Der Anspruch des Gewissens: Zur Konstitution ethischer Subjektivität bei Hegel und Levinas 9783787344161, 9783787344154

Levinas formuliert die strukturell einzig mögliche Kritik an Hegel, indem er eine Dimension menschlicher Subjektivität f

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German Pages 284 [286] Year 2023

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Der Anspruch des Gewissens: Zur Konstitution ethischer Subjektivität bei Hegel und Levinas
 9783787344161, 9783787344154

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PA R A ANNE CLAUSEN

Der Anspruch ­des Gewissens

DEIG Zur Konstitution ethischer Subjektivität bei Hegel und Levinas

M A TA

PA R A DEIGM ATA  Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fundierte ­Ab­handlungen, Studien und Werke, die belegen, dass sich aus der strengen, geschichtsbewussten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder m ­ ethodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.

B A ND 4 6

A NNE CL AUSEN

Der Anspruch des Gewissens Zur Konstitution ethischer Subjektivität bei Hegel und Levinas

FELIX MEINER V ERL AG · H A MBURG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹https://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-4415-4 ISBN eBook 978-3-7873-4416-1

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2023. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Meinem Doktorvater Holmer Steinfath •

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Aufbau der Arbeit und Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I. Die logische Struktur der Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I.1 Subjektivität als inneres Prinzip von Wirklichkeit und Denken . . . . . . . . . . 32 I.1.1 Das Denken des Unendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 I.1.2 Selbstdifferenz, Widerspruch und Rückgang in den Grund . . . . . . 36 I.1.3 Wirklichkeit als reine Immanenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 I.1.4 Freiheit als Selbstbestimmung: die Totalität des Begriffs . . . . . . . . . 41 I.1.5 Die Begriffsstruktur des Ichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 I.2 Die Historizität der Denkbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 I.2.1 Die Selbstkritik des Bewusstseins: Hegels Erfahrungsbegriff . . . . . 47 I.2.2 Natürliches Bewusstsein und sich selbst vollbringender

­Skeptizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

I.2.3 Lebensformen als Geistesgestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

II. Hegels Kritik des Gewissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 II.1 Der Begriff des Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 II.1.1 Die formale Struktur des Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 II.1.2 Der richtige Inhalt des Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 II.2 Die Kritik der kantischen Moralität und des formellen Gewissens . . . . . . . 61 II.2.1 Die Formalismus-Kritik an Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 II.2.2 Die Kritik des formellen Gewissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 II.2.3 Das Gewissen als Prinzip der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 II.3 Die Realisation des freien Willens in der Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 II.3.1 Das wahrhafte Gewissen als sittliches Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . 73 II.3.2 Hegels Revision der kantischen Autonomie-Konzeption . . . . . . . . . 76 II.3.3 Das Janusgesicht der zweiten Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

8

Inhalt

III. Gewissen und Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 III.1 Selbstbewusstsein und Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 III.1.1 Der Übergang vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein . . . . . . 84 III.1.2 Der Kampf auf Leben und Tod und die Herr-Knecht-Dialektik. 87 III.2 Die Realisierung von Selbstbewusstsein in der Gewissensdialektik . . . . . . 90 III.2.1 Die Auflösung der sittlichen Substanz durch das Gewissen . . . . III.2.2 Die schöne Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.3 Die Gewissens-Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.4 Versöhnung als Rückkehr zur Übereinstimmung mit sich . . . . .

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IV. Das Gewissen im System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 IV.1 Die welthistorischen Individuen als Modell für den Bruch mit der

­Ordnung  ?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 IV.1.1 Hegels Unterscheidung zwischen antiker und moderner

Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 IV.1.2 Sokrates und das Prinzip der Reflexivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 IV.1.3 Kritik der Konzeption exzessiver Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . 108 IV.2 System der Freiheit ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 IV.2.1 Möglichkeiten und Grenzen einer begrifflichen Kritik

am ­Gegebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 IV.2.2 Das Verhältnis von Intersubjektivität und Objektivität . . . . . . . . 118 IV.2.3 Die List der Vernunft und das Urteil der Geschichte . . . . . . . . . . 120 IV.2.4 Die Elimination der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 V.  Das Gewissen als Affektion durch Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 V.1 Levinas’ Kritik des Immanenzdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 V.1.1 Der Imperialismus des Selben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 V.1.2 Das Begehren des Unendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

V.2 Die Herausbildung des Ichs in der Immanenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 V.2.1 Das getrennte Ich: der Psychismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 V.2.2 Die Realisierung des Psychismus im Genuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

V.3 Der Einbruch des Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 V.3.1 Die Transzendenz des Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 V.3.2 Die Infragestellung des Ichs durch den Anderen: das Gewissen. 149



Inhalt

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V.4 Das Verhältnis von Gewissen und Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 V.4.1 Vernunftkritik vom Anderen her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 V.4.2 Das Gewissen als Bedingung des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 V.4.3 Ethik als erste Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 VI. Die Subjektivität des Subjekts als der-Andere-im-Selben . . . . . . . . . . . . . . . 167 VI.1 Die diastatische Struktur des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 VI.1.1 Die diastatische Struktur des Subjekts in den frühen Schriften . 172 VI.1.2 Die reife Konzeption diastatischer Subjektivität I: das Gewissen . 176 VI.1.3 Die reife Konzeption diastatischer Subjektivität II: Sagen und Gesagtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 VI.2 Ethische Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 VI.2.1 Leiden für den Anderen: die Substitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 VI.2.2 Die Geburt des Ichs aus der Affektion des Anderen . . . . . . . . . . . 191 VI.2.3 Kain oder der Fall des Psychopathen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 VI.3 Freiheit als Inspiration durch das Gute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 VI.3.1 Die unfreiwillige Bindung an das Gute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 VI.3.2 Substitution als Freiheit von sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 VI.3.3 Die Struktur von Autonomie: Inspiration und Prophetie . . . . . . 205

VII. Gewissen und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 VII.1 Verantwortung für Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 VII.1.1 Aporetische Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 VII.1.2 Das ethische Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 VII.1.3 Schwierige Universalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 VII.2 Schwierige Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 VII.2.1 Endliche Freiheit als Hetero-Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 VII.2.2 Der Anspruch des Anderen als Inspiration der Kritik am Gegebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 VII.2.3 Ontologie und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 VII.2.4 Demokratie-im-Kommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Endliche Subjektivität – Ethische Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

Vorwort

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as vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im März 2021 an der Philosophischen Fakultät der Georg-AugustUniversität Göttingen verteidigt habe. Es ist auch und vor allem das Resultat einer Suche nach Orientierung. Dass es geworden ist, was ich wollte, ohne dass ich zu Anfang genau hätte sagen können, was das ist, erfüllt mich mit Freude und Dankbarkeit. Auf diesem Weg haben mich Menschen unterstützt und begleitet, denen ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen möchte. Meinem Doktorvater, Holmer Steinfath, widme ich in tiefempfundener Dankbarkeit diese Arbeit. Er hat schon Vertrauen in mich gesetzt, als ich selbst es noch nicht tat, und mir die entscheidenden wissenschaftlichen Möglichkeiten eröffnet. Von ihm lernen zu dürfen, philosophisch und menschlich, ist ein großes Glück. Joachim Ringleben verdanke ich meine ersten Hegel-Kenntnisse. Dafür und für die Freundschaft, die in den vier Jahren der gemeinsamen allwöchentlichen Lektüre der Wissenschaft der Logik entstanden ist, danke ich ihm von ganzem Herzen. Die ersten Hegel-Schritte mit mir gegangen ist Morteza Fakharian. Für den Rückhalt, den er mir gegeben hat, auch bei der gemeinsamen Organisation zweier thematisch einschlägiger Fachtagungen, bin ich ihm dankbar. Das Feld der französischen Phänomenologie wurde mir durch meinen Zweitgutachter Thomas Bedorf eröffnet. Ihm verdanke ich zudem den entscheidenden Hinweis auf das Gewissen, welches zum thematischen Zentrum des ganzen Projekts geworden ist. Mein Verständnis von Hegel und Levinas, aber auch mein Einblick in die Philosophie als akademische Praxis, wurde erweitert durch zwei Forschungsaufenthalte. Möglich wurde dies durch meine Gastgeber an der Pennsylvania State University, USA, Robert Bernasconi, und an der University of Warwick, UK, Stephen Houl­ gate. Mit ihnen durfte ich in einer wichtigen Phase meiner Arbeit an der Dissertation anregende und stets gewinnbringende Gespräche führen. In meine philosophische Stärke habe ich gefunden in den Gesprächen mit ­Brady Bowman, der zudem auch das gesamte Manuskript gelesen hat. Seine wertvollen Hinweise und kritischen Nachfragen haben mir geholfen, an manchen Stellen die argumentativen Zusammenhänge deutlicher herauszustellen und den Text insgesamt lesefreundlicher zu gestalten. Möge das Gespräch zwischen uns nie enden. Unterstützt wurde ich nicht nur durch Menschen, die in der einen oder anderen Weise der Universität angehören. Ich danke meiner Mutter, Eva Clausen, und

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Vorwort

meinen Freunden Cornelis Kater und Marco Wenzel, die auf je ihre Weise nie aufgehört haben, für mich da zu sein. Dieses Buch erscheint an genau dem Ort, den ich mir dafür gewünscht habe. Für seine überaus freundliche Unterstützung und die gute Zusammenarbeit bedanke ich mich herzlich bei Marcel Simon-Gadhof, durch den das möglich wurde. Göttingen, im April 2023

Anne Clausen

Einleitung

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Einleitung

em Gewissen haftet eine eigentümliche Zweideutigkeit an. Es steht für die Bindung des Subjekts an das Gute und ist damit ebenso unverfügbar wie unantastbar: Weder die eigene Überzeugung noch die eines Anderen kann beliebig verändert werden ; zugleich würde es die menschliche Freiheit und Würde in ihrem Kern zerstören, der eigenen Gewissensbindung nicht entsprechen zu können. Jedoch können die Überzeugungen des Subjekts inhaltlich höchst zweifelhafter Natur sein. So hat das Gewissen einerseits den Status einer letzten Instanz, auf die wir uns berufen. Andererseits werden aber im Namen des Gewissens auch unmenschliche Ansichten vertreten und abscheuliche Verbrechen begangen. Es ist also problematisch, wenn der Gewissensstandpunkt der letzte Maßstab für Urteile und Handlungen sein soll, ist er doch stets der Gefahr ausgesetzt, idio­ synkratrischen Meinungen die Weihe der Allgemeingültigkeit zu verleihen und Gewalttaten zu heiligen. Dennoch ist das Gewissen als Urteils- und Kontrollinstanz kaum verzichtbar. Das Gewissen steht für die Unabhängigkeit des Individuums gegenüber seinen eigenen Trieben und Interessen, die zugleich seine Unabhängigkeit von der Zustimmung Anderer und gegenüber Zwang oder Korruption impliziert. Verbindlichkeit ist, wie Immanuel Kant argumentiert, ohne Gewissen gar nicht möglich und daher ein gesellschaftliches Zusammenleben gewissenloser Individuen schlechthin undenkbar. Aber auch hier stellt sich die Frage nach der Art und Geltung der Werthaltungen. Denn der Grat zwischen dem autonomen Gewissen, das der Korruption widersteht, und dem autoritativ ausgerichteten Gewissen, das das Subjekt einer Ideologie zueignet, wie dies gar keine äußere Kontrolle vermag, ist schmal. Gegenüber dem schlechten Individualismus droht der Konformismus. Auch phänomenal ist das Gewissen zweideutig: Das Gewissen steht für einen Anspruch, der das Ich ganz persönlich betrifft. Dieser Anspruch erscheint einerseits als das Eigenste, Innerste des Ichs und wird von diesem in seiner Unverfügbarkeit doch zuweilen wie ein Fremdes erfahren. Dabei kann das Gewissen mit einer zwingenden Eindeutigkeit gebieten, die jede Zuwiderhandlung ausschließt ; es kann aber auch nur als die Spur eines Anspruches aufflackern, der sich bei näherem Hinsehen schon verflüchtigt hat. Was hat es also mit dem Gewissen auf sich ? Welche Bedeutung hat die Verbindlichkeit, die sich in ihm abzeichnet ? Während das Gewissen in der jüdischchristlichen Tradition mit dem göttlichen Gesetz assoziiert ist, einer unbedingten Autorität also, wird es in der zunehmend säkularisierten Gesellschaft

14 Einleitung

psychologisch verstanden und rationalisiert. Steht das Gewissen also lediglich für die Verinnerlichung kontingenter sozialer Normen ? Oder kommt ihm eine eigene Art der Evidenz zu ? Die grundlegende These, die die vorliegende Arbeit zur Geltung bringen will, ist, dass der Begriff des Gewissens auf die wesentliche Selbstdifferenz menschlicher Subjektivität verweist. Das menschliche Subjekt zeichnet sich dadurch aus, dass es stets in Differenz zu sich selbst steht ; dass es sich also nicht schon »hat«, sondern immer erst wird. Die wesentliche Differenz ist dabei jene, die nicht irgendeinen Mangel betrifft, sondern das Subjekt in seinem Wesen ausmacht. Diese Differenz ist philosophiehistorisch ganz unterschiedlich verstanden worden: Zum Beispiel als Entfernung von einem gegebenen Ideal oder auch als die Notwendigkeit, sich selbst zu wählen und das eigene »Wesen« damit in einer gewissen Weise erst hervorzubringen. Unabhängig davon, wie diese Selbstdifferenz verstanden wird, impliziert sie, dass Subjektivität inhärent normativ ist. Das Subjekt kann seinem Ideal entsprechen, es kann sich gewinnen und Erfüllung finden, aber es kann auch scheitern und sich verfehlen. Diese inhärente Norma­ tivität ist zentral für das Verständnis von Subjektivität. Deshalb ist eine bloß psychologische Auffassung des Gewissens nicht angemessen. Die Reduktion des Gewissens auf eine psychologische Funktion blendet eine wesentliche Dimension menschlicher Subjektivität aus und impliziert so ihre Verflachung. Die Frage ist jedoch – und das ist zugleich die Frage, die dieser Arbeit zugrunde liegt –, wie diese wesentliche Selbstdifferenz des Subjekts zu verstehen ist. Diese Frage, die auch als Frage nach dem Guten gefasst werden kann, wird problematisch mit dem Wegfallen metaphysischer Instanzen. Denn während eine kosmologische Ordnung oder ein theonomes Weltbild dem Subjekt seine Pflichten anweisen und das Gute von außen garantieren, entfallen derartige Ressourcen in einer entzauberten Welt. Dieses Problematisch-Werden des Guten geht mit einem zweifachen Bedeutungswandel des Subjektbegriffs einher. In der Antike bezeichnet das ὑποκείμενον (lat. subjectum) sowohl den Gegenstand der Rede, von dem etwas ausgesagt wird, als auch den Träger von Akzidenzien (Kible 1998, 373). Es steht also nicht für das erkennende Ich, sondern – im Gegenteil – für das erkannte Gegenüber, welches in der späteren philosophischen Terminologie als Objekt gerade das Gegenstück zum Subjekt bilden wird. Seinen ersten großen Bedeutungswandel – vom Gegenstand zum erkennenden Ich – erfährt der Subjektbegriff mit der neuzeitlichen Reflexion auf das eigene Erkenntnisvermögen. Für diesen Übergang von der ontologischen zur erkenntnistheoretischen Bedeutung des Subjektbegriffs steht der Name René Descartes. Der von ihm geprägte Subjektbegriff avanciert zum Schlüsselbegriff in der klassischen deutschen Philosophie, deren thematisches Zentrum zugleich die Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung bildet, die aus der Umwendung auf das Ich

Einleitung

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hervorgeht. Wendet sich der Blick auf das menschliche Erkenntnisvermögen, ist die Selbstverständlichkeit verloren gegangen, dass die Dinge so erfasst werden, wie sie wirklich sind. Die wesensmäßige Selbstdifferenz der Subjektivität wird hier als die Differenz zu der Einheit von Subjekt und Objekt gedeutet, die zugleich das Vernunftideal darstellt. Anders ausgedrückt gilt hier die Vernunft bzw. die vernünftige Allgemeinheit als das wahre Selbst des einzelnen Subjekts. Seinen zweiten großen Bedeutungswandel erfährt der Subjektbegriff durch die Infragestellung und Dekonstruktion des einheitlichen und autonomen Vernunftsubjekts. Mit Autoren wie Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud rücken Probleme der Fremdbestimmung und sozialen Unterwerfung in den Fokus. Das Subjekt ist in seinem Innersten von unbewussten Einflüssen unterlaufen, die den Selbstbesitz und die Selbstbestimmung des idealistischen Subjekts als Fiktion entlarven. Diese Enteignung des Subjekts setzt sich im zwanzigsten Jahrhundert bei strukturalistischen und poststrukturalistischen Autoren wie Louis Althusser, Michel Foucault und Judith Butler fort, die das Subjekt vollends als soziale Konstruktion und als Machteffekt begreifen. Paradigmatisch ist hier der von Foucault verkündete »Tod des Subjekts« (Foucault 1974, 462), der besagen soll, dass dem Subjekt als Kreuzungspunkt von Machtstrukturen und Diskursen keine eigene Substanzialität und bleibende Bedeutsamkeit zukommt. Erst hier gewinnt die konstitutive Unterwerfung des Subjekts (engl. subjection, franz. assujetissement) ihre eigentliche Brisanz. Denn während das Vernunftsubjekt einem Allgemeinen unterworfen ist, das es als sein Selbstideal begreift, geht in den subjektkritischen Ansätzen jeglicher Glaube an ein objektives Gutes verloren. Stattdessen wird das Subjekt nun von sozialen Normen und Machtverhältnissen her begriffen, die es allererst handlungsfähig machen, die es jedoch zugleich pathologisieren, seiner selbst entfremden und für Kapitalinteressen nutzbar machen. Besonders perfide ist dabei, dass diese Zurichtung durch das Subjekt selbst geschieht, denn es ist sein eigenes Begehren, das es in die sozialen Strukturen einfügt. Das innerste Streben wird damit zweideutig und das Selbstverhältnis des Subjekts ist unheilbar gebrochen. Seine Einsicht reicht bestenfalls dafür aus, seine unüberwindliche Fremdbestimmung und Entfremdung erkennen zu können. Damit scheint ein toter Punkt erreicht zu sein, an dem es nahe liegt, die Frage nach dem Guten für obsolet zu erklären. Allerdings ist dies für das Ich ein unerträglicher Zustand, in dem jede Sinndimension verloren ist, und er entspricht normalerweise auch nicht unserem Erleben. Der Ausweg scheint mir dabei in einer Einsicht zu liegen, der durch die subjektkritischen Ansätze besonders betont wird: Dass wir nämlich, erstens, nicht erst als »fertige« Subjekte Anderen begegnen, sondern überhaupt nur mit und durch Andere zu denen werden, die

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wir sind ; und dass, zweitens, nur von dieser intersubjektiven Konstitution her die Normativität des Sozialen zu begreifen ist. Es sind also zwischenmenschliche Prozesse zu denken, die auf einer subpersonalen Ebene ablaufen und die entsprechend weder vollständig bewusst vollzogen noch vom Subjekt kontrolliert werden. Und es ist verständlich zu machen, dass aus diesen Prozessen ethische, ihrer selbst bewusste und vernünftige Subjekte allererst hervorgehen. Dann lässt sich ausgehend von diesen Konstitutionsprozessen eine Verbindlichkeit und Sinnhaftigkeit denken, die weder von außen auferlegt noch frei gewählt, sondern in die Struktur des Subjekts eingeschrieben ist.1 Um dieser Spur nachzugehen, erwäge ich in der vorliegenden Arbeit zwei Denkgestalten, in denen die subjektkonstitutive Rolle der Sozialität zentral ist. Georg Wilhelm Friedrich Hegel beschreibt Subjektivierung als ein Geschehen wechselseitiger Anerkennung zwischen Individuen, die eine gemeinsame Lebensform teilen. Er hebt sich damit von der abstrakten Bestimmung des Guten, wie sie zumeist mit dem Vernunftsubjekt assoziiert ist, ab, indem er das Subjekt nicht als punktuelles Selbst versteht, sondern meint, dass vernünftige Selbstbestimmung überhaupt nur in einer Lebensform als einer gehaltvollen Gestalt gelingenden Lebens möglich ist. So kann Hegel ein substanzielles Gutes geltend machen, das aber nicht lediglich von außen gegeben ist, sondern das diesen Status als das als gut Erkannte und allgemein Anerkannte hat. Allerdings ist seine Theorie der Intersubjektivität damit dem Leben in einer relativ homogenen Gesellschaft angebildet. Der anerkennungstheoretische Zugang kann Verbindlichkeit innerhalb einer einheitlichen Lebensform ausweisen, gerät jedoch dort an seine Grenzen, wo der Wirklichkeitszusammenhang dieser Lebensform überschritten wird, wo es um seine Ausschlüsse und Kritik geht. Hier setzt der alteritätstheoretische Ansatz ein, dessen Begründer Emmanuel Levinas ist. Für Levinas konstituiert sich das Ich in der Verantwortung für den anderen Menschen.2 Dabei erschöpft sich die Bedeutung des Anderen gerade nicht darin, ein Gegenüber zu sein, in dem das Subjekt sich erkennt und mit dem und durch den es seine Freiheit verwirklicht. Vielmehr macht Levinas die 1 Deontologische, vertragstheoretische, utilitaristische und tugendethische Moral- und Gerechtigkeitstheorien greifen in diesem Sinne zu kurz, wenn sie eine moralische Einstellung bzw. den vernünftigen Akteur als gegeben voraussetzen und damit Vorannahmen machen, die sie selbst nicht einholen. Sie haben immer schon den Punkt überschritten, von dem her Verbindlichkeit überhaupt verständlich zu machen ist. 2 Ich spreche in Bezug auf Levinas von dem Anderen. Das ist nicht glücklich, weil damit die Hegemonie maskuliner Sprachformen reproduziert wird. Allerdings erscheinen mir die Alternativen, nämlich jeweils die männliche und die weibliche Form zu verwenden oder von der Anderen zu sprechen, vollends ungeeignet, da es sich bei dem Anderen um einen geschlechtlich nicht markierten anderen Menschen handelt.

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Andersheit des Anderen geltend, der nicht vom Ich abhängt, sondern dieses jenseits von jeder freien Wahl, jenseits von sozio-kulturellen Formen und Kontexten und jenseits auch von jeder Reziprozität unter einen unabweisbaren Anspruch stellt. Levinas denkt so das Gute als Transzendenz. Dies erlaubt es ihm, eine unbedingte Verbindlichkeit zu denken, ohne auf die Vernunft oder auf eine sub­ stan­zielle Ordnung zu rekurrieren. Ihr besonderes Interesse gewinnt diese Autorenkonstellation daher, dass Hegel und Levinas idealtypisch für zwei konträre Grundpositionen des Denkens stehen. In Hegels philosophischem System kulminiert der λόγος als Grundzug des europäischen Denkens. Hegels Selbstbeschreibung zufolge kommt in seiner Wissenschaft der Logik das Absolute als das Selbsterfassen des Erfassens zur Artikulation. Für dieses monumentale Projekt unterzieht Hegel sich der Aufgabe, die Kategorien des Denkens  – und mit ihnen die historischen Positionen, die diese Denkbestimmungen absolut gesetzt haben – in einem einzigen, dialektisch verfassten System zusammenzudenken. Nichts darf dabei außerhalb und dem Denken fremd bleiben, weil das Ganze nur in sich begründet ist, wenn alles zusammengedacht ist. Hegel markiert so den Endpunkt und die Vervollkommnung eines Begründungsdenkens, das in ihm zu einer Einheit und Selbsttransparenz kommt, die nicht noch einmal zu überholen ist. So müssen seine Kritiker immer wieder die Erfahrung machen, dass er für sie schon ihren – untergeordneten – Platz im System parat hält. Dabei hat die Logik nicht lediglich epistemischen, sondern ontologischen Anspruch. Hegel begreift die Wirklichkeit als die Selbsthervorbringung des Absoluten, in der dieses zur Anschauung seiner selbst gelangt. Das dynamische Prinzip dieser Selbsthervorbringung nennt Hegel Subjektivität. Subjektivität bezeichnet damit nicht nur und noch nicht einmal in erster Linie das menschliche Subjekt, sondern die metaphysische Grundstruktur, die alle Wirklichkeit durchwaltet und an die Stelle der ersten Ursache und des letzten Grundes tritt. Allerdings kommt menschlichen Subjekten, die an dieser Struktur partizipieren, in dem Prozess der Selbsthervorbringung des Absoluten eine ausgezeichnete Rolle zu, weil es im menschlichen Denken und Handeln, in Kunst, Religion und Philosophie ist, dass das Absolute sich selbst erfasst. Bezeichnenderweise ist es gerade das individuelle Gewissen, das Hegel Mühe bereitet und die eigentliche Schwachstelle seines Systems markiert. Einerseits kann und will Hegel auf das Gewissen als das Prinzip moderner Freiheit nicht verzichten ; andererseits stellt jedoch die Versteifung der Einzelnen auf ihre zufällige Überzeugung eine Gefahr für die sittliche Ordnung dar, die Hegel nicht dulden will. Hegel löst dieses Dilemma, indem er zwischen zwei Ausprägungen des Gewissens unterscheidet: Das formelle Gewissen, in dem das Subjekt seine Partikularität gegen das Allgemeine behauptet, kritisiert er scharf ; für berechtigt

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und notwendig hält er dagegen das wahrhafte Gewissen, das ein Subjekt bezeichnet, das sich durch die allgemeinen Grundsätze und Pflichten der geltenden Sittlichkeit gebunden weiß. Es ist jedoch sehr fraglich, ob diese Lösung befriedigen kann: Indem er ausschließt, dass ein Anspruch, der sich gegen die Sittlichkeit richtet, berechtigt sein könnte, scheint Hegel eine wesentliche Dimension dessen, was das Gewissen ausmacht, zum Verschwinden zu bringen. Die Kehrseite seines Manövers ist zudem, dass in ethischen Fragen die Wirklichkeit das letzte Wort hat. Diese Gleichsetzung des Ethischen und der Subjektivität mit der Ontologie bestreitet Levinas. Aus seiner Perspektive verleugnet das Begründungsdenken eine Andersheit oder Transzendenz, der es mit den eigenen diskursiven Verfahren nicht beizukommen vermag. Diese Verleugnung hat ihr Korrelat an einer Wirklichkeit, in der das Andere unterdrückt, bekämpft und vernichtet wird. Das Immanenzdenken ist so assoziiert mit einer unerträglichen Gewalt. Als Kulminationspunkt dieses Denkens stellt Hegels philosophisches System dabei den »den logischen Zielpunkt« (SdA 212) von Levinas’ Kritik dar.3 Um die Beziehung auf Andersheit oder Transzendenz denken zu können, ist auch für Levinas die Subjektivität zentral: Denn Transzendenz lässt sich mit dem Subjekt-Begriff, der das westliche Denken dominiert, nicht vereinbaren. Wird das Subjekt als Selbstbestimmung und Selbstbesitz in einer Welt verstanden, die es kognitiv begreift und der es seinen Willen aufprägt, so ist alles, mit dem das Subjekt umgeht, immer nur relativ anders ; ein absolut Anderes kann ihm nicht begegnen. Levinas denkt deshalb die eigentliche Subjektivität des Subjekts als Affektion von Andersheit, die in einer absoluten Passivität widerfährt. Absolute Passivität ist dabei nicht als eine Passivität des Subjekts zu verstehen, sondern verweist vielmehr auf seine Hervorbringung. Husserls phänomenologische Methode radikalisierend macht Levinas damit eine Bedingung des Bewusstseins geltend, die dieses auch nachträglich nicht in sich einholen kann und die jedes im weitesten Sinne transzendentale Denken sprengt. Gegen das Verständnis der Subjektivität als ἀρχή, als Ursache und Prinzip, arbeitet Levinas damit den an-archischen Charakter des Subjekts heraus. Das Desiderat, Trans­ zendenz zu denken, führt so zu einer subjektivitätstheoretisch höchst interessanten und beispiellosen Revision von Subjektivität, die die geläufigen Konzeptionen von Universalismus, Voluntarismus und Autonomie des Subjekts in Frage stellt. Levinas zufolge erlebt das Ich Transzendenz in der Begegnung mit anderen Menschen. Diese Begegnung ereignet sich als Gewissen: In der unwillkürlichen Hemmung seiner Vollzüge erfährt das Ich den Anspruch des Anderen. 3

Vgl. Gawoll (2010, 59) ; Hirsch (2010, 102) ; Keintzel (2010, 13) und Peperzak (2004, 193).

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Der Bruch mit der Immanenz des Begründungsdenkens manifestiert sich so in einem Gewissensbegriff, mit dem sich Levinas in Spannung zu einer Hauptströmung der philosophischen Tradition seit Sokrates setzt, die das Ethische mit der Vernunft identifiziert. Dabei geht es Levinas nicht darum, einem Irrationalismus das Wort zu reden. Vielmehr meint er, dass sich die Alternative von Vernunft und Unvernunft überhaupt erst von einer prä-reflexiven und vor-moralischen Verantwortung für den Anderen her eröffnet, die ebenso unbedingt wie inhaltlich unbestimmt ist. Mit der Andersheit des Anderen gelingt es Levinas, eine Figur zu denken, die sich der Integration in das dialektische System Hegels entzieht. Die absolute Passivität des Subjekts wird nicht schon von Hegel vorweggenommen, sondern muss vorausgesetzt werden, damit überhaupt ein Bewusstsein erwacht. Diese Struktur des Subjekts kann aufgrund ihres me-ontologischen Status (d. h. in ihrer Beziehung auf Transzendenz) nicht bewiesen und belegt werden und sie gibt sich auch nicht dazu her, eine andere Ordnung zu begründen. Aber sie stellt jede Ordnung in ihrer Absolutheit in Frage. Levinas gelingt damit eine höchst originelle Kritik des Begründungsdenkens. Zugleich denke ich, dass er eine wesentliche Dimension menschlicher Subjektivität freilegt. Wir stehen unter Ansprüchen, die sich nicht auf gegebene Rollen und Normen beschränken. Diese Ansprüche sind nicht reduzierbar auf die selbstbezogene Behauptung der eigenen Partikularität. Sie heben sich von einer solchen Selbstbehauptung ebenso ab wie von der vernünftigen Allgemeinheit. Levinas’ Denkfigur stellt damit ein Drittes gegenüber der von Hegel ausgearbeiteten Alternative dar. Deshalb lässt sie sich in ausgezeichneter Weise vor dem Hintergrund von Hegels Gewissenskritik profilieren. Aufbau der Arbeit und Forschungsstand

Die vorliegende Arbeit verfolgt ein doppeltes Ziel. Einerseits will sie systematisch zum Verständnis von Subjektivität und Gewissen beitragen. Andererseits soll die Gegenüberstellung von Hegel und Levinas dazu dienen, die philosophiehistorische Konstellation jener Grundpositionen aufzuklären, für die sie paradigmatisch stehen. Gerade der gewählte thematische Fokus führt dabei in das Herz beider Theorien und eignet sich somit in besonderer Weise, ihr Verhältnis zu bestimmen. Im Sinne dieser doppelten Zielsetzung will ich folgende fünf Thesen zur Geltung bringen:

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① Hegel ist der Denker einer Selbstkritik der Vernunft, die in ihrer Radikalität

und Konsequenz nicht noch einmal zu überbieten ist. Mit einer Subjektivität, die er ausgehend von der Beziehung auf Transzendenz denkt, gelingt es Levinas jedoch, eine Figur zu artikulieren, die sich der Dialektik entzieht und weder durch Hegel anzueignen noch von ihm zu entkräften ist.

② Hegel und Levinas sind Moralkritiker, die es ablehnen, das Ethische als Supple­ ment zu anderen Lebens- und Wissensbereichen zu denken. Aber während sich bei Hegel im (wahren) Gewissen Selbstbewusstsein vollendet, ist das Gewissen bei Levinas die unvordenkliche Bedingung für Intelligibilität überhaupt.



Für beide Autoren erfordert das Gute eine Selbstüberschreitung des Subjekts, die dieses nicht aus eigener Kraft vollbringen kann. Während das Subjekt für Hegel in dem Verzicht auf die eigene Partikularität zu sich selbst kommt, gewinnt das Subjekt bei Levinas in der Verantwortung für den Anderen Einzigkeit.

④ Man muss mit Levinas die ontologische Zweideutigkeit des Gewissens (d. h.

den Umstand, dass sich das Gute nicht als Endzweck anbietet) herausarbeiten, um seine ethische Zweideutigkeit (d. h. den Umstand, dass das Gewissen einerseits den Status einer letzten Instanz hat, andererseits aber in seinem Namen unmenschliche Überzeugungen vertreten werden) zu überwinden.

⑤ Freiheit lässt sich nicht von der Vernunft her begründen. Denkbar wird sie nur von einem Anspruch her, der nicht im Denken aufgeht.

Meiner Autorenkonstellation entsprechend gliedert sich die Arbeit in zwei Hauptteile. Der erste Teil besteht in der Durchleuchtung und Evaluation von Hegels Gewissenskonzeption vor dem Hintergrund seines philosophischen Systems. Damit will ich die Problematik seines Immanenzdenkens aus sich selbst heraus sichtbar machen und den genauen Einsatzpunkt für Levinas’ Denken freilegen. Der zweite Teil setzt entsprechend mit der Rekonstruktion von Levinas’ Konzeption des Gewissens ein, das ich als Affektion durch Transzendenz ausweise. Im Anschluss lege ich die subjekttheoretischen Voraussetzungen dieses Denkens frei und arbeite deren sozialphilosophische Implikationen heraus. So kann ich die Antworten aufzeigen, die Levinas’ Denken in Bezug auf die bei Hegel gefundenen Schwierigkeiten bietet. Der erste Teil beginnt mit der Rekonstruktion der logischen Struktur der Subjektivität, wie sie Hegel zufolge dem Denken und der Wirklichkeit zugrunde liegt. Dieser Einsatz stellt zugleich eine wichtige interpretatorische Entscheidung dar: Ich ordne mich damit einer Linie der Hegel-Interpretation ein, die gegenwärtig als metaphysische Lesart bezeichnet wird (vgl. Kreines 2016). Diese Les-

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art, die paradigmatisch Stephen Houlgate vertritt, zeichnet sich dadurch aus, dass Hegel aus seinem System heraus interpretiert wird und die Wissenschaft der Logik  – Hegels eigenem Anspruch entsprechend  – ontologisch bzw. metaphysisch aufgefasst wird.4 Meine Interpretation hebt sich damit von sogenannten nicht-metaphysischen Revisionen ab, die die Logik epistemologisch lesen, wie dies prominent Robert Pippin (in seinen früheren Arbeiten) tut, oder sie ganz außen vor lassen.5 Eine Variation stellt hier auch die sozialphilosophische, von der kritischen Theorie beeinflusste Lesart Axel Honneths dar, der Hegels Rechtslehre unabhängig vom System als Ganzem auslegt. Ich denke jedoch, dass gerade Hegels Gewissenskritik nur vor dem Hintergrund der spekulativen Logik richtig verständlich und somit auch beurteilbar werden kann. Darüber hinaus besteht gerade die Pointe meiner Arbeit darin, Hegels konsequentes Systemdenken zu durchleuchten und auf seine Implikationen zu untersuchen. Meine Hegel-imma­ nente Lektüre unterscheidet sich dabei von Autoren wie Houlgate in ihrer kritischen Intention. Unter dem Stichwort der logischen Struktur der Subjektivität geht es mir in erster Linie darum zu zeigen, wie Hegel die kantische Vernunftkritik in eine dialektische Bewegung der Selbstkritik der Kategorien überführt, die – anders als bei Kant – ontologischen Status haben, und wie er so die Durchdringung von Denken und Wirklichkeit in einer Totalität denkt, der nichts äußerlich bleibt. Entsprechend fokussiere ich nicht auf Urteils- und Schlusslehre, die bei Hegel selbst den Titel der »Subjektivität des Begriffs« tragen und die Klaus Düsing in seiner monumentalen Monographie zur Subjektivität ausleuchtet. Ich lege den Schwerpunkt vielmehr auf Hegels Denken des Widerspruchs und die Grundbewegung, die meines Erachtens zentral für das Verständnis jener selbstbegründenden, autonomen Struktur sind, die – mit Autoren wie Dieter Henrich, Brady Bowman und Christian Iber gesprochen – das dynamische Prinzip der Totalität des Begriffs ist. So kann ich die Normativität ausweisen, die Hegel zufolge der Wirklichkeit inhäriert. Vor dem Hintergrund der logischen Konzeption kann ich im zweiten Schritt Hegels Kritik des Gewissens darstellen. Mir geht es darum, einerseits die Brisanz kenntlich zu machen, die die Gewissensthematik für Hegels Denken hat, und andererseits die Weise aufzuzeigen, wie Hegel diese Sprengkraft des Gewissens entschärft. Ich kann mich dabei auf eine unüberschaubare Menge an Aufsätzen und auch viele größere Studien zum Gewissensbegriff bei Hegel bezie4 Weitere Vertreter einer sogenannten metaphysischen Lesart sind etwa Brady Bowman, Thomas Sören Hoffmann und James Kreines. 5 Weitere Vertreter nicht-metaphysischer, naturalistischer oder pragmatistischer Lesarten sind Terry Pinkard, Paul Redding und Italo Testa. In seinen neueren Arbeiten vertritt auch Robert Pippin eine Lesart, die man als »metaphysisch« bezeichnen kann.

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hen.6 Aneignungen aus der Sozialphilosophie (wie etwa diejenigen von Dominik Finkelde oder Christoph Menke) geben oftmals wesentliche Grundzüge von Hegels Konzeption auf und können deshalb nur bedingt als Auseinandersetzung mit Hegels Position gelten ; sie fallen mit ihren Revisionen, wie ich zeigen werde, vielmehr selbst unter seine (in meinen Augen triftige) Kritik des formellen Gewissens. Dagegen tendieren Hegel-immanente Interpretation (wie die Arbeiten von Dean Moyar und Frederick Neuhouser, die versuchen, Hegels Konzeption des Gewissens als zeitgenössische Theorie plausibel zu machen) dazu, die Pro­ blematik des Gewissens zu nivellieren. Damit geben beide Seiten die Möglichkeit auf, die Spannung auszuloten, die in der Theorie selbst angelegt ist. Diese herauszuarbeiten ist dagegen mein Anliegen, so dass ich mich von den letztgenannten Autoren, die mein eigenes Verständnis wesentlich geprägt haben, dennoch in der kritischen Absicht unterscheide. Auch über die Hegel-Forschung im engeren Sinne hinaus ist die Theorie der Anerkennung einflussreich geworden. Ich greife diese Thematik auf, weil sie in engem Zusammenhang mit Hegels Darstellung des Gewissens in der Phänomenologie des Geistes steht. Dabei geht es mir vor allem um zwei Punkte: Zum einen will ich die herausragende Bedeutung des Gewissensstandpunktes in der Genese des Selbstbewusstseins aufzeigen. Gegen Interpretationen wie diejenige von Alexandre Kojève, die den Kern von Hegels Theorie der Intersubjektivität in der Herr-Knecht-Beziehung angelegt sehen, zeige ich, dass sich die Anerkennungsbewegung erst in der Versöhnung der Gewissen erfüllt, die die Agonalität dieses früheren Verhältnisses überwindet. Zum anderen argumentiere ich gegen die Lesart von Axel Honneth, dass das Ethische bei Hegel aus dem Nicht-Ethischen hervorgeht – dies ist einer der zentralen Punkte in der Gegenüberstellung mit Levinas. Dagegen gehe ich auf die Zweideutigkeit von Anerkennung in ihrer subjektivierenden Funktion, die sozialphilosophische Lesarten, die oftmals an Judith Butler anschließen, betonen, nicht ein. Denn auch hier geht es mir um eine immanente Lesart, die die inneren Spannungen und Probleme der Theorie aufdeckt. Dies ist im Falle der Anerkennung die Folgenlosigkeit der Versöhnung im philosophischen System, die zuerst Robert Pippin anspricht. Gegen Autoren wie Dean Moyar und Pirmin Stekeler-Weithofer, die Hegels Intersubjektivität als rationale Fortentwicklung sittlicher Normen und Gesetze begreifen, argumentiere ich, dass intersubjektive Anerkennung bei Hegel lediglich die ontologisch notwendigen Strukturen in Geltung setzt, aber nicht im eigentlichen Sinne die soziale Wirklichkeit gestaltet. 6 Beispielhaft zu nennen sind hier: Bernstein (1994) ; Dahlstrom (1993) ; Dudley (2008) ; Finkelde (2014a) ; Flay (1984) ; Gelhard (2011) ; Gram (1978) ; Halbig (2008) ; Hirsch (1979) ; Köhler (2006) ; Moyar (2011) ; Neuhouser (1998 und 2000) ; Redding (2007) ; Robinson (1977) ; Siep (2008) ; Speight (2001 und 2006) und Wood (1990).

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Der ganze Hegelteil läuft auf die kritische Evaluation der hegelschen Subjektund Gewissenskonzeption zu. Diese Evaluation zentriert sich um die Frage – an der sich die Geister der Hegel-Interpretation scheiden –, ob es Hegel gelingt, individuelle Freiheit bzw. Gewissensfreiheit zu denken. Gegen Autoren wie Stephen Houlgate, Dean Moyar und Frederick Neuhouser stelle ich mich auf der Grundlage meiner gründlichen Untersuchung auf die Seite derer, die dies verneinen. Allerdings hebe ich mich in meiner Kritik von Hegel-Kritikern wie Ernst Tugendhat ab, weil ich zugleich zeigen zu können meine, dass Hegels Kritik des formellen Gewissens triftig ist. Ein Denken, das gegen Hegel lediglich wieder die Partikularität des Subjekts geltend macht, ohne dabei explizit den Rahmen seines Denkens zu ändern, wie dies unter anderem auch Dominik Finkelde oder Christoph Menke versuchen, fällt hinter das bei Hegel erreichte Reflexionsniveau zurück und scheitert in meinen Augen gleichfalls daran, Freiheit zu denken. Erst mit dieser kritischen Einsicht, dass Hegels Denken der Freiheit unbefriedigend ist, seine Kritik an der Behauptung eines zufälligen, partikularen Standpunktes jedoch triftig ist, ist die spezifische Aporie freigelegt, angesichts derer die Triftigkeit und Originalität der von Levinas artikulierten Figur einer Subjektivität, die ausgehend von der Beziehung auf Transzendenz zu denken ist, angemessen zu würdigen ist. Der Rekonstruktion dieser Figur, ihrer subjektivitätstheoretischen Implikationen und ihrer Kritik ist der zweite Teil der Arbeit gewidmet. Ganz anders als bei Hegel betrete ich mit der Rekonstruktion des Gewissensbegriffs in Bezug auf Levinas Neuland. Levinas wird nicht mit dem Gewissen assoziiert, was sich auch daran abzeichnet, dass er in den einschlägigen Handbuchartikeln und Abhandlungen zum Gewissen keine Erwähnung findet.7 In meinen Augen lässt sich jedoch seine gesamte Subjekttheorie als eine große Abhandlung über das Gewissen verstehen. Levinas selbst verwendet auch die Ausdrücke »Gewissen« (franz. conscience morale) – teilweise in der Doppeldeutigkeit »schlechtes Gewissen/ungenügendes Bewusstsein« (franz. mauvaise conscience) – und »Gewissensbiss« (franz. remords) an einigen zentralen Stellen, ohne jedoch den Gewissensbegriff systematisch auszuarbeiten. Dies würde auch seiner »Methode« zuwiderlaufen, die darin besteht, in und mit der Sprache den Bruch des Propositionalen und den Überschuss des Ethischen über die Thematisierung aufzuweisen. Bei meiner Darstellung und Analyse des Gewissens als jener Instanz, in der Andersheit begegnet, handelt es sich also um eine Interpretation, die allerdings durch die textuelle Grundlage in vielfältiger Weise gestützt ist. LevinasInterpret_innen wie Brigitta Keintzel und Adriaan Peperzak sprechen in diesem Zusammenhang auch ganz selbstverständlich vom Gewissen, ohne genauer die spezifische Struktur und Bedeutung des Gewissensphänomens bei Levinas 7

Vgl. Honnefelder (2007) ; Hübsch (1995) ; Kittsteiner (1991) und Reiner (1974).

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aufzuklären. Eine solche Aufklärung erscheint jedoch aufgrund der zentralen Bedeutung, die der mit dem Gewissen assoziierten Figur in Levinas’ Denken zukommt, als wünschenswert. Zudem leistet die Rekonstruktion einen wesentlichen systematischen Beitrag zum Verständnis des Gewissens, da es – wie ich argumentiere – von Levinas her möglich wird, eine Gewissensfreiheit zu denken, die weder Gefahr läuft, sich in einen schlechten Individualismus zu verwandeln, noch in einen Konformismus ausartet. Eine Ausnahme bezüglich der Thematisierung des Gewissens bei Levinas stellt Paul Ricœur dar, der zum Abschluss seiner großen Studie Das Selbst als ein Anderer die Gewissensthematik bei Hegel, Heidegger und Levinas analysiert, Levinas dabei jedoch einen genuinen Gewissensbegriff aberkennt. Seinem Urteil widerspreche ich: Der Andere begegnet als Anderer nur im bzw. als Gewissen. Der üblichen Lesart zufolge beschreibt Levinas in seinem ersten Hauptwerk, Totalität und Unendlichkeit, die Konstitution des Subjekts als eine Stufenfolge, in der sich zunächst im Genuss ein egoistisches Subjekt herausbildet, das anschließend, in der Begegnung mit dem Anderen, eine ethische Konversion erlebt.8 Gegen diese Lesart weise ich das Gewissen als Bedingung des Bewusstseins aus, d. h. ich argumentiere, dass sich nur von der Beziehung zum Anderen her überhaupt ein Ich bilden kann. Aus dieser interpretatorischen Entscheidung folgt, dass ich – wiederum entgegen der gewöhnlichen Deutung – die Kontinuität zwischen den beiden Hauptwerken, Totalität und Unendlichkeit und Jenseits des Seins, betone.9 Levinas nimmt hier fraglos wichtige Neubestimmungen insbesondere bezüglich seiner Sprachverwendung vor – es geht es jedoch in meinen Augen vor allem um einen Perspektivwechsel: Die Struktur der Subjektivität, die Levinas in Jenseits des Seins freilegt, weist allererst aus, wie die Begegnung mit Transzendenz, die in Totalität und Unendlichkeit im Zentrum steht, zu denken ist. Während also andere Autoren hier einen größeren Bruch in Levinas’ Denken zu erkennen meinen, schließe ich mich vielmehr Robert Bernasconi an, der in Totalität und Unendlichkeit wichtige Gedanken des reiferen Werkes vorgezeichnet findet. Entsprechend ergänze ich die Rekonstruktion des Gewissensbegriffs, indem ich im zweiten Schritt die diastatische Struktur des Subjekts (also den Umstand, dass das intentionale Ich nur als Antwort auf eine Affektion ist, die dem Bewusstsein inkommensurabel ist) herausarbeite, die Levinas in Jenseits des Seins freilegt. Dabei weise ich jene Dimension der Sinnlichkeit, in der das Subjekt immer schon vom Anderen betroffen ist, bevor es ihm als Ich begegnet, als den »Ort« des Gewissens aus. Für die Interpretation dieser Struktur und mein Verständnis 8

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Diese Lesart vertreten neben vielen anderen John Drabinski und Stéphane Mosès. Einen größeren Bruch nehmen hier z. B. Reinhold Esterbauer und Paul Ricœur an.

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der zentralen Figur der Substitution besonders wichtig sind die Ausführungen von Bernhard Waldenfels, dem ich gleichwohl in einem wesentlichen Punkt widerspreche: Während Waldenfels die unwillkürliche ethische Umwendung des Subjekts in der Substitution als dessen konkrete Antwort auf den Anderen auffasst und entsprechend kritisiert, dass das Subjekts in der Verantwortung für den Anderen gänzlich determiniert sei, deute ich die Substitution als affektive Antwort, die nicht nur einen Spielraum konkreter Handlungsmöglichkeiten lässt, sondern die Freiheit des Subjekts allererst ermöglicht. So scheint zwar auf den ersten Blick eine Verantwortung, die das Subjekt vor jeder freien Wahl betrifft, Freiheit auszuschließen. Die Pointe liegt jedoch in meinen Augen darin, dass in einer wesentlich grundlosen Welt die Priorität des Anderen eine absolute Orientierung darstellt, die es erlaubt, Freiheit ohne Autonomie, ausgehend von einer absoluten Heteronomie, neu zu denken. Entsprechend weise ich auch die Kritik von Interpreten wie Hans-Jürgen Gawoll und Robert Stern zurück, die Levinas’ ethisches Subjekt als reinen Befehlsempfänger verstehen. Mit dieser Konstruktion des Gewissens beanspruche ich eine dritte Position gegenüber theologischen Levinas-Deutungen einerseits und den – zumeist sozialphilosophisch oder politiktheoretisch ausgerichteten – säkularen Lesarten andererseits.10 Dass Levinas sich für beide Lesarten anbietet, ist in der ontologischen Zweideutigkeit begründet, in der Gott in seinen philosophischen Schriften bleibt. Diese Doppeldeutigkeit muss notwendig jeden Versuch kennzeichnen, in der Sprache zum Ausdruck zu bringen, was das systematische Denken überschreitet. Wie bei Hegel ist es auch hier gerade die Pointe der vorliegenden Arbeit, die Revision, der Levinas damit den Gottesbegriff unterzieht, mit zu vollziehen. Es geht dabei in meinen Augen darum, eine Tiefendimension menschlicher Subjektivität offenzuhalten, die dadurch nicht abhängig von einem Glauben an Gott ist – sie kann es gar nicht sein, weil Gott, selbst wenn man von ihm sprechen wollte, sich keinesfalls mehr als höchstes Seiendes anböte. So verstehe ich die ethische Beziehung als die Realisierung einer spezifischen Struktur menschlicher Subjektivität, die weder für eine bestimmte Ordnung noch für einen bestimmten Glauben steht, die jedoch verständlich macht, warum wir uns überhaupt für moralische und religiöse Fragen interessieren. Eine wichtige Dimension von Levinas’ Denken, die erst relativ spät einige Beachtung erfahren hat, ist seine Theorie des Dritten, die für die Verbindung zwischen der Ebene des Ethischen, auf der das Subjekt für den Anderen unendlich verantwortlich ist, und der Ebene des Politischen, wo die Verantwortung für die 10 Für eine theologische Deutung stehen etwa Norbert Fischer oder Ludwig Wenzler ; säkulare Lesarten vertreten sozialphilosophisch und politiktheoretisch ausgerichtete Autoren wie Thomas Bedorf, Burkhard Liebsch und Simon Critchley.

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Pluralität der Anderen Gerechtigkeit erforderlich macht, steht.11 Diese Theorie ist für meine Arbeit von Bedeutung, weil, wie ich mit Pascal Delhom argumentiere, erst unter Einschluss dieser Analyseebene das Verhältnis von Gewissen und bewusstem, handelndem Subjekt vollständig artikuliert ist. Dabei zeige ich, dass Levinas – indem er das Subjekt ausgehend von der Beziehung auf Transzendenz denkt – eine Lösung für jene Probleme anbietet, in die Hegels Systemdenken gerät. So argumentiere ich mit Jean-François Lyotard, dass Levinas eine Freiheit des Ichs zu denken vermag, die auf kein Prinzip oder Gesetz rekurriert, sondern ihre absolute Orientierung am Anderen hat – eine Orientierung, die sich an keiner gegebenen Sittlichkeit bemisst und deshalb auch zum Ausgangspunkt einer Kritik der fungierenden Sittlichkeit werden kann. Sowohl Hegel als auch Levinas sind außerordentlich schwierige Denker, die ganz eigene Darstellungs- und Ausdrucksweisen entwickeln. Dies hat unterschiedliche inhaltliche Gründe, hängt jedoch damit zusammen, dass beide gegen das anschreiben, was Hegel als den »gemeinen Verstand« oder das »natürliche Bewusstsein« und Levinas als den »gesunden Menschenverstand« bezeichnet – gegen ein naives Denken also, das die Dinge so aufnimmt, wie sie sich ihm präsentieren. Neben dem Umstand, dass beide ganz unterschiedliche Denkstile und theoretische Präferenzen ansprechen, dürfte es nicht zuletzt an der Schwierigkeit liegen, sich dem Denken und Duktus jedes einzelnen der beiden anzunähern, dass das Verhältnis zwischen ihren Denkgestalten in seinen ethischen, kritikund freiheitstheoretischen Implikationen noch nicht umfassend aufgeklärt ist. So gibt es eine Vielzahl von Aufsätzen und Monographien, die Levinas mit Autoren wie Platon, Hobbes, Kant, Husserl, Heidegger und Derrida in Beziehung setzen. Die Literatur zu dem Verhältnis von Hegel und Levinas fällt dagegen vergleichsweise schmal aus. Hegelianer schreiben für gewöhnlich nicht über Levinas und seine scharfsinnige Kritik ist kaum in das Hegel-Verständnis eingegangen. Ausnahmen bilden hier Autoren wie Hans-Jürgen Gawoll, Stephen Houlgate, Josef Simon und Robert Stern, die Levinas aber letztlich abfertigen, ohne sich wirklich auf die intrikate Struktur einzulassen, die er zu denken gibt. Es handelt sich also – ebenso wie zwischen Hegel und Levinas selbst – um eine einseitige Beziehung, die dann aber oftmals die wenig subtile Geste und den polemischen Tonfall von Levinas’ Totalitätskritik übernimmt, ohne sich wirklich mit Hegels Argumenten auseinanderzusetzen. Die Äußerungen weisen also in beide Richtungen Parteilichkeiten und Vorverurteilungen auf, die dem jeweils anderen Denker nicht gerecht werden. 11 Wegweisend sind hier neben den Ausführungen von Jacques Derrida die Arbeiten von Thomas Bedorf, Robert Bernasconi, Simon Critchley, Pascal Delhom und Alfred Hirsch sowie in jüngster Zeit von Annabel Herzog.

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Von diesem generellen Befund gibt es natürlich Ausnahmen. Neben Jacques Derrida, der an Levinas’ früherem Hauptwerk, Totalität und Unendlichkeit, eine hegelianisch gefärbte Kritik geübt hat, deren Bedeutung für die Entwicklung von Levinas’ eigenem Denken kaum zu überschätzen ist, und in dessen Spuren sich ein Großteil der Levinas-Rezeption bewegt, stehen für eine frühe Auseinandersetzung mit beiden Denkern Robert Bernasconi, der dieser Gegenüberstellung mehrere subtile Analysen gewidmet hat, und Adriaan Peperzak, der in verschiedenen Veröffentlichungen mit breiter Strichführung wesentliche Züge des Verhältnisses herausgestellt hat. In jüngerer Zeit haben Brigitta Keintzel und Burkhard Liebsch zudem einen Aufsatzband herausgebracht  – Hegel und Levinas. Kreuzungen, Brüche, Überschreitungen –, der wertvolle Beiträge versammelt, die das Verhältnis Hegel – Levinas anhand verschiedener Themen und Fragestellungen beleuchten. Allerdings klären diese Aufsätze eher bestimmte Detailfragen, als dass sie eine Gegenüberstellung der Denkgestalten als solcher herausarbeiten. Eine Ausnahme stellt hier die Arbeit von Ari Simhon dar, der nicht nur in dem genannten Sammelband, sondern auch in seiner Monographie, Levinas Critique de Hegel, die logische Struktur von Levinas’ Hegel-Kritik herausarbeitet, die auch mich interessiert. Weiter zu erwähnen sind einige sozialphilosophische Arbeiten, wie der Sammelband Alterität und Anerkennung von Dirk Quadflieg, Heidi Salaverría und Andreas Hetzel, der – ebenso wie die Monographie von Steffen Herrmann, Symbolische Verletzbarkeit – die Überkreuzung von anerkennungstheoretischem und alteritätstheoretischem Paradigma beleuchtet. Dabei haben aber die Autor*innen oftmals dezidiert gar nicht den Anspruch, dem Denken von Hegel und/oder Levinas gerecht zu werden, so dass auch hier letztlich nur partiell eine Verhältnisbestimmung zwischen beiden stattfindet. Entsprechend kann die vorliegende Arbeit, die sich beiden Autoren in ihrem eigenen Recht anzunähern und sie in Beziehung zu setzen sucht, ein Forschungsdesiderat erfüllen. Angesichts der ganz eigenen Schwierigkeiten der Texte besteht dabei ein nicht unerheblicher Teil der Leistung darin, gewissermaßen »Übersetzungsarbeit« zu leisten und beide Denker im Hinblick auf die für die Thematik relevanten Bereiche mit einiger Genauigkeit systematisch darzustellen, sie damit vergleichbar zu machen und so die Tragweite von Levinas’ Kritik nicht nur für Hegelianer, sondern auch für jedes andere Begründungsdenken verständlich zu machen.

I.  Die logische Struktur der Subjektivität

 G

eorg Wilhelm Friedrich Hegel ist der Denker einer Selbstkritik der Vernunft, die in ihrer Radikalität und Konsequenz nicht noch einmal zu überbieten ist (vgl. Bubner 1976, 50). Er schließt damit an Immanuel Kant an, dessen Name mit dem Titel einer Vernunftkritik auf das Engste verbunden ist. Die Umänderung oder Revolution der Denkart (vgl. KrV B XXII), die Kant in der Kritik der reinen Vernunft ins Werk setzt, entspricht seiner Einsicht, dass sich nicht die Erkenntnis nach dem Gegenstand richtet, sondern es, umgekehrt, die Kategorien sind, durch die wir etwas nur als Objekt erfassen (vgl. KrV B XVI). Ebendiese Einsicht greift Hegel auf, radikalisiert jedoch das kritische Anliegen und überführt damit zugleich das transzendentale Projekt in eine spekulative Philosophie mit ontologi­ schem Anspruch.1 In Hegels Augen ist Philosophie dogmatisch, wenn sie von Voraussetzungen ausgeht, die sie nicht einholt.2 Das bedeutet, dass Hegel – anders als Kant – eine Ableitung der Kategorien bezüglich ihrer Form und ihres Inhalts und den Nachweis ihrer Vollständigkeit verlangt. Ebendies ist das Projekt der Wissenschaft der Logik: Die voraussetzungslose und vollständig immanente Ableitung und Darstellung der Denkbestimmungen in ihrem inneren Zusammenhang oder das Denken des Denkens selbst. Hegel realisiert dieses Projekt, indem er – mit dem gänzlich unbestimmten Begriff reinen Seins beginnend – lediglich expliziert, was in der jeweiligen Bestimmung bereits impliziert ist. Die Selbstprüfung oder Kritik der Bestimmungen ist so kein ihrer Darstellung äußerlicher Vorgang, sondern fällt mit dieser zusammen. Diese Revision der Vernunftkritik hat entscheidende erkenntnistheoretische Implikationen: Die Kehrseite von Kants transzendentaler Wende ist, dass wir mit den Kategorien nur Erscheinungen, nicht aber die Dinge, wie sie an sich selbst sind, erfassen. Dagegen meint Hegel, dass die Denkbestimmungen der Wissenschaft der Logik zugleich die Struktur der Wirklichkeit selbst artikulieren. Die Kernthese seiner Metaphysik ist, dass Denken und Wirklichkeit wesentlich die gleiche Struktur haben (vgl. Bowman 2013, 5). Erkennen ist ontologisch, nicht 1 Hegel fasst das Spekulative als das Vermögen der Vernunft, das Entgegengesetzte in seiner Einheit zu begreifen (vgl. LI 52). Dieses Vermögen ist jedem Dualismus entgegengerichtet und erlaubt, Dinge nicht bloß abstrakt, sondern in der Konkretheit ihrer gegensätzlichen Bestimmungen zu erfassen. 2 Dieser Vorwurf richtet sich gleichermaßen gegen die formale Logik, die vorkantische Metaphysik und die Transzendentalphilosophie (vgl. Schick 2002, 2).

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psychologisch (vgl. LI 61). Es geht also nicht lediglich darum, die Grenzen des kantischen diskursiven Verstandes zu überschreiten, sondern überhaupt die Idee zu eliminieren, dass das Denken beschränkt sei und ein Teil der Wirklichkeit jenseits des Denkens liege (vgl. Kreines 2006, 474). Hegel bringt damit zwei gegensätzliche Ansätze zusammen: Ein Denken im spinozistischen Geiste, das die Dinge erfasst, so wie sie an sich selbst sind, dabei aber die Reflexivität des Denkens selbst nicht denkt ; und das diesem entgegengesetzte kantische Prinzip eines Denkens, das die eigene Tätigkeit bedenkt, aber nicht zu den Dingen an sich kommt. Operativ wirksam in dem resultierenden revi­dierten Spinozismus ist die Negativität der Denkbestimmungen (vgl. Henrich 1976 ; Bowman 2013). Diese bilden, indem sie in ihrer Bestimmtheit auf Anderes bezogen sind, kein starres System voneinander unabhängiger Kategorien, sondern einen relationslogischen Zusammenhang, in dem sie nur als Momente des Ganzen ihre Bestimmtheit haben. Die Bewegung der sukzessiven Entfaltung und Weiterbestimmung der Denkbestimmungen bezeichnet Hegel als Subjektivität. Subjektivität meint damit nicht schon das lebendige oder selbstbewusste Wesen, sondern bezeichnet eine logische bzw. ontologische Struktur, die allerdings Hegel zufolge allen sich selbst konstituierenden Entitäten (wie Leben und Selbstbewusstsein, aber auch dem Staat) zugrunde liegt.3 Sie ist Prinzip und Gehalt jener dynamischen Totalität, in der sich das Denken schließlich selbst erfasst und die Hegel den realisierten Begriff bzw. die Idee nennt. Sowohl das dualistische Modell der Erkenntnis als auch die Substanzontologie werden so durch einen »relationslogischen Monismus« (Horstmann 1985, 240) der Subjektivität überwunden.4 Das vorliegende Kapitel dient wesentlich dazu, diese logische Struktur der Subjektivität einsichtig zu machen, die Hegels gesamtem reifen Denken zugrunde liegt, und damit zugleich den theoretischen Rahmen herzustellen, innerhalb dessen sich seine Realphilosophie im Allgemeinen und die Kritik des Gewissens im Besonderen angemessen verstehen und evaluieren lassen.5 Das Kapitel ist in 3 Hegel beansprucht, derartige Entitäten vermittels der von ihm explizierten Struktur allererst begreiflich machen zu können (vgl. Henrich 1971b, 154). 4 Rolf-Peter Horstmann charakterisiert den ontologischen Monismus als die Theorie, »daß es nur eine einzige Entität oder eine einzige Art von Entitäten im ontologisch relevanten Sinne gibt, daß also nur eine einzige oder eine einzige Art von Entitäten keine Fiktion oder Konstruktion sind, während der ontologische Pluralismus alle die Ontologien umfaßt, die von der Annahme der Realität verschiedener Entitäten bzw. verschiedener Arten von Entitäten ausgehen« (Horstmann 1985, 238 f.). Der relationslogische Monismus, den Horstmann Hegel zuschreibt, ist dabei eine Alternative zur Substanzontologie, indem hier nicht die Substanz, sondern eine Relation als unhintergehbare ontologische Reduktionsbasis angesehen wird (vgl. ebd. 240). 5 Der Begriff der Subjektivität löst ab 1804/05 die Substanz als höchste metaphysische Bestimmung in Hegels Denken ab (vgl. Düsing 1995, 191 ff.). Entsprechend beziehe ich mich in



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zwei Unterkapitel unterteilt. Das erste, längere Unterkapitel ist dem Herzstück von Hegels Philosophie, der Wissenschaft der Logik, gewidmet. In enger Auseinandersetzung mit Kant fokussiere ich hier einerseits auf Hegels Theorie des Widerspruchs, insofern diese das Prinzip der spekulativen Vernunft ausmacht (vgl. Peperzak 2004, 190 f.) und wesentliche Aufschlüsse darüber gibt, was Hegel unter Subjektivität versteht. Dabei stelle ich heraus, dass die Denkbestimmungen – und d. h. auch die Strukturen der Wirklichkeit – aufgrund ihrer logischen Verfasstheit in sich normativ sind. Es leuchtet unmittelbar ein, dass diese These wesentliche Implikationen für Hegels Realphilosophie hat, auf die ich in den folgenden Kapiteln zu sprechen komme (s. u. Kap. II und Kap. IV). Um die Grundlage für Hegels Gewissenskritik vollständig in den Blick zu bringen, gehe ich außerdem – wiederum unter Bezugnahme auf Kant – auf den Komplex der Modalbestimmungen (Wirklichkeit, Möglichkeit, Notwendigkeit und Zufälligkeit) und ihren Zusammenhang mit Hegels Begriff der Freiheit ein.6 Dabei will ich insbesondere deutlich machen, dass Hegels Freiheitsbegriff darauf basiert, dass alles Äußere, Fremde angeeignet wird und es nichts gibt, das dem Erkennen prinzipiell entzogen wäre. In diesem Freiheitsbegriff spitzt sich das Immanenzdenken zu, gegen das Levinas seine Kritik richtet (s. u. Kap. V.1.1). Im zweiten Unterkapitel gehe ich darauf ein, wie sich die logische »Grundform der Selbstbewegung« (Welsch 2008, 657) am Bewusstsein darstellt. Hier kommt es mir darauf an, einsichtig zu machen, wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes die ontologische Notwendigkeit der Denkbestimmungen mit ihrer Historizität verbindet. Denn Hegel denkt das Ich nicht ahistorisch als Funktion universaler Kategorien, sondern fasst mit seinem Begriff des Geistes den Umstand, dass sich Selbstbewusstsein nur innerhalb einer konkreten Lebensform herausbildet, die es selbst hervorbringt. Als Darstellung dieses Prozesses teilt die Phäno­menologie mit der Logik das telos der Subjektwerdung der Substanz oder das Selbsterfassen des Erfassens. In ihm realisiert sich, Hegel zufolge, das Absolute, das nicht ein Jenseitiges und Unbegreifliches, sondern die absolute Vermittlung des Erkennens selbst ist (vgl. Hoffmann 2015, 50). Wie ich abschließend argumentieren werde, ist in diesem Anspruch des Absoluten für das reale Subjekt jedoch eine massive Spannung angelegt, denn es kann diesen Anspruch nur um den Preis erfüllen, dass es auf seine Natürlichkeit Verzicht leistet. Diese Spannung ist für die vorliegende Arbeit von höchster Bedeutung, weil sie in der Bewusstseinsgestalt, die Hegel als Gewissen bezeichnet, in zugespitzter Weise thematisch wird (s. u. Kap. II). meiner Arbeit auf jene Schriften, die aus der Zeit nach dieser grundlegenden Neubestimmung stammen. 6 Ebenso wie Subjektivität ist Freiheit für Hegel in erster Linie eine logische Struktur.

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I.1  Subjektivität als inneres Prinzip von Wirklichkeit und Denken

Hegels Urteil über Kant ist zwiespältig: Kants wesentlicher Fortschritt besteht für ihn darin zu zeigen, dass die formale Logik unvermeidlich in Widersprüche gerät, wenn sie metaphysisch wird, d. h. wenn sie ihre endlichen Bestimmungen auf Gegenstände anwendet, die den Bereich sinnlicher Erfahrung übersteigen. Während aber für Kant diese Widersprüche die Grenze des legitimen Vernunftgebrauchs markieren, lehnt Hegel eine solche Selbstbegrenzung der Vernunft zum Zwecke ihrer Selbsterhaltung ab. Anstatt den Vernunftstandpunkt zu entwickeln, reduziert Kant damit in seinen Augen die Vernunft auf den Verstand.7 Hegel stimmt Kant also darin zu, dass die Kategorien in ihrer traditionellen Gestalt nicht geeignet sind, die Wirklichkeit zu erkennen, gibt deswegen aber das Erkennen des Unbedingten (d. h. der Dinge, wie sie an sich selbst sind, Gott und Ich) nicht auf, sondern unterzieht vielmehr die Kategorien einer Revision. Seine spekulative Logik ist so wesentlich als Kritik an der Verabsolutierung des end­ lichen Verstandesdenkens zu verstehen. Zentral für diese Kritik ist seine Auffassung des Widerspruchs.8 Anders als für Kant markiert der Widerspruch für Hegel nicht eine Wissensgrenze. Er hat vielmehr ein bestimmtes Resultat, den Grund, der auf einer höheren Ebene die Einheit der im Widerspruch Entgegengesetzten darstellt. Indem sie das Durchdenken des Widerspruchs zur Methode erhebt, wird die Kritik der Vernunft erstens zu einer Selbstkritik und zweitens positiv produktiv: Das Denken muss nicht von außen beschränkt werden, um nicht fehl zu gehen, sondern es korrigiert sich in seiner Tätigkeit selbst ; zum anderen muss es seinen Inhalt nicht von außen, aus der Anschauung aufnehmen, sondern hat seinen eigenen Inhalt an den Denkbestimmungen, deren Genese es vollzieht.9 Aus dieser autonomen Tätigkeit geht dabei ein begrifflicher Zusammenhang hervor, mit dem Hegel zufolge nicht nur die Wirklichkeit begriffen wird, sondern auch das Ich, das bei Kant als Funktion der Kategorien in seiner Binnenstruktur unbestimmt bleibt, als dynamische Totalität artikuliert ist. Um das Projekt der spekulativen Logik in den für diese Arbeit wesentlichen Hinsichten einsichtig zu machen, gehe ich in fünf Schritten vor: Zuerst erläutere ich Hegels philosophischen Anspruch und weise seine Konzeption wahrer Unendlichkeit als Modell für die Einlösung dieses Anspruches aus. Dabei zeige 7 Zur Unterscheidung von Vernunft und Verstand vgl. Schick (2010) ; Stekeler-Weithofer (1992) ; Zeleny (1978). 8 Ich danke Joachim Ringleben, der mich darauf aufmerksam gemacht hat. 9 Das Denken bringt »in dem Akt, in dem es sich zum Gegenstand macht, seinen Gegenstand hervor« (Schick 2010, 295). Diese ihr eigene Inhaltlichkeit unterscheidet die spekulative Logik wesentlich von der formalen und der transzendentalen Logik (vgl. Bowman 2013, 17).



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ich, dass es Hegel nicht darum geht, die endlichen Bestimmungen zu widerlegen, sondern ihnen vielmehr ihren Status der Absolutheit zu nehmen. Im zweiten Schritt stelle ich die logischen Figuren Widerspruch und Grund dar und weise Subjektivität als das Vermögen, in Differenz zu sich selbst zu treten und den Widerspruch auf einer höheren Ebene zur Einheit zu bringen, als das Prinzip spekulativen Denkens aus. Diese Analyse setze ich im dritten Abschnitt fort, indem ich Kants und Hegels Auffassung der Modalbestimmungen kontrastiere und zeige, dass Hegel – im Gegensatz zu Kant – Wirklichkeit als sich selbst begründenden Zusammenhang begreift. Insofern Kant den Bereich sinnlicher Erfahrung als Kausalzusammenhang versteht und durch die Begrenzung der Vernunft Raum für Freiheit zu schaffen meint, führt dies auf die Frage nach dem Zusammenhang von Notwendigkeit und Freiheit, auf die ich im vierten Schritt eingehe. Hier zeige ich, dass Freiheit als Manifestation des inneren Zusammenhangs der Wirklichkeit für Hegel gerade deren Totalisierung voraussetzt. Abschließend zeige ich, dass Hegel mit dem Begriff des Begriffs die Schwierigkeit zu lösen meint, Selbstbewusstsein zu denken. Indem das Ich die gleiche Begriffs-Struktur aufweist, die der Wirklichkeit zugrunde liegt, impliziert Hegels Konzeption eine Einheit von Denken und Sein, die nun aber nicht mehr die unmittelbare Übereinstimmung der traditionellen Metaphysik ist, sondern sich selbst als das Prinzip der Hervorbringung dieser Einheit erfasst. I.1.1  Das Denken des Unendlichen

Philosophie ist für Hegel Wissenschaft par excellence, die – anders als jede Einzelwissenschaft – nichts als gegeben voraussetzen darf (vgl. LI 35 ; Enz § 1). Das bedeutet, dass sie weder mit einem bestimmten Inhalt anfangen darf, noch sich schon im Voraus über sich selbst und ihre Methode verständigen kann.10 Philosophie hebt vielmehr an mit dem Entschluss, rein denken zu wollen (vgl. LI 68), der – Descartes’ methodischem Zweifel gleich – alles vermeintlich Bekannte und Gegebene abräumt.11 Sie muss dann Hegel zufolge mit dem reinen Sein als der völlig unbestimmten Unmittelbarkeit beginnen und sich den Fortgang, falls es denn einen gibt, völlig immanent ergeben lassen. Die Entwicklung verfolgt dabei 10 Dieses »Problem des Anfangs« tritt prononciert in der Phänomenologie auf, der die Aufgabe zufällt, das natürliche Bewusstsein zum Standpunkt der Wissenschaft zu erheben (vgl. PhG 68 ff.). Die Logik setzt mit der Entsprechung von Denken und Sein ein, die dort erst erarbeitet werden muss. 11 Dieser Entschluss ist damit, wenn man so will, die einzige »Voraussetzung« der Logik – eine Voraussetzung, die, wie Stephen Houlgate expliziert, die geforderte Voraussetzungslosigkeit jedoch nicht korrumpiert (vgl. Houlgate 2006, 60 f.).

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kein bestimmtes Ziel und folgt keinem vorgeschriebenen Pfad, sondern kann lediglich in der Entfaltung und Explikation dessen bestehen, was in dem betrachteten Begriff schon impliziert ist.12 Die philosophische »Methode« ist so das »Setzen desjenigen, was in einem Begriffe schon enthalten ist« (Enz § 88). Nur so ist sie kein äußerliches Geschehen, sondern die »Bewegung des Begriffs selbst« (LII 551).13 Entsprechend sagt Hegel, dass der Verstand der dialektischen Entwicklung nur zuzusehen hat, aber nicht in sie eingreifen darf.14 Das Denken vollzieht dann die begriffliche Bewegung, steuert oder erfindet sie aber nicht. Wesentlich dafür, dass es einen dialektischen Fortgang gibt, ist, dass jede Kategorie der objektiven Logik endlich ist. Diese Endlichkeit einer Denkbestimmung äußert sich darin, dass sie sich nicht selbst bestimmt, sondern durch eine andere Bestimmung determiniert wird. Jede verweist damit an sich selbst auf ihr Anderes, das sie nur zu einem Bestimmten macht, und negiert in diesem Verweis zugleich ihre vorgebliche Selbstständigkeit. In ihrer Grenze, die ihre Bestimmtheit ausmacht, liegt damit ein Widerspruch, der jedes endliche Ding, jede endliche Bestimmtheit über sich hinaustreibt (vgl. LI 138).15 Den ersten Hinweis darauf, wie ein Sich-Einholen des Denkens in Hegels Augen auszusehen hat, gibt der Begriff wahrer Unendlichkeit, den Hegel entsprechend auch als »Grundbegriff der Philosophie« (Enz § 95, Anmerkung) bezeichnet. Dieser Begriff bringt die – für den gemeinen Verstand widersprüchlichen – Einsichten zusammen, dass das Unendliche einerseits das Gegenteil des Endlichen ist, andererseits jedoch nicht im Gegensatz zum Endlichen gedacht werden darf, weil es ansonsten durch dieses begrenzt und also selbst endlich wäre. Dieser Widerspruch wird durch die »schlechte Unendlichkeit« des unendlichen Progresses nur unendlich wiederholt, nicht aufgelöst (vgl. LI 166 f.). Die Lösung besteht dagegen darin, das wahrhaft Unendliche als eine Negation des Endlichen zu begreifen, die zugleich dessen Transformation in ein ideelles Moment der übergreifenden Einheit bedeutet. Das Unendliche ist so der Prozess der 12 Stephen Houlgate betont, dass in dieser Bewegung das Absolute nicht schon vorausgesetzt ist (vgl. Houlgate 2006, 51). Das stimmt. Was aber vorausgesetzt ist, ist die Einheit des Denkens, ohne die keine Dialektik anheben würde und in der zugleich auch angelegt ist, dass sich das Denken am Ende notwendig einholt und die Dialektik »aufgeht«. Diese Einheit ist die – von Hegel unbefragte – Bedingung allen Erkennens. 13 Entsprechend verlagert Hegel die Methodenreflexion an das Ende der Logik, wo sie für das Selbsterkennen des Denkens steht (vgl. Bubner 2004, 31 f.). Der Begriff der »Methode« darf jedoch auch hier nicht als Hinweis auf die äußere Anwendung eines Prinzips verstanden werden (vgl. Houlgate 2006, 33). Die Dialektik ist kein Werkzeug, das äußerlich angewandt wird, sondern in ihr bringt sich das jeder Bestimmtheit einwohnende logische Prinzip zur Geltung. 14 Diese Passivität auf Seiten des Denkenden betont Stephen Houlgate (Houlgate 2006, 60). 15 Ich gehe auf die für Hegels Denken zentrale Kategorie des Widerspruchs im nächsten Abschnitt ausführlich ein.



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Aufhebung des Endlichen oder, gleichbedeutend, »die Wahrheit des Endlichen ist […] seine Idealität« (Enz § 95).16 Dies impliziert, dass Sein in einem eminenten Sinne nur dem Unendlichen zukommt. Das Endliche ist, was es ist, nur als Moment des Unendlichen. Wenn es uns also auch so erscheint, als ob das Endliche, mit dem wir umgehen, ganz real sei, das Unendliche dagegen eine Idealität darstelle, meint Hegel vielmehr, dass das Unendliche wahrhaft ist, während das Endliche nur ein Verschwindendes ist. Diese Auffassung des Unendlichen liegt Hegels Kritik an den sogenannten »Reflexionsphilosophien der Subjektivität« zugrunde, zu denen er neben Kant auch Jacobi und Fichte zählt (vgl. TWA 2, 287). Diese reduzieren in Hegels Augen das Erkenntnisvermögens auf den endlichen Verstand und stellen ihm zugleich ein unendliches Jenseits gegenüber, das sich der Erkenntnis entzieht (vgl. Klotz 2008, 174). Dieses Jenseits fassen sie in unterschiedlicher Weise als unerkennbares Ding-an-sich, nicht analysierbares Nicht-Ich oder religiöses Jenseits. Was diesen Theorien in Hegels Augen entgeht ist, dass sie das Unbegreifliche selbst hervorbringen. Ein außerhalb aller Relationalität angenommenes Absolutes ist notwendig leer oder, wie Hegel sagt, abstrakt. Es steht für die festgehaltene Endlichkeit des Verstandes, die die Vernunft überwinden muss. Das Ding-an-sich ist in diesem Sinne keine irgendwie noumenale Entität, sondern »bedeutet einfach ein fundamentales Denkverbot« (Bubner 2004, 25). Für Hegel ist das Absolute nicht nur nicht unerkennbar, sondern es ist das Erkennen selbst. Das heißt nicht, dass die Wahrheit unmittelbar zugänglich wäre. Im Gegenteil: Das Absolute als Selbsterfassen des Erfassens ist vielmehr das letzte Resultat des gesamten Prozesses. Die absolute Selbstvermittlung des Logischen und das Absolute oder Gott fallen so zusammen. Die immanente Kritik der Denkbestimmungen ist zugleich eine Kritik der historischen philosophischen Positionen, die diese Denkbestimmungen als ihre letzte Wahrheit vertreten. Hegel zufolge kann Kritik nicht darin bestehen, einer kritisierten Position, gewissermaßen von außen, eine andere entgegenzusetzen. Um wirklich gültig zu sein, muss sie vielmehr die kritisierte Position einnehmen und diese sich ihrer eigenen Endlichkeit überführen lassen (vgl. Hoffmann 2015, 213). Bei diesem Verfahren geht es nicht darum, eine Kategorie oder Position als falsch zu widerlegen ; es handelt sich vielmehr darum, ihr den Status der Absolutheit zu nehmen. Hegel zufolge muss das reifste System das, was in vormaligen Positionen an Wahrem enthalten ist, in sich integrieren können. 16 Diesen Prozesscharakter des Unendlichen stellt Rüdiger Bubner heraus: »Das Unendliche, das den Gegensatz seiner zum Endlichen in sich aufnimmt, wandelt sich zum Prozeß der Ausdifferenzierung. Alles Endliche wird, ohne seinen Charakter der Endlichkeit aufzugeben, zu einem Endlichen, das sozusagen des Unendlichen eigenes Endliches darstellt und also das Ergebnis einer Selbstunterscheidung ist.« (Bubner 2004, 28)

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Diese Anforderung gilt nicht nur für die Philosophien vor Hegel. Wenn man Hegels Anspruch eines voraussetzungslosen, sich selbst begründenden Denkens akzeptiert, bedeutet das, dass auch die Kritik an Hegel immanent verfahren muss. Jede Kritik von einem nicht voraussetzungslos entwickelten Standpunkt – und in diesem Sinne per definitionem jede transzendentale Kritik – fällt hinter das von ihm erreichte Kritikniveau zurück (vgl. Houlgate 2006, 37, 103 – 114). Vor diesem Hintergrund wird die Scharfsinnigkeit von Levinas’ Denken deutlich, das diesen Anspruch erfüllt (s. u. Kap. V). I.1.2  Selbstdifferenz, Widerspruch und Rückgang in den Grund

In der Einleitung zur Wissenschaft der Logik lobt Hegel Kants Einsicht in die Objektivität des Scheins und die Notwendigkeit des Widerspruchs (vgl. LI 52). Bereits wenige Zeilen später verkehrt sich das Lob jedoch in Kritik, weil Kant die Bedeutung dieser Widersprüche nicht richtig auffasst. Für Kant sind die dialektischen Widersprüche in den Antinomien nur scheinbar. Sie treten auf, weil die subjektive Vernunft die Verstandesbegriffe illegitimer Weise auf den Bereich des Intelligiblen anwendet. Indem Kant den Widerspruch so als Fehler der subjektiven Vernunft auffasst, verfehlt er in Hegels Augen die »wahre und positive Bedeutung der Antinomien« (Enz § 48, 128). Diese besteht Hegel zufolge darin, dass die Wirklichkeit selbst entgegengesetzte Bestimmungen enthält. Widersprüche sind also nicht Fehler der endlichen Subjektivität, sondern sind in dem Maße wirklich, wie dem Endlichen überhaupt Wirklichkeit zugebilligt werden kann (vgl. Theunissen 1978, 339). Es ist mithin eine falsche »Zärtlichkeit für die Dinge« (LII 55), die den Widerspruch in der subjektiven Reflexion verortet. Sie impliziert zudem seine Fixierung. Das konsequente Durchdenken des Widerspruchs bedeutet dagegen das Begreifen der Entgegengesetzten in ihrer Einheit, dem Grund. Diese Bewegung ist das eigentliche Prinzip spekulativen Denkens (vgl. LI 52). Das Frappierende, das Hegel uns dabei vorführt, ist, dass die abstrakten Bestimmungen widersprüchlich sind, nicht aber ihre spekulative Einheit (vgl. Schick 2010, 334). Hegel behandelt die Kategorie des Widerspruchs explizit in den Reflexionsbestimmungen im zweiten Teil der Logik. Im Unterschied zur Seinslogik, die durch die Bewegung des Übergehens charakterisiert ist, stehen die Kategorien hier im Verhältnis des Ineinander-Reflektiert-Seins. Das bedeutet, dass die Reflexions­ bestimmungen ihr Anderes nicht außerhalb von sich, sondern an sich selbst haben, so wie beispielsweise im Begriff der Ursache der Begriff der Wirkung impliziert ist. Dadurch sind sie Selbstständige, aber »nur als solche, die in ihrer Einheit miteinander sind« (LII 15). So wie die Identität nur Identität ist, indem



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sie nicht der Unterschied ist, ist jede der Bestimmungen sie selbst nur durch die Beziehung auf die ihr entgegengesetzte Bestimmung. Indem nun aber jede der abstrakten Bestimmungen die andere, durch die sie ihre Bestimmtheit erhält, ausschließt, negiert sie die andere und setzt sie im selben Zuge. Diese widersprüchliche Selbstständigkeit, die nur im Verweis auf ein Anderes besteht, identifiziert Hegel als die logische Form des Widerspruchs (vgl. LII 65). Der Widerspruch tritt so nicht etwa zwischen entgegengesetzten Reflexionsbestimmungen auf, sondern er ist Selbstwiderspruch (vgl. De Boer 2010, 362).17 Jede der Bestimmungen hebt sich damit selbst auf. Als dieses »rastlose Verschwinden der Entgegengesetzten« (LII 67) ineinander ist das erste Resultat des Widerspruches die Null ; es entspricht also der Regel der formalen Logik, dass aus logisch Widersprechendem nichts folgt. Anders jedoch als der Formallogiker und anders auch als Kant bleibt Hegel aber bei diesem Ergebnis nicht stehen. Vielmehr hat der Widerspruch ihm zufolge auch ein positives Resultat, nämlich die Kategorie des Grundes. Das erste, negative Resultat entspricht der verstandesmäßigen Auffassung, das zweite, positive jener der Vernunft (vgl. Kang 1999, 213). Dabei geschieht die Auflösung des Widerspruches durch die Vernunft nicht etwa durch die Elimination eines der entgegengesetzten Glieder, sondern besteht in ihrer Vermittlung und Versöhnung auf einer höheren (bzw. eigentlich tieferen) Ebene (vgl. Breitling 1991). Der Grund emergiert, weil die entgegengesetzten Bestimmungen die Beziehung auf ihr Anderes an sich selbst haben und ihn damit als ihre Totalität voraussetzen. Ihr Kollabieren konstituiert so den logischen Raum, der selbst bereits der Grund für ihre Unterscheidung war. Der Rückgang in diesen Grund stellt eine Figur der Autonomisierung dar: Was im Grund wesentlich aufgehoben ist, ist die Selbstständigkeit als gesetzte, d. h. als eine durch ein anderes bestimmte und damit widersprüchliche Selbstständigkeit (LII 67). Der Grund ist absolut – nicht als Substrat und auch nicht in einem einmaligen Akt, sondern als die logische Bewegung der Aufhebung der Voraussetzungen der jeweiligen Kategorie. Wir können damit den Prozess des wahren Unendlichen differenzierter als eine unablässige Bewegung in den Grund fassen (vgl. Bubner 2004, 24 ; Schick 2010, 440). Weil das Endliche sich nicht selbst bestimmt, muss es »zugrunde gehen«, d. h. es geht mit seinem Entgegengesetzten zusammen und bildet eine höhere begriffliche Einheit. Jede neue Kategorie ist aber nur in einer Sphäre gesetzter und aufgelöster Widerspruch ; auf der nächst höheren Ebene entfaltet sie selbst erneut ihre Bestimmtheiten und entwickelt ihre Widersprüche. Der Fort17 Insofern die reflektierende Bewegung absoluter Gegenstoß in sich ist (vgl. LII 27), lässt sich von hier aus nachträglich auch der Anfang der Logik als Widerspruch begreifen (vgl. Kang 1999, 170). Auch der Anfang wäre damit schon subjektivitätstheoretisch gefasst (vgl. Düsing 1995, 313 – 327 ; Schäfer 2002, 258).

