlers ›nach‹ dem ›langen‹ genetischen Prozess wie ein Monument der gesamten Welt der olympischen Heiterkeit steht: »[D]aß Homer als Sieger am Schluß dieser langen trostlosen Periode steht, ist mir eine meiner sichersten Überzeugungen.« Und darum ist es möglich, dass die Figur Homers zwar an sich keine Spur der genetischen Vergangenheit hat,29 sie selbst aber als solche Figur das Zeichen, das »Denkmal«, eines niemals sichtbar, niemals spürbar gewordenen Prozesses ist: »[A]ls Denkmal [d]es Sieges steht Homer vor uns, der naive Künstler.« (38) Die Figur des Homers unterhält mit der genetischen Vergangenheit keine Beziehung (mehr) – und sie steht gerade aufgrund der Beziehungslosigkeit als »Denkmal« der Beziehung. Homer zeigt, indem er keine Spur des genetischen Prozesses zeigt, den Erfolg dieses Prozesses. Dies ist eine unabdingbare Paradoxie des Scheins: Der Schein der Welt kann nur als eine Wirkung ohne Ursache entstehen und bestehen.30
28 Am prominentesten: Lukàcs, Die Theorie des Romans, S. 27 und passim. 29 »das höchste Gefühl der Macht ist concentrirt im klassischen Typus […]: kein Gefühl von Kampf« (KSA 13, 240; orginale Hervorh. gestrichen). 30 Dieses Paradox der Zeitlichkeit der epischen Weltkonstitution hat meines Wissens Lukàcs am intensivsten im Auge behalten und am besten formuliert: »Und das Unnahbare und Unerreichbare Homers […] stammt daher, daß er die Antwort gefunden hat, bevor der Gang des Geistes in der Geschichte die Frage laut werden lässt«. (Ders., Die Theorie des Romans, S. 22; dazu vgl. auch S. 23, 27 und 38) Und im Übrigen erlaubt diese Zeitlichkeit nicht einmal die Fragestellung in Bezug auf den Ursprung der episch-mythischen Scheinbilder – und in Bezug auf die Legitimation der episch-
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Diese Welt scheint frei, indem sie in dem Maße mit ihrem genetischen Prozess komplett Schluss gemacht hat, wie dieses Schlussmachen selbst ein unsichtbares Ereignis ist. Die scheinende Welt ist so da – und nur diese Welt ist da. Dass eine Welt scheint, bedeutet also daher, dass sie durchaus scheint. Sie bietet sich also als Schein ganz und gar, ohne Rest, dar. Sie gibt sich im Schein durch und durch. Kein Rest, kein Außen außerhalb der scheinenden Welt. Sie zeigt sich als Schein im ganzen Umfang. Sie zeigt sich als eine der Sichtbarkeit, des Schauens, des »Auges« – sonst nichts. Sie stellt sich in der scheinbaren Sichtbarkeit erschöpfend dar. Der Schein einer ganzen Welt – sonst nichts. Sie präsentiert sich als eine »vollendete Welt der Anschauung«, eine vollkommene und vollkommen geschlossene Welt der reinen Sichtbarkeit, einer Sichtbarkeit ohne ›Hinterwelt‹. Sie ist in ihrer Darbietung, Darstellung oder Präsentation, also in ihrem Scheinen sich selbst vollkommen immanent.31 Der Schein ist nur produziert und kann nur produziert sein als ein Ganzes, als eine Totalität. Daher kann von der Schönheit des Scheins die Rede sein. Beim schönen Schein gehören also die Immanenz und die Totalität zusammen.
mythischen Erzählung, da diese die Ordnung der Dinge dadurch legitimiert, dass sie sie als ›Tatsache‹, als schlechthin von Anfang an da darstellt. Eine Rechtfertigungsstrategie ist am Werk, in der sich die ›transzendente‹ und die ›immanente‹ Instanz nicht mehr voneinander trennen lassen und einander legitimieren: »So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem sie es selbst leben – die allein genügende Theodicee!« (Geburt der Tragödie, S. 36) – eine Theodizee, die zugleich eine Anthropodizee ist; dazu vgl. Jean Franklin, Le discours du pouvoir, S. 30. 31 Es ist klar, dass die GT im Hinblick auf die griechische Welt einen vorwegnehmenden Ansatz für die spätere ›moralische Indifferenz‹ gegenüber dem Guten und dem Bösen enthält. Diese moralische Gleichgültigkeit, eine allgemeine Amoralität, die das Gute und das Böse gleichermaßen und das ganze Leben umfasst, eine »Leichtfertigkeit« (Menschliches, Allzumenschliches, § 154, KSA 2, 145 f.) der hellenischen Kultur scheint damit zusammenzuhängen, dass die ontologische »Leichtigkeit« (ebd.) als das Resultat des kompletten Schlusses keine Ausnahme duldet, also global gilt. Alle innerweltlichen Aspekte des Lebens haben das Recht, in der Welt vorbehaltlos zu scheinen, als das Resultat der »gänzlichen Ausschließung« (KSA 7, 364).
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6.2 N ACHAHMUNG DER K ULTUR 6.2.1 Natur-Kunst als die Kunst: Naturhaftigkeit im geschichtsphilosophischen Rahmen Es geht der GT um einen Versuch, die hellenische Kultur zu verstehen, d.h. zu wissen, wie sie gestaltet sein soll, wie die Kunst32 aussieht, die sie gestaltet. Der Charakter dieses Verstehensversuches ist aber selbst näher zu verstehen. Und das erfordert, diesen Versuch in einen breiteren Zusammenhang zu stellen: Erst seit der Moderne, die von einem doppelten Bewusstsein, dem Bewusstsein des Neuen und zugleich des Epigonentums, geprägt ist, ist gerade in diesem Zwiespalt die hellenische Kultur nicht nur ein Modell, nicht nur ein Beispiel der Kultur unter anderen, sondern das Modell der Kultur, das Urbild der kulturellen Gestaltung oder Bildung. Und diese Modellhaftigkeit der hellenischen Kultur gegenüber allen ihr folgenden stammt von ihrem fast in sich widersprüchlichen Charakter: von ihrer Naturhaftigkeit – einer Naturhaftigkeit der Kultur. Die hellenische Kultur – und ihre Gestalten und Gestalthaftigkeit überhaupt produzierende Kunst – ist modellhaft im emphatischen Sinne des Wortes, also: Sie ist klassisch. Als solche ist sie schön. Und zwar zeigt sie, so üblich angenommen, eine einfache Schönheit. Solange sie aber in ihrer Schönheit die Einfachheit zeigt, verbirgt sie einen komplexen Charakter: Einerseits, solange diese Kultur schön ist, ist sie ein Produkt einer Kunst. Andererseits zeigt ihre schöne Kulturhaftigkeit ihre Vollkommenheit oder Vollendung in der Naturhaftigkeit, die – zumindest seit Winckelmann – als die »griechische Heiterkeit« bezeichnet wird. Die hellenische Kultur ist also, solange sie schön ist, eine Kunst und eine Natur zugleich. Sie ist eine Natur-Kunst. Ein Kunstprodukt, das natürlich ist und
32 Hier und im Folgenden ist das Verstehen oder die Bestimmung der ›Kunst‹ selbst eine grundlegende Frage. Zuerst ist aber festzustellen, dass es hier weder um das gattungsspezifische Verständnis der verschiedenen Künste noch um den geltungsspezifischen Bereich der Kunst neben dem des Wahren und dem des Handelns, sondern vor allem um eine Kunst zur Gestaltung der Kultur geht. Man kann die Frage, inwiefern die Auffassung der Kunst als eines ›ästhetisch‹ getrennten Geltungsbereiches spezifisch neuzeitlich ist, dadurch zu beantworten versuchen, dass man sich z.B. nach Odo Marquards Überlegungen fragt, inwiefern die ästhetische Kunst geschichtsphilosophisch gesehen die Funktion eines Komplements oder Surrogats für den fehlenden geschichtstheologischen Sinn erfüllt; vgl. Marquard, Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen.
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scheint; eine Natur, die durch die Kunst produziert ist; ein schöner Schein der Natur. Als solche zeigt die Kunst, die die hellenische Kultur produziert hat, das Modell der Kunst, die das Schöne produziert. Sie verkörpert nicht nur das geschichtliche, das geschichtsphilosophische Modell der Kunst, das Urbild, sondern das Vorbild, die Definition der Kunst. Jeder Versuch, eine schöne Kultur zu produzieren, soll sich nach diesem Modell richten, soll dieses nachahmen. Denn dieses zeigt die Bestimmung des »Klassischen und Ewigmustergültigen«33 der schönen Kultur. Die Schönheit der griechischen Kultur zeigt ein Ur- und Vorbild der schönen Kulturgestaltung – aber nicht einfach darum, weil sie schön ist, sondern deshalb, weil sie naturhaft schön ist. Das Schöne ist das naturhaft Schöne.34 Die griechische Kultur, die den Schein einer schönen Einfachheit hat, ist also ein Natur-Kultur-, ein Natur-Kunst-Komplex. Sie ist ein Komplex. Einfach ist sie nicht. Sie ist kompliziert.35 Sie steht vor uns wie eine Frage, auf die man zu antworten, wie ein Problem, das man zu lösen hat, wie ein Zeichen, dessen Bedeutung herauszuinterpretieren man herausgefordert wird, damit man sich überhaupt ihr gegenüber verhalten kann. Sie fordert ein Verständnis, ein Wissen heraus, wenn man daraus, sei es positiv oder negativ, die Konsequenz dafür ziehen
33 Nietzsche, »Homer und die klassische Philologie«, S. 250. 34 Kant steht, wenn er auch nicht darauf auf keinem Male hingewiesen hat, diesem geschichtsphilosophisch-nachahmungstheoretischen Zusammenhang von Natur/Kultur oder Natur/Kunst nahe, wenn er die Kunst im Hinblick auf ihre notwendige Beziehung zur Natur definiert: Schön kann nur sein, was so aussieht, als ob es natürlich wäre (und umgekehrt erscheint die Natur nur dann schön, wenn sie als das Produkt der künstlichen oder kunstfertigen Tätigkeit anzusehen ist). Und sein Beispiel der Nachtigall (Kritik der Urteilskraft, § 42, B 172 f.) zeigt, dass es in der Überlegung des Schönen um das Problem des Modells und der Nachahmung geht. Zur jüngsten Überlegung zu dieser Zweideutigkeit in der kantischen Definition der Kunst vgl. Düttmann, Teilnahme. Bewusstsein des Scheins, bes. Kap. 2. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main, 1995, 425, sieht in Kant jene ›Entkopplung‹ des Kunst-NaturVerhältnisses von dem Zusammenhang der Nachahmung, die nach ihm den Kern der ›Selbstbeschreibung‹ der Kunst der Moderne ausmachen soll; diese Entkopplung ist aber nicht einfach als ein Loslassen von diesem Zusammenhang zu verstehen. Zur Überlegung zum Mimesis-Verhältnis von Natur und Kunst bei Kant vgl. Derrida, »Economimesis«. 35 Die »Harmonie, ja Einheit des Menschen mit der Natur«, die klassische Kultur und Kunst schafft, ist »keinesfalls ein so einfacher, sich von selbst ergebender [...] Zustand« (37).
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will, wie man die Kultur gestalten muss, nach welchem Maßstab man sich dabei richten muss. Und wie man den Komplex einer ›alten‹ Kultur versteht und wie man sich ihm gegenüber verhält – davon hängt das Selbstverständnis der Moderne in gewisser Dimension ab. Von dem Verständnis des Verhältnisses zwischen der Antike und der Moderne geht die Gestaltung der Moderne aus: Die ›Moderne‹ oder, wie man sie auch häufig genannt hat, die ›neuere Zeit‹ bestimmt sich in einer Dimension durch die Distanzierung von oder Identifizierung mit der Antike. Die Moderne enthält einen Relationsbegriff in sich in dem Maße, in dem sich ihr Selbstverständnis durch die Relationssetzung mit der Antike oder der Vormoderne als ihrem geschichtsphilosophischen Widerpart erst bilden lässt, der damit bei der Konstitution der Moderne eine innerliche Rolle spielt.36 Und die Kulturund Kunstgestaltung (in) der Moderne nimmt dadurch auf ihr Urbild (oder Gegenbild) Bezug, dass sie sich dessen Naturhaftigkeit gegenüber zu verhalten und sie zu verstehen versucht. Diese verstehende Bezugnahme gegenüber dieser Naturhaftigkeit ist für das Denken der modernen Bildung notwendig und wesentlich – sie ist es ja selbst in dem Fall, in dem die Moderne bis zur Verneinung dieser Bezugnahme als ›autonome‹ konzipiert wird.37
36 Ein Satz Albrecht Koschorkes über den Verhältnischarakter der Moderne zu ihrer Vergangenheit bringt dies zusammenfassend zum Ausdruck: »Im Begriff der Moderne selbst steckt ein agonales Moment gegenüber dem Vergangenen, Nichtmodernen, ohne d[as] er seine Konturen verlöre.« (Ders., »Götterzeichen und Gründungsverbrechen. Die zwei Anfänge des Staates«, S. 41; vgl. auch Käuser, »Archaik und Moderne«, S. 523 f.) 37 Repräsentativ für diesen Sonderfall wäre jene Äußerung Habermas’ über die Moderne als eine Sonder-Epoche, die er im Rahmen seiner Stellungnahme für die Moderne gegen die vermeintlich postmodernen Gegenpositionen hinsichtlich der ›Autonomie‹ der Moderne gemacht hat – über die Moderne also als jene Epoche, deren normativ regulierendes Modell irgendwo und irgendwann sonst außer ihr zu finden nicht gestattet und nicht möglich ist: »[D]ie Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne Möglichkeit der Ausflucht, an sich selbst verwiesen. Das erklärt die Irritierbarkeit ihres Selbstverständnisses, die Dynamik der ruhelos bis in unsere Zeit fortgesetzten Versuche, sich selbst ›festzustellen‹.« (Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 16; Herv. i.O.) Ich gehe aber davon aus, dass diese Geste der Selbständigkeit der Moderne gegenüber den »Vorbildern einer anderen Epoche« selbst an das Verhältnis mit diesen »Vorbildern« gebunden ist.
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Einer der besten Wege, dieses Verhältnis zwischen der Moderne und ihrer urbildlichen Vergangenheit aufzufassen, wäre, sie anhand des Nachahmungsbegriffs zu begreifen. Denn dieser hängt mit der geschichtlichen Entwicklung des Selbstverständnisses der Moderne zusammen und zeigt dementsprechend semantische Wandlungen. Im nächsten Abschnitt werde ich diese geschichtliche Wandlung, die zugleich eine begrifflich-systematische ist, darzustellen versuchen, damit die Kontur der Antwort darauf gezeichnet werden kann, welche Bedeutung der Versuch der GT hat, die griechische Kultur und Kunst zu verstehen. 6.2.2 Drei Stufen der Wandlung des Nachahmungsbegriffs Nach dem Interesse dieser Fragestellung kann die Veränderung der geschichtsphilosophisch-nachahmungstheoretischen Bezugnahme zur urbildlichen Natürlichkeit in drei Stufen artikuliert werden, wobei die GT in die letzte eingeordnet werden könnte. Die einzelnen Stufen könnte man zunächst der Einfachheit halber die klassizistische, idealistische und moderne‹ nennen: 1) Das antike Ideal bietet sich als das einzige für die Kunst- und Kulturgestaltung dar. Die »Nachahmung der Alten« (Winckelmann) ist das Gebot, auf dem allein die Bildung der ›Moderne‹ sich am besten ausführen muss. Denn sie, die Alten, haben ihre Kultur und Kunst nicht bloß nach der Natur, sondern mit der, in der und als die Natur gestaltet. Der Grieche war der Erste und der Einzige, dessen Kultur- und Kunsterfahrung natürlich ist. Das Natürliche sollte eine unhintergehbare, nicht mehr analysierbare Eigenschaft der Kultur sein. Den Modernen fehlt dagegen die Natur. Die Antike und die Moderne stehen für die Sache der Bildung also in einem asymmetrischen Kontrast-Verhältnis, in dem das antike Prinzip und die moderne Prinzipienlosigkeit einander entgegenstehen. Um diese Prinzipienlosigkeit zu beheben, muss die Moderne von der Antike lernen. Der bildende Blick ist auf die Vergangenheit gerichtet und der nachzubildende Gegenstand hat »konstante […] Wesensformen«.38 Die Vergangenheit ist nämlich die privilegierte Zeitdimension, die wieder vergegenwärtigt werden soll und in der »unreflektiert vorausgesetzt [wird], daß das, was imitiert wird, schon ein Bild ist, also seinerseits wahrgenommen werden kann«.39
38 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 403. 39 Luhmann, a.a.O.; diese erste Phase der Nachahmung kann bis zur »frühen Neuzeit« (402), also zur Renaissance, zurückverfolgt werden. Bei Winckelmann ist aber schon die Aufgabe der Nachahmung nicht geradlinig: Die griechische Klassik ist insofern der Gegenstand der Nachahmung, als sie einen unerreichbaren Maßstab für die Nachahmung bietet. Demnach lässt sich das Gelingen der Nachahmung daran bemessen,
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2) Dieser Mangel an Prinzip in der Moderne ist derjenige an Natur. Und die Erneuerung der nächsten Stufe des Nachahmungsbegriffes besteht darin, diesen Mangel selbst zu positivieren, ihn selbst zu einem Prinzip zu erheben und darin ein selbständiges, ein positives und eigentümliches Prinzip der Moderne zu suchen. Zwei auseinandergehaltene Prinzipien, die jeweils das antike und das moderne Ideal der Kunst- und Kulturgestaltung bestimmen, sind damit ins Feld gerückt: Notwendigkeit und Freiheit (Schiller) oder natürliche Bildung und künstliche Bildung (Friedrich Schlegel).40 Die Antike und die Moderne sind einander entgegengesetzt – aber nicht mehr asymmetrisch, sondern nunmehr symmetrisch unter dem Vergleich zweier geschichtlich verschiedener Prinzipien und zeigen damit jeweils ein Desiderat.41 Es geht infolgedessen um die Synthese oder die Dialektik zweier Bildungsideale. In dieser Dialektik sollte sich die NaturNotwendigkeit der Antike als das Resultat zeigen, das die moderne Freiheit erkämpft haben wird, wodurch die Natur ein »Verdienst« (Schiller) der Freiheit sein wird. Das Verhältnis zwischen zwei Prinzipien muss dialektisiert werden und darin wird die Natur keine unhintergehbare, unanalysierbare Eigenschaft der Kultur mehr sein. Die Nachahmung vollzieht sich dialektisch, indem die Natur das Angestrebte sein wird. Die Natur sollte – hier beginnt die geschichtsphilosophische und nachahmungstheoretische Ambiguität des Begriffs der Natur – als eine gewordene, zugespitzter: eine hergestellte (wieder-)gewonnen werden.42 So ist der Begriff der zweiten Natur ins Feld gerückt, die als ›frei‹ gewordene Natur zustande kommen muss. Das Privileg der Vergangenheit wirkt zwar noch, indem
selbst »unnachahmlich« zu werden: »Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.« Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, S. 4). Dieses Paradox der Nachahmung und ein Zug der Sentimentalität, die zwar Peter Szondi einfach der historischen Einmaligkeit des Griechischen zugeschrieben hat (ders., Poetik und Geschichtsphilosophie I, S. 30-34), die mir aber nicht nur der Historizität geschuldet zu sein scheint, werden deutlicher und folgenreicher in den folgenden Zeiten. 40 Vgl. dafür im Allgemeinen Szondi, a.a.O., die 7., 9. und 10. Vorlesung. 41 »Was ihren[: der Antiken] Charakter ausmacht, ist gerade das, was dem unsrigen zu seiner Vollendung mangelt; was uns von ihnen unterscheidet, ist gerade das, was ihnen selbst zur Göttlichkeit fehlt.« (Schiller, Die naive und die sentimentalische Dichtung, S. 9) 42 »Sie sind, was wir waren; sie sind, was wir werden sollen. Wir waren Natur, wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freyheit, zur Natur zurückführen.« (Schiller, a.a.O., 8; Herv. i.O.)
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sie in die Zukunft versetzt wird; jedoch ist diese (Wieder-)Gegenwart der Vergangenheit in der Zukunft in dem Maße modifiziert, wie der Naturbegriff durch den Freiheitsbegriff eine innere Spaltung erfahren muss, in dem Maße also, wie die Natur nur als eine erstrebte, nur als eine frei gewordene Natur gewonnen werden kann. 3) Die Dialektik zwischen Natur und Freiheit schafft damit den Übergang zur nächsten Stufe, zur weiteren Einsicht: Einer Einsicht, die nicht bloß darin besteht, zu sehen, dass die Natur-Kultur eine errungene in der Zukunft sein wird, sondern dass sie auch, also bereits, in der Antike errungen war. Die Natur war nämlich bereits in der Antike keine unhintergehbare, unanalysierbare Eigenschaft der Kultur. Damit die Natur-Kultur vorhanden gewesen sein kann, musste also etwas anderes als diese bereits geschehen sein. Die Dialektik zwischen Natur und Kultur ist nicht bloß in der Zukunft zu vollziehen, sondern wurde schon in der Antike, am Anfang der Kulturgeschichte, vollzogen – die Natur-Kultur war das Resultat davon.43 In dieser dritten Stufe wird die Natur-Kultur damit selbst als der Gegenstand der Frage thematisiert. Dadurch verschiebt sich die Aufgabe der Nachahmung: Es geht deshalb nicht mehr um die (Wieder-)Gegenwart der Vergangenheit, weil die Ursprünglichkeit der vergangenen Natur-Kultur selbst ein Gegenstand der Frage geworden ist. Ursprünglich wäre eher die Dynamik, die die klassische Urbildlichkeit zustande gebracht hat. Um diese Dynamik ist zu wissen. Der Anfang, der Anfang der Kulturen, die anfängliche Kultur muss als der Gegenstand des Wissens unter dem prüfenden – unter dem philologischen, der junge Nietzsche würde sagen – Blick zuerst gezogen werden. Und dieses Wissen ist erforderlich vor allem in dem Maße, wie der Grund des antiken, des klassischen Ideals selbst als der Referenz der Nachahmung gewusst werden muss. Damit ist die Naturhaftigkeit als der Gegenstand des Wissens unter einem neuen Begriff zu fassen: unter dem Begriff des Scheins. Die Naturhaftigkeit der Kultur und Kunst ist von Anfang an nichts anderes als der Schein der Natur. Dies impliziert, dass die Naturhaftigkeit des Anfangs dann anfangen kann, wenn sie bereits ihre ›Vorgeschichte‹ hat; daraus ergibt sich, dass die an der Gestaltung der Natur-Kultur teilnehmende Kunst eine paradoxe Zeitlichkeit aufweisen muss, die der Produktion des Scheins innewohnt.44 Die Nachahmung
43 Diese Einsicht ist mit der zweiten Stufe fast zeitgenössisch und bei Hölderlin exemplarisch deutlich zum Vorschein gekommen. »Die griechische Naivität ist schließlich ein Ergebnis«, so kommentiert Philippe Lacoue-Labarthe den ersten der Briefe Hölderlins an Böhlendorf (Lacoue-Labarthe, »Hölderlin et les Grecs«, S. 81). 44 Diese Zeitlichkeit der Gestaltung der Kunst, die auch – und das sollte schon eine These sein, die zu vertreten im vorangegangenen Kapitel versucht worden ist und noch im
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richtet sich demgemäß weniger auf das ›Was‹ des Klassischen als vielmehr auf dessen ›Wie‹, auf dessen genetischen Prozess, auf das Wissen des ›Grunds‹ des Klassischen. Sie verlangt eine Theorie des Scheins des Klassischen. 6.2.3 Kunst, Wissen, Kunstwissen In diesem geschichtsphilosophisch-nachahmungstheoretischen Kontext, in dem es um die Kulturbildung, ja -gründung in der Moderne mit ständigem Blick auf ihr Urbild geht,45 ist die GT eingebettet. Sie ist demnach ein Versuch, die hellenische Kultur zu verstehen, um zu wissen, wie man in der Moderne die Kultur gestalten kann – um zu wissen also, wie man die hellenische Kultur und Kunst, und welche hellenische Kultur und Kunst man nachahmen muss. Denn nur das angemessene Verständnis der Klassizität selbst kann die gelungene Nachahmung sichern; denn nicht von einer bloßen Beobachtung des Klassischen, sondern von dem Wissen des Grunds der klassischen Kunst, die die klassische Kultur produziert hat – von diesem Wissen hängt die Antwort darauf ab, wie man sie wiederholen oder, wie Nietzsche sagt, »wiedergebären« kann. Die Klassik steht nicht
Folgenden bewiesen werden muss – Nietzsches Untersuchung der griechischen Kunst und Kultur an sich zeigt, kommt bei Adorno erst deutlich zum Ausdruck: »Die Natur, deren imago Kunst nachhängt, ist noch gar nicht; wahr an der Kunst ein Nichtseiendes«; und: »Seit der Platonischen Anamnesis ist vom noch nicht Seienden im Eingedenken geträumt worden […]. Dem bleibt der Schein gesellt: auch damals ist es nie gewesen«. (Adorno, Ästhetische Theorie, S. 198 und 200; dazu vgl. auch S. 121) Nach Adorno betont Derrida diese Zeitlichkeit – und hier im Kommentar zu Kants dritter Kritik: »La seule beauté reste donc celle de la nature productrice. L’art est beau dans la mesure où il est producteur comme la nature productrice, où il reproduit la production et non le produit de la nature, où celle-ci aura été (était), avant la dissociation critique et avant un certain oubli à déterminer, belle. L’analogie reconduit à ce temps précritique, antérieur à toutes les dissociations, oppositions et délimitations du discours critique, plus ›vieux‹ même que le temps de l’esthétique transcendantale.« (Derrida, »Economimesis«, S. 69; Herv. i.O.) 45 Dass sich Nietzsche um das Problem der Gründung der Kultur ständig gekümmert hat, zeigen die Fragmente, die im Umfeld des Tragödienbuches entstanden sind und die sich unter dem Schock kantischer Abwendung von der ›substanzialistischen‹ Begründung der Suche nach einer »neue[n] Metaphysik« (KSA 7, 441) gewidmet haben; beispielsweise: »Veränderte Stellung der Philosophie seit Kant / Metaphysik unmöglich. Selbstcastration«; (KSA 7, 517) »Kant hat in gewissem Sinne mit schädlich eingewirkt: denn der Glaube an die Metaphysik ist verloren gegangen.« (KSA 7, 425)
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selbstverständlich, nicht als ein selbstverständliches Modell vor uns, sondern sie muss erst recht gewusst werden, ein Gegenstand der Theorie sein, damit sie nachgeahmt werden, damit man selber eine Klassik produzieren kann. In diesem Sinne ist die GT eine theoretische Schrift: Sie versucht, den Entstehungsgrund der Klassik zu erfassen; sie zielt auf eine ›wissenschaftliche Erkenntnis‹ der griechischen Kunst als der exemplarischen Kunst – sie tut dies aber, um sie nachzuahmen, um von ihr zu lernen, wie zu gestalten sei. In diesem Zusammenhang verstehen sich die allerersten Worte der Schrift, die im Vergleich zum insgesamt pathetischen Ton der Schrift auf den ersten Blick seltsam nüchtern erscheinen: »Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben.« (KSA 1, 25) Dieser zunächst wissenschaftlich neutral und distanziert anmutende Satz, der aus der Sicht des vorangegangenen Kapitels als ein rein poetologischer erschien, erscheint nun, aus der Perspektive der geschichtsphilosophischen Nachahmungstheorie, in einem neuen Licht. Eine Wissenschaft, ein Wissen der klassischen Kunst sollte zu ihrer nachahmenden Wiederholung in der Moderne führen und damit einen Beitrag zur Gestaltung der Kultur der Moderne, der modernen Kulturwelt leisten. Eine solche Wissenschaft – ›Ästhetik‹ – muss für das Kunst- bzw. Kulturschaffen, oder genauer bei Nietzsche: das Kunst- als Kulturschaffen,46 in der Moderne ein wesentlicher Bestandteil sein. Als ein kunstschaffendes Wissen. Dies soll aber keineswegs bloß eine Anwendung des Wissens aus dem Lehrbuch in der Praxis bedeuten. Vielmehr muss das kunstschaffende ›Wissen‹ selbst in das Schaffen der Kunst hineingetragen oder hineinintegriert werden, damit überhaupt das Kunstschaffen gelingen kann. Es muss nämlich in diesen Schaffensprozess bereits hineingetragen oder hineinintegriert worden sein. Dies ist ein entscheidender Punkt beim kunstschaffenden Wissen. Im Kunstschaffen muss also das ›Wissen‹ der Kunst von der Kunst in einer Weise nicht-getrennt sein, wie es die lange Ästhetik-Tradition bzw. Diskussion seit Platon zeigt. Ich betone nur, dass meine Herangehensweise nicht von einem Unwissen bei der Kunstproduktion, sondern vielmehr von einem ›Wissen‹ bei dieser ausgeht.47 Die Kunst
46 »[D]ie eigentliche Kunst ist das Erschaffenkönnen von Bildern [...]. Auf dieser Eigenschaft – einer allgemein menschlichen – beruht die Kulturbedeutung der Kunst.« (KSA 1, 564; Herv. i.O.) 47 Diese Herangehensweise findet Unterstützung bei Adornos Unterscheidung zwischen der »Erkenntnis, die Kunst ist«, und der »begrifflichen« Erkenntnis (Adorno, Ästhetische Theorie, S. 190); demnach vollzieht sich die erstere künstlerische »Erkenntnis« durch Nachahmung; diese Erkenntnisart wäre aber nie von einer exzentrischen Art,
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›weiß‹ sich zu produzieren, sie weiß aber nicht von diesem ›Wissen‹. Das ›Wissen‹ der Kunst und die Kunst müssen in dieser Weise in der Kunstproduktion in eins gesetzt werden. Als ein Kunstwissen. In den Ästhetik-Diskussionen, die von Platon über Kant und Nietzsche bis in die Gegenwart hineinreichen, gilt es, dass das kunstproduzierende Wissen nicht als ›reflexiv‹-kunsterkennendes, sondern als ein performativ-kunstschaffendes Wissen ein Bestandteil in der Kunst ist. Dass das kunstproduzierende Wissen ein Bestandteil in der Kunst ist – die Bedeutung dieses Satzes kann zunächst in der bekannten doppelten Abgrenzung näher bestimmt werden: Dieser Satz bedeutet zunächst allerdings, dass es nicht unter das diskursiv artikulierte Wissen der Kunst als seines Erkenntnisgegenstandes subsumierbar wäre, für dessen Wissen es einer distanzhaltenden Intervention des Verstandes bedürfte. Der Satz bedeutet aber auch nicht, dass es ein ›praktisches‹, ein herstellendes Wissen, ein technisches Know-How, eine technische Herstellungsanweisung wäre, die nach dem bewusst kontrollierten Verfahren eine Natur-Kunst, den Schein der Natur, eine Selbstverständlichkeit der Natur produzieren kann. Das Kunstwissen ist dagegen vielmehr ein Bestandteil der Kunst, ein kunstschaffendes Wissen in dem Maße – und dies zeigt bereits jene Ästhetik-Tradition, zunächst unabhängig davon, ob die Kunst dabei positiv oder negativ bewertet wird –, wie es dadurch den Schein der Natürlichkeit produziert, dass es in sich einen Teil enthält, der sich der Doppelmacht der episteme-techné nicht unterwirft, die dem Schaffen der Kunst eine epistemisch-technische Orientierung vorschreiben will. Dieser Teil, der dem epistemischen und technischen Wissen nicht unterworfen und auf das ›bewusste‹ Wissen nicht reduzierbar ist, definiert ein wesentliches Element des Kunstwissens. Dieses Element als ein kunstspezifischer Kern ist für die Kunst in dem Maße konstitutiv, wie es sich der begrifflich-technischen Artikulierbarkeit, Diskursivität, Verständlichkeit und Mitteilbarkeit entzieht.48 Die Kunst verhält sich, solange sie klassisch ist, solange sie als eine NaturKunst gedacht wird, gegenüber dem Wissen also esoterisch: Die Kunst ist geneigt, sich oder ihren ›Grund‹ nicht mitzuteilen. Diese (Ab-)Neigung der Kunst, sich auf einer Ebene von der ›Kommunikation‹ abzuwenden, ist ihr so wesentlich, dass die auswendige Mitteilung des Selbsterlebnisses der Kunst als eine Enthüllung, eine Entweihung des Mysteriums anzusehen wäre; diese Mitteilung ist nicht erlaubt, ansonsten ließe sich eine (Natur-)Kunst nicht praktizieren. Denn
sondern vielmehr stützt sie sich auf einen traditionsmächtigen »Satz, einzig Gleiches könne Gleiches erkennen«. (Ebd.) 48 Kurz und bündig: »Die Kunst ist unmöglich; deshalb ist sie möglich.« (Menke, Die Kraft der Kunst, S. 24)
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die Kunst lässt sich nur aufgrund einer Art des mysteriös-religiösen Kerns, einer solchen ›inneren Wahrheit‹ praktizieren. Die offenkundige Mitteilung wäre also kunstwidrig. Der Grund der – klassischen – Kunst ist und bleibt verborgen, rätselhaft, nicht zugänglich. Und damit die Natur-Kunst gelingen kann, muss das Kunstwissen selbst esoterisch sein; es darf nicht nach außen gekehrt sein. Es darf sich also nie bloßstellen, nie darstellen. Das Esoterische des Kunstwissens bedeutet aber nicht, dass dieses Wissen sich deshalb nicht nach außen kehren dürfte, weil es etwa wie ein Geheimtipp unter den Künstlern diskret geteilt und gewusst wäre. Vielmehr ist das Kunstwissen darin esoterisch, dass die Natur-Kunst von ihrem eigenen Grund, von sich selbst, von ihrer eigenen Produktion nicht weiß, obwohl sie sich zu produzieren ›weiß‹, obwohl sie dieses performative Wissen ›hat‹. Das Unwissen vom eigenen Grund ist also die Bedingung derjenigen Kunst, die einen solchen Schein produziert, als ob sie die Natur wäre, als ob sie natürlicherweise in der, mit der und durch die Natur produzierte und produziert worden wäre. Sie produziert aber in der Tat nicht aufgrund der Natur, vielmehr ist diese ›Natur‹ selbst ein produzierter Schein – nur, dass diese Kunst vom eigenen Grund nicht weiß, aus dem der Schein der Natur produziert wird.49 Das Kunstwissen bleibt als das Innerliche der Kunst für die Kunst selbst unbewusst und ungewusst. Die Kunst produziert unbewusst und nur dann produziert sie, wenn sie unbewusst ist.50 Das Kunstwissen ist also zwar esoterisch unmitteilbar und unmittelbar, diese esoterische Unmittelbarkeit bedeutet aber keine ›innerliche‹ Zugänglichkeit, sondern das Kunstwissen ist für die Kunst so unmittelbar innerlich, dass es dieser selber unzugänglich ist. Es ist so esoterisch, dass sie es selber nicht weiß. In diesem Zusammenhang ist es wahr, wenn man wie üblich und traditionsgemäß sagt: Die Kunst gelingt nur, wenn sie einen eigenen Teil hat, von dem sie nicht weiß. Dies
49 Einer der frühesten Texte, die darauf verweisen, dass die antike, die griechische Kunst und Kultur nicht eine naturbasierte, sondern schon von sich aus ›produzierte‹ und projizierte ist, ist – ein halbes Jahrhundert vor der GT – Hegels Vorlesungen der Philosophie der Geschichte, wo er über die Naturauffassung und die Mantik der Griechen spricht, die nicht von der vorgegebenen ›Natur‹, sondern von einer solchen »poetischen« Hineininterpretation ausgegangen sind, deren sie sich jedoch selbst nicht bewusst waren (Hegel, Vorlesungen der Philosophie der Geschichte, S. 288-292). 50 Dies ist bekanntlich eine Kernbestimmung bei Nietzsches Erörterung bezüglich der ›wahren‹ Kunstproduktion in der Geburt der Tragödie, wo er zwischen zwei Arten der Kunstproduktion unterscheidet – die echt künstlerische, weil dem ›Instinkt‹ folgende, Art von Aischylos und die pseudo- oder anti-künstlerische, weil mit dem ›Bewusstsein‹ verfahrende, Art von Euripides (§§ 11-13).