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schritt der Logik ist so als ein fortschreitender Rückgang in den Grund zu verstehen.18 Wahrhaft selbstständig ist erst die in sich selbst gegründete Totalität der Bestimmungen. Dieser letzte – und, wie Hegel auch sagt, zureichende – Grund ist der Begriff, in dem alle Widersprüche aufgelöst bzw. aufgehoben sind (vgl. LII 83). Der endliche Verstand scheut den Widerspruch. Er trennt die Bestimmungen, hält das Endliche fest und produziert gerade deswegen unüberwindliche Antinomien. Aber Hegels Kritik richtet sich nicht gegen den Verstand, sondern gegen das abstrakte Verständnis einer Vernunft, die auf dem Standpunkt des Verstandes beharrt und sich dadurch selbst verendlicht. Ein solches Denken kann nicht dahin gelangen, sich selbst zu begreifen (vgl. Iber 2002, 187). Diese Endlichkeit der Vernunft überwindet das spekulative Denken, indem es die Entgegengesetzten in ihrer Einheit zusammendenkt. Dabei ist die spekulative Vernunft auf die Unterscheidungen des Verstandes angewiesen. Aber sie bleibt nicht bei ihnen stehen und verabsolutiert sie, sondern begreift sie in ihrer wesentlichen Relationalität und setzt sie zu Momenten herab. So vermag das spekulative Denken zugleich anzugeben, wieso die Wirklichkeit dem Bewusstsein durch die traditionellen Kategorien erscheinen muss. Der endliche Verstand mit seinen Denkbestimmungen gehört damit nicht nur dem Denken einer bestimmten Epoche an, das überwunden werden müsste, sondern ist Manifestation des begrifflichen Denkens selbst. Die Subjektivität als Selbstvollzug der spekulativen Vernunft ist »absolute Selbstbeziehung« (Iber 2000a, 59), die sich im Sich-auf-sich-Beziehen hervorbringt, ohne ein äußeres Relat zum Ausgang zu nehmen. In dieser Immanenz ist Erkennen im strengen Sinne autonom.19 Es impliziert zugleich die Verweigerung eines genuin Anderen jenseits des Denkens: Weder in der Wirklichkeit noch im Ich bleibt ein prinzipiell unbegreiflicher Rest. Jede Andersheit muss sich als Moment der Selbstvermittlung erweisen und ist damit bloß vorübergehende. Spätestens im Absoluten ist jeder Anschein von Andersheit aufgehoben. Diese Freiheit von Transzendenz macht für Hegel die Unendlichkeit des Absoluten oder Freiheit aus (vgl. Siep 2004b, 168). Sie bildet das Zentrum der Auseinandersetzung mit Levinas (vgl. Kap. V).

18 Anders als Thomas J. Bole, der zwischen dem Widerspruch als methodologischen Prinzip und als thematischem Moment unterscheidet (vgl. Bole 1987, 515), denke ich, dass Hegels Darstellung des Widerspruchs gerade die dialektische »Methode« als Ganze erhellt (vgl. Henrich 1971b, 104). Dies impliziert keine petitio principii, weil der Widerspruch nicht »angewendet« wird, sondern sich an jeder endlichen Bestimmung selbst vollzieht (vgl. Schick 2010, 477). 19 Die kantische Idee der Selbstgesetzgebung bildet damit nicht nur das Zentrum von Hegels praktischer Philosophie, sondern von seiner Philosophie als Ganzer (vgl. Pippin 2000a, 188).



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I.1.3  Wirklichkeit als reine Immanenz

In der Einleitung zu der »Idee einer transzendentalen Logik« findet sich Kants berühmtes Diktum, dass »Begriffe ohne Anschauungen […] leer, Anschauungen ohne Begriffe […] blind« (KrV B 76) seien. Erkenntnis erfordert für Kant beides, Anschauung und Begriff. In Modalkategorien artikuliert, geben Begriffe lediglich die logische Möglichkeit einer Sache an, so dass Wahrnehmung erforderlich ist, um zu bestätigen, dass sie auch real möglich oder wirklich ist. Auch dann konstituieren die Verstandesbegriffe allerdings nur Erscheinungen und gewähren keine Einsicht in das Unbedingte. Hegels Kritik an der Auffassung, dass das Denken durch eine unüberbrückbare Kluft von der Realität getrennt sei und die Vernunft nicht in der Lage sei, die Dinge an sich zu erkennen, haben wir oben bereits kennengelernt. Sie ist begründet in einem Begriff der Wirklichkeit, der sich von der kantischen Auffassung wesentlich unterscheidet, indem Hegel die Modalkategorien nicht der Seite der Subjektivität (im nicht-terminologischen Sinne) zuschlägt, sondern sie als die Artikulation der Wirklichkeit als sich selbst begründendem Zusammenhang begreift.20 Kant zufolge sind die Modalkategorien besonders, »insofern sie nicht den Inhalt des Begriffs vermehren, sondern die Beziehung auf das Erkenntnisvermögen angeben« (KrV B 266). Wie »Existenz« sind auch Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit keine realen Prädikate. Entsprechend ist der Begriff einer Sache oder ihre bloß logische Möglichkeit nicht gleichzusetzen mit der Kenntnis eines wirklichen Objekts. Dass sich etwas widerspruchsfrei denken lässt, ist unzureichend für Erkenntnis ; es garantiert nicht, dass die Sache auch wirklich möglich ist. Dass etwas als real möglich gelten darf, erfordert Kant zufolge zusätzlich zu seiner logischen Möglichkeit auch die Konsistenz mit den Prinzipien der Erfahrung. Die Frage, ob ein Objekt oder eine Beziehung diesen Prinzipien entspricht, kann für Kant nur a posteriori beantwortet werden. Reale Möglichkeit erfordert Wahrnehmung – nicht unbedingt als direkte Wahrnehmung des fraglichen Objekts, zumindest aber seine Verbindung mit einer Wahrnehmung entsprechend den Analogien der Erfahrung, z. B. die Wahrnehmung des Effekts, um auf die Ursache zu schließen. Damit legt Kant implizit eine mechanistische Konzeption der Wirklichkeit zu Grunde, in der jeder Teil mit allen anderen in kausalen Beziehungen steht. Insofern die reale Möglichkeit einer Sache voraussetzt, dass alle ihre relevanten 20 Karen Ng sieht die Differenz zwischen Kant und Hegel in besonderer Weise an der Konzeption des Wirklichen hervortreten: »One way to understand the difference between transcendental and speculative logic is that whereas the former determines the necessary conditions and categories for the knowledge of any possible object, the latter is the process and activity of determining the truth of actual objects and of actuality (Wirklichkeit) itself.« (Ng 2009, 144)

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Bedingungen vorhanden sind, folgt unter Annahme der mechanistischen Konzeption, dass alles, was real möglich ist, auch wirklich ist. Mithin fallen reale Möglichkeit und Wirklichkeit zusammen. Und weil das Prädikat der Notwendigkeit bedeutet, dass etwas unweigerlich existiert, ist alles, was real möglich ist, zugleich auch notwendig (vgl. KrV B 287). Auch wenn es daher so scheinen mag, als ob »vieles möglich ist das nicht wirklich ist« (KrV B 284), kommt Kant deshalb zu dem Schluss, dass die Extension von realer Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit als identisch angesehen werden muss. Unter der Annahme, dass alles, was existiert, eine Ursache hat, ist etwas real möglich, wenn es wirklich ist ; und wenn es wirklich ist, dann ist es dies notwendigerweise. Kant stimmt mit Hume darin überein, dass sich Notwendigkeit nicht aus der Erfahrung ableiten lässt. Anstatt daraus jedoch wie Hume zu schließen, dass wir Notwendigkeit gar nicht einsehen können, meint er, dass sie nur a priori erkannt werden kann (vgl. KrV B 3). Um jedoch von einem Notwendigen (einer Folge etc.) sprechen zu können, müssen wir uns immer zugleich auf etwas in der Wahrnehmung Gegebenes beziehen. In diesem Sinne ist die Notwendigkeit, die wir kennen, relativ. Ein Sachverhalt kann im Zusammenhang mit anderen Sachverhalten als notwendig erkannt werden, aber wir haben keine Einsicht in die Notwendigkeit der Existenz dieser Umstände und Gesetze als solcher (vgl. KrV B 280). Nun ist Kant der Ansicht, dass wir den Zufall nicht begreifen können ; aufgrund der Struktur unseres Verstandes müssen wir immer eine Ursache annehmen. Diese Verfasstheit unseres Denkens drängt uns auch dazu, ein absolut notwendiges Wesen als letzten Grund der Welt anzunehmen. Insofern Kant jedoch die Anwendung der Kategorien und Prinzipien jenseits des Bereichs empirischer Erfahrung als illegitim zurückweist, können wir keinen Begriff von diesem Wesen haben. Wir kennen damit keine absolute Notwendigkeit (vgl. KrV B 641). Lediglich aus moralischen Gründen dürfen und sollen wir sogar annehmen, dass die Erscheinungswelt eine Einheit ist und dass wir prinzipiell Einsicht in die Natur gewinnen können. Diese Annahme ist gestattet, weil sie den wissenschaftlichen Fortschritt fördert ; es handelt sich jedoch lediglich um eine regulative Idee. Was das Erkennen betrifft, müssen wir bezüglich einer letzten Ursache agnostisch bleiben. In Hegels Augen kommt Kant damit über die Bestimmung des Zufälligen nicht hinaus (vgl. Ng 2009, 159). Wie Kant meint Hegel, dass logische Möglichkeit die Wirklichkeit nicht hinreichend bestimmt. Was formal möglich ist, kann sein und kann ebenso gut auch nicht sein ; seine Existenz ist also zufällig (vgl. LII 205 f.). Im Gegensatz dazu hängt die Wirklichkeit oder reale Möglichkeit einer Sache von dem Zutreffen der für sie notwendigen und hinreichenden Bedingungen ab. Wie für Kant impliziert die reale Möglichkeit einer Sache ihre Wirklichkeit und relative Notwendigkeit (vgl. LII 207 f.). Bis hierhin stimmt Hegels



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Auffassung damit mit derjenigen Kants überein (von dem unterschiedlichen Status der Modalkategorien hier einmal abgesehen). Im Unterschied zu Kant fokussiert Hegel jedoch nun auf die Implikationen jener relativen Notwendigkeit, die der Wirklichkeit inhäriert. Dabei zeigt sich, dass die jeweilige Wirklichkeit aufgrund der Struktur notwendiger Bedingungen und Umstände zugleich die reale Möglichkeit einer anderen, gegenüber dieser ersten gewissermaßen zukünftigen Wirklichkeit ist. Wirklichkeit begründet damit Wirklichkeit – allerdings (noch) nicht ihre eigene. An diesem Punkt ist die Wirklichkeit als relativ notwendige immer noch zufällig, weil sie sich nicht selbst begründet, sondern von einem anderen her beginnt.21 Um absolut zu sein, muss sich die Notwendigkeit selbst als Zufälligkeit bestimmen und so ihre eigene Voraussetzung setzen (vgl. LII 214). So enthält die absolute Notwendigkeit den Zufall nicht nur implizit, sondern ist selbst das Werden des Zufälligen. Der Zufall kommt also nicht nur zufällig vor, sondern ist notwendig.22 Und zugleich manifestiert das Zufällige die Notwendigkeit, indem es notwendig vergeht. Denn die Endlichkeit ist »das Mal, das die Notwendigkeit – indem sie, welche absolute Rückkehr in sich selbst in ihrer Bestimmung ist, dieselben [Wirklichkeiten, A.C.] frei als absolut wirkliche entließ  – ihnen aufdrückte« (LII 216 f.). In der Endlichkeit oder Bestimmtheit jeden Inhalts liegt ja gerade das Prinzip seiner Idealität. So konzipiert Hegel die Wirklichkeit als selbstbegründende, die sich durch das Zufällige hindurch mit absoluter Notwendigkeit realisiert.23 Anders als für Spinoza, dessen Begriff der causa sui Hegel damit neu artikuliert, ist für Hegel jedoch nicht diese notwendige Wirklichkeit oder Substanz das Absolute, sondern der Begriff bzw. die Substanz, insofern sie begriffene ist. I.1.4  Freiheit als Selbstbestimmung: die Totalität des Begriffs

Kant schafft Platz für die Freiheit, indem er zwischen Erscheinungswelt und noumenalem Reich unterscheidet und mögliche Vernunfterkenntnis auf Erfahrungsobjekte beschränkt (vgl. KrV B XXVI–XXX). Wie gerade dargestellt, müssen alle 21 Zufällig ist für Hegel dasjenige, was zugleich einen und auch keinen Grund hat (vgl. LII 205 f.), was also seinen Grund nicht an sich selbst hat. 22 Die wesentliche Rolle des Zufalls in Hegels Philosophie unterstreicht Dieter Henrich. Ihm zufolge ist »der spekulative Idealismus […] die einzige philosophische Theorie […], die den Begriff des absoluten Zufalls kennt« (Henrich 1971c, 159). 23 Ihre Notwendigkeit besteht gerade in dem Hervorgehen aus dem Zufälligen: »Als notwendig erweist sich eine Wirklichkeit gerade darin, daß sie aus jeder beliebigen Bedingtheit hervorgeht« (Henrich 1971c, 163 f.).

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Objekte und Sachverhalte der natürlichen Welt als in vielfältigen Kausalrelationen stehend verstanden werden, die sie vollständig bestimmen. Im Gegensatz zu dieser relationalen Bestimmtheit versteht Kant Freiheit als »das Vermögen, von sich her zu beginnen« (KrV B 561). Frei sein heißt also, eine Ursache zu sein, deren Kausalität selbst nicht in der Erscheinungswelt determiniert ist. Offensichtlich kann es eine solche Ursache innerhalb der Erscheinungswelt nicht geben. Nur indem wir uns als Wesen verstehen, die neben dem sinnlichen auch ein noumenales oder intelligibles Selbst haben, das in keiner Weise durch sinnliche Eindrücke determiniert ist, können wir uns selbst als frei denken. Diese transzendentale Freiheit ist für Kant »die unbedingte Bedingung jeder willentlichen Handlung« (KrV B 582). Ihre Beseitigung würde zugleich die Möglichkeit praktischer Freiheit aufheben (vgl. KrV B 562), da ohne die Unterscheidung zwischen Dingen als Erfahrungsobjekten und diesen gleichen Dingen als Dingen-an-sich das Kausalgesetz ausnahmslos gelten würde, wir vollständig durch Ursachen determiniert wären und Freiheit mithin unmöglich wäre (vgl. KrV B 564). Kant nimmt so zwei verschiedene Arten der Kausalität an: Kausalität gemäß den Naturgesetzen und Kausalität aus Freiheit. Kausalität aus Freiheit kann in keiner Weise von der natürlichen Kausalität abgeleitet werden, insofern es, Kant zufolge, in der Natur keine Spontanität oder unbedingte Ursächlichkeit gibt. Dennoch stört diese zweite Art der Kausalität nicht die Einheit von Ursachen und Bedingungen in der natürlichen Welt, weil unsere freien Handlungen im Einklang mit den natürlichen Kausalgesetzen stehen (vgl. KrV B 573). Das empirische Subjekt ist so der Ort, an dem eine nicht selbst durch Erscheinungen bedingte Ursache Eingang in die kausal determinierte Erscheinungswelt nimmt. Allerdings können wir uns nie sicher sein, ob wir frei (und damit in einem emphatischen Sinne überhaupt nur) gehandelt haben. Weil unser Erkenntnisvermögen auf Erscheinungen begrenzt ist, liegt Freiheit außerhalb unserer (theoretischen) Erkenntnis.24 Sie kann jedoch auch nicht widerlegt werden. Freiheit hat für Kant damit – wiederum aus der Perspektive der theoretischen Philosophie – den Status formaler Möglichkeit (vgl. KrV B XXVIII). Wenn Kant behauptet, dass es ohne die Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen-an-sich keine Freiheit geben könnte, stellt sich die Frage, wie Hegel innerhalb seiner monistischen Theorieanlage Freiheit denken kann. Wie im letzten Abschnitt gezeigt, versteht Hegel Wirklichkeit als selbstbegründende Totalität, deren relationale Verfasstheit absolute Notwendigkeit ist. Aus der kantischen Perspektive lässt diese Konzeption keinen Raum für Freiheit.25 24 Die praktische Philosophie weiß mehr: Dort fungiert das Sittengesetz bekanntermaßen als ratio cognescendi der Freiheit. 25 Es handelt sich dabei um das gleiche Problem, das Jacobi in den Spinoza-Briefen artikuliert. Jacobis Einsicht ist, dass sich Spinozas Metaphysik, die er für »das einzigartige Paradigma eines



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Um Hegels Konzeption von Freiheit zu erläutern, ist es deshalb wesentlich, das Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit in den Blick zu nehmen. Dieses Verhältnis wird in den abschließenden Passagen der Wesenslogik, im Übergang von der Kategorie der Substanz zum Begriff, explizit.26 Ebenso wie der Begriff die »Wahrheit« der Substanz ist, soll Hegel zufolge Freiheit sich als »Wahrheit« der Notwendigkeit ergeben (vgl. LII 246). Wie ist dieses Verhältnis zu verstehen ? Wie oben dargestellt, ist Notwendigkeit das Wesen des Zufälligen, das sie aus sich entlässt und durch dessen Freisetzung sie absolute Notwendigkeit ist. Indem sie das Endliche untergehen lässt, wirkt sie in der Substanz als blinde Macht (vgl. LII 216 f.), die Hegel auch als Gewalt charakterisiert (vgl. LII 235). Freiheit, als die relationale Verfasstheit des Begriffs, besteht dagegen gerade in der Manifestation dieser inneren Einheit der Wirklichkeit. Sie ist damit für Hegel nicht als transzendental zu verstehen, sondern besteht vielmehr in dem Begreifen der eigenen selbstbegründenden Tätigkeit. Dieses Begreifen eliminiert oder unterbricht Notwendigkeit nicht, sondern transformiert diese in Freiheit, indem sie sie als das innere Prinzip der Wirklichkeit enthüllt (vgl. LII 239). Erstaunlicherweise fällt so die Emergenz der Freiheit in die Sphäre der Notwendigkeit und folgt auch der Logik dieser Sphäre. Hegel zufolge ist Freiheit logisch notwendig ; sie geht notwendigerweise aus der Einheit der Wirklichkeit hervor. Der Übergang von der Substanz zum Begriff ist eine notwendige Befreiung. Freiheit ist damit nicht wie bei Kant jenseits der Welt der Erscheinungen verortet, sondern sie ist, im Gegenteil, fest in der Wirklichkeit verankert. Wie soll man sich die Manifestation dieser inneren Einheit vorstellen ? Ein bzw. vielmehr das Beispiel für diese Manifestation ist der Geist, d. h. die Gestalt, in der selbstbewusstes Leben sich vollzieht und sich in seiner Tätigkeit durchsichtig wird. Ich komme darauf im zweiten Teil dieses Kapitels zurück. Hegel begreift Freiheit als Selbstbestimmung. Der Begriff ist frei, insofern er von nichts abhängt, das ihm fremd oder äußerlich wäre (vgl. Enz § 39, Zusatz 111). Seine Unabhängigkeit besteht gerade nicht darin, Anderes von sich auszuschließen, denn auf diese Weise wäre er nur vermeintlich unabhängig und würde schlechthin konsequenten Denkens« (Sandkaulen 2019, 20) hält, nicht mit Willensfreiheit und intentionalem Handeln vereinbaren lasse. Er folgert daraus, »dass ein System einerseits und die Freiheitsüberzeugungen menschlicher Praxis andererseits nicht miteinander vereinbar sind« (Sandkaulen 2019, 24). Gegen diese Ansicht beansprucht Hegel ein System zu entwickeln, dass nicht nur mit Freiheit vereinbar ist, sondern sie allererst zu artikulieren imstande ist. In diesem Anliegen ist impliziert, dass Spinozas System in seinen Augen gerade nicht maximal rational und insofern unveränderlich ist. Sein Mangel besteht Hegel zufolge darin, dass es die Reflexion selbst nicht zu akkommodieren vermag (LII 195 f. ; Enz § 151, Zusatz). 26 Birgit Sandkaulen weist insofern zu Recht darauf hin, »daß Hegels zentrale Verständigung über Freiheit […] nicht unmittelbar in der Auseinandersetzung mit Kant, sondern vielmehr in der Auseinandersetzung mit Spinoza gründet« (Sandkaulen 2007, 241).

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unter der Hand doch von dem Ausgeschlossenen bestimmt. Vielmehr überwindet die Subjektivität des Begriffs Fremdbestimmung, indem sie das Andere aneignet und es in seine Totalität aufhebt. Freiheit bezeichnet die Vollendung dieses ontologischen Einheitsstrebens. Im-Anderen-bei-sich-selbst-sein, Hegels Grundformel für Freiheit, bedeutet, das Andere als wesensgleich zu erkennen. Diese rein logische Bestimmung der Freiheit setzt die Einheit der Substanz voraus, insofern alles, was dieser Einheit widerstünde, Selbstbestimmung verunmöglichen würde. Damit schließt Freiheit als Selbstbestimmung zwar nicht Andersheit überhaupt aus, aber sie schließt radikale Andersheit aus. I.1.5  Die Begriffsstruktur des Ichs

Hegels Begriff des Begriffs unterscheidet sich von der gewöhnlichen Auffassung von Begriffen, indem er erstens keine abstrakte Allgemeinheit (wie z. B. empirische Verallgemeinerungen, die durch Abstraktion, Vergleichung und Reflexion gebildet werden, und unter die die konkreten Einzelnen subsumiert werden) und zweitens keine Vorstellung meint, sondern inneres Prinzip realer Einheit ist. Während der Begriff als abstrakt Allgemeines sich äußerlich zur konkreten Sache verhält, ist der Begriff als konkret Allgemeines »das Prinzip ihrer relevanten Unterschiede« (Iber 2002, 191). Allgemeines und Besonderes existieren so nicht unabhängig voneinander, sondern sind nur in ihrer Beziehung zu verstehen. Entsprechend realisiert sich der Begriff in einer in sich gegenläufigen Bewegung: Der abstrakte Begriff muss aus sich herausgehen und sich besondern ; und er restituiert sich in der Einzelheit, als der gesetzten Einheit von Allgemeinheit und Besonderheit. Die Instanziierung dieser Tätigkeit des Begriffs ist das Ich bzw. das reine Selbstbewusstsein (vgl. LII 253). Oben habe ich gezeigt, dass Hegel Kant dafür kritisiert, dass die Vernunft nur Erscheinungen, nicht aber die Dinge, wie sie an ihnen selbst sind, soll erkennen können. Diese Unfähigkeit der kantischen Vernunft, die Dinge an sich zu erfassen, bedeutet zugleich auch ihr Unvermögen, die interne Struktur des Ichs anzugeben. Das Ich kann von Kant nicht gedacht werden, ohne in einen Zirkel zu geraten, in dem das, was gerade erklärt werden soll, bereits in Anspruch genommen wird. Weil Objekt- und Selbstbezug wechselseitig aufeinander verweisen, »drehen« wir uns in einem »beständigen Zirkel herum[…], indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgendetwas von ihm mitzuteilen« (KrV A 346, B 404). Diese »Unbequemlichkeit« (ebd.) markiert für Kant eine Wissensgrenze. In Hegels Augen gerät Kant in diese Schwierigkeiten, weil er, indem er mit dem transzendentalen Ich beginnt, den Punkt, von dem her eine Kritik der Denk­-



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bestimmungen anheben muss, schon längst überschritten hat. Für Hegel selbst, der Subjektivität als spekulative Einheit von Einheit und Differenz denkt, stellt das Wechselverhältnis von Selbstbezug und Bezug auf Anderes keine problematische Zirkularität dar, sondern ist ein unhintergehbarer Sachverhalt (vgl. Iber 2000a, 58 ; Quante 1993, 49 f.). Das Selbsterfassen ist vollendet, wenn jedes der beiden Relata der Subjektivität die ganze Beziehung einschließt (vgl. Henrich 1971, 134). Ich = Ich, nun aber nicht als leere Tautologie, sondern als entfaltete Totalität. Der Frage, wie das reale Bewusstsein sich in seiner Begriffsstruktur realisiert, wende ich mich nun zu. I.2 Die Historizität der Denkbestimmungen

Damit spekulative Philosophie anheben kann, soll, wie oben gesehen, nichts weiter erforderlich sein als der Entschluss, rein denken zu wollen. Es bedarf also aus systematischen Gründen keiner weiteren Einführung in die Logik. Allerdings ist dem gewöhnlichen Bewusstsein – um das Mindeste zu sagen – das reine Denken unvertraut. Zwar teilt das gewöhnliche Bewusstsein mit dem Metaphysiker und dem spekulativen Philosophen die Überzeugung, dass wir die Dinge so erkennen können, wie sie sind (vgl. Houlgate 2006, 145). Dabei meint es jedoch – so wie der Metaphysiker und wie auch Kant und anders als der spekulative Philosoph –, dass es sich auf ihm äußere Dinge bezieht (vgl. ebd.). Die Aufgabe der Phänomenologie des Geistes ist es nun, systematisch den Prozess zu beschreiben, in dem das Bewusstsein durch sich selbst, d. h. ohne alle äußere Hilfe, diesen Bewusstseinsgegensatz überwindet, sich in seiner Tätigkeit transparent wird und so den Standpunkt des philosophischen Bewusstseins oder spekulativen Denkens erreicht, von dem her die Logik anhebt (vgl. Houlgate 1998, 55).27 Der Protagonist der Phänomenologie ist damit das gewöhnliche – oder, in Hegels Terminologie, natürliche – Bewusstsein in seiner Unmittelbarkeit, das Erfahrungen mit seiner Konzeption der Wirklichkeit macht, die es immer wieder zwingen, das, was es für wahr hält, aufzugeben bzw. zu qualifizieren. Wesentlich für Hegels Ansatz in der Phänomenologie ist dabei, dass er diese Selbsthervorbringung des Bewusstseins zugleich als historischen Prozess begreift. Die Kategorien, mit denen wir die Welt erkennen, sind nicht nur kein starres Gerüst, son27 Die Phänomenologie des Geistes war zunächst als erster Teil des Systems konzipiert, dem ein zweiter Teil bestehend aus Logik, Natur- und Geistphilosophie folgen sollte. Die drei Teile der Enzyklopädie, die das reife System umreißen, sind jene ursprünglich für den zweiten Teil angedachten Teile. Die Phänomenologie verliert damit ihren Status als erster Systemteil ; zudem nimmt Hegel in dem dritten Teil der Enzyklopädie, der Geistphilosophie, Grundzüge der Phänomenologie auf. Zu dem Verhältnis von Phänomenologie und Logik vgl. Bowman (2018) und Horstmann (2014).

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dern sie sind auch nicht universell und ahistorisch verfügbar (vgl. Houlgate 2005, 6). Nicht nur ein bestimmtes Wissen, sondern die Form des Begreifens selbst ist geschichtlich (vgl. Baptist 2006, 257 ; Nuzzo 2003, 269). Und die verschiedenen Gestalten, die das Bewusstsein durchläuft, haben ihren Ort in spezifischen intersubjektiven Konstellationen und historischen Lebensformen. Was Hegel damit deutlich macht, ist, dass Selbstbewusstsein nicht reines Denken ist, sondern einem lebendigen, leiblichen Wesen zukommt und mithin eine ganze geistige Welt zu seiner Bedingung hat. Seine Realisierung als Geist bedeutet andersherum, dass das Bewusstsein die Wirklichkeit, in der es lebt, nicht einfach überspringen kann, weil sie eben den unhintergehbaren Horizont seines Welt- und Selbstverständnisses darstellt. Mit der idealisierten Abfolge der Gestalten hat es dabei eine doppelte Bewandtnis: Die systematische Entfaltung tritt an die Stelle eines gegebenen Ausgangspunktes des Erkennens ;28 in ihr manifestiert sich zugleich die logische Notwendigkeit, die sich durch die Kontingenzen der besonderen historischen Umstände hindurch durchsetzt (vgl. Pöggeler 1998, 139). Das Gewissen nimmt in dieser Abfolge eine herausgehobene Stellung ein, weil es Hegel als diejenige Bewusstseinsgestalt gilt, durch die Selbstbewusstsein vollständig realisiert wird (s. u. Kap. III und IV). Im Folgenden werde ich zunächst Hegels Begriff der Erfahrung einführen. Dabei geht es mir darum zu zeigen, dass Erfahrung für Hegel nicht lediglich einen Erkenntniszuwachs bedeutet, sondern eine Transformation der Bewusstseinsgestalt selbst darstellt. Dies hat, wie ich argumentieren werde, Implikationen für die Möglichkeit von Selbstkritik: Kritische Selbstreflexion greift hier zu kurz, weil dem Bewusstsein durch die Transformation erst zugänglich wird, was für es vorher gar nicht sichtbar ist. Sein Begreifen kann also nur nachträglich zu einem Geschehen sein, das ihm in seinem Vollzug selbst unverfügbar sein muss. Im zweiten Abschnitt gehe ich auf die Dialektik von natürlichem Bewusstsein und Skeptizismus ein, die dem Fortgang der Phänomenologie zugrunde liegt. Ich zeige, dass Hegel den skeptischen Zweifel positiv produktiv macht, indem er ihn als bestimmte Negation begreift, und argumentiere, dass der dialektische Prozess erst vom philosophischen Bewusstsein her sichtbar ist. Abschließend stelle ich im dritten Abschnitt den für Hegels Philosophie zentralen Begriff des Geistes in seinem Verhältnis zur Natur dar. Ich weise die Spannung auf, die darin liegt, dass Hegel mit dem Geistbegriff zwar der endlichen Verfasstheit des Menschen Rechnung trägt, die Vollendung des Geistes im absoluten Wissen jedoch gerade das Opfer des Endlichen fordert. 28 Eine einzelne Behauptung lässt sich in Hegels Augen nicht für sich allein argumentativ begründen, sie kann nur vom Ganzen her gerechtfertigt sein. Der innere Zusammenhang und die Geschlossenheit des Systems ersetzen dann gewissermaßen den fehlenden äußeren Haltepunkt kosmologischer, theonomer, dogmatischer etc. Provenienz (vgl. Hyppolite 1973, 50).



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I.2.1  Die Selbstkritik des Bewusstseins: Hegels Erfahrungsbegriff

In der Einleitung zur Phänomenologie verwirft Hegel jede dem eigentlichen Erkennen vorangehende Erkenntniskritik. Jeder solche Versuch muss mit Notwendigkeit fehlgehen, weil er als sein Resultat nur die von ihm selbst gemachten Voraussetzungen erfährt. Dies heißt für Hegel aber weder, dass Erkenntnis nicht möglich sei, noch, dass sie sich unmittelbar bewahrheiten ließe (eine Position, die er Jacobi unterstellt). Vielmehr geht das wahre Erkennen aus einem Prozess hervor, durch den das Bewusstsein den für es konstitutiven Inhalt selbst hervorbringt. Hegel zufolge ist es das Wesen des Bewusstseins, seinen Maßstab an sich selbst zu haben und sich so lange zu korrigieren, bis Begriff und Gegenstand bzw. Denken und Sein übereinstimmen. Diese Selbstkorrektur ist in der Begriffsstruktur des Bewusstseins angelegt, die der Satz des Bewusstseins formuliert (vgl. Cramer 1976, 80): Das Bewusstsein »unterscheidet […] etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht« (PhG 76). Das Bewusstsein intendiert also etwas und es intendiert dieses Intendierte als etwas, das auch außerhalb seiner Bezugnahme darauf besteht und eine eigene Realität hat. Damit unterscheidet das Bewusstsein in sich selbst zwischen seinem Wissen (wie der Gegenstand für es ist) und der Wahrheit (wie der Gegenstand an sich ist).29 Beide, Wissen und Wahrheit, sind bewusstseinsimmanent ; das An-sich ist der bewusstseinstranszendente Gegenstand  – aber im Bewusstsein. Indem das Bewusstsein diese Struktur aufweist, muss es nicht eigens einen Vergleich von Wahrheit und Wissen vornehmen, sondern es ist nichts anderes als dieser Abgleich (vgl. PH 78 ; vgl. auch Heidegger 2009, 94). Denn wenn es gewahr wird, dass das, was es für den Gegenstand gehalten hat, nur für es ist, geht es schon mit einem neuen Gegenstand um (vgl. PhG 78). Diese »Dynamik der Generierung einer Objektkonzeption durch eine Art Auto­ destruk­tion der jeweils vorangegangenen« (Beuthan 2008, 82) bezeichnet Hegel terminologisch als Erfahrung (vgl. PhG 78). Was mir an diesem Erfahrungsbegriff wichtig erscheint, ist, dass das Bewusstsein nicht lediglich das, was es für die Wahrheit hielt, modifiziert, dabei aber selbst in seiner Form statisch erhalten bleibt. Vielmehr impliziert die Erfahrung eine Transformation seiner eigenen Gestalt, so dass sich seine Wirklichkeitsauffassung insgesamt verändert. Es wandelt sich nicht der Gehalt einer einzelnen Norm, sondern das Nachdenken selbst (vgl. Pippin 2004b, 300). Diese Transformation ist für das Bewusstsein selbst unverfügbar ; wenn eine Wahrheit ihre Glaubwürdigkeit verloren hat, ist es nicht eine Frage des Willens, dennoch an ihr 29 Es ist zu beachten, dass Wissen und Wahrheit hier nicht im absoluten Sinne zu verstehen sind, sondern eine Unterscheidung im endlichen Bewusstsein bezeichnen.

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zu festzuhalten.30 Die neue Einsicht verändert den Träger selbst ; sie kann nicht zurückgenommen werden, sondern prägt die Gestalt, in der die Welt fortan erscheint. Das Spezifische von Hegels Erfahrungsbegriff lässt sich anhand eines Vergleichs mit der kantischen Auffassung pointiert herausstellen. Kant unterscheidet zwischen einem apriorischen und einem aposteriorischen Anteil an der Erkenntnis. Erfahrung ist für ihn aposteriorische Erkenntnis eines sinnlichen Gehalts mittels der a priori geltenden Kategorien oder Verstandesbegriffe. Die Kenntnis dieser transzendentalen Bedingungen der Erfahrung selbst stammt nicht wieder aus der Erfahrung ; sie kann nur apriorisch sein. Diese Unterscheidung unterläuft Hegel mit seinem Erfahrungsbegriff: Erfahrung im terminologischen Sinne ist nicht empirische Erkenntnis durch eine statisch gegebene Form. Hegel charakterisiert Erfahrung vielmehr als eine »Umkehrung des Bewusstseins« (PhG 79), d. h. als das – in kantischer Terminologie – transzendentale Erfassen der Gegenständlichkeit des vormaligen Gegenstandes, durch das sich die Form des Bewusstseins ändert. Die dialektische Bewegung des Bewusstseins besteht darin, dass das, was für die eine Gestalt das Für-sich des Gegenstandes oder das Wissen ist, das neue Ansich für die folgende Gestalt ist. Oder, anders ausgedrückt, ist die Gegenständlichkeit der alten Bewusstseinsgestalt der neue Gegenstand der Folgegestalt.31 In der Erfahrung wird so jeweils das, was am Bewusstsein zuvor Unmittelbarkeit war, vermittelt (vgl. PhG 39). Der Fortschritt des Bewusstseins darf dabei nicht so vorgestellt werden, als ob das Absolute als Zielbestimmung immer schon vorläge und das Bewusstsein seine Entwicklung gewissermaßen mit diesem Ziel vor Augen vornähme (vgl. Houlgate 2005, 180). Vielmehr scheitert jede endliche Gestalt immanent an ihrer Selbstkonzeption. Der Motor der Bewegung ist dabei die Selbstdifferenz des Bewusstseins. Die Phänomenologie ist ein Weg, der gewissermaßen erst im Gehen gelegt wird ; im Erkennen selbst eröffnet sich erst das Element des Erkennens. Durch die Erfahrung kommt etwas in den Blick, das auf der vorherigen Stufe des Bewusstseins noch gar nicht sichtbar war. In eben diesem Sinne ist Hegels Bemer30 Terry Pinkard erläutert diesen Vorgang hilfreich: »Eine ›Lebensform‹ oder eine ›Gestalt des Geistes‹ umfasste eine Menge von Praktiken, die selbst nicht Überzeugungen sind, sondern eher so etwas wie Bedingungen, unter denen Überzeugungen gebildet werden können. Wenn sich solche Praktiken auflösen, beginnt ein Teil dessen, was wie ›Sinn’ erschien, unverständlich zu werden. […] Das ›Gewöhnliche‹, das unsere Praktiken, unsere Lebensform umgibt, kann sich in bestimmten geschichtlichen Perioden beginnen aufzulösen […], wenn der unartikulierte Hintergrund, der diese Lebensform […] zusammenhält, auseinander bricht.« (Pinkard 2004, 286 f.) 31 Theunissen spricht treffend von einer »ständigen Horizonterweiterung, welche dadurch zustande kommt, daß das Bewußtsein seine Horizonte stets aufs Neue thematisiert« (Theunissen 1987, 327).



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kung zu verstehen, dass nichts erkannt werden könne, das nicht in der Erfahrung war (vgl. PhG 38). Das Bewusstsein ist an seine Entwicklungsstufe gebunden ; es kann dem Werden seiner selbst nicht vorgreifen. Allerdings handelt es sich dabei in Hegels Augen um einen notwendigen Prozess: Er beschreibt den Fortgang der Entwicklung als die Erinnerung dessen, was in der Begriffsstruktur des Bewusstseins angelegt ist (vgl. PhG 591).32 Das Bewusstsein ist also in seiner historischen Genese aposteriorisch, bezüglich der logischen Form, die der Gestaltenfolge zugrunde liegt, jedoch apriorisch. Auch wenn die spezifischen historischen Umstände kontingent sind, können sich die einzelnen Bewusstseinsgestalten oder Kategorien aufgrund der logischen Verfasstheit der Wirklichkeit nur in einer bestimmten Weise und nicht anders herausbilden. Aus dem hegelschen Begriff von Erfahrung folgt, dass Erkenntniskritik gerade nicht in einem kritischen Nachdenken bestehen kann, das sich darum bemüht, seine Voraussetzungen zu klären oder seine Überzeugungen zu prüfen (vgl. Pippin 2008, 16). Ein solches Nachdenken macht sich zwangsläufig gerade der Naivität schuldig, die es zu beseitigen sucht. Dagegen erweist sich die der Struktur des Bewusstseins immanente Selbstkritik als weit radikaler, indem sie das Bewusstsein in seiner Gestalt selbst verändert. Allerdings kann das Bewusstsein eine solche Transformation seiner selbst nicht absichtlich herbeiführen ; sie ist vielmehr ein Widerfahrnis, dessen Notwendigkeit sich erst in der Rückschau einsehen lässt. Aufgrund des radikalen Charakters dieser Erfahrung schlägt Robert Pippin vor, sie als Konversion zu verstehen, für die sich kein Prinzip angeben lässt.33 Der Verlust einer Bewusstseinsgestalt und das Entstehen einer neuen Gestalt wäre damit ein Vorgang, der sich der Rationalität des Systems entzöge. Aber diese 32 Hegel vertritt damit ein maieutisches Modell des Geistes: Das Subjekt lernt nur, was schon in ihm ist ; Lernen ist wesentlich Erinnerung. Dies ist nun nicht so zu verstehen, als ob alles schon fertig im Subjekt ausformuliert vorläge und gewissermaßen nur noch nach Außen gebracht werden müsste. Vielmehr deutet Hegel auch Platon so, dass Erinnerung als die Entwicklung dessen verstanden werden muss, was in der Begriffsstruktur des Geistes impliziert ist (vgl. Enz § 67, Zusatz). Paradoxerweise erfordert Erinnerung damit im ersten Schritt Entäußerung. 33 »Für manche Kommentatoren (wie z. B. Ludwig Siep) entspricht dieser Unterschied einem Unterschied in den Sinngehalten der Erfahrung, auf die Hegel sich beruft. Der dramatischere Sinn, den Hegel im Auge zu haben scheint, befindet sich in größerer Nähe zu einer völligen Umkehrung des Bewußtseins oder einer Konversion, einer Veränderung, bei der wir an religiöse Erfahrungen oder eine tiefgreifende politische Sinnesänderung denken. Ich denke, es trifft zu, daß Hegel eher an die letzte Art von Erfahrung denkt, und darin liegt das Problem. Denn diese Form ist genau die Form, von der wir annehmen, daß sie mit ziemlicher Sicherheit keinen logos, keine Rechtfertigung besitzt. Sie scheint uns zuzustoßen, aus vielerlei Gründen, und die Vorstellung, daß wir das in Wirklichkeit selber ins Werk setzen und es eine Wissenschaft von Erfahrung in diesem Sinn, daß es eine Logik in einer solchen Erfahrung als Teil einer kollektiven zielgerichteten Aktivität geben könnte, scheint allem zu widersprechen, was wir wissen.« (Pippin 2008, 17).

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Unvorhersehbarkeit und Unbegreiflichkeit besteht in Hegels Augen lediglich für das sogenannte »natürliche Bewusstsein«, das in den Prozess selbst involviert ist. Für dieses Bewusstsein vollzieht sich die Entwicklung »gleichsam hinter seinem Rücken« (PhG 80). Vom absoluten Wissen des philosophischen Bewusstseins her betrachtet zeigt sich dagegen die Systematik der Bewusstseinsgestalten in ihrer Notwendigkeit (vgl. Khurana 2017, 317). I.2.2  Natürliches Bewusstsein und sich selbst vollbringender Skeptizismus

Der Protagonist der Phänomenologie ist das natürliche Bewusstsein. Die Natürlichkeit dieses Bewusstseins besteht darin, dass es seine unmittelbare Gewissheit für die Wahrheit hält und seinen eigenen Standpunkt nicht hinterfragt. Das natürliche Bewusstsein ist geschichtsvergessen, d. h. es begreift nicht, dass sein Gegenstand seine eigene (Lern-)Geschichte ist. Seine Gewissheit ist dabei deshalb so beharrlich, weil sie nicht irgendeinen Fakt betrifft, den es zu wissen meint, sondern den begrifflichen Rahmen selbst, innerhalb dessen es überhaupt nur danach strebt, seine Welt zu begreifen. Diese Struktur ist konstitutiv seinem Blick entzogen ; zugleich fühlt es sich angesichts der Möglichkeit ihres Verlustes in seiner Existenz bedroht. Es versucht daher, sich von allem, das ihr widersprechen könnte, freizuhalten, und versperrt sich dem dialektischen Fortgang. Damit verkennt es jedoch sein eigenes Wesen: Gerade indem es sich zu erhalten meint, wird es durch sich selbst über sich selbst hinausgetrieben. Dem Dogmatismus des natürlichen Bewusstseins entgegengerichtet ist der Skeptizismus. Der Skeptiker will nichts ungeprüft als Wahrheit gelten lassen. Dabei ist der skeptische Zweifel nicht nur ein »Rütteln an dieser oder jener vermeinten Wahrheit« (PhG 72), sondern er erschüttert das Bewusstsein in seinen Grundfesten. Mit seiner Bereitschaft, jede unmittelbare Gewissheit zu negieren, stellt der Skeptizismus in Hegels Augen eine wesentliche Seite der Erkenntnistätigkeit dar. Er realisiert die Fähigkeit des Bewusstseins, schlechthin alles zu verneinen, und verwirklicht so das negative Wesen des Denkens (vgl. Csikós 2008, 270). Indem der dogmatische Skeptizismus jedoch zu keiner positiven Konzeption der Wahrheit kommt, führt er – entgegen seiner eigenen Absicht – zur Urteilsenthaltung und zum Nihilismus (vgl. Cavell 2005, 134 ; Hoffmann 2015, 35). Der Fehler des Skeptizismus liegt Hegel zufolge darin, dass er »in dem Resultate nur immer das reine Nichts« (PhG 74) sieht und damit das »Stadium der Kritik« (Csikós 2008, 273) verabsolutiert. Der Skeptiker kann nur immer wieder einen neuen Inhalt von außen aufgreifen und destruieren. Was ihm dabei entgeht ist, dass seine Verneinung ein bestimmtes Ergebnis hat, dass also »dies



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Nichts bestimmt das Nichts dessen ist, woraus es resultiert« (PhG 74). Hegel dagegen richtet das Augenmerk darauf, dass die Negation einer Wissenskonzeption nicht einfach Nichts, sondern gewissermaßen ein bestimmtes Nichts zurücklässt (vgl. ebd.), von dem aus systematisch fortgegangen werden kann.34 Damit wird die schlechte Unendlichkeit, in der der dogmatische Skeptizismus stecken bleibt, überwunden und der Zweifel ist als sich selbst vollbringender Skeptizismus zur Methode erhoben. Während also der dogmatische Skeptizismus nicht nur die Gewissheit in ihrer Unmittelbarkeit, sondern das Erkennen selbst verwirft, denkt Hegel eine Selbstkorrektur des Erkennens durch die bestimmte Negation. Nach dem Grundsatz omnis determinatio est negatio, den Hegel von Spinoza übernimmt, geht aus dem Scheitern einer Bewusstseinsgestalt selbst ein neuer, weiter bestimmter Inhalt hervor, mit dem das Bewusstsein seine nächste Erfahrung macht. So wird ein systematischer Fortgang des Erkennens möglich. Im Gegenzug ist der dogmatische Skeptizismus als ein Schwarz-Weiß-Denken entlarvt, das die Wahrheit entweder auf einen Schlag oder gar nicht zu erreichen meint und sich damit der Möglichkeit, tatsächlich zu erkennen, begibt. Es ist Hegels fundamentale Ansicht, dass erst das Ganze das Wahre ist (vgl. PhG 24). Aber er meint zugleich, dass das Ganze Resultat einer notwendigen und vollständigen Entwicklung ist. Es ist nicht das Überspringen des Endlichen, sondern die Abarbeitung an ihm, durch die wir uns selbst erfassen. Anstatt also alles von sich zu werfen, muss das Bewusstsein so lange sein endliches Wissen revidieren, bis es sich selbst in seiner Tätigkeit erfasst. Insofern das natürliche Bewusstsein lediglich die destruktive Seite der Negation erfährt, aber nicht den Prozess selbst begreift, stellt sich ihm der Weg des Zweifels als Weg der Verzweiflung dar (vgl. PhG 72). Das philosophische Bewusstsein, das nichts anderes ist als die Vollendung dieses Weges ist, vermag dagegen rückblickend seinen systematischen Fortschritt zu erkennen.35

34 Darauf, dass es sich nicht um zwei verschiedene Skeptizismen, sondern vielmehr um zwei verschiedene Perspektiven auf den gleichen Vorgang handelt, macht Dietmar Heidemann aufmerksam: »It is important to note that Hegel is not operating with two distinct types of scepticism, destructive (negative) scepticism on the one hand, and constructive (philosophical) scepticism on the other. On the contrary, destructive and constructive skepticism are identical. It is one and the same skeptical doubt that  – on the level of finite understanding  – nullifies reflection while – on the level of dialectic – it promotes metaphysical knowledge.« (Heidemann 2011, 96) 35 Ralf Beuthan macht auf die »doppelte Weise« aufmerksam, in der das Geschehen weder für die vergangene Bewusstseinsgestalt einsehbar ist, deren konzeptionellen Rahmen die neue Gestalt übersteigt, noch auch für die mit einer neuen Unmittelbarkeit einsetzende Nachfolgegestalt (vgl. Beuthan 2008, 82 f.). Die Verbindung zwischen den Gestalten ist nur für das philosophische Bewusstsein erkennbar (vgl. ebd.).

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Kapitel I

I.2.3  Lebensformen als Geistesgestalten

Das seiner selbst bewusste Individuum hält sich in der Doppeldeutigkeit, nicht bloß natürliches Lebendiges, aber auch nicht nur reines Denken zu sein. Es ist beides, aber so, dass das Logische und das Biologische nicht einfach additiv zusammenkommen, sondern das Logische das Leben selbst durchdringt und transformiert. Dieser Umstand ist es, den Hegel als Geist bezeichnet. Systematisch geht der Geist aus der Natur als ihre Negation hervor, d. h. er unterscheidet sich von der Natur und stößt sich von ihr ab, indem er sich zugleich auf sie als auf sein Anderes bezieht. Dabei ist der Geist Resultat seiner selbst – nicht, indem er sich ex nihilo hervorbringt, sondern indem er seine eigenen naturhaften Voraussetzungen aufhebt. In der Struktur des Geistes ist angelegt, dass er sich erst zu dem machen muss, was er an sich schon ist. Dabei entfaltet er nicht lediglich, was schon fertig vorliegt, »sondern macht sich zu dem, was er an sich ist, indem er es für sich wird« (Khurana 2017, 315). Sein telos ist das Erfassen, das sich im Selbsterfassen vollendet.36 Die geistige Welt ist dabei – als Manifestation des Begrifflichen und als Medium des Begreifens selbst – die Wiedergewinnung des Logischen und sein Zurückkommen aus der Natur. Hegel kennt zwei Übergange von der Natur zum Geist, die innig miteinander verschränkt sind (vgl. Khurana 2017, 309): zum einen den Übergang zwischen der Naturphilosophie, die mit dem Tod des lebendigen Individuums endet, und der Philosophie des Geistes, die mit der Seele als dem sich noch gänzlich unbewussten Keim des Geistes beginnt ; und zum anderen die allmähliche Bildung der Seele zum Geist, die den Gang der Geistesphilosophie ausmacht und an deren Ende der absolute Geist steht. In dieser allmählichen Bewegung wird erst eingeholt, was der Geist seinem Begriff nach, als Seele, bereits impliziert. Dabei nimmt in dieser Entfaltung wiederum die Negation, der Tod des Natürlichen, eine zen­ trale systematische Stellung ein. Der Geist ist nur Geist, insofern er für den Geist ist, d. h. er muss sich manifestieren und damit verendlichen. Das Logische manifestiert sich in intersubjektiven und sittlichen Bezügen und tritt in historischen Lebensformen auf (vgl. Siep 2009, 186).37 Und insofern das Endliche zugrunde gehen muss, ist diesen Geistesgestalten der Untergang gewiss. Das, was Hegel terminologisch als »Erfahrung« bezeichnet, stellt für das natürliche Bewusstsein, das nicht weiß, wie ihm geschieht, eine Art Tod dar. Allerdings bedeutet dieser Tod für das Bewusst36 Hegel gibt das Wesen des Geistes als das Γνῶθι σεαυτόν, Erkenne dich selbst, des delphischen Orakels an (vgl. GPR § 343 ; Enz § 377). 37 Ludwig Siep betrachtet es als »das Spezifikum der Hegelschen Philosophie innerhalb der gesamten neuzeitlichen Philosophie« (Siep 2008, 415), diesen Zusammenhang von Bewusstseinsgestalt und Lebensform auszuführen.



Die logische Struktur der Subjektivität

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sein – anders als für das bloß lebendige Wesen – nicht das Ende ; es ersteht vielmehr in anderer Gestalt neu. Wie der Vogel Phönix, der sich selbst verbrennt und dann verjüngt aus der Asche aufersteht, befreit sich der Geist so von aller Unmittelbarkeit. Er ist erst dort ganz er selbst, wo er sein natürliches Sein vollständig aufgehoben hat und durch die negative Tätigkeit des Bewusstseins die Substanz Subjekt geworden ist, es sie also als begriffene wiederhergestellt hat. Insofern der Geist nur das Werden-zu-sich und das Sich-Befreien-aus-der-Natur ist, hört er damit auch auf, Geist zu sein. Paradox gesprochen ist der Geist dort ganz er selbst, wo er nicht mehr ist, nämlich im reinen Denken. Das Selbsterfassen des Erfassens vollendet sich im absoluten Wissen (vgl. PhG 582). Das absolute Wissen ist die letzte Bewusstseinsgestalt der Phänomenologie, die zugleich keine Bewusstseinsgestalt mehr ist, insofern hier die Form der Gegenständlichkeit aufgehoben ist (vgl. Laurentiis 2009, 249).38 Das absolute Wissen ist nicht mehr ein Wissen von einem Gegenstand ; es ist aber auch nicht sittliche Selbstgesetzgebung, wie einige Autoren es vertreten (vgl. Moyar 2017, 189 ; Pinkard 1994, 262), sondern das Begreifen der eigenen Tätigkeit (vgl. Jaeschke 2020, 75 ; Nuzzo 2003, 267). So ist es kein natürliches Bewusstsein mehr, das mit einem vermeintlich anderen befasst ist, sondern ist in seiner Selbsttransparenz von jeder Unmittelbarkeit und Einseitigkeit befreit und begreift sich als den inneren Zusammenhang alles Endlichen und Bedingten. Damit ist der Bewusstseinsgegensatz überwunden und die Bewusstseinsdialektik kommt zu einem Stillstand (vgl. Nuzzo 2003, 283).39 Der Inhalt des absoluten Wissens sind die Erfahrungen des natürlichen Bewusstseins (vgl. Laurentiis 2009, 263). In ihm ist die Reihe der Bewusstseinsgestalten aufgehoben, d. h. die Kategorien und Denkbestimmungen, die den einzelnen Bewusstseinsgestalten und Lebensformen zugrunde lagen, sind Momente seiner Totalität. Indem der Bewusstseinsinhalt hier die Gestalt der Subjektivität hat, sind Begriff und Gegenstand, Denken und Sein zur Entsprechung gelangt. Mit dieser Koinzidenz hat das Bewusstsein das Element des reinen Denkens oder die Wissenschaft erreicht.40 38 Es ist das letzte Glied der Reihe und zugleich ihre Aufhebung. Das Wissen um unsere Freiheit ist nicht lediglich eine Erweiterung unseres Wissens, sondern verändert unser Selbstverständnis und unsere Auffassung der Welt selbst. 39 Das bedeutet nicht, dass nicht noch Dinge kommen könnten, die sich das Bewusstsein neu aneignen und in denen es sich neu verstehen müsste. Aber für Hegel setzt mit dem Erreichen der Selbsttransparenz eine qualitativ neue Stufe ein. 40 Das absolute Wissen ist das Erscheinen der Wissenschaft, jedoch noch nicht deren Darlegung. Die Phänomenologie hinterlässt der Logik insofern die Aufgabe, die immanente Ableitung und Selbstkritik der Denkbestimmungen darzustellen, die wir im ersten Teil des Kapitels kennengelernt haben (vgl. Houlgate 1986, 130).

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Im absoluten Wissen transzendiert das geistige Individuum die Endlichkeit seiner Existenz (s. u. Kap. III.2.4). Dieses reine Denken, das die höchste Wahrheit des Selbstbewusstseins darstellt, realisiert sich jedoch nur um den Preis seiner Natürlichkeit, d. h. das Selbstbewusstsein muss auf die naturhafte Anhänglichkeit an jede Gestalt verzichten. Letztlich vollendet sich der Geist nur im Verzicht auf die Welt, an der er sich hervorgebracht hat. Obwohl Hegel also mit dem Geistbegriff der leiblichen und sinnlichen Verfasstheit des Menschen Rechnung trägt, erfordert die Zielbestimmung gerade den Verzicht auf diese Dimension. Die Spannung, die darin für das reale Individuum angelegt ist, kulminiert in der Figur des Gewissens, der ich mich in den folgenden beiden Kapiteln zuwende.

II.  Hegels Kritik des Gewissens

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ie Verwirklichung der Freiheit in der Welt – das ist nach Hegel der freie Wille. Damit kann Hegel an ein ganz unmittelbares Freiheitsverständnis anschließen, dem »die Freiheit als der Zustand [erscheint], wo man tun kann, was man will« (VPR 63). Allerdings gibt er dieser Auffassung eine andere Wendung, indem er den Blick auf die Frage lenkt, wie dieses eigene Wollen zu verstehen sei (vgl. ebd.). Diese Frage ist schwieriger zu beantworten, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Insbesondere dann, wenn unmittelbare Impulse oder Neigungen, die man verspürt, längerfristigen Zielen, eingegangenen Verbindlichkeiten oder den eigenen Überzeugungen widersprechen, wird deutlich, dass sie für die Beantwortung unzureichend sind. Vielmehr macht es ja gerade den Willen aus, dass man sich in ihm zu sich selber verhält (vgl. Frankfurt 1998, 12 ; Tugendhat 1979, 219). Darüber hinaus können aber auch die eigenen Ziele, Verbindlichkeiten und Überzeugungen fraglich sein: Was will man wirklich ? Was hält man für gut und wichtig ? Und was schuldet man anderen ? Es stellt sich also die Frage nach dem Grund und Maßstab dieses Sich-zu-sich-Verhaltens. Das dem Wollen (und der Freiheit) implizit immer schon zugrunde liegende telos ist das Gute als die dem Willen selbst inhärierende Norm des Willens. Solange das Subjekt jedoch seine zufälligen Neigungen zum letzten Grund seiner Willensbestimmung macht, bleibt diese für Hegel – ebenso wie auch für Kant – willkürlich und damit zugleich heteronom. Kant schließt daraus, dass Autonomie nur als Bestimmung des Willens durch das Sittengesetz denkbar ist, bei der das Individuum von seinen Neigungen und Interessen gänzlich absieht. Gerade in ihrem Absehen von substanziellen Inhalten bleibt auch diese Willensbestimmung in Hegels Augen jedoch heteronom. Gegen den kantischen Dualismus insistiert Hegel darauf, dass das eigene Interesse des Subjekts vielmehr richtig verstanden werden müsse. Denn das Subjekt, das sich in seinem Wollen begreift, will nicht einen zufälligen Inhalt, sondern es will sich selbst in jenen Bedingungen, die seine Freiheit nur ermöglichen. Und das sind nach Hegels die objektiven Verhältnisse der Sittlichkeit. Die Konzeption der Sittlichkeit ist zentral für Hegels Denken der Freiheit, weil er in ihr Eigeninteresse und Allgemeinheit, Pflicht und Neigung als versöhnt denken kann. Denn indem er die Sittlichkeit als das wahre Wollen des Subjekts begreift, sind die sittlichen Bestimmungen in das Eigeninteresse des Subjekts eingelassen. So beschränken sie den freien Willen nicht. Vielmehr ermöglicht die Sittlichkeit allererst Selbstbestimmung, indem in ihr die Frage nach Herkunft,

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Grund und Maßstab der individuellen Zwecksetzungen beantwortet ist (vgl. Pippin 2000b, 158). Hegel kann damit gleichermaßen die motivierende Kraft des Sittlichen wie auch seine objektive Geltung verständlich machen. Im Hintergrund der Sittlichkeits-Konzeption steht das Ideal der griechischen Polis, die von Hegel so imaginiert wird, dass in ihr Einzelinteresse und Allgemeinheit unmittelbar übereinstimmen. Diese Unmittelbarkeit wird der Polis allerdings zum Verhängnis: Sie geht unter, weil sie dem Reflexiv-Werden der Individuen nicht Rechnung zu tragen vermag. In seiner Rechtslehre stellt sich Hegel der Herausforderung, Sittlichkeit nach dem Verlust der Unmittelbarkeit, d. h. unter den Bedingungen moderner Reflexivität, neu zu denken. Wie im letzten Kapitel unter dem Stichwort der Subjektwerdung der Substanz beschrieben, beherrscht also auch die Grundlinien die Thematik der Wiedergewinnung der Substanzialität als Subjektivität.1 Hegel nimmt wieder eine genetische Perspektive ein, die jedoch in diesem Fall nicht der historischen Genese der Sittlichkeit entspricht, sondern vielmehr synchron die logische Entwicklung jener Sphären auseinander beschreibt, die Hegel zufolge das Recht ausmachen. Dies sind das abstrakte Recht, die Moralität als Negation des abstrakten Rechts und die Sittlichkeit als Aufhebung der beiden Sphären. Erkennt man die zentrale Bedeutung dieser Sittlichkeitskonzeption, so wird einem auch die Schärfe von Hegels Kritik der Moralität im Allgemeinen und des Gewissens im Besonderen verständlich. Der reflexiv gewordene Wille, der in Hegels Terminologie die Sphäre der Moralität kennzeichnet, steht in Spannung zu den substanziellen Bestimmungen der Sittlichkeit. Diese Spannung kulminiert im Gewissen, das seine eigene Überzeugung gegen die Allgemeinheit stellt. Die Brisanz dieser Figur in Bezug auf Hegels Freiheitskonzeption besteht darin, dass das Gewissen einerseits notwendiges Moment moderner Freiheit ist und zugleich die Gefahr einer Zersetzung und Desintegration der Bedingungen dieser Freiheit birgt. Subjektivität in der Stellung des Gewissens ist in Gefahr, die eigene Freiheit zu unterminieren (vgl. De Boer 2017, 140). Das Gewissen enthält damit eine Sprengkraft, die Hegel zu entschärfen sucht, indem er zwischen dem formellen Gewissen, das eine Äußerlichkeit gegenüber dem Allgemeinen aufweist, und einem wahrhaften Gewissen, das die Sittlichkeit als sein eigenes Wesen begreift, unterscheidet und nur dem letzteren uneingeschränkte Berechtigung zubilligt. Mein Eindruck ist, dass Hegel diese Entschärfung des Gewissensstandpunktes zu gut gelingt (vgl. Habermas 1985, 55), denn er lässt die Individualität vollständig in den sittlichen Verhältnissen aufgehen. Der Ausformulierung dieser Kritik 1 Damit wiederholt sich die Zusammenführung von Substanzontologie und Reflexion im Sittlichen. Zu der Verschränkung von Spinoza und Aristoteles in Hegels Denken der ethischen Sub­ stanz vgl. Ilting (1976, 42 f.).



Hegels Kritik des Gewissens

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an Hegels Freiheitskonzeption wende ich mich jedoch erst im vierten Kapitel zu. In diesem Kapitel geht es zunächst darum, Hegels Kritik des formellen Gewissens und die Überwindung desselben im sittlichen Bewusstsein einsichtig zu machen. Das Kapitel ist in drei Sinnabschnitte unterteilt: Beginnen werde ich mit einer kurzen Darstellung von Hegels Begriff des Willens, weil nur vor dem Hintergrund dieser Willenskonzeption Hegels Kritik des Gewissens verständlich wird. Wesentlich ist dabei erstens, dass der Wille aufgrund seiner Begriffsstruktur Freiheit zu seinem Wesen hat ; und zweitens, dass der freie Wille, indem er sich selbst will, das Recht und den Staat will. Die Bestimmungen des Rechts gehen so aus dem Begriff des Willens hervor und erhalten von ihm her ihre Geltung. Hegels Kritik der Moralität und des formellen Gewissens wende ich mich im zweiten Unterkapitel zu. Dort zeige ich, dass die Gestalt des formellen Gewissens aus der konsequenten Durch- und Weiterführung der kantischen Moralkonzeption resultiert, deren Problem, nämlich den Mangel an Objektivität, sie zugleich übernimmt. Meine These ist, dass das Gewissen nicht in erster Linie nur darin böse ist, dass es gegen die geltenden Normen verstößt ; sein eigentliches Vergehen besteht für Hegel darin, die Form der Pflicht und damit die Verbindlichkeit selbst aufzuheben. Allerdings kommt dem Bösen zugleich eine wichtige Funktion zu: Es ist notwendiges Moment in der Hervorbringung der in sich reflektierten Sittlichkeit. Entsprechend werde ich das formelle Gewissen als Vollzugsform ausweisen, die das abstrakte Gute konkretisiert und damit die Wiederherstellung des substanziellen Inhalts unter Bedingungen der Reflexivität vollbringt. Der in sich reflektierten Sittlichkeit als dem Gesamtzusammenhang der Zwecke korrespondiert das sogenannte wahrhafte Gewissen. Von diesem zeige ich im dritten Abschnitt, dass es die Integration von individueller Freiheit und substanzieller Bestimmtheit leistet und damit Hegels Revision von Kants AutonomieKonzeption darstellt. Allerdings denkt Hegel das wahrhafte Gewissen als verwirklicht in einer zweiten Natur, deren Unmittelbarkeitscharakter einen Schatten auf seine Freiheitskonzeption wirft. II.1  Der Begriff des Willens

Die Grundlinien der Philosophie des Rechts sind in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Zum einen leitet Hegel die Bestimmungen des Rechts bis hin zu Sittlichkeit und Staat aus dem Begriff des Willens ab ; und zweitens fasst er Bestimmungen darunter, die man in einer Rechtslehre nicht erwartet. Während z. B. auch für Kant das Eheverhältnis zum Recht gehört, ist es eine Besonderheit von Hegels Darstellung, hier auch die Familie, die bürgerliche Gesellschaft, Markt

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und Weltgeschichte zu berücksichtigen. Es handelt sich also bei den Grundlinien nicht um eine Rechtslehre im konventionellen Sinne. Vielmehr fasst Hegel unter dem Begriff des Rechts die objektiven Bestimmungen subjektiver Freiheit (vgl. Enz § 486). Von wesentlicher Bedeutung ist dabei, dass Rechtssystem, sittliche Verhältnisse und Staat nicht als Begrenzungen der Freiheit, sondern als deren Realisierung verstanden werden müssen. Gemäß Hegels Verständnis von Freiheit als Selbstbestimmung wäre das Subjekt nämlich unfrei, wenn das Recht dem Willen entgegenstünde und diesen beschränkte. Aber auch der Mangel an substanzieller Bestimmtheit würde ein Freiheitsdefizit bedeuten, insofern sich das Subjekt dann nur zufällig bestimmen könnte (vgl. Honneth 2011). So hängt beides – die Herleitung des Rechts aus dem Begriff des Willens und die Erweiterung der Rechtsbestimmungen – zusammen: Die umfassenden Bestimmungen der Sittlichkeit stellen gerade die vollständige Entwicklung des Begriffs des Willens dar. Um die Voraussetzungen zu schaffen, unter denen Hegels Kritik am formellen Gewissen in ihrer systematischen Bedeutung nur verständlich wird, werde ich im Folgenden zunächst die Form des Willens erläutern. Der Wille entspricht in seiner Struktur der Subjektivität oder dem Begriff, wie ich sie im ersten Kapitel eingeführt habe. Herausstellen werde ich zweitens, dass der Wille nur mit dem richtigen Inhalt seiner Begriffs-Form entsprechen kann. Diesen erhält er in den sittlichen Verhältnissen, die der Freiheit so nicht entgegenstehen, sondern ihre Verwirklichung darstellen. II.1.1  Die formale Struktur des Willens

Seiner Begriffsstruktur entsprechend ist der Wille wesentlich durch zwei Momente gekennzeichnet: Zum einen durch das Vermögen, »von allem, was es sei, abstrahieren zu können« (GPR § 4, Anmerkung), d. h. jede Bestimmtheit abweisen zu können (also z. B. einem Trieb nicht stattzugeben oder sich bestimmten Umständen zu verweigern) ; und zum anderen durch das Vermögen, »sich selbst bestimmen, jeden Inhalt durch sich in sich setzen zu können« (ebd.), d. h. sich eine Bestimmtheit geben zu können (z. B. einen Entschluss zu fassen und dieses Vorhaben trotz widriger Umstände durchzuführen). Das erste Moment »der reinen Unbestimmtheit oder der reinen Reflexion des Ich in sich« (GPR § 5) bezeichnet Hegel auch als »negative oder die Freiheit des Verstandes« (GRP § 5, Anmerkung). Diese Freiheit besteht eben darin, alle bestimmten Inhalte negieren zu können – ein Vermögen, das bis zum Selbstmord gehen kann. Sie belegt die absolute Macht der Negativität, die dem Willen zu eigen ist, und realisiert seine Unendlichkeit, ist aber für sich allein eine unvollkommene Form der Freiheit, da ihr das Moment des inhaltlichen Bestimmtseins



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fehlt. Der Wille, der von allem abstrahiert, verwirklicht sich nicht. Wird die Seite negativer Freiheit auf der Ebene der Subjektivität verabsolutiert, resultiert die schöne Seele, die sich von allem konkreten Inhalt zurückzieht und letztlich in ihrer Unbestimmtheit vergeht (s. u. Kap. III). Was dagegen geschieht, wenn die Seite der negativen Freiheit zum allgemeinen Prinzip erhoben wird, exempli­ fiziert der terreur der französischen Revolution (vgl. PhG 431 – 4 41): Hier verstößt jeder konkrete Versuch, Freiheit zu verwirklichen, unmittelbar gegen den Selbstanspruch reiner Allgemeinheit und wird folgerichtig durch die Guillotine ausgemerzt. Die absolute Freiheit, wie Hegel diesen lebensfeindlichen Fanatismus nennt, destruiert jede konkrete Realisationsform und begreift nicht, dass etwas überhaupt nur als ein Bestimmtes sein kann. Was diese »Furie des Zerstörens« (GPR § 5, Anmerkung) will, ist tatsächlich ein Abstraktum. Indem sie jede konkrete Realisation wieder annulliert, befindet sie sich jedoch unmittelbar mit sich selbst im Widerspruch, insofern die Vernichtung aller Besonderheit selbst eine Besonderung darstellt. Ihr Verlangen nach reiner Allgemeinheit lässt sich nicht kohärent umsetzen und erreicht damit keinen stabilen Zustand. Das zweite Moment des Willens gibt Hegel als das von »Unterscheidung, Bestimmen und Setzen einer Bestimmtheit als eines Inhalts und Gegenstands« (GPR § 6) an. Durch dieses Setzen und Bestimmen gewinnt das Ich überhaupt nur Dasein ; in einem gewissen Sinne existiert es überhaupt nur als ein derart Besondertes. Hierhin gehört Hegels Ansicht, dass das Subjekt die »Reihe seiner Taten« (vgl. GPR § 233) ist, seine Identität also ausschließlich an den Bestimmtheiten hat, die es sich gibt. Indem das Individuum sich jedoch auf ein Bestimmtes festlegt, schließt es zugleich anderes aus. So verendlicht es sich: Die Willens­ bestimmung ist das »absolute Moment der Endlichkeit oder Besonderung des Ich« (GPR § 6). Allerdings ist die reine Unendlichkeit, die das Endliche aus sich ausschließt, selber endlich (s. o. Kap. I). Wahre Unendlichkeit besteht dagegen in der Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit (ebd.). Entsprechend ist es wesentliche Bestimmung des Willens, »die Einheit dieser beiden Momente« (GPR § 7) zu sein, d. h. in seiner inhaltlichen Bestimmtheit in seine Unendlichkeit reflektiert zu sein und die Bestimmtheit als eine von sich selbst gesetzte zu wissen. Hierin besteht formal die Selbstbestimmung oder Freiheit des Willens. Der formal freie Wille steht jedoch im Widerspruch zu sich selbst, wenn er sich bloß willkürlich bestimmt, d. h. einen beschränkten Inhalt wählt (vgl. Enz § 145, Zusatz). Darum gilt es, den ihm angemessenen Inhalt zu bestimmen.

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II.1.2  Der richtige Inhalt des Willens

Der Wille ist für Hegel seinem Begriff nach oder an sich frei. Dass er die Freiheit so zu »seine[r] Substanz und Bestimmung« (GPR § 4) hat, heißt allerdings, dass der Wille nicht jederzeit auch schon wirklich frei ist. Er muss sich vielmehr in seiner Bestimmung erst realisieren. Aufgrund seiner Struktur hat der Wille reflexive Freiheit, d. h. er ist das Vermögen, sich zu seinen Trieben und Neigungen zu verhalten. Solange er jedoch kein Maß für dieses Sich-zu-sich-Verhalten selbst hat, kann er zwar zwischen verschiedenen Handlungsoptionen wählen, gelangt aber über eine subjektive oder Willkürfreiheit nicht hinaus (vgl. GPR § 15). Der so durch einen zufälligen Inhalt oder subjektiven Zweck bestimmte Wille ist zwar seiner Form nach unendlich oder frei, seinem Inhalt nach jedoch endlich und unfrei. Dies ist laut Hegel das Verständnis von Freiheit, bei dem das Verstandesdenken stehenbleibt (vgl. GPR § 10). Indem es Freiheit lediglich für die »Anwendung [der Form, A.C.] auf einen gegebenen Stoff« (GPR § 10) hält, kommt es zu einer nur formalen Bestimmung der Freiheit und gewinnt nicht deren Realität. Dabei ist das reflexive Vermögen des Willens notwendige Bedingung für Freiheit: Ohne Reflexivität wäre der Wille objektiver Wille, d. h. er hätte keinen Abstand zu seiner Bestimmtheit, sondern ginge unmittelbar darin auf (GPR § 6). Aber diese Reflexivität ist nicht hinreichend: Der subjektive Wille befindet sich im Widerspruch zu sich selbst, indem er zwar für-sich oder formal frei ist, aber einen unfreien, d. h. bloß endlichen Inhalt wählt (vgl. GPR § 15). Was ist nun ein angemessener Inhalt für den freien Willen ? Hegel zufolge ist das einzig die Freiheit selbst. Der freie Wille will nicht dieses oder jenes, sondern sich selbst – und d. h. die objektiven Bedingungen und Verhältnisse, in denen er sich realisieren kann. Selbstbestimmung bedeutet für Hegel entsprechend, eine normative Ordnung hervorzubringen, in der Freiheit verwirklicht ist. Der »freie Wille, der den freien Willen will« (GPR § 27) – Hegels Fassung des kantischen Autonomie-Gedankens (vgl. Neuhouser 1998, 39) – heißt, dass der Wille Grund der rechtlichen Bestimmungen ist. Andersherum sind die objektiven Verhältnisse der wahrhafte, unendliche Inhalt des freien Willens. Indem er sich ihnen entsprechend bestimmt, ist der Wille nicht mehr zufälliger Einzelwille, sondern schlechthin objektiver Wille, der »sich selbst zu seiner Bestimmung hat und so seinem Begriffe gemäß und wahrhaftig« (GPR § 26) ist. Mit dieser Willenskonzeption entwickelt Hegel Rousseaus Gedanken der volonté generale, des allgemeinen oder Gemeinwillens als Ideal der Selbstbestimmung einer Gemeinschaft, in entscheidender Weise weiter. Der Fehler Rousseaus (und somit auch Kants, der ihm hierin folgt) besteht in Hegels Augen darin, dass er vom Individuum in seiner zufälligen Naturbestimmtheit ausgeht, dem das ihm äußerlich entgegentretende Allgemeine dann notwendig als Einschränkung



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seiner Freiheit erscheinen muss (vgl. GPR § 29). Dies bedeutet in Hegels Augen, ein Individuum vorauszusetzen, das sein eigenes Wollen unzureichend versteht, insofern es nicht begreift, dass die allgemeinen Verhältnisse die Verwirklichung seiner Bestimmung zur Freiheit nur ermöglichen. Individualität und Allgemeines stehen sich hier notwendig unversöhnt und unversöhnlich gegenüber. Dagegen besteht Hegels revolutionäre Einsicht darin, dass  – wenn wir den Willen bloß als vernünftig denken – dieser das Rechtssystem und den Staat will. So steht das Allgemeine dem Einzelwillen nicht als Beschränkung und Zwang gegenüber, sondern das Subjekt vermag seine Selbstbestimmung in der Sittlichkeit als die Verwirklichung seines wahren Selbst zu begreifen. Mit dieser Versöhnung von Allgemeinheit und Partikularität in der Bestimmung des freien Willens ist Hegels Freiheitskonzeption in ihrem Kern umrissen. Anzumerken ist noch, dass es dabei nicht um das empirische Individuum in seinem tatsächlichen Wollen geht. Das Recht ist für Hegel wesentlich nicht demokratisch verfasst, denn es »gründet im allgemeinen Willen des Einzelnen« (Koch 2000, 174), d. h. dem freien Willen in seiner idealen Gestalt. II.2  Die Kritik der kantischen Moralität und des formellen Gewissens

Der erste entscheidende Schritt in der Entwicklung des Willens ist sein ReflexivWerden, durch das sich der Wille allererst in seiner Begriffsstruktur realisiert. Im Gegensatz zu der Äußerlichkeit der Bestimmungen auf der Stufe des abstrakten Rechts und in der antiken Sittlichkeit bestimmt sich das moralische Individuum aus sich selbst heraus und ist damit erst im eigentlichen Sinne Subjekt (vgl. GPR § 105) bzw. Subjektivität (GPR § 106). Es tritt in Differenz zu den objektiven Bestimmungen der Allgemeinheit und gegen die eigene Naturbestimmtheit.2 Diese Reflexivität des Willens kennzeichnet in Hegels Terminologie die Stufe der Moralität (vgl. GPR § 105). Die Moralität ist durch eine Kluft zwischen Wirklichkeit und Innerlichkeit, zwischen Sein und Sollen gekennzeichnet. Anstatt unmittelbar in den sittlichen Bestimmungen aufzugehen und das Gute fraglos als gegeben anzunehmen, begreift das moralische Subjekt sich selbst als Quelle moralischer Autorität.3 Die Kehrseite dieser Selbstbestimmung ist eine Entsubstanzialisierung der Pflicht. Als abstrakte Idee ist das Gute leer – es benötigt, um überhaupt Wirklichkeit zu haben, das Subjekt als sein Komplement, das einen besonderen Inhalt beibringt und so das Gute bestimmt. 2 Die Moralität hat so ihren Gegensatz nicht am Unmoralischen, sondern am natürlichen oder objektiv bestimmten Willen (vgl. GPR § 108, Anmerkung ; Enz § 503, Anmerkung). 3 Diese Haltung der Moralität geht aus der Französischen Revolution hervor und entspricht den Grundsätzen der Aufklärung (vgl. Dudley 2008, 143 ; Neuhouser 2000, 234 f.).

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Aus dieser Konstellation ergeben sich zwei (in Hegels Augen schlechte) Alternativen: Entweder kommt die Moralität (nun im engeren Sinne der kantischen Moralkonzeption) zu gar keiner Entscheidung und das Gute bleibt unwirklich ; oder sie schneidet als formelles Gewissen die moralische Reflexion ab und legt dem Guten einen zufälligen, bloß subjektiven Inhalt bei. Entsprechend werde ich im Folgenden zunächst Hegels Formalismus-Kritik darstellen, um anschließend das formelle Gewissen als die Überwindung und gleichzeitig die Vollendung der kantischen Moralkonzeption ausweisen zu können. Indem das formelle Gewissen handelt, transformiert es zugleich die Wirklichkeit. Entsprechend zeige ich im dritten Schritt, dass das formelle Gewissen eine Vollzugsform ist, die das System der Sittlichkeit als den Gesamtzusammenhang der endlichen Zwecke hervorbringt. Das böse formelle Gewissen ist so zugleich Prinzip der Freiheit, das die sittlichen Gegebenheiten realisiert, innerhalb derer nur ein wahrhaftes Gewissen oder Autonomie möglich ist. II.2.1  Die Formalismus-Kritik an Kant

Hegels Darstellung zufolge kennt die Moralische Weltanschauung oder Moralität im engeren Sinne, die an die kantische Moralkonzeption angelehnt ist, eine unbedingte Pflicht, die zugleich inhaltlich unbestimmt ist (vgl. GPR § 135). Die inhaltliche Bestimmung fällt damit dem besonderen Willen zu, der diesen Inhalt aus dem Gegebenen, d. h. den vorfindlichen Verhältnissen und seinen Naturtrieben, aufnimmt und dann – entsprechend der Formel des kategorischen Imperativs – auf seine Verallgemeinerbarkeit prüft. Dieses Verfahren soll die Autonomie des reflektierenden Subjekts sicherstellen, indem jede zufällige, neigungsbasierte – oder wie Kant sagt pathologische – Bestimmung des Subjekts ferngehalten wird. Wie im ersten Kapitel gesehen, gibt das Kriterium der Widerspruchsfreiheit jedoch lediglich die logische, nicht aber die reale Möglichkeit an, d. h. es ist nicht hinreichend, um die Wirklichkeit zu bestimmen (s. o. Kap. I). Indem das Subjekt einen bestimmten Inhalt als Pflicht bezeichnet, wählt es diesen aus einer Reihe anderer möglicher Inhalte aus und stellt eine Seite an ihm heraus, die es selbst für wesentlich hält ; es könnte aber sein, dass eben dieselbe Handlung als Verbrechen erscheinen würde, wenn ein anderer Inhalt aufgenommen oder eine andere Seite des gleichen Inhalts herausgestellt würde. Der rein formellen Bestimmung der Pflicht auf der einen Seite korrespondiert so die Zufälligkeit des Inhalts auf der anderen Seite. Das Problem der Moralität ist Hegel zufolge, dass die abstrakte Konzeption einer unbedingten Pflicht »keine immanente Pflichtenlehre« (GPR § 135) hervorbringt. Der kategorische Imperativ ist kein generatives Prinzip, sondern ein



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leerer Formalismus (vgl. GPR § 135). So kann die Moralität die vielen Seiten einer Handlung und die Vielzahl unterschiedlicher Pflichten in kein Verhältnis zueinander bringen. Hegel führt vor, dass die Maximenprüfung dementsprechend nur dann zu Ergebnissen führt, wenn implizit bereits substanzielle Bestimmungen zugrunde gelegt werden (vgl. Moyar 2011, 122). Dass das reflektierende Individuum z. B. nicht soll wollen können, dass die Institution des Eigentums aufgehoben werde, oder dass es einen Mord als Widerspruch begreift, impliziert Vorannahmen, die als so selbstverständlich erscheinen mögen, dass sie als solche gar nicht in den Blick kommen, von denen Hegel aber meint, dass sie begrifflich aufgeklärt und eingeholt werden müssen, wenn die vernünftige Selbstbestimmung des Subjekts mehr als eine Farce sein soll (vgl. GPR § 135). Wird dies versäumt, gibt das Subjekt in der Reflexion lediglich den Voraussetzungen, die es macht, einen rationalen Anstrich. Diese der Reflexion zugrunde liegenden Bestimmungen der Sittlichkeit sind aber bei Kant – so Hegels Vorwurf – nur implizit vorausgesetzt, nicht begrifflich expliziert. Die moralische Reflexion holt ihre Voraussetzungen ebenso wenig ein, wie Kants theoretische Philosophie dies tut. Hegels Formalismus-Kritik impliziert damit eine fulminante Kritik der kantischen Autonomie-Konzeption. Hegel bestreitet zunächst, dass der kategorische Imperativ ein unbedingtes Kriterium an die Hand gibt, das es uns erlauben würde, konkrete Pflichten zu bestimmen. Er wird dadurch nicht völlig unbrauchbar ; Hegel räumt ein, dass der Kategorische Imperativ »sehr gut« zur Maximenprüfung geeignet sei, wenn die Sittlichkeit schon bestimmt sei (vgl. GPR § 135, Zusatz). Er erfüllt damit jedoch gerade nicht Kants Anspruch, dem Individuum einen Kompass an die Hand zu geben, mittels dessen es sich jederzeit und unter allen Umständen moralisch und d. h. frei bestimmen kann. Denn der kategorische Imperativ kann als Prinzip der Prüfung nur dienen, wenn bereits ein System der Sittlichkeit besteht. Würde tatsächlich voraussetzungslos an die Prüfung gegangen, könnte das Subjekt zu keinem Abschluss seiner Überlegungen gelangen (vgl. Moyar 2011, 122). Es könnte noch nicht einmal mit Sicherheit feststellen, ob es alle relevanten Optionen berücksichtigt hat (ebd. 115). Hegel macht also geltend, dass die reine Rationalität für sich genommen zu keinem Inhalt kommt. Gemäß seiner Analyse schließt der moralische Anspruch, dass die Pflicht als solche, um der Pflicht willen, und nicht wegen ihres Inhalts, gewollt werden soll, die inhaltliche Bestimmung der Pflicht aus. Jede solche Bestimmung würde nämlich das Interesse des Subjekts  – nicht in der von Kant verworfenen Form bloß naturhafter Neigung, sondern dem Begriff des Willens entsprechend – implizieren (vgl. GPR § 135). Indem Kant dagegen Pflicht und Neigung trennt, entzieht er der Pflicht die Substanzialität, aus der heraus sie nur bestimmte Pflicht sein könnte. Der moralische Anspruch, der die Selbstliebe und

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Selbstgerechtigkeit des Individuums einschränken soll, schließt, wenn er konsequent durchgeführt wird, die Möglichkeit aus, überhaupt zu entscheiden. Trifft das Subjekt unter diesen Bedingungen dennoch eine Entscheidung, basiert diese auf nicht ausgewiesenen Voraussetzungen und markiert damit  – gegen Kants Selbstanspruch – einen heteronomen Standpunkt. Hegel weist damit die moralische Weltanschauung als selbstwidersprüchliche Position aus. Sie verdeckt diesen Selbstwiderspruch, indem sie inkonsequent ist und implizit auf sittliche Bestimmungen als gegeben zurückgreift. Indem sie diese nicht in ihrer Geltung ausweist, ist sie – ebenfalls entgegen ihrem Selbstverständnis – darüber hinaus eine dogmatische Position.4 Diese Gebrechen der Moralität treten offen zutage am Gewissen, das das Räsonnement des moralischen Bewusstseins abbricht, indem sich das Subjekt jetzt offensiv selbst als letzten Grund seiner Entscheidung setzt. Das Gewissen stellt damit die konsequente Weiterführung der Moralität dar ; es löst das Problem der zufälligen Inhalts­ bestimmung jedoch nicht, sondern treibt es vielmehr auf die Spitze. II.2.2  Die Kritik des formellen Gewissens

Das formelle Gewissen setzt der moralischen Reflexion ein Ende, indem es sich unmittelbar einer bestimmten Pflicht und zugleich seiner selbst als des Prinzips zur Bestimmung der Pflicht gewiss ist (vgl. PhG 467).5 Diese Gestalt hat die beiden Seiten, dass sie einerseits all jene Pflichten und Hinsichten, mit denen das moralische Subjekt nicht fertig wird, in sich »verflüchtigt« (GPR § 138) und sich andererseits als die »urteilende Macht« setzt, »für einen Inhalt nur aus sich zu bestimmen, was gut ist« (GPR § 138). D. h. das Gewissen gibt sich gar nicht mehr den Anschein, das Gute durch Reflexion zu ermitteln, sondern macht sich selbst zum letzten Grund in der Bestimmung des Guten. Dieses Dezisionsvermögen ist ein wesentlicher Zug des Gewissens, der dem Subjekt – anders als die moralische Reflexion – Handlungsfähigkeit verleiht. In ihm erfüllt sich die subjektive Seite 4 Einige Interpret_innen vertreten die Ansicht, dass es sich bei dem formalen Gewissen im Unterschied zur Moralität um einen dogmatischen Standpunkt handele (vgl. etwa Schick 2009, 296 ; Stekeler-Weithofer 2009, 362 f.), aber letztlich wird am Gewissen nur der Dogmatismus evident, der implizit auch schon in den unausgewiesenen Voraussetzungen der Moralität enthalten ist. 5 Hegel führt das Gewissen ein als »die Subjektivität, die in ihrer in sich reflektierten Allgemeinheit die absolute Gewißheit ihrer selbst in sich, das Besonderheit setzende, das Bestimmende und Entscheidende ist« (GPR § 136). Wie z. B. auch anhand der »Sinnlichen Gewissheit« in der Phänomenologie deutlich wird, bezeichnet die Gewissheit für Hegel dabei gerade keine ausgezeichnete Form des Wissens, sondern ist vielmehr ein defizitärer epistemischer Modus (vgl. Halbig 2004, 149).