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lässt aber den Punkt noch unklar, um den es sich hier handelt: Die Kunst gelingt nur, wenn sie von ihrem Kunstwissen nicht weiß.51 Und dieser Punkt bedeutet bezüglich der Debatte über die Kunst, die seit Sokrates/Platon bei der Definition der Philosophie und des Wissens und ihrer Abgrenzung von der Kunst geführt wurde, Folgendes: Aus Sokrates’ Sicht wissen die Dichter – wie die ›Politiker‹ – nicht von ihrer Dichtung, können darüber nicht Rechenschaft ablegen (logon didonai), sodass sich ihm ihre Autorität auf den ›Zufall‹ zu stützen und einer notwendigen Grundlage zu entbehren scheint. Das Nicht-Wissen, der Anschein des Nicht-Wissens ist aber für die Kunst selber notwendig. Denn das Nicht-Wissen hängt mit der Unmittelbarkeit des Kunstwissens zusammen; denn dieses ist der Kunst so unmittelbar und innerlich, dass es dieser selbst nicht zugänglich, verborgen und in diesem Sinne fremd ist. Die eigentliche Paradoxie des Kunstschaffens besteht darin, dass das Kunstwissen der Kunst so innig und eigen ist, dass es ihr fremd ist.52 Dies ist die eigentliche, die
51 Das Possessivpronomen muss in Anführungszeichen gesetzt werden. Denn ob dieses Wissen zur Kunst gehört, ob es ihr eigen, ihr Eigentum ist, ist selbst nicht eindeutig festzustellen. 52 Christoph Menke hat bei seiner genealogischen Analyse der ›anthropologischästhetischen‹ Kräfte für die Konstitution des Subjekts (vgl. Menke, Kraft; Menke, Kraft der Kunst) diese Debatte zu Wissen/Unwissen beim Kunstschaffen und die Problematik der Eigenheit/Fremdheit neuerdings ins Feld gebracht: Die ›ästhetischen Kräfte‹ sind einerseits diejenigen des Subjekts, weil sie sich irgendwie in dem Subjekt, nicht jenseits, sondern »diesseits« des Subjekts befinden. Das Spiel der Kräfte ist aber andererseits, solange es sich als die genealogisch-konstitutive ›Vorstufe‹ des Subjekts abspielt, diesem noch fremd, indifferent, ateleologisch und bleibt außerhalb der Verfügung – des (praktisch-normativen) »Vermögens« – des Subjekts. Diese Kräfte sind dem Subjekt also zugleich eigen und fremd. Die Fragen stellen sich dann aber, wenn er die künstlerische Tätigkeit in der Beurteilung Nietzsches von der der homerischen Dichtung – genauer: der rhapsodischen Aufführung dieser Dichtung, die besonders in der platonischen Ion dargestellt ist – bewusst abgrenzt, indem er die »Kräfte« für die Kunst bei Ersterem als eigene, bei Letzterem als fremde charakterisiert. (Ders., Kraft, S. 69 f.; zusammenfassend wieder in: ders., Kraft der Kunst, S. 34 und 36 f.) Damit, also mit dieser meiner Ansicht nach – einigermaßen absichtlich – vereinfachten Kontrastierung zwischen der Eigenheit der »symbolischen« Kräfte bei der dionysischen Orgienveranstaltung (in Nietzsches Darstellung) und Fremdheit der »göttlichen« Kräfte bei Ions Epos-Darstellung (in Platons Beschreibung) – droht nicht jene wesentliche Ambiguität zwischen der Eigenheit und der Fremdheit im Kräftespiel bei der Subjektivierung sich aus der Sicht zu verlieren? Hat nicht auch in der Auffüh-
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innerlich konstitutive Dialektik in der klassischen Kunst – die Dialektik zwischen der Eigenheit und der Fremdheit, zwischen der Durchsichtigkeit und der Undurchsichtigkeit, zwischen der Stimmigkeit und der Unstimmigkeit. Die Kunst schafft die Klarheit des Scheins, indem sie sich selbst unklar ist. Der Schein der Natur, die Errungenschaft der ›alten‹ Kunst und Kultur, ist das Ergebnis einer inneren Unstimmigkeit, ›Disharmonie‹ der Kunst: Zum einen weiß die Kunst auf eine besondere Weise, sich zu produzieren. Das Kunstwissen ist der Kunst unmittelbar. Die Unmittelbarkeit des Kunstwissens, die unmittelbare Nähe, eine performative Homogenität des Kunstwissens mit der Kunst, ist die eine notwendige Bedingung der Praxis der Kunst: Die Kunst muss mit sich identisch bleiben. Die Kunst lässt sich aber zum anderen nur dann praktizieren, wenn sie von diesem ›Wissen‹ nicht weiß. Der unbewusste Vollzug dieses Wissens, die prinzipielle Fremdheit, eine extreme Heterogenität des Kunstwissens gegenüber der Kunst ist die andere Bedingung der Kunst: Die Kunst muss von ihrer eigenen Verfügung unbedingt abweichen. »Die Kunst ist sich selbst wesentlich entzogen.«53 Dies ist diejenige Seite des Kunstwissens, die den eigenen Grund der klassischen Kunst ausmacht. Es geht aber wiederum in der GT als einem Projekt der Nachahmung der Kunst darum, dieses Wissen zugänglich zu machen, es ›explizit‹ zu machen und es zu ›verwissenschaftlichen‹ und damit zu ›modernisieren‹. Dies ist das »unmögliche« Versprechen des Autors: Dadurch »[werden] [w]ir [...] viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben«. Diese Viel-Gewinnung für die »ästhetische Wissenschaft« entbehrt allerdings nicht eines hohen Preises: Sie fordert eine grundlegende Charakteränderung des Wissens, wenn dieses überhaupt der Kunst – und insbesondere bei
rung des homerischen Rhapsoden eine technische Ausübung stattgefunden, die sich dem »Vermögen« verdankt, das sich der Rhapsode für die geschickte Praktizierung aneignet haben sollte? Könnte man also nicht auch beim homerischen Rhapsoden über die Eigenheit oder Eignung des »Vermögens« sprechen, unabhängig davon, woraus die »Kräfte« stammen? Ist die Unverfügbarkeit der Kraft nicht wichtiger als ihr Woher? Ist diese Unverfügbarkeit also nicht zentraler als die Frage, ob die Kraft göttlicher oder anthropologischer Herkunft ist? Und liegt nicht dem dionysischsymbolischen Kräftespiel, wie erläutert, ein kompliziertes, ja ein dialektisches Verhältnis zugrunde, das nicht einfach eindeutig als eigen eingestuft werden kann? 53 Menke, Die Kraft der Kunst, S. 67. Zwei Bedingungen der Kunst sind in einem Satz bei Adorno zusammengedacht, der sich die Hegelʼsche Terminologie aneignet: »Kunstwerke sind die vom Identitätszwang befreite Sichselbstgleichheit.« (Adorno, Ästhetische Theorie, S. 190)
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Nietzsche: der Kunstproduktion54 – gerecht werden kann und muss. Nicht bloß wird eine Änderung gefordert, in der das Wissen der Kunst mehr oder minder tiefere oder weitere Erkenntnis seiner Gegenstände erhält, sondern muss darin der Wissenschaftlichkeit selbst eine Änderung widerfahren, indem das Wissen an die Grenze der begrifflichen Artikulierbarkeit, fast bis zu deren Verlust gedrängt in die Kunst ›hinabsteigt‹, in den ›Grund‹ der Kunst miterlebend, ohne begriffliche Vermittlung, »aus allernächster Nähe«55 hineinschaut. Nur unter dieser Bedingung, so Nietzsche, kann die ›Ästhetik‹ als Wissenschaft der Kunst einen großen Fortschritt machen: »Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir«, hier bezüglich der ›Entwicklung‹ der Kunst, »nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind.« (ebd.; Hervorh. von mir) Eine »unmittelbare […] Sicherheit der Anschauung« des Kunstwissens, wie sie hier gemeint ist, ist also nicht das beobachtende Bleiben an der Anschauungsoberfläche, sondern ein Hineinschauen, eine Einsicht in die Kunstentstehung, in den Grund der Kunst, der vielleicht ›Noch-nicht‹-Kunst ist. Diese Kunstanschauung oder -einsicht lässt sich dem begrifflich-technischen, dem begriffstechnischen Verstand nicht erschöpfend mitteilen, der in der ›Schule‹ nach den allgemeinen normierenden Regeln gebildet und diszipliniert werden kann. Sie bezieht sich vielmehr auf eine tiefe ›Schicht‹ der Kunst, der Natur-Kunst, der Kunst des ›exemplarischen‹ Volkes, des griechischen; sie bezieht sich auf seine »tiefsinnige […] Geheimlehre«, die »in den eindringlich deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt« (25) zum Ausdruck gekommen ist, auf eine ›Lehre‹, die in diesen Gestalten ›ausgesprochen und zugleich verschwiegen‹ ist (vgl. KSA 1, 553), also auf eine Kunstlehre, die dem begrifflichen Verstand nicht ganz lehrbar oder enträtselbar, sondern nur dem kunstwissenschaftlich Miterlebenden zugänglich, nur dem für den Grund der Kunst miterlebend »Einsichtigen vernehmbar« (25) ist. Die Kunstlehre, die die Kunst performativ ermöglicht, das Kunstwissen nämlich, ist nur ein ›Gegenstand‹ des Erlebens, des Vollziehens, bei dem die Kunst selbst (mit- oder nach-)vollzogen wird, wobei es deshalb nicht sachgemäß wäre, dar-
54 Aber damit auch der Kunstrezeption; denn im Kontext der Kulturgestaltung und insbesondere Kulturgründung sind Kunstproduktion und Kunstrezeption nicht einfach zwei getrennte Tätigkeiten: »[J]etzt ist er[: der künstlerische Genius] zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer.« (Die Geburt der Tragödie, 48) Und deutlicher heißt es in einer Textvariante der Geburt der Tragödie, die vom eben zitierten Satz ersetzt wurde: »So sind wir in jedem Kunstmoment zusammen Subjekt und Objekt, Dichter, Acteure und Zuschauer zugleich.« (KSA 14, 47 f.) 55 Düttmann, Teilnahme, S. 73.
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über trennend zu entscheiden, ob jener ›Einsichtige‹ künstlerisch ein Produzent oder ein Rezipient ist.56 Das Wissen der Kunst, das dem Grund der Kunst gleichsam entrissen werden muss, kann also dann gewonnen werden, wenn die Wissenschaftlichkeit dieses Wissens im unmittelbaren Charakter des Kunstwissens eher bis an ihre Grenze, an die Grenze der Mitteilbarkeit »in Begriffen« (ebd.) getrieben wird. Die Aufgabe, zum Zwecke der Viel-Gewinnung für die »aesthetische Wissenschaft« bis hin zur Auflösung, Lähmung, gar Vernichtung der Wissenschaftlichkeit in die Kunst hinabzusteigen, ist also nur auf der Grundlage einer Unmöglichkeit durchzuführen, die sich daraus ergibt, dass sich der Gewinn für die Wissenschaft der Kunst durch den Entzug des »Boden[s] der Wissenschaft« vollzieht. Die GT ist, an die Grenze zwischen Kunst und Wissen gestellt, »ein unmögliches Buch«. Das Kunstwissen ist ein Prüf- oder Grenzstein des Wissens, durch den allein »das Problem der Wissenschaft [...] erkannt werden [kann]« (13). Daraus ergeben sich weitere Fragen: Wie kann dieses hineinschauende Wissen, das die für die Kunst konstitutive Neigung, sich zu verbergen, grundsätzlich zu verletzen scheint, ein kunstgerechtes, ein kunsttüchtiges ›Wissen‹ schaffen? Wie kann es ein ›exoterisches‹ Wissen der Kunst schaffen, ohne die Unmittelbarkeit und die Performativität des Kunstwissens zu verderben? Wie kann die mögliche, ja unvermeidbare Verletzung eines inneren ›Wesens‹ der Kunst eine Kunstpraxis ermöglichen? Wie kann das kunstschaffende Wissen bei der Kunst der Moderne, die die Natur-Kunst nachahmt, auch als ein Bestandteil in der Kunst bleiben, obwohl es sich in der Kunstproduktion nicht mehr verbirgt? Wie ist in der »ästhetischen Wissenschaft« das Kunstwissen zu retten? Die Lösung oder zumindest die Richtung der Lösung Nietzsches, die zur Zeit des Tragödienbuches von ihm vorgeschlagen zu werden scheint, besteht in Folgendem: Die (klassische) Kunst bemüht sich, sich selbst derart eigen zu sein, dass sie bei ihrem Praktizieren sich selbst fremd ist, während sich die Kunst der Moderne anstrengt, sich selbst in dem Maße fremd zu sein, dass sie sich in eigenem Vollzug von sich trennen kann. Seine Lösung besteht darin, dass die Performativität der Kunst davon abhängt, sich von der eigenen Performanz zu trennen, sich von sich selbst abzustoßen. Dies ist aber nicht in der GT im Jahr 1872 deutlich, sondern im Rückblick bei seinem »Versuch einer Selbstkritik«: Zur Kunst einer neuen Art, einer derart neuen Art, dass sie eine »Ausnahme-Art« (»Versuch einer Selbstkritik« 2, KSA 1, 13) ist, sind nur die »Künstler mit dem Nebenhange analytischer und retrospektiver Fähigkeiten« (ebd.) befähigt. Diese analytischen und retrospektiven Fähigkeiten sollten hier keine harmlose Reflexi-
56 Düttmann, Teilnahme, S. 25 f und 122 f.
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onsfähigkeit bedeuten, die die Künstler nach oder vor der Kunstproduktion etwa für die künftige Verbesserung oder bevorstehende Produktion ausüben mögen; dies würde keine »Ausnahme-Art von Künstlern« (ebd.) ausmachen. Der »Nebenhang« dieser Künstler, sich zu analysieren und auf sich zurückzublicken, sollte vielmehr ein Haupthang, eine solche Haupt-Neigung der neuen Künstler bedeuten, die die Haupt-Neigung der ›alten‹ Künstler, sich zu verbergen, verrät und die gerade in diesem Verrat mit diesen in einem Nachahmungsverhältnis steht. Die Künstler müssen nach diesem Haupt-Hang, der doch in den »ArtistenHeimlichkeiten« (ebd.) als ›Nebenhang‹ erscheint, in ihrer künstlerischen Tätigkeit auf die eigene Tätigkeit zurückblicken und diese analysieren, sie also thematisieren können. Sie müssen also inmitten der Kunsttätigkeit eine performative Unterbrechung vollziehen können und diesen unterbrechenden Vollzug selber im Auge behalten. Sie müssen eine gewusste und bewusste, also eine in sich widersprüchliche Kunst praktizieren können. Und dies ist – so die weitere Konsequenz, die daraus logisch gezogen wird – dadurch möglich, dass die analytisch-rückblickende Tätigkeit selber der, wenn auch heimliche, eigentliche Inhalt der Kunstproduktion ist.57 Diejenigen, die diese Tätigkeit als Kunst praktizieren, sind also in dem Maße »eine Ausnahme-Art von Künstlern«, wie sie die Kunst, das Kunstwissen in einer Weise ohnmächtig, unbewaffnet machen. Sie treiben die Kunst, sie ahmen die klassische Kunst nach, indem sie diese verraten, indem sie sich verraten. Sie sind also diejenigen Künstler, die eine Art des Selbstwiderspruchs in sich tragen, der ausgehalten werden muss – was sie zwar als Künstler nicht tun möchten, aber als Künstler tun müssen: Sie sind Künstler, »nach denen man suchen muss und nicht einmal suchen möchte« (ebd.; Hervorh. von mir).58 Die Kunst der Moderne »muss« das
57 Dieses Moment der Selbstanalyse und des Selbstrückblicks in der Kunstproduktion als wesentliches Moment der Kunst ist ein Hegelʼsches bzw. posthegelianisches, das heißt: mit Hegel über Hegel hinausgehendes Moment. 58 Moderne Kunst wäre demnach eine Art der Freveltat – nicht bloß im Sinne der Darstellung irgendeines ›unsittlichen‹ Sachverhalts, sondern in dem Maße, in dem sie ihr eigenes Wissen, das Wissen ihrer selbst enthüllt, in dem Maße, in dem sie also ›naturwidrig‹ ist. Diese ›Entweihung‹ ist aber in der (modernen) Kunst, auch mit Adorno gesagt, »auszutragen« (Adorno, Ästhetische Theorie, S. 281; vgl. dazu Düttmann, Teilnahme, S. 72). Dieser Begriff des modernen Kunstwissens, welches das eigene Element der Kunst selbst ausmacht, tritt aber eigentlich und ausdrücklich schon seit der (Früh-)Romantik zutage, deren Begriff der »Kunstkritik« als einer theoretischen »Reflexion« über das Kunstwerk ein wesentliches Element von diesem ausmachen soll; dafür vgl. Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik; so
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offenkundig machen, was der Kunst, der Natur-Kunst eigentlich verborgen, also ungewusst bleiben »möchte«: den Grund der Kunst. Dies ist zwar in einem Sinne kunstwidrig, jedoch als Kunstwidriges eben die Bedingung der (Nachahmung der) Kunst. Die Kunst der Moderne ›weiß‹ sich zu produzieren, indem sie ihre eigene Tätigkeit, ihr Kunstwissen, thematisiert und darstellt. Ihr Kunstwissen besteht – darin läge die wesentliche Selbstwidrigkeit der Kunst der Moderne –, in einer Selbstthematisierung und -darstellung. Das Kunstwissen der modernen Kunst bietet als solches für die Kunst einen Prüfstein. Im Kunstwissen stellt sich die Frage nach der (Un-)Möglichkeit der Kunst und des Künstlers in der Moderne. Das moderne Kunstwissen ist ein selbstwidriges Fragen der Kunst, gestellt an sich selbst, nach eigener Möglichkeit. Exkurs. Kunst nach der Kunst oder zwei Vortragsweisen der Ästhetik: die Vorlesungen über die Ästhetik und Die Geburt der Tragödie Der junge Nietzsche wollte das Kunstwissen in der Art und Weise, wie es in der Moderne praktiziert werden kann, in seinem Buch präsentieren, ohne dabei dessen Grundaspekt zu verlieren, der vor allem darin bestehen sollte, dass diese Präsentation jenes Wissen nicht vergegenständlicht, sondern es in seinem kunstpraktischen (Voll-)Zug ausführt. Und die einzig mögliche Vortragsweise,59 das Kunstwissen so zu präsentieren, wäre es gewesen, das Buch selbst nach dem Modell der möglichen Kunstpraxis aufzubauen – nicht bloß also als ein Buch für den Künstler, sondern wie eines des Künstlers, der sein Kunstwissen in sein Kunstschaffen hineinträgt. Das Projekt der (Theorie der) Nachahmung der Kunst in der GT soll unter Berücksichtigung dieses Eintragens artikuliert werden.
auch Luhmann im Anschluss an Nancys und Lacoue-Labarthes Kommentare zur französischen Übersetzung der frühromantischen Texte: »Mit der Vorstellung, Kritik sei ein wesentliches Moment der Vervollkommnung von Kunst, wird Theorie zum ersten Male als Selbstbeschreibung des Systems im System anerkannt.« (Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 462) 59 Die Geburt der Tragödie ist ja ein geschriebener Text, aber sie wird hier, wie ich noch ausführen werde, aus einer kunstwissenschaftlichen Perspektive wie eine Kunstpraxis charakterisiert, die die Beschaffenheiten der Kunst nicht bloß distanziert beschreibt, sondern so tut, als ob sie selbst eine Kunst praktizieren würde. Daher sollte diese Schrift hier quasi als ein gesprochener Vortrag angesehen werden – ein Vortrag, der in dem Sinn eine besondere Prägung hat, dass er selber als ein künstlerischer über die Kunst spricht. Im Folgenden werde ich dazu ausführlich argumentieren.
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Dieses künstlerische Schrifttum ist aber nach Nietzsches Selbsteinschätzung, und das ist bekannt, nicht gelungen. So versteht sich die berühmte Klage in der selbstkritischen Rückschau: »Sie hätte singen sollen, diese ›neue Seele‹ [des Buches] – und nicht reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt!« (»Versuch einer Selbstkritik« 3, KSA 1, 15) Er hätte sein Wissen der Nachahmung der Klassik nicht bloß als eines über Kunst, sondern selbst als eine Kunst darstellen müssen und das theoretische Buch selbst wie eine Art der Kunstpraxis zeigen sollen, damit das Wissen zu einem Kunstwissen, zu einer gelungenen Nachahmungstheorie geworden wäre. Wenn man aber den – geschichtsphilosophisch, epistemologisch und nachahmungstheoretisch – zwiespältigen Charakter des Kunstwissens berücksichtigt, ist diese Äußerung viel nuancierter, viel vorsichtiger zu verstehen, als sie auf den ersten Blick anmutet: Diese »singende« Darstellung des Kunstwissens darf und – vor allem – kann deshalb, weil sie auf ein Kunstschaffen in der Moderne aus ist, nicht klassischerweise natürlich sein: Sie darf und kann nicht ein Gesang klassischer Art, einer des klassischen Dichters sein, der von seinem Kunstschaffen nicht weiß. Das Singen der »neue[n] Seele«, der Seele der modernen Kunst müsste ein von dem selbstanalytischen und selbstretrospektiven Charakter gebrochenes sein. Ein ›analytisch‹ sich selbst brechendes und unterbrechendes Singen. Es müsste zwar eine Dichtung, aber eine wissenschaftliche, eine nicht mehr rein poetische, sondern eine prosaische sein, die ein Selbstwissen in sich enthält. Es muss wissenschaftlich-prosaisch sein, eine Wissenschaftlichkeit in sich enthalten, die dieses Singen in sich reflektieren, sich analysieren und auf sich zurückblicken lässt, die Kunst sich als Kunst auflösen lässt und ihrerseits in diesem Singen bis an ihre Grenze getrieben wird. Eben darauf hinzuweisen scheinen seine darauf folgenden Worte: »Wie schade, dass ich [...] es nicht als Dichter zu sagen wagte [...]! Oder mindestens als Philologe.« (Ebd.; Hervorh. von mir) Mit dieser Hinzufügung scheint Nietzsche tatsächlich die Notwendigkeit empfunden zu haben, den Anspruch darauf, die rein dichterisch-singende Vortragsweise deshalb mildern oder hybridisieren zu müssen, weil er sich dessen gleich bewusst wird, dass sein Kunstwissen zwiespältig ›exoterisch‹ sein muss: Also muss der moderne Kunsttheoretiker ein DichterPhilologe oder ein Philologe-Dichter sein,60 der sein Kunstwissen dadurch zur Darstellung bringen muss, dass er die Entstehung der Klassik in seinem philologischen Bewusstsein mit vollzieht. Dass die Form des Kunstwissens in Nietzsches Baseler Zeit tatsächlich die klassische Philologie war – dies hat sich da-
60 Nietzsche betont die Figur des »Philologen-Poeten« im Unterschied zum »reinen Philologen-Gelehrten« (KSA 8, 44).
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mals in sein Selbstbewusstsein selber eingeprägt. Er spricht nämlich von einem »innere[n] und sich oft so herzzerreissend kundgebende[n] Widerspruch« zwischen Kunst und Wissenschaft in der klassischen Philologie.61 In diesem Philologenbewusstsein lässt sich das Übergewicht weder auf die Seite der Kunst noch auf die des Wissens einseitig und hypostasierend verschieben. Vielmehr sind die zwei hybriden Elemente, die Kunst und das Wissen, so in eins zu setzen, dass sie bis zu ›Centauren-Geburten‹ verwachsen sind. So der ›existentielle‹ Bericht Nietzsches zur Zeit der Arbeit an der Geburt der Tragödie: »Wissenschaft, Kunst und Philosophie wachsen jetzt so sehr in mir zusammen, dass ich jedenfalls einmal Centauren gebärden werde«.62 Die Kunst und das Wissen stehen in Nietzsches geschichtsphilosophischem Projekt der ›Nachahmung der Alten‹ nicht in einem dezidierten Gegensatz – nicht also, wie in einer eindrucksstarken These des Tragödienbuches, dass das (sokratische) Wissen für den Tod der (antiken) Poesie verantwortlich sei. Vielmehr ist das Wissen hier als Kunstwissen für die Kultur- und Kunstgestaltung der Moderne, der nachsokratischen Epoche, notwendig und konstitutiv. An diesem Punkt bringt Nietzsche bekanntlich die neu konzipierte Figur von Sokrates, also den »künstlerischen Sokrates« (96) oder »musiktreibenden Sokrates« (102) ins Spiel, der »zur Neuschaffung der Kunst« zwingt und »bei seiner eigenen Unendlichkeit, auch deren[: der Kunst] Unendlichkeit verbürgt« (97). Dabei ist aber zu erkennen, dass sowohl das Künstlertum der Kunst als auch die Wissenschaftlichkeit des Wissens von Grund auf eine Charakteränderung erfahren sollten. 63 Und dies führt bezüglich der Frage der ›Kunst nach der Kunst‹ zur folgenden These: Die Kunst der Moderne besteht in einer Kunst, die sich in einem Vollzug befindet, sich in einem Selbstwissen als Kunst aufzulösen;64 die Kunst in der
61 Nietzsche, »Homer und die klassische Philologie«, S. 252. 62 Vgl. den Brief an seinen Freund Erwin Rohde (Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe, Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hg.), Berlin/New York, 1986, Bd. 3, S. 95). 63 Philipp Lacoue-Labarthe hat darauf aufmerksam gemacht, dass in den Baseler Vorlesungen Nietzsches eine gemischte Gattung »Kunstprosa« auftaucht, die nach ihm im ganzen Umfang der modernen Kunst und der ›Neuen Mythologie‹ eine Bedeutung zu haben scheint (Lacoue-Labarthe, »La Dissimulation (Nietzsche, la question de l’art et la ›littérature‹)«, S. 30 ff.). 64 Und diese Konzeption der Kunst wäre allerdings eine hegelianische, die in Hegels Konzept der »romantischen« Kunst zu finden ist: »In dieser Weise ist die romantische Kunst das Hinausgehen der Kunst über sich selbst, doch innerhalb ihres eigenen Gebiets und in Form der Kunst selber.« (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Bd. 13,
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Moderne überbietet sich, indem sie die ›alte‹ Kunst wissend nachahmt; die Selbstüberbietung der Kunst durch deren Wissen, das die Kunst in sich enthalten muss, ist die Form der modernen Kunst; die Kunst lebt in der Moderne in einer Form, in der sie ein performatives Selbstwissen hat. Sie kann noch aktuell sein. Sie kann so sein, aber nicht, indem sie das nachahmt, was sie war, also die Natur-Kunst, wie sie in der klassizistischen Vorstellung angenommen wird: die Natur-Kunst, die vergangen und in der Vergangenheit gleichsam verewigt ist. In dieser Auffassung kann die Kunst nicht mehr aktuell, nicht mehr gegenwärtig sein; dann würden alle Versuche, Kunst zu sein, zur Epigonen-Kunst, die schwächer gewordene, geminderte Kunst, die nicht imstande ist, ihrem Urbild jemals gewachsen zu sein, weil dieses als Urbild in der Vergangenheit ewig bleibt und nicht in der Gegenwart lebendig sein kann. Die Kunst kann dagegen nur aktuell sein, indem sie die Natur-Kunst dadurch als das, was die Kunst ist, versteht, dass sie deren ›Grund‹ verstehend mitvollzieht. Hier kann man einen Gegensatz zwischen zwei repräsentativen Arten des Ästhetik-Vortrags, also zwischen Nietzsches GT und Hegels Vorlesungen über die Ästhetik, in Bezug auf das Ziel des Vortrags herausstellen: Es ist für Nietzsches Kunsttheorie der GT als »einen Typus bedeutender Kunsttheorien« charakteristisch, »daß sie nie über ein Phänomen [spricht], ohne daß etwas vom Besprochenen im Vortrag selbst wirksam würde«,65 dass sich also das Wissen der Kunst nur in einer Vortragsweise artikulieren kann, in der allein das Kunstwissen durch einen, wenn auch selbstanalytischen oder gar selbstauflösenden, Vollzug der Kunst selbst erhalten wird, wodurch das Kunstwissen ein Selbstwissen der Kunst inmitten der künstlerischen Tätigkeit ist und sich damit eine Art der gelungenen Nachahmung der Kunst in der Theorie bereits vollzieht. Darin sollte zwischen dem Nachahmen und dem Nachgeahmten, dem Vortragen und dem Vorgetragenen, der Theorie und dem Gegenstand der Theorie die festgelegte Differenz dynamisiert oder dialektisiert sein. Die Verfestigung der Differenz würde den Gegensatz, die wechselseitige Gleichgültigkeit zwischen Theorie und Gegenstand, zwischen Wissen und Kunst nach sich ziehen; folglich wird es nur eine Alternative, also entweder die These der Vergangenheit der Kunst oder die Forderung der wiedergebenden Vergegenwärtigung dieser
S. 113) Dazu vgl. Pippin, »Hegels Ästhetik ohne Ästhetik. Hegels Philosophie der Kunst«, besonders S. 34 f und 38 f; Hamacher (»Das Ende der Kunst mit der Maske«) hat sich intensiv damit beschäftigt, anhand der Lektüre der Phänomenologie des Geistes zu zeigen, dass der wesentliche Aspekt der Kunst in der Prozesshaftigkeit der Kunst in ihrer Selbstbeendung besteht. 65 Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, S. 35.
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vergangenen geben; in diesen beiden Fällen wäre die Kunst keine solche mehr – nicht nur deshalb, weil sie damit fetischistisch verstanden wird, sondern darum, weil sie ebenso sehr noch nicht genug – hegelianisch gesagt – ›begriffen‹ ist. Denn die Zeit der Kunst sind nicht die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft als drei Modifikationen der Gegenwart. Vielmehr muss das ›Begreifen‹ der Kunst streng dialektisch vollzogen darin bestehen, dass die Kunst im Kunstvollzug selbstwissend sich nachahmt. In der Zeit der Nachahmung der Kunst ist nämlich die Kunst nicht bloß das Objekt des Nachahmens, sondern ebenso sehr dessen Subjekt. Darin ist die Kunst das Begreifen nicht von etwas anderem, sondern von sich selbst im eigenen Bereich, der aber in der geschichtsphilosophischen Topologie weder dem unmittelbar-sinnlichen der ›Kunst‹ noch der innerlich-reflektierten Integrität des Wissens zugeordnet wird, sondern dessen Wirklichkeit in einer wesentlichen A-topie hat.66 Die GT hatte zumindest die Absicht, diese atopische Wirklichkeit der Kunst zu retten: Die GT hätte, so Nietzsche, weder redend exoterisieren noch singend esoterisieren sollen; sowohl die exoterisierende Art des Redens wie die esoterisierende Art des Singens sind unfähig, jene atopische Wirklichkeit der Kunst darzustellen. Diese ist nur dann darzustellen, wenn die Kunst, die Theorie der Kunst und die Theorie der Nachahmung der Kunst – hierin sind die drei identisch – einer Dialektik folgen, nicht aber der ›Dialektik der Aufhebung‹, sondern einer der Nachahmung: Der »Geist« ist darin nur in dem Maße unendlich sicherkennend, in dem er sich selbst endlich nachahmt. Währenddessen gehen Hegels Ästhetik-Vorlesungen von dem Ausschluss dieser wechselseitigen Wirksamkeit aus, einer dialektischen Durchlässigkeit zwischen dem Vortragen und dem Vorgetragenen, zwischen Wissen und Kunst: »Die Kunst lädt uns zur denkenden Betrachtung ein, und zwar nicht zu dem Zwecke, Kunst wieder hervorzurufen, sondern, was die Kunst sei, wissenschaftlich zu erkennen.«67 Die Betrachtung der Kunst basiert nämlich darauf, zwischen
66 Die Atopie der Kunst macht also eine geschichtsphilosophische Topologie der Kunst aus. Christophe Menke hat mit seiner These zu einer ›potenziellen Ubiquität der ästhetischen Erfahrung der Negativität gegenüber anderen nicht-ästhetischen Diskursbereichen‹ eine kulturphilosophische Atopie des Ästhetischen konzipiert; vgl. Menke, Die Souveränität der Kunst, S. 207, 269-275 und 291 f. 67 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, 26. Ästhetik ist also aus diesem Blickwinkel eine exoterische, externe Theorie über die Kunst, eine Wissenschaft, die die Kunst verunmöglicht und von der Unmöglichkeit der Kunst ausgeht. So heißt es bei Paul Valéry: »Si l’Esthetique pouvait être, les arts s’evanouiraient nécessairement devant
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Wissen und Kunst nur einen wechselseitigen Ausschluss zu sehen: Unmittelbarkeit der Kunst und Reflexivität der Wissenschaft vertragen sich nicht miteinander; jetzt ist die Epoche der Reflexivität dran, die unwiderruflich ist; damit ist auch die Unmittelbarkeit der Kunst irreversibel zerstört; eine einzige Möglichkeit, die bleibt, ist eine kompensierende, den unmittelbaren Charakter der Kunst, die im Prinzip vergangen, weil unwiederherstellbar verloren, ist, wissenschaftlich zu erkennen. Darin ist die Kunst der Gegenstand des distanzierenden und distanzierten Wissens; das Erkannte der Vergangenheit bezieht sich auf das Erkennen der Gegenwart nur in einem endgültigen Abstand – das ist aber höchst undialektisch: Die Kunst ist (noch) nicht begriffen; sie ist höchstens ›wissenschaftlich‹ verstanden worden – oder: sie ist – entgegen Hegels Absicht in der Ästhetik – »wissenschaftlich« noch nicht genug verstanden worden. Diese Kunstbetrachtung geht damit von dem Ausschluss einer doppelten Nachahmung aus, die sowohl eine theoretische wie auch eine praktische ist, einer Nachahmung, die eine wissende und zugleich (wieder-)produzierende sein soll. Und dieser Ausschluss der Nachahmung verdankt sich dem entwicklungstheoretischen Anliegen oder Strategem Hegels, das die Kunst als prinzipiell vergangen versteht: Dieses Verständnis liegt der ›wissenschaftlichen Erkenntnis‹ der Kunst fast apriorisch zugrunde, als ob es eine Voraussetzung dafür sei. Und das Ergebnis davon ist, dass wir die Kunst nie gegenwärtig, nie ›unmittelbar‹ erfahren haben. Wir müssen von einer vergangenen Gegenwart der Kunst ausgehen. Somit wird die Kunst ein apriorischer Gegenstand der Trauer. Diese Trauer meint nicht bloß, dass die schöne Kunst vergangen ist, dass sie sich gestern ereignet hat. Sondern es scheint damit gemeint zu sein, dass die Kunst in sich ein vergangenes Phänomen ist. Die Vergangenheit, die vergangene Gegenwart, ist nämlich eine definitorische Zeitdimension bei der Bestimmung der Kunst. 68 Denn der kunstbetrachtende Blick des »Geistes« definiert die Kunst als seine Vergangenheit, aus der und gegen die er sich herausgebildet hat. Aus der Sicht der Ästhetik ist das Vergangensein der Kunst erst von der Gegenwart des Geistes her bestimmt. Aufgrund dieser Subversion der zeitlichen Ordnung und damit einer zeitlichen Fetischisierung trennt sich nicht nur das Betrachtende von dem
elle, c’est-à-dire devant leur essence.« (Ders., Variété, S. 1240; zitiert nach Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 399.) 68 Vgl. De Man, »Hegel über das Erhabene«, S. 63 ff.; Geulen, Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, S. 83; so wird die Kunst Gegenstand eines »Rückblick[s]« (Düttmann, Teilnahme, S. 63) – nicht ein ›Ding‹.
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Betrachteten, das Wissende von dem Gewussten, sondern das Erstere bestimmt die zeitliche Dimension des Letzteren.69 Derjenige Vergangenheitscharakter also, der der Kunst gleichsam als wesentliche Zeitdimension eingeschrieben ist, geht von einer – in dem besonders von Schiller geprägten Sinne – idyllisch-elegischen Auffassung der ›alten‹ Kunst aus, dass die Kunst nämlich inmitten der und durch die Natur wie die Natur geschaffen, gleichsam zur Natur geworden und damit von der Natur nicht mehr verschieden sei, in Hegels Worten gesagt, dass die Natur und der Geist, das Bedeutende und das Bedeutete in der Kunst einerlei (geworden) seien – was sich aber in der Moderne als nicht mehr möglich erwiesen habe. Mit der idyllischelegischen Auffassung hängt also die Ansicht zusammen, dass die Kunst nicht anders als im Wesentlichen vergangen sein, die Natur-Kunst als im Wesentlichen verlorengegangen verstanden werden kann. Diese Auffassung ist idyllisch, weil die ›alte‹ Kunst als eine in der Natur mit dieser eins gewordene, und elegisch, weil sie damit als in der Moderne verlorengegangene vorgestellt wird. Die idyllische Auffassung der Kunst bzw. der Natur führt notwendigerweise zu ihrer elegischen. Das Idyllische und das Elegische gehören in dem Maße zusammen, wie eine Natur- und Kunstauffassung, damit sogar eine Seinsauffassung herrscht, die dazu neigt, die Natur bzw. das Sein in der Vergangenheit zu hypostasieren. Sich gegen diese vergangenheitsfetischistische Auffassung der Natur, Kultur und Kunst zu wenden, hängt daher damit zusammen, die Vergangenheit selbst von diesem Fetischismus zu befreien. Für diese Befreiung sollte das kunstwissenschaftliche Unternehmen Nietzscheʼscher Art sorgen.
69 Vgl. Figal/Flickinger, »Die Aufhebung des schönen Scheins«, S. 205.
7. Kunst nach der Kunst und die moderne Welt
Im letzten Kapitel habe ich dargelegt, dass Nietzsche in der Tragödie der Geburt ein Projekt der Nachahmung der Kultur im Blick hatte, und versucht, anhand der zwei Fragestellungen, die voneinander untrennbar sind – einerseits die Konstitution der Kultur und andererseits die Nachahmung der Kultur –, zu erläutern, wie die Struktur des Gegenstands der Nachahmung, d.h. der geschichtsphilosophisch vorbildhaften Anfangskultur, der apollinischen Kultur der Griechen aussehen sollte, und was die Kunst in seiner ›kunstwissenschaftlichen‹ Sichtweise dieser Nachahmung heißen sollte. Es gab nach Nietzsche tatsächlich bereits in der griechischen Kultur am Rande dieser Kultur einen Versuch, jene Kultur dadurch zu wiederholen, dass sich eine Kunst am Rande der Kunst als Kunst einrichtete: die Tragödie. Nietzsche beschäftigt sich in dem Maße mit dieser besonderen Art der Kunst, die zum Kulturkreis des Anfangs noch gehört und die sich zugleich als Wiederholungsträger dieser Kultur zeigt, wie die geschichtsphilosophische Lage, in der sich die Tragödie befindet, im Hinblick auf die Aufgabe der nochmaligen Kulturbildung mit der Lage der Moderne etwas Wesentliches gemein haben. Eher könnte man sagen, dass die Tragödie in die moderne Zeit aufbricht, indem sie sich als Kunst etabliert und zur neuen Konstitution der Kulturwelt dadurch beiträgt, dass sie mit ihr eine neue Beziehung eingeht. In diesem Kapitel werde ich versuchen, aus dieser Perspektive zu erläutern, wie die Tragödie als eine Kunst zur zweiten Kultur strukturiert sein sollte und wie sich durch die Tragödie als tragische Kunst die Kunst, die Welt und das Handeln aufeinander beziehen. Logischerweise lässt sich schlussfolgern, dass zur Sicherung der Tragödie als Kunst zur Wiederholung der Kultur die Tragödie als eine Kunst angesehen werden muss, die sich als Kunst ›autonom‹ errichtet, indem sie auf einer für sie konstitutiven apriorischen Fremdheit und Äußerlich-
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keit beruht (Abschnitte 1 und 3). Und diese Eigentümlichkeit der tragischen Kunst, die nicht bloß in Nietzsches Überlegung idiosynkratisch vorkommen würde, sondern eine allgemeine Geltung verlangt, also selbst bei einem kanonischen Text über die Tragödie – Aristotelische Poetik – zu belegen ist (Abschnitt 2), kann im Hinblick auf zwei formale Elemente der Tragödie, Chor und Dialog, erläutert werden. Die tragische Kunst konstituiert sich nämlich dadurch, dass der Chor als der ursprüngliche und reine Zustand der Tragödie diese Reinheit verliert und dass der Dialog als ein fremdes Element apriorisch der tragischen Kunst angelegt ist (Abschnitt 4 bis 6 und 8, 9). Mit diesem apriorisch hybriden Charakter der Tragödie hängt, so die weitere These, zusammen, dass die Tragödie eine Kunst ist, die auf das Außen der Kunst, auf die Welt als Nicht-Kunst hin geöffnet ist, und dass sie an der Konstitution der Kulturwelt teilnimmt, indem sie das Selbstverhältnis der Welt um ein neues Verhältnis zwischen dem Handeln und dem Zuschauen als neuem Moment der Kunst erweitert (Abschnitte 7, 10 bis 12).