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der Freiheit, alle Bestimmtheit aus sich selbst zu haben. Das Subjekt in der Stellung des Gewissens vernachlässigt jedoch die Seite der Objektivität, und zwar der Objektivität des Guten. Das Gewissen erweist sich damit in doppelter Hinsicht als die Vollendung und Überwindung der Moralischen Weltanschauung. Als konkreter moralischer Geist überwindet das Gewissen den Dualismus zwischen Pflicht und Neigung und vollbringt die Verwirklichung des Guten, das in der (konsequent durchgeführten) Moralität ein nur Gesolltes bleibt (vgl. GPR § 138). Es erbt jedoch zugleich das Problem, das der Formalität der moralischen Weltanschauung anhaftet, und treibt dieses sogar noch auf die Spitze: Denn das Gewissen nimmt die Zufälligkeit in sich selbst zurück. So tritt an ihm der Widerspruch zwischen zufälliger Bestimmtheit und Allgemeinheitsanspruch in aller Deutlichkeit hervor. Der Standpunkt des formellen Gewissens ist durch die Verabsolutierung der Form der Überzeugung charakterisiert (vgl. Moyar 2011, 68). Das Subjekt ist sich in seiner Unmittelbarkeit absolutes Gesetz. Die Objektivität ist dabei unerheblich ; insofern das Subjekt nur von ihm überzeugt ist, ist jeder Inhalt geheiligt (vgl. GPR § 140). Was ihm dabei entgeht, ist, dass seine Überzeugung durchaus durch rechtliche und sittliche Bestimmungen und allerlei Zufälligkeiten der individuellen Lebensumstände und Vorlieben geprägt ist. Es gibt sich jedoch über die Herkunft seiner Überzeugung gar keine Rechenschaft und klärt die Bedingungen und Einflüsse, aus denen sie hervorgeht, nicht auf. Vielmehr beharrt es auf seiner zufälligen Meinung und behauptet diese als ein Letztes (vgl. RP § 132, Zusatz). Diese absolute Selbstgewissheit ist nur möglich, weil das Subjekt sich ganz auf sich zurückzieht und jede weitere Frage nach den Bedingungen seiner Überzeugung zurückweist. Die Einbeziehung anderer Perspektiven und die Reflexion auf Gründe und Bedingungen würden seine Gewissheit schwankend machen. Damit ist das formelle Gewissen ein Unmittelbarkeitsstandpunkt und, indem es sich der Verständigung über seine Position verschließt, dogmatisch. Sein Selbstwiderspruch besteht darin, dass es die Wahrheit oder Allgemeingültigkeit seines bloß subjektiven Standpunktes behauptet.6 Das Gewissen ist gleichermaßen unverfügbar und unantastbar. Es kann nicht beliebig verändert werden, weil die Überzeugung nicht nur für Außenstehende, sondern auch für das Subjekt selbst unverfügbar ist (vgl. GPR § 106, Zusatz). Aber 6 Das Gewissen ist durch zwei konträre Ansprüche gekennzeichnet: Zum einen »drückt [es] die absolute Berechtigung des subjektiven Selbstbewußtseins aus, nämlich in sich und aus sich selbst zu wissen, was Recht und Pflicht ist, und nichts anzuerkennen, als was es so als das Gute weiß« ; zum anderen behauptet es, »daß, was es so weiß und will, in Wahrheit Recht und Pflicht ist« (GPR § 137, Anmerkung). Wie beim natürlichen Bewusstsein der Phänomenologie treten damit Selbstkonzeption und Realität auseinander.

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es darf auch nicht angetastet werden, weil das bedeuten würde, in das innerste Selbstverhältnis des Subjekts, in seine Bindung an das Gute, einzugreifen. Die Zweideutigkeit in Ansehung des Gewissens besteht für Hegel nun darin, dass dem subjektiven Gewissen allein aufgrund seiner Form eine unbedingte Geltung zuerkannt wird (und zuerkannt werden muss), die in seinen Augen jedoch nur dann gerechtfertigt ist, wenn es auch den wahren Inhalt aufweist (vgl. GPR § 137, Anmerkung). Wie gerade gesehen, verweigert sich das Gewissen jedoch jeder Auseinandersetzung mit Anderen. Und in dieser Möglichkeit des Gewissens, »die Willkür, die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzipe zu machen«, sieht Hegel die Möglichkeit des Bösen angelegt (vgl. GPR § 139 ; Enz § 511). Indem das Gewissen auf seinem zufälligen Inhalt beharrt, ist es »als formelle Subjektivität schlechthin dies, auf dem Sprunge zu sein, ins Böse umzuschlagen« (GPR § 139, Anmerkung). Kant vertritt  – wie nach ihm auch Fichte  –, dass das Gewissen nicht irren könne (vgl. MS 401), womit er eben nicht behaupten will, dass das Subjekt mit seinem Gewissensurteil nicht inhaltlich falsch liegen könnte, sondern womit er vielmehr die letzte Autorität des moralischen Individuums geltend macht. Wenn sich jemand auf sein Gewissen beruft, so kann man ihn juristisch belangen, wenn er gegen das Recht verstößt, aber man kann keine Pflicht gegen ihn geltend machen, denn jede Pflicht hat eben nur durch das Gewissen Verbindlichkeit.7 Dagegen stellt Hegel die Gefahr des inhaltlichen Irrtums des Gewissens (und damit zugleich die Substanzialität oder Objektivität des Guten) in den Vordergrund.8 Für ihn ist es Ausdruck der Selbstüberschätzung und eines schier ungeheuerlichen Eigendünkels des Subjekts, seine subjektive Gewissheit gegen die »Autorität Gottes, des Staats […], auch die Autorität von Jahrtausenden« (GPR § 140, Anmerkung) zu stellen. Schließlich ist die sittliche Verfasstheit des Gemeinwesens das Sediment, das »eine Unzahl Überzeugungen von Individuen« (ebd.) in sich schließt. Das Subjekt, das meint, es komme ihm zu, dieser Sittlichkeit Geltung zu- oder abzusprechen, überhebt sich. Entgegen der von Kant und Fichte geteilten Auffassung irrt das formelle Gewissen letztlich selbst dann, wenn es zufällig den wahren Inhalt wählen sollte, und zwar allein aufgrund seiner Form, mit der es sich dieses Urteil anmaßt. Hegel zeigt, dass das Gewissen, indem es sich von jeder bestimmten Pflicht absolviert, letztlich die Aufhebung der Form der Verpflichtung selbst bedeutet 7 Dies führt Kant zu dem Schluss, dass es keine Pflicht geben könne, ein Gewissen zu haben, da die Verbindlichkeit dieser Pflicht eben schon das Gewissen voraussetzen würde (vgl. MS 401). Das Gewissen ist in diesem Sinne eine unverfügbare Voraussetzung für die Möglichkeit, verpflichtet zu werden, überhaupt. 8 Dies sieht Dean Moyar anders: »Hegel rejects in very strong terms the idea that the agent herself should think of conscience as capable of error.« (Moyar 2011, 136)



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(vgl. GPR § 140, Anmerkung). Das formelle Gewissen stellt eine Stufe absoluter Verflüssigung dar, auf welcher Pflichten und Werte vollständig entsubstantialisiert sind und es nur mehr im Ermessen des Einzelnen liegt, ob eine Handlung gut oder böse ist. Aber eine solche bloß subjektive Pflicht, über deren Verbindlichkeit allein das Subjekt verfügt, ist eigentlich gar keine Pflicht (vgl. Enz § 486, Anmerkung). D. h. das formelle Gewissen stellt sich im Namen der Pflicht über die Pflicht und hebt damit die Form der Pflicht überhaupt auf (vgl. Schick 2009, 300). Die Objektivität des Guten zu verkennen, bedeutet letztlich, Verpflichtung überhaupt zu eliminieren. Als »die Majestät der absoluten Autarkie, zu binden und zu lösen« (PhG 476), kreiert das Gewissen so eine anarchische Situation, in der es keine verbindliche Wahrheit gibt.9 Dieses sich als »das Absolute behauptende[]« (GPR § 140) Subjekt, das gottgleich über Gut und Böse verfügt, bezeichnet Hegel als die »letzte abstruseste Form des Bösen« (GPR § 140).10 Radikal böse zu sein, bedeutet für Hegel demnach nicht, die eigenen Neigungen zum Bestimmungsgrund des Willens zu machen ; es bedeutet vielmehr, diese Bestimmung als Gewissensurteil auszugeben und sich darin auch noch für gerechtfertigt zu halten. Hier verkehrt sich die gute Absicht des gewissenhaften Subjekts in ihr Gegenteil, indem es jene Bedingungen zerstört, unter denen Freiheit nur wirklich ist.11 Hegel fügt seiner Behandlung des Gewissens in den Grundlinien eine ganze Typologie von Gestalten an, die mit dem formellen Gewissen verwandt sind. Das wesentliche Kriterium für den Schweregrad der Verfehlung jeder einzelnen Gestalt ist dabei die Stellung des Subjekts zur Objektivität. Hier ist der Wille, der ein dem Allgemeinen Entgegengesetztes will, dabei aber ein Bewusstsein des Unrechts (d. h. im wörtlichen Sinne ein schlechtes Gewissen) hat, vergleichsweise harmlos. Und auch solange das Subjekt seine Handlung durch Gründe zu recht9 Hegel sieht sehr deutlich, dass auch das Individuum an so einem Mangel an Objektivität leidet. Die absolute Freiheit ist kein angenehmer Zustand. Es macht die Bindungskraft jeglicher Fundamentalismen aus, dass das Individuum lieber noch eine äußere und sogar lebensfeindliche Autorität annimmt, als in das Leere zu fallen. Angesichts des drohenden Nichts kann »die Sehnsucht nach Objektivität entstehen, in welcher der Mensch sich lieber zum Knechte und zur vollendeten Abhängigkeit erniedrigt, um nur der Qual der Leerheit und Negativität zu entgehen« (GPR § 141, Zusatz). 10 Dies wird noch übertroffen in der Ironie, in der das Subjekt nicht nur die Eitelkeit allen objektiven Inhalts erweist, sondern ihm darüber hinaus selbst noch die eigene Überzeugung beliebig und verfügbar wird (vgl. GPR § 140 ; Äst I 93). Dem ironischen Subjekt ist es mit nichts ernst ; es lässt sich auf nichts wirklich ein und hält sich damit zu allem auf Distanz. So ist es ein ungreifbares, allerdings auch sich verflüchtigendes, verschwindendes Absolutes ; ich gehe auf diese Figur der schönen Seele im nächsten Kapitel genauer ein. 11 In diesem Sinne ist das Gewissen negativ-unendliches Urteil. Das negativ-unendliche Urteil ist ein »widersinniges Urteil« (LII 324), d. h. es ist nicht wahr oder falsch, sondern zerstört die Ordnung sinnvollen Sprechens bzw. Handelns (vgl. LII 325).

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fertigen sucht, ist es immer noch auf eine Objektivität bezogen und damit nicht völlig verworfen. Die Spitze des Bösen ist dagegen erreicht, wenn Vergehen und Heuchelei noch nicht einmal mehr ausgewiesen werden können, weil mit der Überhöhung zur absoluten Subjektivität »auch der Schein von einer sittlichen Objektivität vollends verschwunden« (GPR § 140) ist. Die Implikationen einer solchen Verabsolutierung der subjektiven Überzeugung werden in der Verallgemeinerung des Gewissensstandpunktes deutlich. Würden auch die anderen ihren jeweiligen Überzeugungen folgen, müsste das einzelne Subjekt dies unweigerlich als äußere Gewalt und Einschränkung seiner Freiheit erfahren und es fände sich in einem Zustand der »Unfreiheit und Unehre« (GPR § 140, Anmerkung) wieder. Durch die »Überzeugungstaten« der anderen wäre es einer Willkür und Zufälligkeit ausgesetzt, die seine Selbstbestimmung zunichtemachen würde. Lauter irrenden Gewissen ausgesetzt, befände es sich »ärger als unter Räubern« (GPR § 137, Zusatz), von denen man immerhin annehmen kann, dass sie unter ihresgleichen einen Ehrenkodex pflegen. Hegel weist mit seiner Analyse des formalen Gewissens die Auffassung zurück, dass die formelle Treue gegen die eigene Überzeugung die letzte Instanz zur Bestimmung des Guten sein könnte (vgl. GPR § 140, Anmerkung). Das Gewissen in seiner vertrauten selbstreflexiven Struktur kann keinen absoluten Maßstab darstellen. Entsprechend darf eine Berufung auf das Gewissen selbst nur gewissenhaft, d. h. in außerordentlichen Fällen, erfolgen (vgl. § 137, Zusatz). Dabei muss das Subjekt für die Fragen und Einwände anderer offen sein und zulassen, dass sich seine Überzeugung in dieser Auseinandersetzung verändert. Dagegen ist das Subjekt, das die Skrupellosigkeit besitzt, sich unter Berufung auf sein Gewissen über die Objektivität zu stellen, eigentlich gewissenlos. Es hat, mit Hegel gesprochen, kein wahrhaftes Gewissen. Insofern es sich in seiner subjektiven Überzeugung intransparent ist, gilt zudem: Es ist unfrei. II.2.3  Das Gewissen als Prinzip der Freiheit

Freiheit beginnt, indem der Wille aus seiner Natürlichkeit heraustritt und damit erst im eigentlichen Sinne zum Willen wird. In dieser Herkunft der Freiheit aus der Natur sieht Hegel zugleich den »Ursprung des Bösen« (GPR § 139). Dabei ist weder das Natürliche noch die Reflexion an sich böse ; das Böse besteht vielmehr darin, sich aus Freiheit heraus natürlich zu bestimmen (vgl. GPR § 139, Anmerkung). In diesem Sinne ist auch das Gewissen böse, das sich auf seine unmittelbare Überzeugung kapriziert. Hegel betrachtet dieses Moment der Trennung vom Allgemeinen und der Reflektion-in-sich einerseits als notwendiges Moment des Geistes (vgl. Enz § 24). Andererseits gilt es, das Böse zu überwinden. Dieses



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hat so die doppelte Bestimmung, in der Entwicklung der Freiheit notwendig zu sein und zugleich als das bestimmt zu sein, »was notwendig nicht sein soll« (GPR § 139).12 D. h. das formelle Gewissen trägt in sich selbst den Anspruch seiner eigenen Überwindung. Dieser Anspruch ist nicht moralischer, sondern logischer Natur: Die Stufe der Trennung vom Objektiven muss überwunden werden, das Gewissen muss »zugrunde gehen«, weil es als Freies, das sich natürlich bestimmt, im Widerspruch zu sich selbst steht. Aus Perspektive der Logik betrachtet sind Pflicht und Neigung die zwei Seiten eines Gegensatzes (s. o. Kap. I.1.2).13 Das moralische Bewusstsein im kantischen Sinne versucht den Widerspruch zu vermeiden, indem es die Bestimmungen trennt (was ihm, wie oben ausgeführt, nicht gut gelingt). Das Gewissen ist dagegen offen selbstwidersprüchlich, indem es sich als selbstständig gegen seine eigene Naturhaftigkeit behauptet und zugleich »seinen Inhalt allein aus den Bestimmungen des natürlichen Willens, der Begierde, Trieb, Neigung usf. schöpfen kann« (GPR § 139). Anders ausgedrückt ist Hegels Einsicht, dass der Wille, indem er sein Interesse verleugnet, seiner Naturhaftigkeit erst recht unkontrolliert anheimfällt. Entsprechend besteht sein Lösungsansatz darin, Pflicht und Neigung derart vermittelt zu denken, dass das System der Rechte und Pflichten die Triebe und Interessen des Subjekts integriert, die im gleichen Zuge modifiziert und geformt werden. Diese Integration leistet die Sittlichkeit, die als die konkrete Identität von besonderem Willen und abstraktem Guten die vollständige Vermittlung und Durchdringung beider Seiten vollbringt (vgl. GPR § 141). Logisch gesprochen ist das System der Sittlichkeit der Grund von Pflicht und Neigung, der beide auf höherer Ebene vermittelt.14 Mit ihm wird nicht nur der lebensfeindliche Gegensatz von Pflicht und Neigung überwunden, sondern zugleich auch das moraltheoretische Problem der Unbestimmtheit der Pflicht behoben. Diese Vermittlung von besonderem Willen und abstraktem Guten vollbringt das formelle Gewissen. Aufschluss über diesen Vorgang gibt die Vermittlungsbewegung, mit der sich die Idee des Guten in der Wissenschaft der Logik, die systematisch dem Gewissen in den Grundlinien entspricht, als absolute Idee hervor12 Wenn Hegel also meint, dass sich das Moralische »gewissermaßen nur als Krankheit« (GPR § 408, Zusatz) am Sittlichen hervortut, so muss man wohl annehmen, dass es sich um eine notwendige Erkrankung handelt, die durchzumachen zur vollständigen Heilung erforderlich ist. 13 Hegels Kritik der Moralität und des Gewissens steht im weiteren Kontext seiner Kritik am Verstandesdenken (s. o. Kap. I). 14 Wie im ersten Kapitel ausgeführt, besteht die antinomische Struktur des Widerspruchs darin, dass sich jede der entgegengesetzten Bestimmungen – gerade indem sie sich als selbstständig gegen die andere behauptet – auf diese andere Bestimmung bezieht. Jede hat ihre Bestimmtheit nur im Gegensatz zu der anderen Bestimmung, die sie aus sich ausschließt. Dieser Selbstwiderspruch macht die Instabilität der Figur aus: Sie geht in ihren Grund zurück, in dem sie mit ihrem Anderen vermittelt ist.

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bringt (vgl. Stekeler-Weithofer 2008, 62). Wie das Gewissen ist die Idee des Guten zunächst ihrer Form nach unendlich, ihrem Inhalt nach jedoch endlich, denn es fehlt ihr die Seite des Ansichseins oder der Objektivität. Sie ist reiner Trieb, der die unabhängige Geltung der Realität nicht anerkennt. Indem sie jedoch ihren Zweck verwirklich, transformiert sie zugleich die Wirklichkeit. Diese hört damit für sie auf, bloß nichtig zu sein. Und indem die Wirklichkeit als substanziell erkannt wird, hört andersherum auch der Zweck auf, bloß subjektiv zu sein. Die Subjektivität bringt so durch ihre Tätigkeit die vernünftige Einheit der Welt hervor. Dies ist die absolute Idee, die die Wissenschaft der Logik beschließt: Die vollständig entwickelte Idee des Guten als die Idealität aller endlichen Zwecke. Die entwickelte Idee des Guten (d. h. das System der Sittlichkeit) ist der Endzweck der Welt (vgl. GPR § 129). Sie gilt Hegel als die Revision und konkrete Reali­sierung dessen, was Kant als höchstes Gut bezeichnet.15 Denn die kantische Konzeption der höchsten Einheit im Praktischen stellt Hegel ebenso wenig zufrieden wie die Auflösung der Antinomien in der theoretischen Vernunft. Anstatt Freiheit, Unsterblichkeit und einen Gott zu postulieren, der den Zusammenhang von Naturnotwendigkeit und Freiheit garantiert, ist seine Idee (die bei Kant selber in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht durchaus angelegt ist), dass wir durch unser Handeln die Wirklichkeit in einer Weise bearbeiten und transformieren, dass sie zunehmend rational wird und unseren Zwecken entspricht. Die Versöhnung von Natur und Freiheit fällt damit nicht in ein Jenseits, sondern ist ein realer Prozess. Kants Fehler liegt in Hegels Augen darin, dass dieser in seiner Konzeption der Moralität nur die Absicht, nicht aber die gesamte Handlung samt ihrem tatsächlichen Resultat in Betracht zieht. So entgeht ihm, dass das willentliche Handeln die Wirklichkeit selbst verändert (vgl. Siep 2004a, 356). Gemäß der kantischen Auffassung steht das moralische Subjekt damit jedes Mal aufs Neue einer gleichbleibend als moralisch indifferent imaginierten Natur gegenüber, während es sich zugleich ein ideales »Reich[] der Zwecke« vorstellt (GMS 433), in Bezug auf das es seine Maximen prüft. Indem Kant so den realen Verhältnissen eine ideale Moralität gegenüberstellt, unterschätzt er in Hegels Augen jedoch die Wirklichkeit des Guten. Seine Moralkonzeption schießt damit nicht nur über das Ziel, die Eigennützigkeit und Selbstgerechtigkeit der Individuen einzuschränken, hinaus, sondern läuft – wie oben gesehen – Gefahr, in das Gegenteil umzuschlagen. Das hegelsche Subjekt hingegen, das zunächst nur seinen ganz subjektiven Neigungen und Interessen folgt, transformiert dabei unwillkürlich seine Um15 Dean Moyar assoziiert das abstrakte Gute in der Moralität mit Kants höchstem Gut (Moyar 2011, 62). Recht und Wohl sind hier aber »zunächst noch in relativer Beziehung aufeinander« (GPR § 128). Das höchste Gut besteht also in ihrer konkreten Identität in der erfüllten Idee des Guten bzw. der Sittlichkeit.



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welt, die dadurch aufhört, bloß Natur, bloß Gegebenes zu sein. Es entstehen vernünftige Institutionen, die das Zusammenleben organisieren, und die Kollision von Interessen und Widersprüche im Handeln führen zu einer weiteren Anpassung von Zwecken und Praktiken. Normen werden so nicht rein theoretisch geprüft, sondern sie haben sich in der Wirklichkeit zu bewähren (vgl. Pippin 2008, 24). Höchster Zweck ist der Gesamtzusammenhang oder das System aller Zwecke (vgl. GPR § 148, Anmerkung), in dem nun nicht nur Maximen konsistent sind, sondern das Handeln wirklicher Akteure tatsächlich zueinander passt (vgl. Stekeler-Weithofer 1993, 188). Und so entsteht jene Einheit, die Kant nur als »herrliche[s] Ideal« (vgl. GMS 462) annehmen kann – im wahrsten Sinne des Wortes – in der Tat. Wesentliche Bedeutung kommt dabei der Auffassung von Gut und Böse zu. Kant unterscheidet kategorial zwischen dem Guten und dem Wohl bzw. dem Bösen und dem Übel (vgl. KpV 105): Wohl und Übel sind relativ gut oder böse bezogen auf unsere Sinnlichkeit ; das Gute und das Böse sind dagegen unbedingt (KpV 110). Das (schlechthin) Gute wird nicht gewollt, weil es etwa angenehm oder nützlich ist ; es ist vielmehr gut, weil der gute Wille es will (vgl. KpV 110). Indem Hegel das Gute dagegen aus dem Wohl (d. h. den Neigungen und Interessen) des Subjekts herleitet und damit den kategorialen Unterschied zwischen ihnen aufhebt, bestimmt er das Gute als subjektiv und objektiv zugleich: Das Gute entspricht dem Wollen der Subjektivität und hat zugleich eine eigene Sub­ stanzialität, weil es aus der vernünftigen Vermittlung der partikularen Interessen und Zwecke hervorgeht.16 Der Staat, der den Gesamtzusammenhang der Zwecke stiftet, macht alle in ihn genesteten Zwecke und Interessen nur erst gut (vgl. GPR § 152). Kein Zweck oder Interesse hat diesen Status von sich her.17 II.3  Die Realisation des freien Willens in der Sittlichkeit

In Sittlichkeit und Staat, wie er sie in den Grundlinien der Rechtsphilosophie skizziert, gilt Hegel die Freiheit vollständig realisiert (vgl. GPR § 142). Das Gemeinwesen ist ein konkretes Allgemeines, d. h. ein Allgemeines, das in sich differenziert ist und an dem System der sittlichen Bestimmungen seinen bestimmten Inhalt hat. Dies hat entscheidende Implikationen hinsichtlich der Bestimmung 16 Für Hegel sind die Maximen der Tugend und die der eigenen Glücksseligkeit damit nicht völlig ungleichartig, wie Kant es vertritt (vgl. KpV 202). 17 Die Frage ist, ob diese Konzeption des Guten unserer Intuition des Moralischen entspricht. Hegel begibt sich der Möglichkeit, ein Gutes zu denken, das in keiner Weise im Interesse des Subjekts begründet wäre. Ich komme auf diesen Punkt in der Auseinandersetzung mit Levinas zurück, der in revidierter Form den kantischen Standpunkt zurückgewinnt.

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des Gewissens. Denn während dem Gewissen auf der Stufe der Moralität die Rolle zukam, dem abstrakten Guten einen Inhalt beizulegen, hat es seinen bestimmten Inhalt nun an der Sittlichkeit. Entsprechend ist das wahrhafte Gewissen in Hegels Augen sittliches Bewusstsein. So meint Hegel nicht nur, die Brisanz des Gewissens zu entschärfen, sondern beansprucht damit zugleich auch, Autonomie allererst denken zu können. Hegels Auffassung des Verhältnisses von Subjekt und Allgemeinem ist wohl das am stärksten polarisierende Thema seiner gesamten Philosophie. Anders als etwa die spekulative Logik oder die Geschichtsteleologie, die für die meisten Interpreten nur philosophiehistorische Bedeutung haben dürften, sorgt die Stellung, die Hegel dem Individuum in Sittlichkeit und Staat zudenkt, immer wieder für Empörung.18 Zugleich hat es gerade in neuerer Zeit Versuche gegeben, Hegels Konzeption des wahrhaften Gewissens zu rehabilitieren und dieses als gelungenes Modell auch für ein zeitgenössisches Denken des Ethischen auszuweisen (vgl. Moyar 2011 ; Neuhouser 2000). An dieser Erregung und der kontroversen Diskussion zeichnen sich die Aktualität und die Schwierigkeit der Thematik ab. Denn auch wenn wir Hegels metaphysische Vorannahmen nicht teilen, stellt sich das Problem, eine moralische Eigenständigkeit des Individuums gegen die objektiven Verhältnisse überhaupt verständlich zu machen. Hegels Gewissenskritik führt uns in eindringlicher Weise vor Augen, dass wir in unserem gesamten Denken und Sein von den sittlichen Verhältnissen durchdrungen sind, in denen wir leben, und dass unser Urteilen und Handeln in dieser Sittlichkeit begründet ist. Um diese Aporie deutlich zu machen, die den eigentlichen Einsatzpunkt für Levinas’ Kritik darstellt, behandele ich das Verhältnis von Subjekt und Allgemeinem in zwei getrennten Schritten. Eine Evaluation und Kritik dieses Verhältnisses (und damit zugleich auch des von Hegel entwickelten Gewissensbegriffs) nehme ich erst im vierten Kapitel vor. Im gegenwärtigen Kapitel stelle ich dagegen Hegels Sittlichkeitskonzeption und das sogenannte wahrhafte Gewissen immanent dar. Dabei werde ich erstens zeigen, dass die veränderte Bestimmung des Gewissens auf der Stufe der Sittlichkeit darin besteht, den sittlichen Bestimmungen entsprechend zu urteilen und dabei Situationen, die innerhalb der Sittlichkeit nicht vollständig begrifflich bestimmt sind, zum Zwecke der Handlungs­ fähigkeit ihre letzte Bestimmtheit zu geben. Dieses wahrhafte Gewissen weise ich im zweiten Schritt als Hegels Begriff von Autonomie aus. Ich argumentiere, dass das Subjekt seine Freiheit für Hegel nur in einer entwickelten Sittlichkeit realisieren kann. Allerdings enthält diese Freiheit ein Moment der Unfreiheit: Abschließend zeige ich, dass Hegel die Sittlichkeit durch Gewohnheit und zweite Natur 18

Vgl. Rudolf Haym (1857) ; Karl Popper (1945) ; Ernst Tugendhat (1979) ; Isaiah Berlin (2002).



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realisiert sieht, die ein Moment des Naturhaften, Nicht-Geistigen haben. Damit mache ich eine grundlegende Spannung in Hegels Freiheitskonzeption kenntlich, die schon auf die Kritik dieser Konzeption im vierten Kapitel hindeutet. II.3.1  Das wahrhafte Gewissen als sittliches Bewusstsein

Das formale Gewissen erzeugt durch seine Tätigkeit die Reflektion der Sittlichkeit in sich. Damit überwindet es zugleich seine eigene Gestalt: So wie dem abstrakten Allgemeinen das formelle Gewissen gegenübersteht, korrespondiert der in sich reflektierten Sittlichkeit auf der Seite der Subjektivität das wahrhafte Gewissen. Dieses unterscheidet sich von dem formellen Gewissen darin, dass es seinen substantiellen Inhalt und seine konkreten Rechte und Pflichten in der Sittlichkeit angelegt findet. Das wahrhafte Gewissen stellt sich dem Allgemeinen nicht entgegen, »sondern das Allgemeine ist das Element seines Daseins« (PhG 486), in dem es ohne Rest aufgeht.19 Das sittliche Subjekt hat seine praktische Identität in dem Gemeinwesen ; es weiß dieses als seinen höchsten Zweck, insofern in ihm alle seine besonderen Interessen und Zwecke nur Wert und Bestand haben (vgl. GPR § 152). Damit ist es aber etwas anderes und mehr geworden als etwa nur ein formelles Gewissen, das nun mit den richtigen Inhalten umginge. Seine Form selbst hat sich geändert: Es hat seine moralische Selbstgewissheit aufgegeben und ist sittliches Bewusstsein.20 Hegel charakterisiert das wahrhafte Gewissen als »die Gesinnung, das, was an und für sich gut ist, zu wollen« (GPR § 137). So bewahrt er die subjektive Seite der Willensfreiheit, während zugleich die objektiven Bestimmungen der Sittlichkeit den Inhalt der Willensbestimmung ausmachen. Eingelassen in die Strukturen der Sittlichkeit muss das Individuum nicht willkürlich seine Pflicht bestimmen, sondern findet diese in den sittlichen Verhältnissen angelegt (vgl. Enz § 514). Dabei sind die verschiedenen Zwecke in der vernünftig eingerichteten Sittlich19 Hegel zufolge steht der besondere Wille hier zu dem Sittlichen in einem »Verhältnis, das unmittelbar noch identischer als selbst Glaube und Zutrauen ist« (GPR § 147). Denn während Glaube und Zutrauen die Beziehung auf ein Differentes bezeichnen, handelt es sich hier um eine »verhältnislose Identität, in der das Sittliche die wirkliche Lebendigkeit des Selbstbewußtseins ist« (GPR § 147). 20 Frederick Neuhouser betont, dass Hegel damit nicht das Gewissen als Ganzes, sondern eine bestimmte Art der Willkürfreiheit aus der Sittlichkeit verbannt: »So, while it is undeniable that conscience in some sense is supposed to disappear within the rational social order, the fact that Hegel here associates conscience with willfulness (and with a drive always to oppose existing social reality) should make us wonder whether his critics have correctly understood precisely what aspect of moral subjectivity Hegel means to banish from Sittlichkeit« (Neuhouser 2000, 242).

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keit dergestalt miteinander vermittelt, dass das Subjekt, das seinen Rechte und Pflichten gemäß seine eigenen Interessen verfolgt, zugleich ethisch handelt.21 In der Sittlichkeit tritt die Tugend an die Stelle der moralischen Reflexion, wobei Hegel unter Tugend die »Angemessenheit des Individuums an die Pflichten der Verhältnisse, denen es angehört« (GPR § 150), versteht, die er auch Rechtschaffenheit nennt.22 Das sittliche Subjekt soll gewissenhaft seine sozialen Funktionen ausfüllen ; von moralischer Genialität hält Hegel dagegen nicht viel (vgl. PhG 481).23 Individuelle Moralität in einem emphatischen Sinne braucht es Hegels Verständnis zufolge nur dort, wo die Sittlichkeit noch nicht zu einem »freien System einer selbstständigen Entwicklung und Objektivität« (GPR § 150, Anmerkung) gelangt ist.24 In einem durchgebildeten Gemeinwesen droht sie dagegen, wie oben gesehen, in ihr Gegenteil umzuschlagen. Die Rolle des wahrhaften Gewissens beschränkt sich darauf, die Bestimmungen der Sittlichkeit auf den besonderen Fall anzuwenden und ihnen in der spezifischen Situation jene »letzte Bestimmtheit [zu geben], welche die Wirklichkeit erfordert« (GPR § 214, Anmerkung). Das Dezisionsvermögen des Gewissens bleibt damit erhalten und ihm kommt in der Sittlichkeit auch eine notwendige Funktion zu (vgl. Dahlstrom 1993, 159 ; Moyar 2004, 227).25 Dabei stellt jedoch die sittliche Wirklichkeit den unhintergehbaren Rahmen dar, in dem das gewissenhafte Subjekt ausschließlich dort, wo die sittlichen Rechte und Pflichten die gebotene Handlungsweise 21 Vgl. Moyar (2011, 70) ; Peperzak (1997, 177) ; Siep (2004a, 364). Dean Moyar beschreibt das Verhältnis von subjektiven und allgemeinen Zwecken treffend als Nestungsrelation (vgl. Moyar 2011 ; ähnlich Halbig 2009, 101). Diese Relation impliziert, dass das Interesse des Individuums nicht notwendig dem übergeordneten Zweck entsprechen muss, der sein Tun gut macht: »An agent’s motivating reasons stem from purposes that can be nested within broader purposes that provide the justifying reasons for the action.« (Moyar 2011, 74) 22 Diese Umdeutung des Tugendbegriffs korrespondiert der Veränderung des Verhältnisses von Individuum und Allgemeinheit zwischen Antike und Moderne: Während es in der antiken Sittlichkeit heroischer Individuen bedarf, die als Einzelne ein bestimmtes Prinzip verkörpern, besteht die Forderung der modernen Sittlichkeit vielmehr darin, die eigenen Pflichten zu erfüllen. Tugend meint hier nicht mehr den besonderen Charakter eines Individuums, sondern bezeichnet seine »sittliche Virtuosität« (GRP § 150, Zusatz), d. h. sein intuitiv gewordenes Verständnis der sittlichen Verhältnisse. 23 Hegel bemerkt, dass Rechtschaffenheit vielen als etwas moralisch Untergeordnetes erscheint, hält aber dagegen, dass das Individuum, das Rechtschaffenheit verachtet und lieber große moralische Taten vollbringen will, tatsächlich zumeist seine Pflicht nicht tun will. 24 Hegel lehnt es ebenso ab, die Versorgung der Armen der Moralität oder dem Wohlwollen Einzelner zu überlassen, wie er es ablehnt, politische Freiheit auf heroische Taten zu gründen (vgl. PhG 314 f.). Es mag Situationen geben, die solche Taten erforderlich machen, aber daran manifestiert sich ein Defizit an vernünftiger Freiheit. 25 Dahlstrom betont entsprechend, dass es sich bei dem formellen und dem wahrhaften Gewissen um das gleiche Phänomen handelt (vgl. Dahlstrom 1993, 161).



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nicht vollständig bestimmen, aus dem sittlichen Geiste heraus ein Urteil fällt, das es ihm ermöglicht zu handeln.26 Die moderne Sittlichkeit bedeutet damit gleichermaßen eine Entlastung, wie sie andererseits die Demut des Individuums erfordert, das sich damit begnügen muss, seine Rolle zu erfüllen, und wenig Gelegenheit hat, sich durch moralische Entscheidungen zu profilieren oder die historischen Geschicke zu lenken. Paradigmatisch für die spezifisch sittliche Gestalt des Gewissens ist die Funktion des Richters.27 Diesem kommt die Aufgabe zu, den besonderen Fall nach den allgemeinen Gesetzen zu beurteilen. Dafür muss er den Fall in seinen allgemeinen strafrechtlich relevanten Aspekten erfassen und den Tatbestand bestimmen, also z. B. entscheiden, ob es sich um Mord oder um Totschlag handelt. Darüber hinaus muss er den Fall in seiner Besonderheit beurteilen, also z. B. den Schweregrad der Tat abwägen. Insofern die Gesetze nicht einzelne Fälle, sondern Klassen oder Typen von Tatbeständen regeln, lassen sie einen Ermessensspielraum, innerhalb dessen der Richter unter Berücksichtigung dieser besonderen Umstände sein Urteil fällt, also z. B. innerhalb des möglichen Rahmens für den jeweiligen Tatbestand das genaue Strafmaß für den konkreten Fall festlegt. Der Richter entscheidet also über jene Größen, die sich nicht »vernünftig bestimmen noch durch Anwendung einer aus dem Begriffe kommenden Bestimmtheit entscheiden« (GPR § 214, Anmerkung) lassen. Das Urteil des Richters enthält damit – ebenso wie der Spruch des Gewissens – in seiner Gesetzmäßigkeit zugleich ein Moment der Zufälligkeit (vgl. GPR § 214, Anmerkung). Dieses macht die Lebendigkeit von Rechtsprechung und Sittlichkeit aus, die dadurch nicht nur mechanisch ablaufende Algorithmen sind (vgl. GRP § 211, Zusatz ; vgl. Siep 2008, 430). In dieser Weise ist auch die Rolle des gewissenhaften Subjekts zu verstehen: Es begreift das objektiv Geltende als seinen höchsten Zweck (d. h. es stellt dieses im Zweifelsfall auch über sein Eigeninteresse – eine Dimension, die Hegel herunterspielt, weil der Gegensatz von Pflicht und Neigung ja aufgehoben sein soll). Und es urteilt aus seiner intimen Vertrautheit mit den sittlichen Bestimmungen heraus dort, wo eine Situation nicht vollständig begrifflich bestimmt ist oder wo es zu einer Kollision von Pflichten kommt. Durch seine Entscheidung konkretisiert es umgekehrt den sittlichen Zusammenhang und bestimmt ihn in der Inter­ aktion mit anderen weiter.28 Das Eingelassensein des Individuums in die Sittlich26 Das sittliche Subjekt muss sich also im doppelten Sinne entäußern: Es muss von seiner naturhaften Bestimmtheit ablassen und ihm muss das bloß Zufällige gleichgültig sein ; zugleich muss es aber die Befähigung zur Entäußerung haben und dabei seine Reinheit aufgeben (vgl. Henrich 1971c, 169 ; Speight 2006, 20). 27 Vgl. VGP 511. Siehe auch Moyar (2011, 187 f.). 28 In diesem Sinne trifft die Unterscheidung zwischen zwei Ebenen des sittlichen Bewusstseins, die Pirmin Stekeler-Weithofer vornimmt und die die kantische Unterscheidung zwischen

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keit betrachtet Hegel dabei nicht als Unfreiheit. Vielmehr kann das Subjekt nur so sich selbst – d. h. seine Freiheit – realisieren. II.3.2  Hegels Revision der kantischen Autonomie-Konzeption

Trotz seiner Kritik an dem Standpunkt der moralischen Weltanschauung bleibt für Hegel der kantische Gedanke der Autonomie zentral (vgl. GPR § 135).29 Nicht nur Fremdbestimmung, sondern auch Willkürfreiheit ist heteronom. Freiheit ist also nur möglich durch ein Prinzip oder Gesetz, das dem Willen nicht von außen auferlegt wird, sondern das dieser sich selbst gibt. Allerdings kann Autonomie nicht rein formal gedacht werden, wie Kant es tut ; wie oben gesehen ist das Gegenstück zur reinen Pflicht ein zufälliger Inhalt, der die Freiheit unterläuft. Für Hegel ist das unbedingte »Gesetz« des Willens der Begriff des Willens selbst. Seinem Begriff nach will der Wille die Bedingungen seiner Freiheit. Damit tritt das System der Sittlichkeit als der Gesamtzusammenhang der Zwecke systematisch an die Stelle des Sittengesetzes. Der Wille ist autonom, indem er sich gemäß den konkreten Pflichten und Bestimmungen bestimmt, die in den sittlichen Verhältnissen angelegt und entwickelt sind. Es ist als Familienmitglied, bei seiner beruflichen Tätigkeit, in seiner öffentlichen Funktion, dass das Individuum seine bestimmten Pflichten hat. Hier frei zu handeln heißt, das zu tun, was jeder Andere tun würde, wenn er unter den gleichen Umständen gewissenhaft handelte (vgl. Moyar 2011, 131). bestimmender und reflektierender Urteilskraft aufnehmen soll, nicht. Stekeler-Weithofer unterscheidet zwischen einer »Ebene des Verstandes und [die] Ebene der auf gegebene Lebensformen reflektierenden Vernunft. Zur ersten Ebene gehört jede (›rationale‹) Begründung eines reflektierenden Urteils über eine (generische) Handlung gemäß einer schon implizit allgemein als anerkannt geltenden Sittlichkeit. Zur zweiten gehören freie Vorschläge zur Veränderung sittlicher Normen« (Stekeler-Weithofer 2009, 367). Stekeler-Weithofer argumentiert, dass die bestimmende Urteilskraft dazu diene, innerhalb einer existierenden Sittlichkeit zu subsummieren, die reflektierende Urteilskraft dagegen das System der Normen des rechten Handelns weiterentwickele (vgl. Stekeler-Weithofer 2009, 367 ; Stekeler-Weithofer 1993, 199). Dem wahrhaften Gewissen angemessen sei die bestimmende Urteilskraft. Dem Individuum wird so mit der »Kompetenz der rechten Normbefolgung« (Stekeler-Weithofer 2008, 55) ein bloß verstandesmäßiges Urteilen und Handeln nach geltenden Normen und Standards angemutet ; die Vernunft kommt in den objektiven Strukturen bzw. in der intersubjektiven Weiterentwicklung der Institutionen zum Tragen. Jedoch ist das Gewissen, wie gerade gesehen, kein reines Regelfolgen, sondern immer zugleich eine Fortbestimmung der Sittlichkeit. 29 Hegel bestreitet nicht die Autonomie des Subjekts ; »[w]as er hingegen bestreitet, ist die These, daß die Subjektivität oder das Ich als eine schlechthin autonome Größe angesehen werden könne – als eine Größe, die, wie im transzendentalen Denken der Fall, zum schlechthin archimedischen Punkt der Erkenntnis taugt.« (Hoffmann 2011, 155 f.)



Hegels Kritik des Gewissens

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Im Gegensatz zu Kant berücksichtigt Hegel damit, dass Freiheit Bedingungen hat und dass das Subjekt Autonomie und praktische Freiheit nicht für sich allein und unter allen Umständen haben kann. Eine autonome Bestimmung des Willens ist nur in einem vernünftig eingerichteten Gemeinwesen möglich (vgl. Khurana 2017, 335 ; Moyar 2011, 69 ; Peperzak 1997, 165 ; Pippin 2004b, 298). Denn nur im System der Sittlichkeit gewinnt die Willensbestimmung Objektivität ; nur dort wird das Individuum tatsächlich frei von der Zufälligkeit seiner eigenen Triebe und Neigungen und von denen der Anderen. Und nur dort wird es nicht dadurch unschuldig schuldig, dass sein pflichtmäßiges Handeln mit anderen Pflichten kollidiert.30 Das Recht des subjektiven Willens ist dabei, »daß das, was er als gültig ansehen soll, von ihm als gut eingesehen werde« (GPR § 132). Die sittliche Wirklichkeit muss also so verfasst sein, dass das Individuum sie bejahen kann. Ob diese Einsicht tatsächlich vorhanden ist, »tut aber dem Rechte der Objektivität keinen Eintrag« (ebd.). D. h. auch wenn das empirische Individuum seine Pflicht nicht einsieht, hört diese nicht auf, für es verbindlich zu sein.31 Dies stellt in Hegels Augen keinen Widerspruch und auch keine Beschränkung der Selbstbestimmung dar. Als eine derartige Beschränkung erscheinen substanzielle Pflichten nur aus der Perspektive der abstrakten Freiheit oder des natürlichen Willens. Hegel sieht in ihnen dagegen Autonomie allererst eingelöst. Er meint also nicht, dass das Individuum die Autonomie der moralischen Reflexion für seine Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen aufgeben muss, sondern ist vielmehr der Ansicht, dass es jenseits der vernünftigen Allgemeinheit gar keine wahrhafte Selbstbestimmung geben kann. Die Geister der Hegel-Auslegung scheiden sich an der Frage, ob und inwieweit in der Sittlichkeit moralische Reflexion und rationale Einsicht durch Glauben und Zutrauen abgelöst werden. Hegel scheint hier eher niedrige Ansprüche zu 30 Hegel führt den Untergang der antiken Polis darauf zurück, dass diese das Reflexiv-Werden der Individuen nicht integrieren kann. Dies manifestiert sich in der Kollision von verschiedenen Pflichten, die in der Sittlichkeit nicht vermittelt sind. Indem das Individuum eine Pflicht erfüllt, verstößt es – ohne dies zu wissen oder verhindern zu können – gegen eine andere. Ich gehe auf die Unterscheidung von antiker und moderner Sittlichkeit im vierten Kapitel näher ein. 31 Diese Auffassung vertritt Christoph Halbig: »Was Hegel […] bestreiten würde, ist, daß P, wenn er die Handlung unterläßt, in diesem Fall einer normativen Verpflichtung nicht nachkommt, die für ihn besteht. Das Recht der Subjektivität hebt in diesem Fall nicht das Gute, wohl aber den normativen Anspruch des Guten an P auf. P hat keinen Grund, solange er ihn nicht einsehen kann.« (Halbig 2009, 98) Es geht jedoch auch beim Recht des subjektiven Willens nicht um den empirischen Willen, sondern die prinzipielle Einsehbarkeit. Dies vertritt auch Frederick Neuhouser: »Hegel rejects any understanding of conscience that construes the autonomy of the moral subject as implying that an individual must actually endorse a moral principle in order to be obligated by it.« (Neuhouser 2000, 278) Eine Pflicht hört nicht auf, Pflicht zu sein, weil das Subjekt sie nicht einsieht.

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haben. Beispielsweise schreibt er, dass es wohl zu wünschen sei, »daß die Menschen die Gründe, die tiefere Quelle des Rechts kennen – dies ist objektiv nicht notwendig. Zutrauen, Glauben, gesunde Vernunft, Sitte ist die allgemeine Weise der Begründung« (GPR § 132, Zusatz). Bemerkungen wie diese erwecken den Verdacht, dass das Recht des subjektiven Willens letztlich allzu leicht zu erfüllen sein könnte (vgl. Halbig 2009, 103). Andere Autoren betonen dagegen, dass die Bestimmungen der Sittlichkeit prinzipiell einsehbar sein müssten, auch wenn nicht jedes Individuum tatsächlich auf sie reflektiert (vgl. Moyar 2011 ; Neuhouser 2000, 248 ; Neuhouser 1998, 39 – 42). Der entscheidende Punkt, den beide Seiten ignorieren, scheint mir dagegen zu sein, dass das Subjekt in Hegels Augen überhaupt nur in der Sittlichkeit Gründe hat, auf die es reflektieren kann. Insofern Rationalität nicht zur Letztbegründung taugt – gerade auf dieses Problem reagiert Hegel mit der Sittlichkeitskonzeption ja –, bleibt die Frage, ob die Bestimmungen reflexiv eingesehen werden können, dem eigentlichen Problem äußerlich. Entscheidend ist die Einsicht in die unhintergehbare Situiertheit unserer Freiheit. Dies fasst Hegel unter dem Ausdruck der zweiten Natur. II.3.3  Das Janusgesicht der zweiten Natur

Hegel zufolge erlangt das Subjekt Autonomie, indem ihm die Teilhabe an den sittlichen Praxen zur zweiten Natur wird. Der zusammengesetzte Ausdruck der zweiten Natur bezeichnet dabei den Umstand, dass die sittlichen Formen dem Subjekt im buchstäblichen Sinne in Fleisch und Blut übergegangen sind. Das sittliche Bewusstsein weiß unmittelbar, was es zu tun hat. Die Sittlichkeit ist ihm nicht ein Äußeres, dem es gegenübersteht und auf das es reflektiert, sondern sie ist das Element, aus dem heraus es sich selber versteht und in dem es sich ganz selbstverständlich und damit quasi-naturhaft bewegt.32 Wie ich in diesem letzten Abschnitt des Kapitels zeigen möchte, kennzeichnet diese Unmittelbarkeit der zweiten Natur ein Moment der Unfreiheit am (endlichen) Geist (vgl. Menke 2011, 174 f.). Die zweite Natur ist damit ein dialektischer Begriff, indem sie als die Weise, wie das Geistige überhaupt nur Sein hat, zugleich auch den Verlust des Geistes bedeutet. Der Erwerb einer zweiten Natur geschieht Hegel zufolge durch Gewohnheit (Enz § 410, 184). Die Seele als der noch ganz unbewusste und naturhafte Keim des 32 Die Rede von der zweiten Natur des Menschen impliziert nicht, dass er eine »erste Natur« hätte, dass man also ein Wesen des Menschen jenseits der kulturellen Überformung ausfindig machen könnte. Paradox formuliert ist es die Natur des Menschen, eine zweite Natur zu haben, d. h. seine Existenz selbst zu bestimmen.



Hegels Kritik des Gewissens

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Geistes arbeitet aus der zunächst undifferenzierten Mannigfaltigkeit von Sinneseindrücken durch Wiederholung Bestimmtheit heraus und bildet diese in sich ein. Diese Einbildung bedeutet die Befreiung des Individuums aus der unmittelbaren Verhaftung mit Sinnesreizen und Trieben. Zugleich stellt die Gewohnheit selbst eine neue Form der (naturhaften) Unfreiheit dar, indem in ihr Inhalte nur durch Assoziation oder, wie Hegel sagt, mechanisch (und nicht begrifflich, wie es dem Geist angemessen wäre) verknüpft sind (vgl. Enz § 410). So ist sie ein »dem freien Geiste Nichtentsprechendes, etwas bloß Anthropologisches« (Zusatz § 410, Enz 189). Während Hegel also durchaus den zwiespältigen Charakter der Gewohnheit sieht, steht für ihn gleichwohl das Moment der Befreiung im Vordergrund (vgl. Enz § 410, Anmerkung). Die Unfreiheit, die aus der Gewohnheit hervorgeht, ist nur formell, d. h. sie besteht nur in der Weise, in der ein Inhalt angeeignet ist. Wenn dieser Inhalt aber selber der Freiheit entspricht, überwiegt die in der Gewohnheit erlangte Freiheit die formelle Unfreiheit. Nur im Falle schlechter Gewohnheiten machen diese also tatsächlich unfrei. Indem dagegen die Sitte, d. h. die allgemein geltenden Grundsätze und Praktiken eines vernünftigen Gemeinwesens zur Gewohnheit werden, erfasst sich der Geist in ihnen selber und ist darin frei (vgl. GPR § 151, 301).33 In Hegels Augen erfährt der Wille seine Vollendung, indem »die selbstbewußte Freiheit zur Natur« (Enz § 513) wird. Hier sind die Triebe und Bedürfnisse des Subjekts so geformt, dass sie den sittlichen Bestimmungen nicht widersprechen (vgl. GPR § 151, Zusatz ; Moyar 2011, 66), und die Grundsätze der Sittlichkeit sind ihm derart zur Gewohnheit geworden, dass es sie automatisch befolgt. Der Gegensatz von Pflicht und Neigung ist damit vollständig überwunden. Die Kehrseite dieser Unmittelbarkeit ist allerdings, dass das sittliche Handeln in einem gewissen Sinne unbewusst ist (vgl. GPR § 144). Das heißt nicht, dass das sittliche Individuum nicht denkt ; es bedeutet vielmehr, dass sich sein Denken und Handeln in einem sittlichen Horizont vollzieht, aus dem es nur sehr bedingt heraustreten kann, weil er sein Denken und seine Handlungsfähigkeit selbst bedingt.34 Gegen Hegel argumentiert Christoph Menke deshalb, dass Autonomie in der Teilhabe an sozialen Praktiken nie gegenwärtig ist, sondern immer aussteht (vgl. 33 Hegel äußert an verschiedenen Stellen den überraschenden Gedanken, dass der Mensch aus Gewohnheit stürbe (GPR § 151, Zusatz). Es das noch nicht Abgearbeitete, die Spannung zwischen Allgemeinem und Partikularem, das den Geist zu neuer Tätigkeit reizt. Wird das Individuum von keiner Andersheit mehr herausgefordert, erstirbt dagegen seine Tätigkeit. Das bedeutet aber, dass der Geist, insofern er nach Vollendung strebt, darin zugleich seinen eignen Tod anstrebt. 34 Zu der Frage, was es für das Subjekt bedeutet, in Frage zu stellen, was es selbst bedingt, vgl. Butler (2001).

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Menke 2012). Für ihn ist der Begriff der zweiten Natur ein kritischer Begriff, insofern er »eine Gestalt des Geistes [bezeichnet], die im Widerspruch zu seinem Begriff steht« (Menke 2012, 162). Die antinomische Gestalt der zweiten Natur besteht Menke zufolge darin, dass die sittlichen Strukturen, die die Befreiung aus der Naturbestimmtheit nur ermöglichen, zugleich »ein reflexiv uneinholbares Moment bloßer Gegebenheit beinhalten« (Menke 2011, 176). Die »Überwindung seiner eigenen naturhaften Verfassung« (Menke 2011, 172) kann damit in Menkes Augen mittels der zweiten Natur gerade nicht gelingen. Das, was Autonomie allererst ermöglichen soll, markiert zugleich ihre Grenze. Aus dieser Dialektik von Befreiung und Unfreiheit in der zweiten Natur schließt Menke, dass Autonomie nicht als zweite Natur – und d. h. letztlich nicht mit Hegel – realisiert werden kann, sondern als »gesetzloser Akt« gedacht werden müsse.35 Gerade nicht die spekulative Identität von Partikularität und Allgemeinheit, sondern ihre zumindest partielle Entgegensetzung soll Freiheit ermöglichen. Insofern Menke jedoch nicht angibt, woher diese Entgegensetzung ihre Eigenständigkeit gewinnt, fällt seine Konzeption unter Hegels Kritik des formellen Gewissens (s. u. Kap. IV).

35 Befreiung »ist kein autonomer Akt, sondern ein gesetzloser Akt gegen das auferlegte Gesetz der Gewohnheit, also ein heteronomer Akt gegen heteronome Macht […]. Es kann Autonomie nur geben, wenn die beiden Elemente, die die Autonomie intern verbinden will, wenn Gesetz und Freiheit einander äußerlich, im Kampf der Befreiung entgegentreten.« (Menke 2011, 184)

III.  Gewissen und Anerkennung

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ine Schlüsselrolle kommt dem Gewissen bei Hegel nicht nur in Bezug auf das Gemeinwesen, sondern auch in der intersubjektiven Beziehung zu. Diese steht in Hegels Darstellung des Gewissens in der Phänomenologie des Geistes im Vordergrund. Während Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts die objektiven Bedingungen entwickelt, in denen sich Freiheit realisiert, ist die Per­ spektive in der Phänomenologie eine andere: Hier gibt Hegel den Weg an, auf dem sich das natürliche Bewusstsein durch eine Reihe von Bewusstseinsgestalten hindurch zum absoluten Wissen bildet (s. o. Kap. I). Von wesentlicher Bedeutung ist dabei die intersubjektive Dimension dieser Selbsthervorbringung, die Hegel unter dem Begriff der Anerkennung fasst. Die Pointe des Anerkennungsbegriffs liegt darin, Sozialität als konstitutiv für Selbstbewusstsein zu begreifen (vgl. Honneth 2008, 187 f.). Es sind nicht fertige Subjekte, die in ein Anerkennungsverhältnis zueinander treten, sondern spezifische soziale Konstellationen und die ihnen entsprechenden Bewusstseinsgestalten gehen aus dem Begehren nach Anerkennung erst hervor. Dem Konzept der Anerkennung kommt so eine wesentliche Bedeutung für Hegels Denken der Freiheit zu, denn die Anerkennung stellt in gewisser Weise das intersubjektive Komplement zu den objektiven Rechtsbestimmungen dar: Weil Hegel die intersubjektive Beziehung als konstitutiv für das Selbstverhältnis denkt, kann er geltend machen, dass die Freiheit des anderen die Freiheit des Ichs nicht beschränkt, sondern vielmehr diese Freiheit nur als durch die Freiheit des anderen vermittelt zu denken ist ; die dem Selbstbewusstsein inhärente Normativität hat damit zugleich eine ethische Dimension. Nicht überraschend ist die Figur des Gewissens auch in dieser intersubjektiven Perspektive von zentraler Bedeutung, weil in ihr das Problem der Vermittlung von Besonderung und Allgemeinem seine äußerste Zuspitzung erfährt und überwunden wird. Obwohl Hegels Darstellung des Gewissens in der Phänomenologie mit der Kritik des Gewissens in den Grundlinien grundsätzlich kompatibel ist,1 ergeben 1 So verweist Hegel in § 140 der Grundlinien ausdrücklich auf die Darstellung in der Phänomenologie. Für grundsätzlich kompatibel hält die Gewissenskritik in beiden Werken auch Dean Moyar (vgl. Moyar 2011, 9). Allerdings vertritt Moyar die Ansicht, dass es sich bei dem Gewissen in der Phänomenologie von Anfang an um das wahrhafte Gewissen handele (vgl. Moyar 2011, 36, Fußnote 45). Diese Ansicht teile ich nicht, insofern das Gewissen in der gesamten Dialektik die für das formelle Gewissen charakteristische Form der ausschließenden Überzeugung aufweist. Erst in der Versöhnung gibt es diese auf und entspricht damit strukturell dem wahrhaften Gewissen.

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sich aufgrund der unterschiedlichen Anlage und Perspektive der beiden Werke Unterschiede, die zum besseren Verständnis kurz erwähnt werden sollen. In der Phänomenologie stellt das Gewissen die letzte Gestalt des Geistkapitels dar, die als absolute Subjektivität zusammen mit der letzten Gestalt des Religionskapitels als absolutem Inhalt den Begriff des absoluten Wissens konstituiert. Die im Geistkapitel behandelten Gestalten »unterscheiden sich […] von den vorhergehenden dadurch, daß sie die realen Geister sind, eigentliche Wirklichkeiten, und statt Gestalten nur des Bewußtseins, Gestalten einer Welt« (PhG 326). D. h. es handelt sich nicht mehr um Momente des individuellen Bewusstseins, sondern um realgeschichtliche Lebensformen. Dies ist nicht im Sinne einer historischen Chronologie zu verstehen ; ebenso wie in der Rechtslehre abstraktes Recht und Moralität außerhalb der Sittlichkeit keinen Bestand haben (vgl. GPR § 130), können auch die Bewusstseinsgestalten, die dem Geistkapitel vorausgehen, nur als Momente des Geistes, d. h. in einer menschlichen Welt, existieren (vgl. PhG 325). Während jedoch in den Grundlinien die in sich reflektierte Sittlichkeit Zielbestimmung ist und den Zustand verwirklichter Freiheit darstellt, bildet die unbefangene antike Sittlichkeit am Anfang des Geistkapitel den Ausgangspunkt, von dem her eine realgeschichtliche Trennung stattfindet und es eine in sich reflektierte Einheit erst wieder herzustellen gilt.2 Diese Einheit ist in der Phänomenologie nicht erneut eine – nun in sich reflektierte – Sittlichkeit. Vielmehr kulminiert das Geistkapitel in der Versöhnung der Gewissen, die als Einheit absolut Entgegengesetzter, Hegel zufolge, den absoluten Geist realisiert. Von dieser dramatischen Szene, die als eine der schwierigsten und tiefsten Stellen der Phänomenologie gilt, werde ich im vorliegenden Kapitel zeigen, dass sie die »Bewegung des Anerkennens« (PhG 146) einlöst, die Hegel zu Beginn des Selbstbewusstseinskapitels formal einführt, die im Selbstbewusstseinskapitel selbst aber vom Bewusstsein noch nicht vollzogen werden kann (vgl. Siep 2006, 118). Diese These der Vollendung der Anerkennungsdialektik im Gewissen hat zwei wesentliche Implikationen: Insofern Anerkennung konstitutiv für Selbstbewusstsein ist, heißt dies, dass Selbstbewusstsein (erst) in der Versöhnung der Gewissen vollständig realisiert wird ;3 es heißt zugleich, dass das Gewissen in einem Sozialisierungsprozess ausgebildet wird, der selbst noch kein 2 Einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Interpretationen und Diskussionen über diese unterschiedliche Anordnung der Sittlichkeit und die Konzeption der Phänomenologie insgesamt gibt Dudley (2008). 3 Anders als den klassischen Interpretationen von Moltke Gram (1978) und Emanuel Hirsch (1979) geht es mir nicht um die Identifikation der historischen und literarischen Vorbilder, die Hegels Darstellung der Gemeinde der Gewissen und der schönen Seele inspiriert haben mögen. Vielmehr teile ich die Überzeugung Christoph Halbigs, dass die Argumentation im Gewissensabschnitt der Phänomenologie »nicht so schlecht [ist], daß sie nur einer geistesgeschichtlichen Rekonstruktion zugänglich ist, sondern – zumindest in Teilen – so überzeugend, daß sie erneute



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Gewissen voraussetzt. Letzteres (Hegels Annahme einer Herkunft des Ethischen aus dem Nicht-Ethischen) steht im Kontrast zu Levinas’ These von der Vorgängigkeit des Gewissens, die ich im zweiten Teil der Arbeit ausführe. Das Kapitel gliedert sich in zwei Unterkapitel: Im ersten Teil arbeite ich den Zusammenhang von Anerkennung und Selbstbewusstsein heraus, der den Rahmen für das gesamte Kapitel aufspannt. Dabei werde ich erstens zeigen, dass Anerkennung in Hegels Augen konstitutiv für Selbstbewusstsein ist ; zweitens führe ich vor, dass es dabei um die Befreiung von Naturhaftigkeit geht. Im zweiten Unterkapitel wende ich mich der Gewissensthematik zu. Diese stellt in einem doppelten Sinne eine Vollendung dar: Zum einen beschließt sie das Geistkapitel, das mit der substanziellen Sittlichkeit beginnt ; zum anderen vollendet sie die Anerkennungsbewegung. Entsprechend werde ich einerseits zeigen, dass im Gewissen alle Substanzialität aufgelöst ist ; das Gewissen vollendet so die Subjektwerdung der Substanz. Zum anderen argumentiere ich, dass in der Versöhnung die Endlichkeit der Gewissensposition selbst überwunden und damit Freiheit realisiert wird. III.1  Selbstbewusstsein und Anerkennung

Hegel stellt in der Phänomenologie des Geistes die Selbsthervorbringung des natürlichen Bewusstseins als absolutes Wissen dar (s. o. Kap. I). Ein entscheidender Schritt auf diesem Weg ist der Übergang vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein, weil das Bewusstsein darin die für das Selbsterfassen entscheidende Wendung auf sich selbst vollzieht. Dabei ist für Hegel – wie auch für Kant – Bewusstsein seiner Struktur nach immer schon Selbstbewusstsein ; die wesentliche Frage an dieser Stelle ist also, wie das Selbstbewusstsein dazu kommt, sich als Selbstbewusstsein zu begreifen und sich damit erst eigentlich zu realisieren.4 Hegels Antwort auf diese Frage ist, dass für dieses Erfassen der eigenen Struktur die wechselseitige Anerkennung mit einem anderen Selbstbewusstsein konstitutiv ist.5 Insofern das Subjekt in der Anerkennung von seiner unmittelbaren oder Naturbestimmtheit zurücktritt, markiert sie zugleich den Übergang von einer naturhaften zur geistigen Existenz.6 Beachtung von Seiten der systematischen philosophischen Forschung verdient« (Halbig 2008, 491). 4 In Hegels Terminologie ausgedrückt ist das Bewusstsein erst an sich für sich. Um sich als Selbstbewusstsein zu realisieren, muss es für sich für sich sein. 5 Axel Honneth spricht von Anerkennung als »einem geradezu transzendentalen Faktum […] als Voraussetzung aller menschlichen Subjektivität« (Honneth 2008, 179). 6 Hegel benutzt in dem Selbstbewusstseinskapitel mehrfach den Begriff des Geistes und weist damit auf das Geistkapitel voraus. Für uns bzw. für das philosophische Bewusstsein ist mit

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Im Folgenden werde ich die formale Struktur von Anerkennung und die erste Erfahrung, die das natürliche Bewusstsein mit einem anderen macht, darstellen. Dafür gehe ich in zwei Schritten vor: Zunächst stelle ich den Übergang vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein in seinen wesentlichen Schritten dar und arbeite die formale Struktur der Anerkennung heraus.7 Dabei zeige ich, dass das Moment der Selbstbegrenzung und die Wechselseitigkeit der Anerkennung kon­ sti­tutiv für ihr Gelingen ist. Selbstbewusstsein ist so inhärent normativ, d. h. es realisiert sich nur unter Einschluss der Freiheit des anderen. Im zweiten Schritt gehe ich auf die Erfahrung ein, die das natürliche Bewusstsein zunächst in der Begegnung mit einem anderen Selbstbewusstsein macht. Hier zeige ich, dass die wesentliche Bedeutung des Kampfes auf Leben und Tod und der anschließenden Herr-Knecht-Dialektik darin liegt, dass das Individuum seine Naturhaftigkeit überwindet. Gegen Axel Honneth, der dem primitiven Selbstbewusstsein eine Art »Protomoral« (vgl. Honneth 2008, 203) unterstellt, argumentiere ich, dass sich der Begriff der Anerkennung erst wesentlich später, nämlich in der Versöhnung der Gewissen im Geistkapitel, realisiert. III.1.1  Der Übergang vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein

Im dritten Kapitel der Phänomenologie, dem letzten, das Hegel der Sektion »Bewusstsein« zuordnet, steht der Verstand dem Spiel der Kräfte gegenüber und oszilliert zwischen einer sinnlichen Sphäre, die er zu erklären sucht, und einer »verkehrten Welt« der Gesetzmäßigkeiten, die Hegel auch übersinnliche nennt. In der wiederholten Verkehrung der beiden Ebenen gegeneinander hören diese jedoch auf, einander bloß gegenübergestellt zu sein ; es erweist sich vielmehr, dass jede der Sphären die andere als Gegensatz an sich selbst hat. So gelangt das Bewusstsein dazu, den Unterschied zwischen den Sphären als inneren Unterschied oder »Entgegensetzung in sich selbst« (PhG 130) denken zu müssen. Damit hat es die Struktur der Unendlichkeit gewonnen und ist über die endlichen Verstandeskategorien hinaus. Insofern dies die Struktur des Bewusstseins selbst ist (vgl. PhG 138), erfasst es damit zugleich sein eigenes Prinzip und realisiert sich dadurch als Selbstbewusstsein: »[I]ndem sie [die Erscheinung des inneren Unterschieds, A.C.] endlich für das Bewußtsein Gegenstand ist, als das, was sie ist, so ist das Bewußtsein Selbstbewußtsein« (PhG 133). Damit betritt das Bewusstsein das »einheimische Reich der Wahrheit« (PhG 138): Es geht nicht mehr mit der Anerkennungsrelation der Begriff des Geistes gegeben (vgl. PhG 145). Der weitere Verlauf der Phänomenologie stellt die Realisierung dieser formalen Struktur dar. 7 Wie Frederick Neuhouser betont, lässt sich die Dialektik des Selbstbewusstseins nur verstehen, indem man an dem Übergang vom Bewusstsein ansetzt (vgl. Neuhouser 1986, 245).



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einem vermeintlich unabhängigen Gegenstand um, sondern jeder Unterschied ist fortan ein Unterschied im Bewusstsein.8 Allerdings vertritt das entstandene Proto-Selbstbewusstsein einen recht »naive[n] Idealismus« (Bowman 2008, 153): Als Negation des Gegenstandsbewusstseins hat es die Gewissheit, absolut selbstständig zu sein, d. h. jede Bestimmtheit der sinnlichen Welt ist ihm nichtig. Für es ist alles nur auf das Ich bezogen, ist seine eigene Selbstauslegung und hat keine eigenständige Wirklichkeit und Geltung. Um diese Gewissheit zu bestätigen, will es alles, was ihm in die Quere kommt, vernichten. Selbstbewusstsein ist in diesem Sinne zunächst »Begierde überhaupt« (PhG 139), d. h. es ist nichts anderes als der Trieb, durch die Negation von anderem seine Selbstständigkeit zu bewähren und so Gleichheit mit sich selbst herzustellen.9 Der Nachweis der Selbstständigkeit des Selbstbewusstseins scheitert jedoch an der Selbstständigkeit des Gegenstandes. Dieses Scheitern ist notwendig, d. h. der Nachweis schlägt nicht lediglich aus kontingenten Gründen fehl, weil etwa der Gegenstand seiner Vernichtung einen zu großen Widerstand entgegensetzen würde. Der Nachweis muss vielmehr misslingen, weil die Beziehung auf den Gegenstand in der Doppelstruktur des Selbstbewusstseins selbst angelegt ist. Dieses bedarf des Gegenstandes, weil es sich nur in seiner Vernichtung als unendliches Selbstbewusstsein realisiert. Damit hat das begierige Selbstbewusstsein die formale Struktur des Widerspruches (s. o. Kap. I.1.2): Es ist selbstständig nur im Vernichten eines anderen, auf das es zugleich konstitutiv bezogen ist. Es muss den Gegenstand wieder hervorbringen, so dass es sich – anstatt seine Selbstständigkeit zu demonstrieren – vielmehr als abhängig von ihm erweist. Das begierige Selbstbewusstsein exemplifiziert jene Zirkularität, die Kant bezüglich der Analyse des Selbstbewusstseins Schwierigkeiten bereitet (s. o. Kap. I.1.5): Dieses lässt sich nicht ohne Verweis auf Objektbewusstsein denken, das seinerseits schon Selbstbewusstsein voraussetzt. In dem Versuch, das reine Ich zu realisieren, oszilliert das begierige Selbstbewusstsein zwischen Gegenstandsbezug und Selbstbezug und ist ein amphibisches Wesen, das in der Differenz noch »als Bewußtsein und für es die ganze Ausbreitung der sinnlichen Welt« (PhG 138), in der Einheit mit sich aber schon Selbstbewusstsein ist. Es hat damit die beiden Momente der Begriffsstruktur an sich, kann sie aber nicht zur Einheit bringen, weil es die Selbstständigkeit des Gegenstandes nicht in seine Selbstkonzeption integrieren kann. 8 Das Selbstbewusstsein ist so zugleich die Überwindung des dualistischen Erkenntnis­ modells, das im Bewusstseinskapitel vorherrscht (vgl. Klotz 2008, 184 f.). 9 Der Begriff der Begierde ist bei Hegel von Anfang an ein genuin menschlicher, der sich in seiner Wandlungsfähigkeit von tierischen Trieben unterscheidet. Insofern sich in ihm das Natürliche am Menschen Bahn bricht, verweist er auf die Doppelnatur des Menschen innerhalb und außerhalb der Natur (vgl. Honneth 2008, 195).

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Aus dieser Sachlage ergibt sich, dass sich ein beständiges Selbstbewusstsein nur in Bezug auf einen Gegenstand realisieren kann, der dem Selbstbewusstsein einerseits seine Selbstständigkeit bestätigt, sich im Verhältnis zu ihm also als nichtig darstellt, und der dabei andererseits zugleich selbst als selbstständiger bestehen bleibt. Diese Bedingung ist nur erfüllt, wenn der Gegenstand »selbst die Negation an ihm vollzieht« (PhG 144) und damit in der Selbstbeschränkung autonom bleibt ; es muss also ein Gegenstand sein, der selbst Begriffsstruktur hat. Zugleich muss auch das erste Selbstbewusstsein seinen Allmachtanspruch einschränken und – anstatt ihn zu vernichten – die Selbstständigkeit des anderen anerkennen. Hegel zufolge kann sich damit das Ziel der Begierde, nämlich die Selbstständigkeit des Selbstbewusstseins zu bewahrheiten, nur in einer Relation wechselseitiger Anerkennung mit einem anderen Selbstbewusstsein erfüllen: »Das Selbstbewußtsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewußtsein.« (PhG 144) Anerkennung impliziert Selbstbegrenzung. Im Gegensatz zur Begierde, die Gleichheit mit sich durch Negation des Anderen erreichen will, bedeutet Anerkennung die Integration der Selbstständigkeit des Anderen in das Selbst. Das Selbstbewusstsein wird dadurch nicht unfrei ; es erlangt, im Gegenteil, erst seine wahrhafte Selbstständigkeit oder Freiheit. Dies ist folgendermaßen zu verstehen: Die beiden Einstellungen des Selbstbewusstseins zu seinem Gegenüber  – Begierde und Anerkennung – implizieren zugleich ein unterschiedliches Binnenoder Selbstverhältnis. Während das Individuum in der Begierde durch sein eigenes Wesen wie durch ein Fremdes beherrscht wird, hat es dieses Wesen in der Anerkennung angeeignet. Indem das Selbstbewusstsein sich vor dem anderen zurücknimmt, realisiert es sich allererst als freier Begriff: »Erst hierdurch ist es in der Tat ; denn erst hierin wird für es die Einheit seiner selbst in seinem Anderssein« (PhG 145). Anerkennung erfordert weiterhin Wechselseitigkeit. Das Bewusstsein wird also nicht schon dadurch Selbstbewusstsein, dass es einseitig das andere anerkennt. Seine Anerkennung des anderen vollbringt nur diese Transformation – ja, sie ist überhaupt nur Anerkennung –, insofern es als Anerkennendes vom Anderen anerkannt wird. »Jedes ist dem Anderen die Mitte, durch welche jedes sich mit sich selbst vermittelt und zusammenschließt, und jedes sich und dem Anderen unmittelbares für sich seiendes Wesen, welches zugleich nur durch diese Vermittlung so für sich ist. Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend.« (PhG 147) Die Pointe des Anerkennungskonzepts besteht darin, dass Sozialität nicht nur kausal notwendig, sondern konstitutiv für Selbstbewusstsein ist. Nur aus der wechselseitigen Anerkennung resultiert überhaupt die Möglichkeit, ein Selbst zu sein: »Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein



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Anderes an und für sich ist« (PhG 145).10 Hegel denkt die Anerkennungsbeziehung als eine geistige Gemeinschaft, als ein Wir, aus dem heraus das Individuum überhaupt nur die Möglichkeit gewinnt, Ich zu sagen. Anders als Hobbes versteht Hegel das Soziale damit nicht als einen Antagonismus atomistischer Individuen. Vielmehr sind die Individuen, insofern sie überhaupt zu Selbstbewusstsein kommen, schon geistig verbunden.11 Der Vertrag als Verhältnis freier Individuen kommt so immer schon zu spät, um Sozialität zu erklären. Hegel richtet sich mit seinem Konzept der Anerkennung gegen Vorstellungen von Freiheit, die die Freiheit der Anderen als Einschränkung für die eigene Freiheit betrachten. Die Freiheit der Anderen ist, im Gegenteil, konstitutiv für meine Freiheit, denn nur in wechselseitiger Anerkennung mit ihnen ist meine Freiheit realisiert (vgl. Enz § 431, Zusatz). Es geht Hegel dabei nicht darum, eine psychologische Abhängigkeit zu beschreiben oder ein moralisches Anliegen geltend zu machen. Ebenso wie die objektiven Bestimmungen ihre Verbindlichkeit nur haben, weil sie aus dem Begriff des Willens hervorgehen, handelt es sich auch bei der intersubjektiven Anerkennung um eine Norm, die aus der Struktur des Selbstbewusstseins selbst hervorgeht (vgl. Kuch 2011, 100 ; Pippin 2004a, 253). Die Quelle von Normativität liegt damit nicht in einer Forderung, die von außen an das Subjekt herangetragen wird, sondern im telos des Selbstbewusstseins selbst. Selbstbewusstsein hat eine Bedingung, die der Kontrolle der Einzelnen entzogenen ist, ohne die Freiheit, wenn sie sich realisiert, zu kompromittieren. III.1.2  Der Kampf auf Leben und Tod und die Herr-Knecht-Dialektik

Anerkennung ist nicht immer schon realisiert. Deshalb wendet sich Hegel, nachdem er die reine Bewegung des Anerkennens formal angegeben hat, der Erfahrung zu, die das natürliche Bewusstsein in der Begegnung mit einem anderen Selbstbewusstsein macht. Dabei fasst zunächst jedes Selbstbewusstsein das Andere im Modus der Begierde als Ding auf und will die eigene Selbstständigkeit durch seine Vernichtung erweisen. Sie treten also in einen Kampf ein, in dem jedes von ihnen sein natürliches Dasein riskiert, um sein »reines Fürsichsein[]« (PhG 149) zu bestätigen. Diese Bereitschaft, das eigene Leben für seine Selbst10 Michael Quante sieht in der Doppelung »indem« und »dadurch« eine nicht-kausale und eine kausale Relation realisiert, wobei erstere die konstitutive, letztere die motivationale Seite der Anerkennung erfassen soll (Quante 2011, 103 – 105). Diese Unterscheidung findet sich in der zeitlichen Struktur der Versöhnung der Gewissen wieder. 11 In diesem Sinne lehnt er auch die Fiktion eines Naturzustandes ab, aus dem das Recht hervorgehen soll (vgl. Enz § 502). Freiheit und Gleichheit sind für ihn keine natürliche Tatsache, sondern es gibt sie überhaupt erst im Recht (vgl. Enz § 539).

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konzeption aufs Spiel zu setzen, ist in Hegels Augen zentral, insofern das Selbstbewusstsein in ihr seine Fähigkeit zur geistigen Freiheit erweist. Das Individuum muss seinen natürlichen Selbsterhaltungstrieb von sich weisen und sich über das natürliche Leben erheben, um frei sein zu können (vgl. Harris 1995, 40). Damit es zu einem Fortgang kommt und eine qualitativ neue Stufe realisiert wird, ist es jedoch wesentlich, dass beide Kontrahenten überleben. Denn würde einer von ihnen sein Leben verlieren, hätte sich für den anderen nur die Erfahrung wiederholt, seinen Gegenstand vernichtet zu haben. Indem sich jedoch einer von beiden unterwirft, geht aus dem Kampf ein Herrschaftsverhältnis hervor, in dem der Überlegene zum Herrn, der Unterlegene aber zu seinem Knecht wird. Die Beziehung zwischen Herrn und Knecht ist gänzlich ungleich oder asymmetrisch: Der Knecht muss die Dinge bearbeiten, die der Herr dann ohne jede eigene Mühe genießt. Dieses Verhältnis scheint eindeutig (und zum Vorteil des Herrn) bestimmt zu sein. Entscheidend ist jedoch der transformative Charakter, den die Vorgänge für den Knecht haben: Denn dieser befreit sich durch sie von seiner naturhaften Unmittelbarkeit. Die Todesangst, die er im Kampf erfährt, stellt eine absolute Negation dar, die seine ursprüngliche Selbstkonzeption in ihren Grundfesten erschüttert ;12 die Arbeit, die er für den Herrn verrichtet, fungiert als bestimmte Negation im hegelschen Sinne. In der Formation der Gegenstände muss der Knecht seine unmittelbaren Triebe und Begierden hemmen und formiert sich so zugleich selbst (vgl. PhG 153). Dies könnte der Knecht nicht für sich alleine bewirken ; er kann es nur in der Beziehung auf den Herrn, der für ihn die verbindliche Norm darstellt und in dem er gleichsam sein eigenes Für-sichsein anschaut. Es ist so in Hegels Augen zunächst äußerer Zwang, der die Ablösung aus der naturhaften Unmittelbarkeit und den Übergang in eine geistige Existenz ermöglicht. Freiheit hat ihren Ursprung in Unterwerfung und Zucht (vgl. Enz § 435, Zusatz). Dabei ist die Herrschaft des Herrn defizitär, weil er selbst nur ein zufälliger subjektiver Wille ist (vgl. Ulmer 1976, 421). Wirklich frei ist das Individuum erst, wenn der Inhalt seiner Willensbestimmung allgemein und vernünftig ist. Hegel betont, dass ein Bewusstsein, das keine existentielle Furcht erlebt hat, sich nur einige »Geschicklichkeit« (PhG 155) aneigne, sich aber nicht selbst überwinde und damit keine wahre Freiheit erlange: »[D]er eigene Sinn ist Eigensinn, eine Freiheit, welche noch innerhalb der Knechtschaft stehenbleibt.« (PhG 155) In seinen Augen ist die vollständige Aufhebung dieses eigenen Sinns notwendig, um die »Kette« (PhG 151) der Dinge, d. h. die Bindung an das natürliche Dasein, 12 Es liegt nahe, diese realistische Angst wie bei Freud als Vorläufer des Gewissens zu verstehen (vgl. Freud 1933, 87). Wenn das Subjekt die Gewissensposition erreicht, wird es nicht nur die Rolle des Gesetzgebers internalisiert haben, sondern dieses Gesetz wird zudem ein allgemeines geworden sein.



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zu lösen und wahre Freiheit zu gewinnen.13 Freiheit kann damit nicht von außen gegeben werden, sondern das Individuum muss sie selbst erlangen ; es muss sich selbst überwinden und von seiner Naturhaftigkeit befreien. Die Pointe der Interaktion zwischen Herrn und Knecht ist entsprechend, dass ihr Verhältnis sich letztlich umkehrt: Während der Knecht Freiheit von seinen unmittelbaren Begierden erlangt, bleibt der Herr, der sich nicht in gleicher Weise überwindet, trotz seiner Machtposition unfrei. Der Kampf auf Leben und Tod und das Herr-Knecht-Verhältnis sind Phasen des Prozesses, in dem sich Selbstbewusstsein herausbildet, doch in ihnen selbst wird noch kein wahres Selbstbewusstsein erreicht. Gelingende Anerkennung stellt das Ende, nicht den Anfang dieses Prozesses dar. Insofern ist es umso befremdlicher, dass Honneth von einer »Protomoral« (Honneth 2008, 203) spricht, die bereits vor dem Kampf auf Leben und Tod an den Individuen vorhanden sein soll: Offenbar will er [Hegel, A.C.] sagen, daß das von ihm beobachtete Subjekt zu Selbstbewußtsein nur mit Hilfe einer Erfahrung gelangt, die in einem elementaren Sinn bereits moralischen Charakter besitzt – nicht erst später, im Kapitel über den ›Geist‹, wo von der ›Moralität‹ explizit die Rede sein wird, sondern schon hier, im Zusammenhang der Bedingungen von Selbstbewußtsein, bringt Hegel mit der Selbstbeschränkung eine notwendige Voraussetzung aller Moral ins Spiel. (Honneth 2008, 203)

Im Gegensatz zu Honneths Deutung finde ich es plausibler zu meinen, dass Hegel zu Beginn des Selbstbewusstseinskapitels zwar schon den formalen Begriff des Anerkennens vorwegnimmt, dessen Realisierung in wechselseitiger Selbstbeschränkung und freier Entlassung des anderen jedoch erst am Ende des Geistkapitels, und zwar in der Versöhnung der Gewissen, statthat. Es findet also nicht schon an dieser Stelle ein Zurücknehmen vor dem anderen als »Reflex auf das Gewahrwerden des Gegenübers« (Honneth 2008, 203) statt, der einem Wesen mit der Struktur des Selbstbewusstseins automatisch zukommt. Wie Hegel uns im weiteren Verlauf der Phänomenologie vorführt, ist gelingende Anerkennung vielmehr das Resultat einer langen, gleichermaßen kollektiven wie individuellen Lerngeschichte. Anders als Honneth es vermutet, treten die Individuen also nicht nach der »Vollendung des Prozesses des Selbstbewußtseins« in den Kampf auf Leben und Tod ein (vgl. Honneth 2008, 204), sondern dieser Kampf ist der Beginn jenes Prozesses, der sich erst in der Anerkennung der Gewissen vollenden 13 Dies bedeutet auch, dass eine institutionalisierte Anerkennung nicht ausreicht, um Selbstbewusstsein zu erlangen ; das Individuum muss die Angst tatsächlich erfahren, um innerlich frei zu werden (vgl. PhG 149). »Die Aufhebung der Sklaverei ist noch nicht das Ende des knechtischen Sinnes« (Gadamer 1973, 237).

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wird. Erst in dieser Versöhnung der Gewissen wird der Einzelne »für sich selbst Gattung geworden« (PhG 144) sein, d. h. er wird sich als freier Mensch unter anderen Freien begreifen.14 III.2  Die Realisierung von Selbstbewusstsein in der Gewissensdialektik

Hegels Charakterisierung des Gewissens in der Phänomenologie entspricht im Wesentlichen derjenigen, die er in den Grundlinien entfaltet. Auch hier geht das Gewissen aus den Widersprüchen der moralischen Weltanschauung hervor, die es überwindet, indem es die moralische Reflexion abschneidet. Das Subjekt in der Stellung des Gewissens wägt nicht länger verschiedene Pflichten gegeneinander ab und prüft die einzelnen Umstände, sondern es hat aus sich selbst, in seiner Gewissheit, seine Pflicht. Es setzt seine Überzeugung absolut und lässt nichts, was dieser widersprechen könnte, gelten. In seiner Selbstherrlichkeit scheint das Gewissen die Allmachtsphantasie des begierigen Selbstbewusstseins wieder aufzunehmen. Es unterscheidet sich jedoch von dieser Vorgängergestalt darin, dass ihm die Anerkennung der anderen Gewissen wesentlich ist. Wie auch in den Grundlinien liegt der Problematik des Gewissens in der Phänomenologie die »Tragödie des Handelns« (Schlösser 2008, 450) zugrunde, d. h. die Unmöglichkeit, im Handeln das Allgemeine zu bewähren. Anders als in den Grundlinien wird diese Problematik jedoch nicht durch die Transformation der Objektivität überwunden, sondern es wird »das Phänomen der Intersubjektivität als Korrektiv gegenüber dem zum absoluten Maßstab erhobenen je individuellen Gewissensstandpunkt geltend gemacht« (Köhler 2006, 214).15 Das Gewissens­ kapitel spielt gleichsam die verschiedenen Möglichkeiten durch, die Problematik von Allgemeinheit und Besonderung durch Anerkennungsverhältnisse zu bewältigen: In der ersten Stellung des Gewissens besteht die Allgemeinheit nur in der Überzeugung selber, so dass sich die Gewissen ungeachtet der besonderen Inhalte ihrer Handlungen allein aufgrund der Form der Überzeugung anerkennen. Diese Konzeption einer Gemeinschaft der Gewissen erweist sich als normativ unbefriedigend. Als zweite Gestalt in dieser Reihe verzichtet die »schöne Seele« ganz darauf, sich handelnd zu bestimmen, um ihre reine Innerlichkeit nicht zu beschmutzen. Damit realisiert sich diese Figur aber auch nicht. Anstatt die Endlichkeit zu vermeiden, hat sie gewissermaßen immer schon geendet. Im dritten, 14 Gelingende Anerkennung löst in gewisser Weise den kantischen Begriff der Achtung ab, der dabei jedoch zugleich innerlich transformiert wird, indem Hegel zeigt, dass sie gerade nicht als ahistorisches Faktum im Subjekt angelegt ist. 15 Die Eindämmung der erst-personalen Autorität durch Anerkennung betont auch Dean Moyar (2010, 147 und 2011, 17 f.).



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entscheidenden Schritt schließlich handelt das Gewissen und wird für seine Besonderung von seinem Gegenüber verurteilt. Erst indem handelndes und urteilendes Gewissen dazu gelangen, auf die Absolutheit ihrer Überzeugung jeweils Verzicht zu leisten und damit den letzten Rest ihrer Naturhaftigkeit aufzugeben, ist die Versöhnung erreicht, in der sich die Bewegung des Anerkennens erfüllt. Diesen Stufen entsprechend gliedert sich das Unterkapitel in die folgenden vier Abschnitte: Im ersten Schritt weise ich das Gewissen als den systematisch wichtigen Punkt der Auflösung und Subjektwerdung der Substanz aus. Dabei argumentiere ich, dass die Endlichkeit des Gewissensstandpunktes darin besteht, seine Endlichkeit zu verleugnen. Im zweiten Schritt gehe ich auf die Gestalt der schönen Seele ein und zeige, dass diese – gerade indem sie sich vor der Endlichkeit bewahren will – dieser anheimfällt. Im dritten Schritt stelle ich die eigentliche Gewissensdialektik dar. Dabei zeige ich, dass sich in der Versöhnung der Gewissen jene Bewegung des Anerkennens erfüllt, die Hegel im Selbstbewusstseinskapitel vorwegnehmend skizziert. Ich argumentiere, dass die Gewissen, indem sie die Gemeinschaft mit dem anderen über die Absolutheit ihrer Überzeugung stellen, ihre eigene Endlichkeit überwinden. Anders als in den Grundlinien überwindet das Gewissen seine Endlichkeit damit nicht in einer substanziellen Sittlichkeit, sondern in der Versöhnung.16 Diese stelle ich im letzten Schritt als ein Moment der Transzendenz heraus, das jedoch aufgrund der Anlage von Hegels philosophischem System folgenlos bleiben muss. III.2.1  Die Auflösung der sittlichen Substanz durch das Gewissen

Im Unterschied zur moralischen Weltanschauung, die – insofern sie reine Innerlichkeit bleibt – keine Anerkennung kennt (vgl. PhG 470), ist dem Gewissen, das als »konkreter moralischer Geist« (PhG 466) unmittelbar seine Pflicht weiß und zum Handeln kommt, Anerkennung wesentlich (vgl. PhG 469). Indem es sich entäußert, unterliegt das Gewissen dem Urteil anderer. Seine Handlung gilt nur, sie wird überhaupt nur zu etwas Wirklichem, indem sie anerkannt ist: »Es ist das gemeinschaftliche Element der Selbstbewußtsein[e] und dieses die Substanz, worin die Tat Bestehen und Wirklichkeit hat ; das Moment des Anerkanntwerdens von den anderen.« (PhG 470) Ob das Selbstbewusstsein mit seinem Tun seinen Zweck erfüllt, ja, ob überhaupt eine Handlung ausgeführt wurde, hängt also von einer Größe ab, über die es nicht allein verfügt. Dabei ist weder die Handlung

16 Klaus Brinkmann versteht die beiden Transitionen als Alternativen und hält die Sittlichkeit für vielversprechender (vgl. Brinkmann 2003, 253).

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noch ihr Resultat ausschlaggebend: Einzig die Anerkennenden haben Wirklichkeit in einem ausgezeichneten Sinne. Das Gewissen tut damit einen Schritt aus dem Solipsismus der moralischen Weltvorstellung heraus. Es begreift sich selbst als die Verkörperung der allgemeinen Vernunft und akzeptiert die Form des Gewissens auch an anderen. In der ersten Stellung ist das Subjekt somit alleine aufgrund dieser Form anerkannt: Indem »die Überzeugung von der Pflicht das Pflichtmäßige selbst ist, so ist es anerkannt von den anderen ; die Handlung gilt dadurch und hat wirkliches Dasein« (PhG 474). Das bedeutet allerdings, dass das Subjekt jeden beliebigen Inhalt »an diese Form knüpfen und seine Gewissenhaftigkeit an ihn heften« (PhG 473) kann, denn alle Inhalte sind letztlich gleich gut (bzw. gleich schlecht). Es darf bloß »nicht so ungeschickt sein, nicht zu wissen« (PhG 474), dass es seine Pflicht tut, d. h. es muss von dem, was es tut, gründlich überzeugt sein oder doch wenigstens glaubhaft versichern, dass es dies ist. Jede weitere Frage, ob der Inhalt seiner Handlung moralisch ist, hat ihm gegenüber keinen Sinn (vgl. PhG 480), weil alle Substanzialität in das Selbst zurückgenommen ist. Das Gewissen vollendet so die negative Seite des Prozesses, in dem die Substanz Subjekt wird (vgl. Moyar 2017, 189). Mit der alleinigen Geltung der Form der Überzeugung erhält die Sprache als das »Dasein des Geistes« (PhG 478) auf dem Standpunkt des Gewissens eine wesentliche Bedeutung. Die Überzeugung lässt sich nicht von außen erkennen ; das Gewissen muss sie also aussprechen, um ihr Wirklichkeit zu verschaffen. Das Versichern der eigenen Überzeugtheit und Gewissenhaftigkeit wird so zur eigentlichen Handlung (vgl. PhG 479). Und die anderen lassen die Handlung – unabhängig von ihrem Inhalt – aufgrund der Rede gelten. Zwischen den Gewissen herrscht so eine ungetrübte Harmonie, die allerdings jedes substanziellen Inhalts entbehrt (vgl. PhG 481). Aus dem Versuch, das Für-sich des Gewissens als An-sich zu nehmen, resultiert ein »normatives Vakuum« (Halbig 2008, 501). Indem sich die Anerkennung lediglich auf die Form der Überzeugung, nicht aber auf den konkreten Inhalt bezieht, sind subjektive Gewissheit und Wahrheit faktisch kurzgeschlossen. Das Gewissen kürzt die moralischen Reflexionen und Erwägungen, das Prüfen der Umstände und den Vergleich der Pflichten ab und setzt seine eigene Gewissheit an die Stelle objektiven Wissens. In der Begriffsstruktur des Gewissens ist jedoch angelegt, dass es beide unterscheidet (s. o. Kap I): Es verhält sich also als »Wissendes zur Wirklichkeit des Falles«, wozu gehört, »die vorliegende Wirklichkeit auf uneingeschränkte Weise zu erfassen« (PhG 471). Dabei ist es sich zugleich selbst »bewußt […], sie nicht zu umfassen oder darin nicht gewissenhaft zu sein« (PhG 471, meine Hervorh.). Das Gewissen behauptet also seine Gewissheit als Wahrheit, während es zugleich um den Unterschied beider weiß. Seine Unredlichkeit liegt nicht darin, dass es die Refle-



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xion abbricht und entscheidet. Dieses Dezisionsvermögen macht vielmehr die Stärke des Gewissensstandpunktes aus, die es ihm ermöglicht, zu handeln (s. o. Kap. II). Aber es weist seine Überzeugung nicht als solche aus, sondern behauptet sie als Wahrheit. So betrügt es sich selbst und andere und immunisiert sich gegen Korrektur. Die Endlichkeit des Gewissensstandpunktes besteht so gerade darin, seine Endlichkeit zu verleugnen. III.2.2  Die schöne Seele

Eine andere Position gegenüber der Endlichkeit nimmt die schöne Seele ein. Dieser Gestalt graut es vor dem »Makel der Bestimmtheit« (PhG 474), den jeder konkrete Inhalt an sich hat, so sehr, dass sie davor zurückschreckt, sich überhaupt zu bestimmen. Keine reale Handlung genügt ihren hehren Ansprüchen. Um sich nicht mit Endlichkeit zu verunreinigen, entscheidet und handelt die schöne Seele deshalb lieber gar nicht. Dabei entgeht dem Bewusstsein in dieser Gestalt einmal mehr, dass auch die Unbestimmtheit eine – und zwar in sich widersprüchliche – Bestimmtheit darstellt, an der die Figur folglich auch zugrunde geht. Den Ausdruck »schöne Seele« verwendet Hegel bereits in den Frühen Schriften (vgl. FS 302 ff.). Aber während er dort eine positiv konnotierte Figur bezeichnet, deren moralischer Sinn sich nicht in dem Befolgen von Gesetzen erschöpft, bezeichnet er in der Phänomenologie des Geistes und der Rechtsphilosophie eine Figur, die sich die Hände nicht schmutzig machen will und deshalb in einer leeren Selbstgleichheit verharrt (vgl. PhG 482). Die schöne Seele fällt mit ihrer Handlungsunfähigkeit rein äußerlich betrachtet auf die Stufe der moralischen Weltanschauung zurück. Sie ist aber eine eigene Figur, die nicht mit dem kantischen moralischen Bewusstsein gleichzusetzen ist, da sie beansprucht, ihre Wirklichkeit in ihrer Überzeugung zu haben. Indem die schöne Seele jeder Bestimmtheit entsagt, ist sie absolutes Selbstbewusstsein (vgl. PhG 483), in dem das Moment des Bewusstseins und das Moment des Selbstbewusstseins tatsächlich zusammenfallen – allerdings nur, indem beide leer sind. Die schöne Seele wirkt fragil, aber sie hat tatsächlich fundamentalistischen Charakter. In ihrer vehementen Zurückweisung jeder Besonderung ähnelt sie der »absoluten Freiheit«, die Hegel in der Phänomenologie mit dem terreur der Französischen Revolution assoziiert (s. o. Kap. I). Dabei ist die Fähigkeit der Negation notwendiges Moment der Freiheit (s. o. Kap. II). Wie auch bei den Jakobinern besteht der Fehler der schönen Seele jedoch darin, sie zur einzigen Bestimmung zu machen. Sie verweigert sich damit der Wirklichkeit, die auf Differenzierung und Konkretisierung drängt (vgl. Hirsch 1979), und stirbt »eine Art lebendigen Todes« (Pippin 2008, 30). Ohne Bezug auf Anderes löst sich auch der Selbstbezug

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auf. Ihr »gegenstandslose[s] Selbstbewußtsein« (PhG 580) vergeht und die reine Allgemeinheit ist zugleich nicht. Die schöne Seele, die nur sich selbst rein erhalten will und sich in keinem bestimmten Inhalt verendlichen will, vermeidet den Tod nicht, sondern sie ist schon tot. III.2.3  Die Gewissens-Dialektik

Nach der »Sackgasse« (Schlösser 2008, 452), den die Figur der schönen Seele darstellt, lässt Hegel in der dritten Stellung des Gewissens das handelnde Gewissen und die schöne Seele bzw. das allgemeine Bewusstsein in eine Dialektik eintreten, die letztlich mit der Versöhnung der Gewissen zu der Überwindung des Gewissensstandpunktes führt. Das Gewissen ist sich bewusst, dass seine Rede, in der es sich als Allgemeines ausgibt, und sein eigentlicher Kenntnisstand und der besondere Zweck seiner Handlung auseinanderfallen. In Modifikation zu der ersten Stellung des Gewissens, in der die Gewissen ihre Gleichheit aufgrund der bloßen Form der Überzeugung anerkennen, tritt hier nun das Moment dieser Ungleichheit in den Vordergrund (vgl. PhG 484). Wo also vorher blindes Vertrauen in die Aussage des anderen bestand, wird jetzt ein ebenso rückhaltloses Misstrauen geltend gemacht ; statt des allgemeinen Zwecks sieht das urteilende Gewissen jetzt nur noch die niederen Motive des anderen. Anders als in der ersten Stellung nehmen die involvierten Gewissen die Seiten der reinen Allgemeinheit und der subjektiven Gewissheit nun »mit ungleichem Werte« (PhG 485) auf: Während das handelnde Gewissen weiterhin das Moment der eigenen Gewissheit absolut setzt, betrachtet das urteilende Bewusstsein die Allgemeinheit als das Wesen. Entsprechend gilt ihm das handelnde Bewusstsein als Böse, es betrachtet dessen Rede als Heuchelei (vgl. PhG 478, 485) und verweigert ihm die Anerkennung. Handelndes und urteilendes Gewissen treten also in Gegensatz zueinander. Die Szene zwischen den beiden Gewissen wiederholt auf höherer Ebene die Dialektik, die dem Kampf um Anerkennung zu Beginn des Selbstbewusstseinskapitels zugrunde lag (vgl. Bowman 2017, 76). Während dort das nackte Überleben auf dem Spiel stand, geht es hier um ein soziales Leben bzw. den sozialen Tod. Denn das Subjekt auf dem Standpunkt des Gewissens kann seine Selbstkonzeption ohne die Anerkennung des anderen nicht aufrechterhalten. Das handelnde Gewissen kann sich also das Urteil des anderen nicht einfach gleichgültig sein lassen und auf seine Anerkennung verzichten. Es verfügt allerdings über keine Mittel, diese zu erwirken.17 Aus dieser Pattsituation ergibt sich ein Ausweg, 17 Vor dem urteilenden Gewissen hat keine Handlung Bestand. Es verhält sich als »Kammerdiener der Moralität«, indem es an der Handlung stets die besondere »Absicht und eigennüt-



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indem sich das urteilende Gewissen durch sein Urteil selbst unwillkürlich dem Handelnden gleichmacht: Denn wie die Handlung des ersten eine besondere war, tritt das Urteil »im Gegensatz gegen dieses und dadurch als ein besonderes Gesetz auf« (PhG 487). Gerade indem es sich also über das handelnde Gewissen erheben will, erweist sich das urteilende Gewissen als selbst in dem Gegensatz von Einzelheit und Allgemeinheit befangen. Auch bei ihm selbst besteht der Unterschied von (besonderer) Wirklichkeit und (allgemeiner) Rede, die es am anderen moniert.18 Das Handelnde erkennt so im anderen sich selbst und bekennt sich im Angesicht dieser Gleichheit zu seiner Partikularität (vgl. PhG 487). Da es dies in der Erwartung tut, dass das Urteilende es ihm gleichtun und »das anerkennende Dasein eintreten werde« (PhG 490), ist sein Geständnis nicht als »Erniedrigung, Demütigung, Wegwerfung« (PhG 490) intendiert, sondern stellt ein Versöhnungsangebot dar. Das Urteilende verweigert diese Gemeinschaft jedoch und das handelnde Gewissen findet sich von dem harten Herzen, als das sich die schöne Seele nun offenbart, zurückgestoßen. Damit ist der Gegensatz zwischen ihnen auf seine Spitze getrieben: Die Zurückweisung erregt die »höchste Empörung des seiner selbst gewissen Geistes« (PhG 490), der sich derart in seiner Menschlichkeit zurückgewiesen findet. Hegels Logik zufolge muss dieser Widerspruch zugrunde gehen. Ebenso wie dem handelnden Gewissen »sein einseitiges, nicht anerkanntes Dasein des besonderen Fürsichseins«, so muss dem harten Herzen »sein einseitiges, nicht anerkanntes Urteil brechen« (PhG 492). Dies geschieht, indem das Geständnis des Handelnden abermals eine neue Situation hervorgebracht hat: Es hat auf seine Partikularität verzichtet und ist damit zur Allgemeinheit zurückgekehrt. So vermag sich das Urteilende nun seinerseits in dem Handelnden zu erkennen, »das seine Wirklichkeit wegwirft und sich zum aufgehobenen Diesen macht […] [und sich] in der Tat als Allgemeines dar[stellt]« (PhG 492). Es verzeiht dem Handelnden und verzichtet damit zugleich »auf sein unwirkliches Wesen« (PhG 492) abstrakter Allgemeinheit. Die Versöhnung der Gewissen besteht also darin, dass beide Seiten gegenüber der jeweils anderen auf ihre ausschließende Bestimmtheit verzichten (vgl. Siep 2006, 119). Jedes stellt so die Gemeinschaft über die Absolutheit seiner Überzeugung (vgl. Dudley 2008, 145). zige[] Triebfeder« (PhG 488) herauskehrt: Immer »weiß das Urteil das Innere als Trieb nach eigener Glücksseligkeit, bestünde sie auch nur in der inneren moralischen Eitelkeit« (PhG 489). Hegel stellt das urteilende Gewissen als rechthaberisch und kleinlich dar ; es liegt an der Kleinlichkeit des Kammerdieners, dass er die Größe des Herrn nicht erkennt (vgl. PhG 489). Es stellt sich aber die Frage, ob das urteilende Gewissen nicht auch manchmal mit seinem Urteil Recht hat. 18 Das urteilende Gewissen handelt selbst nicht, sondern gibt sein Urteil als Handlung aus: »Es hat gut sich in der Reinheit zu bewahren, denn es handelt nicht ; es ist die Heuchelei, die das Urteilen für wirkliche Tat genommen wissen will« (PhG 487).

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Die Gemeinschaft der Gewissen realisiert den absoluten Geist (vgl. PhG 493). In ihr ist Selbstbewusstsein vollständig realisiert, d. h. es hat sich vollständig von seiner Naturhaftigkeit befreit (vgl. PhG 493). Die Versöhnung kann dies leisten, weil die Gewissensgestalt bereits alle Substanzialität in sich selbst zurückgenommen hat und der letzte Rest Natürlichkeit in der Form der ausschließenden Überzeugung selbst besteht. Indem jedes Gewissen in Anbetracht des anderen die Gebundenheit seines eigenen Standpunktes einsieht und auf die Absolutheit seiner Überzeugung verzichtet, überwindet es zugleich diese letzte Unmittelbarkeit (vgl. Bertram 2010, 117).19 Die Versöhnung der Gewissen realisiert die Bewegung des Anerkennens, die Hegel im Selbstbewusstseins-Kapitel vorwegnehmend skizziert.20 Wie Hegel dort klarstellt, meint Anerkennung nicht ein Anerkennen »als etwas«, sondern ist ein freies Entlassen (vgl. Siep 2006, 112).21 Dieser Ausdruck ist bedeutsam ; er scheint mir der Schlüssel zum Verständnis der Versöhnungsszene zu sein. Hegel verwendet den gleichen Ausdruck, um den Übergang von der Logik in die Naturphilosophie zu bezeichnen. Dort entlässt die Idee die Natur frei aus sich (vgl. LII 573). Das bedeutet im Falle der Idee, dass sie das Zufällige, das sich doch mit absoluter Notwendigkeit verwirklichen muss, dieser Verwirklichung überlässt. Entsprechend bedeutet das Anerkennen des anderen, seine eigene Einsicht gelten zu lassen. Einzig dieses Entlassen entspricht der Freiheit des anderen. Zugleich realisiert das Ich darin seine eigene Freiheit, indem es sich von der Naturgegebenheit seines eigenen Standpunktes löst.22 Wie durch die formale Bewegung des Anerkennens vorweggenommen, ist die Freiheit des Anderen so konstitutiv für die eigene Freiheit (vgl. Enz § 431, Zusatz). Anders als in den Grundlinien wird der Gewissensstandpunkt in der Phänomenologie nicht im sittlichen Bewusstsein überwunden. Seine Überwindung be19 Hegel greift dafür noch einmal die Metapher des Todes auf (vgl. Kap. I.2.3): »[J]enes stirbt seinem Fürsichsein ab und entäußert, bekennt sich ; dieses entsagt der Härte seiner abstrakten Allgemeinheit und stirbt damit seinem unlebendigen Selbst und seiner unbewegten Allgemeinheit ab« (PhG 522). 20 Hegel hatte diese Einheit im Selbstbewusstseinskapitel ankündigt als die »absolute Sub­ stanz, welche in der vollkommenen Freiheit und Selbstständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewußtseine, die Einheit derselben ist ; Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist« (PhG 145). 21 Das freie Entlassen ist nicht eine sozio-kulturelle Zuschreibung eines Status wie die Anerkennung als Philosophieprofessor (vgl. Pippin 2000b, 163) oder als Schachspieler (vgl. Brandom 2019, 342 f.). Dies sieht Andreas Gelhard: »Die im Akt des Verzeihens exponierte Anerkennung ist weniger als Anerkennung, da sie gar keine ›Anerkennung als…‹ mehr sein kann ; sie ist bloßes ›Ablassen‹ vom Anderen, ein ›Verzichttun‹ auf alle Ansprüche gegen ihn, das bloße ›An-‹ einer Beziehung ohne Beziehung.« (vgl. Gelhard 2011, 127). 22 Hegel nennt die freie Entlassung des Anderen Güte ; und nur ein freies Subjekt kann in diesem Sinne gütig sein, d. h. einem Anderen die ihm eigene Freiheit gewähren (vgl. VRel 243).



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steht hier vielmehr darin, eine weitere Ebene der Verständigung einzuziehen, auf der von der Klassifizierung in Recht und Unrecht abgesehen wird.23 Dieser Ebene entspricht ein anderes Niveau der Bewertung: Die Handlung ist nicht aufgrund der Überzeugung gut oder aufgrund der unterstellten Motive schlecht, sondern die Bereitschaft, die eigene Ansicht nicht für die einzig mögliche zu halten, ist gut, während das Beharren auf dem eigenen Standpunkt zu verurteilen ist (vgl. Schick 2009, 306).24 Entsprechend betrifft der Selbstverzicht nicht den spezifischen Inhalt der Überzeugung als solchen, sondern vielmehr »die allgemeine Art und Weise, Geltungsansprüche zu erheben« (Schick 2009, 305). In der Versöhnung lassen die Individuen von ihrer Selbstgerechtigkeit ab. Sie anerkennen die Bedingtheit des eigenen Standpunktes und treten durch sich selbst in eine kritische Distanz zu ihrem bisherigen Anspruch, das eigene Normensystem als das einzig mögliche geltend zu machen (vgl. Keintzel 2011, 157 ; Sticker 2015, 93). Damit überwinden sie zugleich die Endlichkeit der Gewissensposition. Indem das Gewissen den ungesicherten Status seiner Überzeugung und d. h. seine Endlichkeit und Begrenztheit anerkennt, überwindet es diese zugleich und realisiert sich als unendliches Bewusstsein (vgl. Kumamoto 2000, 31). Hegel führt mit dem Gewissensstandpunkt vor, dass das Subjekt nicht bloß gelegentlich und zufällig, sondern unweigerlich schuldig wird, insofern jedes Handeln und auch jedes Nicht-Handeln endlich ist (vgl. Brinkmann 2003, 251 f.). Die Versöhnung der Gewissen ist die Überwindung dieser unvermeidlichen Schuld. In ihr befreien sich die involvierten Akteure von der Determination durch die Vergangenheit. Solange sie in Zwietracht sind, sind beide Seiten, handelndes und urteilendes Gewissen, durch das Geschehene bedingt. In der Versöhnung entbinden sie einander von dem Vorgefallenen und überwinden diese Bedingtheit (vgl. Bernstein 1996, 57). Nur so wird ein Neubeginn möglich. Wesentlich ist dabei, dass die Versöhnung die Vergangenheit nicht bloß abschneidet . Sie transzendiert diese vielmehr. Dieser Vorgang entzieht sich der willentlichen Verfügung. Hegel denkt jedoch, dass Verzeihung notwendigerweise geschieht, wenn das Subjekt die Gebundenheit des Anderen erkennt. Wenn es seine Endlichkeit begreift, hat 23 Diese Doppelperspektive artikuliert Michael Hardimon: »Hegel’s conception of reconciliation is thus one that understands itself as preserving conflict at one level and overcoming it at another.« (Hardimon 1994, 94) 24 Es ist also nicht korrekt, die Versöhnung als Komplizenschaft im Gewissen zu deuten, wie etwa Martin Sticker es tut: »Anerkennung wird verwirklicht in einem Zustand, in welchem Akteure, die sich allein durch ihre Subjektivität bestimmen, anderen Akteuren die Übersteigerung ihrer Subjektivität verzeihen, um in ihrer eigenen übersteigerten Subjektivität bestehen gelassen zu werden. […] Das Gewissen bestimmt sich allein aus seiner Subjektivität und gesteht anderen Gewissen lediglich zu, Gleiches zu tun.« (Sticker 2015, 99) In der Versöhnung treten die Individuen von ihrer übersteigerten Subjektivität gerade zurück.

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es ihm schon verziehen und ist zugleich selbst frei geworden (vgl. Bernstein 1996, 62). Nun kann man sich fragen, ob es immer gerechtfertigt ist, zu verzeihen. Ist die Position des harten Herzens, das das Böse nicht legitimieren will, nicht vielleicht manchmal angemessen ?25 Das mag unter sachlichen Gesichtspunkten durchaus so scheinen. Für Hegel ist dieser Einwand jedoch Kennzeichen eines endlichen Denkens, das – verständlicherweise, aber dennoch zu Unrecht – auf seiner Endlichkeit beharrt. III.2.4  Versöhnung als Rückkehr zur Übereinstimmung mit sich

Hegel zufolge ist Versöhnung das tiefste Bedürfnis des Geistes (VRel 269). Dieses Streben nach Einheit mit sich unterliegt auch schon dem Abfall von sich. Weil die Unbestimmtheit oder bloß äußere Bestimmung seinem geistigen Wesen unange­ messen ist, weil er sich also nicht schon hat, sondern erst zu sich werden muss, muss der Mensch sich besondern. Dabei wird der Gegensatz zu sich, der in der Ausgangssituation implizit enthalten ist, gesetzt. Verbrechen und Sünde, Besonderung überhaupt, sind für Hegel in diesem Sinne nicht nur ein Unrecht gegen andere. In ihnen richtet sich das Subjekt vielmehr in erster Linie gegen sich selbst, weil das Allgemeine, das es verletzt, sein eigenes Wesen ist. Der Schmerz, den das sündige Subjekt empfindet, resultiert daraus, dass es sich im Gegensatz zu sich selbst befindet (VRel 265). Er offenbart die Forderung des Guten im Subjekt (VRel 263). Aus dem Leiden an der Nicht-Übereinstimmung mit sich resultiert das Bedürfnis, die Besonderung aufzuheben und zur Einheit mit sich zurückzukehren (VRel 269). Die Bereitschaft zur Versöhnung gründet damit letztlich in dem Streben nach Selbstübereinstimmung. Übereinstimmung mit sich erlangt das Subjekt, indem es auf seine Besonderung verzichtet. Anders als der Abfall vom Allgemeinen ist diese Negation der Besonderheit ein Schmerz, von dem Hegel sagt, dass er nicht schmerzt.26 Obwohl also sowohl die Nichtübereinstimmung mit sich als auch das Ablassen von der 25 Brady Bowman argumentiert, dass die Gewissen in der Versöhnung ihre persönliche Integrität zugunsten von sozialer Zugehörigkeit aufgeben: »Now, Hegel’s portrayal suggests that the hardened heart deserves reproach, and truly, to harden one’s heart is not always commendable. But there are cases in which it could be deemed ethically appropriate. The conflict under discussion is perhaps itself such a case. The acting consciousness is in effect trying to turn the tables and redefine the situation so as to be able once again to dictate the terms. Under this description of circumstances, personal integrity virtually demands that the judging consciousness harden his heart.« (Bowman 2017, 79) 26 »Der Schmerz, den das Endliche in […] seiner Aufhebung empfindet, schmerzt nicht« (TWA 17, 273).



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Besonderung schmerzen, wird nur der eine Schmerz als durchaus negativ erlebt. Ich kann lieber auf die absolute Geltung meiner Überzeugung, auf meine natürlichen Neigungen, vielleicht sogar auf mein Leben verzichten, als in dieser Ungleichheit mit mir selbst zu verharren. Indem das »böse« Individuum sich überwindet und wahrhaft Verzicht auf sich selbst leistet, ist das Vergangene zwar nicht vergessen, aber es ist wirklich überwunden (vgl. VRel 295). Der Geist kann dabei vollbringen, was der Körper aus Fleisch und Blut nicht kann: »Die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben.« (PhG 492). Er ist so gleichermaßen das Prinzip der Trennung und das Vermögen der Heilung (vgl. Enz § 24 Zusatz 3 ; VRel 257). Versöhnung folgt dem Schema von Einheit, Trennung und Wiedervereinigung. Dabei kehren die Fraktionen in der Versöhnung nicht einfach unverändert in die Einheit zurück, sondern diese hat, wie gerade gesehen, durch die Überwindung des Bruches eine neue Stufe oder andere Qualität erreicht.27 Die Beziehung und ihre Relate haben sich in der Hinsicht verändert, dass die neue Einheit gerade auch ihre Differenz einschließt. Dies wird Hegel zufolge erst in der modernen Welt möglich, wo Subjektivität sich selbst als frei begreift. Das Prinzip der in sich reflektierten Individualität kommt in der christlichen Religion zur Anschauung, in der »die Subjektivität die Spitze ihres Fürsichseins erreicht hat, zur Totalität gekommen ist, sich in sich selbst als unendlich und absolut zu wissen« (VRel 207). Dem Muster von unmittelbarer Einheit, Trennung und Versöhnung entspricht hier die Trinität von Gott, Sohn und Heiligem Geist. Die Menschwerdung Gottes stellt den Abfall von der ursprünglichen Einheit dar. Weiter muss Jesus sterben, weil sein Leben der Gemeinde noch nicht die »Gewißheit und Anschauung« (VRel 275) der Versöhnung mit Gott gibt. Erst sein Tod und »Erstehen als Geist« (PhG 566) ist der »Tod des Todes« (VRel 291), d. h. die Aufhebung der Endlichkeit und die Überwindung des Bösen überhaupt. Hegel stellt die Versöhnung der Gewissen nicht als ein instantanes Geschehen dar, sondern beschreibt sie als eine Reihe von Schritten. Jeder der beteiligten Akteure stellt dabei durch sein Handeln erst die Bedingungen für die Anerkennung des anderen her. Entsprechend erkennen das handelnde und das urteilende Gewissen auf unterschiedlicher Ebene und auch zeitlich versetzt die Gleichheit mit dem jeweils anderen an. Das handelnde Gewissen bekennt sich dem anderen, weil es erkennt, dass auch dieses sich in seinem Urteil partikularisiert ; dann erst kann sich das Urteilende in dem zur Allgemeinheit zurückgekehrten Handelnden erkennen. Erst mit dieser Verzeihung des urteilenden Gewissens ist die Versöhnung als Ganze vollzogen. Die Asymmetrie, die in der Abfolge der Akte an27 »The unity of their new relationship may be described as ›higher‹ in the sense of being more flexible, complex, and stable than the unity that preceded it.« (Hardimon 1994, 85)

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Kapitel III

gelegt ist, ist damit aufgehoben (vgl. Kuch 2011, 102). Die Versöhnung hebt so die Linearität der Zeit auf und stellt in diesem Sinne Hegels Konzeption der Ewigkeit dar (vgl. Bernasconi 2005, 65).28 Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese Unsterblichkeit im Geiste das reale, sterbliche Subjekt wirklich zu befriedigen vermag. Damit komme ich zur Evaluation und Kritik von Hegels Gewissenskonzeption.

28 Zeit entspricht für Hegel der Auffassung des endlichen Geistes ; im absoluten Geist, der sich selber erfasst, ist die Zeit aufgehoben (vgl. PhG 584).

IV.  Das Gewissen im System

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ie beiden historischen Momente, die Hegels Sozialphilosophie in besonderer Weise prägen, sind die griechische Polis und die Französische Revolution. Sie ist damit aufgespannt zwischen einer Kommunalität, in der kein Platz für Individualität ist, und einer Reflexivität, die zur Entsubstanzialisierung der sittlichen Verhältnisse führt und in letzter Konsequenz Gemeinschaft verunmöglich. Wie im zweiten Kapitel gesehen, meint Hegel beide Probleme beheben zu können, indem er die gegenläufigen Momente in der in sich reflektierten Sittlichkeit zu einer Einheit zusammenbringt. Diese in sich reflektierte Sittlichkeit findet ihr Gegenstück in dem wahrhaften Gewissen, d. h. in einer Subjektivität, die ihre Autonomie in den sittlichen Strukturen hat. Damit stellt sich jedoch die Frage nach der Möglichkeit einer grundlegenden Kritik am Gegebenen. Denn wenn die sittlichen Verhältnisse den Grund jeder moralischen Reflexion ausmachen, kann das individuelle Gewissen die kritische Reflexion des Funktionszusammenhanges selbst nicht leisten.1 Die These, die ich in diesem Kapitel zur Geltung bringen möchte, ist, dass sich an der Konzeption des Gewissens eine Grenze von Hegels philosophischem System abzeichnet, die es in seinem ureigenen Anspruch, im Denken der Freiheit, trifft. Das individuelle Gewissen bleibt relativ auf die sittlichen Verhältnisse, in denen es urteilt und handelt. Deshalb kann es nicht zugleich die Rolle einer grundlegenden Legitimation dieser Verhältnisse erfüllen. Dies ist in Hegels Augen allerdings auch gar nicht notwendig, denn die konkreten sittlichen Verhältnisse eines Staates, in die die Vollzüge des gewissenhaften Subjekts genestet sind (vgl. Kap. II), sind ihrerseits in einen teleologischen historischen Prozess eingebettet, aus dem heraus beide, Subjekt und Staat, ihre letzte Begründung erfahren. Gewissenhaftes Handeln und intersubjektive Anerkennung dienen so lediglich der Genese von Strukturen, die ihre Geltung aber aus der Logik der objektiven Strukturen haben. Ich werde entsprechend argumentieren, dass es letztlich der Geist ist, der in dieser Entwicklung Freiheit im hegelschen Sinne erlangt. Die endlichen Individuen sind dagegen in einen anonymen Prozess eingeschlossen und jeder Versuch, sich diesem Prozess entgegenzustellen, kann erstens per definitionem nicht autonom sein und ist zweitens zum Scheitern verurteilt. Das 1 Eine solche grundlegende Kritik will Hegel selbstverständlich gerade delegitimieren, aber »[a]uch wenn Hegel selbst das Problem […] für obsolet hält, bleibt […] das kritische Potential des Rechts des subjektiven Willens gegenüber einer ungerecht sozialen Realität näher zu bestimmen« (Halbig 2009, 105).

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hegelsche Subjekt hat damit zwar nicht nur die Freiheit eines »Bratenwenders […], der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet« (KpV 174). Dennoch ist sie unbefriedigend. Wie ich argumentieren werde, liegt dies darin begründet, dass Hegel kein dem Denken Unverfügbares kennt. In der reinen Immanenz ist Freiheit jedoch undenkbar. Diese Kritik an Hegels Gewissens- und Freiheitskonzeption werde ich im zweiten Teil dieses Kapitels ausführen ; im ersten Teil gehe ich dagegen auf jene Figuren ein, die innerhalb von Hegels Philosophie als Kandidaten einer Überschreitung der gegebenen Ordnung in Frage kommen. Es handelt sich dabei um Figuren wie Antigone und Sokrates, die sich gegen das Allgemeine stellen und durch ihr Tun einen Umbruch der allgemeinen Ordnung selbst provozieren. Wie ich zeigen werde, weisen diese »welthistorischen Individuen« (VGP 12) zwar strukturelle Ähnlichkeit mit der Figur des Gewissens auf, aber sie stellen aus hegelscher Sicht noch kein Gewissen im modernen Sinne dar. Dies liegt an ihrer historischen Position (vgl. GPR § 150, Zusatz): Die Einzelnen sind in dem ihnen möglichen Grad der Reflexivität an die Entwicklungsstufe des Gemeinwesens gebunden, in dem sie leben. Das Gewissen ist für Hegel keine anthropologische Konstante, sondern wird erst in der modernen, in sich reflektierten Sittlichkeit möglich. Dagegen impliziert der tragische Konflikt, an dem die genannten Umbruchsfiguren zugrunde gehen, dass sich in ihnen der Geist gerade noch nicht selbst erfasst hat. Entsprechend argumentiere ich, dass die Rolle des welthistorischen Individuums für Hegel komplementär zu der realisierten Freiheit und dem wahrhaften Gewissen der modernen Sittlichkeit ist. IV.1 Die welthistorischen Individuen als Modell für den Bruch mit der Ordnung ?

Hegel betrachtet das Gewissen in einem doppelten Sinne in seiner Genese oder Historizität: Das Gewissen vollbringt die Konkretisierung des abstrakten Guten, der zugleich der Übergang vom formalen zum wahrhaften Gewissen korrespondiert (s. o. Kap. II). Zweitens aber vertritt Hegel die These, dass es sich bei dem Gewissen um eine Struktur der Subjektivität handelt, die sich erst relativ spät in der geschichtlichen Entwicklung, nämlich mit dem Reflexivwerden der Subjektivität, herausbildet (vgl. GPR § 150, Zusatz ; VGP 492). Die moralische Reflexion und das Gewissen zeichnen so die moderne Subjektivität im Gegensatz zu dem unmittelbar sittlichen Individuum in der Antike aus. In Spannung zu dieser These steht, dass innerhalb der Geschichte des Geistes, wie Hegel sie entfaltet, schon zu früheren Momenten jene welthistorischen Individuen (VPG 45) ihre geschichtsträchtigen Taten vollbringen, die allem Anschein



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nach frühe Vertreter des formellen Gewissens sind (vgl. Pinkard 2017, 543). Prominente Beispiele sind hier Figuren wie Antigone, Sokrates, Jesus und Luther, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie sich als Einzelne gegen die fungierende Allgemeinheit stellen und damit eine umwälzende Transformation der sittlichen Welt bewirken. Diese Figuren verheißen, der vernünftig eingerichteten Sittlichkeit bei Hegel doch ein exzessives und eruptives Moment des Widerstandes abzugewinnen (vgl. Finkelde 2014a ; Menke 1996). Ihre angebliche »Gewissenstat« erscheint als unverhofftes Freiheitsmoment zwischen den Ordnungen. Indem die welthistorischen Figuren dergestalt zum Modell widerständiger moderner Subjektivität erklärt werden, werden jedoch für Hegel wesentliche Strukturunterschiede zwischen antiker und moderner Sittlichkeit vernachlässigt. Ich werde entsprechend in diesem Unterkapitel zeigen, dass es Hegel zufolge ein »transformatorisches Gewissen« in Anlehnung an Antigone und Sokrates nicht geben kann (vgl. Speight 2006, 22). Zum anderen wende ich mich exem­ plarisch einer neueren Interpretation zu, die versucht, die Struktur des welthisto­ rischen Individuums in dem beschriebenen Sinne fruchtbar zu machen, um die geltungstheoretischen Konsequenzen offenzulegen, die es hat, wenn man sich von bestimmten Prämissen von Hegels Theorie verabschiedet.2 Ich gehe im Folgenden in drei Schritten vor: Zunächst werde ich am Fall der Antigone den Unterschied herausarbeiten, der Hegel zufolge zwischen antiker und moderner Sittlichkeit und Subjektivität besteht. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung argumentiere ich, dass Hegel das Moment des Tragischen, das für das antike Individuum kennzeichnend ist, gerade als komplementär zu der reflexiven Struktur des Gewissens auffasst. Das Gewissen tritt erst auf, wenn Sittlichkeit reflexiv geworden ist, wenn sich also sittliche Prinzipien nicht mehr schicksalhaft Bahn brechen, sondern in reflexiven Institutionen vermittelt sind. Im zweiten Schritt zeige ich anhand von Hegels Darstellung von Sokrates, dass der Grad der Selbsttransparenz des Individuums notwendig durch den Entwicklungsstand der Freiheit in den objektiven Verhältnissen seiner Zeit begrenzt ist. Sokrates bringt zwar das Prinzip der Reflexivität in die Welt, kann aber aufgrund seiner historischen Situierung keine Subjektivität im modernen Sinne realisieren. Seine fehlende Selbstintransparenz manifestiert sich in der Äußerlichkeit dessen, was am modernen Subjekt zur inneren oder Gewissensstimme wird. An den genannten Figuren tritt in besonderer Weise zu Tage, was überhaupt das Eigentümliche von Hegels Theorie der Subjektivität ist: Subjektivität geht sich selbst voraus und erfasst sich nachträglich als das, was sie gewesen ist. 2 Es ist klar, dass Hegels metaphysische Geistesgeschichte heute nicht haltbar ist. Es scheint mir dennoch sinnvoll zu sein, die Begründungsstruktur seiner Konzeption in ihrer Gesamtheit zu überblicken, um zu verstehen, welche Implikationen es hat, wenn man sich von Teilen seiner Theorie verabschiedet.

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Angelehnt an diese Struktur der Subjektivität entwickelt Dominik Finkelde seine Theorie exzessiver Subjektivität (Finkelde 2014a, 2014b). Ihm werden dabei Antigone und Sokrates zu Modellen widerständiger Subjektivität, die sich selbst und ihrer Umwelt unverständlich ist, weil ihr Tun erst die Bedingungen provoziert, von denen her es in seiner Bedeutung verständlich und nachträglich gerechtfertigt ist (vgl. Finkelde 2014a). In meiner Auseinandersetzung mit dieser Theorie im dritten Abschnitt steht dieser Ansatz exemplarisch für den Versuch, in Hegels eigenem Denken ein Moment der Überschreitung aufzufinden, von dem ich deutlich machen werde, dass und inwiefern er mit Hegels Denken nicht vereinbar ist. IV.1.1  Hegels Unterscheidung zwischen antiker und moderner Sittlichkeit

Hegels Zeit zeichnet sich durch die Einsicht aus, dass wir selber die Quelle normativer Bestimmungen sind (vgl. Pippin 2000a, 186). Der Ausgangspunkt der Entwicklung, die zu dieser Einsicht führt, ist für Hegel der Untergang der griechischen Polis. Hegel stellt die Antike als eine Entwicklungsstufe des Geistes dar, auf der sich Denken und Sein in unmittelbarer Identität befinden. Das Denken denkt die Natur und die objektive Welt, ohne sich dabei auf den Denkenden zurückzuwenden und das Denken selbst in den Blick zu nehmen. Entsprechend existiert das Individuum auch in unmittelbarer Einheit mit der Sittlichkeit. Gleich der Natur scheinen ihm auch die sittlichen Bestimmungen von außen zu kommen ; sie sind von den Göttern gegeben und gelten seit unvordenklicher Zeit.3 D. h. das antike Individuum begreift sich nicht selbst als Urheber dieser Bestimmungen. Es ist damit noch nicht Subjekt im eigentlichen Sinne (s. o. Kap. II.2). In Hegels Begrifflichkeit ausgedrückt hat sich der Geist in der substanziellen Sittlichkeit noch nicht selbst erfasst. Und an eben diesem Selbstwiderspruch, dass in ihr das Geistige in der Seinsweise der Natur erscheint, muss die unbefangene Sittlichkeit zugrunde gehen (vgl. PhG 354). In Hegels Darstellung in der Phänomenologie liegen der griechischen Sittlichkeit zwei komplementäre Prinzipien oder Mächte zugrunde: Dies sind das menschliche und das göttliche Gesetz, die zugleich auch für Gemeinwesen und Familie, Mann und Frau stehen. Diese Prinzipien ergänzen und bedingen sich wechselseitig und bilden so eine »unbefleckte, durch keinen Zwiespalt verunreinigte Welt« (PhG 341). Ihre Einheit ist aber nur eine unmittelbare ; sie ist von den in ihr lebenden Individuen nicht als solche erfasst und begriffen. Das einzelne 3 Hegel zitiert hier Sophokles: »Die ewigen Gesetze der Götter sind, und niemand weiß, woher sie kommen.« (Sophokles nach VGP 443)



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Individuum ist Charakter (vgl. PhG 343), d. h. es verkörpert aufgrund seines Geschlechts eines der beiden Prinzipien. Die andere Macht ist ihm dagegen verborgen (vgl. PhG 537). Insofern es in seinem eigenen sittlichen Sein durch diese andere Macht bedingt ist, ist es sich selbst nicht transparent. Es kann die Bedeutung seines eigenen Tuns nicht überblicken, weil ein Teil der Wirklichkeit konstitutiv seiner Einsicht entzogen ist (vgl. PhG 328). Diese fehlende Vermittlung der sittlichen Mächte führt in Hegels Darstellung zum Untergang der Polis. Wenn das Tun der Individuen durch Prinzipien organisiert ist, die unvermittelt nebeneinanderstehen, ist es logisch betrachtet eine Frage des Zufalls, wann sie kollidieren ; es ist jedoch notwendig, dass sie es irgendwann tun. Eine solche Kollision ereignet sich im mythischen Konflikt zwischen Antigone und Kreon. Nach dem Zweikampf von Antigones Brüdern um die Herrschaft über Theben, der mit dem Tod beider endet, untersagt König Kreon, der Vertreter des menschlichen Gesetzes, Polyneikes, den Angreifer, menschlich zu bestatten. Antigone will jedoch ihrem Bruder ein Begräbnis zukommen lassen, wie es das göttliche Gesetz von ihr fordert. Sie missachtet folglich Kreons Verbot. Ihr Tun, welches im Mythos zum Untergang der beteiligten Individuen führt, bedeutet in Hegels philosophischer Auslegung des mythischen Stoffes zugleich das Ende der unbefangenen Sittlichkeit, die in ihrer Unmittelbarkeit keinen Bestand mehr haben kann. Es liegt aus heutiger Perspektive nahe, Antigone ein Handeln aus Gesinnung zu unterstellen. Dies wäre jedoch in Hegels Augen verfehlt: Das Tun von Antigone und Kreon ist nicht im eigentlichen Sinne individuell (vgl. PhG 352). Tatsächlich reflektiert das Individuum der unbefangenen Sittlichkeit nicht auf seine Pflicht, sondern diese ist ihm durch seine Stellung unmittelbar beigelegt (vgl. PhG 343). Deshalb ist Antigone alles andere als eine frühe Instanziierung des formellen Gewissens. Ihre Pflicht ist für sie kein durch sie selbst gesetzter Inhalt, auf dem sie beharrt, sondern eine geltende Realität, an der sie nicht zu rütteln hat. Allerdings verstößt sie, gerade indem sie ihre göttliche Pflicht erfüllt, gegen das menschliche Gesetz (vgl. PhG 346). Ihre Situation ist in diesem Sinne tragisch. Hegel bezeichnet nicht jedes Unglück als tragisch. Tragisch im terminologischen Sinne ist eine Konstellation, in der zwei gleichermaßen berechtigte sittliche Mächte kollidieren (vgl. VGP 447). In einer solchen Konstellation ist das Unglück einerseits vom Heros durch sein eigenes Tun hervorgebracht und in dieser Hinsicht durch ihn selbst verursacht ; zugleich ist er aber auch unschuldig, weil sich durch ihn bzw. sie hindurch eine Notwendigkeit manifestiert, die über das individuelle Schicksal hinausweist. Das tragische Unglück ist somit nicht auf eine bloße Zufälligkeit der Umstände oder die Irrationalität der Handelnden zurückzuführen. In ihm bricht sich vielmehr logische Notwendigkeit Bahn. Die Individuen agieren die Widersprüche aus, die in der Sittlichkeit selbst angelegt sind,

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wenn auch die Weise, in der sich dies zuträgt, zufällig oder naturhaft ist. Es ist also kontingent, dass Antigone zwei Brüder hat und folglich der Kampf um die Thronfolge zwischen ihnen entbrennt ; es ist auch zufällig, dass beide im Kampf umkommen. Notwendig ist hingegen, dass die antike Sittlichkeit an der »Innerlichkeit oder in dem Freiwerden des Selbsts zugrunde[gehen]« (PhG 514) muss. Dieses Reflexiv-Werden erfolgt als das Bewusstsein der Schuld:4 Durch die Tat begreift sich das Individuum schlagartig selbst als Urheber der nun zerstörten Welt (vgl. PhG 374). Hegel begreift das Tragische als eine Form, die einer bestimmten Entwicklungsstufe des Geistes angehört. Unter Bedingungen moderner Reflexivität tritt der tragische Konflikt nicht mehr auf, weil die verschiedenen Pflichten durch das Subjekt selbst vermittelt werden (vgl. VGP 487).5 Das Gewissen als das Prinzip dieser Vermittlung löst die tragische Gestalt ab, denn dieses steht für das Bewusstsein, dass »jeder konkrete Fall eigentlich eine Kollision von Pflichten, eine Konkretion vielfacher Bestimmtheiten ist, welche sich im moralischen Verstande unterscheiden, die aber der Geist nicht absolut behandelt, sondern sie in der Einheit seiner Entschließung verbindet« (VGP 489). Aufgrund dieser Vermittlungskompetenz des Gewissens kann die moderne Subjektivität mit konkurrierenden Pflichten umgehen, während in der Antike die Kollision von Prinzipien die involvierten Individuen mit Notwendigkeit zerstören musste (vgl. Moyar 2004, 228).6 IV.1.2  Sokrates und das Prinzip der Reflexivität

Während in der Phänomenologie des Geistes der Antigone-Mythos für das Zerbrechen der Unmittelbarkeit der griechischen Sittlichkeit steht, verkörpert für Hegel philosophiegeschichtlich die Figur des Sokrates diesen Bruch. Mit Sokra­tes beginnt das Prinzip moderner Reflexivität, das Hegel selbst zu vollenden meint 4 Die Einsicht, dass sich Selbsterkenntnis schuldhaft vollzieht, lässt Sophokles Antigone aussprechen: »Wenn dies den Göttern so gefällt, / Gestehen wir, daß, da wir leiden, wir gefehlt.« (VGP 509) 5 Robert Pippin vertritt, dass das Tragische auch in der modernen Sittlichkeit in der Gestalt ethischer Inkohärenzen auftritt (persönliches Gespräch). Das würde bedeuten, dass wir – entgegen Hegels Annahme – den Zustand realisierter Freiheit noch nicht erreicht haben, vielleicht nie erreichen können. 6 Dean Moyar warnt jedoch vor der entgegengesetzten Tendenz: »Wir haben mit unserer Fähigkeit, mit etwas zu leben, das frühere Individuen zerstört hätte, etwas Bestimmtes erreicht. Die Gefahr ist weniger, dass Widersprüche faktisch verschwinden, sondern vielmehr, dass wir sie nicht mehr ernst nehmen, da unser eigenes Gewissen immer als im Reinen erscheinen kann, wodurch jeder Konflikt unverwirklicht bleibt.« (Moyar 204, 246 f.)



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(vgl. VGP 442, 468). Wesentlich ist hierbei, dass Sokrates das Ich als den Grund von Bestimmtheit und Geltung des Guten annimmt, wobei er nicht vom Individuum in seiner Unmittelbarkeit ausgeht, sondern auf die Allgemeinheit im Denken abzielt.7 Indem er so die Subjektivität des Denkens zu Bewusstsein bringt, provoziert Sokrates in Hegels Augen die welthistorische Konversion vom Denken des Wesens als Sein, das im antiken Griechenland vorherrscht, zu der Reflexivität, die für die Moderne charakteristisch ist. Als »höchste Blüte des griechischen Geistes« (VGP 469) bedeutet er dabei zugleich den Untergang dieser Bewusstseinsstufe. Hegel schildert Sokrates als außerordentlich tugendhaften Athener, der sich bei Feldzügen als treuer Freund und tapferer Krieger hervorgetan hat, der mehrere politische Ämter innegehabt hat und der in seinem Beruf begabt ist. Seine eigentliche Beschäftigung ist jedoch »das ethische Philosophieren mit jedem, der ihm in den Weg k[ommt]« (VGP 451). Indem er behauptet, nichts zu wissen, befragt er seine Gesprächspartner zu vorwiegend ethischen Themen. Dabei führt er sie durch geschickte Gesprächsführung dahin, dass sie aus dem, was sie für wahr halten, die Konsequenzen ziehen »und dann erkennen, wie sie darin anderem widersprechen, was ihnen ebensosehr fester Grundsatz ist« (VGP 458). Sokrates lässt seine Gesprächspartner so selbst die Kontingenz des als sicher Angenommenen aufzeigen. Anstatt ihren Auffassungen zu widersprechen, besteht seine »Hebammenkunst« vielmehr darin, durch kritisches Fragen »den Gedanken zur Welt zu helfen, die in dem Bewußtsein eines jeden schon selbst enthalten sind« (VGP 462). Hegel erkennt in der sokratischen »Methode« zwei strukturell entgegengesetzte Momente. 8 Das erste Moment besteht darin, das Allgemeine aus dem konkreten Fall zu entwickeln ; das zweite, die fixen Wirklichkeitsbestimmungen in ihrer Unmittelbarkeit zu verwirren und aufzulösen (vgl. VGP 457). Mit dem zweiten Moment sieht Hegel Sokrates in der Nachfolge der Sophisten. Anders als diesen geht es Sokrates aber nicht bloß um das geschickte Argumentieren, sondern er ist dem Guten und der Wahrheit verpflichtet. Wenn er also auch wie die Sophisten meint, dass das Objektive ausschließlich in Beziehung auf das Bewusstsein besteht, so liegt sein Fortschritt gegenüber ihnen in Hegels Augen darin, dass er es gleichwohl als ein Objektives nimmt. Sokrates zielt auf die dem Denken zugrundeliegende Universalität ab. Da er diese jedoch nicht systema7 Sokrates und Platon qualifizieren damit den Satz des Protagoras: Von allen Dingen ist »der Mensch das Maß, indem er denkend ist« (VGP 430). 8 Es handelt sich bei Sokrates’ Vorgehen in Hegels Augen nicht um eine Methode im eigentlichen Sinne, »sondern es ist eine Weise, die mit dem Eigentümlichen des Sokrates ganz identisch ist« (VGP 456).

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tisch entwickelt und keinen positiven Inhalt gewinnt, ist seine Philosophie in Hegels Augen letztlich ein »individuelles Tun geblieben« (VGP 451). Hegel stellt Sokrates als »eine von jenen großen plastischen Naturen« (VGP 452) dar, die sich selbst ganz zu dem gemacht haben, was sie sein wollten. Sokra­ tes »folgt« dabei einem Prinzip der Selbstbestimmung, das mit ihm überhaupt erst in die Welt kommt und somit für ihn selbst noch nicht in der gleichen Weise verfügbar ist wie für die, die nach ihm kommen. Dass Sokrates am Beginn des Prozesses der Verinnerlichung steht, äußert sich durch die »eigentümliche Gestalt« (VGP 490), die diese Selbstbestimmung bei ihm annimmt. Sein Inneres erscheint ihm als sein Genius oder daimonion, der gleichsam eine Zwittergestalt aus Orakel und Selbstbestimmung darstellt. Dieser Genius ist ein Inneres, das aber als Äußeres, Fremdes erscheint und von Hegel als das Erwachen der sich selbst bestimmenden Subjektivität gedeutet wird (vgl. VGP 491). Die Bewusstlosigkeit des sittlichen Individuums kehrt so bei Sokrates in der Fremdheit seiner eigenen Innerlichkeit wieder, die »für ihn selbst die Gestalt eines Seienden« (VGP 501) annimmt. Hegel zufolge ist dies »notwendig durch den Standpunkt seines Bewußtseins« (VGP 495). Aufgrund seiner geistesgeschichtlichen Position kann Sokrates sich selbst noch nicht als entscheidende Subjektivität begreifen und er kann erst recht nicht die Notwendigkeit dieses Prinzips erkennen. Aufgrund dieser fehlenden Selbsttransparenz lehnt Hegel es ab, Sokrates ein Gewissen im modernen Sinne zuzuschreiben: Aber es darf uns bei diesem berühmten Genius des Sokrates […] weder die Vorstellung von Schutzgeist, Engel und dergleichen einfallen, noch auch das Gewissen. Denn Gewissen ist die Vorstellung allgemeiner Individualität, des seiner selbst gewissen Geistes, der zugleich allgemeine Wahrheit ist. (VGP 491)

Hegels eigenes Urteil über Sokrates ist von Ambivalenz geprägt (vgl. Bowman 2019, 749): Einerseits stellt die Einführung des Prinzips der Reflexivität einen bedeutenden Schritt in der Entwicklung von Freiheit dar ; andererseits provoziert Sokrates die Zerstörung der schönen antiken Sittlichkeit. Darüber hinaus stellt das Prinzip, das er einführt, nur die negative Seite der Freiheit dar. Sokrates ist nicht in der Lage, eine positive Bestimmung an die Stelle der von ihm entthronten Wahrheit zu ersetzen. Die Formalität seines Prinzips stellt, ebenso wie Hegel dies für die moderne Moralität ausführt, eine Gefahr dar: Indem er dem unbefangenen Bewusstsein seine Wahrheit nichtig macht, liegt es an der Tugendhaftigkeit des einzelnen Individuums, ob es diese Situation zum Guten wendet oder sie für Böses ausnutzt. Sokrates selbst beruft sich letztlich wieder auf die geltenden Gesetze. Auch seine Zeitgenossen können aus ihrer historischen Position heraus die Bedeutung von Sokrates nicht erkennen. Sie nehmen seinen Genius als zufällige



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Äußerung seiner Individualität wahr und klagen ihn der Verführung der Jugend und der Einführung neuer Götter an. In Hegels Augen geschieht Sokrates’ Verurteilung zu Recht, denn er gefährdet mit seinem Tun die geltende Sittlichkeit und stellt sich so dem Geist des atheniensischen Volkes als Ganzem entgegen (vgl. VGP 497). Dieses muss Sokrates also als Verbrecher behandeln. Wie Hegel feststellt, ist aber durch die Hinrichtung nur das Individuum vernichtet, nicht auch sein Prinzip (vgl. VGP 512). Es weist seine Stellung als Heros der Weltgeschichte aus, dass Sokrates seiner Zeit als Verbrecher erscheint, sein Prinzip jedoch fortbesteht (vgl. VGP 515). In Hegels Augen hat die Individualität diese transformative Funktion nur, solange die Bedingungen der Freiheit nicht vollständig realisiert sind. Hier artikuliert sich durch das Individuum hindurch etwas, das an sich in der Sittlichkeit enthalten ist, aber noch nicht in deren Wirklichkeit aufgenommen ist. Hegels Interpretation zufolge reagiert das Athenische Volk so stark auf Sokrates, weil es intuitiv erfasst, dass er die atheniensische Wirklichkeit zu zerstören droht (vgl. VGP 513). Sokrates ist nur deshalb so gefährlich, weil sich in ihm der Zwiespalt manifestiert, der das Volk selbst schon durchzieht. Er ist also nicht eine zufällige Erscheinung (vgl. VGP 467) ; vielmehr verkörpert er ein zukünftiges Prinzip, das an sich bereits in der Sittlichkeit enthalten ist. Ebenso wie Antigones Fall ist auch Sokrates’ Schicksal tragisch, weil er ein notwendiges Prinzip vertritt, das sich in der Geschichte der Vernunft durchsetzen muss, seine Zeitgenossen aber ebenso berechtigt sind, ihn als Verbrecher zu behandeln und zu verurteilen. Obwohl die Betonung der Selbstbildung des plastischen Individuums dies nahezulegen scheint, kann dieses für Hegel gerade nicht autonom sein, weil die objektiven Bedingungen der Freiheit noch nicht verwirklicht sind (vgl. Pippin 2004b, 298). Sokrates ist sich in seinem Tun notwendig intransparent. Anders­ herum ist mit der Verwirklichung der Freiheit die Zeit der Heroen in Hegels Augen vorbei. In der modernen Sittlichkeit handelt das Individuum, das sich den sittlichen Verhältnissen entgegenstellt, verbrecherisch. IV.1.3  Kritik der Konzeption exzessiver Subjektivität

Figuren wie Antigone und Sokrates sind keine Verbrecher im gewöhnlichen Sinne. Zwar verstoßen sie mit ihrem Tun gegen die geltenden Gesetze. Zugleich aber initiieren sie einen Ordnungswandel ; ihr Tun provoziert erst jene neue Ordnung, von der her es nachträglich in seiner Bedeutung verstanden werden kann. Der Unterschied zwischen diesen Taten und der gewöhnlichen verbrecherischen Handlung besteht also darin, dass Letztere eine Entgegensetzung gegen das Allgemeine ist, das als solches bestehen bleibt, während die welthistorische Tat »eine

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andere Welt, anderes Recht, Gesetz und Sitten an die Stelle der vorhandenen bringt« (PhG 229). Das heißt zugleich, dass das Individuum zu dem Zeitpunkt seiner Tat selbst nicht wissen kann, was diese gewesen sein wird.9 Es stellt sich mit seiner Tat außerhalb des geltenden normativen Rahmens und es wird sich erst erweisen, ob es ein Verbrechen begangen oder eine neue Ordnung initiiert haben wird. Dabei ist die Stellung des welthistorischen Individuums in spe prekär: Wer zu früh kommt und »der Gärung des Ganzen zuvor[kommt]«, erleidet das Schicksal, »ohne Ehre und Wirkung« zu fallen (GCh 317). Der Überschreitung des normativ Gegebenen korrespondiert eine Bewusst­ losigkeit der Akteure, die ihr Tun nicht vollständig überblicken können. Diese Bewusstlosigkeit macht den Anschein der Gesetzlosigkeit der Tat aus. Hegel zufolge muss dieses Geschehen allerdings so verstanden werden, dass das Individuum durch sein Tun zur Geltung bringt, was untergründig oder an sich schon in der Sittlichkeit angelegt ist und was von dem Individuum – sei es aufgrund besonderer Sensibilität oder Begabung – bereits gespürt wird. Die Tat erscheint damit nur aus der Perspektive der Zeitgenossen als gesetzlos ; tatsächlich rekurriert das Individuum in ihr – implizit und in einer ihm selbst nicht durchsichtigen Weise – bereits auf das neue Prinzip, das sein Tun erst zur Manifestation bringt. Diese Konzeption des welthistorischen Individuums greift Dominik Finkelde auf. Für das »paradoxe[] Strukturprinzip« (Bedorf 2016, 1034) einer Subjektivität, die »performativ bereits dort in Anspruch genommen wird, wo sie begründungstheoretisch noch nicht vorliegen kann« (Bedorf 2016, 1035), prägt er den Ausdruck exzessiver Subjektivität (Finkelde 2014a ; Finkelde 2014b). Er moniert, dass dieses exzessive Moment der Subjektivität zum Verschwinden gebracht werde, wenn ihr Tun nur rückwirkend, d. h. aus der Perspektive des fortgeschrittenen Weltgeistes, betrachtet wird (vgl. Finkelde 2014a, 161). Dagegen betont er den Umstand, dass die welthistorische Tat in dem Moment ihrer Ausführung noch nicht einmal als Denkmöglichkeit vorhanden ist, dass sie also zu einem Moment ausgeführt wird, wo es noch gar keine Konzeption eines solchen Handelns gibt. Exzessive Subjektivität verwirklicht so in Finkeldes Darstellung nicht eine bereits vorhandene Potentialität, sondern bringt mit der Handlung erst jene Bedingungen hervor, die sie »nachträglich als das immer schon Rechtmäßig-­Gewesene […] legitimieren« (Finkelde 2014a, 24). In Finkeldes Augen belegt dieses exzessive Moment, dass das Gemeinwesen auf einem Ausschluss, einem »Außen« aufruht, das für die Intersubjektivität 9 Aufgrund dieser konstitutiven Bewusstlosigkeit ist von einer Tat im terminologischen Sinne zu sprechen. Hegel unterscheidet zwischen Tat und Handlung, wobei die Handlung dadurch charakterisiert ist, dass das Individuum sie nicht nur absichtlich verübt, sondern zugleich die Natur der Handlung kennt (vgl. GPR § 117). Dies ist bei der welthistorischen Tat per definitionem ausgeschlossen.



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eine Unverfügbarkeit darstellt (vgl. Finkelde 2014a, 246). Exzessive Subjektivität spricht gewissermaßen von einem »Nicht-Ort« und bringt diesen zur Sichtbarkeit, ohne ihr Tun schon erklären oder rechtfertigen zu können (vgl. Finkelde 2014a, 225). Das Gewissen, das Finkelde mit dieser exzessiven Subjektivität identifiziert, kann nicht mit einem reflexiven moralischen Urteil aufwarten »und doch sind es auch nicht Nicht-Begründungen. Es handelt sich um Übergangs­ figuren bzw. Übergangsdarstellungen« (Finkelde 2014a, 225). Indem er diese Figur herausarbeitet, will Finkelde »Normativität als etwas aus einem solipsistischen Insistieren Emergierendes« fassen, wobei er »den Konflikt, den das Gewissen provoziert, als einen dauerhaften [denkt], der Teil dessen ist, was Hegel das Allgemeine nennt« (Finkelde 2014a, 221). Finkelde greift damit die bei Hegel angelegte Struktur der Subjektivität auf, verändert aber ihre Bedeutung und Stellung in entscheidender Weise. Anstatt sich Hegels Unterscheidung zwischen antiker und moderner Subjektivität und Sittlichkeit zu eigen zu machen, liest er Antigone und Sokrates als Modelle moderner Subjektivität. Zugleich deutet er das, was Hegel als unvermittelte Mächte der antiken Sittlichkeit konstruiert, als Ausschluss, der das politische Signifikationssystem konstituiert. Er suggeriert damit, das Tragische, das bei Hegel die unbefangene antike Sittlichkeit charakterisiert, sei auch in der modernen Sittlichkeit nicht überwunden. Das ist zwar eine durchaus plausible Annahme (vgl. Ricœur 2005, 302), die jedoch mit Hegels Konzeption von Freiheit als Selbstbestimmung grundsätzlich inkompatibel ist. Konsequenterweise kritisiert Finkelde diese Freiheitskonzeption und sucht sie umzudefinieren. Wie im zweiten Kapitel gesehen, knüpft Hegel die Autonomie des Subjekts unabdingbar an die Partizipation an einer Sozialität. Finkelde versteht dagegen die »Handlungstat« (Finkelde 2014a, 16) exzessiver Subjektivität im Sinne einer innertheoretischen Selbstüberschreitung. Hierdurch soll das Paradox der Autonomie gelöst werden, dem die Theorie ansonsten zum Opfer fallen würde (Finkelde 2014a, 164). Dieses Paradox ist in jüngerer Zeit auf die Formel gebracht worden, dass wir Autonomie entweder als bezogen auf vorgängige Gründe und damit als heteronom oder aber als unbegründet und folglich als willkürlich denken müssen.10 Autonomie ist so entweder die »äußere Heteronomie auferlegter Gesetze oder die innere Heteronomie bloß willkürlicher Entscheidungen« (Menke 2011, 150). Finkelde weist damit Hegels Versuch, die Partizipation an sittlichen Verhältnissen als Akt der Selbstbestimmung verständlich zu machen, implizit zurück und versucht Hegel eine Konzeption radikaler Autonomie zuzuschreiben, die er 10 Einschlägig ist hier der Sammelband von Thomas Khurana und Christoph Menke (vgl. Khurana/Menke 2011).

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mit seinem eigenen Begriff eines revolutionären Aktes exzessiver Subjektivität identifiziert (vgl. Finkelde 2014a, 178). Freiheit wäre demnach nicht mehr als die Selbstbestimmung einer sich selbst begreifenden Subjektivität zu verstehen ; sie bestünde vielmehr in dem Moment der Durchbrechung und Erneuerung des Gegebenen: Freiheit ist in diesem Sinne ›Bei-sich-selbst-sein‹, insofern sie aus Affekt und radikaler Selbstgewissheit (mag sie reflektiert oder unreflektiert sein) es wagt, aus sich herauszutreten, um in Veräußerung ihrer selbst durch Handeln eine Transsubstantiation ihres ›Bei-sich-selbst-Seins‹ als das nachträglich immer schon Dagewesene zu erfahren. Erst durch die Tat und ihre Folgen kann Freiheit sich zurückschauend erkennen als das, was sie immer schon ›bei-sich-selbst‹ gewesen ist. Versteht man dieses ›Bei-sich-selbst-Sein‹ nur als gefahrenlose Umwandlung von Potentialität in Aktualität, dann entgleitet das Paradox, um das Hegel hier in seiner Theorie der Tat ringt und das er in seiner Antigone-Interpretation vorbringt (Finkelde 2014, 189).

Diese Deutung ist als Hegel-Interpretation nicht haltbar. Zum einen besteht für Hegel (ebenso wenig wie für Kant, dem das Problem meistens zugeschrieben wird) kein Paradox der Autonomie, weil das Gesetz, das sich das Subjekt gibt, im Willen selbst verankert ist (vgl. Rödl 2011, 111). Indem Hegel Vernunft und Willen identifiziert, hat die Selbstbestimmung einen Grund, der ihr eigener Grund ist. Andernfalls ließe sich das Problem auch weder durch soziale Vermittlung noch durch eine empirische »Bewahrheitung« beheben (vgl. ebd. 96). Paradox wird die Selbstbestimmung durch ein Gesetz erst, wenn die Metaphysik des Willens und der Glaube an eine vernünftige Ordnung der Welt entfallen. Die Rede vom Paradox der Autonomie entsteht also durch die Vermischung des Autonomiegedankens mit einem Denken, das die entsprechenden metaphysischen Voraussetzungen aufgibt. Zum anderen ist die Tat des welthistorischen Individuums in Hegels Augen gerade nicht autonom. Sie kann es nicht sein, weil die Möglichkeit eines solchen Aktes, der sich nachträglich als das Immer-schon-Dagewesene erweist, nur besteht, wenn die Bedingungen für Freiheit noch nicht erfüllt sind. Autonom kann das Individuum jedoch in Hegels Augen erst da sein, wo es solcher Akte nicht mehr bedarf. Des Weiteren ist die welthistorische Tat in Hegels Augen nur deshalb nachträglich gerechtfertigt, weil er die Geschichte teleologisch als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit versteht. Durch die Tat verwirklicht sich das ontologisch Notwendige. Entsprechend bleibt auch dann, wenn man mit Finkelde mitgeht und Hegels metaphysische Annahmen aufgibt, der revolutionäre Akt als Freiheitskonzeption unbefriedigend. Jenseits von Hegels ontologischen Prämissen fehlt ihm jeglicher Maßstab und es ist das zufällige Resultat der soge-



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nannten »Tathandlung«, d. h. die pure Faktizität, die zum Kriterium für »Wahrheit« wird. Damit sind dem Relativismus Tür und Tor geöffnet. IV.2  System der Freiheit ?11

»Nun sag, wie hast du’s mit der individuellen Freiheit ?« – So lautet die Gretchenfrage, auf Hegel umgemünzt. Wie im zweiten Kapitel dargestellt, versteht Hegel das sittliche Individuum von der sittlichen Substanz her und vertritt, dass seine Interessen und Zwecke nur vom Allgemeinen her Wert und Bedeutung haben.12 Das Subjekt kann also nicht seine individuellen Neigungen gegen das Allgemeine geltend machen. Eine eigenständige moralische Position spricht Hegel dem Individuum ebenfalls ab. Lediglich unter Verhältnissen, die der menschlichen Freiheit gar nicht angemessen sind, gesteht Hegel dem formellen Gewissen eine gewisse Berechtigung zu. Aber auch hier soll das Individuum nicht Widerstand leisten, sondern sich vielmehr in so etwas wie eine innere Emigration zurückziehen (vgl. GPR § 138). Ohnehin scheint Hegel nicht zu meinen, dass dies seine eigene Gegenwart und die moderne Zeit überhaupt betreffen würde. Nicht von ungefähr steht Hegel deshalb in dem Ruf, eine gegenaufklärerische Konzeption zu vertreten, die letztlich in einen Totalitarismus führt (s. o. Kap. II.3). Aber eine solche Kritik greift zu kurz, wenn sie lediglich wieder die individuelle Überzeugung geltend machen will. Denn Hegels Kritik am Standpunkt des formellen Gewissens ist triftig. Insofern das Individuum nur in Bezug auf die Allgemeinheit Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung erlangt, kommt es nicht über diese Allgemeinheit hinaus. Es kann höchstens hinter sie zurückfallen. Eine Entmächtigung des Subjekts, die in der Gebundenheit seiner Per­ spektive begründet ist, ist hier unvermeidlich. Damit stellt sich jedoch die Frage, ob und wie überhaupt eine substanzielle Kritik an den gegebenen Verhältnissen möglich ist. Dieses Problem betrifft meiner Meinung nach nicht nur Hegels Theorie. Die moralische Eigenständigkeit des Subjekts gegenüber dem Allgemeinen stellt vielmehr ein schwieriges systematisches Problem dar, das bei Hegel

11 Friedrich Heinrich Jacobi hat in seiner Spinoza-Kritik auf der Unmöglichkeit insistiert, System und Freiheit zu vereinbaren (vgl. Jacobi 2004, 23 ff.). Diese Frage, ob es ihm gelingt, System und individuelle Freiheit zusammen zu denken, stellt sich auch für Hegel. 12 Dies geht so weit, dass Hegel die Subjekte in den Grundlinien als Akzidenzen des Sittlichen begreift (vgl. GPR § 145). Diese Bestimmung nimmt er in der Enzyklopädie zurück: »Die Person aber weiß als denkende Intelligenz jene Substanz als ihr eigenes Wesen, [und] hört in dieser Gesinnung auf, Akzidens derselben zu sein« (Enz § 514). Das Problem, dass das Subjekt keinerlei Eigenständigkeit gegenüber der Substanz hat, bleibt damit aber erhalten.

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lediglich aufgrund der logischen Konsequenz und Systemanlage in besonderer Schärfe hervortritt. Ich gehe in diesem Unterkapitel in vier Schritten vor: Zunächst lote ich das kritische Potential aus, das Hegel dem subjektiven Willen in der in sich reflektierten Sittlichkeit zuerkennt. Gegen eine Kritik, die Hegel undifferenziert als totalitär und konformistisch verurteilt, mache ich Hegels Einsicht geltend, dass das Subjekt den gegebenen Wirklichkeitszusammenhang mit seiner Kritik nicht überholen kann, und zeige die Möglichkeiten und Grenzen begrifflicher Kritik auf. Im zweiten Schritt setze ich Intersubjektivität und Objektivität in ein Verhältnis. Ich argumentiere, dass Hegel zwar in gewisser Weise eine Intersubjektivitätstheorie vertritt, dass aber die Individuen nicht im eigentlichen Sinne die Wirklichkeit gestalten. Anerkennung ist entscheidend für die Genese von Subjektivität und für das In-Geltung-Setzen objektiver Strukturen, deren Notwendigkeit jedoch ontologischer Natur ist. Entsprechend zeige ich im dritten Schritt, dass es die Weltgeschichte ist, die das relevante Urteil über die objektiven Strukturen fällt. Die sittlichen Verhältnisse haben ihre letzte Begründung in einem teleologischen historischen Prozess. Hegel schließt damit Wirklichkeit und moralisches Urteil in einer fragwürdigen Weise kurz. Außerdem drängt sich die Frage auf, was nach der von Hegel angenommenen vollständigen Realisierung der Freiheit im modernen Staat geschieht. Abschließend argumentiere ich, dass Hegel mit seinen Mitteln keine Möglichkeit hat, individuelle Freiheit befriedigend zu denken. Frei ist einzig der Geist oder das Absolute. Diese Kritik leitet zum zweiten Teil der Arbeit über, in dem ich mit Levinas eine Subjektivitäts- und Gewissenskonzeption darstelle, die – wie ich meine, als die strukturell einzig mögliche – in der Lage ist, Einspruch gegen die Allgemeinheit zu erheben, ohne hinter Hegels Gewissenskritik zurückzufallen. IV.2.1  Möglichkeiten und Grenzen einer begrifflichen Kritik am Gegebenen

Von zentraler Bedeutung für die Evaluation von Hegels Gewissenskonzeption ist die Frage nach der Möglichkeit von Kritik. Es geht dabei nicht nur um Kritik innerhalb des gegebenen sittlichen Rahmens, sondern auch und vor allem um die Frage, ob und wie dieser Rahmen selbst kritisiert werden kann.13 Denn 13 Dieser Frage geht – unter anderen Vorannahmen – Rahel Jaeggi nach: »Wo Lebensformen als Lebensformen in Frage stehen, debattiert und kritisiert werden, geht es nicht nur darum, wie man innerhalb eines gegebenen Rahmens von Zwecksetzungen am besten im Sinne des Erreichens dieser Zwecke agiert oder wie innerhalb eines gegebenen Rahmens von Wertorientierungen die angemessenste Einlösung dieser Orientierungen vorzustellen ist. Es geht vielmehr um die Thematisierung solcher Zwecke selbst« (Jaeggi 2014, 25).



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Letzteres scheint problematisch zu sein: Ich habe gezeigt, dass das sogenannte formelle Gewissen, das sich gegen das Allgemeine auf seine Partikularität beruft, in Hegels Augen nicht nur böse, sondern zugleich auch unfrei ist (s. o. Kap. II). Freie Selbstbestimmung ist nur möglich, indem das Subjekt das Allgemeine als seinen eigenen Willen und sich darin als frei begreift. Hegel meint so, den Gegensatz zwischen individueller Freiheit und den objektiven Bestimmungen der Sittlichkeit überwinden zu können. Die Kehrseite dieser Konzeption ist jedoch, dass damit eine grundlegende Kritik an der Sittlichkeit ausgeschlossen zu sein scheint.14 Wenn das Individuum restlos in der Sittlichkeit aufgeht, fehlen ihm schlicht die Ressourcen einer solchen Kritik. Ernst Tugendhat spricht angesichts dieser Situation von einer »moralischen Perversion« (Tugendhat 1979, 349). In seinen Augen lässt Hegel »[d]ie Möglichkeit eines selbstverantwortlichen, kritischen Verhältnisses zum Gemeinwesen« (Tugendhat 1979, 349) nicht zu. Eine solche Kritik fällt allerdings hinter das von Hegel erreichte Reflexionsniveau zurück, solange sie nicht angeben kann, worin dieses kritische Verhältnis gegründet sein soll, woher also das Subjekt seine Selbstständigkeit und seine Ansprüche Geltung sollen beziehen können. Einige Berühmtheit hat in diesem Zusammenhang Hegels sogenannter »Doppelsatz« erlangt: »Was vernünftig ist, das ist wirklich ; und was wirklich ist, das ist vernünftig.« (GPR 24) Hegel scheint hier unumwunden Wirklichkeit und Vernunft zu identifizieren. Entgegen dem ersten Anschein ist der Satz jedoch nicht so zu verstehen, dass alles, was faktisch vorhanden ist, dadurch auch schon als vernünftig sanktioniert sein soll. In Bezug auf eine solche Deutung gibt Hegel einige Jahre nach Veröffentlichung der Grundlinien zu bedenken, dass »überhaupt das Dasein zum Teil Erscheinung und nur zum Teil Wirklichkeit ist« (Enz § 6). Wie im ersten Kapitel gesehen, hat Wirklichkeit im terminologischen Sinne für Hegel allein das Begriffliche. Dasjenige, was also am faktisch Gegebenen nicht begrifflich verfasst ist, ist mithin nicht als wirklich zu betrachten (vgl. Enz § 142, Zusatz). Um die Wirklichkeit als vernünftig zu erkennen, muss man vielmehr in der zufälligen Gestaltung den vernünftigen Kern erkennen. Dem entspricht Hegels Auffassung, dass das Gute in der Wirklichkeit schon vorhanden ist (s. o. Kap. II). Wer die Wirklichkeit überspringt, kommt dagegen zu gar keiner kohä­renten Konzeption des Guten. Hegel redet also mit dem Doppelsatz keiner »Pseudo14 Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass Hegel zwar in dem Moralitäts-Kapitel bemerkt, dass er das wahrhafte Gewissen, »welches in der in der Folge erst vorkommenden sittlichen Gesinnung enthalten ist« (GPR § 137, Anmerkung), nur genannt habe, um Missverständnissen vorzubeugen, dieses jedoch in der Sittlichkeit nie mehr thematisch wird. Dies hat seinen Grund darin, dass das Sittlichkeits-Kapitel für Hegel der Rahmen des wahrhaften Gewissens und die Entfaltung seiner Pflichten ist ; es deutet aber auch in die Richtung des gerade benannten Problems.