7.1 E INE SELBSTVERÄUSSERNDE G ESCHICHTE DER T RAGÖDIE 7.1.1 Eine zweite Kultur durch die Tragödie Die Auffassung, der argumentative Ton habe sich in Nietzsches Schriften von der GT zu den mittleren Schriften wie Menschliches, Allzumenschliches und Fröhliche Wissenschaft in dem Maße verschoben, wie der Akzent von der ›dionysischen‹ Grundlage auf die apollinisch gestaltete Oberfläche verlagert worden sei, trifft nicht ganz zu. Wie ich im vorherigen Kapitel zu erläutern versucht habe, hält Nietzsche auch dann, wenn er in der GT die dionysische ›Grundlage‹ mit einer gewissen Emphase behandelt, an der ausschließlichen Apollinität der hellenischen Welt fest. Eine apollinische ›Oberfläche‹ ist dabei eine letzte, unhintergehbare Bedingung dafür, dass von der Kultur, Kunst und Welt überhaupt die Rede sein kann.1 Eine ausschließliche Apollinität, ein globaler Apollinismus ist die Grundlage der Kultur. Die Kultur ist definitorisch nicht anders möglich als
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Die ausschließliche Apollinität, die ein korrelatives Verhältnis zwischen der Oberfläche und der Tiefe impliziert, bleibt unverändert bis zur Endphase von Nietzsches Denken; so heißt es in der Vorrede zur zweiten Auflage der Fröhlichen Wissenschaft: »Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe!« (KSA 3, 352; Herv. i.O.); und – korrelativ gedacht – die Tiefe vertieft sich wiederum nur unter der Oberfläche.
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naiv. Die Naivität ist, wie es Nietzsche zwei Jahre später in der zweiten unzeitgemäßen Betrachtung ausdrückt, der Horizont der Kultur, der sie wie eine Wand gegen den Ein- oder Übergriff des Nicht- oder Außerkulturellen schützen soll – eine Wand, durch die sich zumindest das Kulturelle vom Nicht-Kulturellen differenziert. Und es bedarf für das Zustandekommen dieser Naivität einer Kunst, einer Technik, die dazu dient, den schönen Schein einer integralen Welt zu schaffen. Diese Kunst war in der griechischen Welt und in der Gestaltung dieser Welt par excellence verwirklicht. Dies bedeutet, dass der Befund des Apollinismus nicht nur für die epischhomerische, sondern auch für die tragische Kunst gilt, insofern diese eben auch eine Kunst ist. Das heißt: Jener komplette Schluss als der Schluss des Schlusses, als ein selbstverdoppelter, den ich oben als die Struktur der naiven Kunst und Kultur geschildert habe, sollte auch noch für die Tragödie gelten, die nach Nietzsches Auffassung neben oder genauer nach dem Epos auch eine naive Kunst ist. Dies betont er zu wiederholten Malen, wenn er beispielsweise sagt: »Die Griechen sind, wie die ägyptischen Priester sagen, die ewigen Kinder, und auch in der tragischen Kunst nur die Kinder, welche nicht wissen, welches erhabene Spielzeug unter ihren Händen entstanden ist« (110; Hervorh. von mir). Dass die Werke der tragischen Künstler »unter ihren Händen entstanden« sind, bedeutet also noch nicht, dass sie ›ernsthaft‹ und gezielt gemacht seien, sondern vielmehr sind sie dem durch das Spiel für das Spiel, also ohne ein bewusst-ernsthaftes Ziel und ohne ein geregelt-überliefertes Verfahren, erzeugten Ding ähnlich. Die tragische Kunst ist spielerisch und die tragischen Künstler verfahren wie die Kinder, die spielen. Die Tragödien wie die Tragödienkünstler sind naiv wie Kinder und Kinderspiel. Bedeutet aber diese Ähnlichkeit, dass die tragische Kunst wie das Kinderspiel der Bildung und Erziehung nichts verdankt? Nein; es scheint nur so, und zwar aus einer Außenperspektive: Das Bild der Griechen als Kinder ist keine Selbsteinschätzung der Griechen, sondern eine Außenbeobachtung seitens der Ägypter, die bereits in der Antike die Spitzenleistung erbracht haben, aus ihren Tätigkeiten eine Theorienpyramide zu entwickeln.2 Die Analogie zwischen den
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Und zwar stammt diese Beobachtung der Griechen als Kinder von den ägyptischen Priestern, von denjenigen also, die selber eine besondere Art, also eine priesterliche, eine nicht vollkommen öffentliche, sondern eher esoterische Art von Wissen besitzen sollten. Die Naivität der griechischen Kunst ist dem Auge des ägyptischen Priesters nämlich zweifach rätselhaft: Sie ist zum einen aus der wissenschaftlichen Perspektive der Ägypter darin rätselhaft, dass sie wie ein Kinderspiel erscheint. Sie ist aber zum anderen aus der priesterlichen Perspektive der Ägypter rätselhaft, weil sie den Anschein erweckt, als ob sie auf naive Weise nichts verberge und alles öffentlich mache.
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tragischen Künstlern und den Kindern, die Naivität der Tragödie gilt also zunächst aus der Sicht dieser Ägypter, deren reifes Wissen im Kontrast zur griechischen Naivität umso auffälliger erschien. Die griechische Naivität würde also immanent betrachtet nicht schon einfach bedeuten, dass sowohl das geregelte Verfahren als auch ein zugrundeliegendes – »erhabenes« – Ziel tatsächlich und schlechthin fehlen. Dies widerspräche schon dem Wort und der Bedeutung der ›Kunst‹, weil die Kunst mit diesem schlechthinnigen Fehlen nicht vereinbar ist. Die Kunst setzt also eine Technik voraus, die die Kunst von der ›puren‹ Natur, von der ›reinen‹ Spontaneität, von der spontanen Spiel der Natur unterscheidet. Bei der Kunst wird nämlich normalerweise von einer technischen Absicht oder einem technischen Bewusstsein oder aber – in dem Fall der tragischen Kunst – von einem technischen Unbewusstsein ausgegangen. Jene Analogie zwischen dem tragischen Künstler und dem Kind, die Naivität der Tragödie, bedeutet also nur, dass »die […] Bedeutung des tragischen Mythus[: des Mythos also, den die tragischen Dichter hervorbringen] den griechischen Dichter […] niemals in begrifflicher Deutlichkeit durchsichtig geworden ist« (109), dass das Verfahren und das Ziel der Tragödie, »der Begriff, das Bewußtsein, die Theorie« dafür bei den Tragödienkünstlern – wie bei den Kindern – »noch nicht zu Worte gekommen war« und sich bloß »auf die Technik bezog«, also auf eine besondere Art der Technik, die sich begrifflich, theoretisch, bewusstseinsmäßig nicht artikulieren ließ und ein bloßes Know-How blieb, das »nicht ins Bewußtsein getreten war« (KSA 1, 540). Nicht das schlechthinnige Fehlen, sondern eine besondere Art des Nicht- oder Unwissens über das Verfahren und über das Ziel, die aber zugleich eine besondere Art des Wissens bedeutet, ist die Bedingung auch der tragischen Kunst als einer naiven Kunst. Wie die Kinder, die, neutral gesagt, um das mögliche Ziel und das mögliche Verfahren ihres Spiels nicht wissen, verfahren die tragischen Künstler. Das reine Kinderspiel, dem noch keine ›technische‹ Bildung zugrunde liegt, spielt sich aber in meisten Fällen ohne solches Ziel und ohne solches Verfahren ab. Nietzsche spricht dagegen mit den Worten der Ägypter von den »ewigen« Kindern – dieser Ausdruck legt die Anmutung nahe, dass die (tragischen) Künstler als Kinder und die (tragische) Kunst als ›erhabenes Spielzeug‹ sich als ein Endergebnis der technischen Ausbildung ergeben haben, das eine Vollkommenheit der Kunstzustände erweist, und dass sie, die tragischen Künstler, daher nicht mit denjenigen Kindern zu verwechseln sind, die in einem Zustand des bloßen »Unvermögens zur Kunst« sind.3 Das besondere Nichtwis-
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»Die Handlungen und Reden der Kinder geben uns daher auch nur so lange den reinen Eindruck des Naiven, als wir uns ihres Unvermögens zur Kunst nicht erinnern, und
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sen der tragischen Künstler ist darin von dem üblichen Nichtwissen zu unterscheiden, dass diese Besonderheit daraus stammt, dass der Prozess der Entstehung der tragischen Werke, das ›technische‹ Verfahren der tragischen Kunst vom ›Bewusstsein‹ ausgeschlossen ist. Ein Ausschluss ist nicht nur eigentümlich, sondern notwendig für die tragische Kunst, insofern diese eben auch eine naive ist. Dieser Ausschluss ist aber ein derartig gesteigerter, dass das, was dabei ausgeschlossen ist, nicht nur das Bewusstsein des Prozesses, sondern dasjenige dieses Ausschusses selbst ist. Ein (Aus-)Schluss des (Aus-)Schlusses ist notwendig für die Tragödie als eine naive Kunst. Die griechische Kultur, die durch solche naive Kunst geprägt ist, ist also allgemein apollinisch – und zwar, wie erläutert, in dem Maße allgemein apollinisch, dass nicht nur die epische, sondern auch die tragische Kunst apollinisch ist (und erst damit auch dionysisch, weil es um die Korrelation beider geht). Diese Kultur ist darin schön und das Vorbild der Kultur, die Kultur schlechthin. Nietzsches Augenmerk bleibt auf diese Kunst, die Kultur zu schaffen, gerichtet und interessiert sich für eine nachahmende Aneignung dieser Kunst. Das Problem liegt dabei darin, dass die von dieser Kunst geschaffene Kultur eine des Anfangs, eine Anfangskultur ist, eine einzig und zum einzigen Male am Anfang gewesene, naive, Kultur – im Vergleich zur ›modernen‹, die eine späte, eine spätere und, nach dem Bewusstsein der damaligen Zeit, epigonenhafte ist. Das Problem liegt also in einem geschichtsphilosophischen Widerspruch zwischen der Anfänglichkeit des Vorbildes und der Epigonenhaftigkeit der Gegenwart: Das Vorbild der Kultur ist einzig anfänglich, während die Gegenwart schon zu spät gekommen, Zu-spät-Gekommenes ist, um es noch einmal zur Geltung zu bringen. Nietzsches Augenmerk richtet sich in diesem Zusammenhang daher zweitens weniger auf die epische als vielmehr auf die tragische Kunst, weil sie als eine ebenso naive Kunst wie die epische einer doppelten Funktionseigenschaft genügte: Sie scheint, nach der ersten, nach der anfänglichen und anfänglich gewesenen eine zweite, zum zweiten Mal mögliche Kultur geschaffen zu haben. Dann erscheint die tragische Kunst als eine Technik, die Naivität der Kultur wieder zu schaffen. Wichtig und notwendig ist dann die Frage: Worin liegt unter diesen Umständen die Differenz der tragischen Kunst im Vergleich zum epischen? Diese Differenz ist deshalb wichtig, weil sie die kulturelle Funktionsbestimmung der tragischen Kunst im Unterschied zur epischen ausmachen und zur Erschaffung der Grundlage verhelfen sollte, aufgrund derer eine zweite, eine zum zweiten
überhaupt nur auf den Kontrast ihrer Natürlichkeit mit der Künstlichkeit in uns Rücksicht nehmen« (Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, S. 13).
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Mal mögliche Kultur denkbar wird; eine Kultur nämlich, die denkbar ist, nachdem die erste und anfängliche Kultur, die zum einzigen Mal in der Geschichte, am Anfang der Geschichte zustande kam, endgültig – endgültig darum, weil sie eine des Anfangs war – vergangen ist. Nietzsche sieht also in der tragischen Kunst – nicht in der epischen – eine Möglichkeit der Wiedereinrichtung der Kultur. Daher geht jene Frage, die zunächst nur eine der Kunstgattungen ist, über ihren Bereich hinaus: Nietzsche unternimmt den Versuch einer Antwort auf die sehr traditionsreiche Frage der Gattungstheorie, indem er sie kulturphilosophisch umschreibt. Damit wird die Frage folgendermaßen ergänzt: Worin besteht die Differenz der tragischen im Vergleich zur epischen Kunst, wenn sie die tragische als eine ebenso naive Kunst wie die epische dazu fähig macht, die Kultur wieder zu schaffen? Worin besteht die Wiederholungsfähigkeit der tragischen Kunst im Hinblick auf die Kultur? Und worin besteht ihre Fähigkeit, in der und trotz der Wiederholung die Naivität zu bewahren und damit das Späte zum Naiven zu machen? Diesbezüglich lässt sich die tragische Kunst nach Nietzsche folgendermaßen bestimmen: Sie ist die Kunst, die nach der Kunst – und das heißt: in der Geschichte, in einem kunstfremden und kunstäußerlichen Bereich – noch die Kunst geltend machen und damit eine Kultur herstellen kann. Wodurch genügt die tragische Kunst, die Tragödie, dieser Bestimmung? Nach einer Lektüre und einer Rekonstruktion von Nietzsches Tragödiendenken genügt die Tragödie dadurch dieser Bestimmung, dass sie diejenige Kunst ist, die selbst in ihrer eigenen Kunstfremdheit und -äußerlichkeit, in ihrem eigenen Nachkünstlertum zu denken ist. Die Tragödie ist in dem Maße für eine nachkünstlerische, eine geschichtliche Aneignung geeignet, als sie sich wesentlich in ihrer Nachkunst, in ihrer Geschichte, in ihrer Geburt und in ihrem Tod, in ihrem Leben, in ihrem geschichtlichen Dasein definiert, als sie eine geschichtsoffene Kunst ist. Die tragische Kunst in ihrer Verkörperung der Geschichte ›lehrt‹ als eine nachgeborene Kunst, als Epigonen-Kunst, die Kunst zu machen. Die nachkünstlerische Kunstäußerlichkeit und -fremdheit ist das Element, in das die Tragödie als Tragödie erst hineinwächst und sich heterogenisiert. In ihrer Geschichte wird sie, indem sie sich darin heterogenisiert. Diese kunstfremde Geschichte ist die Sache der Tragödie selbst. Eine Kunstfremdheit und -äußerlichkeit ist in der Tragödie angelegt. Wie aber kann die tragische Kunst trotz dieser Kunstäußerlichkeit noch ›naiv‹ wie die epische sein? Dadurch, dass die Tragödie aufgrund einer angeborenen Fremdheit und Äußerlichkeit zustande kommt, dass eine Kunstfremdheit und -äußerlichkeit der tragischen Kunst angeboren, ihr Anfang ist. Das macht ihre Naivität, ihre Apriorität aus: Die tragischen Künstler wissen nicht, wie sie diese Äußerlichkeit errungen haben, weil diese für sie die apriorische Ausgangslage ist. Ausgeschlossen ist also dabei, im Gegensatz zur epischen Kunst, die Kuns-
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tinnerlichkeit, die Eigenheit der Kunst gegenüber sich selbst, die Kunsttätigkeit. In diesem Ausschluss des eigenen Inneren und im Ausschluss dieses Ausschlusses ist die tragische Kunst offen. Sie ist naiv in diesem Sich-äußerlich-Öffnen als einem doppelten Ausschluss der Kunsteigenheit. Im Folgenden werde ich in Nietzsches Texten einer solchen nachkünstlerischen Geschichte der tragischen Kunst nachgehen. Zunächst aber werde ich versuchen, diese Eigenschaft der Tragödie, die angeborene Kunstfremdheit der tragischen Kunst, anhand eines Textes darzustellen, dessen Stellung in der Geschichte der Tragödientheorie als kanonisch gilt, um der These, dass eine Angeborenheit der Kunstfremdheit in der Tragödie angelegt ist, zu allgemeiner Geltung zu verhelfen. 7.1.2 Telos, Praxis und (Dia-)Logos: Verdopplungen der Tragödie (Aristoteles’ Poetik) Daraus, dass also die tragische Kunst durch eine die Kunst ermöglichende Kunstfremdheit zustande kommt, ergibt sich, dass die Tragödie sich wesentlich der Exteriorität aussetzt und sich solcher Aussetzung verdankt. Dies gilt nicht nur in Nietzsches Tragödiendenken. Meine These geht vielmehr davon aus, dass es allgemein gilt. Diese allgemeine Geltung könnte man am besten dadurch unter Beweis stellen, dass sie sich am Beispiel eines kanonischen Textes zeigt. Dieser wäre im Diskursbereich zur Tragödie allerdings die Poetik des Aristoteles. Und an diesem Text zeigt sich jene Exteriorität als Existenzbedingung der tragischen Kunst zunächst an zwei grundlegenden Begriffen der Tragödie, mit denen Aristoteles den Außenbereich der Tragödie als einen wesentlichen in die tragische Kunst auf eine eigentümliche Weise bezieht, die einer wesentlichen Doppeldimension der tragischen Kunst entspricht: an den Begriffen des Zwecks und der Handlung, die auch im Allgemeinen zu den Grundkategorien des aristotelischen und des westlichen Denkens überhaupt zählen. Und die Dimension des Außen erweist sich insofern als eine für die tragische Kunst wesentliche, als der Begriff der Handlung und der des Zwecks bei der Tragödie eigenartigerweise miteinander verbunden sind; diese Verbindung drückt sich zusammenfassend in einem Satz aus, der bei der ersten Annäherung trivial anmuten mag: Der »Zweck ist eine Art der Handlung« (1450a19).4 Dieser Satz, der unverkennbar auf die allgemeine Handlungstheorie des Aristoteles Bezug nimmt, modifiziert diese Theorie
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Bei der Zitierung der Poetik beziehe ich mich auf die Übersetzung von M. Fuhrmann (Poetik: Griechisch/Deutsch, übers. und hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart, 1982), wenn es keine weitere Hinweise auf die Übersetzung gibt.
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insofern, als sich aus dieser Verbindung eine Verdopplung der Handlung der Tragödie ergibt. Im Folgenden werde ich dieser Verdopplung der Handlung der Tragödie in deren zwei Arten nachgehen: 1) einer kathartischen und 2) einer zeigenden. An den beiden Arten der doppelten Handlung erweist sich jeweils die Dimension eines für die tragische Kunst notwendigen Verweises auf das Außen der Tragödie. Und 3) zeigt sich die zweite Art der Verdopplung, die in gewissem Sinne für die tragische Kunst als eine spezifische Kunstgattung grundlegender als die erste ist, noch deutlicher am dia-logos als Vollendungsmerkmal der Tragödie. a) Kathartische Handlung der dramatischen Handlung Aristoteles bedient sich in seinem Denken der Tragödie (wie an manchen anderen Stellen seines Werkes) jenes Spiels der Ambiguität, das manchmal aufgrund scheinbarer Widersprüche entsteht.5 Dies gilt auch bei der Überlegung zum Telos der Tragödie. Auf der einen Seite besteht der »Zweck der Tragödie« (1450a22) im mythos, in dem Handlungsgefüge, das von den Tragödienkünstlern komponiert wird und das von Aristoteles als die »Seele der Tragödie« (1450a37) privilegiert wird. Auf der anderen Seite ist aber die Handlung im Sinne des Handlungsgefüges nicht an sich und schlechterdings der Zweck/das Ende (telos)6 der Tragödie: Die Tragödie ›endet‹ und vollendet sich nicht innerhalb des Handlungsverlaufs, sondern dieser hat eine Funktion oder Wirkung (ergon; 1450a30, 1452b29, 1462b12), die aus dem Handlungsverlauf, also aus der Tragödie hinausführt. Die tragische Kunst ist eine poietiké techné, eine poetische Technik, die – und darin drückt sich die Technik-Bestimmung von Aristoteles aus – außer sich ihr Telos hat. Außer sich bedeutet: im Bereich der Rezeption des Dramas. Der Zielort der tragischen Kunst ist nicht der Endpunkt der story, sondern die Psyché der Empfänger. Hierauf bezieht sich das außer- oder nachkünstlerische telos (1460b24f.; 1462a18) der Tragödie. Was ist an diesem Ende, beim Rezipienten, das Ergon, das die Tragödie zu erfüllen hat? Es ist das Hervorrufen von
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Dergleichen sollte einem Leser wie Schiller nicht entgangen sein: »Es sind viele scheinbare Widersprüche in dieser Abhandlung[: Aristotelesʼ Poetik], die ihr aber in meinen Augen nur einen höhern Wert geben; […] manches mag freilich auch dem Übersetzer zuzuschreiben sein«. (Brief an Goethe, 5. Mai 1797, in: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, S. 389) Stephen Halliwell spricht von einer »ineliminable equivocation« der aristotelischen Poetik. (Halliwell, Aristotle’s Poetics, S. 342; vgl. auch S. 169 f.)
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Zu den Stellenangaben der Wortverwendung in der Poetik vgl. den »Index Graecus« von Rudolf Kassel.
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phobos und eleos und deren Reinigung (Katharsis) durch ebendieses Hervorrufen bei den Empfängern.7 Der Zweck der Tragödie ist also zweifach bestimmt, und diese zweifache Zweckmäßigkeit der Tragödie zeigt die Struktur sowohl einer strengen Trennung wie auch einer wesentlichen Verschränkung zwischen beiden Zwecken: Das Handlungsgefüge gilt allein in dem Maße als der (innerkünstlerische) Zweck der Tragödie, als er den (außerkünstlerischen) Zweck der Tragödie, die Katharsis, erfüllt. Im selben Zug wird aber diese außerkünstlerische Funktion nur dann erfüllt, wenn der Dichter sich nicht seiner bloß äußerlichen Funktion, seiner Funktion als Erregungskünstler unterwirft, sondern sich zunächst auf die Vollendung der Komposition der dramatischen Handlung beschränkt, und zwar so beschränkt, als ob das Zuschauerinteresse als solches nicht in Frage käme. 8 Zwei Zwecke behaupten jeweils sich selbst und unterstützen damit einander: Die ›Kunst‹ oder die Fähigkeit zur Handlungskomposition erweist sich erst an ihrer außerkünstlerischen Wirkung, deren Erfolg wiederum auf einem tragischen Handlungsgefüge beruht. Eine Referenz der tragischen Kunst auf einen außerkünstlerischen Zweckbereich, den Empfängerbereich, ist notwendig für die Beurteilung der Vollkommenheit der dramatischen Handlung der Tragödie. Der Empfängerbereich ist der Telos-Ort der Tragödie, der Zug der dramatischen Handlung endet dort, von wo her sich erst die tragische Kunst auch wieder in ihren Bereich des innerlichen Telos als eine vollendete zurückziehen kann. So könnte man zwar sagen, dass eine kathartische Entgrenzung der Kunst das Ziel der tragischen Kunst sei. Aber dies würde der Doppelzweckmäßigkeit der Tragödie nicht vollkommen gerecht. Denn der »Zweck ist eine Art der Handlung (praxis tis)« (1450a19): Bei der Katharsis geht es um eine Art von Handlung, deren Geltungsbereich nicht eindeutig und ausschließlich entweder auf das Drama oder auf das Leben einzuschränken wäre, sondern sowohl im Drama wie auch im Leben liegt. In der tragischen Kunst vollzieht sich somit eine Verdopplung der Handlung, eine kathartische Handlung der dramatischen Handlung.
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Die Empörung Goethes über dieses Außerkünstlerische des Ergon oder Telos der Tragödie und sein Missverständnis der aristotelischen Tragödiendefinition, durch das er die Tragödie innerhalb des rein künstlerischen Bezirkes halten wollte, sind bekannt.
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Die Doppelheit des Zwecks ist in der Dichtkunst von grundlegender Bedeutung, sodass Denis Diderot als Dramatiker und theoretischer Nachfolger von Aristoteles diesen Anspruch einer vorläufigen Einklammerung des Zuschauerinteresses während der Dichtung formuliert hat. Diese Einklammerung wird als ›vierte Wand‹ bezeichnet, die wie ein Vorhang den Dichter wie den Schauspieler vom Blick des Zuschauers trennt und eine Konzentration auf die innerdramatische Handlung fördert. (Diderot, De la poésie dramatique, S. 230 f.; deutsch.: Von der dramatischen Dichtkunst, S. 338 ff.).
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Die dramatische Handlung der Tragödie geht zwar in der Struktur der kathartischen Zweckmäßigkeit als eine kathartische Aktion, eine kathartische Handlung über sich hinaus. In der Tragödie kehrt aber die dramatische Handlung am Ende, an ihrer Grenze an dem Außerdramatischen als eine kathartische zu sich zurück, und damit schließt sich der Zirkel der Handlung. Der Zweckbereich der Tragödie ist durch den Gedanken einer solchen Exteriorität geprägt, die die Innerlichkeit erst dadurch vollendet, dass diese auf jenes Außen hinausläuft, das ein Außen bleibt. Die tragische Kunst vollendet sich in sich selbst erst, indem sie in einen Außenbereich der Kunst, in die Empfänger-Verhältnisse hinein- bzw. genauer hinauswirkt. Die dramatische Handlung der Tragödie kann sich zu ihrem Zweck/Ende vollenden, indem sie sich kathartisch über sich hinaus überträgt. Die Vollendung der Tragödie impliziert ihr Selbstübertreffen in der kathartischen Funktion. Das Innen der Tragödie, das sich durch eine ›tragische‹ Handlungskomposition organisiert, die im Umschlag der Handlung innerhalb der dramatischen Handlung besteht, verbindet sich wesentlich mit ihrem Außen, in dem diese Handlungszusammenfügung kathartisch außer sich geht.9 Der drama-
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Goethe hat bekanntermaßen den Teil der aristotelischen Tragödiendefinition, der sich auf die Katharsis bezieht, so übersetzt, als ob die Katharsis weniger eine Reinigung der Affektlage des Zuschauers als vielmehr der Ausgleich des dramatischen Handlungsablaufes wäre, (»Die Tragödie ist die Nachahmung einer bedeutenden und abgeschlossenen Handlung, die […] nach einem Verlauf aber von Mitleid und Furcht mit Ausgleichung solcher Leidenschaften ihr Geschäft abschließt.«; Johann Wolfgang Goethe, Nachlese zu Aristotelesʼ »Poetik«, S. 171) und dementsprechend kommentiert: »Wie konnte Aristoteles in seiner jederzeit auf den Gegenstand hinweisenden Art, indem er ganz eigentlich von der Konstruktion des Trauerspiels redet, an die Wirkung und, was mehr ist, an die entfernte Wirkung denken, welche eine Tragödie auf den Zuschauer vielleicht machen würde? Keineswegs!« (Ebd.) Goethes Abwehrhaltung gegen die Interpretation der Katharsis im Hinblick auf den Zuschauer ist aber in dem Maße einleuchtend und gar berechtigt, als seine Auffassung der Katharsis als eines innerdramatischen Geschehens zwar in seinem Verständnis problematisch ist, jedoch auf jene wesentliche Dimension hinweist, in der die Erfahrung der Katharsis nicht eine rein außerdramatische Sache, also die Sache des Zuschauers ist, sondern wesentlich aus der dramatischen Handlung fließt und ihre Stellung – sei sie innerdramatisch oder außerdramatisch – damit zu fließen und zu schwanken beginnt. So stellt Aristoteles fest, dass die Erfahrung der Katharsis »in den Geschehnissen [des Dramas] selbst enthalten sein« müsse (1453b13). Seine Poetik oder ›Ästhetik‹ baut er auf jene Besonderheit der Tragödie auf, dass sich die tragische Dichtung poetisch in dem Maße sinnvoll vollziehen kann, in dem sie sich auf das Außerpoetische bezieht, und dieser
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tische Umschlag erweist sich als vollkommen, insofern ein anderer Umschlag der dramatischen in die kathartische Handlung daran anschließt. In diesem Umschlag, dem der dramatischen Handlung in die kathartische, dem des Dramas in das Leben, besteht die Vollkommenheit der Handlung der tragischen Kunst.10 b) Zeigende Verdopplung der Handlung Dieser kathartische Umschlag der Handlung vollzieht sich also am Ende der dramatischen Handlung, des tragischen Handlungsgefüges, als eine Verdopplung der Handlung. In der tragischen Kunst findet aber noch eine andere Art der Verdopplung der Handlung statt, die ihrerseits inmitten der Darstellung, während der ganzen Handlung der Tragödie, ständig und zugleich unauffällig geschieht. Dies wird deutlicher, wenn wir die Aufmerksamkeit von der Handlung auf die Träger der Handlung, auf die Handelnden verschieben. Was ist die Stellung der Handelnden in der Tragödie? Die Stellung der Handelnden in der Tragödie lässt sich, so kann man aus den Texten herauslesen, weder dem dramatischen Innenbereich noch dem lebenswirklichen Außenbereich handfest zuschreiben, vielmehr lässt sie einen Raum der Ambiguität zu, der für die Tragödie konstitutiv ist. Dies sagt Aristoteles allerdings nur auf eine diskrete Weise: »Da Handelnde (prattontes) die Nachahmung vollführen […]. Nun geht es um Nachahmung von Handlung,
Bezug umgekehrt nur dann gelingt, wenn der innerpoetische Zusammenhang in sich vollständig ist. Max Kommerell hat diese Überschreitung der Grenze zwischen dem Inner- und dem Außerkünstlerischen in der aristotelischen Dichtungstheorie richtig bemerkt, dabei ist er aber insofern zu weit gegangen, als er zu der Ansicht gelangt, Aristoteles gebe der außerästhetischen Dimension (der kathartischen Wirkung) das letzte Wort. Das Telos der Tragödie ist nach Kommerell daher außerhalb des ästhetischen Bereichs gesetzt und damit sei »am Anfang der europäischen Ästhetik der Begriff des Ästhetischen in sich aufgehoben« (Kommerell, Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie, S. 58). 10 Stephen Halliwell hat diese topologische Ambiguität der Handlung zwischen dem Drama und dem Leben in seinem Kommentar zu 1450a19 der Poetik zutreffend gefasst (Aristotle, Poetics, editiert und übersetzt von Stephen Halliwell, S. 51, Anmerkung c). Manfred Fuhrmann und Abrogast Schmitt haben in ihren Übersetzungen diese Stelle semantisch beschränkt und diese Ambiguität beeinträchtigt, indem sie telos an dieser Stelle auf das Leben beziehen; Fuhrmann: »[D]as Lebensziel ist eine Art Handlung« (Aristoteles, Poetik: Griechisch/Deutsch, S. 21); Schmitt: »[D]as Ziel ist ein bestimmtes Handeln« (Aristoteles, Poetik, übersetzt und erläutert von Abrogast Schmitt, Darmstadt, 2008, S. 10; die spitzen Klammern von Schmitt zur Übersetzung eingesetzt).
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und es wird von Handelnden (prattonton) gehandelt« (1449b). 11 Aristoteles bringt dabei einen Doppelstatus der Handelnden zum Ausdruck, indem er die Frage unbestimmt lässt, ob die Prattontes, also die Handelnden der tragischen Kunst, die Handelnden im Drama oder im Leben, dramatische Personen oder Schauspieler sind, die diese Personen spielen.12 Diese Unbestimmtheit, die den Versuch einer alternativen Gabelung im Hinblick auf die Topologie der Handlung und des Handelnden der tragischen Kunst notwendig scheitern lässt, beruht auf dem wesentlichen Doppelaspekt der Handlung der Tragödie, der sich dem Umstand verdankt, dass die tragische Kunst darin besteht, die gegenwärtige Handlung darzustellen, also die Handlung zu zeigen.13 Daraus ergibt sich die Besonderheit der tragischen Kunst oder der dramatischen Kunst überhaupt, d.h. darin besteht die Unterscheidung zwischen der tragischen und epischen Kunst: Die Tragödie wird nämlich – nach der Definition jener berühmten Stelle – durch die schauspielerische »Nachahmung von Handelnden und nicht durch [den epischnarrativen] Bericht« (1449b26) verwirklicht.14 Der Raum der tragischen Kunst öffnet sich im Gegensatz zur epischen, die die Geschehnisse distanziert berichtet, erst durch eine die Handlung unmittelbar zeigende Dopplung von Dramatischem und Außerdramatischem, Künstlerischem und Außerkünstlerischem, Ernstem und Spielerischem. Diesen Unterschied erkennt man auch daran, dass
11 Aus der Übersetzung von M. Fuhrmann geändert habe ich aber den Ausdruck »handelnde Personen« zum wörtlichen Ausdruck »Handelnde«, weil mit dem Wort ›Person‹ – sei es absichtlich oder unabsichtlich – suggeriert wird, dass es hier um eine Art Römisierung durch den Begriff der persona, besonders durch den im dramatischen Bereich gängigen Ausdruck dramatis personae geht, und weil sich daraus ergibt, dass die aristotelische Ambiguität, die den Ausdrücken ›Handlung‹ und ›Handelnde‹ zugrunde liegt, zugunsten des Dramas (d.h. zulasten des Außen) vereinseitigt wird. 12 »Aristotelian acting is large enough to enfold them both« (Jones, On Aristotle and Greek Tragedy, S. 59); John Jones hat, um diese Ambiguität zu bewahren, die prattontes – wenn auch nicht ganz befriedigend – in »stage-figures« übersetzt (S. 36, 59), was den Umstand zeigen soll, dass die aristotelischen ›prattontes‹ die Träger sowohl der Bühnen- wie der dramatischen Handlung sind; ich würde sie als ›dramatisch Handelnde‹ übersetzen und werde diesen Ausdruck im Folgenden so verwenden. 13 Zu dieser Porosität der Grenzlinie zwischen Innen und Außen des künstlerischen Spielraums in Schillers und Nietzsches Auffassung des Chors vgl. Bettine Menke, »Wozu Schiller den Chor gebraucht…«; dazu auch die Abschnitte über den Chor im Folgenden. 14 Vgl. zur Hervorhebung dieses Punktes bei Aristoteles Christoph Menke, Die Gegenwart der Tragödie, S. 55.