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Auto­rität des bloß Gegebenen« (McDowell 2004, 202) das Wort. Aber er kritisiert das Spekulieren über bloße Möglichkeiten, die keine Realität haben. Solche Spekulationen sind in seinen Augen gehaltlos und dienen zumeist als Vorwand für die Vernachlässigung realer Verpflichtungen. Entsprechend muss auch Kritik, soll sie berechtigt sein, an der Wirklichkeit ansetzen. Damit sind innerhalb von Hegels Konzeption zwei Möglichkeiten von Kritik gegeben: Das Individuum kann das faktisch Gegebene kritisieren, weil es seinem Begriff nicht entspricht (vgl. Neuhouser 1998, 44 ; Neuhouser 2000, 257) ; oder es kann einen Widerspruch in der Konstitution der Sittlichkeit ausweisen.15 Es ist also innerhalb des hegelschen Systems sehr wohl eine rationale Kritik an den sittlichen Verhältnissen und dem Staat möglich. Diese bleibt jedoch stets in der begrifflichen Struktur der fungierenden Sittlichkeit verhaftet. Es gibt keinen Ort, von dem her das Subjekt das Allgemeine selbst in Frage stellen könnte, da dieses Allgemeine den unhintergehbaren Hintergrund für jede Reflektion darstellt. Es geht also nicht darum, dem Subjekt seine reflexive Struktur abzusprechen.16 Das gewissenhafte Subjekt kann aus dem Wirklichkeitszusammenhang heraus auf diese Normen reflektieren, aber es kann den Zusammenhang selbst dabei nicht überbieten. Das Weltbild, auf dem seine Gewissheit aufruht, setzt sich gewissermaßen aus Partikeln der Wirklichkeit zusammen ; es kann somit stets nur schlechter, niemals aber besser als diese sein. Die Reflexion auf die Normen steht in Kontinuität mit der Selbsthervorbringung des Bewusstseins überhaupt (s. o. Kap. I): Sie wird nur notwendig, wenn es autoritative Inhalte gibt, die in Konflikt geraten (vgl. Bowman 2017, 31). Ein solcher Konflikt erfordert eine neue Regelung oder Norm, wo es bislang keine gab. Die kritische Reflexion der sittlichen Verhältnisse leitet einen Prozess der Vereinheitlichung und zunehmenden Bestimmtheit der Sittlichkeit an. An diesem Prozess mitzuwirken ist die Rolle, die Hegel dem wahrhaften Gewissen zudenkt (vgl. Moyar 2010, 24 f.). Radikale Kritik oder revolutionäre Akte lehnt er dagegen ab (vgl. Hardimon 1994, 122 ; Neuhouser 1998, 44 f. ; Siep 1981b, 530). Solche Taten sind unmittelbar das Gegenteil dessen, was sie zu sein vorgeben, weil sie in ihren Konsequenzen unvorhersehbar sind und drohen, das erreichte Niveau an Freiheit zurückzunehmen. 15 Dies entspricht im Wesentlichen Rahel Jaeggis Unterscheidung zwischen interner und immanenter Kritik (vgl. Jaeggi 2014, 276 ff.). 16 Gegen einen solchen Vorwurf scheint Traugott Koch zu argumentieren: »Gerade das durch die objektive Sphäre von Recht und Staat […] bestimmte und so reale Subjekt unterscheidet sich im Leben in dieser Sphäre gleichsam ›noch einmal‹ von ihr ; und es tut das in seinem Gewissen. […] Dadurch […] ist es überhaupt Subjekt und nicht nur ein ›Ensemble‹ gesellschaftlicher oder staatlich-kultureller ›Verhältnisse‹. So allein ist es ein sein Leben in den sozialen, rechtlichen und sittlichen Verhältnissen verantwortendes Subjekt.« (Koch 2000, 172)



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Hegel hält es für das Recht des subjektiven Willens, das Gute, d. h. das geltende Recht und die fungierenden sittlichen Verhältnisse, einzusehen (s. o. Kap. II.3.2). Der individuelle Mangel an Einsicht tut allerdings »dem Rechte der Objektivität keinen Eintrag« (GPR § 132). D. h. auch wenn das Subjekt die geltende Konzeption des Guten ablehnt oder diese zwar billigt, aber bezweifelt, dass das Gute in den fungierenden Institutionen realisiert wird, ist dies letztlich unerheblich. Hegel ist der Meinung, dass sich das Subjekt allzu leicht über das Wahre täuscht (vgl. ebd.). Dass andersherum das Allgemeine entgleisen könnte, ist dagegen nicht seine Sorge. Mit diesem Zutrauen versieht er zwar nicht das Allgemeine, wie es faktisch existiert, sondern das Allgemeine, so wie es vernünftig und wirklich ist. Aber es fehlt eine Differenzierung zwischen der Wirklichkeit und einem die Wirklichkeit transzendierenden Standard, von dem her das Wirkliche noch einmal zu beurteilen wäre.17 Hegel kann deshalb nicht zwischen der eigensinnigen Besonderung des Gewissens und seinem berechtigten Einspruch und Widerstand gegen ungerechte Verhältnisse unterscheiden. Hier zeichnet sich eine Grenze seiner Theorie ab, die gerade dort verläuft, wo sich die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit einer Handlung nicht mehr im System ausweisen lässt. Hegel ist keinesfalls Vertreter einer blinden und gedankenlosen Konformität mit den sittlichen Bestimmungen (vgl. Neuhouser 1998, 42). Jedoch macht er deutlich, dass rationale Kritik nicht über die Wirklichkeit hinausspringen kann. Zwar können wir uns von dem, was uns geprägt hat, lösen. Aber wir können es nur dort, wo überhaupt ein Unterschied sichtbar wird und sich reale Alternativen bieten. Sittlichkeit lässt sich entsprechend nur von innen heraus, an ihren eigenen Widersprüchen, entwickeln. Jenseits des verfügbaren Wirklichkeits- und Wissenszusammenhangs ist dem Subjekt kein Standpunkt möglich, vom dem her es das Ganze noch einmal überholen könnte. Die »unüberbietbare[] Radikalität«, mit der Hegel »die Konsequenzen aus dieser absoluten Immanenz für die Darstellung der Wirklichkeit […] zieht« (Falk 2002, 178) bedeutet damit letztlich die Affirmation des Bestehenden (vgl. Iber 2002, 189 ; Honneth 2011, 26). Das Individuum ist in die Totalität eingeschlossen – nicht, indem es an eine Grenze stößt – über die wäre es unmittelbar hinaus –, sondern gerade dort, wo sich keine Grenze bemerkbar macht.18

17 »Hegel hat keine Grenzen zwischen einem vernünftigen, einem ›defigurierten‹ und einem nicht mehr rechtmäßigen Staat angegeben, die Unterschiede in der ›Loyalität‹ oder gar die Pflicht zum Widerstand begründen könnten.« (Siep 1981b, 529) 18 »Wir entkommen den Grenzen des Denkens niemals nicht deshalb, weil wir in so etwas wie der Sphäre des Denkens gefangen wären, sondern weil es gar keine Grenzlinie zu überqueren gibt.« (Pinkard 2004, 266)

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IV.2.2  Das Verhältnis von Intersubjektivität und Objektivität

Neben der horizontalen Anerkennung zwischen Individuen kennt Hegel die Struktur vertikaler Anerkennung zwischen Individuum und Gott (Phänomenologie) bzw. Individuum und Staat (Rechtsphilosophie). Wie genau das Verhältnis von intersubjektiver Anerkennung und dem Anerkanntsein sittlicher Institutionen zu verstehen ist, bleibt von Hegel aufgrund der Anlage seiner Werke unthematisiert. Dies ist, meiner Meinung nach, kein Zufall, sondern verweist auf ein grundlegendes Problem: Die Subjekte entscheiden nicht im eigentlichen Sinne über die Gestalt der Sittlichkeit. Im Folgenden argumentiere ich, dass intersubjektive Anerkennung subjektivierende Funktion hat und die Individuen den sittlichen Normen und Institutionen verbindet, während die Bestimmung der Normen und Institutionen aus der Logik, die der begrifflichen Verfassung der Objektivität inhäriert, hervorgeht. Die sittlichen Verhältnisse werden durch das Handeln empirischer Subjekte realisiert und haben nur als Anerkannte Geltung, aber die Individuen gestalten diese Formen nicht im eigentlichen Sinne. Entgegen einer Lesart, die Hegel als Denker einer intersubjektiv konstituierten Sozialität versteht, stelle ich also heraus, dass Objektivität für Hegel nicht auf Intersubjektivität reduzierbar ist. Vielmehr, so meine These, realisiert sich durch intersubjektive Anerkennung hindurch ontologische Notwendigkeit. Das aber rückt die in der wechselseitigen Anerkennung realisierte Freiheit in ein anderes Licht. Zunächst einmal basiert das Recht insgesamt auf der Anerkennung seiner Bestimmungen durch die Individuen. Anders ließe sich nicht verständlich machen, dass diese die subjektive Freiheit des Einzelnen nicht beschränken. Dass das Allgemeine so als Anerkanntes »geltende Macht« (Enz § 486) ist, markiert Hegel zufolge eben den Unterschied des »Reich[s] der verwirklichten Freiheit« (GPR § 4) gegenüber dem Naturrechtsstaat, dessen Prinzip das »Dasein der Stärke und das Geltendmachen der Gewalt« (Enz § 502, Anmerkung) ist. In logischen Begriffen ausgedrückt hat das System der Freiheitsbestimmungen die Form der Notwendigkeit, deren erscheinender Zusammenhang ihr Anerkanntsein ist (vgl. Enz § 484). D. h. ihr Anerkanntsein hebt die Notwendigkeit der Bestimmungen in Freiheit auf (s. o. Kap. I).19 Allerdings ist der allgemeine Wille (franz. volonté generale) nicht notwendig der Wille aller (franz. volonté de tous). Normative Autorität ist in Hegels Augen nicht demokratisch verfasst ; sie beruht auf dem Willen der Menschen nur, insofern dieser dem Begriff des Willens entspricht. Entsprechend 19 Dieser Anerkennung muss nicht gesondert Ausdruck verliehen werden. Indem ich in einer Gesellschaft lebe und mich ihren Bestimmungen nicht entgegenstelle, erkenne ich sie faktisch an (vgl. Finkelde 2014b, 121). Das Anerkanntsein der Institutionen referiert so auf die »immer schon« gegebene Zustimmung zum Recht.



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kann Anerkennung nicht beliebige Bestimmungen legitimieren ; die Anerkennbarkeit einer Sache liegt vielmehr in ihrer logischen Struktur begründet. Als nächstes stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von intersubjektiver Anerkennung und dem Anerkanntsein der Rechtsbestimmungen und Institutionen. Wie im dritten Kapitel gesehen, ist das Begehren nach Anerkennung die Triebkraft des Sozialen, die sich subjektivierend auswirkt und Ordnungen hervorbringt. Intersubjektive Anerkennung ist so der Modus, in dem Umbrüche und Neujustierungen des Sittlichen stattfinden (vgl. Moyar 2011, 145). Die instituierten Formen des Rechts bilden dagegen vielmehr die stabile Welt, in der Subjekte sich herausbilden und ihre Lebensvollzüge gestalten. Sie sind zwar prinzipiell auch beweglich, im paradigmatischen Fall gehen sie aber dem einzelnen Individuum voraus und überdauern es auch. Dabei stellen sie zugleich das Element dar, in dem alle Intersubjektivität stattfindet und durch das sie strukturiert ist. So ist etwa die erfüllte Anerkennung, wie sie in der Versöhnung der Gewissen erreicht wird, in Hegels Augen nicht voraussetzungslos ; sie kann sich nur ereignen, wenn Rechtszustand und sittliche Institutionen gegeben sind. Wesentlich ist nun, dass intersubjektive Praktiken die sittlichen Bestimmungen zwar realisieren und in Geltung setzen, aber nicht im eigentlichen Sinne über sie entscheiden. Die sittlichen Verhältnisse kommen nicht ohne die Tätigkeit der Menschen zustande, aber es sind trotzdem nicht im eigentlichen Sinne die Menschen, die sie erschaffen und anders erdenken könnten. In ihrer begrifflichen Bestimmtheit gehen diese Bestimmungen vielmehr mit Notwendigkeit aus der onto­ logischen Struktur hervor. Genese und Geltung haben eine intersubjektive und eine objektive oder ontologische Seite. Die objektive Seite wird im Sinne einer heutzutage akzeptablen Interpretation oftmals unterschlagen oder wenigstens zu einer allgemeinen Vernünftigkeit hin abgeschwächt.20 In Hegels Augen entstehen diese Bestimmungen jedoch nur und haben Bestand, weil dies ontologischer Notwendigkeit entspricht. Menschliche Praxis ist notwendig für ihre Realisation, aber sie erschafft nicht die logische Struktur, sondern realisiert nur, was an sich schon ist. Deutlich wird dies insbesondere an der Versöhnung zwischen den Gewissen: Hier soll eine individuelle Freiheit zur Vollendung kommen, die aber keine realen politischen Konsequenzen hat (vgl. Pippin 2004a, 265 f.). Selbstbestimmung ist damit tatsächlich eine soziale und geschichtliche Leistung (vgl. Pinkard 2011, 53), aber der Prozess, in dem sie realisiert wird, ist zugleich und wesentlich logischer Natur. Nur so ist Autonomie in Hegels Sinne überhaupt verständlich zu machen.21 Empirische Intersubjektivität könnte da20 Beispiele für eine solche Lesart sind etwa Brandom (2019), Khurana (2011) und Pinkard (2011). 21 Die Teilhabe an der Sittlichkeit macht nur deshalb frei, weil die sittlichen Verhältnisse begrifflich verfasst sind: »Wenn Selbst-Gesetzgebung rationaler Normen nicht ein dem Zufall

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gegen niemals zu Autonomie führen. Nimmt man Hegel hier aber ernst, »dann bleibt kein angebbarer Ansatzpunkt für die Entfaltung der Vorstellung eines sozialen Raumes, in dem durch irgendwelche Aktivitäten oder Praktiken des Gründe-­Gebens Kategorien konstituiert werden können« (Horstmann 2004, 101).22 Damit ist das, was Ludwig Siep als eine Asymmetrie zugunsten des Wir bezeichnet (Siep 2006, 221), tatsächlich die absolute Vormachtstellung der ontologischen Strukturen der Wirklichkeit.23 IV.2.3  Die List der Vernunft und das Urteil der Geschichte

Realphilosophisch betrachtet ist die letzte und umfassende Dimension der Wirklichkeit für Hegel die Weltgeschichte. Diese Sphäre, die den Abschluss der Grundlinien ausmacht, stellt sich logisch als Negation der besonderen Staaten und sittlichen Verhältnisse dar, die in ihr aufgehoben sind (vgl. GPR § 341).24 Die vorherrschenden sittlichen Verhältnisse haben so ihren letzten Grund in der geschichtlichen Entwicklung (vgl. Ottmann 1997, 267). Sie sind damit nicht nur faktisch, sondern auch geltungstheoretisch begründet, weil Hegel die Geschichte teleologisch als Fortschritt in dem Bewusstsein der Freiheit versteht.25 Als die Bewegung der Entfaltung und Selbsterfassung des Geistes (vgl. GPR § 343) hat die Geschichte die Doppeldeutigkeit, herrschende Macht und zugleich normative Kraft zu sein (vgl. GPR § 342). Indem ihr Urteil absolute Geltung hat und der überlassenes Tappen im Dunkeln sein soll, dann muss es als die Anerkennung einer Autorität angesehen werden, welche den Normen ohnehin zukommt.« (McDowell 2004, 204) Die Autorität der Normen entsteht also nicht erst durch die Anerkennung (vgl. ebd.). 22 Ähnlich vertritt Ludwig Siep, dass »der Deutungsmacht des autonomen Gewissens und der Akzeptanz von ›Innovationen‹ durch die Gemeinschaft enge Grenzen gesetzt [sind]« (Siep 2008, 436). 23 Einige Autoren problematisieren, dass in der vertikalen Anerkennungsbeziehung zwischen Einzelnem und Allgemeinem die Symmetrie zwischen den Relaten, die in der intersubjektiven Anerkennung das Freiheitliche ausmacht, nicht gegeben ist, vgl. Köhler (2002, 94 f.) ; Peperzak (2007, 204) und Siep (2011, 120 f.). Brady Bowman argumentiert dagegen, dass bereits in der Interaktion zwischen handelndem und urteilendem Gewissen eine Asymmetrie besteht, die in der Beziehung zwischen Individuum und Staat wiederkehrt (vgl. Bowman 2017, 80). Meiner Interpretation zufolge ist der entscheidende Punkt weniger die Asymmetrie zwischen Ganzem und Teilen als vielmehr die ontologische Verfassung dieses Verhältnisses. 24 Für Hegel gibt es keine den einzelnen Staaten übergeordnete höhere Instanz ; die Staaten befinden sich gleichsam im Naturzustand gegeneinander (vgl. GPR § 333). Adriaan Peperzak argumentiert, dass diese Konstellation den Prinzipien von Hegels Logik widerspricht (vgl. Peperzak 2007, 203 f.). Allen Wood argumentiert, dass die nationalstaatliche Perspektive vielleicht zu Hegels Zeit angemessen war, es aber heute nicht mehr ist (vgl. Wood 2011, 306). 25 Entsprechend wird Hegels Theorie ohne Teleologie relativistisch, wenn man den Grenzbegriff absoluten Wissens aufgibt (vgl. Putnam 1981, 158).



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letzte Bezugspunkt für moralische Urteile ist, schließt Hegel Wirklichkeit und Gerechtigkeit kurz. Das Weltgericht tritt damit – zu Unrecht, wie ich meine – an die Stelle des moralischen Urteils. Das Gewissen wird oftmals als eine Art innerer Rechtsprechung verstanden. So stellt Kant das Gewissen als »Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen« (MS 438) vor, in dem das Ich als noumenales oder Vernunftwesen gegen sich selbst als sinnliches Individuum streitet (vgl. ebd.).26 Kant zufolge kann das Individuum in dieser Weise über sich selbst Recht sprechen, weil es als vernünftiges Wesen das moralische Gesetz in sich trägt. Diese Autonomie-Konzeption weist Hegel zurück (s. o. Kap. II.2.1). Ihm zufolge kann sich das Individuum autonom bestimmen, insofern es in die vernünftigen Strukturen der Sittlichkeit eingelassen ist (vgl. II.3.2). Die Sittlichkeit aber, die den Grund für abstraktes Recht und Moralität abgibt, ist selbst noch nicht der letzte Grund, sondern ist ihrerseits in der teleologischen Struktur der Geschichte gegründet. Ihr Bestehen in der Zeit rechtfertigt sie. Das bedeutet aber, dass auch das Gewissen seine Sanktionierung in letzter Instanz im Urteil der Geschichte hat (vgl. GPR  § 340).27 Ob also das Individuum, das sich gegen das Allgemeine wendet, welthistorische Bedeutung hat oder ein Verbrecher ist, entscheidet das Weltgericht (vgl. Rosenzweig 2010, 444 ; Siep 2008, 429). Denn im Verlauf der Geschichte erweist sich, ob seine Tat eine neue Ordnung hervorgebracht haben wird oder ob die alte Ordnung bestehen bleibt. Dieses Urteil der Geschichte ist in Hegels Augen absolut, d. h. es gibt keinen weiteren Standpunkt, von dem her gegen es Einspruch erhoben werden könnte. Die Geschichte hat diesen absoluten Charakter, obwohl sie durch das Handeln von Menschen hervorgebracht wird. Dies liegt darin begründet, dass sie aus der Überkreuzung verschiedener Zwecke und Intentionen hervorgeht, deren Resultat nicht notwendig einer dieser Intentionen entspricht. Das einzelne Individuum – mit Ausnahme der welthistorischen Individuen, deren Zwecke für einen schicksalhaften Moment mit denen des Weltgeistes zusammenfallen – lenkt mit seinem Handeln nicht den Lauf der Geschichte. Sein Tun fügt sich vielmehr dem allgemeinen Prozess ein, der aus der Perspektive der Einzelnen als ein absolut Gegebenes erscheint. Dabei verwirklicht sich das Vernünftige durch die Handlungen der Akteure hindurch, ohne dass diese es intendierten oder sich dessen auch nur 26 Während Hegels Weltgeschichte sonst zumeist mit Kants Weltbürgerrecht und seinem Staatenbund in Verbindung gebracht wird (vgl. Bourgeois 1995 ; Horstmann 1991), stelle ich vielmehr heraus, dass bei Hegel das Urteil der Weltgeschichte an die Stelle des moralischen Urteils tritt. 27 Das Urteil der Geschichte tritt systematisch an die Stelle des Jüngsten Gerichts. Hegel säkularisiert damit das religiöse Heilsgeschehen, indem er es in der Geschichte selbst stattfinden lässt.

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bewusst wären.28 Der geschichtliche Fortschritt ist so das nicht-intendierte Resultat intentionalen Handelns. Den Umstand, dass sich die Geschichte durch die Subjekte hindurch, aber gewissermaßen »hinter ihrem Rücken« vollzieht, bezeichnet Hegel als List der Vernunft (vgl. Enz § 209).29 Die Vernunft bedient sich der Menschen gleichsam als ihrer Werkzeuge. Dabei arbeiten die Individuen, indem sie ihren eigenen Zwecken folgen, zugleich am Fortschritt der objektiven Verhältnisse und an ihrem eigenen Untergang (vgl. GPR § 344), denn sie erfahren den Fortschritt als Leiden und Zerstörung. Die Vernunft »bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus sich heraus« (VPG 49), sondern sie opfert die Individuen, die den Fortschritt vollbringen (vgl. ebd.). Ihr Untergehen ist das Werden der Geschichte. Hegel deutet Leiden und Tod damit als notwendiges Moment des geschichtlichen Fortschritts. Das Erkennen dieser Notwendigkeit, das Hegel der Geschichtsphilosophie beilegt, hat die Bedeutung einer Theodizee (vgl. Enz § 147, Zusatz). Indem das Individuum den Zweck der Geschichte einsieht, kann es sich als Moment des teleologischen Prozesses verstehen. Die Versöhnung mit der eigenen Endlichkeit bestünde mithin darin, diese als Verwirklichung des Göttlichen zu begreifen (vgl. Heinrich 2004, 75). Insofern jedes Aufbegehren gegen die absolute Macht der Substanz ohnehin nichtig ist (vgl. GPR § 323), spricht Caroline Heinrich jedoch treffend von einer »Erpressung zur Versöhnung« (Heinrich 2004, 71). Hegel zufolge ist die Realisation von Freiheit in der Welt zugleich die Herstellung von Gerechtigkeit.30 Hegel lehnt die Vorstellung, dass alle Menschen von Natur aus gleich seien und die Ungleichheit durch die Sittlichkeit hervorgebracht würde, vehement ab. In seinen Augen gibt es Gleichheit überhaupt erst im Rechtszustand. Dabei erweist sich die abstrakte Gleichheit als Rechtsperson unmittelbar als widersprüchlich, indem sie der zugleich vorhandenen Ungleichheit (etwa des Besitzes oder des angeborenen Talents) keine Rechnung trägt (vgl. GPR § 49). Gleichheit kann also in Hegels Augen nur richtig verstanden werden, wenn sie Ungleichheit nicht verleugnet, sondern mit ihr umgeht. Dabei ist das entscheidende Moment der Gleichheit für den Menschen die Freiheit.31 D. h. die 28 Hegel nimmt damit Adam Smiths invisible hand zum Modell für das Denken der Geschichte (vgl. Ottmann 1997, 276). 29 Hegel meint offensichtlich nicht, dass sich etwas anderes als die Vernunft durch die Individuen hindurch durchsetzen könnte: »Der Fall, daß hinter der Täuschung etwas Irrationales wirksam ist (Psychoanalyse, Ideologiekritik), spielt bei Hegel keine Rolle.« (Quante 1993, 110) 30 Axel Honneth fasst die Grundlinien ohne Umschweife als Theorie der Gerechtigkeit auf (vgl. Honneth 2011, 17 ; Honneth 2001). 31 Dass »die individuelle Freiheit […] den normativen Grundstein aller Gerechtigkeitsvorstellungen [bildet]« (Honneth 2011, 38), weist Axel Honneth aus: »Keine Sozialethik, keine Gesellschaftskritik scheint heute mehr den Denkhorizont transzendieren zu können, der sich mit der



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Herstellung von Gerechtigkeit fällt mit der Entwicklung der Bestimmungen der Freiheit selbst zusammen. Insofern Sittlichkeit die bloße Natur aufhebt und Notwendigkeit an die Stelle dieses bloß zufälligen Geschehens setzt, befördert sie zugleich Gerechtigkeit. In Hegels Augen ist die Natur ungerecht, weil dem Individuum hier »rein etwas geschieht« (PhG 340). Gerechtigkeit bedeutet dagegen, dass dem Individuum nur das widerfährt, was es selbst tut, dass es sich also gewissermaßen nur selbst zu spüren bekommt. Diesen Zustand nähert die Sittlichkeit an. Sie kann zwar selbstverständlich nicht jedes Unglück ausschließen, aber sie stellt den Boden dar, auf dem sich das Individuum auf das Notwendige beziehen und vom Zufälligen absehen können soll. Gerechtigkeit ist damit nicht eine abstrakte Gleichheit, aber sie sagt auch nichts über die Fährnisse des einzelnen Individuums aus, sondern meint eine allgemeine Struktur. Die Frage des Einzelschicksals ist für Hegel keine Frage der Gerechtigkeit und auch nicht von philosophischem Interesse. In demjenigen antiken Werk, das unser Nachdenken über den Staat so prägt wie wohl kein zweites, Platons Politeia, stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit als die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Macht (vgl. Platon, Pol. 338a-342e, 473b-474c). Hegel versucht beide zusammenzubringen, indem das, was als Macht in der Welt wirkt und sich durchsetzt, zugleich das Gerechte ist. Damit gerät seine Theorie jedoch in den Verdacht, Macht vor Recht zu setzen und das, was sich gewaltsam durchsetzt, auch noch mit den »Weihen der Vernunft« zu versehen (vgl. Ottmann 1997, 267 ; Theunissen 1978, 353). Letztlich urteilt die Durchsetzungsfähigkeit über die Gerechtigkeit (vgl. Ilting 1976, 50). Hegels Geschichte erweist sich damit als Geschichte der Sieger (vgl. Benjamin 1974, 696), die das, was sich zur Geltung zu bringen weiß, zugleich auch normativ sanktioniert. Unberücksichtigt und unsichtbar bleiben dabei aber die Opfer der Geschichte.32 Indem die Legitimität der neuen Ordnung völlig abgelöst ist von den historischen Umständen, die sie hervorgebracht haben, wird das Leiden der Individuen zum Verschwinden gebracht (vgl. Heinrich 2004, 55, 68).33 Da die Weltgeschichte die letzte Instanz ist, besiegelt ihr Unglück zugleich auch ihr Unrecht (vgl. OttKopplung der Gerechtigkeitsvorstellung an den Autonomiegedanken seit mehr als zweihundert Jahren in der Moderne eröffnet hat« (Honneth 2011, 37). Selbstbestimmung und die Frage nach Gerechtigkeit fallen zusammen in der Frage nach den eigenen Bedingungen (vgl. Honneth 2011, 39). 32 Hegel spricht dies ganz offen aus: »Dabei, das einzelne Individuen gekränkt worden sind, kann die Vernunft nicht stehen bleiben, besondere Zwecke verlieren sich im Allgemeinen.« (VGP 48 f.) 33 Den Umstand, dass Konsens nicht durch Konsens hergestellt wird, betont Shlomo Avineri und bemerkt, dass »such an event will always have a mark of bastardy written on its face« (Avineri 1972, 231).

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mann 1997, 280). Ja, einige lehnen es ab, überhaupt von »Opfern« der Geschichte zu sprechen: »Wo kein Subjekt ist, das mit Wissen und Willen Zwecke setzt, kann auch nicht von ›Opfern‹ und schon gar nicht von einer ›Verhöhnung‹ der Opfer gesprochen werden. Der ›Geist‹, den Hegel als Subjekt der Geschichte ausmacht, ist keiner moralischen Imputation fähig.« (Jaeschke 2008, 100) Aber gerade, weil dies der Fall ist, ist die Weltgeschichte auch nicht geeignet, ein moralisches Urteil zu fällen. Es ist mithin problematisch, dass unser Gewissen in ihr begründet sein soll.34 IV.2.4  Die Elimination der Freiheit

Die Idee der Freiheit steht im Zentrum von Hegels Philosophie und muss letztlich auch der Maßstab ihrer Bewertung sein. Die entscheidende Frage ist dabei nicht lediglich, ob Hegels Grundlinien den Anspruch reflexiver Freiheit tatsächlich erfüllen ;35 vielmehr steht die Freiheitskonzeption als Ganze zur Disposition. Wie wir gesehen haben, fasst Hegel die Freiheitsproblematik in der Realphilosophie als eine Spannung zwischen Partikularität und Allgemeinheit (vgl. Kap. II). Die entscheidende Frage ist für ihn, ob und wie es gelingt, individuelle Freiheit und Allgemeinheit zu versöhnen (vgl. ebd.). Hegel glaubt dies zu erreichen, indem er sie nach dem Modell der wahren Unendlichkeit als Momente eines einzigen Prozesses denkt (s. o. Kap. I). Diese Konzeption hat zwei problematische Implikationen: Zum einen besteht offensichtlich eine Asymmetrie zwischen Partikularität und Allgemeinheit ; denn während das Individuum jenseits der sittlichen Strukturen nichts ist, verwirklicht sich der Geist zwar durch die Menschheit, kann aber auf das einzelne Individuum ohne weiteres verzichten (vgl. GPR § 145, Zusatz). Was aber in meinen Augen schwerer wiegt, ist der Umstand, dass dem Subjekt in dieser Bezogenheit von Allgemeinem und Einzelnen keine Eigenständigkeit oder Substanzialität gegenüber den universalen Strukturen zukommen kann (vgl. TU 313 f.).36 Es geht mir also nicht um den normativen Vorrang des Sozialen vor der individuellen Selbstbestimmung, sondern um die ontologische 34 So urteilt auch Paul Ricœur: »Hegel glaubte, die Zeit des Rekurses auf das Gewissen hinter sich lassen zu können. […] Das grausame zwanzigste Jahrhundert hat uns gelehrt, daß dies nicht der Fall ist. Dies verhindert nicht, daß das einzig auf sein Urteil zurückgeworfene Gewissen niemals vor einer Verwechslung von Gut und Böse geschützt sein wird und daß diese Verwechslung selbst das Schicksal des sich selbst überlassenen Gewissens bleibt: Dies gilt es auch weiterhin in dem bewundernswerten § 139 der Grundlinien mitzuhören, in dem Hegel zu schreiben wagt: ›Und so ist die Innerlichkeit des Willens böse‹.« (Ricœur 2015, 414 Fußnote 52) 35 Auf diese Frage geht Michael Theunissen ein (vgl. Theunissen 1982). 36 Wird das Subjekt aus der Spannung zwischen Natur und Rationalität verstanden, ist eine solche Substanzialität nicht denkbar (vgl. HA 68).



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These der Abhängigkeit des individuellen Selbstbewusstseins. Aufgrund der Anlage seiner Theorie kann jeder »Überschuss« des Subjekts über das Allgemeine von Hegel nur als zufällig und entsprechend als heteronom bestimmt, d. h. als nicht abgearbeiteter Rest von Natürlichkeit, begriffen werden. Es ist aber fraglich, ob mit der Bestimmung von Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit überhaupt das Wesentliche der Freiheit erfasst ist. In Hegels Darstellung beinhaltet die Freiheit des Individuums einen doppelten Verzicht: Es muss auf die eigene Zufälligkeit und Naturhaftigkeit verzichten, um allgemein zu werden, und es muss sich andererseits entäußern, d. h. es muss auf die eigene Reinheit verzichten und Zufälliges setzen, um sich zu verwirklichen (vgl. Henrich 1971c, 179). Wie im zweiten Kapitel gesehen, ist diese Entäußerung in der Sittlichkeit eingehegt durch die sittlichen Bestimmungen ; das gewissenhafte Subjekt trifft seine Entscheidungen innerhalb des Ermessensspielraumes, den ihm das sittlich Gegebene lässt. Das Moment individueller Freiheit manifestiert sich dabei in der Bestimmung dessen, was innerhalb des sittlichen Rahmens begrifflich nicht bestimmt ist (s. o. Kap. II.3.1). Indem die Individuen sich bestimmen, bringen sie jene zufälligen Bestimmtheiten hervor, aus denen mit absoluter Notwendigkeit die Wirklichkeit hervorgeht (s. o. Kap. I.1.3). Ihre Entscheidungen und Handlungen sind die »freien, an sich notwendigen Wirklichkeiten« (LII 216), die im Gesamtprozesses der Wirklichkeit aufgehoben werden (s. o. Kap. I.1.3). Dabei sehen die Individuen die Notwendigkeit entweder ein und gliedern sich dem Allgemeinen freiwillig ein oder aber sie gehen folgenlos zugrunde und integrieren sich eben dadurch dem Ganzen. Indem Hegel das Gute mit der – richtig verstandenen – Wirklichkeit identifiziert, ist jeder Versuch, Widerstand zu leisten, von vorneherein hinfällig. Was sich der Notwendigkeit zu widersetzen sucht, ist leicht als Eitelkeit, Selbstsucht oder Unverstand überführt: Es vergeht. Aber damit löst Hegel das Problem der Integration des Einzelnen mit dem Allgemeinen zu gut (s. o. Kap. II). Die von Hegel dargestellte Freiheit ist letztlich nicht die Freiheit des Individuums, sondern die Freiheit des Geistes oder des Absoluten (vgl. Finkelde 2014b, 122, Fußnote 26). Die Realprozesse vermögen nur eine bereits vorgezeichnete Struktur zu entfalten ; ihnen kommt keine eigene Kreativität zu (vgl. Welsch 2008, 664, 668).37 Zwar stimmt es, dass sich die Realisierung der Freiheit nur durch das – rationale und gewissenhafte – Handeln der Menschen auch tatsächlich erfüllt (vgl. Siep 2004a, 366). Die notwendigen Strukturen etablieren sich 37 Es macht dabei keinen Unterschied, ob die logischen Bestimmungen immer schon vorliegen oder sich erst in dem Prozess realisieren. Indem das Prinzip der Denkbestimmungen ihre Negativität ist, ist der Prozess so oder so durch die logische Notwendigkeit bestimmt. Würde der reale Prozess dagegen als frei begriffen, ließe sich einerseits seine Gerichtetheit nicht mehr erklären ; vor allem aber würde seine normative Geltung entfallen.

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also nicht unabhängig von unserem Einsatz (vgl. Moyar 2004, 227). Aber das trifft nicht den Punkt. Denn das eigentliche Problem besteht darin, dass dem Subjekt keinerlei Eigenständigkeit oder Substanzialität zukommen kann, weil alle Normativität aus der sich selbst begründenden Wirklichkeit hervorgeht.38 Die Kehrseite dieser Konstruktion ist, dass Hegel für die Zeit nach ihm nichts offen lässt. Da die Wissenschaft der Logik nicht nur alle vorherigen philosophiegeschichtlichen Positionen in sich aufnimmt und ihnen ihren Ort im System zuweist, sondern für sich selbst zur reflexiven Schließung kommt, kann es keine weiteren Kategorien oder Denkbestimmungen nach der absoluten Idee geben. Die gleiche Schließung manifestiert sich in der Realphilosophie: Wie oben gesehen meint Hegel, dass in dem modernen Staat Freiheit vollständig realisiert ist (s. o. Kap II). Die Zeit nach Hegel kann lediglich hinter diese Errungenschaft zurückfallen. Auch wenn Hegel dies nicht explizit sagt, ist der Geschichte, deren τέλος in seinen Augen der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit ist, ebenso wenig etwas hinzuzufügen wie dem Denken der Logik. In diesem Sinne erfasst die provokante These vom Ende der Geschichte durchaus einen wesentlichen Zug der hegelschen Konzeption (Fukuyama 1998). Innerhalb dieses Denkrahmens lässt sich keine weitere Entwicklung denken. Das Problem von Hegels Freiheitskonzeption ist meiner Meinung nach in seiner Verleugnung einer Transzendenz des Subjekts gegenüber dem Ganzen, die sich nicht wieder in das Ganze einholen lässt, begründet. Hegel bestreitet, dass es einen solchen radikalen Bruch zwischen der Subjektivität und dem Absoluten gäbe (vgl. TU 54). Für ihn geht das Subjekt im Begreifen der Wirklichkeit auf. Transzendenz kann entsprechend nur als Denkverbot verstanden werden (s. o. Kap. I). Aber damit eliminiert das Totalitätsdenken, das Selbstbestimmung in dem von Hegel anvisierten Sinne zuallererst denkbar macht, zugleich das Persönliche, Singuläre des Subjekts. Dieses wird, weil Hegel es in seinem Denkrahmen nur als naturhaft, zufällig und endlich begreifen kann, von der unpersönlichen Vernunft verschlungen.39 Die Vervollkommnung der Freiheit bedeutet so zugleich ihre Elimination – nämlich als Freiheit des Subjekts in seiner Singularität. Jene Aneignungsversu38 Christian Iber bezeichnet Hegels Wahrheitsbegriff als hypertroph und vernunftmetaphysisch und kritisiert, dass praktische Rationalität letztlich der Selbsterkenntnis des Absoluten untergeordnet ist: »Nicht die Erkenntnis der Wirklichkeit, um sie vernünftig zu gestalten, ist der Zweck, sondern die Selbsterkenntnis der Vernunft in der Wirklichkeit ist der Zweck der Philosophie.« (Iber 2002, 189). Man muss nicht bestreiten, dass die Wirklichkeit logisch verfasst ist, wie Iber es tut (vgl. Iber 2002, 188), um zu bestreiten, dass sie in moralischer Hinsicht das Maß aller Dinge sein kann. 39 »Das hegelsche System vollendet die Philosophie nur, indem es das beiseite lässt, dem es mit den eigenen diskursiven Verfahren keinen Sinn geben und nicht beikommen kann« (Simhon 2010, 316).



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che, die – gegen Hegel – davon ausgehen, dass Freiheit noch nicht realisiert ist (und zumeist bestreiten, dass ein Zustand vollständiger Reflexivität überhaupt zu erreichen ist), und deshalb einen manchmal gesetzlosen (vgl. Menke 2012), manchmal radikal autonomen (vgl. Finkelde 2014) Akt geltend machen, verleihen damit zwar einer wichtigen und richtigen Intuition Ausdruck. Gleichwohl fahren sie letztlich nicht besser als Hegel selbst darin, Freiheit zu artikulieren, weil sie den Rahmen von Hegels Subjektkonzeption nicht verlassen. Sie können infolgedessen nicht angeben, was diesen gesetzlosen oder radikal autonomen Akt des Subjekts von Willkürfreiheit unterscheidet. Es stellt sich die Frage, an welchem Punkt Hegels Konzeption das Denken der Freiheit verfehlt.40 Die Antwort auf diese Frage ist, dass die Verfehlung bereits in der Überzeugung angelegt ist, dass sich alle Bedeutung dem begrifflichen Denken erschlösse. Der Fehltritt liegt also nicht in irgendeinem Übergang der Logik, sondern in der Voraussetzung, beim Denken bzw. mit dem Bewusstsein anzufangen (s. o. Kap. I). Diese Voraussetzung schließt aus, dass etwas dem Denken nicht Zugängliches Bedeutung haben und dass es ein Jenseits des Seins geben könnte, von dem her sich das Denken vom Sein abheben könnte. Weil Hegel von einer zwar dynamischen, aber transzendenzlosen Einheit von Vernunft und Sein ausgeht, muss er der Weltgeschichte als dem Werdensprozess dieser Einheit absoluten Charakter zuschreiben. Paradoxerweise ist das Subjekt gerade deshalb, weil ihm nichts unverfügbar ist, dazu verdammt, in den ontologischen Strukturen aufzugehen. Die Wirklichkeit als absolute wirkende Macht ist dann das Maß aller Dinge. Doch eben hiergegen kann man Einspruch erheben. Wenn man Hegel auch nicht widerlegen kann, weil das Transzendente per definitionem kein Seiendes ist, so kann man ihm doch widersprechen.41 Man kann dies tun im Namen des geliebten anderen Menschen, der durch nichts zu ersetzen ist, und von einer Verantwortung her, die nicht in den allgemeinen Strukturen aufgeht. Unter einer solchen Perspektive erscheint unsere Endlichkeit nicht mehr nur als Zufälligkeit und Grenze, sondern als Ermöglichungsbedingung einer nun ganz anders gearteten Freiheit. Eine derartige Beziehung, die in den allgemeinen Strukturen nicht aufgeht, von der her jede Vermittlungsbewegung aber überhaupt nur anhebt, lässt sich mit Hegels begrifflichem Rahmen gar nicht fassen. Es handelt sich mithin um eine inkommensurable Perspektive, die eine Dimension der Subjektivität zum Ausdruck bringt, die in Hegels Konzeption nur in deformierter Weise erscheinen kann. Damit jedoch nicht beiläufig aus dem »fiat justitia, ­pereat mun40

Für diese Frage danke ich Christoph Menke. So verfährt Birgit Sandkaulen zufolge Friedrich Heinrich Jacobi mit Spinoza (vgl. Sandkaulen 2019, 25). Sandkaulen betont, dass es ein Missverständnis wäre, dies für einen irrationalen Akt zu halten. Dieser Akt wiese vielmehr die Grenzen der Rationalität aus (vgl. ebd.). 41

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dus« ein »fiat mundus, pereat justitia« werde, muss das Subjekt auf ein Unverfügbares bezogen sein, das nicht nur relativ zur Wirklichkeit Bedeutung hat, sondern das unbedingt und aus sich selber, καθ’ αὑτό, ist.42 Um die Eigenständigkeit des Subjekts gegenüber dem Sein denken zu können, braucht es, wie ich im zweiten Teil der Arbeit ausführen werde, eine Konzeption von Subjektivität, die auf einem wesentlich anderen Gewissensbegriff beruht.

42 Davon, dass das fiat justicia nicht ein pereat mundi zur Folge haben solle, spricht Hegel in GPR § 130. Die Charakterisierung des transzendenten Anderen als καθ’ αὑτό stammt dagegen von Emmanuel Levinas (vgl. TU 63).

V.  Das Gewissen als Affektion durch Transzendenz

 D

ie Kritik an Hegels Freiheitskonzeption, mit der ich das letzte Kapitel beschlossen habe, ist ihrem Wesen nach grundlegend von Emmanuel Levinas inspiriert. Levinas lehnt es ab, Subjektivität von der ontologischen Struktur der Wirklichkeit her zu verstehen. In seinen Augen ist das Urteil der Geschichte unmenschlich, insofern es anonym ist und der bzw. dem Einzelnen nicht gerecht wird (vgl. IuT 46). Damit die Geschichte nicht das letzte Wort behält und Ungerechtigkeit unangefochten herrscht, bedarf es in seinen Augen des Menschen, der »gegen die Evidenz der Geschichte« (TU 357) diese beurteilt. Levinas fordert also eine Dimension ethischen Urteilens ein, die nicht mit der Allgemeinheit der sittlichen Verhältnisse und dem Verlauf der Geschichte zusammenfällt. Dabei anerkennt er, dass ein Antihegelianismus in der Art Kierkegaards von Hegel vorweggenommen und widerlegt wird (vgl. TU 436). Der Bruch mit der Totalität kann nicht im Namen des Ichs erfolgen. Levinas nimmt damit eine Kritik an Hegels Konzeption von Subjektivität und Gewissen vor, die zugleich wesentliche Einsichten Hegels ernst nimmt und teilt. Ebenso wie Hegel dies in seiner Kritik des formellen Gewissens tut, richtet sich Levinas gegen einen Individualismus, in dem das Individuum seine eigenen Interessen über das Wohl der Gemeinschaft stellt. Allerdings weist er Hegels Universalismus, der das Individuum dem Ganzen unterordnet und letztlich in Totalitarismus mündet, ebenso zurück. Sowohl der Individualismus als auch der Universalismus bedeuten eine Missachtung von Andersheit und stellen in Levinas’ Augen lediglich verschiedene Versionen dessen dar, was er als »Imperialismus des Selben« bezeichnet. Ein Drittes gegenüber dieser Alternative wird für Levinas mit einer Subjektivität denkbar, die sich in der Beziehung auf Transzendenz konstituiert (vgl. TU 27).1 Von dieser »Beziehung ohne Beziehung« (TU 110) her vermag er eine Eigenständigkeit des Subjekts gegenüber den ontologischen Strukturen zu denken, die kein bloßer Subjektivismus ist. Die Beziehung auf Transzendenz denkt Levinas nach dem Modell von Descartes’ Idee des Unendlichen, deren Struktur im Zentrum seines ersten Haupt1 Auch wenn Levinas vor allem als Denker der ethischen Beziehung zum Anderen bekannt ist, ist das Thema, das ihn seit seinen frühesten Schriften beschäftigt, die Frage nach Transzendenz (vgl. Bernasconi 2005b, 101 ; Drabinski 2001, 33). Eine Konkretisierung der formalen Struktur der Transzendenz findet er in der ethischen Beziehung, die damit aber weder der Ausgangspunkt noch das τέλος seiner Überlegungen ist, sondern sich vielmehr als deren Resultat ergibt (vgl. Bernasconi 2012, 268).

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werks, Totalität und Unendlichkeit, steht.2 Die Struktur dieser Idee erlaubt es ihm, im Denken einen Bruch mit dem Denken zu denken, indem sich im Denken selbst ein Inhalt auftut, der der Form des Denkens nicht angemessen ist. Das Unendliche ist nicht und es lässt sich nicht erkennen. Levinas negiert damit nicht Erkenntnis und Ontologie, sondern weist ein Anderes als ihre Bedingung aus, das aber nicht auf der gleichen Ebene liegt und das das Denken nicht in sich »aufheben« kann. In dieser Figur einer nicht-begrifflichen oder über-begrifflichen3 Bedingung des Begriffs sehe ich das wahrhaft originelle Moment von Levinas’ Denken, das den Schlüssel für seine Kritik an der philosophischen Tradition und damit insbesondere an ihrem Kulminationspunkt, an Hegels Denken, darstellt.4 Die Struktur der Idee des Unendlichen konkretisiert sich Levinas zufolge in der ethischen Beziehung zum anderen Menschen (franz. autrui).5 Ethisch relevant ist dabei gerade die Andersheit des Anderen, d. h. »dasjenige« »an« ihm, das das Ich nicht begreifen, besitzen und beherrschen kann. Diese Andersheit erfährt das Subjekt nicht nur als Entzug, sondern von ihr geht zugleich ein Anspruch aus, der das Subjekt vor jeder freien Wahl in eine prä-reflexive und vor-moralische Verantwortung für den Anderen einsetzt. Von dieser Verantwortung her wird es für Levinas denkbar, dass ein Ich, jenseits alles Kalküls, seine Bedürfnisse und Interessen zurückstellt und sich für den Anderen opfert – in einem anderen 2 Levinas entwickelt den Gedanken bereits vier Jahre vor Erscheinen von Totalität und Unendlichkeit (1961), in dem Aufsatz »Die Philosophie und die Idee des Unendlichen« (1957), der das Werk in seinen Grundzügen vorwegnimmt. Dass er trotz der Radikalisierung von Levinas’ Denken im Spätwerk seine Geltung behält, ist insbesondere daran ersichtlich, dass Levinas die Idee des Unendlichen in einem späten Aufsatz, »Gott und die Philosophie« (1975), erneut aufgreift und mit den Wendungen, die sein Denken mit dem zweiten Hauptwerk, Jenseits des Seins oder Anders als Sein geschieht (1974), nimmt, verbindet. 3 Für diesen Vorschlag danke ich Joachim Ringleben. 4 Derrida beschreibt diese Struktur in einer Weise, die sie als Levinas’ Revision von Hegels Begriffsstruktur erscheinen lässt: »Der Begriff übertrifft sich selber, er ragt über sich hinaus, was darauf hinausläuft, daß er sich unterbricht bzw. dekonstruiert, um so eine Art Enklave innerhalb und außerhalb seiner zu bilden« (Derrida 1999, 107). Wie Hegel geht auch Levinas von einer konstitutiven Beziehung des Subjekts auf anderes aus (vgl. Peperzak 1998, 121), aber er radikalisiert die implizierte Spaltung der Subjektivität: Levinas bestreitet, dass Andersheit nur als Negativität, d. h. relativ, gedacht werden kann (vgl. Bernasconi 2000, 63). 5 Zu der Bedeutung von autrui vgl. Delhom (2000, 78 – 81). Es liegt nahe, den Anspruch des Anderen und die unbedingte Verantwortung für ihn mit Gott zu assoziieren. Wenn es jedoch Gottes Gebot wäre, das dem Anspruch des Anderen nur Autorität verliehe, wäre Levinas’ Konzeption philosophisch disqualifiziert. Ich denke aber, dass Levinas eine Schicht der Subjektivität enthüllt, die nicht auf Gott und Glauben zurückgreifen muss, um zu gelten. Vielmehr lässt sich Religion als Ausdruck dieser Struktur menschlicher Subjektivität begreiflich machen. Ich unterscheide entsprechend nicht zwischen einer religiösen und einer säkularen Lesart von Levinas’ Schriften (vgl. Bedorf 2007, 417 f.), sondern bin vielmehr der Ansicht, dass Levinas als »Wegbereiter einer nach-säkularen Philosophie« (Gürtler 2001, 83) die Bedeutung des Religiösen transformiert.



Das Gewissen als Affektion durch Transzendenz

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Idiom das Supererogatorische, Unentgeltliche. Levinas entwickelt damit weder ein Moralprinzip noch eine Sittlichkeit mit festen Pflichten. Er denkt mit der Nicht-Indifferenz gegenüber dem Anderen vielmehr den Ursprung des Ethischen. Es ist mein Hauptanliegen in diesem Kapitel, die »Erfahrung« der Andersheit des Anderen (die keine Erfahrung im kantischen oder hegelschen Sinne des Wortes ist) als Levinas’ Konzeption des Gewissens zu rekonstruieren. Dabei will ich zeigen, dass das Gewissen für Levinas nicht lediglich die quasi-transzendentale Bedingung moralischen Verhaltens darstellt, sondern Bewusstsein überhaupt bedingt (vgl. Bernasconi 1989, 24). Levinas stellt damit das Ideal von Selbstbestimmung und Selbstbesitz in Frage, das das westliche Denken dominiert und in dessen Zentrum ein Subjekt steht, das die Welt kognitiv begreift und ihr seinen Willen aufprägt. Ihm zufolge ist das Subjekt nicht sein eigener Ursprung und es ist nur, insofern es schon vom Anderen unterlaufen ist. Das Nicht-Aufgehende, Nicht-Totalisierbare, Partikulare, das für Hegel lediglich nur die Bedeutung von unabgearbeiteter Naturhaftigkeit, Kontingenz und Eigensinn haben kann, beseelt hier geradezu das Subjekt. Dabei fällt Levinas nicht einfach in ein unkritisches, dogmatisches Denken zurück. Vielmehr legt er mit der Infragestellung des Ichs durch den Anderen einen Sinn von Kritik frei, der von Hegels System noch vorausgesetzt werden muss. Nicht das Ganze ist das Wahre (s. o. Kap. I), sondern die Wahrheit hebt mit der Unmöglichkeit der Totalität an. Dieses Kapitel gliedert sich in vier Unterkapitel: Das erste dient dazu, die logische Struktur von Transzendenz verständlich zu machen, mit der Levinas’ Individualismus und Universalismus gleichermaßen zurückweist. Entsprechend gehe ich zunächst auf Levinas’ Ontologie- und Erkenntniskritik ein, die den Hintergrund für sein gesamtes Denken abgibt, und stelle seine Interpretation von Descartes’ Idee des Unendlichen dar, die es ihm ermöglicht, Transzendenz zu denken. Die formale Struktur der Idee des Unendlichen konkretisiert sich in der Begegnung des Subjekts mit dem Anderen, die ich im restlichen Verlauf des Kapitels als Levinas’ Konzeption des Gewissens rekonstruiere. Der orthodoxen Lesart zufolge beschreibt Totalität und Unendlichkeit die Konstitution eines Subjekts, das sich zunächst durch Genuss, Arbeit und Bleibe als getrenntes Ich konstituiert und sich dann in der Begegnung mit dem Anderen in seinem Egoismus in Frage gestellt findet.6 Diese Konstitution eines Subjekts, das nicht in der Relationalität des Seins aufgeht, und seine Wendung von einer rein selbstbezüglichen, hedonistischen Existenz zur ethischen Beziehung stelle ich im zweiten und dritten Unterkapitel dar. Die Abfolge von getrenntem Ich und Begegnung mit dem Anderen wird durch verstreute Formulierungen von Levinas verkompliziert, die darauf 6 Eine solche Lesart, die das Angesicht isoliert und in das Zentrum der Interpretation von Totalität und Unendlichkeit stellt, kritisiert Robert Bernasconi scharf (vgl. Bernasconi 2012, 256 ff.).

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hindeuten, dass die Konstitution des getrennten Ichs bereits die Begegnung mit dem Anderen voraussetzt (vgl. Bernasconi 1988a, 263). Entsprechend argumentiere ich im vierten Unterkapitel, dass das Gewissen Bedingung des getrennten Ichs ist und weise damit die orthodoxe Lesart zurück. Damit leite ich zugleich zum folgenden Kapitel über, in dem ich mich der Struktur der Subjektivität zuwende, die Levinas in Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht entwickelt und in der diese Vorgängigkeit der Affektion durch den Anderen explizit wird.7 V.1  Levinas’ Kritik des Immanenzdenkens

Im Gegensatz zu Hegel, dessen philosophisches System den Kulminationspunkt eines konsequent immanenten Denkens darstellt, ist Levinas ein Denker der Transzendenz. Für ihn steht der menschliche Geist wesentlich in Beziehung zu »etwas«, das nicht ist (vgl. Strasser 1977, 113). Dieses Nicht-Seiende geht nicht lediglich aus der Negation von Seiendem hervor, sondern ist vielmehr als eine Exteriorität, als radikales Außen zu verstehen, das im Denken aufbrechen kann und in dem das denkende Ich auf seine undenkbare Ursache stößt (vgl. Mosès 1993, 366). Damit weist Levinas das transzendentale Bewusstsein bzw. den Begriff als absoluten Ursprung und Grund aller Wirklichkeit zurück (vgl. Strasser 1977, 106). Zugleich widersetzt er sich aber auch einem ontologischen Denken im Sinne Heideggers. Damit eine Beziehung zu einer Andersheit besteht, darf weder das Andere auf das Maß des denkenden Ichs reduziert werden, noch auch darf andersherum das Ich im Anderen aufgehen (vgl. Bernasconi 2005b, 110 ; Peperzak 1993, 59). Um eine solche Beziehung zu denken, verbindet Levinas Descartes’ Idee des Unendlichen mit dem platonischen Gedanken eines Guten jenseits des Seins. Die Struktur dieser Beziehung ist für die vorliegende Arbeit zentral, da sie – wie ich im weiteren Verlauf des Kapitels herausarbeiten werde – Levinas’ Konzeption des Gewissens entspricht. Um die dieser Denkbewegung zugrundeliegende Motivation kenntlich zu machen, stelle ich im ersten der beiden folgenden Abschnitte Levinas’ Kritik am Primat der Ontologie bzw. der Erkenntnis dar, mit der er wesentlich Stellung gegen Hegel, Husserl und Heidegger bezieht. Dabei zeige ich, dass Levinas die seins­ mäßige Selbstbehauptung des Individuums als Gewalt gegenüber dem Anderen versteht, die allgemeine Ordnung jedoch gleichfalls verwirft, weil sie dem Anderen nicht gerecht wird. Ein Drittes gegenüber dieser Alternative, die den zwei 7 Insgesamt verfolge ich in diesem Kapitel und dem nächsten eine Doppelstrategie, indem ich nicht im Einzelnen die Entwicklung von Levinas’ Denken nachverfolge, sondern das Frühere vom Späteren her lese, dabei aber die unterschiedlichen Perspektiven von Totalität und Unendlichkeit und Jenseits des Seins beibehalte.



Das Gewissen als Affektion durch Transzendenz

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Hauptmodifikationen von Hegels Gewissensbegriff entspricht, stellt die Beziehung auf Transzendenz dar. Insofern das Bewusstsein das Prinzip der Gegenwart ist und alles, was dort präsent wird, in gewisser Weise seinen Ursprung im Subjekt hat, muss genuine Andersheit oder Transzendenz so gedacht werden, dass sie diese Präsenz unterläuft, sich nicht manifestiert und nicht begriffen wird, sondern sich als Deformalisierung des Bewusstseins, d. h. als Überschreitung und Zerbrechen seiner kategorialen Struktur, ereignet (vgl. Bernasconi 2005, 50). Wie Levinas ein solches Ereignis von Andersheit im Rückgriff auf Descartes’ Idee des Unendlichen und das Begehren des Guten bei Platon zu denken vermag, stelle ich im zweiten Abschnitt dar. V.1.1  Der Imperialismus des Selben

Wie sein Lehrer Heidegger vertritt Levinas eine große philosophiehistorische These: In seinen Augen ist es der westlichen Philosophie – bis auf wenige Ausnahmen, auf die Levinas des Öfteren rekurriert und von denen er seine Inspiration erhält – nicht gelungen, genuine Andersheit zu denken (vgl. SdA 211 f.). Das ganz Andere stellt ein Problem für den kohärenten Diskurs der Vernunft dar, der dieses nicht integrieren, das Nicht-Integrierbare aber auch nicht tolerieren kann. Denn dieses bedroht die Freiheit, die – für Husserl ebenso wie für Hegel – darin besteht, auf nichts Fremdes zu stoßen (vgl. TU 49).8 Wenn also Heidegger der Philosophiegeschichte vorwirft, die Seinsfrage vernachlässigt zu haben, so lautet Levinas’ Diagnose, dass sie Andersheit – nicht so sehr vergessen, als vielmehr systematisch angeeignet, unterdrückt und entschärft und damit auf die eine oder andere Art nivelliert hat. Wesentliches Charakteristikum dieses Imperialismus des Selben (vgl. TU 120 ; PIU 199 ; TH 14), der im wesentlichen Heideggers Befund der onto-theologischen Verfasstheit von Philosophie entspricht (vgl. Bernasconi 1988b, 241), ist in Levinas’ Augen die Identifikation von begrifflichem Denken und Sein (vgl. Raffoul 2010, 171). Insofern alles, was im Bewusstsein erscheint, immer den Kategorien des Ichs entspricht, kann diesem nichts völlig Fremdes begegnen (vgl. IM 150). Das Erkennen bringt das Andere auf das Maß des Subjekts und nimmt ihm damit seine Andersheit (vgl. Bedorf 2003, 29 ; Esterbauer 1992, 45 ; Ricœur 2005, 404). Das Heterogene, das Transzendente erscheint nur als ein solches, das schon aufgehoben, das in der Synthese schon nicht mehr ist (vgl. TU 401). Andersheit 8 Levinas verbindet explizit Husserls Begriff des Horizontes mit Hegels Begriff des Begriffs: »Die gesamte Phänomenologie, Husserl eingeschlossen, steht unter der Idee des Horizontes, der für sie die Rolle spielt, die im klassischen Idealismus der Begriff hatte ; wie das Individuum vom Konzept, so erhebt sich das Seiende von einem Grunde, der über es hinausgeht« (vgl. TU 53).

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kann hier nur eine Projektion des Ich sein. Das Zusammenfallen von Intelligibilität und Manifestation impliziert so »eine Destruktion der Transzendenz« (GP 83). Anders als Heidegger sieht Levinas diesen Imperialismus des Selben im Sein selbst angelegt, das er als Sphäre der Selbstbehauptung und Selbsterhaltung versteht. Er verbindet dabei die spinozistische conatus-Lehre mit Darwins Kampf ums Überleben und Heideggers Charakterisierung von Dasein als einem Seienden, dem es in seinem Sein um sich selbst geht (vgl. PM 172).9 Was diese recht disparaten Konzeptionen in Levinas’ Augen eint, ist, dass es dem Individuum hier um sich selbst geht und es sich gegen anderes behauptet. Das Sein nimmt so die Gestalt eines Krieges aller gegen alle an ; die Ontologie ist eine Polemologie (vgl. Waldenfels 2005a, 173). Damit widerspricht Levinas grundsätzlich der Auffassung, dass die Existenz an sich gut sei. Für ihn ist das Sein vielmehr schlechthin böse (vgl. PGL 145). Diese negative Qualität des Seins korrespondiert seinem Totalitätscharakter: Da es durch Kräfteverhältnisse strukturiert ist, ist das Sein eine Totalität, in der alle Momente aufeinander bezogen sind. Auf die daraus resultierende Unfreiheit der Individuen im Sein, denen aufgrund ihrer relationalen Bestimmtheit keine Eigenständigkeit gegenüber dem Ganzen zukommt (was dem Befund bezüglich Hegels Gewissenskonzeption entspricht, s. o. Kap. IV), gehe ich im nächsten Kapitel ausführlicher ein (s. u. Kap. VI). Diese seinsmäßige Selbstbehauptung wird nun nicht etwa im Denken überwunden, sondern setzt sich in Levinas’ Augen in einer als universal verstandenen Vernunft fort. Die Applikation allgemeiner Denkbestimmungen stellt eine Machtausübung dar (vgl. PIU 190 ; TU 173). Denn im Denken begegnet das Ich dem Anderen nicht in seiner Singularität, sondern erfasst dieses vermittelt über das Allgemeine – mit Hegel gesprochen mittels des Begriffs. Dabei richtet sich das Denken zwar nach dem Gegenstand, aber es vernichtet zugleich dessen Selbstständigkeit, indem es die Beziehung mit dem Außen in einen Denkinhalt verwandelt. Wie bei Hegel gesehen, sichert diese Idealität des Anderen die Freiheit des denkenden Ichs (s. o. Kap. I): Das Ich wird nicht von einem Anderen, Fremden determiniert (vgl. GP 91 ; TU 120). Levinas sieht in diesem Selbstbesitz des Ichs jedoch vor allem einen Herrschaftsgestus (vgl. TU 55). Eine solche Gleichsetzung von universeller Vernunft und Macht mag vielen nicht einleuchten. Ermöglicht die Vernunft nicht gerade eine vernünftige Aus­ ein­a ndersetzung jenseits von Macht und Gewalt ? So kritisiert Richard Wolin Levinas’ Standpunkt als »much too cynical. […] It is misleading to equate ›the 9 Robert Bernasconi zeigt, wie Levinas Heideggers Dasein mit dem darwinschen Gedanken des Überlebenskampfes verknüpft – eine Verbindung, die in seinen Augen »not defensible on strictly scholarly grounds« (Bernasconi 2005a, 175) ist.



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force of the better argument,‹ which predominates in logics of discourse, with force as such« (Wolin 2008, 240). Seine Kritik ist jedoch zurückzuweisen, denn sie basiert auf der Annahme, dass alles einer rationalen Begründung fähig sei. Dieser Annahme widerspricht Levinas jedoch, weil ein solches Begründungsdenken Andersheit ausschließt. In diesem Sinne ist nicht nur das Individuum, das sich gegenüber dem Anderen durchzusetzen sucht, sondern auch das Ich, das ihn der Allgemeinheit unterwirft, für ihn problematisch (vgl. TU 120 f.). Levinas widersetzt sich damit sowohl dem nur Eigenen (Hegels formelles Gewissen), als auch dem Ganzen (Hegels wahrhaftes Gewissen). Egozentrik und Logozentrismus erweisen sich letztlich als die gleiche Bewegung der Überwindung des Anderen im Namen des Selben oder der Immanenz. Die Universalität der Vernunft läuft auf den Solipsismus des denkenden Ichs hinaus (vgl. ZA 38). Dieses ist – ganz wie Hegel es will – im Anderen bei sich selbst. Darin artikuliert sich jedoch für Levinas nicht die Struktur der Freiheit, sondern die der Einsamkeit. Indem es alles auf sein Maß bringt, »begegnet das Erkennen niemals etwas wirklich anderem« (ZA 41). Aber nicht nur das Andere, auch das Ich selber fällt letztlich der Universalität zum Opfer (vgl. TU 120, 178). Denn die Gleichsetzung von Subjektivität mit Erkenntnis impliziert die Unterordnung des Menschen unter das Sein. Das menschliche Individuum dient der Manifestation des Absoluten (Hegel) bzw. der Entbergung des Seins (Heidegger) und stellt lediglich einen »Umweg« in dieser Enthüllung dar (vgl. GTZ 156 ff ; HA 65 f ; JS 295). Jenseits des Seins bzw. des Begriffs kommt ihm keine Bedeutung zu. Dem widerspricht Levinas, indem er Subjektivität von einer Beziehung her denkt, die nicht im Sein bzw. der Allgemeinheit aufgeht. Die formale Struktur dieser Beziehung mit Transzendenz findet er in Descartes’ Idee des Unendlichen angelegt. V.1.2  Das Begehren des Unendlichen

Auch wenn Levinas sie insgesamt der Andersheitsvergessenheit bezichtigt (vgl. Bedorf 2012, 68), findet er doch einzelne Momente der westlichen Philosophiegeschichte, in denen sich ein Bruch mit dem ontologischen Denken abzeichnet und Transzendenz aufscheint. Zwei dieser Momente, die für Levinas’ eigenes Denken zentral sind, sind das Gute jenseits des Seins (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας) bei Platon und Descartes’ Idee des Unendlichen. Wesentlich ist dabei einerseits die formale Struktur der Idee des Unendlichen, die Levinas so deutet, dass hier im Denken selbst eine irreduzible Andersheit aufbricht, der die Form des Denkens inadäquat ist ; und zum anderen das Begehren des Guten, das eine prä-reflexive Beziehung zum Anderen beschreibt. Anders als für Descartes ist das Denken der

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Idee des Unendlichen so für Levinas nicht mehr das Denken einer klaren und deutlichen Idee, sondern ein metaphysisches Begehren, in dem die Intentionalität des Ich eine Art Umkehrung erfährt, die als Deformalisierung des Bewusstseins, d. h. als Überwältigung und Zerbrechen seiner kategorialen Form, statthat (vgl. TU 35, 83 ; PIU 201).10 Damit meint Levinas eine Struktur gefunden zu haben, die es ermöglicht, genuine Andersheit in einer Weise zu denken, die diese nicht relativ macht (vgl. TU 62).11 Nachdem Descartes in der Zweiten Meditation zu der Gewissheit seiner eigenen Existenz gelangt ist, »beweist« er in der Dritten Meditation die Existenz Gottes (vgl. AT 45.9 – 19). Dieser Beweis basiert darauf, dass Descartes in sich selbst die Idee Gottes oder des Unendlichen vorfindet. Entsprechend der Prämisse, dass die Ursache eines Dinges mindestens ebenso viel Realität aufweisen muss wie dieses Ding selbst, schließt er, dass er nicht selbst der Urheber dieser Idee sein könne, sondern sie von Gott selbst in ihn gelegt worden sein müsse, womit er die Existenz Gottes als bewiesen ansieht. – Weder an diesem Beweis der Existenz Gottes noch auch an der traditionellen Auffassung Gottes als allwissendem, allmächtigen etc. Wesen ist Levinas interessiert. Indem er Descartes’ Idee des Unendlichen aufgreift, geht es ihm vielmehr um die formale Struktur dieser Idee, die es ihm erlaubt, wahre Transzendenz zu denken: Die Idee des Unendlichen ist paradox, insofern in ihr »gedacht« wird, was die Fassungskraft des Bewusstseins sprengt (vgl. TU 26 ; GP 109). In der Immanenz des Subjekts tut sich damit eine Exteriorität, »ein nicht räumliches Außen« (GTZ 195) auf, das sich der Syntheseleistung des Bewusstseins entzieht. Dieses formale Charakteristikum – die Andersheit des Unendlichen in Bezug auf die Kategorien, Begriffe und Erlebnisweisen des denkenden Ichs – macht für Levinas den Inhalt der Idee des Unendlichen aus (vgl. RP 256 ; TU 39, 61). Levinas denkt die Transzendenz des Unendlichen durch die doppelte Struktur von Inklusion und Negation (vgl. Bernasconi 1988b, 244). Transzendenz ist ein Überschuss über das Denken, der im Bewusstsein aufbricht (vgl. TU 67, 110). Dieser Überschuss wird von dem begreifenden Subjekt als Entzug erfahren, denn wenn der Überschuss das Überschreiten des begrifflichen Fassungsvermögens bedeutet, dann »erscheint« das Unendliche nur, indem es sich dem Bewusstsein zugleich entzieht (vgl. Loidolt 2009, 204 Fußnote 136 ; Tengelyi 2009, 116). Gegen Formen der Transzendenz in der Immanenz, wie Hegel und Husserl sie kennen, 10 In der Inhaltangabe, die Levinas beilegt, als er Totalität und Unendlichkeit als seine thesis einreicht, wird deutlich, dass Levinas im Begehren den Punkt ausmacht, an dem er sich von Descartes entfernt (vgl. ToS 120). 11 Levinas nimmt damit Derridas Kritik in »Metaphysik und Gewalt« vorweg (vgl. Bernasconi 2000, 64 ; Bernasconi 1988b, 244). Ich gehe auf diese Kritik im nächsten Kapitel genauer ein (s. u. Kap. VI).



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versteht Levinas Transzendenz so nicht als eine Negation im Denken, sondern als Negation des Denkens. Der Deformalisierung des Bewusstseins entspricht eine Umkehrung der Intentionalität (im husserlschen Sinne). Das Unendliche ist nicht erst und offenbart sich dann dem Ich ; es ereignet sich vielmehr in dem »Überfließen« des Denkens (vgl. Keenan 2004, 167). Diese Existenzweise des Unendlichen bezeichnet Levinas als Infinition oder Unendlichung. Die Infinition hat ihre Ursache in der Unverhältnismäßigkeit zwischen der Idee des Unendlichen und dem Unendlichen, dessen Idee sie ist. […] Die Unendlichung ereignet sich in dem unwahrscheinlichen Geschehen, in dem das Selbe, das Ich – nämlich ein getrenntes, in seiner Identität fixiertes Seiendes – dennoch in sich enthält, was es durch die bloße Kraft seiner Identität weder zu enthalten noch zu empfangen vermag. (TU 28)

Levinas stimmt damit mit Descartes in der Positivität des Unendlichen überein: Niemals könnte das Ich das Unendliche von sich her denken. Das Ich konstituiert das Unendliche nicht entsprechend seiner kategorialen Form, sondern es wird von diesem jenseits aller Akte der Sinngebung affiziert. Während jedoch das Denken des Unendlichen bei Descartes Kontemplation, d. h. das Denken einer erkennenden Vernunft, ist, betont Levinas, dass das Unendliche dem Erfassen und der Intentionalität des Ichs in keiner Weise kommensurabel ist. Das Denken des Unendlichen ist kein begriffliches Denken mehr, sondern metaphysisches Begehren (vgl. TU 35, 83 ; PIU 201). Levinas denkt das metaphysische Begehren mit Platon als eine Bewegung, die – im Gegensatz zu dem Bedürfnis – über die Selbstbezüglichkeit des Ichs hinausgeht (vgl. SdA 219). Während das Bedürfnis einen Mangel im Subjekt anzeigt, der erfüllt werden kann, sucht das Begehren keine Ergänzung und ist »jenseits aller Befriedigung« (TU 37). So unterliegt es einer gänzlich anderen Logik als das Bedürfnis: Es geht nicht vom Ich aus, sondern wird von seinem »Gegenstand« hervorgerufen (vgl. TU 81), und es verstärkt sich noch mit seiner Erfüllung. In dieser Steigerung des Begehrens in seiner Erfüllung »ermisst« das Subjekt das Unendliche. Das Begehren ist so die paradoxe »Erkenntnis« des Unendlichen (vgl. Askani 2016, 76). Levinas zögert, dieses Ereignis des Unendlichen als Erfahrung zu bezeichnen. Wenn Erfahrung aposteriorische Erkenntnis eines sinnlichen Gehalts mittels der a priori geltenden Kategorien oder Verstandesbegriffe ist (Kant) oder wenn sie die Transformation der Bewusstseinsgestalt selbst durch das transzendentale Erfassen der Gegenständlichkeit des vormaligen Gegenstandes ist (Hegel, s. o. Kap. I.2.1), dann ist die Affektion durch das Unendliche keine Erfahrung. Insofern sie jedoch Affektion durch etwas ist, das »nicht aus unserem Grund a priori [kommt], […] ist sie die Erfahrung schlechthin« (TU 280, meine Hervorh.).

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In ganz anderer Weise als Hegel unterläuft Levinas damit die Unterscheidung zwischen apriorisch und aposteriorisch, indem er ein Widerfahrnis denkt, das als »Erkenntnis ohne Apriori« (TU 81) oder »Erfahrung ohne Begriff« (TU 143), d. h. ohne jede Vermittlung, zu denken ist. Sie ist eine absolut heteronome »Erfahrung«, die sich als Bruch der Präsenz des Bewusstseins ereignet (vgl. Tengelyi 2009, 113). Aus der hegelianischen Perspektive betrachtet erscheint Levinas’ Konzeption des Unendlichen bestenfalls suspekt (vgl. Bernasconi 1988b, 249). Die Trennung vom Endlichen macht das Unendliche in Hegels Augen unweigerlich endlich (vgl. Houlgate 2006, 434). Auch wenn er das Unendliche nicht als Entität denkt, scheint Levinas auf die Stufe des »abstrakten Absoluten« zurückzufallen, das Hegel bei Kant, Jacobi und Fichte kritisiert (s. o. Kap. I.1.1). Aber die Kritik an den sogenannten Reflexionsphilosophien verfehlt Levinas, insofern dieser mit Hegel darin übereinstimmt, dass das Unendliche nicht dem Endlichen entgegenzusetzen ist (vgl. Bernasconi 2010, 306), und ein mystisches Jenseits strikt ablehnt (vgl. Bernasconi 2005b, 110).12 Anders als Hegel schließt er daraus freilich nicht zugleich, dass das Endliche Moment des Unendlichen sein müsse. Denn Levinas bestreitet, dass Endliches und Unendliches überhaupt aneinandergrenzen und – so wie Hegels Grundfigur es vorexerziert – in eine Einheit einholbar sind (vgl. TU 322). Während also die absolute Idee bei Hegel in den »internen Relationen eines Unendlichen [besteht], das in dem Moment vollständig ist, wo es die Möglichkeit eines von ihm unabhängigen Anderen verneint« (Gawoll 2010, 59 f.), besteht Levinas vielmehr auf der radikalen Exteriorität des Unendlichen. Andersherum verfehlt aus Levinas’ Perspektive Hegels Konzeption wahrer Unendlichkeit als der Prozess der Aufhebung des Endlichen das Unendliche (s. o. Kap. I.1.1). Denn Hegel verleugnet die Trennung zwischen dem Sein und seinem Jenseits, dem nur der Name des Unendlichen gebührt. Levinas unterscheidet die Bewegung der Transzendenz von der Negativität, die auf das Verneinte bezogen und damit immanent bleibt (vgl. TU 47 f.). Das Unendliche bezeichnet nicht ein Wesen, »das nichts außer sich fände, das es begrenzt […], das alle Grenzen überschritte und auf diese Weise unendlich wäre« (TU 28), es ist nicht die Selbsthervorbringung des Absoluten, sondern bedeutet einen Bruch mit der Dialektik (vgl. Schroeder 2000, 56), der zugleich die Grenze der bewusstseinstheoretischen Konzeption von Subjektivität markiert.

12 In Schwierige Freiheit bekennt Levinas sich explizit zu einer religiösen Nüchternheit, die den Atheismus riskiert, um das Numinose auszuräumen und wahre Transzendenz zu ermöglichen (vgl. SF 26 f.). Dieser Gedanke ist auch im Atheismus des genießenden Ich in Totalität und Unendlichkeit implizit angelegt (s. u. Kap. V.5.1).



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V.2  Die Herausbildung des Ichs in der Immanenz

Damit eine Beziehung mit Transzendenz formal denkbar ist, darf das Ich weder restlos im Sein aufgehen, noch darf es relational durch das Unendliche bestimmt sein. Es ist deshalb für Levinas’ Argumentation in Totalität und Unendlichkeit unerlässlich, dass er ein Subjekt verständlich machen kann, das außerhalb der Seinstotalität steht, ohne irgendeine Beziehung auf das Unendliche zu haben (vgl. Mosès 2004, 329). Ein solches – wie Levinas sagt – atheistisches Subjekt konstituiert sich im Genuss. Der Genuss bezeichnet einen Überschuss der Sinnlichkeit über das Denken. Er steht für eine Innerlichkeit, die nicht relational durch das bestimmt ist, mit dem das Subjekt umgeht. So ist das Ich wesentlich nicht Begriff (vgl. TU 164). Vielmehr löst sich das genießende Ich aus dem Sein, das es bedingt, und bildet gleichsam eine Insel darin. Nur durch diese Trennung vom Sein – die deshalb nicht etwa teleologisch verstanden werden darf – erlangt das Ich die Fähigkeit, das Unendliche zu empfangen (vgl. Krewani 1982, 119 f.). Im Folgenden werde ich zunächst die formale Struktur der Trennung darstellen, die Levinas mit dem – leicht missverständlichen – Ausdruck Psychismus bezeichnet.13 Anschließend gehe ich auf die Konkretisierung der Trennung im Genuss ein. Ich zeige, dass der Ausgang von der Sinnlichkeit es Levinas erlaubt, ein Ich zu denken, das nicht im Sein bzw. im Erkennen aufgeht und dem deshalb Transzendenz begegnen kann (vgl. TU 178). V.2.1  Das getrennte Ich: der Psychismus

Das Ich beginnt, indem es sich aus dem Es-gibt (franz. il y a) herauslöst (vgl. EE 102 ff.). Das Es-gibt ist dabei die paradoxe Grenzbestimmung eines Seins, das von keinem Bewusstsein aufgefasst wird und vor dem Gegensatz von Subjekt und Objekt liegt (vgl. Lawton 2004, 250). Levinas greift damit Heideggers ontisch-ontologische Differenz auf (vgl. ZA 21), aber er kritisiert, dass das Sein bei Heidegger immer schon das Sein eines Seienden ist (vgl. ZA 22), dass es also immer schon ein Subjekt hat. In seinen Augen verweist Heideggers Begriff der Geworfenheit, der anzeigt, dass das Sein erst ergriffen werden muss, auf ein Sein, das unabhängig vom Ich existiert, ein Sein ohne Seiendes. Levinas versucht also mit dem Es-gibt einen vorpersonalen, vorsprachlichen und vorlogischen Zustand verständlich zu machen, von dem es keine Erfahrung gibt und der entsprechend nur abgeleitet und durch Negativbestimmungen charakterisiert werden kann. 13 Der Psychismus ist nicht im Sinne der empirischen Psychologie zu verstehen, sondern bezeichnet die Struktur des Ich in der Trennung (vgl. TU 68).

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Wesentlich ist dabei, dass das Es-gibt ein unmenschliches Sein ist, dessen Unbestimmtheit und Unpersönlichkeit nicht einfach neutral ist, sondern – aus der Perspektive des Ichs, d. h. aus der Perspektive desjenigen, der überhaupt Perspektive hat – eine bedrohliche und sogar boshafte Qualität aufweist (vgl. EE 70 ff.).14 Die Herauslösung des Ichs aus dem Es-Gibt ist kein einmaliger Akt, sondern ein unablässiges Geschehen. Die Existenzweise des Ichs besteht gerade darin, fortwährend die Trennung zu vollziehen (vgl. ZA 28 ; Delhom 2000, 134). Das anonyme Sein wird dabei durch die Struktur des Bewusstseins verdeckt (vgl. Lawton 2004, 251). Aber es ist nicht endgültig überwunden, sondern unterliegt dauerhaft der Welt und den Subjekten (vgl. Fagenblat 2019, 120) Es bildet gleichsam den Untergrund, aus dem sich die sinnhaften Strukturen herausheben (vgl. Lawton 2004, 254). Entsprechend kann die menschlich gewordene Welt in das Es-gibt zurückfallen. Dies geschieht, wenn sich die sittliche Ordnung und ihre Vollzüge in Anonymität und Sinnlosigkeit auflösen. Levinas dürfte dabei der Holocaust vor Augen stehen. Hier ereignet sich ein Böses, das sich nicht auf die Intentionen und Handlungen einzelner Subjekte beschränkt, sondern vielmehr die Möglichkeit des Sinnhaften selbst zerstört. Es entzieht sich dem Verstehen, indem es die Intelligibilität destruiert. Dabei vernichtet es zugleich auch das Ich, das seinen Abstand zum il y a verliert und in die Anonymität aufgesogen wird. Levinas denkt hier einen Verlust aller Sinnhaftigkeit, der – in einem ganz anderen Register – an das radikale Böse erinnert, wie ich es für Hegel herausgestellt hatte (s. o. Kap. II.2.2): Radikal böse war das formelle Gewissen für Hegel nicht in seinem Verstoß gegen das Allgemeine, sondern darin, dass es Objektivität und Verbindlichkeit (und damit letztlich auch das Subjekt selbst) zerstört. Analog dazu droht bei Levinas das Es-gibt als Auflösung und Verlust des Ichs, das in seinen Sog gerät. Anders als bei Hegel nützt es dem Subjekt allerdings nichts, sich an die Objektivität zu halten, weil die objektiven Strukturen selbst sinnlos wird. Auch die Gewohnheit, die in der Ausbildung der sittlichen Tugenden eine so wichtige Rolle spielt (s. o. Kap. II.3.3), kann für Levinas keine positive Bedeutung haben, weil sie den Abstand, den das Ich zum Sein hat, vielmehr zum Verschwinden bringt. Die Trennung vom Sein, durch die das Ich sich aus dem Es-gibt heraushebt, bezeichnet Levinas als Innerlichkeit oder Psychismus (vgl. TU 68). Er denkt sie als eine Identifikation des Ichs, die absolut von innen geschieht (vgl. TU 79, 417). 14 Levinas identifiziert Hegels Begriff des Unendlichen mit dem Es-gibt: »In der Endlichkeit, der sich das Hegelsche Unendliche entgegensetzt, um sie in sich aufzunehmen, erkennen wir die Endlichkeit des Menschen vor den Elementen, die Endlichkeit des Menschen, der vom Es-gibt erfaßt ist, jeden Augenblick durchdrungen von Göttern ohne Antlitz, gegen die er die Arbeit aufbietet, um die Sicherheit zu gewinnen, in der das ›Andere‹ der Elemente als das Selbe erweist.« (TU 282)



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D. h. die Innerlichkeit ist nicht ein Selbstgefühl, das das Ich relational, in Bezug auf Anderes, erwirbt, sondern sie stellt seine absolute Identität oder Selbstheit (franz. ipseité) dar, die Levinas in der Empfindung (franz. sensation) bzw. der Sinnlichkeit (franz. sensibilité) des Ichs verortet (vgl. TU 78). Wichtig ist, dass dieses Sinnliche kein Inhalt ist, der eine Form füllt, dass es also keine korrelative Struktur aufweist, sondern vielmehr den absoluten Ausgangspunkt jeder sinnlichen Erfahrung dieses Ichs ausmacht (vgl. IuT 40 ; TU 268). Die erste Person ist damit für Levinas durch eine Innerlichkeit charakterisiert, die nicht im Begriff aufgeht und die sich dem Erkennen entzieht (vgl. TU 74, 80). Diese Innerlichkeit oder Selbstheit des Ich – und damit seine Trennung vom Es-gibt – wird zum Verschwinden gebracht, wenn das Ich mit dem Erkennen identifiziert wird (vgl. TU 167). Levinas bezeichnet das Ich, das sich aus dem Es-gibt herauslöst, als atheistisch, weil es den Bruch mit dem anonymen Sein ohne jeden Bezug auf das Unendliche vollzieht (vgl. TU 76 f.). Das atheistische Ich ist damit ein geschaffenes Wesen, d. h. ein Wesen, das sich nicht selbst ins Sein gebracht hat, das dennoch keine Beziehung zu seinem Schöpfer unterhält (ebd.). Dabei opponiert das Ich in der Trennung nicht gegen Gott und behauptet auch nicht etwa dessen Tod ; es geht vielmehr jeder Bejahung oder Verneinung des Göttlichen voraus (vgl. Liebsch 2016, 99). Die in diesem Atheismus implizierte Gefahr einer dauerhaften Verleugnung Gottes muss Levinas zufolge eingegangen werden, weil die Alternative eine ursprüngliche Partizipation in einem Gott ohne Transzendenz wäre.15 Die (doppelte) Trennung des Ichs vom Sein und vom Unendlichen konkretisiert sich im Genuss. V.2.2  Die Realisierung des Psychismus im Genuss

Anders als Kant und Hegel versteht Levinas das Ich nicht als ein Allgemeines, sondern beschreibt es ausgehend vom Genuss (franz. jouissance) in seiner Singularität (vgl. TU 206). Der Genuss bezeichnet dabei nicht das Genießen dieser oder jener Sache, d. h. das Ich ist nicht Träger des Genusses, sondern dieser ist die »eigentliche Kontraktion« (TU 165) des Ich. Der Genuss bezeichnet eine absolute Selbstbezüglichkeit des Ich, das in seiner Selbstheit auf nichts anderes verweist als nur auf sich selbst und so einen Überschuss über das relationale Sein darstellt (vgl. TU 82). Levinas artikuliert damit seinen eigenen Standpunkt jenseits von Descartes, Hegel, Husserl und Heidegger: Gegen Hegel und Heidegger, die 15 Levinas übernimmt den Begriff der Teilhabe von dem Kulturanthropologen Lévy-Bruhl, der damit das Streben bezeichnet, »in einem gemeinsamen Wesen aufzugehen« (LB 61).