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die Zeitlichkeit, die der tragischen Kunst zugrunde liegt, grundlegend anders als die der epischen ist: Die epische Kunst vollzieht sich in einer Zeit der vollendeten Gegenwart; die Handlung, die das Epos darstellt, ist zwar in hohem Maße gegenwärtig, aber diese Gegenwärtigkeit ist gerade in der Gegenwart in sich geschlossen und vollendet; eine in sich selbst geschlossene Gegenwärtigkeit ist die Zeit des Epos; die Lebendigkeit der episch-homerischen Beschreibung erhält daher eine Dimension der Ewigkeit; das Leben wird im Epos in die Kunst vollständig hineingeschrieben; die Kunst ist in sich vollkommen geworden in ihrer eindimensionalen Übereinstimmung mit dem Leben; darin wirkt die epische Kunst insoweit naiv, als sie sich so vollzieht, als ob sie sich immer schon vollzogen hätte. Dagegen ist die Zeit der tragischen Kunst eine der geöffneten Gegenwart; die tragische Kunst zeigt die Öffnung der Kunst auf das Leben durch eine gegenwärtige Verdopplung der Handlung, durch eine die dramatische Handlung zeigende Handlung; dies bedeutet nicht bloß, dass die Handlung der Tragödie eine wiedergebende Nachahmung der lebenswirklichen Handlung ist; sondern dass sie in der Verdopplung des Dramas und des Lebens eine Automimesis, eine Selbstnachahmung der Handlung darstellt; dass die Handlung der Tragödie auf der Erfahrung einer Entzweiung in die Kunst und in das Leben beruht, dass die Handlung der Tragödie in ihrer sich zeigenden Gegenwart, in ihrer epideiktischen Selbstreferentialität eine Zweidimensionalität aufweist – einen für die tragische Kunst konstitutiven Zwiespalt zwischen dem Innen und dem Außen, zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen der Kunst und dem Leben. Dies ist die Charakteristik der tragischen Kunst auch und besonders im Gegensatz zur epischen: Von dieser lässt sich sagen, dass sie eine Kunst ist, der es darum geht, die Exteriorität vollständig auszuschließen, dass sie also eine Kunst der Immanenz ist. Sie ist eine Kunst der Immanenz des schönen Scheins, der naiven Sichtbarkeit. Dagegen setzt sich die tragische Kunst, obwohl und gerade weil sie diese Naivität der Kunst auf ihre ›eigene‹ Weise bewahren möchte, der Exteriorität als ihrem Konstituens aus. Ihre Naivität besteht darin, dass sie sich der Exteriorität naiv aussetzt, dass sie sich nach außen hin naiv öffnet. Man kann sagen, das Eigene der tragischen Kunst bezieht sich auf diese Öffnung. Das Naive dieser Kunst rührt davon her, diese fremde Öffnung naiv zu zeigen. Nach der naheliegenden Auffassung der Poetik wäre das Theater für die Dichtkunst zwar sekundär und überflüssig; die »Seele der Tragödie« sei nämlich mythos, das dramatische Handlungsgefüge, und »auch ohne die Theateraufführung« (1450b19) ist der Zweck der Tragödie zu erreichen. Aristoteles, dessen Theoriebau auf einem tiefen Sinn der Ambiguität beruht, scheint aber – anders als Platon, der die ›Theaterkunst‹, die ursprünglich als eine Kunst der Handlung zum Vorschein gekommen war, zu seiner Zeit aber ihre kulturbildende Kraft
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verloren zu haben schien, aus dem Staat verbannen wollte – dieser Kunst noch einmal Raum geben zu wollen; und dieses Raumgeben vollzieht sich selbst aufgrund einer ambivalenten oder gar widersprüchlichen Begriffsbildung. Es liegt zwar nahe, dass die Bühnenkunst als außerkünstlerisch verurteilt wird,15 damit der Kunst der Komposition des Handlungsgefüges Vorrang gegeben werden kann. Diese umfasst aber nicht das Ganze und die Kompositionskunst ist daher nicht alles: Die Handlung der tragischen Kunst stellt eher jene Zweidimensionalität dar, die in der Dopplung von innerdramatischer Geschlossenheit und außerdramatischer Öffnung besteht. Und diesen Anspruch auf Doppeldimensionalität erfüllt die tragische Kunst dadurch, dass sie die dramatische Handlung gegenwärtig zeigt; dass sie, genauer gesagt, in einer sich-zeigenden Handlung der dramatischen Handlung besteht. Die Inszenierung mag zwar das »Kunstloseste« im Hinblick auf die »in sich geschlossene/in sich vollendete (teleias)« (1449b25) dramatische Handlung sein. Aber der Bezug auf den Raum der Sichtbarkeit als ein Außerhalb der Kunst ist, wie gesehen, für die ›innerliche‹ Qualität der tragischen Kunst konstitutiv. 16 Die Dimension der Verwirklichung des Dramas ist
15 »Die Inszenierung vermag zwar die Zuschauer ergreifen; sie ist jedoch das Kunstloseste und hat am wenigsten etwas mit der Dichtkunst zu tun. Denn die Wirkung der Tragödie kommt auch ohne Aufführung und Schauspieler zustande. Außerdem ist für die Verwirklichung der Inszenierung die Kunst des Kostümbildners wichtiger als die der Dichter«. (1450b17-21) Und: »Diese Wirkung[: Hervorrufen von Schaudern und Jammer] durch die Inszenierung herbeizuführen, liegt eher außerhalb der Kunst und ist eine Frage des Aufwandes«. (1453b7) 16 Jener Bedeutungsrest, der über jenen nie aufzulösenden und für die Tragödie konstitutiven Widerspruch hinausweist und eine Verneinung der Aufführungsdimension der Tragödie zu implizieren scheint, verweist nur auf die Warnung vor einem theatrokratischen Überfluss der Inszenierung, der in der Zeit des Aristoteles virulent geworden war. Manche Aussagen der Poetik, die sich gegen Inszenierung überhaupt zu richten scheinen, richten sich in Wahrheit nur gegen solchen schauspielerischen Überfluss; so etwa, wenn Aristoteles in der Poetik 1453b7 schreibt. Hier scheint Aristoteles eine solche Aufführung zu verurteilen, die bloß auf die schockierende Szene (ohne Integration in ihren dramatischen Zusammenhang) abhebt. Vgl. dazu Halliwell, Aristotle’s Poetics, S. 66. Vgl. ähnliche Beurteilungen im 26. Kapitel (1461b26 und folgende), wo Aristoteles, wie an manchen Stellen seiner Ethik und Politik, zwischen Schlechtem/Vulgärem und Gutem/Gebildetem sowohl auf der Darstellerseite wie auch auf der Publikumsseite unterscheidet. Für einen Versuch der Rehabilitierung der Bühne und der Inszenierung durch die Lektüre der Poetik vgl. den Briefwechsel zwischen Jean-
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nämlich keineswegs ein gleichgültiger Teil der Tragödie. Zur tragischen Kunst wird eine zweifache Vollendung gefordert: Die tragische Kunst geht von der »in sich vollendeten« Handlung des Dramas aus und vollendet sich in der Vorführung dieser Handlung, in einer Handlung der Handlung, in einer Handlung, deren sich-zeigende Gegenwart eine neue Dimension der Vollendung in sich erhält – eine Dimension, in der die Vollendung nicht in der Geschlossenheit, sondern erst in der Offenheit, nicht in der geschlossenen, sondern in der geöffneten Gegenwart zustande kommt. Das Zeigen der Handlung, die sich zeigende Handlung ist also eine wesentliche Dimension der Tragödie, die diese zu ihrer Vollendung bringt – zu einer geöffneten Vollendung, die die gattungsspezifische Charakteristik der Tragödie ausmacht. Das Tragische ist schon in der formalen Dimension der Tragödie angelegt, und dies ließe sich aus jenem zusammenfassenden Satz, dass der »Zweck […] eine Art Handlung« sei (1450a19), herauslesen, wenn man in diesem Satz folgende Spannung feststellen kann: Die dramatische Handlung, der mythos, ist als die »Arché und […] Seele« der Tragödie der Zweck derselben, wie Aristoteles ausdrücklich sagt (1450a22). Aber die sich selbst zeigende Handlung dieser Handlung, eine Handlung der Handlung, eine nur sich selbst (re-)produzierende Handlung, die sich nichts anderem als sich selbst fügt und a fortiori nicht dem dramatischen Handlungsgefüge, dem mythos, der sich die Handlungen unterwerfen will, – diese Handlung ist der Zweck ihrer selbst, indem sie sich darin erschöpft, sich selbst zu zeigen, sich selbst zeigend zu singularisieren.17 Eine höchste Spannung oder ein Widerspruch besteht innerhalb der sich bezweckenden Handlung. Die Handlung der Tragödie ist tragisch erst und bereits, indem sie sich zwischen diesen beiden Bezweckungen der Handlung zerreißt: zwischen der Totalisierung, die durch den in sich geschlossenen Hand-
Luc Nancy und Philipp Lacoue-Labarthe, der veröffentlicht wurde: Jean-Luc Nancy und Philipp Lacoue-Labarthe, Scène. 17 Dass die Handlung in diesem Sinn der Zweck ihrer selbst ist, ist bei Aristoteles nicht nur in der Poetik, sondern im Allgemeinen ein zentrales Anliegen seiner Handlungstheorie: Die Handlung ist an sich selbst eine vollendete (teleia) Handlung (Metaphysik, 1048b22-35, im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen energeia und kinesis) oder eine gute Handlung (eupraxis; Nikomachische Ethik, 1139b4, 1140b7, im Gegensatz zur Herstellung, die ihren Zweck außer sich hat). Die Vollendetheit einer Handlung besteht also nicht außerhalb ihrer selbst, sondern in ihrem gegenwärtigen Vollzug. Daher ist beispielsweise das Leben zum einen mit dem Gut-Leben und zum anderen mit dem Gelebt-Haben, also mit der vollendeten Gegenwart, gleich (Metaphysik, 1048b25 und 27). Denn die Vollendung des Lebens besteht in einem gegenwärtigen Vollzug des Lebens.
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lungszusammenhang zustande kommen sollte, und der Singularisierung, die sich durch die sich zeigende Handlung der Handlung18 vollzieht. Die Bedeutung des Satzes, dass die Handlung der Zweck ist, ist eine doppelte: Zum einen ist der mythos, das dramatische Handlungsgefüge, die »Seele« und »der wichtigste Teil (megiston)« der Tragödie (1450a16); die Wirkung der Tragödie muss aus diesem Handlungsgefüge selbst abgeleitet werden, also »in den Geschehnissen selbst enthalten sein«. Zum anderen aber kann man auch in einem anderen Sinne sagen, dass die Handlung der Zweck ist: »Da Handelnde die Nachahmung vollführen, ist notwendigerweise (ex anankes) die Inszenierung der erste Teil (proton) der Tragödie« (1449b32–34); aufgrund jener oben erläuterten Doppeldimensionalität der Handlung und der Handelnden schließt die Inszenierung, das schauspielerische Zeigen der gegenwärtigen Handlung, an die dramatische Handlung »notwendigerweise« an; eine sich zeigende Handlung der dramatischen Handlung, eine sich aus sich herauszeigende Handlung der Handlung, ist für die tragische Handlung wesentlich. Ein scheinbarer Widerspruch oder ein Ambiguitätsverhältnis besteht zwischen dem ›wichtigsten‹ und dem ›ersten‹ Teil der Tragödie, zwischen zwei Handlungen, zwischen der innerdramatischen Handlung und der ›nachahmenden‹ Handlung dieser Handlung; 19 dieser scheinbare Widerspruch hat allerdings die wichtige begriffliche Funktion, die tragische Dimension der geöffneten Vollendung zum Ausdruck zu bringen. Aristoteles scheint damit gerechnet zu haben, dass durch diesen Widerspruch ein eigenartiger Raum für
18 Das, was gezeigt werden soll, ist in erster Linie die Handlung als solche, und erst in zweiter Linie der Handelnde, der Träger der Handlung; in der Reihenfolge der ›Teile‹ der Tragödie geht so die Handlung dem Charakter des Handelnden voran. Allerdings lässt sich diese Voranstellung der Handlung gegenüber dem Handelnden auch auf der Ebene des Dramas so annehmen, dass die ›objektiven‹ Handlungszusammenhänge in das Zentrum der Darstellung rücken, während sich der ›subjektive‹ Charakter des Handelnden diesen Zusammenhängen unterwirft. 19 Die Nachahmung, Mimesis, geht über eine wiedergebende Repräsentation einer Handlungsordnung insofern weit hinaus, als sie eine ekstatische Dimension ausdrückt, in der das Ganze der episch-mythischen Handlungsordnung suspendiert wird und in der sich das Schauspiel aus dieser Suspendierung heraus zeigt. Eine Teilnahme an der Suspendierung ist für die Kunst des ekstatisch-nachahmenden Schauspiels nötig. Aristoteles hat diese ekstatische Fähigkeit, ja eine Kunst der Ekstase, zu einem Hilfsmittel für die Komposition eines qualifizierten Handlungsgefüges trivialisiert. Für die Darstellung dieser ekstatischen und zugleich nachahmenden Schauspielkunst ist zwar Nietzsche repräsentativ. Jedoch hat Karl Philipp Moritz bereits in der ›klassizistischen‹ Zeit die Nachahmung als eine solche ekstatische Nachahmung konzipiert.
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jene tragische Kunst eröffnet werden kann, die ihr Künstlertum durch einen zwar notwendigen, aber diskreten Verweis auf eine außer-, auf eine überkünstlerische Dimension, durch eine sowohl notwendige wie diskrete Öffnung20 auf einen Außenbereich, auf einen ›Rand der Kunst‹ erhält. Dieser Rand der Kunst, an dem sich zwei Zwecksetzungen der tragischen Kunst überkreuzen, ist nämlich, um den vorliegenden Abschnitt zusammenzufassen, ein Ort, der auf zweierlei Weise zu verstehen ist: Der Rand der Kunst ist zum einen dasjenige, was von Aristoteles ausdrücklich formuliert wird, wenn er über die ›Wirkung‹ der Tragödie spricht; die tragische Kunst ist eine, die sich dann vollendet, wenn sie am Ende, am Zielpunkt des innerdramatischen Verlaufs, ihren kathartischen Bezugsbereich als einen außerkünstlerischen TelosBereich erreicht. Die andere Dimension des Außenbezugs der Tragödie kommt im Unterschied zur kathartischen Dimension schon insofern in den Blick, als es auf die gegenwärtig zeigende Handlung der dramatischen Handlung ankommt; der Verweis auf das Außen der Tragödie als den eigentümlichen Bezugsort hängt wesentlich von dieser Verdopplung der Handlung inmitten der Darstellung ab: als einer Dimension des Schauspielens nämlich, in der sich der Ernst der innerdramatischen Handlung spielerisch verdoppelt. Die Tragödie ist eine Kunst der Exteriorität, eine, die sich zum Außen und zum Fremden hin öffnet, eine, die darin besteht, sich dieser Öffnung auszusetzen. Durch diese Öffnung wird die tragische Kunst heterogenetisch geboren. Das Eigene der Tragödie besteht in dieser Heterogenese und – wie wir unten bei Nietzsche deutlich sehen werden – einem heterogenen Tod. Je mehr die Tragödie sich ihres ›Wesens‹ enteignet, umso vollständiger kommt sie zu sich zurück. Das Außen ist ein Wesensbereich der Tragödie und das Fremde ist ein angeborenes Element der Tragödie. Die Tragödie ist also einer Exteriorität ausgesetzt, um sich als Kunst einzurichten. c) Dialogos der tragischen Handlung im Singular und Plural Auf den Ambiguitätszusammenhang der Tragödie, der an ihre Exterioritätsdimension gebunden ist, weist noch ein weiterer Begriff hin, der sich von dem Begriff der Handlung nicht trennen lässt. Es handelt sich um einen Begriff oder eher ein Wort, das mehrdeutig und semantisch umfangreich genug ist, um jene Ambiguität in sich zu verbergen: logos. Im Großen und Ganzen hat das Wort in
20 Diese Doppeleigenschaft der Notwendigkeit und der Diskretheit der Handlung der tragischen Kunst ist ein so grundlegender Aspekt, dass auch ein Bühnenpraktiker und -theoretiker wie Bertolt Brecht trotz seiner ›anti-aristotelischen‹ Konzeption des epischen Theaters diese Verdoppelung als Grundbefund des Theaters anerkennt (Brecht, Schriften zum Theater I, S. 292, 301 f.).
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der Poetik vier Bedeutungen: 21 1) die Sprache im Gegensatz zum chorischmusikalischen Teil, 2) das dramatische Handlungsgefüge (darin mit mythos synonym), 3) die Sprache in ihrer ›rhetorischen‹ Dimension, die die Gedanken (dianoia) und damit den Handlungsablauf führt, 4) Redeweise oder -form (= lexis). Der logos hat also, zumal aus unserer Perspektive gesehen, die Doppeldimension der tragischen Kunst, eine sowohl innerdramatische wie auch theaterpraktische Dimension der Tragödie: logos beinhaltet eine Handlungsgeschichte, die in sich geschlossen und aufgrund ihrer vollendeten Struktur allgemeiner und »philosophischer« als die Historie (9. Kapitel der Poetik) ist, und zugleich eine sprachliche Handlung, die das Drama vollführt und damit den Knotenpunkt ausmacht, in dem sich das Dramatische auf die andere Dimension verlängert, die sich auf das ›Hervorrufen‹ (1456b7) der beabsichtigten Wirkung der Tragödie richtet. Der logos, der dramatische Handlungsablauf, der in sich geschlossen sein sollte, wird durch den logos, durch die sprachlich performative Handlung, vollführt. Der logos ist die dramatisch organisierte Handlung und zugleich die sich aus sich herausredende Handlung dieser Handlung – Handlung des logos, die in diesem Aus-sich-selbst-Herausreden in einem hohen Maße individuiert, emphatisch gesagt: vereinsamt ist. Der logos als Handlung hat also einen sowohl poetisch-dramatisch vereinheitlichenden wie auch rhetorisch-performativ vereinsamenden Aspekt, der darin besteht, dass die ›logische‹ Vollendetheit des Dramas durch den »sprachlich Handelnden« (legontos; 1456b7, 8), der als Einzelner redet und handelt, vollführt werden muss. Der ›objektive‹ logos der Tragödie wird durch den ›subjektiven‹ Vollzug der Redehandlung vermittelt. Die Vereinzelung ist ebenso wie die Vereinheitlichung insoweit ein wesentlicher Aspekt der Tragödie, als sich die Handlung nach ihrer Doppeldimension des Selbstzwecks entzweit. Man könnte sagen, dass die dramatische Handlung für die Tragödie zentripetal und die sich zeigende und redende Handlung zentrifugal ist.22 Der formalen Struktur nach ist die Tragödie insofern tragisch, als sich diese zwei Kräfte der Handlung in der Verdopplung gegeneinander auswirken und in dieser tragischen Auswirkung einander verstärken: Die Singularität der sich zeigenden und redenden Handlung lässt sich erst im Gegensatz zur Macht der totalisierenden Handlung vollkommen darstellen und kann überhaupt erst dann zum Zuge kommen, wenn sie sich in die Ordnung dieser Macht hinein-
21 Vgl. Kassel, »Index Graecus«, S. 64. 22 Es gibt also zwei ›Achsen‹ nach Hans Thies Lehmann: »[A]lle Rede ist zugleich innerszenisch gerichtet (an den Spielpartner) und außerszenisch ans Theatron [: Zuschauerschaft]. Aus diesem bekannten Doppelcharakter allen Theaters […]« (Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 230; Herv. i.O.).
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schreibt, während sich die totalisierende Handlung, könnte man sagen, um die Singularität der Handlung (die hier wie ein Katalysator wirkt) knotenhaft verwickelt und sich mit umso ›schicksalhafterer‹ Notwendigkeit ›objektivieren‹ und vereinheitlichen muss. Die eigenartige Dimension, die die Tragödie definiert, ist also so formiert, dass der Aspekt der zeigenden Handlung in der Verbindung mit dem des Dramatischen steht. Und aufgrund dieser Verbindung gehören die Singularisierung und die Pluralisierung in der Tragödie zusammen: Die dramatische Handlung wird allein durch die singuläre Handlung des Sich-Zeigens und Redens gehandelt; die tragische Kunst wird erst dadurch konstituiert, dass das Dramatische in dessen sich-zeigender und redender Singularisierung durchgeführt wird. Die dramatisch Handelnden – nicht schon die ›dramatischen Personen‹, die dramatis personae – führen ihre Handlung in der Singularisierung aus. Die Tragödie basiert auf diesem redenden Zeigen des Dramatischen, auf dieser Vereinzelung und Vereinsamung des dramatisch Handelnden, der sich zeigt und redet. Die tragische Kunst ist die Kunst, zu zeigen, dass sich das dramatische Handeln wesentlich vereinzelt und vereinsamt vollzieht, dass es sich von dessen vereinzelter und vereinsamter, überhaupt singularisierter, in gewissem Sinne in sich geschlossener Position her vollzieht. Dass das Drama gehandelt wird, fordert eine singuläre Position und also überhaupt eine Positionierung, die auch eine grundsätzliche Perspektivierung der Handlung impliziert. Das tragische Handeln beruht auf solcher singulären Positionierung und die tragische Kunst besteht darin, diese Positionierung der dramatischen Handlung zu zeigen. Umgekehrt muss man aber darauf achten, dass diese Singularisierung der Handlung(sposition) in der Tragödie deshalb notwendigerweise mit ihrer Pluralisierung einhergeht, weil sie eine Singularisierung der dramatischen Handlung ist. Dies bedeutet, dass die Tragödie zuerst den Handelnden in seiner Teilhabe an den ›objektiv‹ verlaufenden Geschehnissen zeigt, deren Ablauf andere Handelnde, zumindest aber andere Teilnehmer oder Mitläufer voraussetzt. Die Tragödie zeigt mehrere Handelnde oder Mitläufer. Dies impliziert aber weiterhin: Die Tragödie zeigt die singuläre Positionierung und Perspektivierung des Handelnden, indem sie seine Perspektive den anderen Perspektiven der anderen Handelnden, die ihrerseits singulär positioniert sind, gegenüberstellt, indem sie sie also vor ihnen ausstellt und aussetzt. Die Singularität setzt nämlich eine Aussetzung vor der Pluralität voraus. Die Rede des dramatisch Handelnden setzt wesentlich eine Begegnung seiner Perspektive mit anderen, eine Pluralität der Perspektiven voraus, obwohl diese Begegnung bzw. Pluralität eher ein Aneinandervorbeigehen der verschiedenen Perspektiven ist als eine angemessene, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringende ›Kommunikation‹. Der dramatisch Handelnde redet von seinem Ort des
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Aussprechens her. Die tragische Kunst fängt damit an, dass der Handelnde von einem Aussprache-Ort her in der Relation mit den anderen auftritt, dass er sich an einem »Punkt der Aussprache«23 positioniert, dessen Funktion auch unverändert bleibt oder umso auffälliger wird, wenn der Handelnde schweigt. Seine Redehandlung führt nämlich zwar den logos aus, aber diese Ausführung ist nicht dramatisch kontinuierlich, sie reduziert sich nicht auf das dramatische Kontinuum; die Ausführung der dramatischen Handlung, des dramatischen logos vollzieht sich eher in einer diskontinuierlichen Begegnung oder Pluralität, also nicht nur im logos, sondern notwendigerweise quer durch den logos, im dialogos, im Dialog. Die Tragödie zeigt die Handlung, indem sie die verschiedenen Handelnden zeigt. Das Zeigen der singulären Handlung setzt das Zeigen der Pluralität der Handelnden voraus. Aristoteles verwendet selbst den Plural, wenn er über die Handelnden spricht, die die tragische Nachahmung vollführen: »Da Handelnde (prattontes) die Nachahmung vollführen, ist notwendigerweise die Inszenierung der erste Teil der Tragödie […]. Nun geht es um Nachahmung von Handlung, und es wird von Handelnden (prattonton) gehandelt« (1449b31-33, 37-38). Die Tragödie, die definitorisch darin besteht, die dramatische Handlung, den dramatischen logos zu zeigen, zeigt dies notwendigerweise durch den Dialog. Der Dialog macht eine Außendimension aus, in der die dramatische Handlung, die sich in sich geschlossen vollendet, in ihrer Äußerlichkeit sich geöffnet vollendet. Der Dialog vollendet die Tragödie dadurch, dass sie sich durch die dialogische Exteriorisierung mit sich selbst entzweit. Die dialogische Exteriorisierung der dramatischen Handlung in die szenische, ein Außer-sich-Geraten der dramatischen Handlung in der letzteren, ist das Definiens und das Unterscheidungsmerkmal der Tragödie: Diese wird nämlich ausgeführt durch die »Nachahmung von Handelnden (dronton) und nicht durch [den episch-narrativen] Bericht« (1449b26; ich hebe die Plural-Endung hervor, die die Begegnung und Entgegnung von Angesicht zu Angesicht auf der Bühne impliziert). Dies ist die imperative Bestimmung der Tragödie an einer Anfangsstelle des aristotelischen Textes, die in einer unauflöslichen Spannung mit jenen folgenden Ausführungen, die die Eigenschaften der dramatisch-narrativen Vollkommenheit als den »wichtigsten Teil (megiston)« der Tragödie darstellen, einen Raum eröffnet, in dem sich die Tragödie definiert. Aristoteles hat aber die Dimension der Singularität, der Pluralität, der Dialogizität der Tragödie durchaus nicht explizit, geschweige denn gesondert behandelt. Er lässt vielmehr den logos den dialogos wenn schon nicht einfach ersetzen,
23 Nancy, Scène, S. 72.
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so doch beinhalten. Spielt er damit die Dimension des Dialogs herunter und verheimlicht er sie? Er hat tatsächlich in der Poetik niemals das Wort dialogos verwendet. Dies bedeutet aber nicht, dass er den Dialog aus der Poetik als ein überflüssiges Element ausschließen wollte, sondern er scheint den logos in der Weise zu verwenden, dass der logos den dialogos umfasst. Nehmen wir Beispiele. Erstens bezeichnet er die Sokratischen Dialoge als »Sokratikoi logoi« (1447b11). Das zweite Beispiel ist aber von entscheidender Bedeutung: Als er jene Erneuerungen nennt, die die Form der Tragödie zur Vollendung gebracht haben sollen, schreibt er, dass »Aischylos […] als erster die Zahl der Schauspieler von einem auf zwei gebracht, den Anteil des Chors verringert und den Dialog (ton logon) zur Hauptsache (protagonistein) gemacht [hat]« (1449a16–18). Hans-Thies Lehmann hat diese Übersetzung kritisch als »Dialogisierung« des logos bezeichnet,24 um seinerseits die angenommene Übermacht oder Priorität desjenigen Dialogs in der Theaterpraxis zu entkräften, der in seinen Augen den epischmythisch-dramatischen Handlungsablauf ins Zentrum der Tragödie bringen soll. Aber der Zusammenhang, in dem hier das Wort logos erscheint, lässt diese verengende Übersetzung durchaus begründet erscheinen: Die Rede von der Vermehrung der Anzahl des Schauspielers auf zwei, also von der Einführung des zweiten Schauspielers in die Bühnenpraxis ist – und das dürfte unumstritten sein – ein Hinweis darauf, wodurch in der Tragödie der logos, der hier ausdrücklich die Sprache im Gegenzug zum musikalischen Chor bezeichnet, »zur Hauptsache« gemacht werden kann: durch die Aufführung des Dialogs zwischen zwei Handelnden oder Sprechenden, der aufgrund der Einführung des zweiten Schauspielers erst möglich geworden ist.25 Der dialogos ist die Basis dafür, dass der logos zur Hauptsache der Tragödie gemacht worden ist. Das Zur-HauptsacheGewordensein des logos setzt also voraus, dass die Tragödie die Kunst ist, die dramatische Handlung zu zeigen, d.h. das Drama in der singularisierten wie pluralisierten Positionierung und Perspektivierung, also im Dialog zu zeigen, – dass die Tragödie die Kunst des Dialogs ist. Der zur Hauptsache der Tragödie gewordene logos ist der dialogos.26
24 Lehmann, Theater und Mythos, S. 44 ff. Tatsächlich hätte man den logos von seinem semantischen Umfang her als ›Sprache‹ übersetzen können. 25 Aufgrund dieser einfachen und nicht zu bestreitbaren Folgerung haben viele tatsächlich den logos als Dialog übersetzt: Gudeman (Aristoteles, Peri poiētikēs, S. 137), Else (Aristotle’s Poetics: the Argument, S. 164), Lallo/Dupont-Roc (Aristoteles, La poétique, S. 45) und Fuhrmann (Aristoteles, Poetik. Griechisch/Deutsch, S. 15). 26 Der Satz, dass das Drama an den Dialog gebunden ist, ist wahr. Aber seine Bedeutung lässt sich nicht, wie üblicherweise angenommen wird, darauf beschränken, dass das
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Allerdings hat Aristoteles dieses Element des dia- im logos, das dia-, das ›Querdurch‹ des logos, die Zirkulations-, Kommunikations- und Durchführungsweise des logos der Tragödie, nicht isoliert, getrennt oder besonders betont. Denn, so haben wir gesehen, seine Poetik zur tragischen Kunst ist so konzipiert, dass ihre Darstellung einer Doppelzweckmäßigkeit der Tragödie gerecht werden kann. Dies ist umso mehr nötig, als die Nicht-Betonung des performativen diades logos seine Vorsichtsmaßnahme gegenüber jener theatrokratischen Verselbständigung der Aufführungsdimension darstellt, aufgrund deren Platon das ganze Theater aus der Polis verbannen wollte. Aristoteles hat aber diese Dimension in die doppelte Teleologie der Tragödie als ihren Rettungsweg eingeschrieben. So gewiss der logos durch den dialogos »zur Hauptsache« geworden ist, so wenig ist es aus seiner Sicht angemessen, die Dimension der Wirkung der Aufführung des logos, also des Dialogs zwischen dem Protagonisten und dem Deuteragonisten, zwischen dem ersten und dem zweiten Schauspieler, aus der innerdramatischen Handlungsvollkommenheit als etwas Selbständiges herauszuheben. 27 Jedoch hat Aristoteles, indem er einen Raum der begrifflichen Ambiguität eröffnet, die dialogische Aufführung, die sich wesentlich von dem Bericht als der epischen Vortragsweise unterscheidet und die sich auf die eigentliche Dimension des Schauspielerischen bezieht, in das Zentrum der Darstellungsweise der Tragödie gerückt. Der Dialog ist, insofern die Handlung und der Handelnde nach der tragischen Zweckmäßigkeit in sich zwiespältig sind, die tragische Vollzugsweise der Handlung. Dies ist impliziert in der Ambiguität des logos, in einer Nicht-Gleichheit im logos der Tragödie zwischen dem logos und dem dia- des
Drama im kooperativen Zusammenhang mit dem Dialog auf die Konsolidierung einer narrativ-mythischen Macht hinauslaufen würde; der Satz ist darüber hinaus so zu deuten, dass die Dramatisierung – auch im uns vertrauten Sinne – eine Singularisierung und zugleich Pluralisierung impliziert. Denn die Dramatisierung bedeutet die Sonderung einer Handlung und die Konzentration auf diese, also die Singularisierung und die Perspektivierung einer Handlung, wozu es eines Trägers dieser Handlung, eines Handelnden bedarf, der vereinzelt und hervorgehoben diese Handlung vollzieht, und anderer Mitläufer, die zu dieser Vereinzelung verhelfen, indem sie mit ihren eigenen Perspektiven die Handlung dialogisieren. Zum Dialog als Medium der Singularisierung und Perspektivierung und als Gattungsmerkmal der Tragödie vgl. Nancy/ Lacoue-Labarthe, Scène, S. 70 f., 84 und 90. 27 Daher ist die Gedankenführung (dianoia) der Tragödie, die sich zumeist in der Form des Dialogs vollzieht, in der Tabelle der Teile der Tragödie nur der dritte und sei »eher ein Teil jener Disziplin«, der Rhetorik nämlich (1456a35), die darin von der Poetik zu unterscheiden ist, dass sie wesentlich eine bestimmte Wirkung beabsichtigt.
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logos. Eine Ambiguität, eine Nicht-Gleichheit des logos mit sich selbst konstituiert die Tragödie. 7.1.3 Angeborene Fremdheit der Tragödie Eine Nicht-Gleichheit des (dia-)logos mit sich selbst, eine innerliche Differenz, eine innerliche Fremdheit innerhalb des logos macht den Raum der Tragödie aus. Wenn man sich aber die Entwicklungsgeschichte der Tragödie anschaut, erkennt man, dass der (dia-)logos als Definiens der Tragödie selbst ein fremdes Element der Tragödie ist. Die Genese der Tragödie ist nämlich eine Heterogenese, ihre Geburt ergibt sich aus einem Fremdwerden – einem Fremdwerden gegenüber dem Ursprung der Tragödie. Aristoteles erläutert diese Entwicklung so: Der satyrartige Chortanzgesang oder der Dithyrambos (chorische Hymne zu Dionysos) ist der Ursprung oder der dynamische Zustand der Tragödie. Dieser ursprüngliche Zustand der Tragödie ist aber nicht nur ein früherer und keimhafter Zustand der Tragödie, sondern etwas tatsächlich anderes, ja fast Gegensätzliches gegenüber der Tragödie. Die »Größe« (megethos; 1449a19), zu der die Tragödie gelangte, als sie »ihre eigentliche Natur verwirklicht hatte«, steht nämlich im schroffen Gegensatz zum Satyrhaften als ihrem Ursprung: Nicht nur, dass sich die zusammenhängendere Geschichte des Dramas der Tragödie »aus kleinen Geschichten« (ek mikron mython; 1449a19) entwickelt hat; sondern die ›feierliche‹ Stimmung oder die Dignität der Tragödie ist aus Gegensätzlichem, also aus der »auf Lachen zielenden Redeweise« (1449a20) entstanden. Ihre »Anfänge« müssen sich in deren Gegensatz umstülpen, um zur vollendeten Form zu gelangen. Und schließlich geschieht dementsprechend eine Umwälzung im Hinblick auf das Versmaß von dem trochäischen Tetrameter, der der »satyrspielartigen« Dichtung und dem Tanz angemessen ist, zum jambischen Trimeter, der für den »gesprochene[n] Dialog« und die »Konversation des Alltags« (1449a23-25) geeignet ist. Die »Größe« der Tragödie im Bezug auf die Länge der Geschichte, den Ton des Inhalts und das Versmaß, eine Größe also, die sich insofern durch den dia-logos bestimmen ließe, als der Inhalt und die Form der Tragödie, ihre inhaltliche Geschichte und deren Versmaß, vom dia-logos bedingt sind, – diese dia-logische Größe ist also ein heterogenetisches Ergebnis aus ihrem Ursprung, dessen Zustand ›improvisatorisch‹, humoristisch und tänzerisch-musikalisch war. Das heißt, dass der dia-logos als das Definiens der ›Dignität‹ (megethos) der Tragödie nicht nur von dem Anfang und Ursprung, der dynamischen Quelle der Tragödie abweicht, sondern dass die Tragödie durch den dia-logos zu etwas ganz anderem als deren Ursprung geworden, bei der Geburt der Tragödie ein
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Sprung aus oder ein Bruch mit ihrer Kraftquelle geschehen ist.28 Die Tragödie ist heterogenetisch »hervorgegangen« (metabalein; 1449a20) aus dem Satyrhaften, aus dem, was sie im Ursprung war. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich das aristotelische Konzept der Dynamis-Entelechie-Entzweiung nicht einfach auf eine diachronische Entwicklung von Dynamis zu Entelechie beschränkt,29 wenn man an der Zweideutigkeit des aristotelischen Begriffes der Natur (physis), die sich wiederum dieser Dynamis-Entelechie-Entzweiung verdankt, festhält, kann man sagen, dass die Tragödie zu dem, was sie ist, zu ihrer ›Natur‹, geworden ist, indem aus dem, was sie ursprünglich war, aus ihrer ›Natur‹, etwas anderes geworden ist. In der Natur der Tragödie ist eine Fremdheit und Äußerlichkeit angelegt. Der dia-logos ist das heterogenetische Definiens der Tragödie, das gegenüber dem Ursprung, aus dem sie hervorgegangen ist, fremd und äußerlich bleibt. Die Tragödie ist eine Kunst, die von ihrer Geburt an fremd und äußerlich gegenüber dem Ursprung, also in gewissem Sinne gegenüber sich selbst ist. Die Tragödie ist sich selbst fremd und äußerlich durch den dia-logos. Die tragische Kunst beruht auf einer Selbst-Heterogenisierung und Auto-Extensivierung durch den Dia-log. Der Dia-log definiert insofern die Tragödie, zumindest die vollendete Form der Tragödie, wie sie Aristoteles meint, als er die Tragödie sich selbst fremd und äußerlich macht. Der Dia-log ist das Definiens der Tragödie, das ihre angeborene Fremdheit und Äußerlichkeit bestimmt und sogar verkörpert. Daher ist der Dialog etwas geblieben, dessen Zusammengehörigkeit mit der Tragödie häufig nur schwer oder gar nicht anerkannt wurde. Diese Skepsis gegenüber dem Dialog stammt von beiden Seiten der Kritik, von der ›klassizistischen‹ wie auch von der ›romantischen‹ Seite. Die eine Seite kritisiert den Dialog aufgrund seiner theatralischen Aufführungsdimension; die andere wirft ihm eine Tendenz zur Rationalisierung oder Logisierung vor. Beide stimmen aber in der Auffassung überein, dass der Dialog der Tragödie fremd und äußerlich ist.30
28 Dupont-Roc und Lallot haben im Kommentar zu Aristoteles’ Poetik (1449a21) diesen ambivalenten Moment des Bruchs hervorgehoben: »Aristote se serait représenté les choses ainsi: sortie du dithyrambe satyrique, la tragédie a dû, sur plusieurs points, rompre avec son origine«. (Aristoteles, La poétique, S. 173) In diesem Doppelverhältnis von Herkunft und Bruch bei der Geburt der Tragödie kann man eine Annäherung an dasjenige Verhältnis zwischen der Kraft und dem Vermögen sehen, das Christoph Menke konzipiert hat: Das Vermögen konstituiert sich aus der Kraft und gegen die Kraft (Menke, Kraft). 29 Aristoteles, Metaphysik, 1049b4-1051a3. 30 Die Frage nach der Autochthonie des Dialogs, die Frage also, ob der Dialog der Tragödie eigen oder fremd ist, gilt in der gegenwärtigen klassischen Philologie nicht ohne
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Diese diskrete gemeinsame Feindlichkeit gegen den Dialog geht aber wiederum davon aus, dass die Tragödie aus ihrem Eigenen und Inneren, aus ihrem Arché definiert werden müsse, dass sie eine Kunst sei, die durch ein Reinheitsgebot konstituiert sei, anhand dessen sich zwischen dem Innen und dem Außen, Eigenem und Fremdem, Angeborenem und Hinzugekommenem, Selbst und Anderem von Anfang an selbstverständlich unter- und entscheiden ließe. Für die klassizistische Position wäre dieses Selbst, dieser Arché der Tragödie, nach ihrer vereinseitigenden Aristoteles-Rezeption, der mythos, das ›logische‹ Handlungsgefüge, das allein das Tragische definieren können soll; und für die romantische Position wäre er der musikalisch-lyrische Chor, der als solcher den reinen Zustand der Tragödie bestimmt. Beiden Positionen ist aber das Verständnis der Tragödie als einer Kunst der angeborenen Fremdheit und Äußerlichkeit versperrt, weil sie von der Reinheit und Eigenheit des Archés der Tragödie ausgehen, den Dialog aus zweifachem Grund ausschließen und entweder dem Logischen oder dem Chorischen, dem Sprachlichen oder dem Musikalischen, dem Epischen oder dem Lyrischen Priorität geben. Auch und besonders beim jungen Nietzsche stehen jene Ent- und Unterscheidungen selbst auf dem Spiel. Es geht um eine angeborene Fremdheit, eine apriorische Äußerlichkeit der Tragödie. Dies ist so, allerdings aus einem spezifischen Interesse: Bei Nietzsches Überlegung wird die geschichtsphilosophische Stellung der Tragödie im Hinblick auf die Modernität – nach Hegel – in einem unvergleichlich gesteigerten Grade zum Thema – nämlich im Hinblick auf die Kultur der Moderne, auf die Frage, wie sich die Kultur in der Moderne noch einmal einrichten lässt. Seine Überlegungen beziehen sich also auf die Frage nach der Fähigkeit der Tragödie, Kultur zu bilden – Fähigkeit der Tragödie, die in den Augen des jungen Autors wiederum von der Frage der Eigenheit und Fremdheit entscheidend abzuhängen schien. Der junge Nietzsche hielt an der Fähigkeit der Tragödie zur Wiederholung der Kultur in der Moderne fest, indem er an die Wiederbelebung des Inneren, Eigenen und Reinen der Tragödie glaubte. Seine veröffentlichten und unveröffentlichten Texte im Umfeld der GT weisen aber durch ihre Vielschichtigkeit und Vielgestaltigkeit darauf hin, dass jene Ent- und Unterscheidungen bei der Frage der tragischen Kunst in Frage gestellt werden, insofern diese für eine Neugründung der modernen Kultur Grundlage oder zumindest Anweisung zur Grundlage bieten sollte. Denn die Kunst der Tragödie hat sich, um sich als überhaupt eine Kunst zu errichten, in einer fremden Situation, in der Situation der Geschichte, in der Situation einer Nach-Kunst,
Grund als ein »Grundproblem« (Lesky, »Zur Entwicklung des Sprechverses in der Tragödie«, S. 90).