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das Ich wesentlich relational verstehen, kehrt Levinas zu einem Subjekt zurück, das absoluter Ausgangspunkt ist (vgl. Batnitzky 2008, 209). Ein Ich, das in der Relationalität aufginge, wäre in seinen Augen eine contradictio in adiecto. Sein Subjekt beruht aber in anderer Hinsicht nicht auf den gleichen Prämissen wie das Ich bei Descartes und Husserl, insofern das Ich bei beiden wesentlich von der Erkenntnis her gedacht ist (vgl. Batnitzky 2004, 13). Für Levinas ist das Ich dagegen nicht über seine kognitiven Funktionen, sondern durch eine bestimmte Dimension seiner Sinnlichkeit bestimmt. So fällt es weder in die reine Selbstpräsenz zurück, noch ist es darauf reduziert, Modalität des Seins zu sein (vgl. Letzkus 2016, 162). Das Ich des Genusses unterscheidet sich von einem Subjekt, das von der Relationalität im Sein her verstanden wird, durch seine Absolutheit. Zugleich charakterisiert der Genuss jedoch ein Subjekt, das sich nicht in der gleichen Weise von dem anderen, mit dem es umgeht, freihält wie das vorstellende oder denkende Ich. Das Ich lebt von diesem anderen, wobei das Leben-von keine rein biologische Beziehung bezeichnet, sondern die qualitative Dichte des Erlebens meint (vgl. TU 152 ff.). Das Individuum lebt von der Nahrung, aber das Essen ist nicht nur der Ausgleich eines physiologischen Mangels, sondern stellt im Nagen des Hungers und im Wohlgefühl der Sättigung einen sinnlichen Überschuss dar, der, Levinas zufolge, jegliche Verrichtungen des Ichs begleitet. Entsprechend unterhält das genießende Ich mit dem Außen eine andere Beziehung als die der Vorstellung. Das Individuum intendiert die Außenwelt nicht nur, es ist vielmehr leiblich in ihr impliziert. Das Leben-von stellt damit eine Relation dar, die nicht in das Denken einzuholen ist (vgl. Batnitzky 2004, 18). Die Horizonte des Denkens, die für Husserl wiederum Gedanken sind, die auf Objekte zielen, überschreiten in Levinas’ Augen das objektive Denken, das vielmehr schon von dem getragen ist, was es zu erfassen meint. Die Intentionalität findet sich immer schon eingelassen in das, was sie intendiert ; sie erhebt gewissermaßen nur nachträglich den Anspruch, das zu konstituieren, wovon sie lebt (vgl. UV 131). Eben diese Nachträglichkeit macht die spezifische zeitliche Struktur des vom Sein getrennten Ich aus (vgl. TU 245). Die Gegenwart des Bewusstseins ist hinterfangen von einer sinnlichen Vergangenheit, die das Ich nie vollständig in seine Bewusstseinsgegenwart einholen kann: »Der ›Umschlag‹ des Konstituierten in Bedingung vollzieht sich, sobald ich nur die Augen öffne: Ich kann die Augen nicht öffnen, ohne schon das Schauspiel zu genießen.« (TU 183) Bevor das Ich dazu kommt, sich die Welt vorzustellen, hat sie sich ihm schon aufgedrängt (vgl. Tengelyi 2016, 280). Anstatt also wie Husserl die Sinnlichkeit im Denken aufgehen zu lassen, kehrt Levinas die Beziehung um: Jede Vorstellung ist selbst schon wieder von Sinnlichkeit getragen (vgl. JS 174). Der Genuss ist umfassender als das Erkennen ; er



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umfängt als Freude und als Schmerz die gesamte Existenz: »Der Genuss ist das äußerste Bewußtsein aller Inhalte, die mein Leben erfüllen – er umfaßt sie alle.« (TU 154) Insofern der Genuss nicht ein Sinn ist, der durch das Ich konstituiert wird, sondern vielmehr umgekehrt der Genuss das Ich konstituiert, liegt hier bereits jene Umkehrung der Intentionalität vor (vgl. TU 182), die für die Begegnung mit Andersheit charakteristisch ist. Die Bedingtheit des intentionalen Ichs durch eine Sinnlichkeit, die es nicht konstituiert, ermöglicht die Beziehung zur Exteriorität (vgl. Kapust 2016, 217), auf die ich im nächsten Unterkapitel eingehe. Das Ich des Genusses ist wesentlich inkarniert. Dabei »stößt [der Leib, A.C.] der Seele nicht zu wie ein Unfall« (TU 243), sondern er ist für Levinas vielmehr »die eigentliche Form, unter der die Trennung stattfindet, als das ›Wie‹ dieser Trennung« (TU 235). Das Ich löst sich aus dem Es-gibt durch die Doppelstruktur des Leibes: Dieser ist Verinnerlichung oder Sammlung-in-sich und gestattet damit zugleich die Beziehung auf Anderes, d. h. den Zugriff auf die Welt. Der Leib weist damit eine ganz ähnliche Struktur auf wie Hegels Ich, das Selbstbeziehung im Objektbezug ist. Anders als Hegel versteht Levinas die Innerlichkeit des Ichs jedoch nicht als Relationalität ; sie ist in diesem Sinne nicht Teil der Welt. Das inkarnierte Ich geht nicht aus Erfahrung hervor, sondern ist der absolute Ausgangspunkt aller Erfahrung. Levinas nimmt damit eine Dimension der reinen Selbstheit an, die jenseits von jedem Fremdbezug statthat. In dieser Selbstheit besteht die Freiheit des Ichs, die diesem trotz seiner Abhängigkeit von der Außenwelt (d. h. seiner Relationalität) zukommt (vgl. TU 162). So kann Levinas Leiblichkeit als Selbstbesitz und Herrschaft in der Unterwerfung unter die physischen Bedingungen begreifen (vgl. TU 236 f.). Seine Bedürfnisse machen das Ich nicht unfrei. Im Gegenteil liebt das Ich sie und kann »für das Glück […] sein bloßes Sein opfern« (TU 82). Nicht der terreur der absoluten Freiheit (vgl. Kap. II.1.1), sondern die Reduktion des Lebens auf die bloße Existenz würde dieses wertlos machen (vgl. TU 155). Das genießende Ich ist wesentlich solipsistisch (vgl. ZA 38). Der Genuss selbst, Freude und Leid, machen das Worumwillen des Subjekts in der Trennung aus (vgl. TU 154). Auch wenn es sich nicht mehr um ein sich selbst transparentes, transzendentales Ich handelt, lässt der Genuss damit die Selbstbezüglichkeit des Subjekts intakt. Der Genuss als das »Konkrete des Egoismus« (TU 42) gilt Levinas aber nicht als böse. Das Ich ist hier unschuldig egoistisch (vgl. TU 190) – es verweigert keinem Anderen das Brot ; es begegnet dem Anderen gar nicht erst. Seine Selbstbezüglichkeit ist darüber hinaus notwendig, denn in ihr artikuliert sich erst jene Struktur, die die Voraussetzung für die Begegnung mit dem Anderen ist (vgl. TU 42). Levinas charakterisiert den Genuss als Selbstgenügsamkeit schlechthin. Und dennoch bezweifelt er gleichzeitig die Autarkie dieses Glücks. In seinen Augen

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zeichnet sich menschliche Subjektivität durch ein Transzendenzbedürfnis aus, das durch Nahrung (im weitesten Sinne) nicht gesättigt wird. Das Leben findet im Genuss nicht seinen letzten Sinn (vgl. TU 209). Dieser liegt vielmehr im Anderen. Das Subjekt kann also nicht nur »für das Glück […] sein bloßes Sein opfern« (TU 82), sondern es kann sich auch »dem zuwenden, was ihm nicht fehlt« (TU 163) und sein Glück für das (bzw. denjenigen) opfern, der ihm wichtiger ist als dieses Glück. Dieser Beziehung zum Anderen, die das Herzstück von Levinas’ Denken über Subjektivität ausmacht, wende ich mich nun zu. V.3  Der Einbruch des Anderen

Dem genießenden Ich begegnet nichts, das seine Freiheit und seinen Selbstbesitz in Frage stellen könnte. Aber das Menschliche erschöpft sich Levinas zufolge nicht im Genuss und im Vermögen des Ichs. Das »Schlüsselereignis« (Waldenfels 1994, 341), in dem das Subjekt zum Ich im normativen Sinne wird, ist die Begegnung mit dem Anderen (franz. autrui), die Levinas in Analogie zu der Idee des Unendlichen denkt (vgl. TU 63). Der andere Mensch ist dabei einerseits sozialer Anderer, der ein bestimmtes Aussehen, bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten und eine bestimmte Geschichte hat und in diesem Sinne erkennbar ist. Worum es Levinas jedoch geht, ist, dass der Andere zugleich mehr und anders als alles dies ist. Er geht in der Erkenntnis von ihm wesentlich nicht auf, d. h. indem ich ihn erforsche, erfasse ich ihn gerade nicht. Levinas bezeichnet diese Trans­ zendenz des Anderen als sein Angesicht (franz. visage).16 Seine zentrale These ist, dass von dem Angesicht des Anderen ein Anspruch ausgeht, der das Ich jenseits von aller Intentionalität und Reflexivität in eine vor-moralische Verantwortung stellt, die das Ich nicht abzuweisen vermag, weil es sich zu ihr immer nur nachträglich verhalten kann. Ich werde im Folgenden zunächst diesen Grundgedanken, der im Zentrum von Levinas’ Denken steht, darstellen und zeigen, dass sich in der Begegnung mit dem Anderen die Dimension des Ethischen eröffnet. Im zweiten Schritt rekon­stru­iere ich diese Begegnung als das Aufbrechen des Gewissens.

16

Diese Zweideutigkeit des Angesichts betont Bernhard Waldenfels (2002, 271).



Das Gewissen als Affektion durch Transzendenz

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V.3.1  Die Transzendenz des Anderen

Levinas’ Darstellung der Begegnung mit dem Anderen geht wesentlich aus seinem Ungenügen an Husserls und Heideggers Konzeptionen der Intersubjektivität hervor. In seinen Augen ist der Andere weder ein Alter Ego, das in Analogie zum Ich verstanden werden kann, noch steht das Ich mit ihm als Mitseiendem zuerst über die Dinge in Beziehung. Vielmehr begegnet das Ich im Anderen einer irreduziblen Andersheit (vgl. TU 44). Der Andere ist – in der Terminologie der Phänomenologie gesprochen – kein Produkt der Sinngebung des Ich. Er »gibt« sich nicht von einem Horizont her, sondern ist absolut von sich her, καθ' αὑτό (vgl. TU 63).17 In Analogie zur cartesischen Idee des Unendlichen denkt Levinas den Anderen als einen Inhalt, der die Idee von ihm unendlich überschreitet (vgl. TU 63). Entsprechend lässt sich der Andere nicht in den Kategorien und Begriffen des Ich erfassen ; er erscheint als Anderer nur, indem er sich entzieht (vgl. Bedorf 2007, 417).18 So stört er die Immanenz des Ichs. Diese Andersheit des Anderen, die das Ich nicht aneignen und »aufheben« kann, bezeichnet Levinas auch als seine Freiheit (vgl. TU 44, 120).19 Das Ich erfährt die Transzendenz des Anderen, indem dieser dem Zugriff des Ichs widersteht (vgl. PIU 198). Dieser Widerstand hat nichts mit der Kraft oder der Geschicklichkeit des Anderen zu tun ; es ist überhaupt nichts, was der Andere tut und auch lassen könnte. Vielmehr beschreibt Levinas die Erfahrung, dass es »etwas« »am« anderen Menschen gibt, dass sich jeglicher Verfügung – auch etwa der wohlmeinenden des Mitleids, der Empathie oder der Fürsorge – entzieht (vgl. Liebsch 2016, 38). Levinas bezeichnet dies als den ethischen Widerstand des Anderen (vgl. PIU 198 f.). Er sieht, dass gerade diese Unverfügbarkeit des Anderen das Begehren, sich seiner zu bemächtigen, derart provozieren kann, dass das Ich ihn sogar töten wollen kann (vgl. IOF 21). Der Mord ist dann ein Ausdruck von Ohnmacht: Er trägt noch dem Überschuss der Andersheit Rechnung, die das Subjekt nicht aneignen und beherrschen kann, selbst dann – und vielleicht sogar 17 Der Eleatische Fremde in Platons Sophistes unterscheidet zwischen Seienden, die absolut (καθ' αὑτό), und Seienden, die relativ (πρὸς ἄλλα) sind. Während in der gewöhnlichen Deutung das Andere stets nur relativ anders ist, ist der Andere für Levinas absolut anders (vgl. EU 71 ; TU  417). Seine Andersheit lässt sich nicht auf Effekte diskursiver Praktiken, d. h. auf soziale Andersheit, reduzieren (vgl. Bedorf 2010, 138). 18 Für diese Erfahrung dessen, das nicht im Bewusstsein gegenwärtig sein kann, führt Levinas nach Totalität und Unendlichkeit den Begriff der Spur ein (vgl. SdA 233). 19 Während Levinas 1947 in seiner Vorlesungsreihe Die Zeit und der Andere noch ausschließt, den Anderen als frei zu beschreiben – Freiheit ist hier »eine Charakteristik, in die von vornherein das Mißlingen der Kommunikation eingeschrieben ist. Denn zu einer Freiheit kann es kein anderes Verhältnis geben als das des Sich-Unterwerfens oder der Verknechtung« (ZA 58)  –, ist sie später synonym zur Andersheit, als der einzigen »Wesensbestimmung« des Anderen.

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dann am allermeisten –, wenn der Andere ihm völlig ergeben oder vertraut ist. Denn gerade in der Nähe kann die Unverfügbarkeit des Anderen in besonderer Weise irritieren. Allerdings entzieht sich der Andere nicht nur und provoziert die Gewalt, sondern er untersagt sie zugleich auch und stellt das Ich unter einen Anspruch. Das kann damit einhergehen, dass der Andere explizit um Hilfe bittet oder etwas fordert ; es ist jedoch gar nicht notwendig, dass er spricht oder das Ich überhaupt bemerkt. Es geht Levinas vielmehr um die Erfahrung, dass man angesichts des Anderen unwillkürlich einer Art Forderung unterliegt, die sich nicht auf die sittlichen Pflichten ihm gegenüber beschränkt. In seiner Hilflosigkeit und Schwäche, in seiner Bedürftigkeit, aber auch in seiner Freude und seiner Zuwendung fordert der Andere mich. Diese Forderung kann ich ganz unterschiedlich empfinden: Möglicherweise fühle ich mich durch den Anderen gestört und eingeengt und will mich ihm entziehen. Vielleicht liebe ich ihn, erfahre jedoch seine Bedürftigkeit als einen Anspruch, der zu groß für mich ist und mich erdrückt. Auch wenn ich ihn gar nicht kenne, kann es mir unangenehm sein, den Anderen in seiner Schwäche und in seinem Elend zu sehen. Ich kann deshalb wegschauen wollen ; vielleicht spüre ich sogar Ekel oder Wut. Aber auch, wenn ich mich gegen den Anspruch wehre, weil ich ihn als ungerecht empfinde, habe ich ihn bereits erfahren. Die Begegnung mit dem Anderen ist in einem gewissen Sinne die Parallelstelle für die Begegnung der Selbstbewusstseine in Hegels Phänomenologie des Geistes (s. o. Kap. III), der Levinas damit eine neue Deutung gibt: Um in den Kampf auf Leben und Tod einzutreten, um also den Anderen töten zu wollen, muss das Ich, dieser Deutung zufolge, den Anspruch des Anderen erfahren haben. Allerdings zeigt der Kampf (ebenso wie die weitere, daran anschließende Entwicklung der Anerkennungsthematik) schon die Missachtung dieses Anspruches, den Levinas signifikanter Weise als Mordverbot fasst: »Du wirst keinen Mord begehen« (vgl. TU 285).20 Dieses Verbot untersagt die Gewalt gegen den Anderen, der – indem er mich in meiner Immanenz stört – meinen Hass oder meine Verzweiflung hervorrufen kann. Der Anspruch des Anderen, der sich im Mordverbot ausdrückt, steht so für eine dialektische Bewegung: Mit ihm eröffnet sich allererst die Dimension der Gewalt im Sein (gegen bloße Dinge kann man keine Gewalt ausüben), indem es sie zugleich als das ausspricht, was nicht sein darf. Das Mordverbot richtet sich aber auch gegen eine Missachtung des Anderen, die ihn – im wörtlichen oder im übertragenen Sinne – sterben lässt. Es fordert also nicht nur die Nicht-Schädigung des Anderen, sondern appelliert zugleich an das Ich, den Anderen zu schützen und ihn zu unterstützen. 20

Das Hebräische drückt den Imperativ als Futur aus.



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Die paradoxe Erscheinungsweise des Anderen, der sich dem Erkennen und dem Zugriff entzieht und das Ich zugleich in seiner Verletzlichkeit und Ausgesetztheit beansprucht, bezeichnet Levinas als Angesicht (vgl. TU 9). Er beschreibt das Angesicht als nackt, was darauf verweist, dass es von jeder kulturellen Form – ja, von jeder Form überhaupt – entkleidet ist. So meint der Terminus Angesicht nicht das konkrete Körperteil des Anderen mit Augen, Nase und Mund, aber es ist auch nicht eine bloße Metapher (vgl. Mosès 2004, 327). Das Gesicht steht vielmehr für den Anspruch des Anderen, durch den er mir als Anderer begegnet. Zentral ist dabei seine Sprachlichkeit. Es geht jedoch nicht in erster Linie um die Übermittlung von Informationen  – das »Umgießen« (IOF 18) eines Inhalts  –, sondern um das Faktum des Ansprechens und Angesprochenwerdens selbst – das »Einsetzen der Sozialität« (IOF 19) –, das sich auch jenseits von allem Sprachgebrauch vollziehen kann. Levinas zufolge können wir einander nicht begegnen, ohne in ein responsives oder Antwortgeschehen verwickelt zu sein. Wir können dem Anderen dann zwar jede bestimmte Antwort verweigern, aber nicht das Antworten überhaupt. Die Begegnung mit dem Anderen verschmilzt so mit der Verpflichtung durch ihn (vgl. Bedorf 2003, 63). Das Angesicht des Anderen ist etwas in der Erfahrung, das der Erfahrung äußerlich bleibt. Es öffnet die Dimension des Ethischen im Sein. Das Ich steht vom Anderen her unter einem Anspruch, der unbedingt ist, insofern das Ich ihn nicht abweisen kann. Es kann zwar ablehnen, in einer bestimmten Weise zu antworten, aber es kann den Anspruch als solchen nicht ungeschehen machen (vgl. TU 289). In der Ablehnung selbst bestätigt es ihn vielmehr noch. So findet sich das Ich wider Willen (franz. malgre soi), d. h. jenseits seiner freien Entscheidung und gegen seine eigenen Bedürfnisse und Interessen, in die Verantwortung für den Anderen eingesetzt. Diese Verantwortung ist prä-reflexiv, insofern sich das Ich immer nur nachträglich dazu verhalten kann. Sie ist außerdem vor-moralisch (vgl. Waldenfels 1995c, 323), d. h. sie bemisst sich nicht an Moralgesetzen und sittlichen Praktiken und ist unabhängig von der Frage nach faktischer Schuld und Zurechenbarkeit (vgl. Delhom/Hirsch 2007, 59 ; Lingis 1986, 226). Levinas kennt damit anstelle der hegelschen List der Vernunft, die die Individuen ohne ihr Wissen die Verwirklichung des Absoluten vorantreiben lässt (s. o. Kap. IV.2.3), eine unfreiwillige Verstrickung in Verantwortung, die er auch als Intrige der Verantwortung (franz. l’intrigue de la responsibilité) bezeichnet (vgl. JS 29). Im Gegensatz zu der von Hegel beschriebenen Anerkennungsrelation, die sich nur in dem gegensinnigen Tun der Beteiligten realisiert, denkt Levinas die prä-reflexive und vor-moralische Verantwortung für den Anderen als asymmetrisch.21 Meine Verantwortung für den Anderen hängt nicht davon ab, ob der 21

Derrida stellt in seinem frühen Aufsatz die Behauptung auf, es würde sich um »transzen-

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Andere andersherum auch für mich verantwortlich ist, ob er mich überhaupt bemerkt. Diese asymmetrische prä-reflexive und vor-moralische Verantwortung ist, Levinas zufolge, die Bedingung, von der her es nur Verpflichtung und Verantwortung in dem gewöhnlichen Sinne geben kann. Diese lassen sich in seinen Augen weder aus dem Selbstbezug des Subjekts noch aus den sittlichen Verhältnissen ableiten (vgl. Waldenfels 1995b, 43). Vielmehr müssen wir bereits auf eine prä-reflexive Weise den Anspruch des Anderen erfahren haben, um überhaupt verpflichtet werden zu können. Mit anderen Worten steht das Subjekt, das Verantwortung (in dem gewöhnlichen Sinne) übernimmt, schon in ihr (d. h. es ist schon durch den Anderen affiziert). Levinas unterläuft damit kein Sein-SollenFehlschluss, weil er nicht von der Deskription zur Präskription übergeht.22 Er sucht vielmehr verständlich zu machen, dass das Subjekt – jenseits von moralischen Ver- und Geboten – vom Anderen auf eine Weise affiziert wird, die die Bedingung dafür ist, dass es sich überhaupt für moralische Fragen und Geltungsansprüche interessiert. In der Forschung wenig beachtet, bezeichnet Levinas die vor-ursprüngliche Verantwortung für den Anderen auch als Verantwortung für die Freiheit des Anderen (vgl. HA 78 ; JS 243 ; S 311 f.). Diese Spezifizierung kennzeichnet in besonderer Weise eine Verantwortung, die nicht nach dem Maß des Subjekts ist. Während Hegel die Freiheit der Anderen in die Freiheit des Subjekts integriert (s. o. Kap. II und Kap. III), betont Levinas, dass die Freiheit des Anderen nicht gleichzeitig mit der Freiheit des Ich bestehen kann. Die Freiheit des Ichs würde die Freiheit des Anderen notwendig verletzen ; indem letztere in irgendeiner Weise vom Ich ab abhinge, wäre sie schon nicht mehr (vgl. JS 243). Die Freiheit des Anderen – seine Transzendenz – kann sich folglich nur als Vorrang des Anderen ereignen, der jeder willentlichen Entscheidung und Initiative des Ichs vorhergeht. Die Verantwortung für den Anderen wird damit durch dieselbe Freiheit des Anderen provoziert, die erst in der Verantwortung für ihn ist. Dass es sich hierbei nicht um eine schlechte Zirkularität handelt, liegt an dem ontologisch zweideutigen Status der Transzendenz. Diese ist nicht, sondern hat die paradoxe Struktur einer Ursache, die erst in ihrer Wirkung, dem ethischen Subjekt, erscheint (s. u. Kap. VI.3.3). Das (nicht-theoretische) Bewusstsein der Freiheit des Anderen ist das Gewissen (vgl. TU 340). dentale Symmetrie zweier empirischer Asymmetrien« (Derrida 1976, 191) handeln. Diese Frage entwickelt Steffen Herrmann in Auseinandersetzung mit Hegel und Levinas weiter (Hermann 2013). 22 Bernhard Waldenfels zufolge unterläuft der Anspruch des Anderen die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen, insofern es sich nicht um einen empirischen Fakt handelt, der Anspruch aber auch nicht eine Norm ist (Waldenfels 1995b, 42 ; Waldenfels 2002, 145).



Das Gewissen als Affektion durch Transzendenz

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V.3.2  Die Infragestellung des Ichs durch den Anderen: das Gewissen

Levinas zufolge besteht Gewalt darin, sich so zu verhalten, als ob man alleine wäre (vgl. FC 18 ; SF 15). Dies kann absichtlich geschehen, indem man die Anliegen Anderer bewusst ignoriert oder zunichte macht. Das Subjekt kann aber auch versehentlich gewaltsam sein, weil es den Anderen gar nicht bemerkt. Wie oben gesehen, ist das Ich im Genuss vollkommen selbstbezüglich. Es kann dabei durchaus mit anderen Menschen umgehen, ohne aber ihren Anspruch, d. h. sie als Anspruch, zu erfahren. Erst in der Begegnung mit dem Angesicht – wenn es die Transzendenz des Anderen erfährt – wird ihm sein Verhalten problematisch. Das Ich erfährt sich plötzlich als ungerecht und gewaltsam (vgl. TU 116). D. h. es empfindet einen Anspruch, den es schon verletzt, indem es sich gegenüber dem Anderen behauptet, ihm schadet oder jedenfalls nicht beisteht.23 Auch wenn der Andere gar nichts sagt und meiner vielleicht noch nicht einmal gewahr ist, ist es, »als ob« ich von ihm beurteilt würde.24 Dieses Urteil des Anderen im Ich selbst, das sich in dessen plötzlich aufkeimenden Skrupeln bemerkbar macht, ist das Gewissen. Levinas’ Auffassung des Gewissens unterscheidet sich grundlegend von Hegels Gewissensbegriff. Dennoch schließt auch er an ein intuitives Vorverständnis vom Gewissen an. Anders als Hegel zielt er dabei jedoch gerade nicht auf die Gewissheit des Subjekts ab (s. o. Kap. II). Es geht ihm, im Gegenteil, um die Erfahrung einer unwillkürlichen Hemmung der eigenen Vollzüge im Angesicht des Anderen. Er richtet damit das Augenmerk auf den merkwürdigen, um nicht zu sagen widernatürlichen Charakter des Gewissens (vgl. PM): Denn dieses ist eine Instanz, die das Subjekt von gewissen Handlungen abhält, obwohl sie Lustgewinn oder Nutzen versprächen und es in der Macht des Subjekts läge, sie zu tun. Es lässt einen auch Reue über Handlungen empfinden – nicht, weil sie sich als nachteilig erweisen oder scheitern, sondern weil man sie als unrecht empfindet. Das Gewissen bedeutet mithin eine Beschränkung der Handlungsmacht des Subjekts, die genuin ethischer Natur ist. Dabei gehen vom Gewissen, wie 23 Levinas geht so weit, das Ich mit Pascal als hassenswert zu bezeichnen: Indem ich nur bin, nehme ich Anderen den Platz weg (vgl. EA 249 ; NIB 161 f.). Selbstbewusstsein ist in diesem Sinne für Levinas »keine harmlose Feststellung«, sondern beginnt im Bewusstsein des »Schadens, den ich aufgrund meiner Struktur als Ego dem Anderen zugefügt habe« (RE 28). 24 Levinas spricht hier und andernorts im Modus des »als ob«: »In der Tat ist es so, als ob (comme si) die Gegenwart des Antlitzes […] meine Freiheit in Frage stellte.« (PIU 202, meine Hervorhebung) Es handelt sich um eine Infragestellung, die nicht explizit ausgesprochen wird, die sich überhaupt nicht auf der Ebene des Bewusstseins ereignet. Ähnlich wie bei Kant, der bezüglich der Ideen und anderer Begriffe, die sich der empirischen Erkenntnis entziehen, den Standpunkt des »als ob« einnimmt, bezeichnet das als ob bei Levinas »etwas«, das sich der Erkenntnis entzieht, ohne deshalb eine leere Fiktion zu sein.

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Levinas es freilegt, keine bestimmten Anweisungen aus (vgl. Bernasconi 1990, 6). Es öffnet das Subjekt vielmehr auf eine Dimension hin, die nicht kräftemäßig strukturiert ist.25 Während es durch Autoren wie Nietzsche und Freud zum alltäglichen Verständnis des Gewissens gehört, dass dieses aus der Interiorisierung von – kontingenten und entsprechend durchaus zweifelhaften – Vorschriften und Verboten hervorgeht, assoziiert Levinas das Gewissen mit der Erfahrung von Transzendenz: »Die Transzendenz als solche ist ›Gewissen‹ (conscience morale)« (TU 382). Das Gewissen ist mithin das – nicht-theoretische – »Bewußtsein des Vorrangs des Anderen vor mir« (PIU 200). In ihm erschließt sich die Andersheit des Anderen als die Erfahrung eines unbedingten Anspruches (vgl. Dastur 2002, 95 ; Raffoul 2010, 208).26 Was gerade eben als »ethischer Widerstand« und als »Tötungsverbot« beschrieben wurde, ist also die Erfahrung des Gewissens, in dem der Andere überhaupt nur als Anderer erscheint: »In der Tat kann sich der Andere außerhalb meines Gewissens nicht als Anderer zeigen, und sein Angesicht drückt meine moralische Unmöglichkeit aus, ihn zu vernichten.« (TU 340) Indem im Gewissen der Andere als Anderer erscheint, öffnet sich eine Dimension von Modalbestimmungen, die nicht ontologischer oder epistemologischer (s. o. Kap. I), sondern ethischer Natur sind. Dabei ist ethische Unmöglichkeit, ebenso wie ethische Notwendigkeit, nicht zwingend in dem Sinne, dass das Subjekt nicht anders handeln könnte. In diesem Sinne beherrscht sie das Ich auch nicht blind (ebd.). Das Subjekt könnte den ethischen Widerstand des Anderen überwinden ; aber es erfährt die ethische Unmöglichkeit zugleich als Widerstand, den Widerstand dagegen, sein Können gegen den Anderen einzusetzen, zu übergehen. Das Gewissen ist so die Erfahrung eines unbedingten Anspruchs des Anderen, der das Subjekt in seinen Handlungsvollzügen hemmt und es in Frage stellt (vgl. Peperzak 2010, 84). Levinas spricht deshalb auch davon, dass sich das Gewissen als Umkehrung der Intentionalität ereigne (vgl. TH 17). Dies ist nicht so zu verstehen, als ob der Andere und ich die Positionen vertauscht hätten und ich nun sein Gegenstand wäre (vgl. MacAvoy 2005, 112).27 Vielmehr unterbricht das Ich angesichts des Anderen unwillkürlich seine Selbstbehauptung (vgl. Bergo 25 Levinas greift damit in transformierter Weise die mittelalterliche Unterscheidung zwischen synderesis, dem Urgewissen, und syneidesis, das als Situationsgewissen die Anwendung der Prinzipien auf die konkrete Situation leistet, auf (vgl. Reiner 1974). 26 In diesem Sinne erscheint mir Paul Ricœurs Einwand, dass bei Levinas »die Metakategorie des Gewissens überflüssig« werde, da die Kategorie des Anderen den Anforderungen genüge (Ricœur 2005, 425), verfehlt. Jenseits des Gewissens erschiene der Andere in seiner Andersheit gar nicht. 27 Bernhard Waldenfels weist zu Recht darauf hin, dass die Rede von der Umkehrung mit Vorsicht zu genießen ist, insofern die bloße Umkehrung einer Sache dem verhaftet bleibt, das sie invertiert (vgl. Waldenfels 1995c, 336).



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2019, 91). Die Initiative, die beim Intendieren eines Gegenstandes beim Subjekt liegt, geht hier gewissermaßen vom »Objekt« aus, ohne dass der Andere deshalb das Subjekt der Forderung wäre. Diese Umkehrung der Intentionalität konkretisiert sich als Scham (vgl. PIU 204). Scham ist in diesem Kontext ein auffälliger Begriff, da sie erstens nicht zu den moralischen Gefühlen im engeren Sinne gehört und zudem auch mit der Erfahrung sozialer Unterdrückung assoziiert ist, von der man annehmen könnte, dass Levinas sie nicht zum Kern des Ethischen machen will. Es geht Levinas aber um die genuine Sozialität dieses Gefühls: Scham setzt die Intervention eines Anderen voraus – nicht nur, weil das Ich sich vor einem Anderen schämt, sondern weil es durch ihn überhaupt erst als das konstituiert wird, für das es sich schämt, nämlich als gewaltsam.28 Indem es sich schämt, erkennt das Ich dieses Urteil zugleich an. Dabei ist es gar nicht notwendig, dass die Anderen tatsächlich schauen und das Subjekt verurteilen. Es reicht vielmehr, dass das Subjekt sich erblickt fühlt. Entsprechend kann es dem Verdikt nicht entgehen. Während es sich den realen Blicken Anderer entziehen könnte, bleibt es unlösbar an sich selbst gebunden. Wesentlich ist zudem, dass die Scham kein theoretisches Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit ist (vgl. BS 42 ; SdA 223 ; TU 299), sondern eine unwillkürliche Empfindung, die das klare Denken aussetzen lässt. Jede theoretische Einsicht in den Vorrang des Anderen würde nicht nur der Begründung entbehren ; sie würde das Subjekt vor allem schon wieder in seiner Souveränität bewahren. Wie verhalten sich nun Scham und Begehren zueinander ? Insofern Levinas das Begehren des Unendlichen ganz ähnlich als Umkehr der Intentionalität und Zusammenbrechen der Selbstgleichheit des Ichs beschreibt (s. o. Kap. VI.1.2), stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Scham und Begehren, die doch sehr verschiedene, sogar gegensätzliche Empfindungen zu sein scheinen. Dies ist aber nur oberflächlich betrachtet der Fall: Begehren und Scham sind tatsächlich zwei Seiten desselben Ereignisses von Transzendenz. Das Begehren gilt der Andersheit des Anderen, dessen Vorrang das Subjekt in der Scham erkennt. Levinas meint, dass das Ich, indem es den Anderen in seiner Andersheit begehrt, seine eigene Ignoranz und Gewaltsamkeit entdeckt und sich seines Egoismus schämt. D. h. in seiner Scham begehrt das Ich den Anderen, ja, es schämt sich gerade, insofern es den Anderen begehrt, und vice versa (vgl. TU 115). Während sich das denkende Ich bei Descartes als endlich erfährt, indem es die Idee des Unendlichen in sich entdeckt, vertritt Levinas, dass das Subjekt sich in seiner Scham am Unendlichen »misst« (vgl. PIU 203 ; Delhom 2000, 243). Transzendenz fungiert so als ethisches 28 Diese Vorstellung einer ethischen Scham im Angesicht des Anderen stellt einen Gegenentwurf zu Sartres berühmter Analyse des Blicks dar (vgl. Sartre 1974, 338 – 397).

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»Maß«, ohne je artikuliertes Prinzip sein zu können. Das Urteil des Anderen, das vielmehr die Scham des Ich im Angesicht des Anderen oder das Gewissen ist (vgl. Houser 2019, 599), tritt so bei Levinas systematisch an die Stelle des Urteils der Geschichte (vgl. TU 27) – ohne freilich etwas Bestimmtes vorzuschreiben.29 Wie bei Hegel eignet dem Gewissen bei Levinas eine Zweideutigkeit (s. o. Kap. II.2). Diese besteht allerdings nicht in der Divergenz von absoluter Form und endlichem Inhalt (ebd.), sondern in dem zweideutigen ontologischen Status des Gewissens. Der Anspruch des Anderen ist nicht. Er lässt sich immer nur nachträglich, in einer »sekundären Rationalisierung« (Frankl 1966, 269) erschließen, in der die Affektion durch den Anderen schon verloren ist. Vom Anderen affiziert, räumt das bewusste Ich »dem Anderen ein Recht über [seinen] Egoismus ein« (TU 46), d. h. es tut der ethischen Notwendigkeit Genüge, den Anderen zu berücksichtigen und das eigene Verhalten vor ihm zu rechtfertigen. In dieser Rechtfertigung sieht Levinas den Ursprung der Vernunft (vgl. TU 367), die damit selbst von der Empfänglichkeit für den Anderen her zu verstehen ist. Das Gewissen ist nur vom Bewusstsein her zu denken und gewinnt seine spezifische Dynamik aus dem Rückbezug auf das Bewusstsein. Dabei wächst die (prä-reflexive, unwillkürliche) Verantwortung in dem Maße, wie das (bewusste, intentionale) Subjekt sie auf sich nimmt (vgl. Strasser 1978, 140). Je gerechter das Ich also ist, je mehr es schon auf den Anderen achtet und ihm beisteht, desto mehr wird es zugleich durch den Anderen affiziert (vgl. TU 143 ; 360 ; ToS 121 ; PIU 205). In dieser »wesentliche[n] Unersättlichkeit des Gewissens« (TU 143) zeichnet sich die Vertiefung der Subjektivität ab (vgl. Sugarman 2006, 261). Anstatt wie bei Hegel mit der Erfüllung der Forderungen zu einer Gleichheit mit sich zurückzukehren und sich mit sich zusammenzuschließen (s. o. Kap. II.3), findet sich das Levinas’sche Subjekt im Gegenteil immer weiter von sich abgelenkt (vgl. TU 360). Es kann sich dem Anderen weder verschließen noch diesen in sich »aufheben« (vgl. Peperzak 2010, 87). Mit dem Erwachen des Gewissens in der Begegnung mit dem Anderen beginnt so ein unabschließbarer Prozess, in dessen Verlauf das Ich immer weniger mit sich selbst übereinstimmt (vgl. TH 12). Diese Logik liegt in der Doppelstruktur des Subjekts begründet:30 Insofern sich der Anspruch des Anderen auf einer Ebene ereignet, die dem Bewusstsein inkommensurabel ist, kann das Ich sich nie abschließend ergreifen und damit seine Souveränität zurückgewinnen. In der bewussten Übernahme des Anspruchs ist es bereits wieder vom Anderen unterlaufen. Die Dynamik von Gewissen und Bewusstsein entspricht in diesem Sinne dem Scheitern des Autono29 Auf den schwierigen Zusammenhang zwischen Gewissen und Objektivität gehe ich im siebten Kapitel ein. 30 Auf diese diastatische oder Doppelstruktur der Subjektivität gehe ich im nächsten Kapitel (Kap. VI) genauer ein.



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miebestrebens des Ich, seiner Unfähigkeit, dem Anderen gegenüber indifferent zu bleiben. Statt um moralische Gewissheit oder sittliche Objektivität geht es Levinas also vielmehr um eine nachhaltige Störung der Selbstzufriedenheit des Subjekts (vgl. Bernasconi 1990, 6 ; Bernasconi 1999, 34), in der dieses »jedes gute Gewissen hinter sich läßt« (TU 442). Diese »Konversion der Seele zur Exteriorität« (TU 80) macht für Levinas die eigentliche »Revolution im Denken« aus (vgl. TU 83). Der Andere reißt das Ich aus seiner Selbstbezüglichkeit heraus, in der es dem Individuum um sich selbst und seine eigene Existenz geht (vgl. TU 83). Vom Gewissen her sind das eigene Glück und die eigene Befriedigung nicht mehr das Maß aller Dinge. So löst sich das Ich aus seiner »Verwurzelung im Sein« (TU 79), indem es – anstatt die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen – dem Anderen gibt (vgl. TU 247). Diese Umkehrung des conatus geht so weit, dass das Ich den Tod des Anderen mehr fürchtet als den eigenen Tod (vgl. Mosès 2004, 327). Auch Levinas kennt also eine Umkehrung, die konstitutiv für Subjektivität ist. Wie Hegels natürliches Bewusstsein oder das Ich in Husserls natürlicher Einstellung muss das Ich eine Art transzendentaler Wende vollziehen, um sich zu gewinnen. Aber während dies für Hegel und Husserl eine Veränderung der gnoseologischen Einstellung impliziert, bedeutet es für Levinas die Umkehrung vom ursprünglichen Egozentrismus des Subjekts in das Ethische (vgl. Strasser 1977, 108). Jenseits von jedem Moralgesetz und jeder sittlichen Ordnung stellt diese Konversion für Levinas den eigentlichen Bruch des Ichs mit der Natur dar. Die »Wahrheit des Wollens« realisiert sich nicht in der Selbstbestimmung des Willens in einer vernünftig eingerichteten Sittlichkeit (s. o. Kap. II), sondern sie »besteht darin, dass das Wollen sich dem Urteil unterstellt« (TU 362). Entsprechend verbleiben Hegels System der Bedürfnisse, Sittlichkeit und Staat in Levinas’ Augen in der naturhaften Selbstbehauptung des Subjekts verhaftet. Auch wenn in ihnen die naturhaften Triebe der Einzelnen mit der Allgemeinheit vermittelt werden und sich zu einer zweiten Natur formen, bleiben diese letztlich in dem Eigeninteresse des Subjekts verankert und rekurrieren auf sein Selbsterhaltungsstreben. Das Begehren des Anderen bedeutet dagegen für Levinas das unnatürliche und sogar pathologische Opfer des eigenen Genusses, das der Selbstbehauptung entgegen gerichtet ist. Dieser Verzicht ist nicht dasselbe wie Bedürfnislosigkeit: Ein Individuum ohne Bedürfnisse könnte weder den Anspruch des Anderen erfahren, noch könnte es die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse für ihn opfern. Das Ethische bedeutet aber gerade, die eigene Erfüllung – in gewissem Sinne das eigene endliche Leben – für den transzendenten Anderen zu geben.

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V.4  Das Verhältnis von Gewissen und Bewusstsein

Levinas scheint in Totalität und Unendlichkeit eine Konstitution des Subjekts zu beschreiben, die sich wesentlich in zwei Schritten vollzieht: Zunächst konstituiert sich das getrennte Ich im egoistischen Genuss ; im zweiten Schritt ereignet sich in der Begegnung mit dem Anderen ein Erwachen des Gewissens, das die ethische Konversion des Subjekts markiert.31 Daneben findet sich jedoch eine Reihe von Textstellen, die darauf hindeuten, dass tatsächlich die Begegnung mit dem Anderen bereits die Konstitution des getrennten Ich bedingt. Totalität und Unendlichkeit liegt damit die Ambiguität zugrunde, ob die ethische Beziehung das Ich unterbricht oder deren quasi-transzendentale Bedingung ist.32 Diese Ambiguität des Textes entsteht, weil beide Anfänge – jener des Psychismus und der zweite Anfang in der Begegnung mit dem Anderen – wechselseitig durcheinander bedingt sind, ohne sich zur Einheit bringen zu lassen.33 Das heißt aber, dass es kein Ich gibt, das nicht schon unter dem Anspruch des Anderen stünde. Das Unendliche manifestiert sich im getrennten Ich, das nur nachträglich auf seine unvordenkliche Bedingung stößt. In den folgenden drei Abschnitten entfalte ich entsprechend die These, dass die ethische Beziehung bereits die Konstitution des Ich bedingt: Zuerst rekon­ struiere ich Levinas’ Argument dafür, dass Bewusstsein die Infragestellung des Anderen voraussetzt. Das Gewissen wäre damit die Bedingung des bewussten Ichs. Diese Vorgängigkeit der Beziehung zum Anderen findet Levinas auch bei Descartes angelegt. Deshalb greife ich im zweiten Abschnitt erneut Levinas’ Descartes-Interpretation auf und zeige, dass Levinas die wechselseitige Beglaubigung des Cogito und der Idee des Unendlichen durcheinander, die ansonsten als circulus vitiosus angesehen werden muss, in eine nicht-lineare Struktur umdeutet (vgl. Atterton 2004, 10), die die Struktur des Subjekts als eines geschaffenen Wesens artikuliert. Levinas bezeichnet die ethische Beziehung als Metaphysik (vgl. TU 32 – 39). Da sie kein Zweig der Philosophie unter anderen, sondern die Bedingung von Epistemologie und Ontologie ist, ist die Ethik erste Philosophie. In diesem Sinne werde ich im dritten Schritt zeigen, dass die phänomenale Welt für Levinas von der ethischen Beziehung her zu denken ist. Levinas gelingt es so, das Denken der Totalität zu unterlaufen, ohne sich ihm entgegenzusetzen: Sie ist als Totalität 31 Beispiele für diese weit verbreitete Lesart sind Thomas Bedorf (2003, 33), John Drabinski (2001, 217) und Stéphane Mosès (2004, 332). 32 Eine solche Ambiguität bezüglich der Vorgängigkeit des Anderen konstatieren auch Michael Fagenblat (2019, 123) und Burkhard Liebsch (2016, 47), ohne sie jedoch aufzuklären. 33 Zu der Struktur der zwei Anfänge bei Levinas vgl. Fischer (2013, 65).



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nur, insofern sie nicht Totalität ist, d. h. insofern sich in ihr das Sinnhafte nicht erschöpft. V.4.1  Vernunftkritik vom Anderen her

Levinas legt eine Beziehung zum Anderen frei, die sich der Vermittlung des Bewusstseins entzieht, und er macht einen unbedingten Anspruch geltend, der in keiner sittlichen Ordnung begründet ist. Aus Hegels Perspektive liegt es deshalb nahe, ihm ein unkritisches Denken und Dogmatismus zu unterstellen. Tatsächlich stellt Levinas sich jedoch in die Tradition kritischer Philosophie – freilich mit einer Vernunftkritik ganz eigener Art (vgl. Bernasconi 1988b, 236). Er begreift die husserlsche Phänomenologie, deren Geist er für sich in Anspruch nimmt (vgl. TU 7), als genuin kritisch, da sie das Augenmerk auf die vergessenen Horizonte richtet, die das Denken bedingen, ohne selbst in ihm thematisch zu sein (vgl. UV 136 f.). Dabei radikalisiert Levinas, in einer Bewegung, die Hegels Überbietung der kantischen Vernunftkritik gleichsam entgegengerichtet ist, Husserls Anliegen: Er legt einen »Horizont« frei, der durch keine Reduktion bewusst werden kann, der aber die äußerste »Bedingung« des Denkens darstellt – die Begegnung mit dem Anderen. Wie Hegel denkt auch Levinas, dass sich die Vernunft nicht durch bloßes Nachdenken über sich selber kritisieren kann (s. o. Kap. I.2.1). Anders als Hegel geht er jedoch nicht davon aus, dass das kritische Vermögen in der sich selbst prüfenden Struktur des Bewusstseins angelegt ist. Für Levinas gilt das Denken als willkürlich und dogmatisch, solange es nur immanent bleibt. Entsprechend kann die Kritik der Vernunft gerade kein autonomer Akt des Denkens sein. Die Kritik muss von außen, von jenseits des Bewusstseins kommen (vgl. Atterton 2004, 11), ohne diesem bloß von außen angetragen zu werden (s. o. Kap. I). Eine solche Kritik, die gleichzeitig immanent ist und dem Bewusstsein von einem absoluten Außen zukommt, findet in der Infragestellung durch den Anderen statt (vgl. Bernasconi 2012, 262 ; Perpich 2001, 318). Wie eben ausgeführt, offenbart sich dem Subjekt in der Begegnung mit dem Anderen der gewaltsame Charakter seiner Vollzüge. Hier eröffnet sich der Unterschied zwischen Können und Dürfen (vgl. Krewani 1982, 125). Damit erscheint ein anderes »Maß« für das Denken und Handeln, als es die Wirklichkeit ist. Die Verantwortung für den Anderen liegt auf einer ganz anderen Ebene als Fragen der Machbarkeit und der Effizienz. Sie befreit das Subjekt von seinem Dogmatismus, der für Levinas darin besteht, einzig die eigenen Bedürfnisse und Vermögen als Richtschnur zu nehmen. In der Rücksicht auf den Anderen erfüllt sich so in Levinas’ Augen »das kritische Wesen des Wissens« (TU 51). Levinas’ Version

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der Vernunftkritik, die weder epistemologisch noch ontologisch, sondern vielmehr ethisch ist, gilt dabei nicht nur Husserls transzendentalem Ich, sondern jedweder Konzeption, die die Vernunft im Ausgang von den Vermögen des Subjekts – seien sie nun theoretischer oder praktischer Natur – zu denken sucht. Levinas argumentiert, dass Selbstbewusstsein seine Quelle in der Infragestellung durch den Anderen hat. Wenn Selbstbewusstsein – wie bei Hegel und Husserl – die Aufklärung der eigenen Struktur, d. h. die Explikation der Denkbestimmungen oder Erlebnisweisen, erfordert, dann braucht es eine Unterbrechung des Vollziehens und die Umwendung auf den Vollzug selbst (vgl. TU 113). Levinas fragt deshalb, wodurch es allererst zu einem solchen Innehalten kommt (vgl. Bernasconi 1999, 27). Er prüft hierfür zwei mögliche Szenarien: Zum einen kann der Vollzug scheitern, so dass eine Anpassung nötig wird – dies macht den »Weg der Verzweiflung« in Hegels Phänomenologie aus (s. o. Kap. I) ; zum anderen kann das Subjekt innehalten, weil es sein eigenes Handeln als unrecht erlebt (vgl. TU 113). Levinas zufolge versteht sich das westliche Denken wesentlich im Sinne des ersten Szenarios. Die Vernunft wird so vom Problemlösen her verstanden ; sie ist ein Lernen aus Fehlern. Hegels dialektisches System kann als Systematisierung eines solchen Vorgehens verstanden werden, insofern hier jede Neubestimmung aus dem spezifischen Ungenügen der vorherigen Bewusstseinsgestalt hervorgeht. Die entscheidende Pointe in Levinas’ Argumentation besteht nun in der Feststellung, dass die Vernunft als Verfahren der Problemlösung ihren eigenen Ursprung nicht erklären kann. Denn dieses Verfahren rekurriert auf »ein Vermögen […] über das eigene Scheitern und über die Totalität zu reflektieren« (TU 114), das es selbst gerade erst begründen sollte. Der Begründung des Epistemischen durch das Epistemische unterläuft eine petitio principii (vgl. TU 115). Es muss also ein anderes Ereignis sein, das ein solches Innehalten provoziert und die Reflexion über den eigenen Vollzug allererst ermöglicht, ohne die darin implizierte Selbstdistanz schon vorauszusetzen. Dieses Ereignis ist eben die Entdeckung der eigenen Gewaltsamkeit, die sich als Scham ereignet (vgl. TU 249). Wie gerade beschrieben, ist Scham für Levinas nicht das theoretische Bewusstsein der eigenen Verfehlungen, sondern die unwillkürliche Hemmung des Ichs. Hier ist das Innehalten ein ethisches Ereignis. Im Gegensatz zur Reflexion über den gescheiterten Vollzug setzt dieses Ereignis die theoretische Haltung nicht schon voraus. Die Infragestellung durch den Anderen kann so der initiale Moment eines Innehaltens und einer Selbstkritik sein, der ein kritisches Bewusstwerden der eigenen Vollzüge erst ermöglicht. Entsprechend erfüllt sich das kritische Anliegen der Vernunft, indem sie sich als Moralität erkennt (vgl. Bernasconi 1988a, 265). Dabei geht es Levinas nicht darum, dem Theoretischen das Praktische vorzuordnen, wie Heidegger dies tut (vgl. TU 132). Vielmehr haben ihm zufolge sowohl das Theoretische wie



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auch das Praktische ihre Bedingung in der Infragestellung durch den Anderen. Selbstbewusstsein »beginnt […] mit dem Gewissen, in dem der Andere als Anderer gegenwärtig ist« (TU 119, Übers. mod.). Das Gewissen ist damit nicht die transzendentale Bedingung des Ethischen, wie Levinas manchmal verkürzend verstanden wird, sondern die Bedingung für Bewusstsein überhaupt (vgl. Bernasconi 1988b, 247). Denn die Selbstdifferenz, die für Selbstbewusstsein und Welterfahrung konstitutiv ist, kommt von der Beziehung zum Anderen her (vgl. Krewani 1982, 124). Anders als bei Hegel besteht die Kritik der Vernunft für Levinas nicht in der Selbsthervorbringung der Denkbestimmungen, sondern beginnt mit der Infragestellung des Daseinsrechts des Subjekts. Das »Kriterium« dieser Kritik ist nicht, was wirklich möglich ist (s. o. Kap. I.1.3), sondern der Anspruch des Anderen im Gewissen. Die Frage nach einer Begründung dieses Anspruchs weist Levinas zurück. Gründe gehören zum Bereich des Wissens und der Erkenntnis, deren Kritik gerade auf das Ethische führte. Der Anspruch des Anderen kann nicht begründet werden und er muss es auch nicht, weil sich von ihm her allererst die Ordnung des Begründens und der Rechtfertigung eröffnet.34 Nicht »Was ist ?« oder auch »Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts ?«, sondern »Habe ich ein Recht zu sein ?« ist die erste Frage (vgl. BüS 228).35 Diese Frage ist nicht theoretischer Natur. Sie bedeutet vielmehr, dem Anderen – entgegen der natürlichen Selbstbehauptung – ein Recht über sich einzuräumen. Insofern das Denken vom Anderen her beginnt, erfordert Levinas’ »Hypokritizismus« nicht nur das Einholen der Bedingungen des Denkens, sondern einen Rückgang hinter diese Bedingungen.36 Während das Durchdenken der Denkbestimmungen sich für Hegel darin vollendet, dass es jedes Andere in sich eingeholt und sich damit davon befreit hat (s. o. Kap. I), behauptet Levinas eine irreduzible Andersheit am Ursprung des Denkens selbst, die verhindert, dass dieses sich je vollständig transparent sein könnte. Diese Andersheit im Ich verweist auf das Geschaffen-Sein des menschlichen Subjekts, seinen »Status der Kreatur« (TU 119). Entsprechend ist das Schlüsselmoment des Geistes nicht das Selbsterfassen des Erfassens (vgl. TU 122 f.), sondern die Infragestellung des Ichs als Bedingung 34

Der Beginn des Vernünftigen ist selbst »extra-rational« (Perpich 2019, 252). Das heißt nicht zugleich, dass diese Frage auch als Erstes gestellt wird. Levinas weist in Jenseits des Seins darauf hin, dass die »zuvor kommenden oder vorgängigen Fragen […] gewiß nicht die ersten [sind], die gestellt werden« (JS 67, Fußnote 2). Es handelt sich also nicht um eine Vorgängigkeit in der Zeit, sondern um einen logisch-metaphysischen Vorrang. 36 In diesem Sinne charakterisiert Llewelyn Levinas’ Philosophie treffend als Hypokritizismus: »Wenn der Kritizismus das Zurückgehen auf die Bedingungen des Wissens meint, wie es in der kritischen Philosophie Kants exemplifiziert ist, dann ist der Hypokritizismus […] der Rückgang hinter diese Bedingungen.« (Llewelyn 2005, 61) 35

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des Bewusstseins: »Das Gewissen oder das Begehren sind keine Modalitäten des Bewußtseins unter anderen, sondern die Bedingung des Bewußtseins« (TU 144). Levinas hebt damit das Thema der Vernunftkritik auf eine neue Stufe, indem er zeigt, dass die Vernunft eine Bedingung hat, die sie weder selbst hervorbringen noch nachträglich in sich selbst einholen kann. Der Vorwurf, dass eine solche Vernunftkonzeption die Handlungsfähigkeit des Subjekts unterläuft – für Hegel hatte das Gewissen aufgrund seines Dezisionsvermögens die Bedeutung, Handeln zu ermöglichen (vgl. Kap. II und III) –, ist dabei für Levinas kein Gegenargument, sondern positives Charakteristikum dieser Kritik (vgl. Atterton 2004, 24). V.4.2  Das Gewissen als Bedingung des Bewusstseins

Levinas denkt das Gewissen als die Bedingung des Bewusstseins, die aber nur nachträglich, vom bewussten Ich her, erfahren wird. Damit zeichnet sich eine Struktur wechselseitiger Bedingtheit zwischen zwei Instanzen ab, die sich gleichwohl auf verschiedenen Ebenen ereignen und nicht zur Einheit zu bringen sind (vgl. TU 212 ; GP 97 ; GTZ 224). Diese Struktur zweier Evidenzen oder Anfänge sieht Levinas auch in Descartes’ Darstellung des Cogito und der Idee des Unendlichen angelegt: Hier geht das Denken selbst bereits auf die Beziehung mit dem Unendlichen zurück, die es nur nachträglich als seine unvordenkliche Bedingung erfasst (vgl. TU 313). In ähnlicher Weise, wie Hegel die kantische »Unbequemlichkeit«, dass der Selbstbezug des Ich immer schon auf einen Objektbezug verweist, zur genuinen Struktur des Ichs umdeutet (vgl. Kap. I), versteht Levinas den Zirkel, der Descartes’ Argumentation in der zweiten und dritten Meditation zu unterlaufen scheint (vgl. Atterton 2004, 10 ; Atterton/Calarco 2005, 25), als ein nicht-lineares Bedingungsverhältnis von Gewissen und Bewusstsein, das in seinen Augen die Struktur von Subjektivität charakterisiert. Die Vorgängigkeit der Idee des Unendlichen vor dem Denken, in dem sie aufbricht, wird dabei an zwei Punkten deutlich: Zum einen stellt Levinas heraus, dass das denkende Ich nie an der Evidenz des Cogito Halt finden könnte, wenn diese nicht bereits von Gott her garantiert wäre ; zum anderen richtet Levinas den Blick auf die Frage, was das Subjekt allererst aus seinem »dogmatischen Schlummer« (vgl. GP 95) weckt, wieso es also überhaupt zu zweifeln anhebt. Zum ersten Punkt: Descartes unterscheidet zwischen dem rein theoretischen Denken und dem Willen als dem Vermögen der Zustimmung und Ablehnung (vgl. AT 56.9 – 58.13). Im reinen Denken geschieht, ihm zufolge, kein Irrtum ; allein im Urteil kann das Subjekt fehlgehen (vgl. AT 59.28 – 60.10). Entsprechend verordnet sich das Ich aufgrund der Einsicht in die Mangelhaftigkeit seiner Gewissheiten



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eine weitreichende Urteilsenthaltung: Es beschließt, nichts als wahr anzunehmen, dessen es sich nicht absolut gewiss wäre. Diese Urteilsenthaltung gipfelt in Descartes’ Darstellung darin, dass das Ich im Cogito auf eine Evidenz stößt, die es nicht bezweifeln kann: sein eigenes Denken. An genau dieser Stelle hakt nun Levinas ein, fragt nach der Natur dieser Gewissheit und nimmt statt der epistemologischen eine ethische Deutung vor. Levinas bestreitet, dass das denkende Ich aus sich selbst heraus zu einer unzweifelhaften Gewissheit zu gelangen imstande wäre: Es kann für sich alleine im Cogito keinen Halt finden. Vielmehr müsste es die Gewissheit seines Denkens stets erneut anzweifeln und somit in einen unendlichen Regress geraten. Diese »Bewegung des Abstiegs in einen Abgrund« (TU 130) assoziiert Levinas mit dem Es-gibt, dem anonymen Sein. Dem zweifelnden Ich schwindet so alle Realität und es ist von sich her »zu keiner Bejahung in der Lage« (TU 131). Das »Ja« kann nur vom Anderen kommen. In Descartes’ Fall heißt das, dass nur die Gewissheit der Güte Gottes das Ich einer unbezweifelbaren Realität versichern (vgl. TU 131) und damit die schwindelnde Bewegung stoppen kann, in der es sich zu verlieren droht. Dass Descartes den Zweifel bereits in der ersten Runde wieder aussetzt, verweist in Levinas’ Augen darauf, dass das denkende Ich die Idee des Unend­ lichen bereits empfangen hat. So gesehen ist der radikale Zweifel eine Farce, denn Descartes »kann im Voraus die Rückkehr der Bejahung hinter der Verneinung absehen« (TU 131). Er unterschlägt in seiner Darstellung die Bedingung, die diese Affirmation erst ermöglicht. Zweitens: Levinas bekräftigt, dass das Cogito den Anfang darstellt, insofern das Ich in ihm seine eigenen Bedingungen ergreift (vgl. TU 118). Allerdings macht Levinas geltend, dass die Bedingung dieses Ergreifens der eigenen Bedingungen selbst nicht im Denken liegt (vgl. ebd.). Indem Descartes meint, sich gewissenhaft jeder ungeprüften Gewissheit zu enthalten, um sich von hier aus rein erfassen zu können, entgeht ihm, dass diese Selbstergreifung eine Bedingung hat, die das Denken nicht selbst hervorbringt (vgl. TU 118). Diese Bedingung ist die Beziehung zum Unendlichen, die in Levinas’ Augen bereits Ursache des Zweifels ist (vgl. TU 118). Um überhaupt Anstoß an der Mangelhaftigkeit seiner Gewissheiten zu nehmen, muss das denkende Ich bereits eine Idee des Vollkommenen haben. Die Wahrheitssuche selbst, die den Vorrang der Wahrheit über die Unwahrheit impliziert, geht so schon auf eine Beziehung zurück, die selber nicht der Initiative und dem Beschluss des Subjekts entspringt (vgl. Peperzak 1993, 43).37 37 Levinas liest Descartes nicht rein erkenntnistheoretisch, sondern nimmt es ernst, dass die Frage des Erkennens für Descartes selbst Gewissensfrage ist. Levinas’ Lesart ist dadurch gestützt, dass Descartes in Anbetracht des Irrtums nicht nur von wahr und falsch, sondern auch von Sünde spricht (vgl. AT 59,28 – 60,10 ; AT 60,26 – 61,8.). Das Ich, das mit seinem Willen über das Denken hinausschießt, unterliegt nicht nur möglicherweise einem Irrtum, sondern es sündigt. Von der

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Dieser Deutung zufolge leitet die Idee des Unendlichen also schon die Bewegung an, die erst zu ihrer Auffindung führt. Das Cogito setzt sich entsprechend nur scheinbar in einer vom Anderen unabhängigen Weise (vgl. TU 304). Ohne sich dessen bewusst zu sein, ist das Subjekt schon von dem angeleitet, dessen es erst nachträglich gewahr wird.38 Mit diesem Rückgang vor das Denken nimmt Levinas keinen anderen, früheren Ursprung an, sondern unterläuft das Ursprungs- und Begründungsdenken insgesamt (und damit zugleich das Denken der Totalität). Das Bewusstsein ist Ursprung nur in Bezug auf eine Vorgängigkeit, die es als Ursprung demontiert, ohne sich selbst zum Ursprung zu eignen. Das bewusste Ich geht auf eine Beziehung zurück, die selbst nicht im Denken stattfindet und die die Selbstgegenwart des Ich bei sich unterläuft. Die programmatischen Begriffe des Titels, Totalität und Unendlichkeit, bezeichnen damit keine Konjunktion wie bei Hegel, aber sie stehen auch nicht in einem disjunktiven Verhältnis (vgl. Bernasconi 2010, 307). Vielmehr unterläuft das Unendliche die Totalität, die es als ihre Bedingung nicht zu enthalten vermag. Das Unendliche stiftet und unterläuft – stiftet, indem es sie unterläuft – die – damit innerlich transformierte – Totalität (vgl. IuT 41). Die Trennung des Ich (d. h. das Bewusstsein) ist selbst das Ereignis des Unendlichen. Das Ich geht aus der Beziehung zum Unendlichen als die Bedingung dieser Beziehung hervor: Die Ursache des Seienden wird durch ihre Wirkung gedacht oder erkannt, als ob sie später wäre als ihre Wirkung. […] Die Trennung wird nicht im Denken reflektiert, sondern das Denken ist das Ereignis der Trennung. Das Danach oder die Wirkung bedingt das Vorher oder die Ursache: Das Vorher erscheint und wird nur empfangen (TU 68).

Die nicht-lineare Struktur dieser Beziehung schlägt sich auch in der Konkretisierung der Konstitution des Ichs im Genuss nieder: Anders als Levinas es zunächst darstellt, wird diese Konstitution des Ichs durch den Empfang des weiblichen Anderen ermöglicht (vgl. Delhom 2000, 162 ; Gürtler 2001, 334).39 Wie Levinas nachträglich klarstellt, braucht es für die Herausbildung der Selbstheit die »Intimität mit Jemandem« (vgl. TU 62, 221). Das Ich wird empfangen ; der Genuss, der vierten Meditation her lässt sich der Zustand des Individuums, das seine Gewissheiten nicht prüft, nicht nur als ignorant, sondern als schuldig beschreiben. Das Ungenügen am mangelhaften Wissen ist damit bei Descartes nicht epistemisch verfasst, sondern ist selbst schon moralischer Natur. 38 Mit der Idee des Unendlichen wiederholt sich damit in gewisser Weise die Struktur der bedingten Bedingung, die sich auch zwischen Vorstellung und Sinnlichkeit abzeichnet (vgl. Delhom 2016, 186). Diesen Zusammenhang expliziere ich im nächsten Kapitel weiter (s. u. Kap. VI). 39 Zur Kritik an Levinas’ Verwendung von Geschlechterkategorien vgl. Jacques Derrida (1991b) ; Tina Chanter (2001a und 2001b) ; Sabine Gürtler (2001) und Cynthia Coe (2019).



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dem werdenden Subjekt »wie ein glücklicher Zufall« (TU 202) aus den Elementen zuzukommen schien, wird schon von jemandem gegeben. Der Andere ist – wenn auch in einer modifizierten Form  – immer schon da. Es ist diese Umhegung durch den weiblichen Anderen, die dem Umstand Rechnung trägt, dass wir nicht als fertige Subjekte auf die Welt kommen, sondern geboren werden, auf die das Gewissen letztlich zurückgeht (vgl. Gürtler 2001, 345).40 Levinas beschreibt also zwei unterschiedliche Arten der Begegnung mit dem Anderen: Die Infragestellung durch den Anderen, die die ethische Konversion des Subjekts provoziert und das Geben ermöglicht ; und die Anwesenheit des weiblichen Anderen, der das Ich nicht fordert, sondern allererst sein Entstehen ermöglicht. Anders als bei Hegel nimmt das Subjekt nicht in Todesangst und Zucht seinen Ausgang (s. o. Kap. III.1.2), sondern in der Milde (vgl. TU 235). Solcherart umsorgt und genährt, kann das Ich des Anderen gewahr werden und auf seinen eigenen Genuss verzichten, um dem Anderen zu geben. Auch wenn Levinas die ethische Beziehung radikal asymmetrisch denkt, kommt es damit in der zeitlichen Erstreckung zu einer Art Weitergabe des Empfangs. Das Ich empfängt nicht denjenigen, der es empfangen hat, sondern Andere, die ihrerseits wiederum Andere empfangen können. Levinas spricht in diesem Sinne von einer Fruchtbarkeit, die nicht auf biologische Beziehungen reduzierbar ist (vielmehr haben die biologischen Verhältnisse ihre Bedeutung von der ethischen Beziehung her). Insofern das Ich ist, ist es für den Anderen empfänglich: Andernfalls wäre es nie ein Ich geworden. Paradox formuliert beginnt die Gegenwart bei sich vom Anderen her. Nicht cogito ergo sum, »Ich denke, also bin ich«, sondern hineni, »Hier bin ich / Sieh mich«41 drückt dann die Gewissheit der eigenen Existenz aus als einer, die dem Anderen immer schon zugeeignet ist (vgl. Peperzak 2010, 85). V.4.3  Ethik als erste Philosophie

Anders als Hegel, für den das Wesen des Geistes Selbsterkenntnis ist (s. o. Kap. I.2), vertritt Levinas, dass sich das Menschliche nicht in dem erkennenden Selbstbezug erschöpft. In seinen Augen ist das Menschliche vielmehr von der Beziehung 40 Die ethische Beziehung in Totalität und Unendlichkeit vollendet sich nicht mit der Begegnung zum Angesicht, sondern mit der Fruchtbarkeit als der (Weiter-)Gabe des Empfangs. Robert Bernasconi betont zu Recht, dass Interpretationen, die lediglich auf das Angesicht fokussieren, zu kurz greifen (vgl. Bernasconi 2012, 268). Ich gehe auf die Fruchtbarkeit hier nicht genauer ein, weil sie die Struktur vorausnimmt, die Levinas unter dem Begriff der Substitution in Jenseits des Seins ausarbeitet (vgl. ebd.), auf die ich im nächsten Kapitel eingehe. 41 Die zweite Übersetzung versucht den Akkusativ im Hebräischen wiederzugeben.

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mit dem Unendlichen her zu verstehen, die sich in der ethischen Beziehung konkretisiert. Diese Beziehung geht jeder Erkenntnisrelation voraus, insofern sich in der Anrede des Anderen zuallererst die Dimension des Sinnhaften eröffnet.42 Der Andere unterweist das Ich in dem, was es in keiner Weise aus sich selbst hervorbringen kann (vgl. TU 64). Dies ist kein anderer Inhalt als die Andersheit des Anderen selbst (vgl. TU 89, 248). Die Beziehung zum Anderen, mit dem das Ich spricht, liegt der Beziehung zu den Dingen, die in dem Gespräch thematisiert werden, voraus (vgl. TU 94). Sie bedingt das diskursive Denken, ohne in ihm aufzugehen (vgl. TU 294). Levinas setzt damit dem maieutischen Modell des Geistes, das auch Hegel in einer abgewandelten Form vertritt (vgl. Kap. I.2), das cartesische Modell entgegen (vgl. EU 70 f. ; PIU 172 ; TU 262): Die Idee des Unendlichen oder Transzendenz kann das Ich nicht aus sich selbst schöpfen. Levinas meint, dass die Welt ohne den Anderen nicht intelligibel würde. Weder im solipsistischen Genuss noch im Denken würde sie eine stabile Gegenständlichkeit annehmen (vgl. Dews 2017, 105). Das Ich könnte sich nicht von sich her aus dem il y a befreien. Aber selbst schon die Gegenwart dieser anarchischen Welt verweist auf den Anderen, denn eine Welt ganz ohne Anderen würde sich gar nicht erst darbieten (vgl. Bernasconi 1988a, 269). Dass überhaupt etwas ist, dass es Gegenwart und Manifestation gibt, setzt bereits die Beziehung zum Anderen voraus. Während Hegel die menschlichen Beziehungen der Erkenntnis unterordnet (vgl. TU 54), denkt Levinas, dass das Ethische, in dem spezifischen Sinne, den er ihm gibt, erst Erkenntnis ermöglicht. Die Objektivität geht nicht aus einem dialektischen Prozess hervor, wie Hegel dies annimmt, sondern kon­ sti­tuiert sich zwischen Menschen (vgl. TU 135). Levinas vertritt damit eine Art Personalismus, d. h. für ihn sind in einem eminenten Sinne nur der Andere bzw. die Anderen.43 Die Dinge haben kein eigenständiges Sein ; sie sind, wie er sagt, »nicht an sich« (TU 233), sondern werden aus ihrer elementalen Indifferenz nur herausgehoben als Gegenstände, die der Andere mir bezeichnet (vgl. TU 128 f.). Die Welt mit ihren Gegenständen und sozialen Verhältnissen wird »gesetzt in einer Rede« (TU 135), die die Dinge erst individuiert, sie identifizierbar und bedeutsam macht. Der Andere ist dabei das Prinzip der Phänomenalität (vgl. TU 129), ohne selbst Phänomen zu sein. Dies 42 Wenn Heidegger zeigt, dass nicht die Sprache von den Dingen, sondern umgekehrt die Dinge von der Sprache her ihre Bedeutung erhalten (vgl. Heidegger 1976, 333 ff.), so fügt Levinas hinzu, dass es die Sprache nicht ohne das Ansprechen und Angesprochensein durch jemanden gibt. Hier wird deutlich, dass es Levinas schon in Totalität und Unendlichkeit nicht lediglich um die Umkehrung der Priorität zwischen Sein und Seiendem, sondern um eine Überschreitung der ontisch-ontologischen Differenz geht (vgl. Marion 2004, 313). 43 Diese besondere Stellung des Anderen weist Stanley Cavell aus, indem er argumentiert, dass Skeptizismus in Bezug auf den Anderen nicht lediglich ein epistemischer Mangel ist (vgl. Cavell 2005, 150).



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erinnert an Hegels Ansicht, dass gerade nicht die endlichen Dinge, die uns so real erscheinen, im eigentlichen Sinne Wirklichkeit haben, sondern vielmehr das Unendliche, das wir für eine bloße Idealität halten, wirklich ist (vgl. Kap. I). Anders als bei Hegel ist für Levinas jedoch nicht das Nicht-Sein des Endlichen das Sein des Unendlichen, d. h. das Unendliche ersteht nicht aus der Negation des Endlichen, sondern es hält sich jenseits von ihm. Natürlich stellt sich die Frage, ob der Andere nur ein Mensch sein kann, und wenn diese Frage zu bejahen ist, was ihn als Anderen auszeichnet, wenn es nicht die biologische Gattungszugehörigkeit ist. Levinas wird oft dafür kritisiert, dass er Tiere nicht berücksichtigt und ihnen – wenn überhaupt – nur sehr zögerlich ein Angesicht im ethisch relevanten Sinne zugesteht (vgl. Atterton 2019, 709 ; ­Llewelyn 1991, 237). Ich denke nicht, dass aus Levinas’ Konzeption notwendig folgen muss, dass nur dem menschlichen Anderen ein Anspruch auf Rücksichtnahme zukommt. Unumgänglich festzustehen scheint mir hingegen, dass in Levinas’ Augen einzig dem menschlichen Angesicht jene besondere Qualität zukommt, durch die sich die Dimension der Intelligibilität allererst eröffnet. Wir sind überhaupt nur empfänglich für die Einzigartigkeit und den Wert eines Tieres oder eines Baumes, weil wir schon Angesprochene sind.44 Das Ich begehrt denjenigen, der selbst ein Gewissen hat, der in diesem Sinne ein Selbst ist (vgl. Waldenfels 2005b, 189). Die Illeität, Levinas’ Ausdruck für die Spur des Unendlichen in ihm, die seine Andersheit konstituiert (vgl. Mosès 2004, 333), bezeichnet zugleich seine Empfänglichkeit für Transzendenz. Der Andere ist so kein Endpunkt des Begehrens, sondern »die Transzendenz transzendiert hin auf den, der transzendiert« (vgl. TU 394). Der Andere, den das Ich begehrt, ist jemand, der seinerseits begehrt. Während also einige Interpreten meinen, dass es die Unvorhersehbarkeit des Anderen sei, die seine Transzendenz ausmache (vgl. Bergo 2019, 85), denke ich vielmehr, dass es seine Selbstheit ist, die ihn außerhalb des Seins stehen lässt und ihn für die Ansprüche von Anderen empfänglich macht. Levinas bezeichnet die ethische Beziehung als Metaphysik (vgl. TU 38, 421). Das heißt, dass die Ethik – in der Bedeutung, die Levinas diesem Begriff gibt – nicht ein Zweig der Philosophie unter anderen, sondern erste Philosophie ist 44 John Sallis fragt, ob es nicht auch eine ethische Antwort auf die Natur geben könnte: »Is enjoyment the only way, the all-encompassing way, of comporting oneself to the elemental ? […] Or could the elemental – extending into the there is, as the coupling of the element with the there is – provoke an ekstasis irrecoverable by enjoyment and its interiorizing movement ? Could the elemental provoke a comportment that, rather than leading to self-reversion, would be drawn along in the withdrawal, responsive rather than reactive to the very strangeness of the world ?« (Sallis 1998, 159) Dies kann für Levinas jedoch nur abgeleitet der Fall sein, d. h. es ist durch die Begegnung mit dem Anderen bedingt.

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(vgl. TH 20). Dabei geht es Levinas, auch wenn dieser Vorrang des Ethischen nach einer ontologischen Behauptung klingt (vgl. Bernasconi 1988b, 239), nicht darum, die Fundamente tiefer zu legen (vgl. ebd. 247). Die Vorgängigkeit, die er der ethischen Beziehung zuschreibt, ist nur scheinbar Erbe eines transzendentalen Denkens (vgl. Franks 2008, 185 ; Gordon 2008, 202). Denn Levinas macht (trotz der ontologischen Sprache, die er in Totalität und Unendlichkeit noch verwendet, vgl. TU 8), mit der ethischen Beziehung eine Struktur geltend, die nicht mehr ontologisch verfasst ist. Das Cogito und die Idee des Unendlichen stehen nicht in einem Begründungsverhältnis. Ihre Beziehung artikuliert sich vielmehr in einer Bewegung der Totalisierung, die nie zum Abschluss kommen kann, weil sie unablässig durch eine Gegenbewegung der Überschreitung kontrapunktiert wird (vgl. Waldenfels 2005b, 190). Levinas privilegiert das Ethische nicht, um es als Wert zu behaupten – Levinas ist kein Moralist –, sondern weil das Gewissen in seinen Augen die Bedingung der Intelligibilität überhaupt ausmacht (vgl. Peperzak 1983, 125). Der Aufweis dieser Bedingung bedeutet zugleich die innere Transformation der Totalität des Intelligiblen. Denn diese erweist sich als bedingt durch das, was sie nicht in sich einholen kann (vgl. TU 25).45 Sie besteht als Totalität des Denkbaren und Seienden nur, insofern sich das Sinnhafte nicht in ihr erschöpft, d. h. sie ist als Totalität nur, indem sie nicht Totalität ist (vgl. Kavka 2019, 372). Anstatt also eine Ordnung durch eine neue zu ersetzen, denkt Levinas das Ethische vielmehr als eine bleibende Irritation der Ordnung, die damit zu keiner Schließung mehr gelangt. Diese Irritation durch das Ethische darf nicht als Unterbrechung und Dezentrierung eines vormals selbstidentischen Ichs verstanden werden (vgl. Marion 2004, 321). Die Beziehung zum Unendlichen primär setzen heißt, das Subjekt als von Vorbeginn an enteignet zu begreifen (vgl. Askani 2016, 69 ; Bloechl 2019, 401). Auch wenn Levinas in Totalität und Unendlichkeit also noch von dem Ich als dem »Selben« spricht, dem ein »Anderer« begegnet, ist damit bereits die philosophische Konzeption von Identität in eben jener Weise herausgefordert, die Levinas erst in seinem zweiten Hauptwerk, Jenseits des Seins (und einigen Essays, in denen sich dieser Übergang abzeichnet), explizit macht. Mit der formalen Struktur der Idee des Unendlichen und dem Primat der ethischen Beziehung vor jedem Wissen ist Levinas’ Kritik an Hegel in ihrer Struktur skizziert. Aus der bisherigen Darstellung ergeben sich zwei Fragen, die die beiden folgenden Kapitel motivieren. Die erste Frage lautet, welche Struktur Subjektivität haben muss, damit die Begegnung mit Transzendenz überhaupt denkbar ist. 45 Entsprechend verändert Levinas gegen Ende von Totalität und Unendlichkeit auch seine Interpretation des Krieges: Während dieser in den dramatischen Eingangspassagen des Buches für die totalisierende Bewegung der Ontologie steht, macht Levinas später geltend, dass der Krieg selbst die Begegnung mit dem Angesicht voraussetzt (vgl. TU 321).



Das Gewissen als Affektion durch Transzendenz

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Ihr ist das nächste Kapitel gewidmet, das damit die Gewissensthematik noch einmal aus einer anderen Perspektive heraus aufgreift. Die zweite Frage zielt darauf, wie die Beziehung zwischen dem Gewissen und der Objektivität zu denken ist. Dieser Frage ist das letzte Kapitel gewidmet, in dem ich mich der Thematik des Dritten zuwende, die bei Levinas für den Zusammenhang des Ethischen mit dem Politischen steht.

VI. Die Subjektivität des Subjekts als der-Andere-im-Selben

 Z

entral für Levinas’ Denken ist die Auffassung, dass Erkenntnis und Wille das Subjekt nicht erschöpfend beschreiben. Dabei ist Levinas’ Anspruch nicht nur, dass es eine Dimension des Subjekts jenseits seiner reflexiven Struktur gibt (was Hegel zugeben kann), sondern er behauptet, dass diese die eigentliche Subjektivität des Subjekts darstellt, ohne die die Reflexion niemals anheben könnte (was Hegel widerstreitet). Die Rückwendung auf sich, die für Hegel die logische Struktur der Subjektivität ausmacht (s. o. Kap. I), setzt in Levinas’ Augen eine Selbstheit (franz. ipseité) voraus, die das Bewusstsein weder selbst hervorbringen kann noch nachträglich »aufzuheben« vermag (vgl. JS 129). Das Subjekt ist also wesentlich nicht Begriff in Hegels Sinne (vgl. JS 379). Es ist ein Ich vielmehr nur als Antwort auf eine vor-ursprüngliche Affektion (vgl. Gürtler 2001, 76), die Levinas in seinem zweiten Hauptwerk, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, – Husserls Theorie des inneren Zeitbewusstseins radikalisierend – als eine Affektion der Sinnlichkeit jenseits der vom Bewusstsein einholbaren Zeit denkt. Das Subjekt hat damit eine diastatische Struktur (vgl. JS 255):1 Das Ich (franz. moi) hebt in einer Sinnlichkeit (franz. sensibilité) an, die es nicht selbst setzt und die es auch nachträglich immer nur verfälschend zu Bewusstsein bringen kann, weil sie der Form des Bewusstseins inkommensurabel ist. Diese Sinnlichkeit – das Sich (franz. soi) – beschreibt Levinas als absolute Passivität. Absolute Passivität bezeichnet dabei nicht die Passivität eines Subjekts (im Gegensatz zu seiner Aktivität bzw. Spontaneität), sondern sie beschreibt eine Affektion, die das Subjekt erst in die Existenz ruft und auf die hin es sich ergreift. Sie steht mithin für seine Kreatürlichkeit: Das Ich hat sich nicht selbst in die Welt gebracht ; es ist vielmehr nur als Antwort auf eine Vorgängigkeit (vgl. Bedorf 2010, 140 ; Waldenfels 2002, 110). So ist es Ursprung und Prinzip (griech. ἀρχή) seines eigenen Denkens und Handelns, aber es ist ein Ursprung, der, paradox gesprochen, von woanders her oder an-archisch beginnt. Die vor-ursprüngliche Affektion stellt für das Subjekt, das von ihr her ist, eine unvordenkliche Vergangenheit dar, d. h. eine Vergan1 Bernhard Waldenfels verwendet den Begriff der Diastase für die – unüberwindbare – Kluft zwischen dem, »wovon wir getroffen sind und worauf wir antworten« (Waldenfels 2002, 60). Die Diastase beschreibt damit eine zeitliche Verschiebung, die sich nicht in die lineare Struktur der Zeit einfügt. Denn das Widerfahrnis manifestiert sich nur in der Auffassung von ihm, die zugleich nachträglich zum Widerfahrnis ist ; »beides geschieht in eins, wenngleich in einer zeitlichen Verschiebung, die eben aus der Antwort ein nachträgliches, aus dem Widerfahrnis ein vorgängiges Ereignis macht« (vgl. Waldenfels 2002, 60).

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Kapitel VI

genheit, die nie Gegenwart des Bewusstseins war und die auch nachträglich nicht erinnert werden kann. Der selbstbegründenden Struktur hegelscher Subjektivität stellt Levinas so die an-archische Struktur des menschlichen Geistes entgegen (vgl. Strasser 1977, 107). Die diastatische Struktur des Subjekts antwortet auf die Frage, wie dieses beschaffen sein muss, um dem Anderen zu begegnen und von ihm in Frage gestellt werden zu können (vgl. Bernasconi 2002, 246 ; Bernasconi 2012, 268).2 Wie im letzten Kapitel gezeigt, kann das Erkennen keiner absoluten Andersheit begegnen, weil alles, was erkannt wird, die Form des Ich hat (s. o. Kap. V.1.1). Wenn also Andersheit begegnen soll, wenn das Ich die Idee des Unendlichen im Ich enthalten soll (vgl. Kap. V.1.2), dann kann das Subjekt nicht bloß Funktion der Kategorien sein (vgl. Bedorf 2007, 417). Den wesentlich von Derrida vorgebrachten und hegelianisch gefärbten Einwand, dass das Ich dem Anderen entweder gar nicht begegnet oder es sich, falls eine Begegnung stattfindet, nicht um den radikal Anderen handelt (vgl. Derrida 1976, 187), entkräftet Levinas, indem er eine Andersheit in der Sinnlichkeit des Subjekts selbst aufweist (vgl. Baring 2019, 136 ; Bernasconi 2002, 235 ; Critchley 1999b, 183). Diese Andersheit der Sinnlichkeit »im« Subjekt ist das paradoxe »Korrelat« der Exteriorität: Das au-delà, das absolute Außen oder Jenseits, ereignet sich im en deça, im Diesseits der Sinnlichkeit (vgl. Hofmeyr 2009, 27).3 Die diastatische Struktur des Subjekts erläutert damit Levinas’ Konzeption des Gewissen, das ich im letzten Kapitel als Begegnung mit der Andersheit des Anderen herausgearbeitet habe (s. o. Kap. V.3.2), in wesentlicher Hinsicht weiter. Sie bestätigt zudem die These, für die ich im letzten Kapitel argumentiert habe: Die Affektion durch den Anderen bedeutet nicht die Öffnung eines zuvor in sich abgeschlossenen Ichs ; das Ich hebt vielmehr von einer Affektion her an, die von vornherein seine Totalität unterläuft (s. o. Kap. V.4). Mit der »Verortung« der Begegnung des unendlich Anderen in der Sinnlichkeit des Subjekts ist noch nicht klar, in welchem Sinne diese Affektion ethische 2 Anders als jene Interpreten, die zwischen Totalität und Unendlichkeit und Jenseits des Seins einen radikalen Bruch und eine Neuorientierung annehmen (vgl. Esterbauer 1992), lese ich die Werke damit – trotz der offensichtlichen Differenzen in Sprache und Perspektive – in Kontinuität zueinander. Meines Erachtens komplementiert die Darstellung der Subjektivität in Jenseits des Seins das Projekt, das Levinas mit Totalität und Unendlichkeit begonnen hatte und liegt ihm selbst bereits implizit zugrunde (vgl. Bernasconi 2019, 260). Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass Levinas in dem späteren Werk die ontologische Sprache überwindet, die in Totalität und Unendlichkeit noch vorherrscht (vgl. TU 8). Das Ethische kann in Levinas’ reifem Denken in keiner Weise mehr an die Stelle der Ontologie treten bzw. eine Ontologie begründen. 3 Auch wenn Levinas von der Sinnlichkeit des Ich spricht und sich leiblicher Metaphern bedient, um die vorursprüngliche Dimension der Subjektivität zu beschreiben, entwirft er keine Theorie des Leibes (vgl. Bedorf 2012, 69, 80). Das, was Levinas unter Sinnlichkeit versteht, steht in einem nur vagen Zusammenhang mit physiologischen Phänomenen. Es ist vielmehr spiritueller Natur und hat transzendentale Funktion (vgl. Bergo 2005d, 267 ; Drabinski 2001, 187).