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selbst erprobt und dieses Selbsterproben zu ihrem eigenen Geschäft gemacht. Die tragische Kunst als eine zweite Kunst nach der Kunst hat sich in eine ständige Schwebe begeben, in eine ständige Entwicklung, in der der Ursprung und das Ziel, die Geburt und der Tod selbst in einer neuen Konstellation herausgefordert werden. Im Folgenden werde ich darstellen, wie sich die Tragödie in Nietzsches Überlegungen auf eine besondere Art der Geschichtlichkeit gründet, wie sie damit eine angeborene Fremdheit und Äußerlichkeit als ihre apriorische Grundlage ausweist, die den eigenartigen Raum der Tragödie ausmacht, wie sich darin die tragischen Dispositive wie Chor und Dialog und die tragischen Begriffe wie Handlung und Schicksal miteinander konstellieren und, schließlich, wie die Tragödie als die erste Kunst, die sich als Kunst einrichtet, eine Kultur, eine Welt erschließt, die sich modern nennen ließe oder zumindest den Keim der modernen Kultur oder Weltlichkeit zeigt, indem sich darin eine Teilung zwischen Handeln und Zuschauen vollzieht. 7.1.4 »Ursprung und Ziel der Tragödie« Der Titel eines Teilmanuskripts für die GT fasst dasjenige zusammen, worauf die Schrift abzielt: »Ursprung und Ziel der Tragödie« (KSA 7, 167). Es ist bekannt, dass Nietzsche in seiner Untersuchung über die antike Tragödie behauptet, dass die Tragödie aus dem Chor geboren wurde. Der Chor ist nämlich der Ursprung und die Tragödie das Ziel. Betrachtet man aber dieses von Nietzsche behauptete archéologisch-teleologische Verhältnis der Tragödie ein wenig näher, kann man zwei Thesen herausstellen, die zwar zueinander im Widerspruch stehen, aber zusammen eine eigenartige Dimension der Tragödie eröffnen. Denn in Nietzsches Darstellung richtet sich das Augenmerk nicht nur auf den Ursprung und das Ziel der Tragödie, sondern die Tragödie definiert sich dabei zweimal – als Ursprung und als Ziel. Eine doppelte These macht die Konflikt-Struktur der Tragödie aus. 1) Die These in Bezug auf den Ursprung der Tragödie: Die These lautet nicht nur, dass die Tragödie aus dem Chor entstanden war – dies ist seit der Antike ein Topos der klassischen Philologie. Dass der Chor Ursprung der Tragödie ist, bestimmt sich nämlich bei Nietzsche in der Weise näher, dass der Chor dasjenige ist, worin das reine Potenzial der Entstehung der Tragödie noch nicht entwickelt, noch eingewickelt ist. Dass der Chor der Ursprung der Tragödie ist, heißt also, dass er ihre »Ursache« ist – die ursprünglich-ursächliche Sache, das »Wesen der Tragödie« (95) – nicht bloß also eine primitive Gestalt oder Vorstufe der Tragödie. Das heißt aber schließlich, dass die reine Form der Tragödie nichts anderes als der Chor ist, dass die Tragödie allein als Chor authentisch das ist, was sie ist.
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Die Tragödie ist nichts anderes als der »Chor an sich« (54). Das Eigene der Tragödie ist der Chor. Die These besagt nicht bloß, dass aus dem Chor die Tragödie geboren ist, sondern – zugespitzt formuliert – dass die vorgeburtliche, nichtgeborene Tragödie die reinste ist. In einer pessimistischen Redeweise, die auch der junge Nietzsche herangezogen hat, könnte man sagen, dass das Beste für die Tragödie gänzlich unerreichbar ist: nicht geboren zu sein. 2) Die These in Bezug auf das Ziel der Tragödie: Aus dem Potenzial des (reinen) Chors wird eine entwickelte Bühnenwelt produziert, die das Ziel der Tragödie oder die Tragödie als Ziel ist. Das Ziel wird nur insofern erreicht, als der Chor sein Potenzial szenisch verwirklicht und eine tragische Art des Mythos produziert. Dadurch aber, dass der Chor sein Potenzial entfaltet, wird er relativiert: Der Chor wird aus dem Ursprung der Tragödie dadurch zu einem bloßen Teil derselben (neben dem des Schauspielers), dass das Ziel erreicht wird. Mit der Erreichung des Ziels bildet sich ein »Dualismus« zwischen der Orchestra und der Szene. Die Entfaltung des Potenzials des Chors hängt mit seiner Relativierung, mit einer Entwesung des ›Wesens‹ der Tragödie zusammen. Dieser Zusammenhang, in dem der Verfallsprozess des Chors und damit der Tragödie seinen Lauf nimmt, macht gerade die Entwicklungsgeschichte der Tragödie aus: »Der einmal geschaffene Gegensatz zwischen Chor und Einzelvirtuos[: Schauspieler, D.J.] musste sich immer mehr verschärfen; in diesem Prozess liegt die Geschichte der Tragödie«.31 Der Verfallsprozess der Tragödie tritt gerade in dem Augenblick in Gang, wo das Ziel erreicht wird. Wir können aus den beiden Thesen, die nicht bloß die Tatbestände, sondern die Natur der Tragödie von ihrem Anfang und ihrem Ende her zusammenfassen, folgende Konsequenzen ziehen: 1) Es besteht bei der Geburt der Tragödie zwischen dem Ursprung und dem Ziel, zwischen dem Wesen und seiner Äußerung, zwischen dem Potenzial und der Verwirklichung ein hochgradig gespanntes Verhältnis: Das Ziel muss zwar erreicht werden – es kann aber nur erreicht werden, indem der Ursprung erschöpft wird; die Tragödie kann ihr Wesen nur dann verwirklichen, wenn sie sich ihres eigenen Wesens entäußert, wenn sie also ›außer sich‹ wird, wenn sie sich ihrer selbst entfremdet und veräußerlicht. Eine Äußerlichkeit, ein Fremdwerden, das Werden eines fremden Elements aus sich ist für die Tragödie wesentlich. Eine Heterogenisierung, die für die Tragödie den Tod des Eigenen im Fremdwerden, des Inneren im Äußerlichwerden bedeutet, ist für sie konstitutiv. Das Ziel der Tragödie kann dann erreicht werden, wenn ihr eigener Ursprung abstirbt. Nach den beiden Thesen gedacht, gibt es zwischen Eigenem und Fremdem
31 Nietzsche, Philologica, S. 43.
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der Tragödie nicht ein einfaches Innen-Außen-Verhältnis. Die Frage, was in der Tragödie das eigene und was in ihr das fremde Element ist – diese Frage, die das Problembewusstsein des jungen Nietzsche noch bestimmt hat und deren kulturdiagnostisches Gewicht ihn die Hoffnung auf die Wagnersche Oper setzen ließ, geht von einem solchen undialektischen Innen-Außen-Verhältnis aus, das jene beiden Thesen bezüglich des Ziels und des Ursprungs der Tragödie gar nicht berücksichtigen kann; jene Thesen also, die, zusammengestellt, besagen, dass die Heterogenität für die Geburt der Tragödie immanent und notwendig ist. 2) Dieses innerlich-dialektische Verhältnis von Ursprung und Ziel ist nicht einfach ein Konkurrenzverhältnis; es ist vielmehr ein Verhältnis des innerlichen Widerspruchs, der immanenten Unlösbarkeit, es ist ein »unlösbarer Conflict« innerhalb der Tragödie. Dieser ist der Struktur nach, der physis nach in der Tragödie angelegt. Er ist innertragisch. Er ist ein die Tragödie organisierendes Prinzip. Es wäre für das strukturelle Verständnis der Tragödie nicht hinreichend, zu sagen, dass die Tragödie von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod durchaus von diesem Konflikt bestimmt sei. Vielmehr ist dieser unlösbare Konflikt selbst als ein tödlicher in der Tragödie angelegt. Nietzsches These, dass die Tragödie »in Folge eines unlösbaren Conflictes, also tragisch« (75) gestorben sei, ist um einen Schritt zurück zu ergänzen: Die Tragödie ist in Folge eines unlösbaren Konflikts, also tragisch geboren. Dass Nietzsche in der Geburt der Tragödie, wie bekannt, Euripides als den Träger und Beschleuniger jenes Konflikts innerhalb der Tragödie bis zu ihrem Tod in den Vordergrund stellt (76, 95), hängt damit zusammen, dass er den Umstand nicht genug berücksichtigt, dass die Tragödie sich von ihrer Geburt an diesem Konflikt verdankt – einen Umstand, an dem er in anderen Texten festzuhalten scheint. 3) Die Tragödie wird in dem Moment geboren, da der Chor als Ursprung unvermeidlich den Weg der Beschränkung, Relativierung, Entsakralisierung, des Verfalls einschlägt. Dieser Weg ist aber schon bei Aischylos bereitet, wie sich in verschiedenen Texten im Vorfeld der GT zeigt. Dies hat Nietzsche in der Endfassung eher verheimlicht und stattdessen Sophokles, den Nachfolger des Aischylos, so präsentiert, als hätte er als erster den Prozess der Relativierung des Chors überhaupt eingeführt (95). Durch dieses Manöver entsteht der Eindruck, dass Aischylos der Vorwurf dieser historischen Verantwortlichkeit erspart bliebe und dass bei ihm noch ein reiner, unvermischter und zugleich vollendeter Zustand der Tragödie existiert habe. Die tragische Welt ist aber in Wahrheit von Anfang an durch das heterogene Element verunreinigt, der religiöse Ursprung
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der Tragödie ist von dem Augenblick der Tragödiengeburt an säkularisiert. 32 Nietzsche müsste mithin im Laufe seiner Untersuchung zu der These gelangt sein, dass das Ziel der Tragödie nur durch den Verrat an ihrem Wesen zustande kommen kann, weil er davon ausgeht, dass es die ursprüngliche und wesentliche Form der Tragödie gab. Der arché der Tragödie wird im telos derselben verraten. 4) Und die beiden These besagen im Bezug auf die Existenz der Tragödie als Kunst nicht weniger Wichtiges: Die Tragödie ist zum einen als reiner Ursprung noch nicht Kunst; denn die Kunst kann nur dann mit vollem Recht eine sein, wenn sie in gewissem Sinn von ihrem – wie auch immer gearteten, z.B. religiösen – Ursprung entbunden ist und als Kunst sich einrichtet. Die Tragödie ist zum anderen, wenn sie als Ziel überhaupt erreicht ist, nicht mehr (reine) Kunst; denn mit der Geburt der Tragödie gerät der Chor als das ursprüngliche Element der tragischen Kunst in dessen Verfallsprozess. Die Tragödie ist also, so könnte man formulieren, in der Weise eine Kunst, dass sie niemals Kunst gewesen ist: Sie ist entweder von ihrem vorkünstlerischen und in diesem Sinn heterogenen Ursprung abhängig und noch keine autonome Kunst, oder sie verliert ihre Ursprünglichkeit und Reinheit und setzt sich dem Übergreifen noch eines anderen heterogenen Bereichs, wie wir sehen werden, des ›Logischen‹ aus. Eine Abhängigkeit beeinträchtigt die Autonomie und eine Aussetzung die Reinheit der tragischen Kunst. Dies bedeutet aber auch, dass die Tragödie nur dann das ist, was sie ist, wenn sie sich ihrer Autonomie und Reinheit entäußert. Der junge Nietzsche schreckt aber vor der Tatsache zurück, dass die Tragödie als Kunst ihre Ursprünglichkeit und Reinheit einbüßen und einer konfliktualen Unvereinbarkeit von Ursprung und Ziel verfallen muss, um überhaupt als Kunst zu existieren, um das Dasein als Kunst, ein Kunstdasein zu erhalten. Er vermeidet das Eingeständnis einer konfliktualen Existenz der Tragödie. Er will sich unter dem Einfluss und der Autorität Wagners eher an die Reinheit, Unvermischtheit und Echtheit der Tragödie als eines »Musikdramas« halten, und dieser Wille gibt ihm Anlass zu dem Versuch, den »dionysischen Ursprung« der Tragödie sehnsüchtig wieder in den Blick zu bekommen. Dem wagnerischen Nietzsche ist der Blick versperrt auf ein entscheidendes Moment für das Zustandekommen der Tragödie, ein Zwischen-
32 »Wahrscheinlich entstand das Drama als öffentliches Mysterium, als eine Reaktion gegen die Geheimnisthuerei der Priester, zum Schutze der Demokratie seitens der Obergewalt. Ich denke, die Tyrannen führen diese ›öffentliche Mysterien‹ ein, aus Opposition gegen das Priesterthum der Mysterien«; (KSA 7, 31) und: »Aeschylus ist, wie alle Dichter, unreligiös« (KSA 8, 130), so sagt Nietzsche im Anschluss an Aristoteles.
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Moment, ein Moment der Schwelle, diesseits derer die Tragödie das Potenzial des reinen Chors bliebe und über welche sie sich doch hinwegsetzen muss, um geboren zu werden. Dieses Schwellenmoment ist aber das wesentliche für die Tragödie als Kunst. Dieses Moment des Übergangs ermöglicht nicht nur die Tragödie als Ziel, sondern der Chor wird erst dann als Ursprung der Tragödie anerkannt sein, wenn er einen tragischen Raum, eine Bühnenwelt, über dieses Moment hinaus eröffnet. Der Chor kann nämlich die ursprüngliche Tragödie sein, indem er dieses Übergangs fähig ist, und das Drama kann die eigentliche Tragödie sein, indem ihm dieser Übergang zugrunde liegt. Die Tragödie ist nur dann, was sie ist, wenn sie in sich dieses Moment des Noch-Nicht und NichtMehr der Kunst enthält, sich dem Moment des Übergangs aussetzt, sich in diesem Übergang suspendiert und extensiviert, der den eigenartigen Raum der Tragödie ausmacht. 7.1.5 Vollendungs- als Verfallsgeschichte: Mythos, Geschichte und Tragödie Die Tragödie ist dann eine Kunst, wenn sie ihre Ursprünglichkeit und Reinheit einbüßt und sich von Geburt an dem Fremden, dem Fremdartigen aussetzt. Aus dem Verlust von wessen Reinheit wird die Tragödie geboren? Aus der Reinheit des Chors muss die Tragödie als Geborene, als Kunst sich entpuppen. Es ist also zunächst klar: Die Geburtsbedingung der Tragödie ist der Verrat ihres Ursprungs, ihres ›Wesens‹. Eine verräterische Heterogenese macht den Anfang der Geschichte der Tragödie aus. Dies ist aber nur die eine Hälfte der Geschichte der Tragödie. Eine andere Frage stellt sich nämlich, die an die erste notwendig anschließt und die sich auf die andere, entgegengesetzte Hälfte, die andere, entgegengesetzte Richtung der Geschichte der Tragödie, auf das Ziel der Tragödie, bezieht: Was ist das Ziel der Tragödie? Das ist laut Nietzsche der tragische Mythos: Das Ziel der Tragödie ist die Produzierung des tragischen Mythos, der tragischen Art des Mythos. Und Nietzsche verleiht dem Befund Nachdruck, dass diese Produktion eine zweite, eine zweit- oder wiedermalige Produktion des Mythos nach dem ersten, nach dem anfänglichen Mythos, Mythos des Anfangs, also nach dem homerisch-epischen ist. Und diese Produktion, diese Art der Produktion ist besonders insofern beachtenswert, als ihre Betrachtung dazu beitragen soll, die moderne Zeit – eine Epoche, die am Mythos als Grundlage oder Horizont der Kultur arm, ja leer ist, des Glaubens an den Mythos entbehrt – dazu fähig zu machen, den (Glauben an den) Mythos wieder, also zum zweiten Mal, herzustellen. Dies ist der mögliche Grund dafür, dass beim jungen Nietzsche nicht das Epos,
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sondern die Tragödie, und zwar eine Geburt der Tragödie ins Zentrum der Betrachtung gerückt wird: Der episch-homerische Mythos ist nur einmal, nur am Anfang möglich, aber nie noch einmal, wohingegen der tragische wesentlich ein wiederhergestellter Mythos ist und damit die tragische Art des Mythos eine Art, vielleicht die Art des wiederherstellbaren Mythos, der ›Wiedergeburt‹ des Mythos ist. So weit ist es klar. Es wird aber alles schwer aufzufassen, wenn man jene Frage, die sich auf die zweite Hälfte der Geschichte der Tragödie bezieht, näher präzisiert: Wie und wodurch ist der tragische Mythos als das Ziel der Tragödie so zu verstehen, dass er für die Tragödie von vornherein fremd ist, weil der Ursprung der Tragödie beim Erreichen ihres Ziels heterogen verraten wird? Worin setzt sich der tragische Mythos dem Fremdartigen, einem angeborenerweise Fremdartigen aus? Die Antwort auf diese Frage ist aber deshalb schwierig, weil für den Autor der GT die angeborene, also aus dem Chor geborene Fremdartigkeit insofern gar nicht auf der Tagesordnung steht, als er sich dem Willen fügt, den Archetypus der Tragödie in den Blick zu bekommen, der der Verunreinigung durch die Fremdartigkeit noch nicht verfällt. Aus der Perspektive dieses Willens unterscheidet er die Tragödie in zwei Arten: die eine, die aufgrund der Geburt aus dem dionysischen Ursprung an der Reinheit und Ursprünglichkeit teilnimmt, und die andere, die durch den Eingriff des ›Logischen‹ die Gebundenheit an jenen Ursprung verloren hat. Dieses ›logische‹ Element heißt bekanntlich das »Sokratische«. So bildet sich das Schema des Gegensatzes von Dionysischem und Sokratischem, zwischen Innertragischem und Außer- oder Antitragischem, »zwischen der theoretischen und der tragischen Weltbetrachtung« (111; Herv. i.O.). Die Tragödie hat demnach durch den fremden Eingriff des sokratischtheoretischen Prinzips ihre dionysische (und dadurch auch ihre apollinische) Eigenheit verloren. Diese allzu klare Entgegensetzung zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Reinem und Unreinem verstellt aber den Blick auf die angeborene Fremdartigkeit, eine Angeborenheit der Fremdheit der Tragödie, die zwar als für diese fremd wahrgenommen wird, aber in die Tragödie im hier hervorzuhebenden Sinne von Anfang an eingeschrieben ist – auf die angeborene Fremdartigkeit des Dialogs in der Tragödie, wie im nächsten Abschnitt ausführlich erläutert wird. Und mit dieser Verblendung oder Verstellung des Blicks hängt noch eine Blindheit gegenüber jener besonderen Art von Geschichtlichkeit der Tragödie zusammen, die sich so formulieren lässt, dass die (Geburt der) Tragödie ihrer Natur nach zu spät gekommen ist – eine Geschichtlichkeit, in welcher sich jene Fremdartigkeit des Dialogs in der Tragödie verstehen lässt. Dieses Zu-spät-gekommenSein ist nämlich nicht bloß als ein historisch-philologischer Tatbestand der Tra-
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gödie zu verstehen; vielmehr ist es daran gebunden, dass die Tragödie wesentlich in ihrer Entwicklungsgeschichte zu denken ist.33 Das Zu-spät-Kommen ist die Naturanlage, die physis der Tragödie, die eine Aussetzung vor der Geschichte als ihre Bedingung ertragen muss. Die Geschichte und die Entwicklung, die Entwicklungsgeschichte ist für die Tragödie als (auch eine naive, wie Nietzsche betont) Kunst schädlich und tödlich. Das Zu-spät-Kommen ist jedoch zugleich, so könnte man sagen, die ›eigene‹ Art und Weise der Tragödie, ihre Reinheit und Ursprünglichkeit zu retten. Wer die Tragödie zu ihrer vollendeten Form gebracht hat, der hat dies in der Weise eines Zu-spät-Kommens, in der Weise des apriorischen Spät-Kommens getan. 34 Für die Konstitution des Körpers der Tragödie wird also ein geburtliches Element, das die Tragödie als Tragödie vollendet, der Dialog, a priori als spät gekommenes, als hinzugekommenes, als ein Zusatz zur noch reinen oder schon vollkommenen Tragödie, also als ein heterogener Zusatz, wahrgenommen. Das Zu-Spät ist eine apriorische Grenze der Gestaltung der Tragödie. Ein Geburtlich-zu-spät- oder Geburtlich-heterogen-Gekommenes ist der Tragödie eigen, die sich geschichtlich als Kunst einrichtet, obwohl sie selbst diese Geschichtlichkeit deshalb leugnen würde, weil die Geschichtlichkeit und die Kunst streng genommen miteinander unverträglich sind, weil nämlich eine Entwicklung der Kunst im Grunde undenkbar wäre.35 Die (griechische) Tragödie ist die geschichtliche Form der Kunst, die aber diese Geschichtlichkeit nicht anerkennt oder nur in der Weise anerkennt, dass sie von der Geschichtlichkeit als ihrem apriorischen Hintergrund ausgeht. Dass von der Geschichte der Kunst, hier: der Tragödie die Rede ist, bedeutet, dass die Tragödie als Tragödie in Auflösung oder Verfall übergeht, dass sie als solche ihrer Natur entweicht, dass sie
33 »Die Einheit ist von vorn herein der Tragödie nicht eigenthümlich als τελος: wohl aber liegt sie im Wege der Entwicklung, so daß sie gefunden werden mußte«. (KSA 7, 30) 34 Wer diese Vollendung vollzogen hat, ist für Nietzche nach wie vor Aischylos: »Aeschylus hat vergebens gelebt und gekämpft: er kam zu spät. Das ist das Tragische in der griechischen Geschichte: die grössten wie Demosthenes kommen zu spät, um das Volk herauszuheben. / Aeschylus verbürgt auch eine Höhe des griechischen Geistes, die mit ihm ausstirbt«. (KSA 8, 113) Im Vergleich zur Tragödie ist das (homerische) Epos, wie schon gesehen, seiner Natur nach immer schon gekommen. Das Epos ist nicht innergeschichtlich: es steht schlechthin am Anfang. 35 So versteht sich das strenge Nacheinanderstehen von Epos und Tragödie (und, seiner Auffassung nach, Philosophie) bei Lukàcs; ders., Die Theorie des Romans, S. 27 (»[H]ier kennt das Griechentum keine Übergänge«).
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sich als Kunst ihrer ›eigenen‹ Natur enteignet, dass sie sich einer Enteignung ihrer Natur aussetzen muss – um als Kunst zu bleiben. Der tragische Mythos als Ziel der Tragödie ist in diesem Zusammenhang zu verstehen: Die tragische Art des Mythos hängt wesentlich mit der Geschichte, mit der ›Historie‹, wie Nietzsche sagt, zusammen. Diese Art des Mythos ist eine entstandene oder die wieder entstandene. Dies heißt, dass sie inmitten der Geschichte entstanden ist, die aber ebenso wenig mit dem Mythos wie mit der Kunst vereinbar ist. Die Kunst, die dazu bestimmt ist, den tragischen Mythos zu produzieren, befindet sich nämlich »bereits völlig auf dem Wege«, auf dem der Mythos nicht mehr als ein »Jugendtraum«, sondern als eine »Jugendgeschichte« (74; Herv. i.O.) erkannt, also historisch relativiert, desillusioniert, entzaubert, entmythisiert, rationalisiert wird. Von der Aufklärung als der historischen Rationalität muss die Aufgabe der Produktion der tragischen Art des Mythos ausgehen. Der tragische Mythos muss also als das Ziel der Tragödie eine heterogenetische Produktion sein, wozu es einer Kunst bedarf, in der Geschichte den Mythos hervorzubringen, 36 einer Kunst, den »absterbenden Mythus« (ebd.) innergeschichtlich zu beleben. Wodurch ist aber die tragische, die wiederhergestellte, erneuerte Art des Mythos trotz der Unvereinbarkeit mit der Geschichte innergeschichtlich herzustellen? Der tragische Mythos muss, um ein Mythos zu sein, eine hybride Art des Mythos sein, die eine ihm fremde, ihn damit beeinträchtigende Dimension der Geschichte zwar in sich hinnimmt, aber als ein apriorisches Moment. Historie, Wissenschaft, Rationalität sind also eine Ausgangslage, Vorbedingung, ja Grundlage der Tragödie, eine ›Hälfte‹, die die Tragödie dergestalt ausmacht, dass der »Anpassung an die [Aufklärung aus der damaligen] Philosophie die Tragödie nicht nur ihr Ende, sondern auch ihren Anfang verdankt«.37 Um zwischen »Philosophie und Kunst« zu vermitteln, sei »ein Mittel […] die
36 Mit dem Register des ›Hervorbringens‹ gehört der tragische Mythos bei Nietzsche zur Tradition der Neuen Mythologie, für deren Konstitution sich Kunst, Religion und Philosophie eigenartig aufeinander beziehen müssen. »Wir haben keine Mythologie. Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen«; (Schlegel, »Rede über die Mythologie«, S. 312; Hervorh. von mir) Hegels Phänomenologie des Geistes ließe sich als ein Versuch lesen, das Projekt der Neuen Mythologie geschichtsphilosophisch in einer bestimmten Phasen zu lokalisieren: in der Phase der »Kunstreligion«, in der das ›Hervorbringen‹ dementsprechend zum Schlüsselwort des Kapitels »Kunstreligion« gemacht wird. 37 Schlaffer, Poesie und Wissen, S. 69.
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Geschichte« (KSA 7, 257). In der tragischen Art des Mythos muss also die Geschichtlichkeit von Anfang an der Tragödie eingeschrieben, ja ausgeprägt sein. Der Grund, weshalb die Geschichte der Vollendung der Tragödie zugleich ihre Verfallsgeschichte ist, ist die Geschichte. Die eigenartige Zeitlichkeit der Tragödie, also ihr Zu-spät-Kommen, ist aber die Art und Weise, in der die Tragödie sich gegen die Geschichte wehrt: Indem sie nämlich in der Geschichte apriorisch zu spät kommt oder – was dasselbe ist, weil die Vollendung der tragischen Kunst eine geöffnete ist – zu spät gekommen ist, indem sie also die Geschichte zu einer für sie innerlichen Dimension macht, indem damit die Entwicklungs- mit der Verfallsgeschichte der Tragödie zusammenhängt, entkommt der tragische Mythos dem Übergriff der schieren Geschichtlichkeit, so wie der Mensch seinen anthropologischen Unterschied zum Tier in solcher Historie findet, die sich einer Gegenmacht des Un- oder Überhistorischen verdankt. Dank dieser eigenartigen Geschichtlichkeit, die Nietzsche in den folgenden Jahren in seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung weiter entwickeln wird, kann die Tragödie im Zusammenfallen der Geburts- mit der Verfallsgeschichte eine Kunst sein. Die erste Hälfte der Geschichte der Tragödie, haben wir gesehen, bezieht sich auf jene Geburt oder Vollendung der Tragödie, die sich einer Heterogenese aus dem Ursprung verdankt, während sich die zweite derselben aufgrund einer Geschichtlichkeit der Tragödie bildet, durch welche ihre Vollendung mit ihrem Verfall zusammenfällt. »Die griechische Welt eine Blühte des Willens. Wo kamen die auflösenden Elemente her? Aus der Blüthe selbst.«38 7.1.6 Einheit des tragischen Raums durch die dialogische Hybridisierung Die zweite entgegengesetzte, aber – das kann man nun leicht erkennen – in gewissem Sinn wesentlich mit der ersten zusammenfallende Hälfte der Geschichte der Tragödie konnte also konkretisiert werden, indem man versucht, auf die Frage zu antworten: Wie ist der tragische Mythos als dasjenige Ziel der Tragödie zu verstehen, worin sich die Tragödie von Geburt an einem Fremdartigen aussetzt, um sich als Kunst einzurichten – einem angeborenerweise Fremdartigen, dem die geschichtliche Struktur des Zu-spät-Gekommenen der Tragödie zugrunde liegt, das also die vollendete, eine geöffnet vollendete Form der Tragödie ausprägt und damit das Erreichen ihrer Natur durch das Entkommen von derselben markiert? Dieses geburtlich Fremdartige der Tragödie ist der Dialog. Doch bevor
38 KSA 7, 73.
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ich auf den strukturellen Stellenwert des Dialogs in der Geschichte der Tragödie eingehe, müssen noch Vorüberlegungen vorausgeschickt werden: Dieser Frage nach der angeborenen Fremdheit in der Tragödie genügt aber keine Betrachtung, die die Tragödie in jenen historisch-philologisch festzustellenden Entwicklungsstadien verstehen will, die allmählich aufeinander gefolgt sein müssen, und die daher in der Entwicklung der Tragödie entweder zwischen Ursprünglichem und Hinzugekommenen, d.h. zwischen Eigenem und Fremdem, oder aber zwischen Primitivem und Vollkommenem, zwischen dem zu Bagatellisierenden und dem zu Würdigenden unterscheidet. Denn die historischphilologische Perspektive kann nicht jenen geschichtlichen Aspekt der Tragödie berücksichtigen, nach dem der Ursprung, die Vollendung und der Verfall der Tragödie drei Phasen der Tragödie sind, die sich nicht durch die bloße Abfolge, sei es auch mit teilweiser Überlagerung, sondern eben in der Weise spannungsund widerspruchsvoll aufeinander beziehen, dass sie ineinander verschwinden bzw. miteinander zusammenfallen: Der Ursprung der Tragödie gilt erst dann als ein solcher, wenn er sich als Potenzial in ihrem Ziel heterogen erschöpft; die Vollendung der Tragödie geht im Medium des von der Geburt an fremdartigen, damit ihre Natur beeinträchtigenden Elements mit ihrem Verfall einher. In einem intensivierten Sinn aber sind die drei Phasen der Tragödie ein und dieselbe: Von dem Ursprung der Tragödie kann genau in dem Maße die Rede sein, in dem sie sich im Zustand jener heterogenetischen Geburt befindet, die zu dem bzw. als der Tod der Tragödie bestimmt ist. Wie aus dieser Perspektive die Geburt der Tragödie ihre Vollendung ist, so ist aus derselben Perspektive der Tod der Tragödie ein Selbstmord. Der Tod der Tragödie ist in ihrer Geburt angelegt. Ihre Geburt verdankt sich einem strukturell früheren Tod. Der Tod der Tragödie geschieht also »durch Selbstmord, in Folge eines unlösbaren Conflictes« (75), der durch ein von der Geburt an in der Tragödie angelegtes Element hervorgebracht ist. Die eigentümliche Struktur des Todes (wie der Geburt) der Tragödie geht aber nicht, wie es naheliegt, in einem vollkommen selbstreferentiellen Zirkel auf, in dem die Tragödie in der vollständig geschlossenen Autogenese oder Autopoiese sowohl bei der Geburt wie auch beim Tod auf sich selbst beruhen würde. Das ist in Nietzsches Tragödienverständnis nicht der Fall. Vielmehr wird jener unlösbare Konflikt als die Ursache des Todes der Tragödie durch ein von Geburt an in der Tragödie angelegtes fremdes Element hervorgebracht. Die Spannung, die sich zwischen der Geburtlichkeit und der Fremdheit eines Elements bildet, eine Extension zwischen beiden bildet, ist dem innertragischen Konflikt eigen, der im zwiefachen und zwiespältigen Sinn unlösbar ist – unlösbar also zum einen deshalb, weil er für die Konstitution, für die konstitutive Verkörperung der Tragödie unerlässlich und notwendig ist; und un-
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lösbar zum anderen in dem Sinne, dass die Tragödie durch diesen Konflikt unvermeidlich untergeht, also tragisch stirbt. So formuliert Nietzsche den Tod der Tragödie in einer Metaebene oder in einer zweiten Potenz: Die Tragödie ist »durch Selbstmord, in Folge eines unlösbaren Conflictes, also tragisch« (ebd.; Hervorh. von mir) gestorben. Der Tod der Tragödie ist zwar eine Tragödie der Tragödie, eine selbstgewendete Tragödie. Diese tragische Selbstwendung der Tragödie ist ein Selbstmord – ein Selbstmord jedoch, dessen Selbstreferentialität insoweit nicht ganz geschlossen oder eher insoweit erst ganz geschlossen ist, als eine Heterogenität des Todes der Struktur nach, also von Geburt an, in der Tragödie angelegt ist, wie also eine extensive Spannung zwischen der Geburtlichkeit und der Fremdartigkeit (dem Tod wie der Geburt) der Tragödie eingeschrieben ist – eine Extension, in der die Tragödie als Kunst sich erst sichtbar macht, indem sie aufgrund dieser Extensivität sich selber zu spät kommt, indem sie sich in der Zeit des apriorischen Zu-spät-Kommens extensiviert und damit ihr Dasein und ihren Körper, ihre materielle Existenz und ihre ideelle Materialität erhält. Diese extensive Zeit und dieser intensive Raum der Selbstverspätung ist eigenartig, konstitutiv für und schuldig an der Tragödie. Und diese eigenartige Zeitlichkeit und Räumlichkeit, eine intensive Extensivität, die die geburtliche Fremdartigkeit für die Tragödie wesentlich macht, scheint der Grund für eine kuriose Beobachtung in der GT zu sein, nämlich für die Figur von Euripides als Träger des Selbstmordes der Tragödie und zugleich als Henker der Tragödie: Euripides erscheint aus der Sicht des jungen Nietzsche mal als die Figur, die selbst den »Todeskampf der Tragödie kämpfte« (76), die also dazu gelangt, »mit […] einem Selbstmorde seine Laufbahn zu schliessen« (82); mal aber dagegen als eine »frevelnde […]« Figur, unter deren »gewaltsamen Händen« die Tragödie »starb« (74). Diese Schwankung in der Beschreibung der Todesart der Tragödie beim auffälligsten Träger ihres Todes, Euripides, ist kein Hin-und-Her, vielmehr ergibt sie sich notwendig aus dem Umstand, dass der Tod der Tragödie – wie ihre Geburt – zwischen der Selbst- und der Fremdverantwortlichkeit nie eindeutig zuzuschreiben ist; dass ihr Tod sich vielmehr wie ihre Geburt, die Tragödie als Kunst, einzig in einem extensiven Zwischen oder in einer intensiven Überlagerung von Selbstheit und Fremdheit vollzieht. Euripides selbst ist also für Nietzsche eine tragische Figur, die dasjenige Tragische der Tragödie nachdrücklich zum Ausdruck gebracht hat, das bei Aischylos und bei Sophokles implizit geblieben war: Indem er bei sich selbst als einem tragischen Künstler die Tragödie zum Tod gebracht hat, hat er die Tragik ›direkt‹ und verkörpert dargestellt.39
39 Geulen, Das Ende der Kunst, S. 84 ff. hat zwar die Selbstreferentialität des Todes der Tragödie, die Tragödie der Tragödie, zu Recht hervorgehoben, Euripides aber einsei-
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Im Zusammenhang damit kann man das Element identifizieren, das für die Geburt ebenso wie für den Tod der Tragödie verantwortlich ist. Dieses Element oder, theaterpraktisch gesehen, dieses Dispositiv ist der Dialog, und Nietzsches Erörterungen über den Dialog zeigen dasselbe Schwanken, das er zeigte, als er die Figur des Euripides behandelte. Dieses Schwanken oder eher diese Entzweiung des Dialogs, die keine Unentschiedenheit im üblichen Sinne ist, ist wiederum zweierlei. Erstens ist sie ein Schwanken der Position des Dialogs in der Tragödie zwischen Naturwüchsigkeit und Fremdherkunft: Der Dialog als ein Element, das aus einem fremden Bereich, dem Bereich des Rechts, stammt, gilt als angeborene Form, die die Tragödie seit ihrer Geburt annimmt. Zweitens ist jenes Schwanken eine Entzweiung im Beitrag des Dialogs zur Geburt und zum Tod der Tragödie: Zur Geburt der Tragödie als Tragödie trägt dieselbe dialogische Form bei, durch welche gerade die Tragödie ihre Reinheit und Ursprünglichkeit verliert, was zu ihrem Tod führt. Und insgesamt ist die Entzweiung von Eigenheit und Fremdheit im Dialog, wie man sieht, mit der von Geburt und Tod der Tragödie untrennbar verschränkt. Dabei sind folgende Punkte zu beachten. 1) In Bezug auf die Herkunft des Dialogs herrscht eine Zweideutigkeit, die zu erläutern ist: Der Dialog ist zum einen im Großen und Ganzen deckungsgleich mit der vollendeten Form der Tragödie oder mit der Tragödie, die ihr Ziel erreicht hat, indem sie aus dem Chor geboren ist; jene Welt der dramatischen Bühne und des tragischen Mythos, die aus dem Chor geboren ist, ist nichts anderes als die Welt des Dialogs: »Jene Chorpartien […] sind […] der Mutterschooss des ganzen sogenannten Dialogs d.h. der gesammten Bühnenwelt, des eigentlichen Dramas« (62); Nietzsche notiert in einem Vorlesungsmanuskript: »Mit der Einführung des zweiten Schauspielers«, also der Basis des Dialogs, »war das Drama aus der lyrischen Tragödie geboren«;40 die Geburt der Tragödie geht mit der Entstehung der dialogischen Form einher; der Dialog ist die Geburts- oder Vollen-
tig nur als die Figur des Henkers stark gemacht, und auf diese Weise gelingt es nicht, den tragischen Zug der selbstgewendeten Tragödie konsequent unter die Lupe zu nehmen. Tragisch soll eine innige Verkopplung von Auto- und Heteronomie des Todes, eine Heterautonomie des Todes heißen. Dagegen wäre ein Euripides als eine bloße Henker-Figur nur grausam, nicht aber tragisch, und der Tod der Tragödie, die von einem solchen Euripides getötet wird, wäre ebenfalls nicht tragisch. Das »Grauenvolle« ist nach Aristoteles von der Tragödie gänzlich verschieden (Poetik, 1453b10). 40 »Einleitung in die Tragödie des Sophocles. 20 Vorlesungen«, S. 38; mit der »lyrischen Tragödie« meint Nietzsche den Chor in dessen reiner Form, also ohne das ›Drama‹, ohne den Zuschauer.
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dungsform und ein innerliches Element der Tragödie, ja ihr definitorisches Element. Zum anderen ist aber der Dialog das Element, das aus einem fremden Bereich, aus dem des Rechts, in die Tragödie hineingekommen ist41, und damit für die Tragödie ein fremder Körper, der den reinen und ursprünglichen Corpus der Tragödie beschränkt. Dieses Zugleich der einander entgegengesetzten Aspekte der Stellung des Dialogs beruht darauf, dass die Perspektive auf den Dialog notwendig zwiespältig sein muss, dass also der Dialog wesentlich von zwei Gesichtspunkten her betrachtet wird: Für die bereits geborene Tragödie, für die Tragödie als Ziel, ist der Dialog ein innerliches und geburtliches Element, das Element, das die Form der Tragödie definiert; für die noch nicht geborene Tragödie, für jene Tragödie als Ursprung, an der noch die angeblich rein musikalische Eigenheit bewahrt bliebe, ist dagegen der Dialog ein Fremdkörper, der die (lyrisch-musikalische) Tragödie verunreinigt. Dies ist kein Hin-und-Her zwischen zwei Gesichtspunkten, sondern zeigt offensichtlich eine grundlegende Paradoxie der Tragödie, eine Paradoxie der Gründung des tragischen Raums, in dem eine trennscharfe Unter- und Entscheidung zwischen der Eigenheit und Fremdheit, dem Selbst und dem Anderen, dem Angeborensein und dem Hinzugekommensein ausbleibt oder erst im Entstehen ist. Diese Paradoxie enthält eine Zeitlichkeit in sich, die sich nicht einfach diachronisch verstehen ließe: Der Dialog ist »eingedrungen« oder hat sich »eingeschlichen«42 in die Tragödie für die Tragödie, die jedoch auf der Basis dieses Eindringens oder Einschleichens erst entstanden sein wird; der Dialog ist ein Geburtselement der Tragödie, das ›von Außen‹ hergekommen ist – eine Tatsache oder eher eine Sache, die das Denken der Tragödie durch die unbeantwortbare Frage herausfordert, was dieses Außen bedeutet, wenn die Tragödie gerade im Begriff der Geburt, gerade im Übergang vom Nicht-Sein zum Sein ist. 2) Dass die Tragödie durch den Eingriff des Dialogs als eines Fremdkörpers aus dem Bereich des Rechts entsteht, führt zugleich dazu, dass sie eine Verunreinigung erfährt, die schließlich zu ihrem Tod führt. Die Geburt der Tragödie steht mit ihrem Tod nicht nur in einem Kontinuitäts-, sondern in einem Homogenitätsverhältnis. Der Weg, den Aischylos durch die Einführung des zweiten Schauspielers geebnet hat, wird von Sophokles begangen und durch Euripides vollendet. Dasselbe Bühnendispositiv des zweiten Schauspielers, das als Grundlage des Dialogs die Handlung der Tragödie ermöglicht hat,43 führt zum Tod der Tragödie. Der Dialog ist die Form der Tragödie, durch die der Tod der Tragödie
41 KSA 1, 545; dazu vgl. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 295. 42 KSA 1, 94; 545; 547; 548. 43 »Wichtigst. Die Handlung kam in der Tragödie erst mit dem Dialog.« (KSA 1, 27).
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vorgängig bestimmt ist; oder anders gesagt: Er trägt als tödliches – transzendental tödliches – Element zur Geburt der Tragödie bei. 3) Dabei ist für die Geburt wie den Tod der Tragödie entscheidend, dass durch die Einführung des (Dia-)Logischen überhaupt eine Beschränkung der UrMacht, der ursprünglichen Allmacht des Chors, eine Relativierung der alleinigen Macht des Chors, stattfand; dass die Tragödie von Geburt an durch die Verschränkung von zwei Elementen oder, wie Nietzsche immer wieder sagt, zwei »Kräften« hybridisiert ist; dass eine Verunreinigung, ein Prozess der Verunreinigung bereits mit der Geburt der Tragödie in Gang gekommen ist. Von der Frühphase, in der von der Übermacht des Chorisch-Lyrischen die Rede ist, über die Mittelphase, in der ein Duell-Verhältnis, ein Dualismus-Verhältnis zwischen dem Chor und dem Dialog herrscht, bis zur Spätphase, in der die Übermacht oder gar ein Überwuchern des Dialogischen geltend gemacht wurde, ist das Grundanliegen der Tragödie ein und dasselbe: Die Tragödie ist von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende ein Doppelwesen von Chorischem und (Dia-)Logischem, von Eigenem und Fremdem, von Geburt und Tod. Die Geburt und der Tod der Tragödie spielen sich in diesem Raum der Entzweiung ab. Der allgemeingültige Spruch erhält hier eine emphatische Bedeutung: Die Tragödie ist von Geburt an auf dem Weg zu ihrem Tod. Aus dieser Perspektive, die von der Übereinstimmung der ›Sache‹ der Geburt mit der des Todes der Tragödie ausgeht, wäre also die Frage zweitrangig, ob der Seite des Chorischen oder der Seite des (Dia-) Logischen eine Übermacht zugesprochen wird. Der Dialog ist als das ›fremde‹ und tödliche Element von Geburt an und für die Geburt in den Körper der Tragödie eingeschrieben; eine (dia-)logische Einschreibung verkörpert erst die Tragödie. Der Körper der Tragödie ist einer, auf dem der (Dia-)Logos ausgeprägt ist.44 Der Tod der Tragödie ist nämlich ebenso wie ihre Geburt und ihr Leben, ihr Dasein sowie ihr Verscheiden, suspendiert innerhalb der Zone, in der die Eigenheit der Tragödie einzig durch ihr fremdes Element verlängert wird. Das Problem der Selbst- oder Fremdtötung der Tragödie steht daher nicht nur bei Euripides auf dem Spiel, sondern auch bei Aischylos und bei Sophokles: bei all denjenigen, die den Anspruch erheben, Künstler der Tragödie zu sein und die Tragödie als Kunst zu etablieren. Denn mit dem Problem der Selbst- oder Fremdtötung
44 »La tragédie porte en elle dès l’origine son déclin, elle est toujours déjà minée par le ›socratisme‹. Elle prélude à la philosophie et à Socrate qui ne fait que parachever par la voie que lui est propre les visées du tragique: tragédie et philosophie sont complices dans leur quête d’une sérénité dont le charme masque les origines profondes«. (Kofman, Nietzsche et la scène philosophique, S. 93)
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der Tragödie hängt dasjenige der Selbst- oder Fremdgenese der Tragödie zusammen. Und bei diesem globalen Problem geht es um jene Doppelartigkeit, jene elementare fremdartige Angeborenheit, durch die der Raum eröffnet wird, in dem sich die Tragödie als Kunst etabliert und in dem sie sich damit auch über die Kunst hinaustreibt – in dem sie also in einem Über-sich-Hinaus als Kunst definiert wird. Damit sich die Tragödie als eine Kunst einrichten kann, muss ein Raum geöffnet werden, in dem sich der Ursprung, die Geburt und der Tod der Tragödie, der Anfang und das Ende der Tragödie in einer Zusammengehörigkeit, in einem »Zusammenhang«45 miteinander auseinandersetzen – ein Raum nämlich, in dem der Tod in die Geburt, das Ende in das Anfangen bereits eingeschrieben ist. Für die Tragödie muss ein virtueller Raum geöffnet werden, der nur durch diesen ›unlösbaren Konflikt‹, durch ein gegenwendiges Ineinander von Ende und Anfang erschlossen, ja aufgerissen wird. Eine tragische Räumlichkeit bildet eine solche ›Einheit‹, die sich in der Spannung konstituiert, die durch die Doppelheit von Anfang und Ende oder die Dreiheit von Ursprung, Geburt und Tod der Tragödie entstanden ist. 7.1.7 Zeugen, Zeigen, Schauen: Der Chor als Träger des tragischen Raums Die Tragödie richtet sich in einem Raum ein, der durch eine apriorisch entstandene Zeitverschiebung zwischen dem Angeborenen und dem Fremdartigen und durch ein raumzeitliches Zusammenfallen oder Versammeln von Ursprung, Geburt und Tod, von Anfang und Ende geöffnet wird. Der Dialog spielt dabei, wie gesehen, eine entscheidende Rolle, insofern der Raum der Tragödie dadurch geöffnet wird, dass die Tragödie durch den Dialog eine Hybridisierung erfährt – eine Hybridisierung, die hier räumlich angelegt ist. Der Dialog ist das Medium oder die Form dieser hybridisierenden Raumöffnung. Was oder wer ist aber der Träger dieser Öffnung des Raums der Tragödie? Wer leistet sie? Wer tut sie? Wessen Aktion ist diese Öffnung? Die transzendentalgenetische Antwort Nietzsches auf diese Frage lautet: Der Träger des tragischen Raums ist der Chor. Und die Öffnung dieses Raums muss von daher näher charakterisiert werden: Die schon erwähnte These Nietzsches lautet nicht bloß, dass aus dem Chor die Tra-
45 Vgl. Alexander García Düttmann im Anschluss an Hölderlin, Heidegger und Adorno: ders., Kunstende. Drei ästhetische Studien, S. 102-106.
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gödie entstanden ist,46 sondern dass der Chor die Tragödie »erzeugt« (63). Nietzsches Behauptung bezieht sich also nicht auf eine Entwicklung, auf die historisch-philologisch zu bestätigenden stufenweisen Verschiebungen vom Chor zur Tragödie. Beinhaltet ist vielmehr in seiner These ein Sprung oder Bruch zwischen dem Chor als Ursprung und der Tragödie als Ziel. Der Chor erzeugt dasjenige, was seinem ›Wesen‹ nach ganz fremd ist, indem er einen sich von den früheren Entwicklungsstufen prinzipiell abhebenden Raum öffnet, in dem sich die tragische Art des Mythos darstellerisch erst bilden kann. Dies geht wesentlich sowohl dem Prozess voran, in dem die Musikalität des Chors allmählich ihre Reinheit verliert, als auch der Verschiebung der Hegemonie von der Chor- zur Sprechpartie, in der sich das allmähliche Oberhandgewinnen der Sprech- gegenüber der Chorpartie als eine altphilologisch selbstverständliche Sache vollzieht. In die Reihe der nachzuvollziehenden Tatbestände lässt sich die (Er-)Zeugung des tragischen Raums nicht fügen. Diesem Zeugen widmet sich das über das bloß Altphilologische hinausschießende Interesse Nietzsches. Die Geburt der Tragödie aus dem Chor gründet sich nämlich auf eine sprunghafte, eine bruchhafte Aktion, eine »That« (57): Der Chor stiftet die Tragödie. Und dies bedeutet, dass die Tragödie sich aufgrund des Chors stiftet, oder: dass der Chor sich als Tragödie stiftet, und zwar heterogenetisch stiftet. Ein heterogenetischer Selbststiftungsakt ist bei der Eröffnung des tragischen Raums unentbehrlich. Als der Träger oder die Instanz dieses Aktes ist der Chor also von jenem Chor zu unterscheiden, der in der Vorstufe ein allgemeiner tanzender und singender Körper war, nach der Einrichtung der tragischen Bühne sodann seinen eigenen Platz in der Orchestra gegenüber der Szene als dem Schauspielerplatz gefunden hat und dadurch in ein Verhältnis des »Dualismus« mit dem Schauspielerwesen geraten ist. Im Unterschied zu diesem historischen Chor, der in der vorgeburtlichen Stufe unbegrenzt alleinherrschaftlich, weil alleinstehend war und in der Entwicklungsphase eine sowohl räumliche wie auch funktionale Begrenzung erfahren musste, besteht die Funktion des Chors als Instanz des Selbststiftungsaktes der Tragödie darin, den ganzen tragischen Raum zu öffnen, in dem erst die Szene (für die Schauspieler), die Orchestra (für den Chor) und die Zuschauerränge sich platzieren können, und mit dieser Öffnung das Vor und das Nach der Tragödie zu trennen. Dieser Chor fungiert als der transzendentalgenetische Rahmen der Tragödie, als eine »lebendige Mauer […], die die Tragödie um sich herum zieht« (54), wie
46 Dies wäre bloß eine allgemeine Annahme: »Es ist ja bekannt, daß ursprünglich die Tragödie nichts als ein großer Chorgesang war: diese historische Erkenntniß […]«. (»Das griechische Musikdrama«, KSA 1, 524 f.)
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es Nietzsche im Anschluss an Schiller aufgefasst hat. Der Chor als Rahmen ist also nicht zu verwechseln mit demjenigen Chor, der in der ›früheren‹ Entwicklungsphase der Tragödie noch eine Position innehatte, die eine im Vergleich mit der Schauspielerposition dominante Wirkung ausübte. Dieser letztere Chor ist ein innertragisches Bühnendispositiv in einer oder mehreren historisch festzustellenden Phasen nach der Einrichtung des tragischen Raums, der vom Chor als Rahmen erst erschlossen wird. So früh in der Entwicklung der Tragödie diese Phase des noch archaisch und kraftvoll-beeindruckenden Chors aufgekommen sein mag, so sicher ist, dass diese Phase eine Entwicklungsphase der schon eingerichteten Tragödie ist. So sehr herrschend der Chor sich auf der tragischen Bühne gegenüber dem Schauspieler auswirken mag, so unverrückbar ist die Tatsache, dass von einer Beherrschung oder Übermacht der Chor-Partie als eines Dispositivs auf der tragischen Bühne gegenüber der Schauspieler-Partie insofern die Rede sein kann, als die Teilung des tragischen Raums in die beiden Partien schon eingetreten ist. Dagegen ist der Chor als Rahmen von dem mehr oder weniger großen Anteil, den der historische Chor im Verhältnis zu dem Schauspielerwesen auf der Bühne beansprucht, getrennt zu denken. Als diese Funktion der Stiftung nimmt der Chor einen Stellenwert an, der nicht einfach entweder innerhalb oder außerhalb der Tragödie zu lokalisieren ist: Der Chor spielt nicht mit, doch spielt er mit, sagt Nietzsche. Aufgrund dieses Mitspielens des Chors spielt sich die Tragödie erst ab. Das Sich-Abspielen der Tragödie ist einzig in einem Spielraum möglich, den der Chor mitspielerisch einrahmt und der damit eine bis dahin ungekannte Öffentlichkeit erhält: »Hier kommt vor allem der Chor in Betracht, der für den antiken Dichter ebenso wichtig war wie für den französischen Tragiker die vornehmen Personen, die zu beiden Seiten der Scene ihre Sitze hatten und die Bühne gewissermaßen in ein fürstliches Vorzimmer verwandelten. Wie der französische Tragiker diesem sonderbaren nicht mitspielenden und doch mitspielenden ›Chor‹ zu liebe die Dekorationen nicht ändern durfte, wie sich Sprache und Geste auf der Bühne nach ihm modelte: so verlangte der antike Chor für die ganze Handlung in jedem Drama Öffentlichkeit der Handlung, den freien Platz als die Aktionsstätte der Tragödie. Dies ist eine verwegene Forderung: denn die tragische That und die Vorbereitung zu ihr pflegt sich gerade nicht auf der Straße finden zu lassen, sondern erwächst am Besten in der Verborgenheit. Alles öffentlich, alles im hellen Licht, alles in Gegenwart des Chors – das war die grausame Forderung. […] [I]n dem langen Entwicklungsprozeß des Dramas [war] diese Stufe erreicht worden, und man hatte sie festgehalten mit dem Instinkt, daß hier für den tüchtigen Genius eine tüchtige Aufgabe zu lösen sei.«47
47 KSA 1, 524; Hervorh. von mir.
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Das Mitspiel des Chors, der das Sich-Abspielen, den Handlungsablauf der Tragödie begleitet, – dieses Mitspiel fordert eine Öffentlichkeit, die durch eine Ganzheit charakterisiert wird (»für die ganze Handlung«, »Alles öffentlich, alles im hellen Licht, alles in Gegenwart des Chors« …). Diese Ganzheits- oder Allheitsforderung bedeutet aber nicht, dass alle Details des Handlungsablaufes, der story, offengelegt werden müssten, wie sehr dieses Missverständnis auch an der oben zitierten Stelle naheliegen mag.48 Solche Art von Ganzheit entspräche eher dem Anspruch des episch-homerischen Mythos. Die Ganzheitsforderung des Chors verbindet sich dagegen mit einer Öffentlichkeit oder Offenheit in einem »freien Platz«. Das Mitspiel des Chors, seine Mit-Anwesenheit fordert, dass die Handlung öffentlich und frei gezeigt werde, 49 dass »alles in Gegenwart des Chors«, alles also dem Blick, dem grellen Licht des bohrend beobachtenden Blicks des Chors als vertretender Instanz des Zuschauens gezeigt und diesem Blick ›grausam‹ ausgesetzt werde. Diese Forderung lautet, dass, wenn die Handlung dargestellt wird, sie als ganze gezeigt werden muss. Es handelt sich um die Forderung, dass alle Intensität extensiviert werde, dass alle darstellerische Intensität aufgrund der Extension möglich sein müsse. Im tragischen Raum, der von dem Mitspiel des Chors transzendentalgenetisch extensiviert wird, wird alles, was da gespielt wird, die Handlung in ihrer Ganzheit, nicht wie im epischhomerischen Schein triumphierend sichtbar, sondern gezeigt, ausgesetzt, exponiert, und alles, was da gespielt wird, wird ein Vor-Spiel, ein Schau-Spiel, ein Spiel vor dem Zuschauer. Der Chor, der mitspielt, doch nicht mitspielt, der anwesend und zugleich nicht anwesend ist, geht mit der ›Handlung‹, die in ihrer
48 Dagegen schon zwei prominente Beispiele: Die Selbstblendung des Ödipus und die Bestattung des Bruders durch Antigone, zwei für die Stücke jeweils entscheidende ›Handlungen‹, werden nicht offen dargestellt, sondern nur – das ist typisch nichttragische Darstellungsweise – berichtet. Als ganz entscheidend erscheinende ›Ereignisse‹ erübrigen sie sich in der tragischen Darstellung – hinter der Szene innerhalb des Dramas oder aber vor dem Beginn bzw. nach dem Ende des Dramas, und das ist fast wie eine Regel. Ein paar Seiten später im gleichen Manuskript macht Nietzsche dies klar: »[A]lles wahrhafte und ernste Thun wurde auch in der Blüthezeit des Dramas nicht auf offner Scene vorgeführt«. (KSA 1, 527) Der späte Nietzsche bringt dies noch einmal auf den Punkt: Das antike Drama »schloß gerade die Handlung aus (verlegte sie vor dem Anfang oder hinter die Szene)« (Der Fall Wagner §9, KSA 6, 32). Dies weist darauf hin, wie die ›Handlung‹ der Tragödie zu verstehen ist, inwiefern sie von der üblicherweise als ›Haupthandlung‹ angenommenen abweicht. 49 Zum Zeigen als einer Hauptdimension der Tragödie vgl. Melchinger, Das Theater der Tragödie, S. 215, 225, 296 (Anm. 93), 300 (Anm. 41).
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Ganzheit gezeigt wird und nur nach dem Maß der Aussetzung – also schon auf der formalen und bühnendispositivischen Ebene – eine tragische ist, darin eine asymmetrische Beziehung ein, dass er gebieterisch schaut, wohingegen der Handlungsträger, der dramatisch Handelnde, innerhalb des tragischen Raums, der gleichsam selbst schaut, wehrlos geschaut wird: Der Chor hat eine absolute, transzendentalgenetische Kraft und Macht des Schauens, er ist der Träger oder die Instanz dieser schauenden Kraft und Macht, er ist der »einzige Schauer […], der Schauer der Visionswelt der Scene« (59; Herv. i.O.). In welchem Sinn ist er der Schauer, der einzige Schauer der Szenenwelt? In dem Sinn, dass er schaut, bevor und damit die Zuschauer auf einzelne Handlungen, die sich gerade auf der Bühne abspielen, schauen – in dem Sinn also, dass er eine Visionswelt der Szene schaut; und zwar in einer doppelten Dimension: Er schaut eine Visionswelt der Szene, die Szenenwelt selbst und erschließt mit diesem Schauen diese Welt als solche. Und er schaut eine Visionswelt der Szene; er erzeugt eine Welt, indem er schaut; auf dem chorischen Vermögen der Vision beruht die Existenz der Welt der Szene. Der Chor ist der Rahmen oder gar der Raum des Schauens der Tragödie selbst. Der dramatisch Handelnde ist der Träger der tragischen Handlung, die gezeigt wird, während der Chor der Träger des tragischen Raums ist, in dem sich die tragische Handlung abspielt, d.h. gezeigt und ausgesetzt wird. Die dramatische Handlung spielt sich erst unter der Bedingung ab, dass der Chor zeugt. Der Chor erzeugt als der Zeuge der dramatischen Handlung den Raum, in dem sich diese abspielt. Er zeugt. Er erzeugt diesen Raum, indem er ihn bezeugt. Das Zeugen ist die Handlung des Chors, die sich darin von der dramatischen wesentlich unterscheidet, dass sie transzendentalgenetisch dieser gegenüber wirkt. Nach der transzendentalen Topologie des Chors bei Nietzsche ist der Chor der Träger des tragischen Raums. 7.1.8 Stimmung des Tragischen Wenn wir den Chor als die transzendentalgenetische Instanz der Tragödie identifizieren können, dann ist die Musikalität des Chors im Arrangement der tragischen Kunst neu zu verorten. Der Chor ist eine Stimmungsgrundlage oder ein Stimmungsträger der Tragödie, so kann man entsprechend der gängigen Redeweise sagen. Und dieser Satz wird in der Regel so verstanden, dass der Chor durch seine lyrisch-musikalische Ausdrucksweise gegenüber der sprachlichen, der schauspielerischen Partie den Stimmungshintergrund einer Tragödie ausmacht. Aber vom transzendentalgenetischen Standpunkt sind Stimmung und Musikalität der Tragödie neu zu denken – wenn der Chor nämlich so gedacht wird, dass er sich hier nicht nur in die begrenzende Raum- und Funktionsvertei-
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lung der musikalischen und der sprachlichen Partie einfügt, sondern in seiner Urstiftungsfunktion dieser Verteilung zugrunde liegt. Was sind die Stimmung und die ›Musikalität‹ des Chors, wenn dieser die Instanz einer solchen Urstimmung für die tragische Kunst ist, die von jenem wirklich klingenden lyrischmusikalischen Gesangs-Element zu unterscheiden ist, das mit der Sprechpartie des Schauspielers einen Hauptkontrast der Tragödie bildet? Diese Stimmung des Chors, die den ganzen tragischen Raum erschließt, ist weniger der lyrischmusikalischen Partie der Tragödie als vielmehr der »musikalische[n] Stimmung« ähnlich, die Nietzsche für die Erklärung des Dichtungsprozesses bei Schiller den »vorbereitenden Zustand vor dem Actus des Dichtens« (43; Herv. i.O.) nennt. Diese Stimmung ist nämlich ein »vorbereitender«, also ein vordichterischer Zustand, eine Vorstufe, die dem eigentlichen Dichtungsakt als einem Kunstvollzug transzendentalgenetisch vorangehen sollte. Ohne diese Stimmung, die das Gemüt auf das Dichten vorbereitet und einstimmt, könnte eine ›innere‹ Gestimmtheit im dichtenden, im dichten-wollenden Subjekt nicht eintreten. Etwas muss vorher stimmen, damit der Akt des Dichtens beginnen kann. Etwas muss sich zustimmend auf das Dichten einstimmen. Einer vorgängigen Einstimmung und Übereinstimmung, einer Gleichstimmigkeit, eines Ein-Klangs, eines Unisonos, eines chorischen Unisonos im dichten-wollenden Subjekt, im Gemüt dieses Subjekts bedarf es für das Dichten. Das dichtende Subjekt muss, um zu dichten, vorher an dieser chorisch-einstimmigen Stimmung, die sich innerhalb seines Gemüts einstellt, teilnehmen. Eine chorische Stimmung als Hintergrund, als Grundlage des Dichtens geht dem Dichten voran. An der Stelle, an der Nietzsche Schiller zitiert, spricht dieser von einer »gewisse[n] musikalische[n] Gemüthsstimmung« (ebd.). Diese Gemütsstimmung, die nicht bloß psychologisch, nicht bloß musikalisch-tönend ist, ist in der Tat musisch oder musaisch zu nennen; sie ist derjenigen, die durch die beim Dichten und, allgemeiner, beim Kunstschaffen ›inspirierenden Musen‹ eintritt, ähnlich. 50 Der Chor als transzendentalgeneti-
50 Über eine solche Gemütsstimmung, die sich transzendental nennen ließe, spricht Kant, als dessen ›ästhetischer‹ Nachfolger Schiller bewusst aufgetreten ist, seinerseits im Hinblick auf die Übereinstimmung der Vermögen des Gemüts (Einbildungskraft, Verstand und Vernunft): Kant, Kritik der Urteilskraft, § 26 (B 94, 95); davor ist von einer »Geistesstimmung« (B 85) oder einfach von der »Stimmung« (B 65 f., 80, 110, 116) die Rede; hier ist die Stimmung nicht bloß ein psychologischer oder affektiver oder gar musikalischer Gemütszustand, sondern grundsätzlich ein Relationsbegriff (»proportionierte Stimmung«, B 31; »Gemütszustand, d. i. die Stimmung der Erkenntniskräfte«, B 65; ›Zusammenstimmung‹, vgl. B 29, 31, 67, 94; ›Übereinstimmung‹, vgl. B 65, 95; »Einstimmung«, B 26, 69; und Kant spielt mit der Zweideutigkeit der
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scher Rahmen ist also das umfassendste musisch stiftende, aus dem »Geist der Musik« stiftende Element, das der Tragödie gleichsam eine Stätte verleiht, damit die Tragödie erst geboren wird. Wie verhält es sich aber mit dem Chor, nachdem der tragische Raum geöffnet ist? Nachdem die Geschichte der Tragödie begonnen hat? Denn der Chor als die transzendentale Instanz der Szenenwelt ist ›selbst‹ kein nachgeburtliches Element der Tragödie und der tragische Raum selbst ist noch keine ›materialisierte‹ Bühne. Sobald die Tragödie geboren wird, tritt der Chor nicht mehr als transzendentale Instanz, sondern als derjenige Chor in Erscheinung, der in der Vorstufe eine dithyrambisch singende und tanzende Masse war und nun in der Phase des entwickelten Zustandes ein Dispositiv der Tragödie neben anderen wie Schauspielern und Zuschauern ist; und zugleich mit diesem Sichtbarwerden beginnt also der tragische Raum sich in einem »Dualismus« von Chor- und Schauspielerpartie zu ›materialisieren‹. Ein tragischer Stimmungsraum, der von dem Chor vorher abgestimmt ist und der wirklichen Vorführung der Tragödie strukturell vorangegangen sein muss, liegt zwar der Teilung in die lyrischmusikalische und die (dia-)logisch-sprachliche Partie zugrunde, er liegt aber die-
»Stimme«: B 25 f.). Diese »Stimmung kann« aber, nach Kants ästhetischer Überlegung, »nicht anders als durch das Gefühl (nicht nach Begriffen) bestimmt werden« (B 66). Die Stimmung lässt sich nämlich nicht durch die Begriffe vorherbestimmen, sondern sie geht aus dem ›freien Spiel‹ zwischen den Gemütsvermögen, über welches das Subjekt nicht verfügt, hervor. Die vor- oder außersubjektive Unverfügbarkeit der »musikalische[n] Gemüthsstimmung«, von der Nietzsche spricht, scheint mit der des freien Spiels zwischen den Gemütsvermögen im Geschmacksurteil eine wesentliche Beziehung zu haben. Beide Unverfügbarkeiten ließen sich musaisch nennen im Unterschied zum Lyrisch-Musikalischen. Das Musaische macht nämlich eine transzendental-dionysische Dimension aus, die sich ohne begrifflich-bewusste Bestimmung einstimmen muss und von der alle drei Arten der Dichtung, die epische, die lyrische und die tragische Art, ausgehen – also eine Dimension, auf welche sich die dichterische Subjektivität überhaupt gründet. Damit lässt sich in der GT zwischen den zwei Ebenen des Dionysischen, zwischen der musikalisch-dionysisch-phänomenalen Ebene, die gegenüber dem Apollinischen mit diesem ein Spiel des Gegensatzes spielt, und der musaisch-dionysisch-transzendentalen Ebene, die mit dem Apollinischen eine vertikale Beziehung hat, unterscheiden. Die »dionysische« Musik, die Nietzsche in § 2 der GT gegen die »apollinische« als eine alles Maß überschreitende Ton-Entladung beschreibt, das Laute dieser Musik, ist von der ›dionysischen‹-lautlosen Stimmung zu unterscheiden, die Voraussetzung für das Dichten im Besonderen und für das Kunstschaffen im Allgemeinen ist.
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ser Teilung lautlos zugrunde. Die tragische Stimmung ›selbst‹ ist stimm- und lautlos. Diese lautlose Stimmung, die vom »Geist der Musik« musaisch gestimmt ist, kommt in der Wirklichkeit der dramatischen Handlung nicht zum Ausdruck. Daraus folgt aber nicht, dass das tragisch-lautlose Potenzial weniger in der Sprechpartie des Schauspielers als in jener musikalisch-lyrischen Chorpartie zum Ausdruck käme, die in einer romantisch zu nennenden Rezeptionstradition aufgrund ihrer Ausdrucksstärke als die Partie des ›tragischen Gefühls‹, ja des Tragischen selbst galt. Aber das Wort oder der Begriff des Ausdrucks selbst muss hier in Frage gestellt werden: Ein Ausdruck des Tragischen, zumal ein vollkommener und damit restloser oder – gemäßigt gesagt – angemessener Ausdruck des tragischen Gefühls oder des tragischen Potenzials wäre nicht nur unmöglich, sondern vor allem wäre er nicht tragisch. Denn dem Tragischen ist ein angemessener Ausdruck dadurch verwehrt, dass sich die Tragödie gerade darin als die Darstellungsweise des Tragischen erweist, zu zeigen, dass sie als eine angemessene Darstellung des Tragischen eben daran scheitern muss, dieses angemessen darzustellen; eine solche Darstellung wäre also für das Tragische ein Zuviel. Es wäre also nicht genug, zu sagen, dass die Darstellung des Tragischen daran scheitere, dass ein solchermaßen restloser oder angemessener Ausdruck sich nicht mit der heterogenetischen Darstellung des Tragischen verträgt. Der darstellerische Ausdruck des Tragischen gelingt vielmehr darin, diese grundsätzliche Unverträglichkeit zu zeigen. Die Tragödie kann insofern als Kunst geboren werden, als sie das Tragische ›selbst‹ heterogenetisch darstellt, also: darstellerisch verrät. Es wird bezüglich der Chorpartie der Tragödie zwar üblicherweise angenommen, dass sie gegenüber der (dia-)logischen Partie dazu fähig sei, in ihrer lyrisch-musikalischen Darstellung das Tragische angemessener als die Sprechpartie zum Ausdruck zu bringen. Eine solche Einschätzung wie ›mehr oder weniger angemessen‹ wäre aber, wie erläutert, dem Tragischen nicht angemessen – selbst die lyrisch-musikalische Darstellung ist bestenfalls ein Ersatz oder ein Versuch zum Ausdruck des Ausdruckslosen, zur Verlautbarung des Lautlosen, zur Ausmessung des Unmessbaren. Und ebendiese Unfähigkeit, das Tragische angemessen zum Ausdruck zu bringen, ebendiese Ohnmacht des Ausdrucks muss in der Tragödie ausgedrückt werden. Dieser Ausdruck würde also gelingen, wenn die Tragödie das Tragische als »etwas Incommensurables« (80) zeigt, was sich jedem Maß entzieht oder jedes Maß übertrifft. Jede Maßnahme ist also dazu unangemessen, das Tragische angemessen darzustellen – einschließlich der lyrischmusikalischen Darstellungsmaßnahme. Der Chor der Tragödie ist nämlich nicht mehr in einem unmittelbaren Zustand der ›dionysisch erregten‹ Masse der sich ›natürlich‹ ausdrückenden Menschen, er ist vielmehr das »Symbol der […] dio-
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nysisch erregten Masse« (62) oder der »Natur und ihrer stärksten Triebe« (63), ein symbolisch vermitteltes, instrumentalisch eingerichtetes Ausdrucksdispositiv für das Natürliche, das Unmittelbare und das Dionysische, eine »künstlerische Nachahmung jenes natürlichen Phänomens« (59), des ursprünglichen Chors. Er ist nämlich ein Bühnendispositiv der Tragödie, das bereits einen symbolischen und darstellerischen Stellenwert hat und jenes Inszenierungsmoment zeigt, das sich, nachdem die Tragödie als eine Kunst sich etabliert hat, weniger improvisatorisch als vielmehr konventionell organisiert.51 Die Auffassung des Chors als eines vorkünstlichen Naturfaktors, der an das Tragische unmittelbar gebunden und damit zu dessen unmittelbarem Ausdruck fähig sei, wäre missverständlich. Das Symbolische des Chors impliziert schon die darstellerisch grundsätzliche und symbolisch vermittelte Distanz des Chors gegenüber dem, was er ausdrücken will. Das Tragische, das an die Tragödie als dessen Darstellung gebunden ist, besteht gerade in dieser unreduzierbaren, inkommensurablen Distanz und gerade darin, diese Distanz, genauer: diese Unreduzierbarkeit und Inkommensurabilität darzustellen. Selbst für die chorisch-lyrisch-musikalische Ausdrucksweise wäre das ›Dionysische‹ ein grundsätzliches Übermaß. Selbst die Musik kann das Tragische nicht angemessen zum Ausdruck bringen.52 Der tragische Stimmungsraum, der durch den Chor geöffnet wird, bleibt ›selbst‹ in der tragischen Darstellung eher stimmlos; über ihn muss in dem Maße geschwiegen bleiben, als das Tragische angemessen dargestellt werden will: Der Rhythmus der Tragödie ist eher schweigsam. Die Sprache der Tragödie ist, wie Franz Rosenzweig großartig gesagt hat, das Schweigen. Eine Musaität ist in der Tragödie die Grundlage sowohl für die Musikalität des Chors wie für die Logizität des dramatischen Vollzugs. Das tragische Schweigen ließe sich weder durch die lyrisch-musikalische noch durch die (dia-)logisch-diskursive Darstellungsweise angemessen äußern.
51 Melchinger, Das Theater der Tragödie, S. 63; Konventionell benehmen sich sowohl der Chor wie auch der Schauspieler (ebd.). Die Herrlichkeit der schauspielerischen Rede in der tragischen Darstellung beruht nicht auf ihrer Natürlichkeit, sondern ihrer Konventionalität, die von der unmittelbaren Natürlichkeit abweichen sollte. Das Tragische drückt sich, wenn auch nicht angemessen und gerade durch diese Unangemessenheit, in dieser Abweichung aus. Die chorische wie schauspielerische Konvention macht erst den ›Ausdruck‹ des Tragischen möglich. 52 Nietzsche hat eine ausdrückliche Entkräftung der schopenhauerischen MusikMetaphysik, die Nietzsches Überlegungen zur Zeit des Tragödienbuches stark geprägt hat und nach welcher die Musik der unmittelbare Ausdruck der Welt-an-sich sei, erst in Menschliches, Allzumenschliches und in Zur Genealogie der Moral vorgenommen.
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Die Charaktere der Tragödie sind »viel tiefer und voller […] als ihre Worte: sie stammeln eigentlich nur über sich.«53 Das Lyrisch-Musikalische des Chors ist nicht dem Tragischen, dem angemessenen Ausdruck des Tragischen gleichzusetzen. Das Tragische ist vielmehr grundsätzlich ein ›räumliches‹ Phänomen, aufgrund dessen das Lyrisch-Musikalische erst als ein wenn auch nicht angemessener Ausdruck des Tragischen tonal in Erscheinung treten kann und damit zugleich eine Beschränkung erfahren muss. Der ursprüngliche Chor, der die alleinige Macht des Lyrisch-Musikalischen hatte, verliert nämlich beim Zustandekommen der Tragödie diese Alleinigkeit. Ursprünglichkeit und Reinheit, Alleinheit und Alleinigkeit, Angemessenheit und Kommensurabilität haben mit dem Tragischen und der Tragödie nichts zu tun. Das Tragische beruht vielmehr auf dem Verlust der Alleinmacht, der Inkommensurabilität des Ausdrucks, der Verdopplung des Einfachen und der Verweltlichung des Ewigen; und die Tragödie beruht auf der Darstellung dieses Verlustes, dieser Inkommensurabilität, dieser Verdopplung und dieser Verweltlichung. Der Verlust der Alleinmacht des Chors bedeutet aber nicht nur eine tatsächliche Relativierung durch das Zum-Zuge-Kommen der (dia-)logischen Partie. Ein ›Wunder‹, das sich hier ereignet, ist, dass eine transzendentale Instanz, die für die Installierung des bis dahin unerhörten Szenenraums zuständig ist, dadurch entsteht, dass die ursprüngliche Allmacht des Chors gebrochen wird. Ein zweifaches Ereignis tritt ein: Die Allmacht des Lautes des ursprünglichen Chors zieht sich beschränkt zurück; durch ebendiesen Rückzug macht sich der lautlose blickende Chor als transzendentale Instanz der Installierung des tragischen Raums geltend. 7.1.9 Überwucherung und Superfötation des Dia-Logischen: Dialogische Unabschließbarkeit der Tragödie Selbst wenn Rosenzweig mit seiner strengen These des Schweigens als der einzig tragischen Sprache Nietzsche radikalisiert, hält er doch – hierin stimmt er wiederum mit Nietzsche überein – an der Auffassung fest, dass der lyrischmusikalischen Chorpartie eine »ungeheure Wichtigkeit« zukomme, um »das Heroisch-Tragische zum Ausdruck zu bringen«, während dieses »im eigentlich Dramatischen, im Dialog, nicht die Form« für dessen Ausdruck finde.54 Dies ist aber eine Auffassung, die ich oben romantisch genannt habe. Diese Auffassung, die die lyrisch-musikalische gegenüber der dialogisch-dianoetischen Darstellung
53 KSA 1, 539; dazu vgl. auch KSA 1, 109 f. 54 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 84.
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privilegiert, zeigt ihre Typisierung daran, dass sie dem Dialog jene Tendenz zuschreibt, die Chorpartie allmählich zu überwuchern und damit die Tragödie von ihrer Bahn abkommen zu lassen. Die Rede von der Überwucherung des (Dia-)Logischen55 ist ein Wahrzeichen dafür, dass ein Diskurs über die Tragödie zur romantischen Tradition gehört, die das ursprüngliche Privileg des Chorischen gegen das Übermaß des Dialogischen hervorhebt und die in der Übermacht des Chorischen gegenüber dem (Dia-)Logischen die noch nicht verfallene Gestalt der Tragödie sieht. In dieser Tradition spielt man aber, indem man eine bestimmte Stufe in der Entwicklungsgeschichte der Tragödie, in der die chorische Wirkung die Oberhand hatte, als eine dem Prozess des Verfallens noch nicht unterworfene hervorhebt, die Tatsache herunter, dass die Tragödie im Grunde von ihrer Form her bereits hybridisiert und verfallen ist. Der Zustand der Reinheit des chorischen Elements ist nämlich innerhalb der Entwicklungsgeschichte der Tragödie niemals vorhanden gewesen. Ein Ver- oder Zerfall ist schon der Form nach der tragischen Kunst eingeschrieben – und damit, so könnte man logisch schlussfolgern, der Kunst überhaupt insofern, als die Tragödie überhaupt nach der epischen, die sich als Natur gebärdet, die erste Form der Kunst als Kunst ist; eine ebenso naive Kunst wie die epische, aber nunmehr eine, deren Naivität auf ihrer apriorischen Geschichtlichkeit und ihrer angeborenen Fremdartigkeit beruht. Ist aber diese Überwucherung des Dialogischen in ihrer typischen Erscheinung nicht mit einer Dimension des Tragischen in ein innerliches Verhältnis zu setzen? Die Vollzugsdimension der tragischen Handlung ist nicht nur ›logisch‹, sondern dia-logisch. Der logos als mythos macht zwar den allgemeinen Zug der poetischen Kunst, aber nicht das Spezifikum der tragischen Kunst aus. Denn diese Kunst braucht wesentlich einen Raum, in dem sie sich verwirklicht. Genauer gesagt: Sie verwirklicht sich, indem sie einen Raum öffnet, in dem die Handlung ihren zwiespältigen Aspekt entfaltet, den Aspekt des Dia-Logischen. Das Logisch-Mythische allein ist ebenso wenig für die Öffnung des tragischen Raums geeignet wie der alleinwirkende Chor als Ursprung der Tragödie. Die tragische Räumlichkeit geht mit der dia-logischen Positionierung einher, die die Pluralität der Handlungs- wie Redeposition impliziert. Und der Handelnde, der sich so in der Pluralität positioniert, muss eine Öffnung gegenüber oder eine Aussetzung vor anderen Handelnden tragen und ertragen. Die tragische Handlung besteht darin, den gemeinsamen, den objektiven Handlungsverlauf, der
55 Zur Rede von der (Über-)Wucherung des Dialogs vgl. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, 94; Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 84; Schreckenberg, ∆ΡΑΜΑ. Vom Werden der griechischen Tragödie aus dem Tanz, S. 117.