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Bedeutung haben kann. Entsprechend ist das Herzstück von Jenseits des Seins die Figur der Substitution, mit der Levinas die – unwillkürliche – Umkehr des Erleidens durch den Anderen in ein Leiden für den Anderen beschreibt.4 D. h. das Subjekt ersteht in seiner Intentionalität wieder, indem es den unliebsamen Anderen auf sich nimmt. Levinas’ Konzeption des Gewissens weist damit deutliche strukturelle Parallelen und zugleich signifikante Differenzen zu Heideggers Analyse des Gewissens auf, auf die sich Levinas jedoch bemerkenswerterweise nirgends explizit bezieht (vgl. Stähler 2009, 96). Sowohl Heidegger als auch Levinas denken das Gewissen als eine Affektion, die das Subjekt in eine unbedingte Verantwortung einsetzt – bei Heidegger für die eigene Existenz, bei Levinas für den Anderen –, die das Subjekt immer erst nachträglich, d. h. als schon schuldhaft versäumte, auf sich nimmt. Während aber das Versäumnis bei Heidegger in der Struktur der Existenz angelegt ist, in der das Subjekt sich immer schon vorfindet und deren Faktizität es nicht überwinden kann, geht es für Levinas aus der diastatischen Struktur des Subjekts hervor. Dies hat wesentliche Konsequenzen für Levinas’ Konzeption von Freiheit: Während sich Heideggers Dasein in Levinas’ Augen nie aus seiner Bedingtheit zu lösen vermag, vollbringt die Substitution den Bruch mit der Relationalität des Seins. Mit der ontologisch unbedingten Freiheit, die durch die absolute Heteronomie der ethischen Beziehung denkbar wird, legt Levinas zugleich eine mächtige Revision der idealistischen Autonomie- und Freiheitskonzeptionen vor. Mein Anliegen in diesem Kapitel ist, Levinas’ Begriff des Gewissens als Begegnung mit dem Anderen, wie ich es im letzten Kapitel rekonstruiert habe, durch die Analyse der diastatischen oder Doppelstruktur des Subjekts zu ergänzen. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf der Dialektik von Genuss und Schmerz, die dieser diastatischen Struktur zugrunde liegt: Das Subjekt erfährt das Gute (d. h. die Affektion durch den Anderen), das die Befriedigung seiner Bedürfnisse unterbricht, als Schmerz. Deshalb widersetzt sich das Ich dem Guten, das es als Sich zugleich begehrt. Die spezifische Dynamik von Gewissen und Bewusstsein ermöglicht es dabei, dass das Subjekt seine Selbstbehauptung überwindet und sich von sich selbst befreit, ohne im Allgemeinen aufzugehen. Levinas denkt die Erfüllung des Subjekts damit nicht wie Hegel als seine Realisierung (vgl. Kap. II.3), sondern als Erlösung.5 4 Das Für-den-Anderen, das bei Hegel ausdrückt, dass der Andere mitbestimmt, was eine Handlung ist (s. o. Kap. III.2), schlägt so bei Levinas um in das Für-den-Anderen der Verantwortung, wo es nicht darum geht, als was der Andere das Ich ansieht, sondern das Ich – jenseits aller sozialen Identität – für den Anderen verantwortlich ist. 5 Diese Einsichten sind wesentlich im Gespräch mit Nicolas de Warren entstanden.

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Kapitel VI

Das Kapitel ist in drei Unterkapitel gegliedert: Im ersten führe ich die diastatische Struktur des Subjekts ein. Diese Doppelstruktur hat ihre Vorläufer in den frühen Schriften, wo sie im Zusammenhang mit Levinas’ Auseinandersetzung mit Heidegger steht. Entsprechend weise ich zunächst Heideggers Konzeption der Existenz in ihren Grundzügen aus und skizziere Levinas’ Kritik daran. Ich zeige, dass Existenz in diesem Sinne für Levinas Unfreiheit bedeutet und aus ihrer Struktur selbst ein Bedürfnis nach Transzendenz hervorgeht, deren Realisierung zu denken ihm zu diesem frühen Zeitpunkt jedoch die Mittel fehlen. Anschließend stelle ich die diastatische Subjektstruktur dar, wie Levinas sie in Jenseits des Seins artikuliert. Ich ergänze damit die Rekonstruktion des Gewissensbegriffs im letzten Kapitel, indem ich die absolute Passivität des Subjekts jenseits des intentionalen Bewusstseins als den »Ort« des Gewissens ausweise. Dabei mache ich deutlich, dass sich die Ausgesetztheit an den Anderen nur in der Dynamik der ungleichen und in einem spezifischen Sinne gegensinnigen Strukturmomente des Subjekts manifestieren kann.6 Damit das Sich zur Geltung kommen kann, bedarf es des Ichs, das jedoch schon eine Distanzierung vom Anderen darstellt und dem ein eigenes, selbstisches Streben eignet. Diese Struktur wird exemplifiziert durch die Differenz zwischen Sagen (franz. dire) und Gesagtem (franz. dit), mit deren Darstellung ich das erste Unterkapitel beschließe. Die Affektion durch den Anderen gewinnt ethische Relevanz, indem sich das Erleiden durch den Anderen in ein Leiden für den Anderen umkehrt. Dieses Geschehen der Substitution stelle ich im zweiten Unterkapitel dar. Meine These ist, dass die Affektion durch den Anderen selbst schon ein Leiden für den Anderen ist, also mit der prä-reflexiven Verantwortung für ihn zusammenfällt. Dabei verteidige ich Levinas gegen die Kritik, dass das Subjekt durch den Anspruch des Anderen determiniert und damit unfrei wäre, indem ich argumentiere, dass die Substitution als affektive Antwort auf die Affektion durch den Anderen zu verstehen ist, die – ebenso wie die Entschlossenheit bei Heidegger die Wahl des Wählens, aber noch nicht den tatsächlichen Entschluss bezeichnet – noch nicht die konkrete Antwort in der Welt ist.7 Weiter argumentiere ich, dass die Affektion durch den Anderen, die Levinas auch als Verfolgung bezeichnet, ihm als die – paradoxe – Bedingung von Subjektivität gilt. Abschließend gehe ich mit der Figur des Psychopathen auf den pathologischem »Grenzfall« eines Subjekts ein, dem die Affizierbarkeit durch den Anderen scheinbar abgeht. 6 Ich wähle den Ausdruck »gegensinnig« hier mit Bedacht. Um im logischen Sinne gegensätzlich zu sein, müssten das Ich und das Sich einen gemeinsamen Grund haben, was aber gerade nicht der Fall ist. Die Gegensinnigkeit soll dagegen ihre gegenläufigen Orientierungen – für-sich und für-den-Anderen – ausdrücken. 7 Der Frage, wie die Beziehung zwischen der Antwort der Verantwortung und der konkreten Antwort zu verstehen ist, wende ich mich im nächsten Kapitel zu.



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Das dritte und letzte Unterkapitel unternimmt es, die freiheitstheoretischen Implikationen der diastatischen Subjektstruktur zu artikulieren. Zunächst zeige ich, dass Levinas das Gute als ein Erwähltsein vor jeder eigenen Wahl versteht, dem sich das Subjekt folglich nicht entziehen kann. Im zweiten Schritt argumentiere ich, dass die Substitution jene Befreiung von sich zu denken erlaubt, die Levinas in seinen frühen Schriften vergeblich sucht, und deshalb als Erlösung zu verstehen ist. Abschließend expliziere ich die Struktur der Inspiration, die es Levinas erlaubt, die Freiheit des Ich von seiner absoluten Heteronomie her zu denken, und die in meinen Augen eine mächtige Revision der Autonomie-Pro­ ble­matik darstellt. VI.1  Die diastatische Struktur des Subjekts

Zentral für Levinas’ Konzeption eines Subjekts, dem Andersheit begegnen kann, ist eine spezifische zeitliche Struktur, mit der Levinas Husserls Theorie des inneren Zeitbewusstseins radikalisiert. Während Husserl Bewusstsein als zeitlich erstreckt versteht und den Bewusstseinsstrom durch eine komplexe Verschmelzung von jeweils neuen Eindrücken (Urimpressionen) mit Modifikationen der soeben vergangenen (Retentionen) und Antizipationen zukünftiger Eindrücke (Protentionen) zu bestimmen sucht, macht Levinas an der Stelle der Urimpression eine Affektion aus, die für das Subjekt eine unvordenkliche Vergangenheit darstellt, weil sie nie Gegenwart des Bewusstseins ist und auch nachträglich immer nur in modifizierter Weise Eingang in das Bewusstsein findet. Levinas denkt damit die synchrone Zeit dessen, was das Bewusstsein zu synthetisieren vermag, von der heterogenen Zeitlichkeit einer Affektion her, die dem Bewusstsein inkommensurabel ist. Diese heterogene Zeitlichkeit, die er als Diachronie bezeichnet, erlaubt es Levinas, ein Subjekt zu denken, das seine ihm unverfügbare Bedingung in einem Moment absoluter Passivität hat. Der Andere ist dem Ich so in die eigene Sinnlichkeit eingeschrieben. Dabei gilt der Andere-im-Selben – das Gewissen – Levinas als die eigentliche Subjektivität des Subjekts (vgl. JS 69). Im Folgenden gehe ich zunächst (soweit dies für die Explikation der diastatischen Subjektstruktur relevant ist) auf den Vorläufer dieser Struktur der Subjektivität in den frühen Schriften ein. Ich zeige, dass die Existenz in Heideggers Sinne in Levinas’ Augen eine tragische Unfreiheit bedeutet, insofern das freie Ich durch sich selbst in das Sein eingebunden ist. Die zugrunde liegende Doppelstruktur der Subjektivität greift Levinas in Jenseits des Seins in einschlägig veränderter Weise wieder auf: Im Zentrum von Levinas’ zweitem Hauptwerk steht die »meta-ontologische oder meta-logische Struktur« (JS 226) einer Subjektivität, deren nicht-intentionaler Anteil eine Andersheit im Ich selbst darstellt, die

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seine vorursprüngliche Ausgesetztheit an den Anderen bedeutet. Diese Andersheit im Subjekt oder das Sich rekonstruiere ich im zweiten Abschnitt als den »Ort« des Gewissens. Das Sich oder das Gewissen kann sich nur in dem gegensinnigen Strukturmoment des bewussten Ich manifestieren. Dem Verhältnis von nicht-reflexivem Sich und bewusstem Ich entspricht die Differenz von Sagen und Gesagtem, von der ich im dritten Schritt zeige, dass das Sagen, das die Affektion durch den Anderen bezeichnet, eine Differenz im Gesagten offenhält, die ein unabschließbares Widerrufen und Neu-Sagen des bereits Gesagten erforderlich macht. Diese Bewegung gibt zugleich an, wie das Ethische (in Levinas’ Sinne) im Ontologischen Bedeutung haben kann. VI.1.1  Die diastatische Struktur des Subjekts in den frühen Schriften

Eine diastatische Struktur der Subjektivität findet sich bereits in Levinas’ Auseinandersetzung mit Heidegger in seinen frühen Schriften Einige Betrachtungen zum Hitlerismus (1934), Ausweg aus dem Sein (1935) und Vom Sein zum Seienden (1947). In die Dopplung ist hier wesentlich die Unerlässlichkeit der Bindung an sich eingeschrieben, die in Levinas’ Augen Freiheit unmöglich macht. Es hat schon fast etwas Perfides: Das freie, denkende und handelnde Ich ist an sich, d. h. sein leibliches, bedingtes, Schmähungen und Schmerz ausgesetztes Selbst, gebunden und erfährt so gerade seine »Freiheit« als quälende Unfreiheit. Da diese Bindung jeder Bezugnahme auf die Welt vorausgeht, ist andersherum auch keine dieser Bezugnahmen geeignet, sie zu lösen (vgl. EE 30). 8 Gegen Heidegger, der Freiheit als die Offenheit des menschlichen Individuums auf seine Möglichkeiten begreift, erscheint Levinas die von Heidegger freigelegte Existenz mit ihrer unüberwindlichen Faktizität deshalb als Gefangenschaft.9 Ausgehend von dieser 8 So fokussiert Levinas in den Betrachtungen zum Hitlerismus auf die Erfahrung von Schmerz und argumentiert, dass sich das Ich im Schmerz – entgegen den Behauptungen des Geistes, der sich von derartigen Zufälligkeiten unberührt wissen will – der Bindung an sich selbst unweigerlich innewird (vgl. Hitlerismus 81 f.). Die gleiche Unmöglichkeit, von sich loszukommen, äußert sich in der Scham. Hier möchte das Ich fliehen und vermag dies nicht, weil es sich zwar vor den Blicken der anderen verbergen kann, es aber »der Anwesenheit seiner selbst gnadenlos ausgesetzt ist« (AS 41). Und der Überdruss an der Existenz entzündet sich gerade an der »Gnadenlosigkeit des Ekels« (AS 51) selbst, dem nicht zu entkommen ist. 9 In seinen Augen entgeht Heidegger diese Unfreiheit aufgrund seiner eigenen Situiertheit (vgl. Fagenblat 2019, 116). Sie drängt sich nämlich nur dann in aller Schärfe auf, wenn die eigene Situation unerträglich ist und das Ich dennoch nicht von sich loskommt. Levinas beschreibt damit die Erfahrung der Unterdrückten des »Hitlerismus« (vgl. BJ 208 ; Fagenblat 2019, 128). Heideggers Angst vor dem Nichts ist ein Problem, das sich dem, der in der von Levinas’ beschriebenen Weise an das Sein gebunden ist, nicht stellt. Dies allein müsste Heideggers Fragestellung nicht



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Ohnmachtserfahrung des Subjekts spürt er in der Struktur der Existenz selbst ein Bedürfnis nach Transzendenz auf, in dem das vorgezeichnet ist, was er später als metaphysisches Begehren bezeichnet (s. o. Kap. V.1.2). Heidegger setzt in Sein und Zeit »Dasein« als das »ontologisch wohlverstandene ›Subjekt‹« an die Stelle von Husserls transzendentalem Ich (vgl. SZ 111), um deutlich zu machen, dass er das menschliche Individuum anders versteht als das Subjekt der cartesianischen Subjekt-Objekt-Unterscheidung (vgl. Luckner 1998, 72). Dasein ist eine Vollzugsform, die nicht mit dem Ich des Bewusstseins gleichzusetzen ist, das sich Objekte entgegensetzt, weil das Individuum – bevor es eine solche theoretische Einstellung gegenüber den Dingen einnimmt – immer schon in eine bedeutsame Welt eingelassen ist, aus der heraus es sich selbst versteht. Wesentlich charakterisiert ist Dasein dadurch, dass es ihm »in seinem Sein um dieses Sein selbst geht« (SZ 12). Heidegger bezeichnet dieses fundamentale Selbstverhältnis als die Sorgestruktur von Dasein. Dieser Struktur entsprechend bedeutet Existieren für Dasein, sich zu seiner eigenen Existenz zu verhalten. Die Existenz tritt damit bei Heidegger an die Stelle eines menschlichen Wesens. D. h. es gibt kein präfiguriertes Wesen des Menschen, sondern sein »Wesen« liegt vielmehr gerade darin, dass er »je sein Sein als seiniges zu sein hat« (SZ 12). Dabei ist Existenz durch die Doppelung von Geworfenheit und Entwurf bzw. Faktizität und Existenzialität charakterisiert, mit der Heidegger ein Moment der Passivität und ein Moment der Aktivität dieses Selbstseins beschreibt. Dasein findet sich in der Welt vor und muss sich zu dem Umstand verhalten, dass es als derart Geworfenes sich selbst überantwortet ist. Der besondere Charakter der menschlichen Existenz besteht für Heidegger darin, dass das Wesen des Menschen offen ist und – solange er lebt – offenbleibt. Dasein ist damit nicht nur das, was es faktisch ist, sondern es ist primär »Möglichsein« (SZ 143). Die Möglichkeiten von Dasein ergeben sich dabei aus der spezifischen Zeitstruktur seiner Existenz. Heidegger versteht das menschliche Subjekt als aufgespannt in die drei zeitlichen Ekstasen Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart. Anders als Husserl, der die Bewusstseinsgegenwart als komplexe Synthese des jeweils neuen Eindrucks mit den Modifikationen vergangener und den Antizipationen zukünftiger Eindrücke begreift, denkt Heidegger, dass die Gegenwart von Dasein daraus hervorgeht, dass dieses sich in seiner Gewordenheit, d. h. aus seiner Vergangenheit heraus, auf die Zukunft entwirft (vgl. GP 406 f. ; SZ 326). Den letzten Horizont dieses Entwurfs, von dem her Dasein zugleich das Wissen um seine Übereignung an sich zukommt, stellt dabei der eigene Tod dar (vgl. SZ 235 ff.). disqualifizieren. Allerdings ist mit Levinas’ Lösung für seine eigene Problemlage auch Heideggers Fragestellung überwunden.

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Diese Struktur der Existenz bereitet Levinas tiefes Unbehagen. Wie im vorigen Kapitel beschrieben, bildet sich das Ich, indem es sich aus dem Es-gibt, dem Sein ohne Seiendes, heraushebt (s. o. Kap. V.2.1). Diese Individuation steht für die Entstehung von Innerlichkeit und Bewusstsein und impliziert das Vermögen, von sich her anzufangen. Der Preis für diese Befreiung aus der erschreckenden Anonymität des Es-gibt ist jedoch, dass das solcherart aus dem Sein herausgelöste Seiende an sich selbst gebunden ist (vgl. Krewani 1982, 116). Und hier macht Levinas ein schwerwiegendes Problem aus: Denn durch die Bindung an sich verkehrt sich die anfängliche Freiheit in Unfreiheit (vgl. ZA 30). Sie ist also »anfänglich« in dem doppelten Sinne, dass sie, erstens, erlaubt, von sich her anzufangen, zweitens aber nur in diesem Anfangen Freiheit ist. Die Hypostase erweist sich damit als ein höchst zweideutiger Vorgang: Sie befreit nur so lange aus dem Schrecken des Es-gibt, wie das Ich seine Faktizität, d. h. die Weise, wie es durch das Sein bestimmt wird, vergessen kann (vgl. Sealey 2010, 375). Die Unfreiheit hat zwei Momente: Zum einen ist das Subjekt, dem es, wie Heidegger sagt, in seinem eigenen Sein um dieses Sein geht, mit der Verantwortung für die eigene Existenz belastet – Levinas befindet, dass »nichts der Freiheit mehr entgegengesetzt ist als die Unfreiheit der Verantwortung« (TU 396). Zum anderen ist das Subjekt, das in dieser Verantwortung für sich selbst steht, schon durch Einflüsse bedingt, die es nicht selbst gewählt hat. Es ist derart durch die Vergangenheit bestimmt, dass der Ursprung seiner Entscheidungen außerhalb von ihm liegt. Die Doppelung von Faktizität und Existenzialität, die für Heidegger Freiheit in einem Wesen beschreibt, das sich nicht selbst in die Welt bringt, d. h. nicht causa sui ist, konstituiert für Levinas vielmehr eine tragische Situation: Das Ich ist weder frei noch unfrei ; oder seine Freiheit reicht gerade hin, um seine unüberwindliche Kontingenz – und d. h. seine Unfreiheit – zu erkennen.10 Anders als Hegel bezeichnet Levinas damit nicht die Kollision gleichermaßen berechtigter Prinzipien als tragisch (s. o. Kap. IV.1.1), sondern die Unfreiheit der Freiheit: Dass das Subjekt durch sich selbst in einen Prozess eingebunden ist, den es nicht instituiert hat und den es nicht überblickt. Das Frappierende an Levinas’ Interpretation ist, dass die Unfreiheit aus der Struktur der Existenz selbst hervorgeht. Aus seiner Perspektive erscheint die Sorgestruktur von Dasein, die der Existenz für Heidegger ihren Sinn gibt, als unlösbare Fessel, die das Ich an sich bindet ; das Ich wird zum ,,Gefangene[n] des Selbst« (SpA 198). Nun ist Existenz auch für Heidegger eine Last, weil Dasein sich selbst zu wählen hat. Allerdings birgt die entschlossene Übernahme der eigenen Endlichkeit für ihn die Möglichkeit einer eigentlichen Existenz, in der Dasein die 10 Die Situation im Sein ist im wörtlichen Sinne aporetisch – ausweglos, ohne Weg (vgl. Bernasconi 2005b, 103).



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ihm eigenen Möglichkeiten realisiert. Für Levinas dagegen ist die Existenz ausschließlich Last, ohne zugleich das Versprechen von Freiheit zu beinhalten. Belastend ist dabei in seinen Augen nicht so sehr der Tod, Heideggers »Möglichkeit der Unmöglichkeit« (SZ 348), sondern vielmehr »die Unmöglichkeit des Nichts« (ZA 42). Das Ich leidet also nicht primär an der Endlichkeit des Seins, sondern vielmehr an der Unmöglichkeit, die Bindung an sich zu lösen und das Sein zu verlassen (vgl. AS 55). Denn noch der Selbstmord deutet in Levinas’ Augen auf die Selbstbezüglichkeit eines Subjekts hin, das die Bedingungen des eigenen Seins zu kontrollieren sucht (vgl. ZA 46). Mit Blick auf Hegel lässt sich damit feststellen, dass das Sein für Levinas wesentlich endlich ist, gerade weil es Totalität ist und jedes Entkommen mithin ausgeschlossen ist (vgl. Peperzak 2007, 213). In Levinas’ Augen wohnt der Struktur der Existenz selbst ein »Bedürfnis nach Evasion« (AS 11) inne. In einer Art dialektischer Bewegung erzeugt die Unausweichlichkeit der Existenz das Verlangen, die Existenz zu verlassen (vgl. AS 21). Dieses gleiche Bedürfnis erkennt Levinas auch in dem Widerwillen seiner Zeitgenossen gegen die Existenz (vgl. AS 9). Von deren Versuchen unterscheidet sich sein eigenes Anliegen jedoch darin, dass Levinas die Suche nach einem Ausgang aus dem Sein gerade nicht als Suche nach einem Zufluchtsort versteht (vgl. AS 13). Ihm geht es nämlich nicht um eine andere Art und Weise des Existierens, er sucht vielmehr einen reinen Ausgang, der nicht zum Sein zurückkehrt (vgl. AS 15). Diesen reinen Ausgang aus dem Sein nennt Levinas – gegen die Heidegger’sche Existenz – Exzedenz (vgl. AS 19). Und er proklamiert, dass die Exzedenz darauf ziele, »die radikalste, unwiderruflichste Verkettung zu durchbrechen, nämlich die Tatsache, daß das Ich es selbst ist« (AS 15). In seinen frühen Schriften sucht Levinas Freiheit also in einer Selbsttranszendenz, die Heideggers Eigentlichkeitsideal diametral entgegengesetzt ist (vgl. Bergo 2005a, 31). Dabei hält er das Begehren nach Transzendenz bereits für ein »anderes und vielleicht überlegenes Verlangen« (AS 29), das nicht auf Befriedigung zielt, aber das Glück und die Würde des menschlichen Subjekts ausmacht (AS 19).11 Allerdings verfügt er noch nicht über die Mittel, einen solchen reinen Ausgang aus sich zu denken. Die Exzedenz scheitert (vgl. AS 35), weil sich das Subjekt nach jeder Ekstase (hier im Sinne eines Aus-sich-Heraustretens, wie es etwa in der Lust geschieht) unweigerlich auf sich selbst zurückgeworfen findet. Es kann sich nicht von sich her von sich befreien (vgl. ZA 39). Diese Möglichkeit ist ihm durch seine eigene Struktur verschlossen: Denn gerade noch in dem Versuch, sich von sich zu lösen, bestätigt das verzweifelte Ich die Bindung an sich. In 11 Obwohl Levinas hier noch nicht zwischen Bedürfnis und Begehren unterscheidet, weist das Bedürfnis nach Exzedenz große Ähnlichkeit zu dem auf, was er in Totalität und Unendlichkeit als (metaphysisches) Begehren bezeichnet (s. o. Kap. V.1.2). Levinas lässt später die Bezeichnung Exzedenz fallen und spricht stattdessen von Transzendenz.

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den frühen Schriften ist der Bruch mit Heidegger und die empfundene Notwendigkeit, über das Sein hinauszugehen, entsprechend nur als Desiderat artikuliert. Levinas verfügt noch über keine Lösung dafür, wie ein Ausweg gedacht werden könnte, bei dem sich das Subjekt nicht wieder mitnimmt (vgl. TU 400). VI.1.2  Die reife Konzeption diastatischer Subjektivität I: das Gewissen

Levinas greift die diastatische Struktur der Subjektivität der frühen Schriften in Jenseits des Seins in modifizierter Form wieder auf.12 Das Subjekt ist hier beschrieben durch die Beziehung zwischen der reflexiven Struktur des Ich (franz. moi) und einem nicht-reflexiven, nicht-intentionalen Anteil der Subjektivität, dem Sich (franz. soi). Anders als in den frühen Schriften bezeichnet die Doppelstruktur der Subjektivität nun nicht mehr die Unerlässlichkeit der Bindung an sich, sondern verweist auf eine Andersheit im Subjekt, die seine reflexive Identität erst ermöglicht und sie zugleich unterläuft. Husserls Analysen des Zeitbewusstseins radikalisierend macht Levinas in der Struktur des Bewusstseins ein Moment absoluter Passivität aus, das konstitutiv für das Bewusstsein ist, aber auch nachträglich nicht in seine Gegenwart eingeholt werden kann. Mit dieser Struktur weist Levinas nicht nur Heideggers Modell eines relationalen Subjekts zurück, indem er ein absolut intransitives Element der Subjektivität enthüllt (vgl. Fagenblat 2019, 107), sondern er bestreitet zugleich auch die idealistische Konzeption einer ­Einheit des Subjekts (vgl. Bergo 2005d, 267 ; Bergo 2019, 90 ; Bernasconi 2005b, 107). Levinas findet in der diastatischen Struktur der Subjektivität nun einen ethischen Sinn auf: Die Andersheit im Subjekt ermöglicht sein »Übergehen zum Anderen des Seins« (JS 23). Levinas expliziert damit in Jenseits des Seins, dass die Transzendenz, die er in Totalität und Unendlichkeit durch die Idee des Unendlichen und das Begehren des Guten jenseits des Seins beschreibt, sich im Diesseits einer Sinnlichkeit ereignet, deren Prinzip nicht das Bewusstsein ist (vgl. JS 160): Das »Leiden und die Verwundbarkeit des Sinnlichen […] ist der-Andere-in-mir« (JS 278). Die Begegnung mit dem Anderen, wie sie im letzten Kapitel thematisch war, kann nun also neu gefasst werden als eine Affektion, in der das Ich gleichsam »außer sich« ist und die folglich nur als Spur, d. h. als immer schon vergangen, im Bewusstsein zu erscheinen vermag (vgl. MG 78). Das Sich ist in diesem Sinne das – paradoxe – »Korrelat« absoluter Andersheit im Ich (vgl. Ricœur 2005, 423). Es erläutert damit Levinas’ Konzeption des Gewissens, die ich im letzten Kapitel rekonstruiert habe, in entscheidender Weise weiter. 12 Sie liegt meiner Meinung nach auch Totalität und Unendlichkeit zugrunde, auch wenn sie hier nur an wenigen Stellen – insbesondere in der vierten Sektion »Jenseits des Antlitzes« – durchscheint.



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Für Husserl erfasst das Bewusstsein nicht nur zeitlich ausgedehnte Objekte, sondern ist selbst wesentlich zeitlich verfasst (vgl. Ideen § 81 ; PhZ § 1). Jede Gegenwart setzt sich zusammen aus den Retentionen vergangener und Protentionen zukünftiger Eindrücke, die nicht bewusste Erinnerungen und Antizipationen dieser Eindrücke sind, sondern als deren zeitliche Modifikationen den Bewusstseinsstrom konstituieren. Eine herausgehobene Stellung in dieser komplexen Struktur hat die Urimpression (vgl. PhZ § 11), die den selbst unmodifizierten Quellpunkt (vgl. ebd.) oder die Urzeugung (vgl. PhZ 107 – 109) des Bewusstseins darstellt. Auf eben diesen Punkt richtet sich Levinas’ Interesse. Denn während Husserl  – der Urimpression zum Trotz  – meint, dass grundsätzlich alle Empfindung vom Bewusstsein erfasst und in die bewusste Erfahrung aufgenommen werden könnte, sieht Levinas in der Urimpression die Möglichkeit angelegt, eine Dimension der Sinnlichkeit zu denken, die dem intentionalen Ich absolut entzogen ist (vgl. Bedorf 2012, 69 ; MacAvoy 2005, 111). Die Affektion der nicht-korrelativen Sinnlichkeit stellt für das Ich eine unvordenkliche Vergangenheit dar – nicht, weil sie so weit in der Zeit zurückläge, dass es sich nicht mehr erinnern kann, sondern weil sie nie Gegenwart des Bewusstseins war. Für Levinas ist damit der Jetzt-Moment in sich selbst unterschieden in die durch das Bewusstsein einholbare Zeit und in eine unvordenkliche Vergangenheit, die dem bewussten Ich im selben Augenblick vorangeht (vgl. Derrida 1991b, 22). Diastatische Subjektivität vollzieht sich demnach in zwei inkommensurablen Zeiten. Die Synchronie gehört dem Ich an ; sie bezeichnet die lineare Zeit, die es erlaubt, dass das Bewusstsein Ereignisse der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im gegenwärtigen Moment versammelt. Dagegen steht die Diachronie für die Zeitlichkeit einer Affektion, die nicht synchronisiert und erinnert werden kann. Die Diachronie findet in der Zeit statt, aber gleichsam als Zwischenzeit, als ein Differieren des Jetzt-Moments jenseits der objektiven Zeit der Uhren und der subjektiv erlebten Zeit (vgl. Morgan 2007, 223).13 Anders als Husserl, der Subjektivität und Intentionalität gleichsetzt, macht Levinas damit diesseits des intentionalen Bewusstseins ein unthematisches und nicht-intentionales »Bewusstsein« aus, das das intentionale Bewusstsein »begleitet«, selbst aber in keiner Weise auf die Aktivität des Subjekts zurückgeht (vgl. EA 248 ; NIB 160 ; SN 271). Dieses begleitende, nicht-intentionale Bewusstsein ist consciencia, Mit-Wissen oder Gewissen. Levinas zufolge kann das reflektierende Bewusstsein, das sich auf das Ich und seine mentalen Akte selbst umwendet, um das unbewusst Implizierte explizit zu machen, dieses begleitende, nicht-intentio13 Levinas spricht von toter Zeit (franz. temps mort), was im Französischen die Pausenzeit im Sport bezeichnet, eine Zeit also, in der im Sinne des Spiels nichts geschieht, die nicht zählt. Entsprechend kann man sagen, dass die an-archische Zeit in der Ökonomie des Seins keinen Platz hat. Für diesen Hinweis danke ich Mérédith Laferté-Coutu.

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nale Bewusstsein nicht erfassen (vgl. NB 160). Es verändert und verfälscht nicht nur das, was es zutage fördert, sondern ist dabei obendrein selbst immer schon wieder von der spezifischen Dimension der Sinnlichkeit hinterfangen, die es vor sich bringen will (vgl. EA 244). Dem reflektierenden Bewusstsein gelingt es also nicht, hinter das nicht-intentionale Bewusstsein zurückzukommen, das Levinas damit nicht lediglich als prä-reflexiv (und prinzipiell in Reflexion überführbar), sondern als nicht-reflexiv (und konstitutiv dem Bewusstsein entzogen) ausweist. Das nicht-intentionale Bewusstsein steht nicht in einer Erkenntnisrelation zu einem Gegenstand, sondern ist eine Affektion ohne die Vermittlung des Bewusstseins, die Levinas als Nähe bezeichnet.14 Anders als die absolute Subjektivität Husserls und Hegels, die sich als ἀρχή ihrer Erfahrungen behauptet, ist die Nähe »auf anarchische Weise Beziehung zu einer Einzigartigkeit ohne die Vermittlung irgendeines Prinzips, irgendeiner Idealität« (JS 222). Die Umkehrung der Struktur der Intentionalität, von der ich im letzten Kapitel anlässlich des Begehrens und der Scham gesprochen hatte, kann nun zeitlich gefasst werden als eine Affektion, die der Gegenwart des Bewusstseins vorausgeht und in diesem Sinne ein reines Widerfahrnis ist. In der Nähe hat das Subjekt keinen Abstand zu dem, was es affiziert ; das Außen schlägt unvermittelt auf das Innen durch. In diesem Sinne bezeichnet Levinas die Nähe auch als traumatisch: Die Affektion ist ein »Schock, den die Sinnlichkeit erfährt« (vgl. SN 263 f.).15 Der Begriff des Traumas steht dabei für die zeitliche Struktur eines Geschehens, das sich nicht symbolisieren und in das Bewusstsein einholen lässt und deshalb gleichsam aus dem Untergrund heraus die Gegenwart beunruhigt (vgl. Derrida 1991b, 43). Das traumatische Widerfahrnis der Nähe rekurriert auf den an-archischen Anfang des Subjekts. Wie bereits im letzten Kapitel beschrieben, meint Levinas, dass sich das Subjekt in seiner reflexiven Struktur nicht selbst hervorbringen 14 Während in Totalität und Unendlichkeit die Betonung auf der Fremdheit des Anderen lag, dominiert in Jenseits des Seins ein Vokabular der Nähe. Diese Veränderung deutet sich erstmals in dem 1965 erschienenen Aufsatz »Das Rätsel und das Phänomen« an. Ich interpretiere dies nicht so sehr als Revision, sondern vielmehr als eine Akzentverschiebung, die den unterschiedlichen Perspektiven der Werke geschuldet ist. Das absolut Andere, Fremde ist das, was wir begrifflich nicht fassen können, auch dann, wenn bzw. vielmehr gerade weil es in der Sinnlichkeit widerfährt. Auch wenn Levinas in Jenseits des Seins von Nähe spricht, um die Beziehung zum Anderen zu bezeichnen, ist damit die Trennung zwischen Ich und Anderem nicht aufgehoben (vgl. Bernasconi 2019, 270). 15 Im psychoanalytischen Sinne bezeichnet der Begriff Trauma die Begegnung des Subjekts mit einem nicht anzueignenden Fremden, das es trotzdem unweigerlich angeht (vgl. Bernet 2000, 162). Es stellt eine Figur des Entzugs dar. Freud zufolge kann das Subjekt das traumatische Ereignis weder erinnern noch vergessen. Das Traumatische besteht gerade darin, der Repräsentation und damit dem Bewusstsein unangemessen zu sein. Das Ereignis kann nur nachträglich eine Bedeutung erhalten, die es zugleich verfehlt. Das Subjekt wird so konstituiert durch eine Erfahrung, die es überhaupt nur als seine erkennen kann, indem es sie verkennt.



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kann. Das Ich ist ein Ursprung, der aber nicht sein eigener Ursprung ist (vgl. Ciaramelli 1995, 89). Unsere bewusste Existenz wird durch eine Affektion konstituiert, die in absoluter Passivität oder an-archisch erfolgt. Wichtig ist dabei, dass absolute Passivität nicht eine Passivität des Subjekts meint. Sie verweist vielmehr auf eine »Zeit der Geburt oder der Schöpfung« (JS 232), in der das Subjekt noch gar nicht zugegen ist, um den »Ruf« zu empfangen, der es erst als Subjekt einsetzt (vgl. HA 70 ; JS 251). Bevor ich mich also ergreifen kann, bevor ich überhaupt ein Ich bin, muss ich angerufen worden sein. Entsprechend folge ich (als Intentionalität und Ursprung) mir (als Affektion in absoluter Passivität) immer nach (vgl. Critchley 1999b, 194). Diese absolute Passivität der Sinnlichkeit ist jene Schicht des Subjekts, die Levinas als Sich (franz. soi) bezeichnet. Im Gegensatz zur relationalen Struktur des Ichs in seiner Reflexivität bezeichnet das Sich die absolute Identität oder Selbstheit (franz. ipseité) des Subjekts. Levinas beschreibt das Sich als eine äußerste Sensi­ bilität, die keine empirische Größe mehr ist. Denn das Sich ist nicht ; es hat weder Sein noch Bewusstsein. Sein ich-loses Gewahrsein kann sich nur im bewussten Ich manifestieren, das das Sich in dieser Manifestation jedoch zugleich zum Verschwinden bringt (vgl. Bloechl 2019, 406).16 Sich und Ich verweisen damit wechselseitig aufeinander – ohne Sich wäre kein Ich, das Sich ohne Ich würde stumm bleiben – ohne dass sie sich deshalb zur Einheit bringen ließen.17 Dabei ist das Sich wie die »Unterseite eines Wandteppichs, der an der Oberseite des Bewußtseins verläuft und im Sein stattfindet« (JS 229).18 Statt der Grundbewegung, die bei Hegel die Bewegung der Vereinheitlichung vollzieht (vgl. Kap. I.1.2), nimmt Levinas damit eine »an-archische Bewegung« (JS 224) an, die dem Bewusstsein die Spur dessen einschreibt, was es nicht erfassen kann ; eine Bewegung also, die jede Schließung des Subjekts in sich konterkariert.19 Mit dem Sich eignet dem menschlichen Subjekt eine Dimension äußerster Passivität, die seine Verwundbarkeit durch den Anderen ausmacht (vgl. JS 239 ; 16 Robert Bernasconi weist zu Recht darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen Ich und Sich Gefahr läuft, die beiden Momente zu stark zu fixieren (vgl. Bernasconi 2019, 260). 17 Levinas kennt mit der Passivität der Sensibilität ein Unbewusstes, das er aber anders verstanden wissen will als das Unbewusste der Psychoanalyse, die er stark kritisiert. Freuds Fehler besteht in Levinas’ Augen darin, ein Unbewusstes zu denken, das seinerseits nach dem Modell des Bewusstseins strukturiert ist (vgl. Bergo 2005a, 26 ; Bergo 2005c, 135 ; Critchley 1999b, 187). Dessen ungeachtet unterstreichen viele Autoren vielmehr die Nähe von Levinas’ Projekt zur Psychoanalyse (vgl. Bergo 2005c ; Bergo 2005d ; Bernet 2000 ; Critchley 1999). 18 Levinas beschreibt diese Struktur bereits in Totalität und Unendlichkeit: »Die Vorderseite wäre das Wesen der Dinge, im Verhältnis zu dem die Rückseite, wo die Fäden unsichtbar sind, die Lasten übernimmt.« (TU 276) 19 Wenn das Subjekt nur vom Anderen her ist, was es ist, so ist es sich selbst entzogen ; Fremdentzug und Selbstentzug sind verquickt (vgl. Waldenfels 2002, 205).

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S 309). Die Affektion jenseits des Bewusstseins trifft das Subjekt so unvermittelt, dass dieses »nicht die Zeit [hat], ihr zu begegnen« (JS 197). Es ist also schon vom Anderen betroffen, bevor es ihn konstituieren, kategorisieren oder sich anderweitig vom Leib halten kann. Einzig diese Affizierbarkeit an der »Rückseite« (EA 250) des Bewusstseins macht in Levinas’ Augen die soziale Beziehung möglich (vgl. EU 39 ; JS 262). Eine absolute Subjektivität, wie Hegel oder Husserl sie entwerfen, ginge der Andere nichts an. Dagegen ist das Sich im buchstäblichen Sinne ein Subjekt im Akkusativ, dem »Anklagefall« – es steht gleichsam immer schon unter Anklage.20 Das Urteil des Anderen in mir (s. o. Kap. V) wird in Jenseits des Seins zur Anklage, die das Subjekt in sich selbst, aber gleichsam von woanders her, vorfindet: In der Passivität der Sinnlichkeit »verblasst die Unterscheidung zwischen ›angeklagt werden‹ und ›sich anklagen‹« (JS 278 f.). Dabei kann das Ich der »Vorladung« (vgl. JS 223), die in seiner Sinnlichkeit schon ergangen ist, immer nur nachträglich folgen (vgl. JS 195, 199 ; TU 282). Indem es sich ergreift, ist es immer schon zu spät und trägt die Schuld an dem Versäumnis. Eine auf den ersten Blick ähnliche Figur der Nachträglichkeit kennt auch Heidegger in seiner Gewissensanalyse. Ihm zufolge ist Dasein, wenn es den Gewis­ sensruf hört, immer schon schuldig. Diese Schuld resultiert nicht aus dem Verstoß gegen ein Gesetz (vgl. Fehér 1990, 42), sondern bezieht sich auf das Versäumnis, sich nicht selbst gewählt zu haben. Sie wurzelt, ähnlich wie in Hegels Gewissensdialektik in der Phänomenologie, in der Struktur der Existenz selbst (vgl. Stähler 2009, 111): Aufgrund seiner Faktizität hat Dasein die Wahl immer schon versäumt und damit notwendig Schuld auf sich geladen. Allerdings geht es Heidegger nicht um eine rückwärtsgewandte Selbstanklage des reuigen Individuums. Vielmehr öffnet das Gewissen das Subjekt auf eine Freiheit hin, die nicht Selbstschöpfung ist (vgl. Fehér 1990, 39). Die Notwendigkeit dieses Versäumnisses und der Schuld nimmt Levinas auf. Aber während das Versäumnis der Selbstwahl bei Heidegger aus der ekstatischen Struktur der Existenz hervorgeht, ist die Verspätung des Ichs gegenüber dem Anspruch des Anderen bei Levinas in der diastatischen Struktur des Subjekts angelegt (vgl. SN 283).21 Dieses ist schon vom Anderen in Anspruch genommen, bevor es überhaupt ein Ich ist. Es hat, wenn es sich ergreift, diesen Anspruch immer schon verfehlt. Levinas bezeichnet das Sich deshalb auch als franz. mau20 Die Anklage tritt in Jenseits des Seins an die Stelle der Infragestellung durch den Anderen (s. o. Kap. V.3.2). 21 Diese Modifikation der zeitlichen Verfasstheit des Subjekts hat, wie ich im letzten Unterkapitel zeigen werde, entscheidende Konsequenzen für Levinas’ Konzeption von Autonomie und Freiheit.



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vaise conscience (vgl. NB 161 ; EA 247) – ungenügendes Bewusstsein, weil es das Versagen der Syntheseleistung des Bewusstseins ist, und schlechtes Gewissen, weil das Subjekt in seiner Sinnlichkeit angeklagt und zur Verantwortung gezogen ist (vgl. Letzkus 2016, 170).22 Die heterogenen Pole der diastatischen Subjektstruktur stehen für das, was man mit Levinas »gutes« und »schlechtes Gewissen« nennen kann: Der Selbstgleichheit des reflexiven Ichs entspricht ein gutes Gewissen ; der Beunruhigung durch den Anderen, die dem Subjekt vom Sich her zukommt, seiner Nicht-Indifferenz (JS 187) für den Anderen, dagegen das schlechte Gewissen.23 Und während wir den Umstand, ein gutes Gewissen zu haben und in Übereinstimmung mit sich zu sein, gewöhnlich als positiv erachten, heißt dies für Levinas vielmehr, kein Gewissen zu haben ; es bedeutet, den Anderen zu verleugnen, narzisstisch und letztlich böse zu sein. Das schlechte Gewissen bedeutet dagegen die Unmöglichkeit der Schließung und Gleichheit mit sich (vgl. Peperzak 2010, 87).24 Es lässt sich in keiner Weise auf Grundsätze und Überzeugungen des Ichs zurückführen, sondern zwingt dieses vielmehr aus seinem ethischen Autismus heraus (vgl. Marion 2011, 62). Entsprechend ist für Levinas nicht die Diachronie ein Mangel an Einheit, sondern vielmehr die Synchronie eine Perversion. Das Verhältnis von Ich und Sich erläutert Levinas weiter durch die Differenz zwischen Sagen und Gesagtem.

22 Levinas spielt hier mit der Doppeldeutigkeit des franz. conscience, das sowohl Bewusstsein als auch Gewissen heißen kann. 23 Die Nicht-Indifferenz bezeichnet nicht eine doppelte Negation, die zum Ausgangspunkt zurückführt, sondern vielmehr die Abweichung von der Indifferenz (vgl. Waldenfels 202, 161). Dabei sind die absolute Differenz zum Anderen und die Nicht-Gleichgültigkeit für ihn zusammen zu denken (vgl. Waldenfels 2002, 162). 24 Das schlechte Gewissen hat keinen besonders guten Ruf. Glaubt man Nietzsche und Freud, steht es für die Verinnerlichung von Herrschaft und Zwang, die das Subjekt zwar in die Sozialität integriert, es dabei aber zugleich seiner Lebendigkeit beraubt. Dies entspricht aber nicht Levinas’ Auffassung des schlechten Gewissens. Ein solcher Schuldkomplex wäre in Levinas’ Augen vielmehr »eine Form des negativen Narzissmus« (Butler 2007, 134), der der Affektion durch den Anderen im Wege stehen würde (vgl. Butler 2007, 134). Dies betont auch Sabine Gürtler: »Es geht nicht darum, Selbstlosigkeit mit Selbstverleugnung zu verwechseln und den Haß auf das eigene Ego als ideales und gerechtfertigtes Selbstverhältnis anzupreisen. […] [D]iesen Selbsthaß zu kultivieren, zwanghaft mit der Prüfung des eigenen Gewissens beschäftigt zu sein und zu kontrollieren, ob mein Sprechen und Handeln von wahrer Großzügigkeit oder von kleinlicher Selbstbezogenheit geleitet ist, wäre sicherlich die beste Methode, den Anderen zu verfehlen und mein Für-ihn-Sein zu verhindern. Non-indifference gegenüber dem Anderen und das Interesse an der eigenen ethischen Unbeflecktheit schließen sich gegenseitig aus.« (Gürtler 2001, 131)

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VI.1.3  Die reife Konzeption diastatischer Subjektivität II: Sagen und Gesagtes

Gleichzeitig mit der diastatischen Struktur der Subjektivität entwickelt Levinas mit der Differenz zwischen Sagen (franz. dire) und Gesagtem (franz. dit) die Unterscheidung zwischen der Anrede des Anderen, die das Ich unter einen Anspruch stellt, und dem propositionalen Gehalt einer Aussage weiter. Das Gesagte bezeichnet hier den Gehalt der Rede nebst all jenen Bedingungen und Bestimmtheiten der Rede­situation, die bewusst gemacht und thematisiert werden können und damit – zumindest prinzipiell – auch aus der neutralen Perspektive einer dritten Person zugänglich sind. Der Begriff des Sagens hingegen trägt dem Umstand Rechnung, dass ich immer zu jemandem spreche oder von jemandem angesprochen werde (vgl. JS 115 ff.). Obwohl die verbale Form darauf hinzudeuten scheint, handelt es sich beim Sagen nicht um die performative Seite eines Sprechakts, sondern dieses verweist vielmehr auf die absolute Selbstheit des Subjekts in Affektion durch den Anderen (vgl. Bernasconi 1991, 151). Vermittels einer Reduktion (vgl. JS 56, 107), die nicht mehr phänomenologisch in Husserls Sinne ist, sondern den Schritt markiert, mit dem Levinas über die klassische Phänomenologie hinaus- bzw. vor sie zurückgeht (vgl. Bergo 2005d, 269), spürt Levinas im Sagen einen Sinn auf, der sich nicht auf ein Gesagtes reduzieren lässt (vgl. Bedorf 2003, 55). Das Sagen bedeutet für ihn die Ausgesetztheit an den Anderen, die sich jenseits des intentionalen Bewusstseins in der absoluten Passivität der Sinnlichkeit ereignet. Als der unvordenkliche Horizont jeden Sprechens ist das Sagen so Beziehung zum Angesicht (vgl. Marion 2004, 318), bevor das Gesagte der Kommunikation von Inhalten dient. Die Differenz zwischen Sagen und Gesagtem macht sowohl die Unterscheidung zwischen An-sich und Für-sich bei Hegel als auch die Differenz zwischen Noema und Noesis bei Husserl und Heideggers ontisch-ontologische Differenz zu nachgeordneten Bestimmungen (vgl. Marion 2004, 315). Sie stehen allesamt auf der Seite des Gesagten (vgl. ebd.). Levinas nimmt damit eine duale Struktur von Sagen und Gesagtem an, deren Glieder aber – wie Ich und Sich – nicht unabhängig voneinander bestehen. Das Gesagte hat Bedeutsamkeit nur von einem Sagen her, das in ihm verschwindet. Andersherum ist das Sagen nur als Überschuss am Gesagten, der sich jedoch nicht in dieses einholen lässt. Die spezifische Dynamik von Sagen und Gesagtem geht daraus hervor, dass jedes Sagen unweigerlich zum Gesagten wird. Dies impliziert einen double-bind: Ohne Artikulation ist das Transzendente nicht (vgl. JS 108) ; andererseits lässt sich Transzendenz nicht artikulieren, ohne sie auf Immanenz zu reduzieren (vgl. Mosès 2004, 333). Insofern also ohne Thematisierung nichts erscheint, die Thematisierung selbst aber eine Festschreibung darstellt, die den Anderen schon verfehlt (vgl. Bedorf 2010, 144 ; Bernet 2000, 166), resultiert



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die ethische Notwendigkeit, das Gesagte zu widerrufen und es erneut zu sagen (vgl. JS 33). Man kann das Ethische mit Levinas so als die unablässige Bemühung verstehen, das Gesagte dem Sagen angemessen zu machen (vgl. Dews 2017, 113). Da dies aufgrund ihrer Inkommensurabilität nie geschehen kann, besteht die ethische Praxis in einem ständigen Widerrufen und Wieder-Sagen des bereits Gesagten.25 Im eklatanten Gegensatz zu Hegels Vorgehen nimmt dieser Prozess nicht die Gestalt eines dialektischen Fortgangs an, sondern bedeutet vielmehr gerade das Offenhalten einer Differenz im Gesagten. Die Rücknahme des soeben Gesagten produziert gleichsam die Spur des Unsagbaren. Das Vorläufige dieses Sagens ist dabei in Levinas’ Augen kein Defizit, sondern macht die konstitutive Unabgeschlossenheit des Ethischen aus (vgl. Bernasconi 1988, 249).26 Der Überschuss des Sagens hindert das Gesagte daran, sich – wie Hegel es will – in einem geschlossenen System zu stabilisieren (vgl. Peperzak 2007, 209). Er erhält das Gespräch aufrecht, welches verstummen würde, wenn die Gesprächspartner bloß Instanziierungen des Begriffs wären (vgl. JS 264 f.). Anders als in Totalität und Unendlichkeit liegt der Fokus in Jenseits des Seins nicht so sehr auf der Unterbrechung der Totalität in der Begegnung mit dem Anderen, sondern auf der Unmöglichkeit, das Gesagte mit den Bedingungen des Aussagens zusammenzubringen (vgl. Atterton 2004, 21). In dem Versuch, Sagen und Gesagtes zur Einheit zu bringen, entsteht ein Widerspruch, der – anders als bei Hegel – nicht in eine Einheit aufgehoben werden kann, weil er auf einer Inkommensurabilität der Ebenen beruht (vgl. ebd.). Um ein solches Differieren zu veranschaulichen, zieht Levinas den Skeptizismus als Modell eines »diachronen Denkens« (JS 34) oder Denkens in zwei Zeiten heran: Der Skeptizismus verneint die Möglichkeit sicheren Wissens und beansprucht dabei (in Levinas’ Darstellung) zugleich die Wahrheit dieser These. Sein Aussagen und das Ausgesagte stehen so für die Reflexion in einem unauflösbaren Widerspruch zueinander (vgl. JS 363). Levinas deutet die paradoxe Bewegung des Skeptizismus in Analogie zu dem Offenhalten der Diachronie, die dem Denken zugrunde liegt: Der Skeptizismus 25 Dieses »methodische[] Problem« (JS 32) eignet auch Levinas’ eigenem Schreiben, insofern er das Jenseits des Seins doch zu bezeugen sucht. Das Widerrufen und Neu-Sagen des soeben Gesagten wird für ihn zur rhetorischen Methode, die verhindert, dass das Gesagte zur Ruhe kommt und das Sagen darin zum Schweigen gebracht wird (vgl. JS 363). Der Text performiert in diesem Sinne selbst die ethische Bewegung. 26 Dies entspricht der Praxis der Talmud-Auslegung: Die Interpreten legen die alten Verse im Hinblick auf aktuelle Fragestellungen und Probleme aus und aktualisieren sie so (vgl. Römer 2019, 187). Dies ist nie abschließend geschehen, insofern sich die Umstände und Fragestellungen ändern. Das einmal Gesagte ist so kein abschließender Befund, sondern vielmehr der Beginn eines Gesprächs, in dem jede Interpretation auf vorherige Auslegungen Bezug nimmt.

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gleicht einem Sagen, das den Vorrang des Anderen aussagt, diesen darin unweigerlich auf ein Gesagtes reduziert und deshalb unbeirrt von Neuem anhebt. Ob es sich bei dieser Bewegung um einen Widerspruch handelt, der sich – wie von Hegel vorgeführt – aufhebt, ist eine Frage des Standpunktes (vgl. Krewani 1992, 246): Wo unter logischen Gesichtspunkten ein Widerspruch vorliegt, mani­festiert sich unter einer ethischen Perspektive Transzendenz (vgl. ebd.). Der »notwendige Schein« des Widerspruches ergibt sich, wie bei Kant, aus der Vermischung zweier inkommensurabler Ebenen (s. o. Kap. I.1). Dabei ist das Sagen nicht das Andere des Gesagten, weil es überhaupt nur als die ethische Unterbrechung des Gesagten ist – hier die sachliche Kontinuität mit Totalität und Unendlichkeit (vgl. JS 108). Es unterbricht das Gesagte so, wie bei Heidegger der Ruf des Gewissens das Gerede im Man unterbricht (vgl. Delhom 2000, 95). Damit entspricht es einer Stimme des Gewissens, die – ebenfalls wie bei Heidegger – nichts Bestimmtes sagt, sondern das Ich vor eine radikale Verantwortung ruft, die jedoch – anders als bei Heidegger – Verantwortung nicht für die eigene Existenz, sondern für den Anderen ist. VI.2  Ethische Subjektivität

Levinas zufolge affiziert der Andere das Subjekt in einer Dimension der Sinnlichkeit diesseits des Bewusstseins. Ich habe diese Affektion als »schlechtes Gewissen« ausgewiesen. Es stellt sich jedoch die Frage, wie und in welchem Sinne ein ich-loses Widerfahrnis überhaupt eine ethische Bedeutung haben kann. Levinas’ Antwort auf diese Frage ist eine Figur, die er Substitution nennt und die das Herzstück seiner Konzeption ethischer Subjektivität darstellt. »Substitution« bezeichnet die Umkehrung des absolut passiven Erleidens durch den Anderen in ein Einstehen für den Anderen. Sie ist kein allgemeines Prinzip, das das Subjekt willentlich befolgt, sondern meint die unwillkürliche affektive Antwort des Ichs auf den Anderen. Sie stellt in diesem Sinne eine Erläuterung und Vertiefung von Levinas’ Begriff einer prä-reflexiven und vormoralischen Verantwortung dar (s. o. Kap. V.3.1). Im Folgenden erläutere ich zunächst, wie die Substitution als Umkehrung eines absolut passiven Erleidens in Verantwortung zu verstehen ist. Dabei werde ich einerseits anhand von Levinas’ Analysen des Schmerzes zeigen, dass das Erleiden durch den Anderen bereits ein Leiden für den Anderen ist, weil sich im Leiden schon die Empfänglichkeit für seinen Anspruch abzeichnet. Insofern das Subjekt vom Anderen affiziert ist, ist es also unausweichlich in die Verantwortung eingesetzt ; es gibt hier keine Wahl. Andererseits werde ich argumentieren, dass die Substitution die affektive Antwort auf den Anderen darstellt. Bei Levi-



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nas selbst bleibt es uneindeutig, ob die Substitution bereits die konkrete Antwort in der Welt umfasst oder ob sie – ähnlich der Unterscheidung von Entschlossenheit und Entschluss bei Heidegger – zumindest analytisch von ihr zu unterscheiden ist. Es spricht einiges dafür, die Substitution als eine Verklammerung beider Ebenen zu betrachten (vgl. Waldenfels 1995c, 339). Ich werde jedoch dafür argumentieren, die Substitution selbst noch nicht als die konkrete Antwort auf den Anderen zu verstehen, um eine Differenz zwischen der unausweichlichen Verantwortung und der konkreten Antwort offen zu halten, die einzufangen vermag, dass wir das Gefühl des Verpflichtetseins oder der Schuld selbst nicht kontrollieren können, uns dies aber nicht immer schon eine bestimmte Handlung aufzwingt. Im zweiten Abschnitt argumentiere ich, dass die Affektion durch den Anderen, die Levinas auch als Verfolgung bezeichnet, nicht nur faktisch verfolgten Menschen zukommt, sondern Subjektivität allgemein bedingt. Damit löse ich ein, was ich im ersten Unterkapitel bereits angedeutet habe (s. o. Kap. VI.1.2): Die Affektion durch den Anderen rekurriert nicht lediglich auf den Moment der Schöpfung des Subjekts,27 sondern ist – in der unvordenklichen Vergangenheit jedes in sich differenzierten Moments – selbst diese Schöpfung. Wenn aber das Subjekt das Gewissen nicht erst nachträglich erwirbt, sondern aus einer Gewissensregung hervorgeht, dann ist alle Subjektivität ethisch verfasst. Diese Annahme diskutiere ich im letzten Abschnitt an dem Grenzfall des Psychopathen, der Levinas’ Konzeption ethischer Subjektivität herausfordert, insofern der Psychopath ein menschliches Wesen ist, das scheinbar nicht vom Anderen affizierbar ist. VI.2.1  Leiden für den Anderen: die Substitution

Levinas’ Darstellung der Konstitution des Subjekts in Totalität und Unendlichkeit erweckt den Anschein, als würde sich das Ich zunächst im Genuss bilden und erst anschließend dem Anderen begegnen. Gegen diese Auffassung habe ich argumentiert, dass die Konstitution des Ichs im Genuss schon von der Beziehung zum Anderen her zu denken ist (s. o. Kap. V.4). Diese Vorgängigkeit des Anderen wird in Jenseits des Seins explizit: Das Ich ist überhaupt nur als Antwort auf den Anderen ; es ist mithin immer schon vom Anderen unterlaufen. Dennoch bleibt der Genuss auch hier die Voraussetzung dafür, für den Anderen einstehen zu können 27 So etwa Robert Bernasconi: »In Otherwise than Being the responsibility inherent in subjectivity is prior to my encounter with an other, whereas Totality and Infinity had located the possibility of ethics in the concrete encounter that realized the formal structure of transcendence« (Bernasconi 2002, 242).

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(vgl. Bernasconi 2019, 266 ; Peperzak 1986, 213), weil nur das genießende Subjekt durch den Anderen leiden und für ihn sühnen kann (vgl. JS 168). Die Sinnlichkeit hat mithin gegensätzliche Valenzen, und zwar einerseits die des Genusses, aus dem ein sich in seinem Sein behauptendes Ich hervorgeht, andererseits aber die des Schmerzes, der dem Ich Abbruch tut (vgl. Lingis 1986, 227).28 So liegt die Sinnlichkeit dem Egoismus des Subjekts zugrunde, aber sie ermöglicht auch die Verantwortung für den Anderen. Levinas kontrastiert damit nicht Leiblichkeit und Vernunft oder Natur und Kultur, sondern macht eine dialektische Spannung in der Sinnlichkeit aus. Subjektivität ist ethisch, indem sie den Schmerz, den sie durch den Anderen erleidet, affirmiert, und den Anderen, durch dessen Schwäche oder Hass sie leidet, auf sich nimmt. Diese Umkehrung des Leidens durch den Anderen in ein Leiden für den Anderen ist die Figur, die Levinas als Substitution bezeichnet. In der Substitution wird Sinnlichkeit vom Anderen her in ethische Empfänglichkeit transformiert (vgl. Sugarman 2006, 253). Levinas denkt damit ein Ich, das nicht sich selbst der Nächste ist, sondern dem der Andere näher ist, als es sich selbst ist (vgl. Abensour 2007, 119). Der Gedanke der Stellvertretung ist zunächst einmal vertraut (vgl. Waldenfels 2007, 35 f.). Es gibt verschiedene institutionalisierte Funktionen – z. B. die Vormundschaft oder die Vertretung durch einen Anwalt – durch die jemand zeitweilig oder bezüglich eines begrenzten Bereichs an die Stelle eines Anderen tritt. In Abgrenzung zu diesen gewöhnlichen Formen spricht Waldenfels in Bezug auf Levinas von einer originären Substitution (vgl. Waldenfels 2007, 33 ; Waldenfels 1995c, 335). Während Stellvertretung im gewöhnlichen Sinne ein sekundäres Phänomen ist, das darin besteht, dass eine Person an die Stelle einer anderen tritt (z. B. der Anwalt an die Stelle seines Klienten), geht die originäre Substitution der personalen Ebene voraus. Hier nimmt das Ich nicht in Vertretung eines Anderen dessen Platz ein, sondern geht, wie Waldenfels es ausdrückt, »von dem fremden Ort aus[]« (Waldenfels 2007, 39).29 Ich bin ich nur nachträglich zum Anspruch des Anderen und ich bin folglich nur als vom Anderen beansprucht. Substitution heißt für Levinas also nicht, dass das Subjekt eine bestimmte Rolle einnimmt und den Anderen vertritt. Es bedeutet auch nicht, dass es sich in den Anderen hineinversetzt und Mitgefühl oder Mitleid hat (vgl. Bernasconi 2002, 239 ; Waldenfels 2002, 449). Substitution kennzeichnet vielmehr eine Subjektivität, die vom Anderen her beginnt und nur als Antwort auf den Anderen ist. Die 28 Der Schmerz tritt damit in Jenseits des Seins systematisch an die Stelle der Scham (s. o. Kap. V.3.2). 29 Während Stellvertretung als sekundäres Phänomen innerhalb des Bereichs des Sagbaren stattfindet, vollzieht sich die ursprüngliche Substitution auf der Ebene des Sagens (vgl. Waldenfels 2007, 37).



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originäre Substitution ermöglicht so erst die gewöhnlichen Formen der Stellvertretung, des Mitgefühls und der Solidarität. Das Subjekt wird vom Anderen diesseits des Bewusstseins affiziert  – das haben wir oben bereits gesehen. Die Substitution bedeutet nun die Umkehrung dieses absolut passiven Erleidens in einen Zustand, den Interpreten verschiedentlich als Passion (vgl. Waldenfels 1995c, 340) oder als affektive Intentionalität (vgl. Tallon 1995, 109) charakterisiert haben. Diese Umkehrung ist in gewisser Weise widernatürlich, denn das Ich neigt dazu, sich dem Anderen, der seinem Genuss Abbruch tut, zu entziehen oder sich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Levinas meint jedoch, dass das Subjekt durch den Schmerz selber dazu kommen kann, seine Selbstbezüglichkeit zu überwinden und den Anderen auf sich zu nehmen. Dies geschieht eben in der Substitution: Hier kehrt sich das Erleiden durch den Anderen um in ein »Einstehen für alles, was einen in diesen Nicht-Ort stößt« (S 318). Substitution ist damit durch zwei Momente charakterisiert: Ein Erleiden des Anderen in absoluter Passivität und die nicht willkürliche Umkehrung dieses Leidens in Sühne für den Anderen (vgl. JS 248). Um diese Umkehrung besser zu verstehen, sind die beiden späten Aufsätze »Transzendenz und Übel« (1978) und »Das sinnlose Leiden« (1982) hilfreich, in denen Levinas den Schmerz bzw. das Leiden analysiert und darin eine Öffnung auf den Anderen angelegt findet. Levinas spricht in der französischen Originalfassung von mal – das Übel oder Unheil oder auch das Böse – und beschreibt es als absolute Passivität und Verletzlichkeit. Das Leiden versperrt sich dem Begreifen und stellt in diesem Sinne – ganz ähnlich wie die an-archische Affektion durch den Anderen – ein Ereignis der Transzendenz dar (vgl. TÜ 182 ff.). Der Schmerz ist nicht das theoretische Bewusstsein einer Störung, sondern er stört das Bewusstsein. Die Modalität seines Auftretens ist zugleich das, was er ist, seine Qualität (vgl. SL 118 ; TÜ 182). Das Leiden ist so Widerspruch, den Levinas aber nicht wie Hegel als Prinzip einer dialektischen Bewegung begreift, die auf eine höhere Einheit zielt, sondern den er als einen Überschuss auffasst, der sich der Form des Bewusstseins – und damit auch jeder Rechtfertigung und Theodizee – widersetzt. Der Schmerz manifestiert nicht den Abfall vom eigenen Selbst, von dem her das Subjekt zur eigentlichen Einheit mit sich findet (vgl. Kap. III.2.4) ; in ihm zerbricht vielmehr die Identifikation des Ichs mit sich. Das Leiden, für das das Ich keine Erklärung findet, nimmt für dieses Ich eine persönliche Qualität an. Es fragt nach dem Urheber des Leidens. Aus der Intensität des Leidens ersteht so die Frage nach Gott: »Ein Gott, der Übel zufügt, aber Gott als ein Du« (TÜ 186). Im Leiden eröffnet sich dem Ich also ein anderer Wille. Und insofern dieser Wille das Ich verfolgt und leiden macht, individuiert er es zugleich (vgl. TÜ 187). Das Ich erhält so im Leiden seine absolute Identität als Ich und wird zum Anderen (in diesem Falle zu Gott) erweckt. Levinas be-

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hauptet weiter, dass das Ich im Leiden eine Erfahrung mache, die es für den Anderen – und zwar genauer für das Leiden des nun menschlichen Anderen – öffnet (vgl. Bernstein 2002, 261). Es findet eine Verschiebung statt: Das Leiden durch den Anderen (sei es Gott oder ein anderer Mensch) wird zu einem Leiden durch das Leiden des Anderen (d. h. des anderen Menschen). D. h. in meinem Schmerz zeichnet sich das Leiden des anderen Menschen ab – im Extremfall das Leiden dessen, der mich leiden macht. Durch das Leiden des Anderen zu leiden, bedeutet aber schon, dieses Leiden des Anderen auf mich zu nehmen und für den Anderen zu leiden. Dies geschieht, indem ich – anstatt mich gegen denjenigen aufzulehnen, der mich verfolgt und leiden macht – in meinem Leiden die Rechtmäßigkeit meiner Existenz in Frage stelle (vgl. Kap. V.4.1). Daß mich im Übel, das mich beharrlich verfolgt, das Übel erreicht, das durch den anderen Menschen erlitten wird, daß es mich anrührt, so als ob von vorneherein der andere Mensch an mich appellierte und dabei mein In-mir-selber-ruhen und meinen conatus essendi in Frage stellte, so als ob, noch bevor ich über mein irdisches Übel klagen könnte, ich dem Anderen zu antworten hätte – besteht nicht darin, im Übel, in der ›Intention‹, deren Adressat in meinem Übel so ausschließlich ich selber bin, ein Durchbruch des Guten ? […] Die Abscheu vor dem Übel, das mich meint, wird zum Abscheu vor dem Übel im anderen Menschen. (TÜ 193)

Levinas lehnt alle Versuche, dem Leiden  – etwa in Gestalt einer Straftheorie oder als Theodizee  – einen Sinn zuzugestehen, strikt ab. Die Rechtfertigung der Schmerzen des Anderen ist in seinen Augen »der Ursprung aller Unmoral« (SL 126). Entsprechend ist für ihn Hegels Ansicht, dass das Leiden und der Untergang der Individuen durch die Einsicht in die Notwendigkeit dieses Geschehens versöhnt sein soll (vgl. Kap. IV.2.3), nicht nur theoretisch fragwürdig, sondern auch moralisch verfehlt. Wenn es aber nicht die gerechte Vorsehung ist, die den Anderen leiden macht, so schließt Levinas, dann bin ich dafür verantwortlich. Ich kann es nicht einfach als gegebenen hinnehmen. Levinas sieht drei Alternativen: Wäre ich mein eigener Ursprung, wäre ich für meine Taten (und nur für sie) verantwortlich ; indem ich mich hingegen nicht selbst in die Existenz gebracht habe, muss ich mich entweder darauf verlassen, dass alles einem höheren Sinn untersteht (was spätestens seit Auschwitz unmöglich anzunehmen ist), oder aber ich bin verantwortlich für das, was ich nicht getan habe. Wenn also auch das Leiden des Anderen nicht zu rechtfertigen ist, so kann doch mein eigenes Leiden einen Sinn erhalten, indem es mich für den Anderen öffnet und ein Leiden für den Anderen wird (vgl. Goodhart 2001, 108). Das gerechte Leiden ist so für Levinas das »Leiden durch das Leiden, das Leiden wegen des sinnlosen Leidens des anderen Menschen« (SL 120). In meinem eigenen Schmerz zeichnet sich hier der Anspruch des Anderen ab. Mein Leiden gibt



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mir so Zugang zu einem Guten, das »keine andere Belohnung […] als ebendiese Erhöhung zur Würde einer Seele [birgt] ; und der Ungehorsam keine andere Bestrafung außer der ebendes Bruches mit dem Guten« (TÜ 193). Ich erfahre die Forderung des Guten demnach als Schmerz – nicht im Sinne einer Wunde, die der Andere mir zufügt, sondern als Störung meines Genusses und der Befriedigung meiner sinnlichen Triebe (vgl. Lingis 1988, 7). Derart affiziert, kann ich vor den hungrigen Augen des Anderen nicht ungestört mein Brot essen ; ich kann an dem Verletzten nicht ungerührt vorübergehen und ihn seinem Schicksal überlassen. Auch ohne, dass er mir mein Brot streitig macht oder mir den Weg versperrt, höhlt die Forderung, die von ihm her in meiner Sinnlichkeit ergeht, meinen Genuss gleichsam von innen her aus und verdirbt meine Selbstzufriedenheit. Ich kann weiteressen, aber ich kann nicht mehr genießen. Wie ist das zu verstehen ? Levinas denkt, dass ich diese Inhibition meines Genusses erfahre, weil und insofern ich den Anderen begehre (s. o. Kap. V.1.2 und Kap. V.3). In diesem Begehren bezeuge ich – gegen meine sinnlichen Neigungen und mein Streben nach Selbstbeharrung – seinen Vorrang über mich. Und nur aufgrund dieses Vorrangs erfahre ich den Anderen überhaupt als Schmerz. Schmerz und Begehren sind mithin nicht voneinander zu trennen ; gerade in der Inhibition meiner Neigungen und Interessen, in meinem Schmerz, ist der Andere begehrt.30 Das heißt aber auch, dass ich  – insofern ich überhaupt Schmerz empfinde  – diesen Schmerz schon affirmiere.31 Mein Leiden durch den Anderen ist damit schon ein Leiden für den Anderen. Das Sich ist schon Substitution. Levinas denkt Verletzlichkeit und Verantwortung so nicht in einem Verhältnis, sondern er identifiziert sie (vgl. Lingis 1986, 226). Angesichts der Umkehrung von absoluter Passivität in Substitution klagt Bernhard Waldenfels einerseits die Dimension der Selbstverantwortung und andererseits die Dimension der Kreativität der Antwort ein (vgl. Waldenfels 1995c, 30 So ist die – andernfalls unverständliche – Wendung eines »Begehrens des Nicht-Begehrenswerten« (vgl. JS 273) zu verstehen: Ich begehre den, der meinen Genuss stört. Er stört meinen Genuss aber überhaupt nur, insofern ich ihn begehre. 31 Levinas beschreibt damit eine Dynamik, die stark dem Zusammenhang von Demütigung und Achtung in der Kritik der praktischen Vernunft ähnelt. Kant zufolge bewirkt das Moralgesetz als Bestimmungsgrund des Willens Schmerz, insofern es den Neigungen Eintrag tut und eine Demütigung des Eigendünkels darstellt (vgl. KpV A 131). Jedoch erweckt dasjenige, das uns derart zurückstaucht, in Hinsicht auf die praktische Vernunft zugleich Achtung (KpV A 130 – 132). Schmerz und Achtung sind damit nicht zwei unabhängige Gefühle, sondern das Subjekt erfährt im Schmerz seine Achtung des Gesetzes. Die Achtung bedeutet zugleich, dass es sich um einen Schmerz handelt, den es bejahen muss ; es ist gewissermaßen ein »gerechter Schmerz«, der mich zu mir selbst führt. Insofern Schmerz Bedingung der Achtung ist, kann ein nicht-sinnliches Wesen keine Achtung für das Gesetz empfinden.

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339 ; auch Waldenfels 2002, 206 ; Waldenfels 2005d, 97). In seinen Augen schließt Levinas Affektion und Appell kurz und lässt keinen Spielraum für die Antwort auf den Anderen. Es gäbe nur die (schlechte) Alternative zwischen einer Willkürfreiheit, die den Anderen nicht berücksichtigt, und ethischer Determiniertheit.32 Dies wäre in der Tat ein beschränktes und wenig plausibles Bild. Es entsteht jedoch nur dann, wenn man die unwillkürliche Antwort, die in dem Erleiden des Anderen anhebt, mit der konkreten Form, die das Subjekt seiner Antwort in der Welt gibt, identifiziert. Auf der hier zunächst behandelten Ebene bedeutet die Umkehrung des passiven Erleidens in Substitution meiner Lesart zufolge jedoch zunächst das Eingesetztsein in die Verantwortung, das affektiv verfasst ist. Die Nicht-Indifferenz gegenüber dem Anderen ist das, was Levinas als prä-reflexive, vor-moralische Verantwortung für ihn bezeichnet.33 Die Umkehrung in diese Verantwortung ist in der Tat völlig determiniert, weil – wie gerade gezeigt – das Leiden durch den Anderen schon ein Leiden für den Anderen ist. Aus dieser Verantwortung können aber ganz verschiedene Verhaltungen hervorgehen – inklusive derjenigen, dass das Subjekt sein Unbehagen verdrängt und gar keine weitere Handlung ergreift. Während Waldenfels zwischen dem Wovon des Getroffenseins und dem Worauf des Antwortens unterscheidet (vgl. Waldenfels 2002, 60), begreife ich also die Antwort als selbst noch einmal differenziert. Gemäß dieser Deutung weist Levinas’ Darstellung strukturelle Ähnlichkeiten mit Heideggers Gewissensanalyse auf. Für Heidegger gilt der Ruf des Gewissens nur dann als gehört und verstanden, wenn Dasein seine eigene Existenz übernimmt. Wie für Levinas fallen daher auch für Heidegger Hören und Befolgen des Rufs zusammen (vgl. Fehér 1990, 46).34 Ein Ruf, dem Dasein nicht folgte, gälte 32 Waldenfels fragt: »Wäre eine alternativlose ›wahre Antwort‹, die einem ›Sagen‹ entspringt, ›das absolut nichts Spielerisches hat‹, noch eine Antwort zu nennen ? Müßte nicht unterschieden werden zwischen der Unausweichlichkeit der Situation, auf die ich zu antworten habe, und der Skala möglicher Antworten ?« (Waldenfels 1995c, 339) Und folgert, dass »[d]ie Verantwortung nicht mehr meine Verantwortung, die Stellvertretung nicht mehr meine Stellvertretung [wäre], wenn sie ganz und gar durch den Anderen bewirkt oder erzwungen würde« (ebd. 339 f.). Eine determinierte Antwort würde also letztlich die Verantwortung selbst eliminieren. Diesen Vorwurf artikuliert auch Peter Dews (vgl. Dews 2017, 116). 33 Diese Lesart unterstützt Bettina Bergo: »It is crucial not to think of substitution in ontological terms. Substitution for the other may open onto acts of apparent generosity, including risking one’s life for another. Yet the spontaneity of such substitution need not translate into practice. It may carry on as suffering or remorse.« (Bergo 2019, 92) Und auch Waldenfels selbst unterscheidet zwischen der Antwort der Verantwortung und der konkreten Antwort: »Ich komme immer schon zu spät, um meine Verantwortung zu übernehmen, so daß die Antwort meiner Verantwortung früher ist als jede Antwort, die ich gebe.« (Waldenfels 1995c, 338) 34 Dieses Zusammenfallen bestreitet Eilert Herms: »Was derart zu verstehen gegeben ist, ist damit nicht ipso facto auch schon verstanden. […]. Diese Differenz ist wichtig. Nur wenn sie beachtet wird, kann auch die Differenz zwischen dem zu erleidenden Geschick des Gewissens­



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gar nicht erst als ergangen. Die dem Rufverstehen entsprechende Übernahme der Verantwortung für die eigene Existenz bezeichnet Heidegger als Entschlossenheit. Dabei meint Entschlossenheit nicht schon die konkrete Wahl, die Dasein trifft, sondern sie bezeichnet die der Wahl vorhergehende Wahl, selber zu wählen. Die Übernahme der Verantwortung für die eigene Existenz hat damit eine rein formale Struktur ; sie impliziert keine bestimmten Verbote und Handlungsanweisungen (vgl. Stähler 2009, 111). Dies gilt in abgewandelter Form auch für die Substitution. Während die »Bekehrung« (Merker 1988, 175) des Subjekts zur Entschlossenheit bei Heidegger dem Konventionalismus und Konformismus des anonymen Man entgegengerichtet ist, ermöglicht die Substitution als »Aufsichnehmen des anderen Schicksals« (PGL 132) bei Levinas ein Handeln, das nicht an den selbstischen Bedürfnissen und Interessen des Ichs orientiert ist. Entsprechend ist das hebräische hineni, »Hier bin ich / Sieh mich«, welches das ethische Subjekt charakterisiert, Ausdruck des Sich-dem-Anderen-Aussetzens, das schon ein Auf-sich-Nehmen des Anderen ist. Dieses Sich-Aussetzen konstituiert das Ich: In der Substitution bestätigt sich das Ich gerade, indem es sich absetzt (vgl. Bernet 2000, 176), aber nicht nach dem Muster hegelianischer Negativität. VI.2.2  Die Geburt des Ichs aus der Affektion des Anderen

Substitution bedeutet eine Verantwortung, die nicht aus der Initiative des Ichs hervorgeht und die jedem Selbstbezug vorausgeht. Diese Verantwortung ist unbedingt, indem sie sich weder an den Möglichkeiten und Zuständigkeiten des Subjekts bemisst noch die Schuldigkeit der Anderen aufrechnet (vgl. MG 82). Es ist eine Verantwortung für das, was mich angeht (franz. me regarde), und zwar ohne, dass ich etwas getan habe, bevor ich involviert und somit auch bevor ich in einem gewöhnlichen Sinne des Wortes verantwortlich bin (vgl. EU 72).35 Diese im buchstäblichen Sinne maßlose Verantwortung bezeichnet Levinas auch als Verfolgung. Der Andere sucht das Ich dort heim, wo es nicht ist – in seiner Sinnlichkeit nämlich, die der Affektion unmittelbar ausgesetzt ist. In diesem Sinne ist eine prä-reflexive und prä-moralische Verantwortung immer Verantwortung für rufes und dem Freiheitsakt der Wahl des erschlossenen Gehaltes aufrechterhalten werden.« (Herms 1999, 142) Aber das Paradox, das Heidegger uns zu denken gibt, ist eben, dass das Hören oder Verstehen des Rufes erst im Akt der Freiheit ist. 35 Jean-Luc Marion meint hierin das Phänomen der Überlebensschuld zu erkennen (Marion 2011, 65). Man könnte in diesem Sinne geneigt sein, das, was Levinas beschreibt, als pathologisch abzutun – keine angemessene Beschreibung des Ethischen, sondern ein Fall für die Trauma-Therapie. Aber sogar wenn Levinas’ Konzeption nicht von seinen persönlichen Erlebnissen abzulösen ist, kann doch auch gerade in den extremen Erfahrungen eine Tiefendimension der Subjektivität deutlicher hervortreten, die ansonsten verborgen bleibt.

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den Verfolger. Zugleich indiziert diese Wendung eine letzte Übersteigerung der Verantwortung, der zufolge das Ich nicht nur für das verantwortlich ist, was dem Anderen geschieht oder was er tut, sondern noch Verantwortung hat für das, was der Andere ihm antut (vgl. Marion 2011, 63). Dass ich auch und vielleicht sogar in besonderer Weise für den verantwortlich bin, der mich verfolgt, kann empören und pathologisch wirken. Der Begriff der Verfolgung ist zudem doppeldeutig, denn gerade im Hinblick auf Levinas’ eigenes Schicksal und angesichts der Widmung, die er Jenseits des Seins voranstellt,36 stellt sich die Frage, ob er den Terminus »Verfolgung« in einem rein formalen Sinne wählt oder ob damit auch die reale Gewalt angesprochen ist, die Menschen einander zufügen (vgl. Bernasconi 1995, 81 ; Weber 1995, 72). Robert Bernasconi argumentiert deshalb, dass Jenseits des Seins – anders als noch Totalität und Unendlichkeit – nicht mehr im Sinne einer universalen Konzeption von Subjektivität zu verstehen sei (vgl. Bernasconi 1995, 80). Er räumt zwar ein, dass Levinas mit seinem Begriff nicht das zu meinen scheine, was man gemeinhin unter Verfolgung verstünde (vgl. Bernasconi 1995, 80) ; dennoch zweifelt er die Allgemeingültigkeit des Konzepts an: »But even if to exist is to be called into question, would one want to say also that to exist is to be persecuted ?« (Bernasconi 1995, 81) In Bernasconis Augen ist der Begriff der Verfolgung nicht unabhängig vom Schicksal des Judentums zu verstehen, auch wenn er wiederum konzediert, dass das Konzept des Judentums oder des Jüdisch-Seins bei Levinas nicht in der Logik der Identität gefasst werden dürfe (Bernasconi 1995, 82). Ich denke jedoch, dass er Levinas damit zu Unrecht unterstellt, das NichtOntologische mit dem Ontologischen zu verwechseln (vgl. Butler 2007, 127). Levinas wäre zu widersprechen, wenn er behaupten wollte, dass eine »historisch konstituierte Gruppe von Menschen per definitionem stets verfolgt wird und niemals selbst verfolgt« (Butler 2007, 129). Wenn sie in dem Sinne eines wesensmäßigen Verfolgtwerdens gebraucht wird, ist die Kategorie »Jude« nicht mit einer bestimmten Gruppe Menschen gleichzusetzen.37 Sie bezeichnet vielmehr das 36 Levinas hat die Jahre 1941 – 45 in Kriegsgefangenschaft verbracht. Seine Frau und seine Tochter überlebten die Zeit, indem sie zunächst von Levinas’ Jugendfreund Maurice Blanchot und später in einem Konvent verborgen wurden. Alle anderen Angehörigen seiner Familie und der Familie seiner Frau wurden von den Nazis ermordet. Jenseits des Seins sind zwei Widmungen vorangestellt: Zunächst auf Französisch das »Gedenken der nächsten Angehörigen unter den sechs Millionen der von den Nationalsozialisten Ermordeten, neben den Millionen und Abermillionen von Menschen aller Konfessionen und aller Nationen, Opfer desselben Hasses auf den anderen Menschen, desselben Antisemitismus« ; dann auf Hebräisch – und damit nur für Kundige der hebräischen Schrift und Sprache lesbar – die Namen seiner ermordeten Angehörigen. 37 Hilary Putnam begreift das Judentum bei Levinas als universelle Kategorie: »Here and elsewhere, Levinas is universalizing Judaism. To understand him, one has to understand the paradoxical claim implicit in his writing that, in essence, all human beings are Jews.« (Putnam 2002, 34)



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Angesprochensein als die wesensmäßige Bestimmung des Menschen.38 Das Judentum steht damit für eine unsichtbare Universalität, die sich nicht in Begriffen und moralischen Prinzipien kodifizieren lässt, weil sie gerade auf das verweist, das sich nicht begrifflich fassen lässt: Verfolgt zu werden, schuldig zu sein, ohne irgendein Verbrechen begangen zu haben, ist keine Erbsünde, sondern die Kehrseite einer universellen Verantwortung – einer Verantwortung für den Anderen, – die älter ist als jede Sünde. Dies ist eine unsichtbare Universalität ! Es ist die Kehrseite eines Wählens, bei dem das Selbst (moi) in den Vordergrund gestellt wird, bevor es überhaupt frei ist, sich wählen zu lassen. Sollen die anderen sehen, ob sie dies ausnützen wollen. Das freie Selbst [moi libre] hat es in der Hand, die Grenzen dieser Verantwortung zu ziehen oder die ganze Verantwortung auf sich zu nehmen. Dies kann es aber nur im Namen jener ursprünglichen Verantwortung, im Namen dieses Judentums.39

Die Unsichtbarkeit dieser Universalität entspricht der paradoxen Verfasstheit einer Verantwortung, die das Subjekt – d. h. jedes Subjekt – konstituiert, aber keine Verallgemeinerung verträgt. Denn wesentlich ist, dass ich sie empfinde, und nicht, dass man, also das Ich im Allgemeinen, eine solche Verantwortung hat (vgl. Waldenfels 2002, 227). In der Verallgemeinerung wäre die vor-moralische Verantwortung schon verloren. Das Gewissen ist in diesem Sinne Singularität schlechthin: »Es gibt keine mir und den Anderen gemeinsame Selbstheit« (JS 282). Dabei schließt der Umstand, dass das Gebot meines Gewissens nur mir gilt, jedoch nicht aus, dass auch Andere unter einem Gebot stehen. Vielmehr gilt das Gebot des Gewissens »für jeden in seiner Einmaligkeit« (Delhom 2000, 98). Dabei kann eine Verantwortung, die jeder freien Wahl und Prüfung vorausgeht, weder »vorweg sagen und wissen, worauf sie antwortet und warum« (Waldenfels 1995c, 344), noch kann sie diesen Bereich im Voraus einschränken (vgl. Bernas­ coni 2002, 236). Eben deshalb kann das Ich auch von demjenigen affiziert werden, der es faktisch verfolgt. Neben ihrer paradoxen Universalität besteht die weitere Schwierigkeit des Konzepts der Verfolgung in dem von Levinas geprägten, terminologischen Sinn darin, dass diese die Dimension einer absoluten Passivität der Sinnlichkeit, die das Subjekt für sie empfänglich macht, allererst hervorbringt. Die Affektion durch den Anderen wirft das Ich also nicht lediglich auf die absolute Passivität seiner Schöpfung zurück (vgl. Bernasconi 2005b, 113 ; Kleinberg-Levin 2005, 38 Zwi Werblowsky betont, dass die Gewissensstimme im Alten Testament nicht Stimme des Inneren, sondern Stimme zum Inneren sei (vgl. Werblowsky 1976, 28). 39 Der Abschnitt stammt aus dem Aufsatz »De la montée du nihilisme au juif charnel« aus der Aufsatzsammlung Difficile Liberté, der in der deutschen Übersetzung Schwierige Freiheit nicht enthalten ist. Die Übersetzung übernehme ich aus Butler (2007, 125 f.).