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durch die Teilnahme anderer Mitläufer gestaltet, also ein (Wett-)Lauf ist – ein Dromos, der andere Teilnehmer voraussetzt –, 56 durch eine Vereinzelung der Handlung zu verdoppeln, die sich durch die Aussetzung vor anderen Teilnehmerperspektiven vollzieht. Eine grundsätzliche Perspektivierung, die eine Pluralität der gleichberechtigten Perspektiven bedeutet, gestaltet den tragischen Raum. Diese Gleichberechtigung zur Handlung und Rede ist dermaßen radikal, dass ein Auseinandergehen und Aneinandervorbeigehen der Perspektiven ein formales Grundanliegen der Tragödie ist. Von dieser Räumlichkeit kann nämlich die Rede erst sein, wenn »zwei gleichberechtigte Hauptspieler sich gegenüber standen« (KSA 1, 545), wenn auch Nietzsche dies mit einem negativen Unterton gesagt hat. Es mag sein, dass der junge Nietzsche den Dialog so auffasst, dass dieser sich der Tendenz nach dem platonischen Dialog annähert, und damit annimmt, dass dem Dialog ein Zug der platonischen Dialektik zugrunde liegt: der Zug nämlich, durch den Prozess des Streitgesprächs, durch den Ablauf des argumentativen Frage-Antwort-Duells hindurch um jene Wahrheit wettzueifern, die sich am Ende des dramatischen Verlaufs als die Lösung des dialogischen Zwiespaltes ergeben sollte. Es mag auch sein, dass infolge dieser Annäherung die Fremdartigkeit des Dialogs in der Tragödie als einer Veranstaltung, die im Grunde eine Inkommensurabilität mit der rationalistischen Verständlichkeit darstellt, dem jungen Autor als ausgemacht erscheint – und zwar umso ausgemachter, als das Dialogische in dem geistgeschichtlichen und geschichtsphilosophischen Zusammenhang der ganzen ›abendländischen‹ Kultur so betrachtet wird, dass es in einem solidarischen Bund mit dem Theoretischen bzw. Wissenschaftlichen steht, das am nicht mehr zu bestreitenden Endergebnis als an einem ›optimistischen‹ Ausgang orientiert ist. Gleichwohl müsste derselbe Nietzsche den zentralen Stellenwert des Dia-Logischen in der Tragödie daran erkannt haben, dass der Dialog nicht bloß zu solchem Ausgang, der gleichsam durch die restlose Lösung eines »Rechenexempel[s]« erreicht werden soll, bestimmt ist, sondern dass der Dialog die Dimension der Tragödie dadurch erschließt, dass er jenen Aspekt der grundsätzlichen Positionierung und Perspektivierung aufweist, aufgrund dessen die Teilnehmer des Streits die Singularität ihrer Positionen und Perspektiven, für die es keine endliche Auflösung gibt, niemals gänzlich einbüßen. Eine Lösung, eine Auflösung, eine Versöhnung, eine Vermittlung kann im Dialog nicht stattfinden, weil die Singularität und die Pluralität der Positionen, in denen sich die handelnden Figuren jeweils gleichsam verwurzeln, räumlich sind. Daher entsteht der Eindruck, dass die dramatischen Figuren als Dialogteilnehmer
56 Sowohl dromos, (Wett-)Lauf wie auch drama haben beide die Wortwurzel dran = handeln.
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aufgrund einer »Incommensurabilität« (81), also aufgrund der Abwesenheit eines dritten gemeinsamen Nenners, der die ›Kommunikation‹ und einen einverständlichen Ausgang ermöglichen würde, eher aneinander vorbeigehen, dass das Rede-Duell eine »gewisse täuschende Bestimmtheit« (80), einen Charakter des Nicht-enden-Könnens hat und dass der Dialogprozess den gesamten Verlauf des Dramas überflüssiger- und übermäßigerweise bestimmt. »Allmählich sprechen alle Personen [der Tragödie] mit einem solchen Aufwand von Scharfsinn, Klarheit und Durchsichtigkeit, so daß für uns wirklich beim Lesen einer sophokleischen Tragödie ein verwirrender Gesammteindruck entsteht. Es ist uns als ob alle diese Figuren nicht am Tragischen, sondern an einer Superfötation des Logischen zu Grunde giengen«. (»Sokrates und die Tragoedie«, KSA 1, 546)
Hier geht es nicht bloß um eine sarkastische Beobachtung, sondern Nietzsche bringt anscheinend unabsichtlich die Sache auf den Punkt: Beim dramatischen Verlauf der Tragödie, der zum ›Untergang des Helden‹ führt, geht es um eine »Superfötation des Logischen«, eine Multiplizierung des Logischen, ein Übermaß und einen Exzess des Logischen, der an einem angemessenen Maß für die gewünschte Lösung des Problems gleichsam vorbeifliegt. Der Untergang des Helden als der Ausgang der Tragödie ergibt sich also nicht aus einer angemessenen Zuschreibung des Verdienstes und der Schuld, einer verständlichen Verteilung von »Glück und Unglück«. Das Handeln ist nämlich insofern tragisch, als dessen Schuld sich aus einem nicht ausgeglichenen, nie auszugleichenden Wägungsverhältnis zwischen Schuld und Sühne ergibt – aus einem Verhältnis, das über das Logische hinausgeht, durch das die Beweisführung für die gewünschte, für die optimistische Lösung in logischer Form unendlich multipliziert hindurchgehen muss, mithin eine »Superfötation des Logischen« hervorruft. Das Zugrundegehen des Helden der Tragödie geht über das Logische hinaus; er geht inmitten einer Proliferation des Logischen zugrunde, »als ob alle diese Figuren […] an einer Superfötation des Logischen zu Grunde giengen [sic]«, weil die Schuld der Handlung aus der logischen Sicht nicht vollkommen zuzuschreiben ist und in der logischen Einsicht nicht aufgeht. Die logische Zuschreibung der Schuld in der Tragödie misslingt deshalb, weil die dia-logische Multiplizierung des Logischen, der dia-logische Prozess der Zuschreibung der Schuld nie abzuschließen ist. Das Tragische selbst besteht in dieser dia-logischen Unabschließbarkeit des Prozesses: Unabschließbarkeit gerade unter der Form des »im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus« (118). Das Tragische stammt aus der notwendigen Selbstspaltung des Logos in dessen optimistischem Selbstvertrauen. Die tragische Handlung besteht darin, dass unter diesem logischen Vertrauen dem
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Handelnden ein unverdientes Maß, ein Übermaß an Schuld zugeschrieben werden muss. Die dialogische Form der Tragödie ist die Darstellungsform des Tragischen in dieser unendlichen Multiplizierung des Logischen unter dem Optimismus des Logischen.57 Der dia-logische Prozess der Tragödie vollzieht sich, bis er sich deshalb superfötatisch zuspitzt, weil der Streitprozess sich nie als abgeschlossen und ›erledigt‹ beenden lässt. 58 Diese Unendlichkeit des DiaLogischen rührt daher, dass das Logische der Handlung mit dem Dialogischen der Handlung, die Totalität der Handlung mit der Singularität der Handlung inkommensurabel ist; daher also, dass der logos der Tragödie durch die unreduzierbare Singularität, Positionalität und Pluralität des dialogos geöffnet wird.
57 Rosenzweig: »Das Tragische hat sich gerade deshalb die Kunstform des Dramas geschaffen, um das Schweigen darstellen zu können« (ders., Der Stern der Erlösung, S. 83); »der Logos der Tragödie ist antilogisch. […] Verschiedene Standpunkte werden [in der Tragödie] im Logos vertreten, unvereinbare Standpunkte« (Schadewaldt, Die griechische Tragödie, S. 57). 58 Ein solches Nie-beendet-werden-Können des dialogischen Prozesses der Tragödie hat René Girard in seiner Studie Le sacré et la violence hervorgehoben, als er den Prozess mit dem ›anthropologischen‹ Befund in Verhältnis setzte, dass die Tragödie eine Dimension inszeniert, in der der Konflikt und Kampf, der auf der basalen Ebene der menschlichen Gemeinschaften zwar zu explodieren droht, unter der Mythologie aber unterdrückt worden ist, wirklich zum Zuge kommt; aus seiner Perspektive ist der Ausgang der Tragödie, die Identifizierung eines Schuldigen, eine Art Ausweg: Die Lösung des allgemeinen und nie zu beendenden Streits zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft kann darin gefunden werden, dass das Problem der allgemeinen Schuld des nie zu beendenden Streits dadurch wie durch ein Notbehelf gelöst wird, dass sie übereinstimmend dem ›Helden‹ als einem Sündenbock zugeschrieben wird. Unabhängig davon, inwiefern diese Sündenbock-Theorie sinnvoll ist, zeigt Girards Darstellung, dass die tragische Schuldzuschreibung in ihrem Grundzug immer einen Sprung erfordert. Diesen Charakter des Nie-beendet-Werdens hat auch Walter Benjamin im Hinblick auf das non liquet des Prozesses betont (ders., Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 296); dazu vgl. Agamben, Die Sprache und der Tod, S. 145 f.
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7.2.1 Das Tragische am Handeln und drei Dimensionen der korrelationalen Entzweiung Die Tragödie ist die Kunst der Darstellung des Tragischen. Und diese Darstellung ist erst möglich, wenn eine transzendentalgenetische Transformation des Chors eintritt und sich damit ein Raum öffnet, in dem sich eine Darstellung des Undarstellbaren, des Inkommensurablen vollzieht. Aber wenn man nicht vergisst, dass alles im tragischen Raum gezeigt und sichtbar wird, kann man nun nicht vermeiden, zu fragen, woran die Tragödie das Tragische zeigt, woran in der tragischen Darstellung das Tragische sichtbar wird. Die Antwort darauf müsste lauten, dass das Tragische am Handeln gezeigt und sichtbar wird. Die Darstellung des Tragischen vollzieht sich an nichts anderem als am Handeln. Das Undarstellbare, das Übermäßige und das Inkommensurable wird am Handeln sichtbar dargestellt. Das Handeln ist nämlich das Moment, der Anlass der Darstellung des Tragischen. Tragisch ist ein Handeln. Der Begriff des Tragischen lässt sich also in dem Maße richtig begreifen, als er durch die Kategorie der Handlung verstanden wird. Denn der korrelative Sachverhalt des Tragischen kann erst am tragischen Handeln erscheinen. Dieser Sachverhalt lässt sich zunächst in formaler Hinsicht wie folgt verstehen: Die Darstellung des Tragischen beruht auf einer Konstellation zwischen dem tragischen Handeln und dem anspruchsvollen Raum des Tragischen auf der Ebene des bühnendispositivisch-formalen Arrangements. Tragisch ist ein Handeln, insofern es sich (in) diesem Raum öffnet und aussetzt; der chorisch geöffnete Raum wird aber seinerseits insofern zu einem Ort der Sichtbarkeit des Tragischen, als das sich darin abspielende Handeln sich dadurch setzt, dass es sich darin völlig aussetzt. Dadurch, dass der Chor sich auf den Chor durch das ZumZuge-Kommen der dialogischen Handlung beschränkt, die ihrerseits durch die Aussetzung vor dem Chor gesetzt wird, wird das Tragische bzw. die Tragödie geboren. Die tragische Handlung ist eine vom Chor aus-gesetzte und durch die chorische Aussetzung gesetzte, während der Chor dadurch eine Begrenzung erfährt, dass er sich für das Handeln transzendentalisch installiert. Man kann diese Korrelativität des Tragischen am Handeln aber des Weiteren im Hinblick auf zwei andere dramatisch-inhaltliche Elemente der Tragödie bemerken, die nur am Handeln sinnvoll werden: 1) Leiden/Schuld und 2) Schicksal. 1) Eine Erfahrung der Aus-Setzung des Handelns wird auf der dramatischinhaltlichen Ebene so dargestellt, dass das Leiden und das Handeln miteinander
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zusammenhängen. Wenn es in der Tragödie, wie Nietzsche betont, um das Leiden geht, geht das tragische Leiden mit dem Handeln einher. Ödipus und Prometheus, zwei repräsentative Figuren der GT für das tragische Leiden, leiden, indem sie handeln. Das Tragische besteht weder im Leiden selbst noch im Handeln als solchem, sondern gerade in diesem korrelativen Verhältnis des ›Indem‹, im Verhältnis zwischen dem Handeln und dem Leiden. Diese Korrelation des Leidens und des Handelns in der Tragödie bedeutet aber nicht einfach, dass das Leiden das Resultat des Handelns sei. Die Größe des tragischen Leidens geht nämlich nicht mit derjenigen (des Fehlgehens) der Handlung einher. Sie ist nicht proportional zum Handeln. Vielmehr ist das tragische Leiden das Leiden nur am Handeln. Das Leiden der Tragödie ist asymmetrisch groß gegenüber dem Handeln. Das Handeln ist nur wie ein Katalysator des Leidens. In der Tragödie besteht zwischen Fehler und Leiden, zwischen Schuld und Strafe kein auszugleichendes Verhältnis. Das tragische (Leiden am) Handeln besteht darin, dass das Handeln einen außergewöhnlichen Anspruch, ja einen Anspruch außer Maß, eine Aussetzung außer Maß mit sich führt. Das Tragische der Tragödie besteht in dieser Asymmetrie des Leidens gegenüber oder an dem Handeln.59 Der korrelative Zusammenhang der tragischen Asymmetrie am Handeln lässt sich wiederum an einem Moment der Handlung, der Entscheidung nämlich, zeigen: Bruno Snell hat den Handlungsbegriff erneut ins Zentrum der Tragödiendiskussion gestellt, und zwar dadurch, dass er den Begriff des Handelns der Tragödie (dran im Gegensatz zu prattein in seiner philologischen Exegese) als SichEntscheiden oder Sich-Entschließen zur Handlung interpretiert. 60 Dementsprechend wird die tragische Handlung in der Frageform »was tun?« oder »was soll ich tun?« exempliziert oder emblematisiert – einer Frage, die Orestes sich vor dem Vollzug seiner Handlung gestellt hat (»ti draso?«). Man mag bei dieser
59 Zur Asymmetrie des Leidens gegenüber dem (Fehl-)Handeln in der griechischen Tragödie im Hinblick auf die »strafende Gerechtigkeit«, nach der es, wo es Leiden gibt, auch Schuld gibt, vgl. Nietzsche, Morgenröte § 78 (KSA 3, 76 f.; Herv. i.O.). Dieser Charakter des wesentlichen Überflusses oder Übermaßes des Leidens im Hinblick auf die Schuld macht in der weiteren Entwicklung des Nietzscheʼschen Gedankens eine basale Dimension aus: Er wirft dem Utilitarismus vor, für ihn sei das Leiden am Dasein lediglich etwas, das nach einem Kalkül des Glücks und des Unglücks zu beseitigen sei, und lobt dagegen Schopenhauer dafür, dass dieser sich über die Grundlosigkeit des Daseins oder den grundsätzlichen Schmerzcharakter des Daseins Gedanken gemacht habe. 60 Snell, Aischylos und das Handeln im Drama; zum Moment der Ent-Scheidung – krinein – in der Tragödie vgl. auch Jacqueline de Romilly, Time in Greek Tragedy.
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Charakterisierung der Fragestellung der tragischen Handlung zwar aufgrund ihres Fragecharakters an eine solche Öffnung auf die Zukunft denken, wie sie Bruno Snell gemeint hat; 61 um eine offene Zukünftigkeit, die auf einer zwar noch ausbleibenden, aber unmittelbar bevorstehenden Entscheidung zwischen mehreren Handlungsmöglichkeiten beruht,62 geht es in der Tragödie aber nicht: Wenn es in der Tragödie um eine Zukunft geht, ist es eine geschlossene Künftigkeit, eine schicksalhaft offene Zukunft. Im Fall des Orestes ist seine Frage »was tun?« nicht auf die offenen Handlungsmöglichkeiten vor ihm gerichtet, sondern er steht vor der bereits determinierten Handlungsoption: dem Rachevollzug, den auszuführen er sich freiwillig entschließen müsste.63 Die Handlung der Tragödie in ihrer Frageform singularisiert und emphatisiert zwar den Moment der Tragödie, in dem die Handlung an den Punkt einer geöffneten Gegenwart gestellt wird. Wenn aber diese Entzweiung, die immer das Moment in sich enthält, dass die »Aktivität der Tat selbst auf dem Spiel steht«, den Handelnden perspektiviert,64 wird durch diese Perspektivierung nicht eine Reihe von offenen Handlungsmöglichkeiten geboten. Der Handelnde wählt vielmehr in dieser Wahllosigkeit seine Handlung. Er nimmt diese einzige Möglichkeit zur Handlung auf sich. Das Tragische ist angesiedelt in diesem Moment des passiven Sich-Entscheidens, in diesem winzigen Augenblick des Zauderns, einem kleinen Raum der Suspendierung der Tat, von dem her sich der Handelnde zu seiner Handlung entschließt und aus dem heraus seine Schuld überhaupt stammt. Die tragische Handlung des Orestes besteht nicht bloß in seinem Rachevollzug selbst, sondern in einer solchen augenblicklichen Entscheidung zur wahllosen Handlung, die diese erst in eine tragische Handlung verwandelt. Das Tragische ist nicht eine Eigenschaft eines Handelns selber, sondern besteht in einer asymmetrischen Verdopplung am Handeln: Der Entschluss als eine Handlung, die eine andere Handlung (den Rachevollzug) verdoppelt, und zwar in einem Zusam-
61 Von der »Fülle der Möglichkeiten«, den »zukünftige[n] Möglichkeiten« oder aber der »Sorge um die werdende, zukünftige Welt« ist die Rede (Snell, a.a.O., 25, 43, 64). 62 Snell sieht die Freiheit in der Tragödie »nur in der Wahl eines bestimmten Handelns« (Snell, a.a.O., 65). 63 Versenyi, Manʼs Measure: A Study of the Greek Image of Man from Homer to Sophocles, S. 170, hat dazu richtig bemerkt: »he[: Bruno Snell] laid too great an emphasis on the openness of the alternatives at the moment of dicision and too little on the nature of the alternatives themselves«; Snell hat selbst das Moment des Widerspruchs zwischen »vorwärtsschreitenden und hemmenden Kräfte[n]« (Snell, a.a.O, 127-132) nicht vernachlässigt. 64 Vogl, Über das Zaudern, S. 33.
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menhang, in dem alles nach einer mythisch-objektiven Weltordnung bereits determiniert ist, zieht die Verantwortung und Beschuldigung als Resultat nach sich. Und damit erschließt sich der Zugang zum Schicksal: 2) Das Tragische wird dadurch in der Tragödie sichtbar dargestellt, dass sich das Leiden oder die Schuld in einer asymmetrischen Korrelation aus dem Handeln ergibt. In der Darstellung des Tragischen spielt aber neben dem Leiden bzw. der Schuld noch ein inhaltlich-dramatisches Element eine wesentliche Rolle, das ebenfalls mit dem Handeln im korrelativen Verhältnis steht: das Schicksal. Und durch die Darstellung des Tragischen im Spiel des Handelns mit dem Schicksal wird eine besonders geschichtsphilosophische Wandlung gezeichnet – eine Transformation der Weltordnung, die Transformation der episch-mythologischen Ordnung in die tragische: Zunächst könnte man von einem Gegensatz zwischen dem Epischen und dem Tragischen sprechen, den Nietzsche in der GT wiederholt zur Darstellung bringt: Die epische Welt ist eine sichtbare Welt des Mythischen, während die tragische Welt eine ist, in der der Mythos gezeigt wird; in formaler Hinsicht besteht der Mythos der epischen Welt in den bereits vollkommen sichtbaren, vollkommen sichtbar gewordenen Handlungen, während die tragische Art des Mythos dadurch zustande kommt, dass sich die Handlung aus sich heraus zeigt, dass sich die Handlung im eigenen Vollzug zeigt. In der epischen Darstellung des Mythos sind die Handlungen vervollständigt und vollendet, während es in der tragischen um den Prozess des Sich-Herauszeigens der Handlung geht. Die epische Handlung wird in einer vollendeten Gegenwart distanziert geschaut, während sich die tragische im öffnenden Zeigen herausbildet. Ein Moment des Selbstvergessens herrscht zwar in beiden Darstellungen, aber sogleich bestätigt sich die Differenz: Die erstere erschöpft sich in einem selbstvergessenen Anschauungsgenuss in Distanz, 65 während die letztere sich zunächst ekstatischselbstvergessend in den Darstellungsgegenstand vertieft und sich dann aus ihm heraushandelt und -redet.66 In dieser einfachen Entgegensetzung zwischen dem Epischen und dem Tragischen (oder eher Dramatischen) sieht man aber den Zusammenhang der Hand-
65 Mehrere Stellen in der GT verweisen auf den Zustand eines Selbst-»Verschlungenseins« (37), -»Verlorenseins« (84), -›Befangenseins‹ (38 f.), -›Versunkenseins‹ (40), -›Entzücktseins‹ (38) in der Anschauung der epischen Bilder. Er ist ein »ruhige[s] Entzücken an der Welt der individuatio« (150). 66 Dies nennt Nietzsche einen »Prozess des Schauspielers« (60), der aus seinem Auge mit dem »Prozess des Tragödienchors« gleichzusetzen ist, der »an dem Anfang der Entwickelung des Dramas« (61) stehe.
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lung mit dem Schicksal kaum. Das Tragische lässt sich also nicht aus dieser schieren Entgegensetzung charakterisieren. In der tragischen Darstellung geht es nicht bloß um einen Gegensatz zur epischen, sondern um eine Verdopplung der Handlung, also um eine sich-herauszeigende Handlung der epischen Handlungen, um eine tragische Aus-Setzung der vollendeten Sichtbarkeit der epischmythischen Art der Handlung durch die zeigende Handlung. Die tragische Handlung vollzieht sich an der epischen Handlung. Damit wiederholt die tragische Kunst die geschichtlich und geschichtsphilosophisch vorangegangene epische, indem sie den Unterschied zwischen der zeigenden und der epischen Darstellung in der Weise zeigt, dass sich die epische Art der Handlung (logos) durch die Handlung des Sich-Zeigens (dia-logos) aus-setzt; dass sich der epische mythos (= logos) dialogisch aus-setzt. Die tragische Kunst besteht darin, die Differenz zwischen sich und der epischen Kunst darzustellen. Darin erfährt der Handelnde die episch-mythische Welt- und Handlungsordnung als jene schicksalsmäßig wirkende Macht oder Gewalt der archaischen Tradition, die gerade durch seine erwachende und erweckende Handlung hervorgerufen, ja erst herausgestaltet wird. Die tragische Aus-Setzung der Handlung vollzieht sich nämlich an der epischen Objektivität der Handlung, auf die sich die tragische Handlung in zweierlei Weise bezieht: Zum einen erfährt die im Sich-Zeigen vereinzelte Handlung die Handlungs-Objektivität als vollkommen objektiv oder mehr-als-objektiv, also als schicksalhaft, als dasjenige, dessen Notwendigkeit durch den Handelnden nicht vorher eingesehen, nur nachträglich erfahren und nur ›durch Leiden gelernt‹ wird; zum anderen aber bezieht sich die tragische Handlung auf diese Schicksalsmäßigkeit als ein Moment in ihr: Die (Ultra-)Objektivität des Schicksals ergibt sich gerade daraus, dass es gehandelt wird, dass es durch ein Handeln wirksam wird; das Schicksal steht gewissermaßen in einer kooperativen Relation mit dem Handeln: Ohne dass es gehandelt wird, tritt das Schicksal nicht ein; die Objektivität der Handlung tritt allein dem einzelnen Handelnden als schicksalhaft, als Gewalt, Macht und Recht des Schicksals entgegen; die Handlung der Übertretung ruft erst die Macht des Schicksals hervor; man kann sogar sagen, dass die Handlung der Hybris das Recht des Schicksals ›konstituiert‹ oder »hervorbringt«, wie Christoph Menke sagt.67 Dieses Hervorrufen oder Hervorbringen
67 Menke, »Ästhetik der Tragödie: Romantische Perspektiven«, S. 187. Ein Beispiel dieser das Schicksal hervorrufende wie -bringende Handlung wäre die ›zu endliche‹ Deutung des Orakels bei Ödipus – allerdings in Hölderlins Kommentar (Hölderlin, »Anmerkungen zum Oedipus«, S. 96). Im Anschluss an Hölderlin hat Christoph Menke versucht, die Verrechtlichung des Orakels und Selbstverfluchung als Ödipus’ Handlung darzustellen; Menke, Die Gegenwart der Tragödie, S. 25-50. Die Weise des Ein-
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des Schicksals vollzieht sich aber nicht etwa durch eine Zauberformel des Magiers, sondern das Handeln ist vielmehr ein verkörpernder Katalysator und an sich kristallisierender Faktor des tragischen Schicksals. Das Handeln ruft an sich selbst jene eine, schlechterdings unmittelbare Geltung, also eine blinde Geltung fordernde Ordnung hervor. Es erleidet die Macht und das Recht dieser Ordnung, des Logos dieser Ordnung an sich, am dia-logischen Körper.68 Damit zugleich wird das Schicksal nicht dasjenige von irgendwem anders, sondern das Schicksal dieses Handelnden, also sein Schicksal. 7.2.2 Teilung der Welt, Teilung der Kunst: ›Vollendung‹ des Handelns am Zuschauen Die tragische Darstellung des Handelns bezieht sich also auf jene geschichtsphilosophische Dimension, in der Nietzsche die Fragen stellt, wie man die erste Kultur noch einmal, also als eine zweite schaffen kann, und welche zweite Kunst man dafür konzipieren und einsetzen muss. Bei der Beantwortung dieser Fragen ist es wichtig, dass die Tragödie als ein vorzügliches geschichtliches Beispiel dieser zweiten Kunst eine besondere, d.h. eine apriorische Geschichtlichkeit als ihre Konstitutionsbedingung in sich haben sollte, die sie dazu zwingt, von Geburt an eine angeborene Fremdheit in sich zu enthalten. Und diese apriorische und angeborene Fremdheit hat sich als nichts anderes ergeben als ein ›Tod‹, der in der Tragödie als Kunst angelegt ist. Dieser Tod der Kunst ist also, wie oben gesehen, nicht eine äußere Grenze, sondern eine innere, die der Geburt der tragischen Kunst strukturell vorangegangen sein sollte. Bei der Tragödie sind also der Tod und die Geburt einander verpflichtet und Nietzsche nennt dies eine Umgeburt der Tragödie für die zweite Geburt der Kultur. Aufgrund dieser Umgeburt als einer Wiedergeburt vollzieht die tragische Kunst eine geschichtsphilosophische Vertiefung, aufgrund derer nun die Welt der Kultur, das Handeln des Akteurs und die Kunst selbst eine neue Dimension erhalten. Und diese Vertiefung bei der Umgeburt der Kunst und Kultur ist erst möglich durch eine Dimension der aufklärerischen Erfahrung eines reflexiven Risses und eines radikalen Rückzugs in sich, einer tödlichen Erfahrung für die Kunst, einer Erfahrung der Unmöglichkeit der Kultur, Welt, Kunst und des Handelns überhaupt. Ein analyti-
tritts der ›mythischen Gewalt‹, die Walter Benjamin in Zur Kritik der Gewalt konzipiert, ist genau so, wie die Gewalt des tragischen Schicksals eintritt. 68 »Das griechischtragische Wort ist tödtlichfactisch, weil der Leib, den es ergreift, wirklich tödtet.« (Hölderlin, »Anmerkungen zur Antigonä«, in: ders., Theoretische Schriften, S. 101-109, hier: 106; Herv. i.O.)
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sches Moment sollte für die Wiedergeburt am Werk sein – ein konstitutives Moment, in dem man ein Aus-den-Fugen-Geraten der Welt selbst, eine Ohnmacht der Handlung erfährt, wie Nietzsche unter der zunächst überraschenden Heranziehung von Hamlet sagt (57). 69 In dieser geschichtsphilosophischanalytischen Dimension der tragischen Kunst werden nämlich alle Handlungsschemata so dargestellt, dass sie in der Schwebe sind und dass der Mythos als die Ordnung des Weltbildes selbst einen Stillstand erlebt und einen momentanen Tod erfährt, um neu geboren zu werden, um »umgeboren« zu werden: »Jetzt, unter dem übermächtigen Einflusse der tragischen Dichtung, werden die homerischen Mythen von Neuem umgeboren und zeigen in dieser Metempsychose, dass inzwischen auch die olympische Cultur von einer noch tieferen Weltbetrachtung [tragischen Weltbetrachtung, D.J] besiegt worden ist.« (73; Hervorh. von mir)
Die tragische Kunst ist also in dem Sinne nicht nur nachfolgend, sondern revolutionär gegenüber der epischen in ihrer Wiederholung, dass in der tragischen Kunst eine ganze »Cultur« oder eine ganze Weltbetrachtungsweise bis zu dem Grad eine Vertiefung erfährt, dass sie in und durch die tragische Kunst eine Umgebärung, einen Tod und eine Neugeburt, eine »Metempsychose«, nicht bloß eine Evolution und Veränderung, sondern eine Revolution und Subversion erfahren sollte.70 Ein Tod des Mythos ist notwendig, damit er als ein »noch tiefere[r]« wiedergeboren wird. Ein Tod der Kunst ist notwendig, damit sie erst als Kunst geboren wird. Bei Nietzsches Rede von der Umgeburt und Metempsychose des Mythos und der Kunst ist es zwar nicht zu übersehen, dass er davon ausgeht, dass es hier um eine Änderung äußerer Form geht, in der sich die ›Seele‹ des Mythos nur um ihren episch-homerischen Körper gebracht und einen neuen, tra-
69 Zunächst überraschend, weil Nietzsche hier den ›dionysischen Menschen‹, der den archaischen Pessimismus repräsentiert, mit der Figur Hamlet, der die Erfahrung des modernen Handlungsabgrunds vertritt, verbindet. Aber nur zunächst überraschend, weil die Tragödie für Nietzsche keine bloße einmalig archaische Kunstgattung, sondern Kunst im Hinblick auf die Wiederholung der Kultur und Welt, auf die (Neu-) Gründung der Kulturwelt ist. Zu Hamlet als die Figur, die für die Erfahrung des modernen Handlungsabgrundes repräsentativ ist, vgl. Friedrich Schlegels Beschreibung, die mit seiner Selbsterfahrung eng verbunden ist; ein Exzerpt davon kann man bei Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie 1, S. 129 ff. lesen. 70 Ein geschichtsphilosophischer Zusammenhang ist hier vollkommen präsent, dessen Fehlen Benjamin bei Nietzsches Erörterung der Tragödie schilt (Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 283).
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gischen bekommen hat: Die Umgeburt ist von einem romantisch-metaphysischen Kern her gedacht, der selbst nicht einen Tod, sondern nur eine Verdrängung oder Unterdrückung erfährt und der ein mögliches Wieder-zum-VorscheinKommen verspricht. Man kann jedoch auch nicht verkennen, dass Nietzsche hier eine (Wieder-)Geburt des Mythos und der Kunst bis zu dem Punkt berücksichtigt, an dem er danach fragt, wie eine Um- oder Wiedergeburt aussehen sollte, die durch den Tod, durch eine Ab-Scheidung gespalten ist, die die Kultur als Kultur, den Mythos als Mythos, die Kunst als Kunst und die Welt als Welt erst möglich macht. Die Tragödie ist die Kunst, in ihrer formalen Rauminstallierung die tragischen Korrelationen am Handeln darzustellen, wie wir bisher gesehen haben. Aus dem geschichtsphilosophischen Zusammenhang ist aber dieser Satz zu ergänzen: Die tragische Kunst zeigt in ihrer formalen Rauminstallierung die dramatisch-inhaltlichen Korrelationen des Handelns derart, dass sich daraus ein neuer geschichtlicher Raum ergibt, in dem eine zweite Welt ermöglicht wird. Die Handlung, die sich im tragischen Raum darstellt, verdoppelt sich in der Mitte des geschichtlichen und geschichtsphilosophischen Wandels der Welt- und Handlungsordnung. Der Wandel geht von einer Ordnung, deren Kunst sich überhaupt als Natur präsentiert und deren Welt sich darin als eine Natur-Welt darstellt, zu einer anderen, deren Kunst darin besteht, sich überhaupt als eine Kunst darzustellen, und deren Welt sich darin überhaupt als eine Welt zeigt. Dabei ändern sich die Ordnungen der Handlung, der Welt und der Kunst. In der und durch die tragische Kunst vollzieht sich eine Reihe von Wiederholungen: Die Handlung führt nicht einen neuen inhaltlichen Wert aus, sondern sie fügt dem überlieferten Handlungswert nur einen Darstellungs- ja einen Ausstellungswert hinzu; in diesem Dar- und Ausstellungswert wird das An-sich-Sein der Welt, in der gehandelt wird, in ihrem Für-andere-Sein selbst wiederholt. Die tragische Kunst ist eine dramatische Wiederholung der epischen in ihrer Konzentration auf ein Handeln, das in dieser Konzentration mit der episch-mythischen Handlungsordnung bricht.71 Und in der und durch die tragische Kunst ergibt sich durch den Vollzug der Wiederholung eine Reihe von Öffnungen: Die in sich vollendete Handlung öffnet sich durch ihre Wiederholung in der Handlung, die beim SichZeigen im Moment ihres Vollzuges zeitweilig anhält; die mythologische Weltund Handlungsordnung stellt sich in der darstellerischen Wiederholung im ›Außen‹ dar; die Kunst zur vollkommenen Immanenz stellt sich in der Tragödie so
71 Ich habe gezeigt, dass Nietzsches Betonung des Leidens in der Tragödie gegenüber dem Handeln nichts anderes ist als eine Hervorhebung des tragischen Leidens im Handeln, eines an das Handeln gebundenen Leidens, des Leidens als Handeln.
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dar, dass sie ihre Dynamik selbst analytisch öffnet. Und in der und durch die tragische Kunst, die die Kunst der tragischen Korrelation ist, zeigt sich damit schließlich eine Reihe von Teilungen: Infolge der Handlung wird die Handlungsordnung in das Handeln und sein Schicksal geteilt; im Spiegel der Kunst zeigt die Welt eine Differenzierung in sich, eine Errichtung einer Welt in der Welt, die sich inmitten der geschlossenen Welt einrichtet; und die Kunst wiederholt sich als Kunst, indem sie sich zwischen Kunst und Welt eingeschoben hat. Durch das Vollziehen der Wiederholung, der Öffnung und der Teilung entstehen die Kunst, die Welt und die Handlung jeweils mit ihrem dialektischen Pendant: mit der Nicht-Kunst (1), der Nicht-Welt (2) und der Nicht-Handlung (3). Dabei verwickeln sich diese drei Termini, die Kunst, die Welt und das Handeln, miteinander und greifen in eigenartiger Weise ineinander über. 1) Kunst wird zur tragischen Kunst erst, indem sie einen Außenbezug in sich enthält. Erst dann ist die Kunst autonom geworden. Die tragische Kunst ist die zum ersten Mal autonom gewordene Kunst, die ihre Grenzen überschreitet, indem sie ihren Außenort, wenn auch implizit, in sich darstellt. Die Kunst verselbständigt sich aufgrund des Außer-sich-Werdens durch den Einbezug des Weltbezugs in die Kunst. Die Kunst der Tragödie stellt nicht nur eine Handlung dar, sondern stellt mit der Darstellung einer einzelnen Handlung einen Weltbezug überhaupt dar, in den diese Handlung integriert ist. Die Kunst enthält diese Weltbezüglichkeit in sich als einen Fremdbezug, als ein kunstfremdes Element. Dass die Kunst einen Weltbezug hat, bedeutet daher nicht, dass die Kunst als eine Entität in die Welt hineinmarschieren würde: Weder greift die Kunst direkt in die Welt ein – dies wäre nicht mehr Kunst, sondern ›Handlung‹ –, noch ist sie eine getrennt produzierte Sondersphäre, die die Welt mehr oder weniger getreu, mal aktiv und mal passiv nachahmt, noch gibt es eine von der Welt vollkommen getrennte irrelevante Kunst, eine Kunst nur für sich. Das Kunstverständnis, das im Hinblick auf den Weltbezug der Kunst von der Alternative zwischen dem direkten Eingriff und der irrelevanten Selbständigkeit ausgeht, gehört bloß zu einem neuzeitlichen Regime der Ästhetik, in dem die Kunst im Unterschied zu den anderen als eine unabhängige Sphäre erscheint, die mit ihrem eigenen Regelwerk ausgestattet ist. Wird nun aber der geschichtsphilosophische oder genealogische Zusammenhang, in dem die Kunst als Kunst zum Zuge kommt, berücksichtigt, besteht die ›Autonomie‹ der Kunst vielmehr darin, dass sie einen Raum öffnet, in dem sich die Kunst und die Welt erst voneinander trennen lassen. Die Kunst stellt dann nicht mehr in einer immanenten Übereinstimmung mit der Welt diese in ihrer Vollkommenheit und Geschlossenheit dar, sondern widerspiegelt die Welt in einem konzentrischen Spiegel, der sich auf eine Handlung fokussiert. Die (erste) ›autonome‹ Kunst beruht also auf der Bezugnahme zur Welt, in der
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es in der darstellerischen Weltoffenbarung um die Weltlichkeit selbst geht. Diese offenbarende Bezugnahme bedeutet aber nicht etwa einen Schritt in die Richtung, dass die Welt allmählich zu sich käme. Im Raum der Tragödie stellt sich die Welt vielmehr in ihrem Weltbezug so dar, dass eine Verhandlung über die Welt-Ordnung in ihrer virtuellen Ganzheit zum Ausdruck kommt. Die Kunst, die zur tragischen autonomen geworden ist, zieht sich nämlich weder von der Welt zurück, noch greift sie direkt in eine Welt-Offenbarung oder -Erschließung ein. Wenn es in der tragischen Kunst um eine Erschließung der Welt geht, erschließt sich keine (neue) Welt, indem sie eine Welt selbst erschließt, sondern indem die Kunst in der schon erschlossenen und damit in sich geschlossenen Welt eine Welt in der Welt, also einen Bereich der Nicht-Kunst in der Kunst installiert, damit die Welt in diesem virtuellen Bereich zwischen der Welt und der Kunst sich als Welt erst von sich differenziert. Die Kunst erschließt als autonome also selbst keine Welt, sondern erschließt eine (neue) Welterschließung, wie Martin Seel richtig bemerkt.72 Aber wir müssen sogleich hinzufügen, dass die Kunst, die als tragische Kunst erst autonom geworden ist, dies tut, indem sie eine Welt in der Welt, also eine Welt der Nicht-Kunst in sich einrichtet, indem sie sich also selbst in ihrem Weltbezug zur Welt hin dadurch öffnet, dass sie in ihr autonomes Zentrum eine Zone der Nicht-Kunst einbezieht, also sich selbst in ihrer Äußerlichkeit spaltet, entäußert, entkunstet. Die tragische Kunst ist in zweierlei Weise eine der Entzweiung: Sie entzweit die Welt, indem sie in der Welt noch eine Welt einrichtet, die sich reflexiv von der Welt zurückzieht und sich auf die Welt zurückbezieht; sie entzweit sich selbst, indem sie bei der Welterschließung den Bereich der Nicht-Kunst in sich trägt. 2) Die tragische Kunst vollzieht also eine bis dahin unbekannte, unerhörte Teilung. Unerhört deshalb, weil die bisher bekannte Welt in dem Maße eine vollkommen integrierte, immanente und bestimmte ist, als die Handlung allein in ihrer unmittelbar geltenden Ordnung dargestellt wurde, während nun durch die auf die Handlung konzentrierte und sie absondernde Darstellung diese Ordnung selbst eine Teilung erfährt. Diese Teilung wird aber, wie erwähnt, nicht nur auf der Seite der Welt, sondern auch auf derjenigen der Kunst vollzogen: Trennt die Kunst sich von der Welt ab, tut sie es, indem sie diese sich von sich selbst trennen lässt; greift die Kunst in die Welt ein, tut sie es aber so, indem sie sich dadurch schafft, dass sie so an der Grenze zwischen Kunst und Welt arbeitet, dass die Kunst als Kunst, deren erste Form die Tragödie ist, die Welt dadurch verdoppelt, dass sie mitten in der Welt, also außer sich, einen Raum der NichtKunst, der der Raum der Nicht-Welt ist, den Raum einer Meta-Kunst, der der
72 Seel, »Kunst, Wahrheit, Welterschließung«, S. 50-54, 63-68.
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Raum der Meta-Welt ist, oder einen Raum der Außer-Kunst in der Kunst, der der Raum der Außer-Welt in der Welt ist, schafft.73 Jene Revolution des Mythos und der Welt, der Kultur und Kunst als Umgeburt in der tragischen Darstellungskunst hängt also damit zusammen, dass eine (Wieder-)Geburt der Kunst in ihrer tragischen Form mit der Erschaffung eines Raums einhergeht, in dem als einem Raum der Nicht-Welt in der Welt die ganze Welt sich versammelt. Diese Versammlung der ganzen Welt in der Nicht-Welt der Welt bringt daher notwendig eine Spaltung dieser Welt hervor – eine Spaltung nicht nur zwischen der Wirklichkeit und der Fiktion, sondern zwischen der Existenz und der Inexistenz, zwischen der (Wieder-)Belebung und der Exstirpation. Die Spaltung, die die Welt in der tragischen Kunst erfährt, ist also eine Krisis. Eine Ab-Scheidung, ein Tod, hat sich im Herzen der Welt eingerichtet, nachdem die Kunst ihre tödlich widerspiegelnde Kopie in die Welt gesetzt hatte. Die Kunst der Tragödie bringt in ihrem Raum der Außer-Kunst in der Kunst ein ›weltgeschichtlich‹ kritisches Moment hervor, um die Ordnung der Welt (wieder) zur Geltung zu bringen.74 Bei der Versammlung in diesem künstlich-kritischen Raum ist die Welt im wahrsten Sinne »außer ihrer selbst sich selbst gegenüber«.75 Die Versammlung des Ganzen und dessen Trennung von sich selbst hängen in der Kunst der Tragödie miteinander zusammen. Dieser Zusammenhang von Versammlung und Trennung macht selbst einen Raum der Erfahrung eines unerhörten Rückzugs, einer Regression und Reflexion in sich aus, also einen Raum, in dem das Handeln sich einer unerhörten Art des Nicht-Handelns gegenübersieht: dem Zuschauen.
73 Die Tragödie ist, so Christoph Menke, »diejenige Gestalt der Kunst, die, als und in der Kunst, das Verhältnis zwischen Kunst und Nicht-Kunst, zwischen Kunst und Leben oder Praxis, verhandelt« (Menke, Die Gegenwart der Tragödie, S. 119). Sie ist eine »Meta-Kunst« (Menke, a.a.O., S.120), nicht aber eine, die darin bestünde, sich nur auf sich auf einer Meta-Ebene zu beziehen, sondern eine »Kunst über den Unterschied von, ja, den Streit zwischen Kunst und Nicht-Kunst«; vgl. auch die Anmerkung auf derselben Seite zum Verhältnis zwischen Kunst und Philosophie. Ähnlich hat Barbara von Reibnitz in ihren Kommentaren zum Tragödienbuch den »diskursiv/logisch problematischen Status des ›tragischen Mythos‹«, also seinen ambivalenten Status zwischen Mythos und Philosophie deutlich gemacht. (Von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, S. 273) 74 »Die Volksfreude an der Tragödie zeigt eine ganz veränderte Welt als die Volksfreude am Epos und am Rhapsoden: nicht Fülle der Handlung und des Lebens, sondern Vertiefung einer einzelnen Handlung und daran Kritik des Lebens«. (Nietzsche, »Geschichte der griechische Litteratur«, S. 44) 75 Nancy, Kalkül des Dichters. Nach Hölderlins Maß, S. 23.
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3) Die Kunst der Tragödie schafft einen Ort, an dem also eine ganze Welt sich versammelt, indem sie sich selbstspaltend ihrer selbst gegenübersieht. Die tragische Kunst schafft den Raum für die Sichtbarkeit, in dem nicht nur die einzelnen Ordnungen und Handlungen gezeigt werden und die einzelnen Zuschauer diesen gegenübertreten. Dass einzelne Zuschauer diesen Raum betreten und sich dort vermengen, dass sie das Kunstwerk, das sich vor ihnen abspielt, bewundern oder kritisieren, also darüber urteilen, ist ein spätes Phänomen. Etwas muss vorher geschehen sein, damit dieses Zeigen und dieses Zuschauen in der tragischen Kunst Bedeutung erhalten können: Eine ›Entscheidung‹ dafür musste getroffen werden, dass eine Welt des Handelns gezeigt wird, indem das Handeln und das Zuschauen voneinander geschieden und unterschieden werden, damit sich eine Welt des Handelns überhaupt als der sichtbare Gegenstand zeigt. Die tragische Kunst, die nach der epischen die erste autonome Kunst ist, erhält diese Autonomie dadurch, dass sie von einer »Scheidung« der Instanz des Zuschauens ausgeht. Eine getrennte Instanz des Zuschauens und ein getrenntes Dasein der Zuschauenden ist daher die vollkommene Bedingung der tragischen Kunst. Eine Teilung des tragischen Raums in den des Handelns und in den des Zuschauens vollendet die Kunst der Tragödie. Dies wäre ein ursprüngliches Teilen, das die Kunst als Kunst entstehen lässt. Die Stellung der Instanz des Zuschauens ist aber besonders beachtenswert: Zu einer vollkommenen Trennung der Zuschauer von der Bühne hat sich Nietzsche unermüdlich kritisch geäußert. Eine solche Trennung sieht er in der Zuschauerschaft damaliger Zeit: Bei den Kritikern und denjenigen, die im Theater eine abendliche Entspannung, Unterhaltung und Anregung suchen.76 Nietzsche sieht zwar eine gegenüberstellende »Scheidung« vom Handeln und dem Zuschauen als die notwendige Bedingung der tragischen Kunst, die nicht mehr eine improvisatorisch-naturreligiöse Kultveranstaltung der Chormasse, sondern eine sich dramatisch-szenisch entfaltende »künstlerische Nachahmung« davon ist. Diese Scheidung ergibt sich aber daraus, dass sich der
76 Eine vollkommene, eine »generalisierte« Trennung – von Bildern und dem Leben, von Arbeiter und seinem Produkt, von Zuschauer und kontempliertem Objekt, von Spektakel und agierendem Menschen, von sichtbarer Welt und dem Denken etc. – ist die Grundlage des ›Spektakels‹, wie es Guy Debord analysiert hat: »Die Trennung ist das Alpha und das Omega des Spektakels«, und aufgrund dieser Generalisierung der Trennung vereint das Spektakel »das Getrennte […] als Getrenntes« und schafft damit eine »mythische Ordnung«, eine pseudo-mythische. Das Spektakel erscheint damit wie ein gegenübertretendes, im Bild verdichtetes Schicksal, das aber so erscheint, als wäre es ohne das Handeln »bereits präsent«. (Debord, La Société du Spectacle; zit. aus den Abschnitten 3, 25, 29, 42)
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Handelnde vor seinen Gleichartigen, vor den gleichartigen Anderen, vor den gleichartigen anderen Nicht-Handelnden selbst zeigt. Nietzsche nimmt diese Teilung unter den Gleichartigen in der tragischen Kunst wahr und sieht darin die Vermittlungsrolle zwischen dem Handeln und dem Zuschauen im Chor: »Die spätere Constitution des Tragödienchors ist die künstlerische Nachahmung jenes natürlichen Phänomens; bei der nun allerdings eine Scheidung von dionysischen Zuschauern und dionysischen Verzauberten[: Choreuten] nöthig wurde. Nur muss man sich immer gegenwärtig halten, dass das Publicum der attischen Tragödie sich selbst in dem Chore der Orchestra wiederfand, dass es im Grunde keinen Gegensatz von Publicum und Chor gab: denn alles ist nur ein grosser erhabener Chor von tanzenden und singenden Satyrn oder von solchen, welche sich durch diese Satyrn repräsentieren lassen.« (59; Hervorh. von mir)
Eine Bewegung oder Dynamik herrscht in Bezug auf die Scheidung und Vereinheitlichung zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum – weder einfach eine Trennung noch eine Einheit, sondern eine Dynamik des Ein- und Ausschließens der Zuschauer-Instanz im tragischen Raum. Die Thematik einer vollendeten Etablierung der tragischen Kunst als Kunst scheint sich um die Frage zu drehen, ob die Instanz des Zuschauens in die Bühnenhandlung zu integrieren oder davon auszuschließen ist. Die Installierung des tragischen Raums beruht aber eher auf einer Porosität oder einer Austauschbarkeit zwischen dem Bereich des Handelns und dem des Zuschauens.77 Das Zuschauen setzt zwar eine Scheidung oder Distanz voraus – dies bestätigt sich selbst bei dem Fall eines selbstbeobachtenden Zuschauens –, es wird aber in einer besonderen Weise in die Bühnenhandlung einbezogen. Dieser besondere Einbezug des Zuschauens lässt sich an der affektiven Anlage der Tragödie erläutern: Die zwei charakteristischen ›tragischen‹ Affekte, phobos und eleos, gehen von einem auf besondere Weise verstandenen Sinn der Nähe zwischen dem Handelnden und dem Zuschauenden aus. Sie setzen nämlich eine minimale Differenz in dieser Nähe oder eine notwendige Nähe in der Distanz voraus, um überhaupt hervorgerufen werden zu können. Wie Aristoteles ausführt, besteht die eigentümliche Wirksamkeit des tragischen Mythos, die ›tragische‹ Wirkungsweise des Mythos, in derjenigen »Annäherung« (Rhetorik 1382b), die eine, wenn auch immer winzige, wesentliche Distanz bleiben muss. – Die Annäherung würde also dann beseitigt, wenn das Wirkende dem Bewirk-
77 Benjamin hat bei seiner Nietzsche-Kritik diesen Umstand vereinfacht (Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 282).
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ten »allzu nah« (1386a) käme, sodass von der Wirkung nicht mehr die Rede sein kann, sondern nur noch von dem unmittelbaren Erleben. Bei der tragischen Darstellung bleiben das Handeln und das Zuschauen, wie sehr sie durch die Darstellung unendlich einander angenähert werden mögen, voneinander geschieden. Dies bedeutet aber nicht, dass die tragische Affektlage aufgrund einer Identifizierung oder Empathie des Zuschauenden gegenüber dem Handelnden entsteht, für die sich die Lage des Zuschauers und jene des Gegenstandes des Zuschauens klar voneinander unterscheiden. Dieser einfühlende Ansatz geht von einer vom Bühnengeschehen völlig unabhängigen Lage des Zuschauers aus, die für jene des Handelnden grundsätzlich irrelevant ist: Die Empathie ist eine psychische Fähigkeit des Zuschauers, sich trotz dieser Irrelevanz mit dem Handelnden zu identifizieren, und dient damit als Grundlage einer Lust, die sich daraus ergibt, dass der Lust-Genießende vom Lust-Gegenstand durch eine feste Distanz getrennt ist. Die tragische Art der Handlung, die der Gegenstand der tragischen Darstellung und des tragischen Zuschauens ist, ist aber weder, wie bei der episch-mythischen Darstellung, der Gegenstand eines unmittelbar-immanenten Erlebens noch, wie bei der von Nietzsche kritisierten Theatererfahrung der ›modernen‹ Zeit, derjenige der Empathie aus der Distanz.78 Der Zuschauer der tragischen Darstellung ist in gewissem Sinne vom Handelnden auf der Bühne nicht zu trennen: Er ist selbst ein Handelnder wie der Rezipient der epischen Darstellung der mythischen Ordnung, aber ein solcher Handelnder, der anders als dieser Rezipient, der immer zugleich ein gegenwärtig Handelnder ist, seine Handlung unterlässt und der Handlung der gleichartig Anderen zusieht. Und dieser Gleichartigkeit liegt keine Zeitgenossenschaft mehr zugrunde: Die Handlung als Gegenstand des Zuschauens ist eine der soeben vergangenen Zeit, eine der nahen Vergangenheit. Diese Nähe der Vergangenheit ist aber nicht einfach eine Zeitentfernung: »Als Mythus [als der Gegenstand der tragischen Darstellung] steht das Ereigniss [sic] nah, denn nur die Historie kennt die Zeitentfernung.«79 Die Nähe, die in der tragischen Darstellung präsentiert und durch diese hervorgebracht wird, vermittelt ja die Gleichartigkeit zwischen dem Handelnden und dem Zuschauenden, die die Grundlage der tragischen Wirkung ist. Diese Nähe kann aber
78 Wenn Bertolt Brecht darin die aristotelische Poetik kritisiert, dass diese – im Gegensatz zu seiner Verfremdungstheorie – von der Einfühlung ausgehe (Brecht, Schriften zum Theater I, S. 240 ff. und 298-303), scheint er diese Poetik bloß in der psychologischen Hinsicht zu verstehen, also nicht aus dem geschichtlichen und geschichtsphilosophischen Zusammenhang, dem diese Poetik entsprang; dieser Zusammenhang ist aber umstritten. 79 Nietzsche, »Geschichte der griechische Litteratur«, S. 44; Hervorh. von mir.
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diese Wirkung genau in dem Maße hervorbringen, wie der Zuschauende als Handelnder, der seine Handlung zeitweilig unterlässt, weiß, dass er nicht (mehr) so handelt wie der Handelnde unter der episch-mythischen Ordnung, dass er sich nämlich trotz jener gemeinsamen Grundlage der Gleichartigkeit von diesem distanziert. Diese Distanzierung bedeutet aber nicht schon ein endgültiges Vorbei. Diese Nähe ist so beschaffen, dass es unentschieden bleibt, ob in der tragischen Darstellung von der Gleichheit oder der Differenz, von der Intimität oder der Fremdheit ausgegangen wird. Eher herrscht ein Zirkel der Nähe. Die tragische Kunst als eine Technik, ausgehend von diesem Zirkel, führt den Zuschauern die Handlung vor. Sie ist eine Kunst, die, basierend auf jener nicht auf null reduzierbaren und doch kaum wahrnehmbaren Distanz, dem Handeln ein Moment des Nicht-Handelns hinzufügt. Im Zuge dessen erfahren die Zuschauer der Tragödie die Ereignisse der Tragödie so nah, wie der Handelnde der Tragödie sie als schicksalhaft erfahren. Eine besondere Nähe zu den Ereignissen der Tragödie stammt nämlich aus einem porösen Verhältnis zwischen dem Handelnden und dem Zuschauenden: Die Zuschauer erfahren die Ereignisse der Tragödie, als ob die Handelnden an der Stelle der Zuschauer handeln würden, und die Handelnden führen die Ereigniskette persönlich aus, als ob sich die Zuschauer die tragischen Ereignisse an der Stelle der Handelnden anschauen würden. Die Zuschauer der Tragödie sind nie bloß müßige Zuschauer, sondern die Handelnden, die aus ihrem Handlungszusammenhang gerissen sind, während die Handelnden der Tragödie nie bloß blind Handelnde sind, sondern diejenigen, die die Wirkung der Macht und des Rechts des tradierten Handlungszusammenhangs durch ihre handelnde Verkörperung an sich selbst erfahren und von dieser Wirkung zeugen. Die Zuschauer der Tragödie sind insofern tragische Zuschauer, als sie die Ereignisse, die sich vor ihnen abspielen, weder als mythologische, also in der vollkommenen Gegenwart erlebte, noch als historische, also als irrelevant vergangene erfahren, sondern sie aus einer aufdringlichen Nähe erfahren – sie werden also in dieser Nähe mit ihnen konfrontiert. Die tragische Kunst setzt also das Handeln und das Zuschauen in ein Verhältnis der Nähe. Das Handeln und das Zuschauen gehören zwar jeweils zur eigenen Welt: Die Welt des Handelns und die des Zuschauens sind also zwei voneinander geschiedene Welten. Jedoch bezieht sich die eine Welt in der Weise auf die andere, dass die eine Welt in der anderen ist: Die Welt des Zuschauens ist eine Welt in der Handlungswelt, die in diese mit ihrem zeitweiligen Unterlassen der Handlung eine unerhörte Ordnung des Nicht-Handelns, des Zuschauens, hineinschiebt. Die Technik für diesen Einschub und für die Teilung der Welt durch diesen Einschub ist die Kunst der Tragödie, die wie eine rhetorische Technik verfährt, die einen Schaltsatz in den Gesamtsatz hineinschiebt, um diesen in des-
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sen Gesamtheit auf der Ebene der zweiten Potenz zu modifizieren, ohne seine syntaktische Struktur als Stoff zu verändern. Eine zweite Welt aufgrund der tragischen Kunst ist insofern eine ganz neue Welt, als darin eine Nicht-Welt, eine Nicht-Kunst und ein Nicht-Handeln sich miteinander überkreuzen und sich die Welt, die Kunst und die Handlung von nun an nicht mehr auf eine natürliche Basis gründen. Der junge Nietzsche betont in der Tragödienschrift zwar immer wieder die mythisch-heimatliche Grundlage der Kultur; die Tragödie ist aber schon seit ihrer Geburt als Kunst in gewissem Sinn eine »nunmehr heimatlose« (111) Kunst. Dies kann man leicht bemerken, wenn man jenes nicht einfach gegensätzliche, sondern dialektische Verhältnis zwischen der Kunst und Wissenschaft erkennt, dessen Dynamik in der GT genug beschrieben wurde. Die Grundlage der tragischen Kunst ist eine Mischung, eine Mischung aus Kunst und Wissenschaft, aus Kunst und Historie, aus Kunst und Philosophie, aus Kunst und Welt, aus Kunst und Handeln. Einmal entbunden von ihrer ursprünglichen natürlich-heimatlich-mythischen Grundlage kann diese die Tragödie sich nicht wieder aneignen, indem diese Natürlichkeit und dieses Mythische einfach simuliert werden, sondern allein indem der Grund der Natürlichkeit und des Mythos angeeignet wird. Eine Aneignung dieses Grundes, die in der vorangegangenen Form der Kunst, im Epos, darum eher völlig ausgeschlossen als gefordert und gefördert worden ist, weil dieser Vollzug des Ausschlusses gerade die Bedingung der epischen Kunst war, die sich wie Natur vollzogen hat, – diese Aneignung des Grundes vollzieht sich durch die tragische Kunst als eine Aneignung des AbGrundes, als eine Ent-Aneignung des Grundes und damit etabliert sich die Tragödie erst als eine Kunst; eine Teilnahme an dieser Aneignung des Abgrunds ist die Bedingung der Wiederholung der Natur, des Mythos, der Heimat, der Welt und der Kunst – und an dieser entzweiten Aneignungskunst, an der man eine »Selbstentzweiung« (141) erfahren muss, müssen der Autor wie der Zuschauer, der Produzent wie der Rezipient der Tragödie teilnehmen, wie Nietzsche in der GT nachdrücklich sagt (§§ 22-24); das dionysische Moment in dieser Teilnahme ist also nicht nur, wie die meisten Leser der GT dann meinen, wenn sie sich besonders auf Nietzsches Darstellung der Zuschauer der Tragödie beziehen, ein Rausch-Zustand in der Suspendierung des bewussten Festhaltens an der Grenze der Individuen, sondern gerade in dieser rauschhaften Suspension ein Wachzustand im höchsten Maße. Das Wieder-Haben des Mythos in der Form des tragischen ist selbstwidersprüchlich; aber allein aufgrund dieser Selbstwidersprüchlichkeit ist die Wiederholung möglich – diese erkauft sich durch eine Einfügung der ›Erkenntnis‹ des Abgrundes des mythisch-schönen Scheins ins Herzen des
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Scheins, durch eine metaphysische Selbstspaltung der Welt und des Selbst, durch eine Kunst der »Selbstentzweiung«.80 7.2.3 Ausblick: Kunst und Politik der Tragödie Hannah Arendt hat lange Jahre versucht, am Handeln und am Zuschauen die Grundlage des politischen Raums zu suchen. Auf den ersten Blick scheinen ihre Versuche unterschiedlich geprägt zu sein, je nachdem sie sich in der frühen Zeit, in Vita Activa, an der Antike orientiert und den Begriff der Handlung im Gegensatz zur Herstellung bevorzugt oder in der späten Zeit, in Das Urteilen, unter der Berufung auf Kant die Funktion des Zuschauens gegenüber dem Handeln voranzustellen scheint.81 In der Tat aber ging es, könnte man sagen, grundsätzlich immer um eine Korrelation zwischen dem Handeln und dem Zuschauen – nur, dass mal die Seite des Handelns, mal die des Zuschauens betont ist: In der früheren Zeit geht es also um das Handeln, das im öffentlichen Raum in dessen Ausstellung vor dem Blick anderer auftritt und nur insofern als Handlung sinnvoll angenommen wird, als es der Gegenstand der blickenden Bewertung wird, während es in der späten Zeit um das Zuschauen geht, das aber vorangegangene Handlungen und Ereignisse voraussetzt, ohne welche es gegenstandslos wäre – und dabei muss man wiederum zugestehen, dass die Handlungen als Gegenstände des Zuschauens durch die zuschauende Beurteilung erst konstituiert werden. Ohne das Handeln wäre das Zuschauen bedeutungslos, ohne welches wiederum kein Handeln aufträte. Das Zuschauen hat am Handeln Anteil, indem es seine Erscheinung konstituiert, während das Handeln im Auftritt oder in der Erscheinung, also in einer Schaubarkeit sinnvoll ist. Dies sind die Begriffe, die den politischen Raum definieren: Das Politische hängt davon ab, den Raum der Schaubarkeit des Handelns zu erschließen; das Politische hängt von einer Kunst ab, diesen Raum zu erschließen. Wie ist aber eine Schaubarkeit des Handelns, die von der einfachen Sichtbarkeit zu differenzieren ist, möglich? Die Antwort liegt auf der Hand: Eine Schaubarkeit des Handelns setzt das Zuschauen, eine Aus-Setzung vor dem zuschauenden Blick, voraus. Ein Einwand würde sich sogleich erheben: Setzt die Sichtbarkeit nicht auch einen solchen Blick voraus? Die Antwort darauf sollte
80 Dies konnte sich der junge Nietzsche noch nur als eine schwankende Überhandnahme mal des Dionysischen, mal des Apollinischen oder als eine »strenge […] wechselseitige […] Proportion [zwischen Dionysischem und Apollinischem] nach dem Gesetz ewiger Gerechtigkeit« (155) vorstellen. 81 Vgl. Hannah Arendt, Vita activa; dies., Das Urteilen, Frankfurt am Main, 2012.
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die folgende sein: Der Schaubarkeit des Handelns liegt das Zuschauen derjenigen zugrunde, die nicht handeln, während es bei einer einfachen, also totalen Sichtbarkeit das Zuschauen als ein Moment des Nicht-Handelns fehlt. Ein Handeln ist gegenüber den Mithandelnden zwar sichtbar, aber nicht schaubar. Schaubar ist es nur vor den Zuschauenden, die nicht handeln. In einer Allsichtbarkeit, in der alle handeln und sich handelnd einander zeigen, in einer allsichtbaren substanziellen Totalität gibt es zwar das Handeln, aber keine Aus-Setzung des Handelns, keine sich aus-setzende Handlung. Das Handeln lässt sich nur dann, im strikten Sinn des Wortes, aus-setzen, wenn es vor dem Zuschauen als Nicht-Handeln, dem Zuschauen, das einer anderen Ordnung als der des Handelns gehört, exponiert wird. Denn exponiert zu sein, heißt, sich einer ganz anderen Ordnung auszusetzen, sich vor einem ganz fremden Blick zu setzen und sich in einen Bezug auf das Außen zu stellen. Dieser Umstand wäre, so vermute ich, ein Grund, weshalb sich Arendt für die Konzipierung des Politischen in der späten Zeit vom antiken Handlungsmodell zum kantischen Modell des Zuschauens gewendet hat: Diese Wendung kann also damit zusammenhängen, dass Arendt das Politische in der Schaubarkeit des Handelns, in einer Möglichkeit von dessen Aus-Setzung, nicht bloß vor dem nach Maßgabe der Leistung bewertenden Blick der Mithandelnden, sondern vor dem des von der unmittelbaren Bindung an diesen Maßstäben selbst zurückgezogenen Zuschauers, gesehen hat. Arendts frühes Modell der Handlung, als dessen exemplarische Figur sie Achilles nennt, gibt keinen Raum für solche Schaubarkeit – in diesem Modell, in dem alle Handelnde sind, wären nur Götter Zuschauer; alles ist sichtbar, aber nicht schaubar – das ist nicht politisch. Die Kunst der Tragödie, wie ich sie bisher in der systematischen Hinsicht zu Nietzsches Tragödiendenken rekonstruiert habe, ist die erste Kunst, die das Politische als einen ›autonomen‹ Bereich erschlossen hat: Die Tragödie war allerdings die Kunst, die die Kultur, die Welt oder den Mythos noch einmal zu ermöglichen versucht; sie wiederholt aber den Mythos, der der Anfangskultur zugrunde lag, als einen »tragischen Mythos«, als eine tragische Art des Mythos. Und dieser Art-Unterschied der tragischen Kunst besteht darin, die unmittelbare Sichtbarkeitsordnung im Raum der Ordnung der Schaubarkeit darzustellen. Die tragische Kunst vollzieht eine Doppelfunktion: Sie spiegelt im Vollzug der Funktion der Wiederholung des Mythos zugleich eine vollbestimmte, eine vollendete Sichtbarkeitsordnung der epischen Welt- und Handlungsdarstellungskunst in einer geöffneten Schaubarkeitsordnung wider. Darin, in dieser Widerspiegelung in der Schaubarkeitsordnung, besteht das Politische der Tragödie. Der Raum des Politischen wird durch die tragische Kunst erschlossen, die die unmittelbare Sichtbarkeit der Handlung zu ihrer Schaubarkeit verwandelt. Das
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Politische siedelt sich nämlich in dieser Verwandlungsmöglichkeit der sichtbaren zur gezeigten Handlung an; nicht bloß die Sichtbarkeit der Handlung, sondern die Möglichkeit ihrer Schaubarkeit, eine Erschließungsmöglichkeit des Wechsels der Sichtbarkeit zur Schaubarkeit konstituiert die Wirklichkeit des Politischen. Über das Politische der tragischen Kunst lässt sich demnach zweierlei sagen: 1) Das Zuschauen in der tragischen Kunst ist nicht bloß eine müßige Tätigkeit gegenüber dem Handeln, die von diesem räumlich wie zeitlich getrennt ist, sondern eine Instanz des Nicht-Handelns des Handelns, also innerhalb und außerhalb des Handelns, ein Moment der Entzweiung bei denjenigen, die gerade gehandelt haben. Die Zuschauerschaft in der tragischen Kunst ist nicht bloß, wie Cornelia Vismann im Anschluss an Paul Virilio sagte, ein Ergebnis der »Trennung von stillsitzenden Zuschauern auf der einen Seite«, die »Akteuren, Läufern, Pferdewagenlenkern oder auch Schauspielern auf der anderen Seite« zusehen,82 nicht bloß also das »pathologische Sesshaftmachen eines aufmerksamen Zuschauers, der die Aufführung des optischen Leibes des sich bewegenden Schauspielers verfolgt«.83 Die Absonderung des sesshaftgemachten Zuschauers ist allerdings das Phänomen, dessen theatrokratische Konsequenz in den folgenden Zeiten schon im antiken Griechenland auffällig wird, wie Aristoteles bezeugt.84 Darauf lässt sich jedoch die Zuschauerschaft als eine wesentliche Instanz der Tragödie reduzieren. Dass ein Raum für die Versammlung der sesshaftgemachten, also abseits vom Handeln zurückgezogenen, Zuschauer erschlossen ist, bedeutet nicht schon, dass der Zuschauende in einem von dem des Handelns räumlich wie zeitlich abgetrennten Bezirk eine Richterposition erhält. Das Politische der tragischen Kunst wird weder aufgrund einer vollbestimmten Handlungsgemeinschaft noch dank einer völlig getrennten Zuschauergruppe möglich. Es besteht vielmehr gerade darin, die Wandlungsmöglichkeit einer ganzen Handlungsordnung zu einer Ordnung des Zuschauens als eines Nicht-Handelns darzustellen und einen Raum der Möglichkeit des Wechsels einer vollkommenen Sichtbarkeit der Handlung in der unmittelbar-sittlich bestimmten Ordnung zu ihrer Schaubarkeit und Aus-Setzbarkeit vor der bisher unbekannten Instanz des
82 Vismann, Medien der Rechtsprechung, S. 76. 83 Virilio, Rasender Stillstand; zit. nach Vismann, Medien der Rechtsprechung, S. 76. 84 Aristoteles, Poetik, 1461b26-1462a13 über eine Verselbständigung der Schauspielerleistung; vgl. dazu Siegfried Melchinger: »Im Theater des 4. Jahrhunderts[: der Zeit, wo Aristoteles das Theater erfahren hat] hatten die stärksten Impulse der großen Tragiker ihre Kraft verloren, vor allem der politische […] und der darstellerische« (Melchinger, Das Theater der Tragödie, S. 220).
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Zuschauens zu erschließen. Sie ist darin politisch, dass sie die Bühne erfunden hat, durch die und auf der die Möglichkeit des Wechsels oder Austauschs zwischen dem Handeln und dem Zuschauen dargestellt wird: Die Bühne ist nicht bloß ein abgetrennter dritter Bereich zwischen der Handlungs- und dem Zuschauerwelt; sie ist ein Raum, der als eine Zone entsteht, in der dargestellt wird, dass und wie das Handeln und das Zuschauen, der Handelnde und der Zuschauende miteinander kommunizieren und ihre Identitäten austauschen; sie ist eine durch die Kunst erfundene Welt in der Welt, die aber nicht einfach eine getrennte und gesonderte Welt der ›Fiktion‹, sondern eine neutrale Welt, in der zugleich zwei Möglichkeiten erprobt werden: die eine Möglichkeit der Wiederholung einer mythisch geprägten Wirklichkeit in der Form des tragischen Mythosʼ und die andere Möglichkeit einer ›Fiktionalisierung‹ dieser vollendeten Wirklichkeit. Die Bühne ist von ihrer Geburt an und besonders zur Zeit ihrer Geburt darin politisch, dass sie eine Möglichkeit anbietet, der zufolge eine Handlungswelt außer ihrer selbst sich selbst gegenübersteht. Dies bezieht sich auf den zweiten Punkt des Politischen der Tragödie: 2) Diese Wiederholung wie diese Fiktionalisierung der vollendeten mythischen Wirklichkeit durch die tragische Kunst und auf der tragischen Bühne sind darin politisch, dass sie von einer ganzheitlichen Prägung sind: Die tragische Darstellungsweise präsentiert den Mythos als eine ganze akkumulierte und abgekürzte sittlich-ästhetische Substanz der Handlungsmuster in der Weise wieder, dass sie in die Ganzheitsordnung der Handlung ein Moment der Suspendierung des Handelns versetzt, das sich nicht bloß im Sinne des Rauschs vollzieht, sondern durch einen (Nicht-)Vollzug des Zuschauens geprägt ist. Die Tragödie ist politisch, insofern sie eine ganze Handlungsgemeinschaft betrifft, in der oder in deren Ideal die Möglichkeit und die Wirklichkeit der Handlung voneinander nicht unterschieden waren. Und dieses Betreffen im ganzen Umfang einer Handlungsgemeinschaft in der Tragödie bezieht sich wiederum auf den Ganzheitscharakter der Zuschauerschaft: Dass die Tragödie die ganze Handlungsgemeinschaft betrifft, beruht darauf, dass eine ganze Polis zuschaut. Das Politische der Tragödie besteht darin, dass die Tragödie in gewissem Sinne dafür Raum gibt, dass eine ganze Gemeinschaft sich versammelt, um sich mit ihrer auf der Bühne gerade gewordenen oder durchlebten eigenen Vergangenheit dadurch zu konfrontieren, dass sie sich als eine zuschauende Instanz ihrer Erfahrung in einer vollständig handlungsbezogenen Welt gegenübersieht. Das Politische der Tragödie entsteht also dadurch, dass gegenüber und innerhalb einer totalen Handlungsgemeinschaft ein Raum entsteht, in dem diese de jure als Ganze darin sich mit sich konfrontieren muss und in dieser Konfrontation als eine ›stillsitzende‹ Zuschauergemeinschaft sich selbst als einer gerade vergangenen Handlungswelt gegen-
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übersteht. Dieses Zuschauen der Gemeinschaft im ganzen Umfang bedeutet also nicht bloß, dass die versammelte Menge der Zuschauer empirisch gezählt eine ganze Gemeinschaft faktisch umfassen würde. 85 Die tragische Kunst hat vielmehr einen apriorischen Raum erschlossen, in dem die ganze Gemeinschaft dazu eingeladen oder aufgefordert wird, selbst-zuschauend eine Selbstkonfrontation zu erfahren.86 Mit dieser Eröffnung des Versammlungsorts in einer Gemeinschaft erfährt diese durch ebendiese Eröffnung eine Verwandlung zu einer Zuschauergemeinschaft. Die Tragödie ist insofern politisch, als sie als Kunst gezeigt hat, wie sowohl eine Wiederholung wie die Selbstkritik der Gemeinschaft als Ganzer durch eine Selbstvergegenwärtigung vor sich, durch die Erschließung eines Raums ermöglicht wird, in dem dem Ganzen als Ganzem zugeschaut wird.
85 Die Bewertung des Umfangs der Zuschauerzahl beim athenischen Tragödienspiel weicht von einem Autor zu einem anderen ab: Cornelia Vismann sagt, dass »wirklich alle« Bürger sich versammelt hätten (Vismann, Medien der Rechtsprechung, S. 79); Siegfried Melchinger zufolge wurde nur ein Fünftel von allen Bürgern betroffen. 86 »For whatever the actuality of numbers and constitution of the audience, it was repeatedly said that ›the whole city‹ was in the theatre, or, more grandly, ›all Greece‹.« (Simon Goldhill, »The audience of Athenian tragedy«, S. 58)
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Philosophie Les Convivialistes Das konvivialistische Manifest Für eine neue Kunst des Zusammenlebens (herausgegeben von Frank Adloff und Claus Leggewie in Zusammenarbeit mit dem Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research Duisburg, übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer) 2014, 80 S., kart., 7,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2898-2 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich E-Book: ISBN 978-3-8394-2898-6 EPUB: ISBN 978-3-7328-2898-2
Jürgen Manemann Der Dschihad und der Nihilismus des Westens Warum ziehen junge Europäer in den Krieg? 2015, 136 S., kart., 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3324-5 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3324-9 EPUB: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3324-5
Hans-Willi Weis Der Intellektuelle als Yogi Für eine neue Kunst der Aufmerksamkeit im digitalen Zeitalter 2015, 304 S., kart., 22,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3175-3 E-Book: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3175-7 EPUB: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3175-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Philosophie Jürgen Manemann Kritik des Anthropozäns Plädoyer für eine neue Humanökologie 2014, 144 S., kart., 16,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2773-2 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2773-6 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-2773-2
Franck Fischbach Manifest für eine Sozialphilosophie (aus dem Französischen übersetzt von Lilian Peter, mit einem Nachwort von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers) Juli 2016, 160 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3244-6 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3244-0
Claus Dierksmeier Qualitative Freiheit Selbstbestimmung in weltbürgerlicher Verantwortung Mai 2016, 456 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3477-8 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3477-2 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3477-8
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