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202), sondern sie selbst ist dieser Moment der Schöpfung. Damit ist sie ein Ereignis, das seine eigene Möglichkeit erst hervorbringt (vgl. Waldenfels 2002, 173). Anders formuliert: Dem Subjekt eignet nicht zunächst eine Dimension absolut passiver Sinnlichkeit, die dann malträtiert wird, sondern die Verfolgung selbst »ist nichts anderes als die Bewegung der Rekurrenz« (JS 246). Der Schmerz vertreibt das Ich aus sich und der Andere sucht es dort heim, wo es nicht ist, d. h. dort, wo es von seinem Ich entkleidet und ohne Abstand zum Anderen von diesem besessen ist.40 So bildet sich in der Verfolgung die Selbstheit aus: Die »Besessenheit […] knüpft sich in mir […] zu Selbstheit« (JS 189). Das Erleiden des Anderen in absoluter Passivität, das ich oben als Sich oder Rekurrenz eingeführt hatte (s. o. Kap. VI.1.2), ist eben als dieses Zurückgedrängtwerden hinter den eigenen Ursprung zu verstehen. Das Subjekt ersteht aus einer »Gewissensregung, die an ihm zehrt und die nichts anderes ist als der Rückzug in sich« (S 325 f.). Während sich bei Hegel in der Versöhnung der Gewissen ein Geist offenbart, der alle Wunden soll heilen können, ohne dass Narben zurückbleiben (s. o. Kap. III.2.4), stellt Levinas damit »die nicht vernarbende Wunde des Sich im Ich« (JS 280) als Bedingung des seiner selbst bewussten Subjekts heraus. VI.2.3  Kain oder der Fall des Psychopathen

Levinas legt eine Subjektivität frei, die von ihrer Konstitution her immer schon dem Anderen zugeordnet ist. Diese Konzeption wird in besonderer Weise durch das Störungsbild des Psychopathen herausgefordert. Denn dem Psychopathen scheint gerade jene Dimension des Menschlichen abzugehen, um die es Levinas geht (vgl. Katz 2010, 178). Der Psychopath wird nicht durch den Anderen affiziert ; er empfindet – um einen Ausdruck zu verwenden, der Levinas’ Denken allerdings nicht entspricht – keine Empathie. In seinem Buch, das bezeichnenderweise den Titel Without Conscience trägt, schreibt Robert Hare, dass dem Psychopathen Hemmungen, die Menschen normalerweise haben und die sie daran hindern, Andere zu verletzen oder gesellschaftliche Normen zu übertreten, entweder fehlen oder nur in stark reduzierter Form vorhanden sind.41 Auch empfinden diese Menschen, wenn sie sich eine solche Verletzung oder Übertretung 40 Diese Besessenheit tritt in Jenseits des Seins an die Stelle des Begehrens und bedeutet einen Zustand des Ichs, in dem das klare und deutliche Denken des Subjekts und sein verständiger Wille ausgesetzt sind (vgl. JS 187). 41 Robert Hare hat mit der Psychopathy Checklist das gängige Instrument zur Diagnose von Psychopathie entwickelt. Der Hinweis auf Hare (auf den sich auch Claire Elise Katz bezieht) und auch ein Teil der Informationen im Text entstammen mündlichen Mitteilungen von Ortwin Meiss, dem Leiter des Milton-Erickson-Instituts in Hamburg.



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haben zu Schulden kommen lassen, keine echte Reue über ihre Taten.42 Dabei handelt es sich, wie Hare betont, oftmals um Menschen, die extrem gewinnend und geschickt in der Konversation sind, so dass es ihnen – trotz der schlechten Erfahrungen, die man schon mit ihnen gemacht hat – immer wieder gelingt, ihr Gegenüber für sich einzunehmen und für die eigenen Zwecke zu gewinnen. Hare empfiehlt deshalb eindringlich, einer angeblichen Konversion des Psychopathen nicht zu trauen. Was immer der Psychopath an neuen Einsichten und Einstellungen zu haben vorgibt, er fühlt dies nicht wirklich und ist mithin auch nicht wahrhaft daran gebunden. Nun wird nicht jeder Psychopath zum Serienmörder. Tatsächlich sind es nur relativ wenige, wenn man bedenkt, dass Hare die Prävalenz von Psychopathie auf ein Prozent der Gesamtbevölkerung schätzt. Derart veranlagte Menschen können, im Gegenteil, durchaus sehr funktional sein. Der Psychopath kann Regeln befolgen und Normen entsprechen. Er tut dies jedoch nicht aus einer Verbundenheit mit Anderen und einem Gefühl der Verantwortung heraus, sondern weil es entweder seinen Interessen entspricht, so zu handeln, oder weil er es gewohnheitsmäßig tut. Eine solche Regelbefolgung hat in Levinas’ Augen jedoch nichts mit dem Ethischen zu tun. Kants Unterscheidung zwischen einem bloß gesetzmäßigen Handeln und einem Handeln aus Pflicht findet damit bei Levinas ihre Revision in der Unterscheidung zwischen einem normengeleiteten Handeln und einer Verantwortung, die aus der Affektion durch den Anderen hervorgeht. Hare zufolge betrachtet der Psychopath Andere als Objekte und hat z. B. auch zu Familienmitgliedern keine emotionale Bindung, sondern empfindet sie eher als Besitz. So führt Hare Beispiele auf, in denen von ihm als Psychopathen klassifizierte Menschen ihre eigenen Kinder töten, um dadurch ein bestimmtes Ziel zu erreichen (vgl. Hare 1993, 53). Wie können wir nun den Fall des Psychopathen, der doch offensichtlich ein handlungsfähiges Subjekt geworden ist, ohne vom Anderen affizierbar zu sein, mit Levinas verstehen ? Levinas selbst greift mit der biblischen Figur Kains eine Figur auf, die Züge dieses Störungsbildes trägt (vgl. Katz 2010, 172). Aus Neid tötet Kain seinen Bruder Abel und weist auf Gottes Frage nach dessen Verbleib jede Verantwortung von sich: »Bin ich meines Bruders Hüter ?« In ihrem Versuch, Levinas in eben diesem Zusammenhang zu positionieren, betont Claire Katz, dass Kain das Ange42 Hare beschreibt das Erleben des Psychopathen insgesamt als flach. Die Abwesenheit einer Tiefendimension in der Beziehung zu Anderen scheint mit einer Entleerung des eigenen Empfindens einherzugehen, die den Psychopathen immer wieder neue »Kicks« suchen lassen. Dabei ist bei dem Psychopathen nicht nur die Empathiefähigkeit, sondern auch das Angstempfinden reduziert. Angst wird, ebenso wie das Leiden Anderer, nicht als aversiv wahrgenommen. Diese Verbindung ist interessant, weil auch Levinas die vorursprüngliche Affizierbarkeit durch den Anderen mit Angst in Verbindung bringt.

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sicht seines Bruders nicht sehen konnte (d. h. seinen Anspruch nicht empfunden hat), und stellt heraus, dass er dennoch von Gott verantwortlich gemacht wird. Sie schließt daraus, dass Levinas eine Schuld und Verantwortung auch bei einem Individuum annimmt, das nicht für den Anderen empfänglich ist: Cain has neither moral knowledge, nor the capability of seeing the face. Yet, Levinas describes him as someone who violated the moral order ; he nonetheless should have seen the face. Levinas’s description exposes an individual who is both incapable of seeing the face of the other while nonetheless responsible for the other. […] While Cain and the Columbine Killers may have lacked a conscience, this lack does not undermine their responsibility in Levinas’s sense of this term. (Katz 2010, 172) Katz meint also, dass Levinas Kain die Empfänglichkeit für den Anderen abspricht und dennoch einen Anspruch an ihn geltend macht. Diese Interpretation steht im Einklang mit ihrer Ansicht, dass aus besonders gravierenden Taten nicht auf die Schuldunfähigkeit der Täter geschlossen werden dürfe: »[T]he psychopath is claimed by the other, even though the psychopath cannot respond to the other ethically« (Katz 2010, 179). Ihre Position und die Uneindeutigkeit bezüglich der Frage, ob Kain einem Anspruch unterliegt, scheint symptomatisch für das Unbehagen zu sein, das die Vorstellung auslöst, dass es Menschen gibt, die zwar nicht im eigentlichen Sinne geistig beschränkt sind, die aber gleichwohl keine Verantwortung empfinden. Entsprechend behauptet Katz, dass »Hare unequivocally confirms the psychopath’s sense of moral responsibility« (Katz 2010, 178). Aber das stimmt so nicht: Hare betont, dass der Psychopath durchaus weiß, was verboten ist, sich aber nicht daran gebunden fühlt (vgl. Hare 1993, 75 f.). Es gilt folglich, zwischen einem theoretisch verfügbaren Wissen einerseits und der Verbindlichkeit dieses Wissens für das Subjekt andererseits zu unterscheiden. Wenn Verbindlichkeit aus der Affektion des Anderen herrührt, dann ist ein Individuum, das vom Anderen nicht affiziert wird, nicht verbunden. Ebenso wie Kant meint, dass es keine Pflicht geben kann, ein Gewissen zu haben, weil eine solche Verpflichtung selbst schon ein Gewissen voraussetzen würde (vgl. MS 401), ist auch die vor-ursprüngliche Empfänglichkeit für den Anderen unverfügbar. Das Mordverbot muss nicht, aber es kann auch nicht gelehrt werden (vgl. Katz 2005b, 18). Entsprechend kann man im Umgang mit einem Menschen, der nicht in dieser Weise affizierbar ist, nur äußere Vorkehrungen treffen ; es macht jedoch keinen Sinn, an seine Verantwortung zu appellieren. Der biologischen Gattung des Menschen anzugehören ist in diesem Sinne nicht schon gleichbedeutend damit, im normativen Sinne Mensch zu sein (vgl. Putnam 2002, 39). Wenn man Levinas folgt, bedeutet Mensch-Sein im normativen Sinne Stellvertretung für den Anderen (vgl. ebd.). Levinas scheint allerdings



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nicht zu glauben, dass es ein menschliches Individuum geben könnte, das nicht durch Andere ansprechbar wäre. Die Existenz als Ich bezeugt schon diese Empfänglichkeit (vgl. Benso 1996, 17 ; Fleming 2015, 607 ; Perpich 2009, 28 ; Waldenfels 2002, 38). So ist die Verweigerung der Verantwortung immer schon schuldhaft. Indem Levinas das Böse als die »Verantwortung für die Verweigerung der Verantwortung« (vgl. HA 81) bestimmt, bleibt der Fall, dass jemand gar nicht erst in der Verantwortung stünde, unberücksichtigt.43 Entsprechend müsste Levinas eine vor-ursprüngliche Empfänglichkeit auch bei Kain annehmen und Kain wäre böse gerade darin, seine Verantwortung für Abel zu verleugnen, ohne sich jedoch dadurch von ihr befreien zu können.44 In diesem Kontext ist eine weitere biblische Szene relevant: Die Akedah, die Opferung Isaaks durch Abraham (vgl. Katz 2005b). Diese Szene begreift Kierkegaard und nach ihm später auch Derrida als teleologische Unterbrechung des Ethischen (im Sinne eines konventionellen Verständnisses ethischer Normen).45 Levinas gibt der Geschichte indes eine andere Wendung. Er betont nämlich den Umstand, dass Abraham im Vollzug des Opfers in der Lage ist, eine zweite Stimme – die Stimme des Engels – zu hören, der ihm befiehlt, das von Gott gebotene Opfer nicht auszuführen (vgl. Katz 2005b, 25). Dieser Stimme, die ihn anruft, antwortet Abraham mit hineni, »Hier bin ich / Sieh mich« – eben jener Antwort, mit der das ethische Subjekt sich dem Anderen aussetzt und anbietet. Mit Levinas lässt sich die Szene so deuten, als ob Abraham in dem Moment, wo er von dem Engel angerufen wird, zuallererst das Angesicht seines Sohnes sieht (vgl. Katz 2005b, 26). Das Opfer wäre damit nicht die Unterbrechung des Ethischen, sondern vielmehr seine Geburt (vgl. Katz 2005b, 28). Abraham wird erst zum ethischen Subjekt, indem er sich gerufen fühlt, das von Gott befohlene Opfer auszusetzen. Insofern sich die Beziehung zu Gott in der Beziehung zum 43 Dies bemerkt auch Strasser: »Wenn man Levinas Darstellung folgt, gewinnt man den Eindruck, daß nur die Menschen mit Gewissen gerichtet werden, und daß die Gewissenlosen sich frei und unbeschwert fühlen dürfen. […] Hier liegt eine Schwierigkeit vor, die unser Philosoph nicht bedacht hat.« (Strasser 1978, 379 f.) 44 Pascal Delhom und Alfred Hirsch wollen dagegen eine vorursprüngliche Entscheidung für die Verantwortung geltend machen: »Läßt sich aber eine Verantwortung […] ohne die Möglichkeit der Verantwortungslosigkeit überhaupt denken ? […] Die Situation muß auch in einem unvordenklichen Beginnen offen sein, es muß eine Entscheidung gegeben haben und es muß eine Beziehung zwischen den werdenden Möglichkeiten gegeben haben. Die Antwort der Verantwortung […] bedeutet, sich für die Verantwortung und gegen die Verantwortungslosigkeit entschieden zu haben.« (Delhom/Hirsch 2007, 68) Dieser Beschreibung stimme ich nicht zu. Ich denke, dass das Subjekt für Levinas immer schon in der vor-ursprünglichen Verantwortung steht. Es kann sich dieser Verantwortung verweigern. Aber es kann keine Entscheidung zur vor-ursprünglichen Verantwortung geben, weil sich die Differenz überhaupt erst von der Verantwortung her eröffnet. 45 Vgl. Sören Kierkegaard (1962) und Jacques Derrida (1994).

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anderen Menschen realisiert, zeigt sich der wahre Gehorsam gegenüber Gott gerade in dem Ungehorsam gegenüber seinem grausamen Befehl. Die Freiheit des Menschen wird damit von Levinas so radikal gedacht, dass sie sich in letzter In­ stanz auch gegenüber Gott behaupten kann und sogar muss (vgl. Katz 2005b, 22). Nicht die Treue zum Buchstaben ist das höchste Moment des Glaubens, sondern das Ethische. In diesem Ethischen ist der Glaube nicht abgesetzt, wohl aber wird die Bedeutung von Religion transformiert (vgl. Katz 2005b, 28). Diese neue Beziehung zu Gott präfiguriert, wie ich im folgenden Unterkapitel zeigen werde, Levinas’ Rekonzeptualisierung von Freiheit: Diese wird möglich durch einen unbedingten Anspruch, der das Ich aus dem Sein löst und es von allen Normen, Gesetzen und rationalen Erwägungen entbindet. VI.3  Freiheit als Inspiration durch das Gute

Mit dem Fokuswechsel von der Exteriorität des Anderen in Totalität und Unendlichkeit auf das Diesseits der Transzendenz in der Sinnlichkeit in Jenseits des Seins geht eine deutliche Verschärfung der Sprache einher.46 Und wenn schon die Asymmetrie der ethischen Beziehung und der Vorrang des Anderen im früheren Werk befremden mag, so kann die Vorstellung, noch für seinen Verfolger verantwortlich zu sein, vollends lebensfeindlich und pathologisch wirken.47 Levinas gerät in den Verdacht, zu vertreten, was Nietzsche als Sklavenmoral brandmarkt.48 Jedenfalls scheint es ausgemacht zu sein, dass seine Philosophie nichts weniger als eine Philosophie der Freiheit ist.49 Einer solchen Auffassung möchte ich jedoch im Folgenden widersprechen:50 Die unfreiwillige Verantwortung für den Anderen macht das Subjekt nicht unfrei ; sie befreit es vielmehr aus seiner quälenden Selbstbezüglichkeit.51 Im selben Zuge löst sich das Subjekt auch aus der Relationalität des Seins. 46

Paul Ricœur spricht von »verbalem Terrorismus« (vgl. Ricœur 2015, 36). Paul Ricœur etwa empfindet es als skandalös, dass auch der Angreifer das Subjekt unter einen Anspruch stellt und von ihm Sühne fordert (vgl. Ricœur 2005, 406 ff.) 48 Der Frage, ob Levinas eine Sklavenmoral predigt, geht Silvia Benso nach. Sie stellt fest, dass Levinas kein »asketischer Priester« sei (vgl. Benso 1996). 49 So schreibt Hofmeyr: »The central problem underlying radical passivity is undoubtedly the problem of freedom.« (Hofmeyr 2009, 1). Und Richard Wolin hält es für schlichtweg »impossible to reconcile Levinass ethical doctrine with the modern conception of freedom. Freedom is reconceptualized as being beholden to the Other« (Wolin 2008, 243). 50 Die Ansicht, dass Levinas’ Philosophie als Philosophie der Freiheit angesehen werden muss, teilt Nikolaus Krewani (2008, 127). 51 Alfred Hirsch spricht hier treffend von einer »Geburt der Freiheit aus der ›Geiselhaft‹, der Verfolgung und dem Trauma« (Hirsch 2010, 110). 47



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Man muss die Enteignung des Subjekts durch den Anderen mit Levinas nicht als Entfremdung verstehen. Sie stellt vielmehr eine Befreiung von sich dar, die das Problem der frühen Schriften löst (s. o. Kap. VI.1.1). Mit der Substitution findet Levinas eine Möglichkeit, Transzendenz – oder, wie es dort noch heißt, Exzedenz – zu denken. Wenn also das Gewissen für Hegel das Prinzip der Freiheit ist (vgl. Kap. II.2.3), so gilt dasselbe auch für Levinas. Allerdings hat Freiheit bei ihm einen völlig anderen Charakter als bei Hegel. Sie ist nicht Selbstbestimmung in vernünftigen Verhältnissen, sondern bedeutet die Nicht-Determiniertheit des Subjekts im Sein durch die Verantwortung für den Anderen. So steht sie für die Erlösung des Subjekts. Diese quasi-transzendentale (Kant) oder quasi-ontologische (Heidegger) Freiheit erhält nur Wirklichkeit durch die Selbstbestimmung des Ichs von der Pluralität der Anderen her – die praktische Dimension der Freiheit, auf die ich im nächsten, abschließenden Kapitel eingehe. Die ganz unverhoffte Freiheitsdimension, die sich mit der Substitution in Levinas’ Denken eröffnet, stelle ich in drei Abschnitten dar: Zunächst diskutiere ich die vor-ursprüngliche Verantwortung für den Anderen als unfreiwillige Bindung an das Gute. Im zweiten Abschnitt zeige ich, dass diese unfreiwillige Bindung mit Levinas als Befreiung verstanden werden muss, weil sie das Subjekt von sich selbst und damit zugleich auch von der Relationalität im Sein befreit. Abschließend mache ich die paradoxe Logik der Inspiration explizit, die es Levinas erlaubt, ethische Freiheit – Levinas selbst verwendet hier sogar den Ausdruck Autonomie – von der Verantwortung für den Anderen her neu zu denken.52 VI.3.1  Die unfreiwillige Bindung an das Gute

Levinas gilt die prä-reflexive und vor-moralische Verantwortung für den Anderen als die Bindung des Subjekts an das Gute. Das Subjekt kann diese Bindung weder durch sich selbst hervorbringen, noch kann es sie lösen. Aufgrund der Unverfügbarkeit dieser Bindung spricht Levinas auch von einer Erwählung durch das Gute (vgl. vgl. JS 41). Das Gute ist dabei weder ein Gegenstand noch ein Prinzip oder Gesetz. Es ist nicht ein anderes Sein, sondern anders als Sein. Es manifestiert sich nur durch das Subjekt, in dem sich das Leiden durch den Anderen in Leiden für ihn umkehrt. Dieses Leiden für den Anderen nennt Levinas Güte. Das Gute bewirkt die Güte nicht, sondern es ist in ihr (vgl. HA 76). Das ethische 52 Levinas lehnt den Begriff der Autonomie ab, insofern er in seinen Augen ein Subjekt bezeichnet, weil dieser ein Subjekt bezeichnet, das causa sui ist und dem damit die Bedingung für ethische Verpflichtung fehlt (vgl. Basterra 2015, 4 ; Gates 2002, 495 ; Peperzak 1986, 211). Er verwendet den Autonomiebegriff allerdings selbst in Bezug auf eine Selbstbestimmung, die nur dadurch wahrhaft autonom ist, dass sie wahrhaft heteronom ist (vgl. JS 352).

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Subjekt kann das Gute nicht erkennen oder beweisen, aber es legt in seiner Güte Zeugnis davon ab (vgl. EU 84). Levinas zufolge ist die Bindung an das Gute ohne alle Möglichkeit der Wahl. Denn in der Wahl hat sich das Subjekt schon vom Guten entfernt (vgl. JS 262). Die Wahl erfordert einen reflexiven Abstand (vgl. HA 76), durch den sich das Subjekt aus der Nähe des Anderen löst (s. o. Kap. VI.1.3). Jedoch ist das Subjekt in der äußersten Passivität seiner Sinnlichkeit immer schon vom Anderen affiziert, bevor es sich seiner reflektierend versichern kann. Es ist so an das Gute gebunden, bevor es überhaupt ein Ich ist, das wählen kann. Levinas geht deshalb so weit, diese Bindung als Determinismus zu beschreiben (vgl. HA 75). Er verleugnet also nicht den unfreiwilligen und sogar gewaltsamen Charakter der Bindung an das Gute. Insofern sie vor jeder freien Entscheidung und vor jedem Engagement statthat, hat die Bindung an das Gute »formal die Struktur der Unfreiheit« (JS 41). Allerdings meint Levinas, dass diese Unfreiheit »wieder freigekauft« würde durch die Güte des Guten (vgl. ebd.), d. h. die Qualität des Guten soll seinen Zwangscharakter aufwiegen bzw. überwiegen. Worin aber besteht diese Güte ? Was macht die Verantwortung gut ? In einem ähnlichen Sinne stellt Simon Critchley die Parallele zwischen der Andersheit des Es-gibt und der des Anderen heraus und fragt, inwiefern die Besessenheit für den Anderen als Güte zu verstehen ist: Ich sehe ein, warum es in der Beziehung zum Anderen und im Herzen des Subjekts eine radikale Andersheit geben muss, um die Philosophien der Totalität zu vermeiden, aber ich sehe […] nicht ein, warum eine solche Andersheit das Prädikat ›Güte’ erhält. Warum muss die radikale Andersheit als gut oder böse in einem absoluten Sinne bestimmt werden ? (Critchley 2001, 61)

Auf diese Frage muss man im Sinne von Levinas erwidern, dass das Gute gut ist, weil es allererst die Unterscheidung zwischen Gut und Böse eröffnet. Dabei ist die »beunruhigende Parallelität« (Vries 1989, 245) zwischen dem Es-gibt und dem Anderen kein Zufall, sondern notwendig, damit die Güte nicht wieder in die Logik des Seins zurückfallen kann. Wäre Gottes Existenz gesichert, böte es sich an, aus Berechnung gut zu sein. Aus Berechnung gut zu sein heißt aber, nicht gut, sondern selbstisch zu sein. Damit das Ethische überhaupt möglich ist, muss das Gute also zweideutig bleiben (vgl. GTZ 231). Es muss sich an der Grenze der Sinnlosigkeit und des Vergeblichen halten, damit sich das Ich nicht erneut in seiner Selbstbezüglichkeit einrichten kann (vgl. JS 260, Fußnote 21, 335, 356). Nur so, indem das Unendliche sich verweigert, Endzweck zu sein, ist es davor bewahrt, in die Seinsordnung zurück zu fallen (vgl. RP 257).53 53

Diese Dimension entgeht Françoise Dastur, die mit Ricœur argumentiert, dass die absolute



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Während Levinas in Totalität und Unendlichkeit noch einen Messianismus vertritt (vgl. TU 416), braucht es also später nicht mehr die Garantie des Ausgleichs, ja, der Ausgleich würde sogar der Logik der ethischen Gabe zuwiderlaufen, die ohne Ausgleich bleiben muss, um Gabe zu sein. Wenn die Güte ihre Bewährung an der Undankbarkeit des Anderen findet (vgl. Gürtler 2001, 138 f.), dann kann der Andere sich paradoxerweise nur als dankbar erweisen, indem er sich nicht für das Erhaltene revanchiert (und es damit in die Logik des Tausches zurückholt), sondern indem er selbst gütig ist, d. h. anderen Anderen jenseits von Tausch und Kalkül gibt. So ist das Gute für Levinas nicht das kantisch verstandene höchste Gut als Glücksseligkeit in Proportion zur Glückswürdigkeit. Er versteht darunter vielmehr das selbstlose Opfer des eigenen Glücks für den Anderen, ohne Aussicht auf Ausgleich und Belohnung. Und trotz der Härte dieser Forderung meint Levinas, dass in ihrer Erfüllung ein »Glück« läge, das jede hedonistische Glücksseligkeit überschritte. In der Substitution für den Anderen verzichtet das Ich nicht wie bei Hegel auf seine Partikularität, sondern auf sich selbst. So befreit es sich von seinem Egoismus, ohne Moment der universalen Ordnung zu sein. Vielmehr bestätigt es sich durch dieses Opfer in seiner Einzigkeit (vgl. EU 78 ; JS 135, 187 ; TH 18). Denn anders als bei Heidegger – für den der eigene Tod paradigmatisch für die Unvertretbarkeit des Subjekts steht – ist das Ich für Levinas gerade in der Substitution für den Anderen nicht-substituierbar (vgl. JS 248, 282 ; SdA 224). So entfremdet das Gute das Subjekt nicht, sondern dieses ist vielmehr nur ganz es selbst, indem es der Andersheit ausgesetzt und durch sie enteignet ist (vgl. Bedorf 2012, 79 ; Drabinski 2001, 208 ; Peperzak 1993, 49). Da die Bindung an das Gute ohne alle Wahl ist, stellt sich weiterhin die Frage, wie sich das Subjekt überhaupt vom Guten lösen, wie es also böse sein kann. Müsste die anarchische Bindung an das Gute nicht implizieren, dass das Subjekt notwendig gut ist, was aber ganz offensichtlich nicht der Fall ist ? Levinas zufolge ist die Versuchung eines Abfalls vom Guten in der Leiblichkeit und der reflexiven Struktur des Subjekts angelegt (vgl. JS 80). Das Ich kann sich gegen den Anderen verschließen und seinem Eigeninteresse folgen. Sowohl die vor-ursprüngliche Bindung an das Gute als auch der (dazu immer nachträgliche) Abfall von ihm sind in der diastatischen Struktur der Subjektivität angelegt. Dies macht die Güte des Subjekts nur wertvoll. Indem die Erwählung durch das Gute jedoch vor aller Wahl immer schon stattgefunden hat, ist die Abkehr von der Verantwortung in der zweiten Zeit des Ichs in Levinas’ Augen immer schuldhaft. Anders als Kant, der die Zurechenbarkeit auch des unmoralischen Handelns durch das Hilfskon­ Passivität der Heteroaffektion den Anderen erst zum Skandal und zur Provokation macht und so gewissermaßen die Harmonie mit ihm stört (vgl. Dastur 2002, 95 f.).

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strukt einer ewigen oder Charakterwahl zu sichern sucht (vgl. Rel B6-B9), geht die Schuld der Verantwortungslosigkeit bei Levinas aus der vor-ursprünglichen Bindung der Subjektivität an das Gute hervor. Insofern das Ich ist, ist es schon vom Guten gefordert. So kann es sich nie aus der Verantwortung stehlen. VI.3.2  Substitution als Freiheit von sich

Levinas stimmt mit Kant und Hegel darin überein, dass Willkürfreiheit unfrei ist. Zwar wählt das auf diese Weise freie Subjekt selbst, aber es ist dabei in einer Weise bedingt, die es nicht durchschaut. Wie zu Beginn dieses Kapitels gesehen, gelangt eine Subjektivität, die – wie bei Heidegger – von ihrer Sorge-um-sich her verstanden wird, für Levinas über diese Bedingtheit nicht hinaus. Entsprechend erfährt sich das Ich auf bedrückende Weise als an sich selbst gekettet und begreift seine Existenz als Gefangenschaft (s. o. Kap. VI.1.1). Vor dem Hintergrund dieser unerlässlichen Bindung an sich erhält die Unfreiheit einer nicht-gewählten Verantwortung für den Anderen, die sich bis zur Besessenheit für dem Verfolger steigert, einen anderen Sinn. Das Unmaß der Substitution, die sowohl mit dem Genuss als auch mit der vernunftmäßigen Verrechnung von Zuständigkeiten bricht, transzendiert die Ökonomie des Seins und ermöglicht so in Levinas’ Augen wahre Freiheit (vgl. JS 279). Anders als für Hegel kann Freiheit damit für Levinas nicht das Erste sein (vgl. Peperzak 2004, 198 f.). Das heißt jedoch nicht, dass er sie geringschätzt – im Gegenteil. Jedoch geht die unfreiwillige Affektion durch den Anderen oder das Gute der Freiheit voraus und bedingt sie. Die Freiheit hat also ihrerseits eine »Bedingung«, die aber so verfasst ist, dass sie der Freiheit keinen Abbruch tut, sondern das Subjekt, im wahrsten Sinne des Wortes, unbedingt macht. Paradox formuliert ist Freiheit für Levinas Heteronomie »durch und durch« (SpA 204). Oder auch: Wenn Freiheit das Höchste wäre, müssten wir unfrei bleiben. Levinas beschreibt das menschliche Selbst als das Zentrum einer zentripetalen Kraft (vgl. TU 254). Der Mensch ist in seiner Leiblichkeit unweigerlich selbstbezogen. Diese Egozentrik macht seine Unfreiheit aus und ist zugleich böse. Das narzisstische Ich erfährt diese Unfreiheit als Leiden, aber es ist dennoch unfähig, von sich her, aus eigener Initiative, seine Selbstbezüglichkeit zu überwinden. Jeder Versuch, sich von sich zu befreien, bekräftigt nur seine Bindung an sich.54 Aus dieser aporetischen Situation deutet sich ein Ausweg an, indem dem Ich von diesseits seiner Bedürfnisse und Intentionen eine unbedingte Forderung auf54 In diesem Sinne ist klar, dass es Levinas nicht um Askese gehen kann. Das Aufgeben des Genusses für den Anderen ist kein Selbstzweck. Als solcher würde er das Subjekt nicht von sich befreien.



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erlegt wird. Anders als in den frühen Schriften, wo sich das Ich im Schmerz der Unerlässlichkeit der Bindung an sich innewird (s. o. Kap. VII.1.1), löst sich das Ich in Jenseits des Seins in dem Leiden für den Anderen von sich (vgl. JS 35). Die Substitution impliziert so eine »an-archische Befreiung« (JS 278) aus der Selbstbezüglichkeit.55 Das Leiden für den Anderen, der den Genuss stört und die Intentionen frustriert, erlöst das Subjekt so von seinem Kreisen um sich selbst. So geht es »über die Freiheit hinaus« (JS 35)  – über die selbstbezügliche Freiheit nämlich – und transzendiert das Sein (vgl. JS 258). Die Substitution weist die Struktur der Exzedenz, des Ausgangs aus dem Sein auf, den zu denken Levinas in den frühen Schriften vergeblich versucht hatte (vgl. Bergo 2005a, 42 ; Bernasconi 2005b, 113). Aufgrund der absoluten Passivität, in der das Subjekt den Anderen erleidet, wird in der Substitution jene Selbsttranszendenz möglich, die das Subjekt von sich her nicht vollbringen kann, weil es in seinem willentlichen Streben gerade jenes Selbst bestätigt, dass es hinter sich lassen will. Levinas bezeichnet die Substitution deshalb als einen »Freiheitsmodus, der ontologisch unmöglich ist« (JS 277). Was nach einer pathologischen Enteignung aussieht, entpuppt sich so gerade als die Befreiung des Ichs: In dieser Stellvertretung, in der die Identität umgewendet wird, […] befreit sich das Sich von sich selbst [le soi s’absout de soi]. Freiheit ? Eine andere Freiheit als die der Initiative. Durch die Stellvertretung, durch das Einstehen für die Anderen entgeht das Sich der Beziehung. Am Ende der Passivität entgeht das Sich der Passivität oder der unvermeidlichen Begrenzung, der die Relate in einer Beziehung unterworfen sind. […] In dieser passivsten Passivität wird das Sich auf ethische Weise von jedem Anderen und von sich selbst befreit. (JS 254)

Die Substitution widerspricht nicht der Freiheit, sie gefährdet sie nicht und schränkt sie nicht ein, sondern sie ist in Levinas’ Augen Freiheit (vgl. GTZ 190 ; siehe auch Abensour 2002, 14 ; Askani 2016, 83). Es handelt sich dabei um eine »Freiheit, die durch die Verantwortung getragen ist, für die nicht ihrerseits die Freiheit einstehen könnte« (JS 277). D. h. nicht die Verantwortung setzt Freiheit voraus, sondern Freiheit wird, im Gegenteil, erst von der Verantwortung für den Anderen her denkbar (vgl. Hirsch 2010, 93). Während also die Verantwortung für die eigene Existenz, die dem Subjekt von seiner Selbstbezüglichkeit her obliegt, dieses unfrei macht (s. o. Kap. VI.1.1), befreit die Verantwortung für den Anderen das Ich vielmehr (vgl. Bernasconi 2012, 266). Dieses ist nicht länger an seine 55 Die Idee, dass der Andere mich von mir selbst befreit, ist bereits in Vom Sein zum Seienden angelegt, wird dort aber von Levinas nicht weiter verfolgt: »Ontologisch ist das Erreichen des Anderen das Ereignis des radikalsten Bruchs mit den Kategorien selber des Ich, denn für mich bedeutet es, woanders zu sein als bei mir [car c’est pour moi etre ailleurs qu’en soi], es heißt Vergebung zu finden, keine endgültige Existenz zu sein.« (EE 104)

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Identität gefesselt und auf die eigenen Möglichkeiten beschränkt (vgl. Atterton/ Calarco 2005, 49). Vertrieben aus sich entkommt es der Relationalität des Seins (vgl. JS 253). Levinas denkt so im Ausgang von der Verantwortung für den Anderen eine Unbedingtheit des Subjekts, die der transzendentalen Freiheit Kants ähnelt. Praktische Bedeutung erhält diese Unbedingtheit durch die Selbstbestimmung des Ichs angesichts der Pluralität von Anderen, auf die ich im nächsten Kapitel eingehe. Wesentlich ist dabei, dass von der Substitution her ein absoluter Neubeginn denkbar wird.56 Das Ich wird so von seinem tragischen, weil vorgezeichneten Schicksal erlöst (vgl. JS 34), ohne wie bei Hegel in der Allgemeinheit aufzugehen. Freiheit ist damit nur möglich, weil das Subjekt nicht sein eigener Ursprung ist (vgl. Froman 2005, 57, 59). Die absolute Passivität seiner Sinnlichkeit, in der der Andere von sich her erscheinen kann, bedingt zugleich auch die Befreiung des Ichs von sich. Ebenso wenig, wie die Freiheit des Anderen aus der Freiheit des Ich hervorgehen kann (vgl. Kap. V.3.1), kann dies meine eigene. Meine Erlösung, nach der ich mich sehne, kann mir nur wider Willen widerfahren. In dem Widerwillen, den das Ich gegen den Anderen empfindet, und in dem Widerstand, den es ihm entgegensetzt, bleibt so seine Trennung erhalten, während es sich der Forderung zugleich nicht entziehen kann. Das Ich ereignet sich mithin in der doppelten Unmöglichkeit, sich der Forderung widerstandslos zu überlassen, einerseits, und sich vom Anderen frei zu machen und im Genuss aufzugehen, andererseits (vgl. Bernet 2000, 178). Levinas deutet damit die Gegenläufigkeit von ethischer Forderung (die hier freilich auf einer anderen Ebene erfolgt) und naturhafter Selbstbezogenheit des Ichs, die Hegel bei Kant moniert, als die eigentliche Existenzweise ethischer Subjektivität: Das Subjekt ist ethisch, indem das Gewissen an der reflexiven Identität des Ichs nagt und seinen Widerstand zum Einsturz bringt (vgl. JS 278). Anders als bei Hegel ist Freiheit für Levinas nicht ein Bei-sich-sein-im-Anderen, in dem ich mich wiederfinde, sondern ein Sterben für den Anderen, in dem das Ich sich von sich löst (vgl. RP 258). Diese Befreiung vom Selbst ist nicht mit Hegels schöner Seele zu verwechseln, insofern diese – und zwar gerade im allerhöchsten Maße – auf sich selbst bezogen ist. Die Selbstlosigkeit des Ethischen entspricht dagegen einer Bemühung für den Anderen im Verzicht darauf, die Früchte der eigenen Arbeit zu ernten, Dank zu erfahren oder eine Gewissheit darüber zu haben, dass diese Bemühung überhaupt einen Sinn hat. So ist das Subjekt nicht die »Reihe seiner Taten« (vgl. GRP § 124), sondern es findet seine Erfüllung in der Liturgie, in der Arbeit an einem Werk, das unentgeltlich und 56 Die Substitution greift damit die Lösung auf, die mit der erotischen Beziehung und vor allem mit der Fruchtbarkeit schon in Totalität und Unendlichkeit vorgezeichnet ist (vgl. Bernasconi 2012, 268). Auch hier konnte Levinas das Ich in der Diskontinuität der Generationen und in dem Überschreiten seines eigenen Seins als im wörtlichen Sinne unbedingt begreifen.



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möglicherweise vergeblich für den Anderen verrichtet wird. Freiheit ist in diesem Sinne nicht ohne Verletzlichkeit und Sterblichkeit denkbar (vgl. TU 415). Ein unsterbliches Wesen, das nicht leiden könnte und dem kein Tod verhängt wäre, könnte nicht für den Anderen einstehen und dabei Erlösung finden. VI.3.3  Die Struktur von Autonomie: Inspiration und Prophetie

Die Behauptung radikaler Andersheit scheint zu implizieren, dass wir den Anderen gar nicht erkennen und ihm nicht begegnen können, denn begegneten wir ihm, wäre eben seine Andersheit nicht radikal. In keinem Fall hätten wir es also mit dem ganz Anderen zu tun. Dies ist im Wesentlichen Derridas Kritik an Levinas’ Konzeption radikaler Andersheit in Totalität und Unendlichkeit, an die er die Vermutung anschließt, dass der Andere immer in gewisser Hinsicht anders, in anderer Hinsicht aber gleich sein müsse (vgl. Derrida 1976, 187). Die Antwort auf dieses Problem, die Levinas in Jenseits des Seins findet und die sich zugleich gegen die hegelianische Logik richtet, die Derridas Kritik zugrunde liegt, besteht darin, Subjektivität als inspiriert zu denken (vgl. EU 84). Das Subjekt ist beseelt von einer Andersheit, die ihm selbst nicht zugänglich und verfügbar ist, von der her aber sein Denken und Handeln anhebt. Im prophetischen Sprechen ereignet sich absolute Andersheit, ohne in die eingangs genannte Alternative zu fallen (vgl. GTZ 151). Levinas bedient sich des Konzepts der Inspiration, um ein Sprechen zu bedeuten, dessen Ursache nicht das Subjekt ist, das also gewissermaßen von woanders her beginnt. Dabei verlangt die »paradoxe[] Modalität der Inspiration« (EA 262), eine Ursache zu denken, die erst in ihrer Wirkung, dem prophetischen Sprechen, ist.57 D. h. der Prophet hat nicht ein Wissen oder empfängt eine Botschaft, die er anschließend ausspricht, sondern er vernimmt die Offenbarung durch seine eigene Stimme (vgl. Strasser 2010, 249). In der prophetischen Rede fallen damit das Mitteilen und das Vernehmen und Verstehen der Mitteilung zusammen (vgl. König 1969, 144). Analog zu dieser Figur erhält das ethische Subjekt bei Levinas nicht zuerst einen Befehl, den es anschließend befolgt, sondern sein Gehorsam geht dem Hören des Befehls voraus (vgl. DR 209 ; EA 262 ; GTZ 209). Der Befehl erklingt gleichsam erst in dem Gehorsam dessen, der ihm schon folgt. Während also im gewöhnlichen Verständnis die Wirkung auf die Ursache folgt, so besteht hier eine Koinzidenz oder sogar Nachträglichkeit der Ursache gegenüber der Wirkung. 57 Entsprechend ist die in das Ich gelegte Idee des Unendlichen als Inspiration zu denken (vgl. Greisch 2013, 45).

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Die paradoxe Zeitlichkeit von Ursache und Wirkung in der Inspiration liegt in der spezifischen zeitlichen Struktur der Subjektivität begründet. In der absoluten Passivität des Sich ist der »Befehl« des Anderen – in unvordenklicher Vergangenheit und ohne Wissen des Subjekts – immer schon ergangen, wenn das Ich zu sprechen und zu handeln anhebt.58 Er manifestiert sich in einer Antwort, die eine »Überraschung für den Antwortenden selbst« (GP 115) ist. D. h. ich spreche Forderungen gegen mich aus, von denen ich nicht weiß, woher sie mir kommen. In meinem Gehorsam beginne ich erst das Gebot zu verstehen, dem ich schon folge. So ist der Andere von sich her in mir und es werden weder die Andersheit des Anderen noch mein Wille beeinträchtigt. Ich nehme Rücksicht und ich dulde das Leiden des Anderen nicht – aber nicht, weil ich einem Gesetz oder Prinzip folge oder mir von außen eine Grenze gesetzt wird, sondern weil mein Gewissen mir keine Ruhe lässt (vgl. JS 278). Levinas versteht das Gebot des Anderen als eine Heteronomie, die, gerade weil sie in absoluter Passivität ergeht, keine Unterwerfung im gewöhnlichen Sinne impliziert. Der Vorrang des Anderen bedeutet nicht, eine willenlose Marionette in den Händen des Anderen zu sein und alles zu tun, was der Andere sagt. Als Sich bin ich dem Anderen absolut zugeeignet, aber ich bin nicht sein Knecht, »denn die Unterscheidung von Herr und Knecht setzt schon ein fertiges Ich voraus« (S 326 f.). Würde ein Befehl an meinen Willen gerichtet, wäre meine Freiheit beeinträchtigt. Der Befehl des Anderen richtet sich aber nicht an das Willenssubjekt, sondern betrifft dieses in seiner Sensibilität. Entsprechend bedeutet das Gebot des Anderen zu vernehmen nicht, »ein schon worthaft Artikuliertes bloß zu empfangen« (Ringleben 2018, 428). Das Subjekt ist nicht einfach das Sprachrohr oder Werkzeug des Anderen, das die Worte ausspricht, die dieser in es legt (vgl. Ringleben 2018, 428), und die Taten verrichtet, die diesem gefallen. Vielmehr artikuliere ich selbst erst aufgrund der Andersheit oder Exteriorität, die sich in mir ereignet, den »Befehl«, dem ich schon folge. Das Gebot des Anderen gewinnt erst in meinem »Gehorsam« eine intelligible Gestalt. Anders ausgedrückt hebt meine Selbstbestimmung vom Anspruch des Anderen an (vgl. Peperzak 2010, 87). Das Ich bleibt so als Ursprung intakt, während es in seiner Sinnlichkeit absolut enteignet ist. Die Struktur der Inspiration artikuliert Levinas’ Konzeption der Freiheit weiter. Sie stellt zugleich seine höchst originelle Lösung des Paradoxons der Autonomie dar, das dann auftaucht, wenn die metaphysischen Annahmen wegfallen, die vormals eine unbedingte Selbstbestimmung des Willens gewährleisteten 58 Wie schon das Urteil des Anderen artikuliert Levinas dieses Geschehen, das sich nicht an ein Subjekt richtet, sondern das Subjekt konstituiert, im Modus des als-ob: In meinem Sprechen stehe ich »gleichsam« unter Anweisung von außen ; es ist, »als ob« mir eine Autorität geböte (vgl. JS 195).



Die Subjektivität des Subjekts als der-Andere-im-Selben

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(vgl. Kap IV.1.c). Der springende Punkt ist dabei, dass Levinas das Moment der Hete­ronomie, das notwendig ist, damit Autonomie nicht willkürlich ist, auf einer anderen Ebene denkt als das reflexive Ich. Der Andere setzt mich jenseits jeden Begreifens und jeder Intentionalität in die Verantwortung ein und gebietet mir in absoluter Passivität, mir selbst zu befehlen (vgl. TU 259). Dies ist die einzige Weise, wie das Gebot an mich ergehen kann, um meine ethische Selbstbestimmung zu provozieren, ohne sie zugleich zu verunmöglichen, denn eine Freiheit, zu der ich genötigt würde, wäre paradox (vgl. Stegmaier 2016, 258). Indem ich jedoch dem vor-ursprünglichen Gebot Folge leiste, verkehrt sich die absolute »Heteronomie des ethischen Gehorsams« (EA 263) in Autonomie, da es meine Stimme ist, die den Befehl ausspricht, dem ich folge (vgl. GTZ 209): Ich spreche »in der Autonomie der Gewissensstimme eine Verantwortung aus[], die nicht in mir hat beginnen können – für eine Freiheit, die nicht die meine ist« (JS 352). In meinem Gehorsam werde ich – gewissermaßen nachträglich – zur Autorin dessen, was ich mich sagen höre. Hier zeichnet sich eine ganz andere Figur exzessiver Subjektivität ab, als Dominik Finkelde es will (vgl. Kap. IV.1.3) – ich komme darauf im nächsten Kapitel zurück. Inspiration und Prophetie treten damit an die Stelle, die bei Hegel die Vermittlung einnimmt (vgl. Caygill 2002, 148). Mit der Struktur der Inspiration wird nicht einfach Autonomie in Heteronomie umgekehrt, sondern beide sind in ihrer Struktur neu gedacht. Ebenso wie wirkliche Heteronomie als absolute Passivität gedacht werden muss, kann Autonomie nur bestehen, wenn nichts das Subjekt bedingt. Entsprechend kann dieses gerade von einer absoluten Passivität her, die jenseits jeder Bedingtheit im Sein liegt, autonom sein. Bernhard Waldenfels bringt diese Neubestimmung der Freiheit bei Levinas auf die Formel: »Freiheit bedeutet selbst beginnen, aber anderswo.« (Waldenfels 2005b, 203) Autonom bin ich als Ursprung einer Rede, die nicht bei mir beginnt. Ohne die absolute Passivität der Affektion durch den Anderen sind für Levinas dagegen weder wahre Heteronomie noch wahre Autonomie denkbar. Die Begriffe der Unterweisung, des Urteils und erst recht eines Befehls des Anderen haben bei einigen Interpreten zu dem Missverständnis geführt, dass der Andere dem Ich vorschriebe, wie es zu handeln hätte. So bemängelt Hans-Jürgen Gawoll, dass die Unterweisung »das Ich zu einem Empfänger [degradiert], der blindlings dem Sprachgestus eines Befehls gehorchen muß« (Gawoll 2010, 71). Und Robert Stern findet es moralisch problematisch, dass das Ich nicht durch Gründe überzeugt werde, sondern aufgrund der gottgleichen Autorität des Anderen dessen Befehle befolge.59 59 Stern versteht Levinas’ Darstellung der ethischen Beziehung »as a kind of ›humanization‹ of the divine command model, where the authority of the other relates in some way to the

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Eine solche Kritik wäre natürlich berechtigt, wenn sie denn stichhaltig wäre. Sie geht aber an Levinas völlig vorbei. Der Andere gibt dem Ich keine bestimmten Instruktionen (eine solche Autorität gesteht Levinas noch nicht einmal Gott zu, s. o. Kap. VI.2.3), sondern er erlegt ihm eine Verantwortung auf, die das Ich frei macht – auch und gerade von der Beherrschung durch den Anderen. Das Ich steht für den Anderen ein, aber es ist nicht sein willfähriges Werkzeug. Lediglich Vorschriften zu befolgen, wäre mit der Verantwortung für den Anderen schlechthin unvereinbar (vgl. TH 19).60 Entsprechend hebt die Unterweisung des Anderen die Selbstständigkeit des Ichs nicht auf, sondern setzt sie allererst ein (vgl. TU 116, 438). Das Urteil des Anderen in mir zwingt mir nicht einen fremden Willen auf, sondern bedeutet mein Erwachen zu den Ansprüchen Anderer, die mich aus meiner Selbstbezüglichkeit befreien (vgl. Kap. V.3.2). Die Interpretationen von Gawoll und Stern verfehlen Levinas, weil sie der spezifischen Struktur einer Beziehung jenseits des Erkennens und Wollens nicht Rechnung tragen, so dass es nur die Alternative zwischen einem Handeln aus Gründen und einer irrationalen und gewaltsamen Nötigung zu geben scheint. Diese Alternative unterläuft Levinas aber.

authority over us that we might also bestow on God […] so that the other represents this divine authority to us but in a human form« (Stern 2019, 305). Anders als der Rat, dem man aus Gründen folgt, würde der Befehl, bei dem Autorität der Grund des Befolgens ist, kein kritisches Verhältnis zum Inhalt zulassen (vgl. Stern 2019, 309 f.). Ähnlich argumentiert auch Fabio Ciaramelli (Ciaramelli 1991, 85). Die von Levinas ausgemachte Form der »Theonomie« – wenn man sie denn so nennen möchte – ist jedoch mit der Autonomie des Subjekts keineswegs unvereinbar. 60 Das ontische Gesetz würde das ethische Handeln unmöglich machen ; andersherum befreit die ethische Beziehung von jedem solchen Gesetz: »Das absolute der Pflicht setzt zugleich voraus, daß man jede Pflicht, jede Verantwortung und jedes menschliche Gesetz aufkündigt, abweist und transzendiert.« (Derrida 1994, 383)

VII.  Gewissen und Gerechtigkeit

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n mindestens einer – vielleicht überraschenden – Hinsicht ist Levinas sehr nahe bei Hegel: Er ist davon überzeugt, dass Freiheit einen Staat und Institutionen braucht (vgl. Delhom 2010, 128).1 Anders als Hegel geht es ihm dabei allerdings nicht darum, dass das menschliche Subjekt seine Freiheit und damit sich selbst nur in den sittlichen Verhältnissen und im Staat realisieren kann (s. o. Kap. II). Seine »Erfüllung« findet das Subjekt in der Substitution für den Anderen, von der her – als ihr nachgeordnet – Freiheit als Nicht-Bedingtheit im Sein zu denken ist (s. o. Kap. VII). Aber Levinas weiß, dass die moralische Freiheit eines leiblichen Wesens verletzlich ist. Es wäre verfehlt, darauf zu bauen, dass es sich heroisch gegen Korruption und Gewalt halten könnte (vgl. FC 16 f.). Anstatt also die eigenen Kräfte zu überschätzen oder still zu hoffen, dass nie der Moment eintritt, in dem diese auf die Probe gestellt werden, gilt es, Vorkehrungen zu treffen und Bedingungen zu schaffen, die einen davor bewahren, die Ansprüche Anderer zu verletzen und damit zugleich die eigene Menschlichkeit zu verraten. Der Staat ist in diesem Sinne von der Voraussicht her zu verstehen, mit der das Subjekt die Gefahr eines solchen Unheils vorhersieht und ihm zuvorzukommen sucht. Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlich differenten Perspektive kann verständlich werden, dass Levinas Hegels uneingeschränkte Affirmation der sittlichen Ordnung und des Staates nicht teilt. Levinas’ Haltung gegenüber dem Staat und seinen Institutionen bleibt ambivalent, denn in seinen Augen inhäriert dem Staat – sogar dann, wenn er vernünftig eingerichtet ist – eine eigene Art der Gewalt (vgl. TU 55 f., 281 f., 435). Diese Gewalt ist nicht etwa eine zufällige Aberration des schlechten, verfehlten Staates ; sie gehört vielmehr zu seinem Wesen. In der Staatlichkeit selbst, in der Verfasstheit der Institutionen ist eine Spannung angelegt. Diese liegt darin begründet, dass die allgemeine Ordnung qua ihrer Allgemeinheit dem Einzelnen in seiner Singularität nicht gerecht werden kann. Das allgemeine Gesetz verletzt durch seine Indifferenz den Anspruch des Anderen. Sich selbst überlassen verkehrt sich so Ordnung, die zum Schutz des Anderen errichtet wird, notwendig in ihrem Sinn. Entsprechend darf das Gesetz nicht unumschränkt herrschen, sondern muss selber einem ethischen Urteil unterliegen, das  – in signifikantem Kontrast zu Hegel  – nicht lediglich innerhalb des 1 Miguel Abensour fragt gar, ob man in Levinas nicht so sehr den Denker der »vollkommenen Ethik« als vielmehr einen Denker des »Staates der Gerechtigkeit« sehen sollte (vgl. Abensour 2005, 45).

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gegebenen gesetzlichen Rahmens gefällt wird (vgl. Kap. II), sondern über den Rahmen selbst entscheidet. Wie oben gesehen, kritisiert Hegel die Annahme, dass das Subjekt über das Gesetz entscheiden könnte, als anmaßend und grundverkehrt (vgl. Kap. II und IV.2). Diese Kritik folgt notwendig aus seiner Subjektkonzeption. Denn wird die Wirklichkeit als Totalität gedacht, deren Erfassen das Ich ist (vgl. Kap. I.), kann das Subjekt, das sich gegen das Allgemeine stellt, stets nur hinter die vernünftige Wirklichkeit zurückfallen ; es kann sie nie transzendieren. Dieser Auffassung und der notwendig aus ihr resultierenden Folge, dass letztlich die Weltgeschichte über die Gerechtigkeit entscheidet, widerspricht Levinas. Ihm stehen dabei aufgrund seiner diastatischen Subjektkonzeption andere Ressourcen zur Verfügung als Hegel: Anders als in Hegels Konzeption, wo das Subjekt, das sich außerhalb der sittlichen Ordnung stellt, über kein Kriterium zu ihrer kritischen Beurteilung verfügt, hat das Subjekt bei Levinas eine absolute Orientierung am unbedingten Anspruch des Anderen. Ausgehend von der Verantwortung für den Anderen gelingt es Levinas, eine Sozialität zu denken, die radikal grundlos, aber nicht beliebig ist. Er hat damit nicht nur eine Antwort auf Hegel, sondern weist zudem einen Weg, wie nach dem Wegfall kosmologischer, metaphysischer und religiöser Instanzen menschliche Gemeinschaft zu denken ist. Levinas kehrt in gewisser Weise das Verhältnis zwischen sozialer Ordnung und Individuum gegenüber Hegel um: Nicht der Staat ist der höchste Zweck, der allen individuellen Zwecken nur Wert und Bedeutung verleiht (vgl. Kap. II), sondern der Staat erhält, im Gegenteil, seine Legitimation von der Verantwortung für Andere, die er sich nie in sich »aufzuheben« vermag. Ohne also das individuelle Eigeninteresse über den Staat zu stellen, widerspricht Levinas damit einem Legalismus, der sich bei der gegebenen Ordnung beruhigen will. Das Individuum erfährt dabei gleichsam durch die Hintertür eine Aufwertung, weil es allein für den Anspruch des Anderen empfänglich ist und für seine Berücksichtigung sorgen kann. Levinas vertritt damit eine Art invertierten Liberalismus (vgl. Alford 2007, 123): Er hält das Individuum für unverzichtbar, allerdings nicht in Bezug auf seine naturhafte Selbstbehauptung und seinen Eigensinn, sondern aufgrund seiner Fähigkeit, den Anderen zu sehen.2 Überhaupt thematisch werden Staat, Rechtsverhältnisse und Institutionen für Levinas mit der Figur des Dritten. Der Dritte ist weder ein neutraler Beobachter, noch steht er für die objektive sittliche Ordnung. Er ist vielmehr ein anderer An2 Annabel Herzog legt überzeugend dar, dass Levinas den Begriff des liberalen Staates in doppelter Weise verwendet: Einerseits zur Bezeichnung einer Weltanschauung, die auf ökonomischem Individualismus und hedonistischer Selbstrealisierung basiert, die Levinas ablehnt ; während er andererseits Gerechtigkeit, Respekt der Freiheitsrechte und die Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstverbesserung lobt (vgl. Herzog 2020, 131).



Gewissen und Gerechtigkeit

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derer, für den das Subjekt verantwortlich ist. Die Figur des Dritten verweist so auf die Pluralität der Anderen, die das Ich immer schon unter einen unbedingten Anspruch stellen. Aufgrund dieser Pluralität kann sich das Subjekt nicht einfach dem einzelnen Anderen hingeben, sondern muss zwischen den konfligierenden Ansprüchen abwägen. So entsteht für Levinas die Frage nach Gerechtigkeit.3 Die Pluralität der Anderen nötigt das Subjekt, sich im ethischen Urteil zu ergreifen. Die Figur des Dritten steht so für eine Rückkehr zum Bewusstsein und zur Ontologie und damit zu all jenen Themen und Kontexten, die in der Verantwortungsrelation ausgeklammert wurden (s. o. Kap. V). Diese kehren nun allerdings nicht einfach unverändert zurück. Sie sind vielmehr innerlich transformiert, weil sie von der Verantwortung für die Anderen her neu zu denken sind. Der Figur des Dritten kommt eine Scharnierfunktion zu (vgl. Bedorf 2003, 17), die systematisch hoch interessant ist, weil sich in ihr die Beziehung zwischen dem Ethischen und dem, was Levinas übergreifend (und recht undifferenziert) als das Politische bezeichnet, artikuliert. Wesentlich ist dabei, dass der Dritte selbst ein Anderer ist, der vor-ursprünglich, auf der Ebene der ethischen Beziehung, begegnet. So ist das Politische weder die Aufhebung des Ethischen, noch steht es in einem Ableitungsverhältnis zu ihm. Es handelt sich vielmehr um die Überkreuzung zweier genuiner Bedeutungsschichten (vgl. Bernasconi 1998, 95), die zu keiner Einheit zu bringen sind und deren spannungsvolle Beziehung die innere Dynamik menschlicher Subjektivität und Gesellschaft ausmacht. Der Andere kann aus der Gerechtigkeit weder ausgeschlossen noch kann er ihr eingegliedert oder gar wie ein Annex angegliedert werden, wie dies in dem Versuch, Andersheit in eine traditionellere Gerechtigkeitskonzeption einzubeziehen, geschieht (vgl. Honneth 2000, 170 ; Schnell 2001, 183). Gegen Hegels Vollendungsgestalt des Staates denkt Levinas damit eine Figur, die aus sich selbst auf Schließung drängt, dabei jedoch konstitutiv unabgeschlossen bleibt. Verantwortung für den Anderen ist – aufgrund der faktischen Pluralität der Anderen – unmittelbar Verantwortung für Gerechtigkeit (vgl. Ciaramelli 2002, 46). Allerdings impliziert Gerechtigkeit einen Vergleich von Ansprüchen, der der Singularität des Anderen niemals gerecht zu werden vermag. Von der Verantwortung her gedacht hat Gerechtigkeit deshalb aporetische Struktur: Was gerecht (für alle) ist, wird dem Einzelnen nicht gerecht ; was aber dem Einzelnen nicht gerecht wird, ist insgesamt (noch) nicht gerecht. Das Bemühen um Gerechtigkeit 3 Während Levinas die Begriffe Verantwortung und Gerechtigkeit in Totalität und Unendlichkeit austauschbar verwendet, bezeichnet Verantwortung später die vor-ursprüngliche ethische Beziehung, während der Terminus Gerechtigkeit der Ebene des Bewusstseins und der sozialen Ordnung vorbehalten ist (vgl. PM 171 ; TU 8). Ich halte mich im Folgenden an die spätere, differenziertere Terminologie.

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ist damit prinzipiell unabschließbar ; jede Realisierung der Gerechtigkeit in einer Ordnung wird durch den Anspruch des Anderen, von dem sie ausgeht, über sich selbst hinausgetrieben. Durch diese Inkommensurabilität hält Levinas den radi­ kalen Bruch zwischen der Wirklichkeit und dem Ethischen auf der Ebene der Wirklichkeit selbst offen. Entsprechend bestreitet er, dass Gerechtigkeit jemals vollständig in den sittlichen Verhältnissen implementiert sein könnte, so dass das Subjekt sich auf die Erfüllung seiner sittlichen Pflichten beschränken könnte, wie Hegel dies will. Seine Ablehnung des guten Gewissens betrifft so auch und gerade das Politische (vgl. Bernasconi 1998, 95). Nachdem ich zunächst die Begegnung mit Transzendenz als Levinas’ Konzeption des Gewissens herausgearbeitet habe und anschließend gezeigt habe, dass sich diese Begegnung als Affektion der Sinnlichkeit jenseits der Intentionalität ereignet (s. o. Kap. V und Kap. VI), hat dieses letzte Kapitel zwei Anliegen. Das erste Anliegen ist, die Beziehung zwischen Gewissen und Bewusstsein, deren Umkehrung ich bereits im fünften Kapitel angesprochen habe, vom Dritten her (und d. h. von der Notwendigkeit des ethischen Urteils her) herauszuarbeiten und damit die Struktur der Subjektivität, wie sie von Levinas gedacht wird, zur vollständigen Artikulation zu bringen. Das zweite Anliegen ist es, mit dieser Konzeption auf die bei Hegel ausgemachten Probleme – nämlich die Frage individueller Freiheit, die Möglichkeiten und Grenzen einer Kritik des Gegebenen, das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität und die teleologische Gestalt der geschichtlichen Entwicklung (vgl. Kap. IV.2) – zu antworten. Entsprechend ist das Kapitel in zwei Unterkapitel gegliedert. Im ersten Unterkapitel führe ich zunächst die Figur des Dritten ein und stelle die aporetische Gestalt einer Gerechtigkeit dar, die von der Verantwortung für eine Pluralität singulärer Anderer her gedacht wird. An diese Darstellung anschließend zeige ich, dass das ethische Urteil, in dem das Subjekt sich ergreift, wesentlich grundlos ist. Dabei schlage ich eine gänzlich neue Lesart der Figur des Dritten vor, der zufolge überhaupt erst dieses Urteil eine Individuation der vielen Anderen vollbringt. Ich argumentiere, dass die vor-ursprüngliche Affektion durch den Anderen erst in der Synthese des Bewusstseins eine Bestimmtheit erhält, die entsprechend von keinem Prinzip angeleitet ist und in keiner gegebenen Ordnung ihre Rechtfertigung findet. Ausgehend von dieser Reinterpretation der Figur des Dritten lassen sich interpretatorische Probleme in den Griff bekommen, die andernfalls unlösbar sind. Die diastatische Struktur des Subjekts spiegelt sich auch in der Struktur der Gesellschaft wider. Indem Levinas nicht wie Hegel von der Beziehung von Partikularität und Allgemeinheit ausgeht, sondern die Spannung zwischen Allgemeinheit und Singularität an die Stelle der traditionellen Skala setzt (vgl.



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Waldenfels 2005e, 232), entsteht eine Universalität, der kein einheitlicher logos unterliegt und die folglich nicht »aus einem Guss« ist. Von dieser paradoxen Universalität zeige ich zum Abschluss des ersten Unterkapitels, dass sie von den Menschenrechten ausgeht, die Levinas wesentlich als Rechte des Anderen begreift. Aufgrund der Zweideutigkeit dieser Rechte, die der Andere immer schon hat, die aber nicht immer schon anerkannt und erfüllt sind, wohnt dieser Universalität ein Streben nach Verbesserung und Ausweitung der Gerechtigkeit inne. Ich zeige, dass diese Ausweitung nicht in einer substanziellen Sittlichkeit kulminiert, sondern durch die Überkreuzung der irreduziblen Ebenen des Ethischen und des Politischen auf eine wesensmäßig offene Gesellschaft ohne Ausschlüsse zuläuft, die Levinas als Brüderlichkeit bezeichnet. Im zweiten Unterkapitel zeige ich, dass Levinas mit seiner Konzeption einer Subjektivität, die vom Gewissen her gedacht wird, über Antworten und Lösungsansätze für jene Fragen und Problematiken verfügt, anhand derer sich Hegels Theorie letztlich als unhaltbar erwiesen hatte (s. o. Kap. IV). Ich argumentiere zunächst, dass Levinas individuelle Freiheit zu denken vermag, indem er die Struktur von Autonomie neu bestimmt (vgl. Bergo 1996, 13). Ausgehend von der »privilegierte[n] Heteronomie« (TU 122) einer nicht gewählten Verantwortung lässt sich Autonomie als Hetero-Autonomie verstehen, die durch kein Gesetz oder Prinzip angeleitet ist, sondern vom Faktum des Anderen her anhebt.4 Anschließend zeige ich, dass mit Levinas damit eine Kritik der sittlichen Ordnung denkbar wird, die  – anders als bei Hegel  – nicht auf den gegebenen sittlichen Rahmen beschränkt ist. Ich argumentiere, dass sich der Widerstand des Subjekts gegen das instituierte Recht von Hegels formellem Gewissen darin unterscheidet, dass er als eine Doppelbewegung verstanden werden muss, in der das Subjekt die Ordnung einsetzt, die es im selben Zuge unterläuft. Diese gänzlich andere Figur der Kritik ist möglich, weil das Ethische nicht im Politischen aufgeht. Die Verantwortung, von der die Forderung nach Gerechtigkeit allererst anhebt, stellt so zugleich die Inspiration des Staates dar und ist der »Maßstab«, an dem seine Institutionen gemessen werden können (vgl. Ciaramelli 1995, 88). Ausgehend von dieser Konzeption von Freiheit und Kritik unterliegt das Recht nicht dem Urteil der Geschichte, sondern dem ethischen Urteil. In der Geschichte verwirklicht sich nicht ontologische Notwendigkeit, sondern die Individuen gestalten die Wirklichkeit. Allerdings ist die Gerechtigkeit auch bei Levinas untrennbar mit Machtausübung verbunden. Entsprechend zeige ich im dritten Abschnitt, dass die Schwierigkeit darin liegt, die Gerechtigkeit durchzusetzen, 4 Die Begriffe der Hetero-Autonomie bzw. Heterautonomie verwenden Ino Augsberg (2013), Gabriela Basterra (2015, 2, 131) und Werner Hamacher (2003, 182). Paul Ricœur spricht von einem »Passivitätsfaktor[, der] in das Zentrum des Autonomieprinzips« (Ricœur 2005, 261) rückt.

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ohne dabei totalitär zu werden. Denn eine Gerechtigkeit, die gewaltsam ihr Anderes eliminiert, zerstört ihr eigenes Wesen. Anders als Hegels Sittlichkeit gelangt eine Ordnung, die von der Beziehung auf Transzendenz her gedacht wird, niemals zur Vollendung. Auf die besondere Form der Zukünftigkeit, die darin impliziert ist, dass die Gerechtigkeit immer noch aussteht, gehe ich im vierten und letzten Schritt ein. Dafür greife ich den von Jacques Derrida geprägten Begriff einer Demokratie-im-Kommen (franz. democratie à venir) auf, der die Denkfigur, die aus Levinas’ Gedanken über die Gerechtigkeit und den Staat resultiert, in ihrer logischen Struktur und ihrem Sinngehalt artikuliert. Ich argumentiere, dass das Im-Kommen-Sein der Demokratie nicht lediglich die Unvollkommenheit einer Gerechtigkeit bezeichnet, die in einer zukünftigen Gegenwart voll realisiert sein kann, sondern vielmehr die konstitutive Unabgeschlossenheit der Gerechtigkeit zum Ausdruck bringt, die aus sich selbst heraus stets ihre eigene Verbesserung und die Überschreitung der Gerechtigkeit fordert. VII.1  Verantwortung für Gerechtigkeit5

Es entscheidet letztlich über die Relevanz von Levinas’ Denken, ob das von ihm freigelegte Gewissen reale Auswirkungen auf die soziale Wirklichkeit hat (vgl. Perpich 2009, 22 ; Zeilinger 2010, 99). Die systematische Schnittstelle, an der Gewissen und Wirklichkeit sich kreuzen, markiert die Figur des Dritten, die für die Pluralität der Anderen steht. Durch den Dritten ersteht die Frage nach Gerechtigkeit, in deren Beantwortung bzw. als deren Beantwortung sich das Subjekt erst vollständig konstituiert. Das denkende und handelnde Ich geht so, ebenso wie die soziale Ordnung und der Staat, für Levinas aus dem Umstand hervor, dass das Subjekt mit dem Anderen nicht alleine ist (vgl. Schroeder 2004, 289). Der Dritte ist damit nicht lediglich ein »Anhang oder ein Nachwort in politischer Philosophie« (Bedorf 2003, 74), sondern steht für die Realisierung des Ethischen, das ansonsten keine Wirklichkeit hätte (vgl. Herzog 2020, 475). Von der Pluralität der Anderen her zeichnet sich dabei eine menschliche Gemeinschaft ab, die sich von Hegels Allgemeinheit darin unterscheidet, dass sie eine paradoxe Universalität von Singularitäten ist, die in ihr nicht aufgehen. 5 Responsibility for Justice ist der Titel des letzten Buches von Iris Marion Young, das 2011 posthum erschienen ist. Young entwickelt mit dem Social Connection Model einen Ansatz für eine sehr weitreichende Verantwortung, die sich nicht bei gegebenen Verhältnissen und den Grenzen von Nationalstaaten beruhigen kann. Anders als Levinas, auf den sie sich kurz bezieht, bleibt sie jedoch an ein Verursachermodell gebunden, das Levinas – auch in diesem sehr erweiterten Sinne – ablehnt.



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Während die liberale Tradition seit Kant von der Losung der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – die Freiheit privilegiert, stellt Levinas den dritten Begriff, die Brüderlichkeit, in den Vordergrund (vgl. Caygill 2002, 3). Von diesem Begriff her, der für die Überkreuzung der irreduziblen Ebenen des Ethischen und des Politischen steht, sind die beiden anderen Begriffe grundlegend transformiert. Da die einzelnen Subjekte nicht Momente der Allgemeinheit und durch diese vermittelt sind, sondern untereinander in Verantwortungs-Beziehungen stehen, die dem systematisierenden Blick nicht zugänglich sind, bedeutet Gleichheit oder Gerechtigkeit hier nicht die Überschreitung partikularer Interessen hin auf eine Allgemeinheit, sondern die Überschreitung von Partikularität und Allgemeinheit durch die singulären Ansprüche je Anderer. Diese paradoxe Verklammerung von Universalität und Singularität leistet das Subjekt im ethischen Urteil, das als praktische Freiheit die quasi-ontologische bzw. quasi-transzendentale Freiheit der Substitution komplementiert (vgl. Kap. IV). Da der Anspruch des Anderen, von dem her Bewusstsein, Maß und Gerechtigkeit anheben, ein Außerhalb der Ordnung in der Ordnung selbst bleibt, kann die Gerechtigkeit nicht bei der einmal errichteten Ordnung stehenbleiben, sondern drängt stets aus sich selbst heraus über sich hinaus. Um diese systematisch wichtige Beziehung zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit bzw. dem Ethischen und dem Politischen zu erläutern, gehe ich in drei Schritten vor: Zunächst führe ich Levinas’ Konzeption der Gerechtigkeit von der Figur des Dritten her ein und weise die aporetische Gestalt dieser Gerechtigkeit aus, die daraus resultiert, dass die Pluralität der Anderen einen Vergleich und eine Begrenzung notwendig macht, die der Unbedingtheit des Anspruches des einzelnen Anderen zuwiderlaufen. In dem Bemühen um Gerechtigkeit stellt die Verantwortung für den Anderen dabei zugleich das »Prinzip« des Staates und seiner Institutionen und ihre Grenze dar. Als Bindeglied zwischen den inkommensurablen Sphären des Ethischen und des Politischen fungiert das Subjekt (vgl. Basterra 2015, 17). Entsprechend fokussiere ich im zweiten Schritt auf die Konstitution des bewussten Ichs im ethischen Urteil. Hier schlage ich eine gegenüber bisherigen Deutungsansätzen gänzlich neue Interpretation des Dritten vor, die nicht nur wesentliche Implikationen für das Denken der Universalität hat, sondern rückwirkend auch das Verständnis der ethischen Beziehung grundlegend modifiziert: Ich argumentiere, dass die prä-reflexive Verantwortung nicht schon auf einen individuierten und zählbaren Anderen verweisen kann. Sowohl der einzelne Andere als auch die Dritten können erst nachträglich, vom Bewusstsein her, individuiert werden, dessen Synthese damit wesentlich grundlos und unbedingt ist. Die diastatische Struktur der Subjektivität spiegelt sich auch in der Verfasstheit der Gesellschaft wider. In der Spannung zwischen Singularität und Univer-

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salität denkt Levinas eine wesensmäßig offene Gesellschaft ohne Ausschlüsse, die er als Brüderlichkeit bezeichnet. Das Zentrum dieser Sozialität bilden die Menschenrechte. Da er diese Rechte mit dem vor-ursprünglichen Anspruch des Anderen in Verbindung setzt, kann ich im dritten Abschnitt verständlich machen, dass dieser Universalität ein Streben nach einer Verbesserung und Ausweitung der Gerechtigkeit innewohnt, die sich nicht auf die Weiterentwicklung und Aufhebung von Widersprüchen beschränkt. Die vor-ursprüngliche Verantwortung für den Anderen hat so auf der Ebene der Ontologie ihre Manifestation in einer Sozialität, die sich der Dialektik widersetzt und nicht anerkennungstheoretisch zu fassen ist (vgl. Bedorf 2003, 16). VII.1.1  Aporetische Gerechtigkeit

Von herausragender systematischer Bedeutung für Levinas’ Denken ist die Figur des Dritten. Diese steht für die Beziehung des Ethischen mit der konkreten Welt – hegelianisch gesprochen: für die Wirklichkeit des Guten. Allerdings verkörpert der Dritte nicht die objektiven sozialen Verhältnisse, wie man dies von Hegel herkommend erwarten könnte. Während der Dritte in Levinas früheren Schriften noch als neutraler Beobachter erscheint und für die Perspektive der dritten Person steht (vgl. IuT 35, 49), wird er in seinem reifen Denken ein anderer Anderer, für den das Ich ebenfalls verantwortlich ist (vgl. Bernasconi 1998, 90 ff.). Die Figur verweist so auf die Pluralität von Anderen, die eine Abwägung der Ansprüche erforderlich macht und nach einer sozialen Ordnung und nach Institutionen verlangt, die die verschiedenen Ansprüche vermitteln und den Anderen daran hindern, dem bzw. den Dritten zu schaden (und vice versa). Der Dritte markiert damit den Übergang von der Verantwortung zur Gerechtigkeit bzw. von der ethischen Beziehung zu dem, was Levinas das Politische nennt (vgl. PM 174). Da Levinas diesen Übergang zugleich als den Ursprung von Bewusstsein und Ontologie versteht (JS 225, 343 – 344), scheinen mit dem Dritten all jene Themen wieder Einzug zu nehmen, die in der Verantwortungsrelation ausgespart oder – mit Husserl gesprochen – eingeklammert werden (s. o. Kap. V). Wesentlich ist jedoch, dass dieser Übergang nicht einfach die Rückkehr zu einer Allgemeinheit in Hegels Sinne bedeutet. Vielmehr erlaubt die Konzeption des Dritten, der als anderer Anderer gleichzeitig »unvermittelbar Einziger und Schlüssel zum Allgemeinen« (Gürtler 2001, 183) ist, in der Allgemeinheit selbst die Spannung zwischen Singularität und Allgemeinheit offenzuhalten. D. h. der Dritte stellt nicht nur die Verbindung zwischen den Ebenen her, sondern an ihm artikuliert sich zugleich die Inkommensurabilität des Ethischen und des Politischen (vgl. Bedorf 2003, 17).



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Levinas zufolge wird die Verantwortung für den Anderen mit dem Dritten problematisch (vgl. JS 342). Denn sobald noch ein weiterer Anderer da ist, impliziert die Hinwendung zum Anderen zwangsläufig eine Abwendung von diesem anderen Anderen und vernachlässigt damit den Anspruch, unter den dieser, ebenso wie der Andere, das Ich stellt (vgl. Derrida 1994, 395, 397 ; Waldenfels 1995a, 318). In Bezug auf ihn ist die dyadische Beziehung gewaltsam (Derrida 1999, 52). Weil wir immer schon von einer Vielzahl von Anderen umgeben sind, ist die Intimität, die eine Nähe mit einem einzigen Anderen bezeichnet, die alle anderen Anderen ausschließt, in Levinas’ Augen unethisch. Da sich das Subjekt aber auch nicht allen Ansprüchen gleichzeitig widmen kann, stellt sich ihm die Frage, welche Bedürfnisse vordringlich zu erfüllen sind und Vorrang gegenüber den anderen haben. Diese Frage, die dadurch verkompliziert wird, dass die Anderen verschieden sind und untereinander in Beziehungen stehen, die für das Ich nicht vollständig durchsichtig sind, gilt Levinas als die Frage nach Gerechtigkeit, die er verschiedentlich auch als »Gewissensfrage« bezeichnet. Der Dritte ist anders als der Nächste, auch ein anderer Nächster und doch auch ein Nächster des Anderen und nicht bloß ihm ähnlich. Was also sind sie, der Andere und der Dritte, was sind sie, der Eine-für-den-Anderen ? Was haben Sie einander getan ? Welcher hat Vortritt vor dem Anderen ? Der Andere steht in einer Beziehung mit dem Dritten, für die ich nicht gänzlich verantwortlich sein kann, selbst wenn ich – vor jeder Frage – für meinen nächsten allein verantwortlich bin. Der Andere und der Dritte, meinen Nächsten, Zeitgenossen für einander, entfernen mich vom Anderen und vom Dritten. ›Friede, ja Friede dem Fernen wie dem Nächsten‹ (Jesaja 57, 19), die Schärfe dieser scheinbaren Rhetorik wird nun verständlich. Der Dritte führt einen Widerspruch in das Sagen ein, dessen Bedeutung angesichts des Anderen bis dahin nur in eine Richtung ging. Von selbst findet nun die Verantwortung eine Grenze, entsteht die Frage: ›Was habe ich gerechterweise zu tun ?‹ Gewissensfrage. (JS 343)

Dass Levinas die Frage nach dem gerechten Handeln als Gewissensfrage bezeichnet, kommt der gewöhnlichen Auffassung, die wir von dem Gewissen haben, viel näher als die vor-ursprüngliche Affektion, die ich als Levinas’ Konzeption des Gewissens herausgearbeitet habe (s. o. Kap V). Dies ist nicht weiter erstaunlich, denn sie ist eben die Weise, wie sich diese Affektion auf der Ebene des Bewusstseins manifestiert. Aufgrund der Pluralität der Anderen muss das Subjekt sich aus der Unmittelbarkeit der ethischen Beziehung lösen, die alle anderen Anderen ausschließt. Es muss die verschiedenen Ansprüche ordnen, sie gegeneinander abwägen und von dem Vergleich her beschränken. Allerdings ist auch dieses Vorgehen wieder gewaltsam, weil es eine Gleichsetzung der Unvergleichlichen impliziert und der Unbedingtheit des Anspruchs jedes Anderen nicht gerecht wird.

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Entsprechend hat eine Gerechtigkeit, die von der Verantwortung für den Anderen her gedacht wird, aporetische Struktur (vgl. Derrida 1999, 33, 52):6 Sie ist der – notwendige, da durch die Verantwortung selbst geforderte – Verrat der Andersheit des Anderen. Aus der vor-moralischen und prä-reflexiven Verantwortung für den Anderen ersteht aufgrund der Pluralität der Anderen die Forderung nach einem Prinzip, das der Unbedingtheit der Verantwortung selbst zuwiderläuft (vgl. JS 344). Strukturell betrachtet besteht der Widerspruch, der durch den Dritten entsteht (vgl. JS 343), also nicht nur in faktisch konfligierenden Ansprüchen der verschiedenen Anderen, sondern er liegt wesentlich darin begründet, dass die Bestimmtheit der Antwort der vorursprünglichen Verantwortung inkommensurabel bleibt (vgl. JS 341).7 Selbst wenn es nur einen einzigen Anderen gäbe, könnte das Subjekt ihm nicht gerecht werden, weil jede Handlung den Anderen in seiner Unendlichkeit verfehlen würde.8 Allerdings bedeutet der Dritte nicht nur den Verrat der Beziehung mit dem Anderen, sondern er steht auch für die Weise, wie die Verantwortung für ihn überhaupt Wirklichkeit hat: In der Abwägung der Ansprüche artikuliert das Subjekt die konkrete Antwort auf den Anderen, in dem sich seine vor-ursprüngliche Verantwortung für ihn allererst realisiert (Delhom 2000, 104 ; Herzog 2020, 41).9 Paradox formuliert muss sich das Ich vom Anderen abwenden, um sich ihm tatsächlich zuzuwenden (vgl. Delhom 2000, 166). Das Sagen, mit dem sich das Subjekt dem Anderen aussetzt, muss in ein Gesagtes – in eine Handlung – münden, die – als bestimmte – den Anderen in seiner Andersheit notwendig verfehlt (vgl. Bedorf 2010, 210). Die Verantwortung für die Pluralität der Anderen kann nur konkret werden, indem die verschiedenen Ansprüche in legale Strukturen und Institutionen eingesetzt werden (vgl. Burggraeve 2003, 82). Die vor-ursprüngliche Verantwortung für den Anderen verlängert sich so in ein ethisches Urteil, in dem sich das Subjekt ergreift und zugleich die ontologisch-politische Ordnung einsetzt (vgl. Cia6 Diane Perpich kritisiert, dass die Rede vom Verrat eine vorgängige Reinheit vorauszusetzen scheine, die in ihren Augen aber nicht gegeben ist (vgl. Perpich 1998, 65). Ihre Kritik ist in meinen Augen unzutreffend, insofern sie die diastatische Struktur der Subjektivität außer Acht lässt (vgl. Drabinski 2001, 106 f., 197). 7 Mit dem Widerspruch, den der Dritte in das Sagen einführt, macht Levinas also einen Widerspruch geltend, der sich wie bei Kant nicht durch das Denken aus dem Weg räumen lässt, weil er aus der Verwechselung inkommensurabler Ebenen hervorgeht (s. o. Kap. I.1). 8 Bernhard Waldenfels unterscheidet zwischen einer »Gewalt, die fremden Ansprüchen zuwiderläuft«, und einer »Gewaltsamkeit […], die darin besteht, daß keine Antwort den fremden Ansprüchen voll gerecht wird« (Waldenfels 2002, 146). 9 Dieses ethische Urteil ist von dem Urteil des Anderen zu unterscheiden, insofern es sich hier nicht um die vor-ursprüngliche Affektion des Subjekts, sondern um ein bewusstes Urteil des Ichs handelt (vgl. Atterton/Calarco 2005, 34).



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ramelli 2005, 79 ; Loidolt 2009, 225).10 Gegen Hobbes (aber auch gegen Hegel, der sich zwar ebenfalls gegen Hobbes richtet (vgl. Kap. II), aber in Levinas’ Augen gleichsam den Krieg mit anderen Mitteln fortdenkt) denkt Levinas damit eine staatliche Ordnung, die nicht aus der Gewalt und dem Krieg aller gegen alle, sondern aus der vor-ursprünglichen Verantwortung für die Anderen hervorgeht (vgl. Abensour 2002, 18 ; Bernasconi 1998, 95). Und während sich der Staat für Hobbes aus der Notwendigkeit erklärt, die Gewalt zu begrenzen, meint Levinas vielmehr, dass der Staat der Notwendigkeit geschuldet ist, die unmäßige Verantwortung für den Anderen einzuschränken, weil sie den Dritten missachtet (vgl. EU 62 ; JS 347 f.).11 Die unendliche Verantwortung für den Anderen wird damit nicht etwa durch das Eigeninteresse oder ein anderes ihr fremdes Prinzip beschränkt. Vielmehr findet meine Verantwortung für den Anderen eine Grenze nur an der Verantwortung, die ich für den Dritten habe.12 In seinem Keim ist das Bemühen um Gerechtigkeit  – ebenso wie die Substitution  – selbstlos (s. o. Kap. VI.3). Auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen könnte, mindert die Beschränkung des Anspruchs des Anderen und die Rückkehr zur sozialen Ordnung die Verantwortlichkeit des Ichs nicht, sondern potenziert sie vielmehr (vgl. Bedorf 2010, 77 ; Bedorf 2003, 88). Das Subjekt steht unter einer Vielzahl unbedingter Ansprüche und hat zudem die Verantwortung für das Urteil über diese Ansprüche (vgl. Seitz 2016, 184). Es kann sich dabei nicht an die gegebenen sittlichen Verhältnisse entlasten, denn das hieße, die Verantwortung für den Anderen zu missachten. Durch den Dritten gerät Levinas’ Konzeption des Ethischen noch einmal grundlegend in Bewegung. Aber auch wenn aufgrund der Darstellung leicht der Eindruck entstehen kann, dass der Dritte erst nachträglich zu der Beziehung mit dem Anderen hinzutritt, findet die Begegnung mit dem Anderen tatsächlich in einer Welt statt, in der Dritte immer schon anwesend sind (vgl. Bernasconi 1998, 88 f. ; Herzog 2020, 34 ; Herzog 2002, 204 ; Schnell 2001, 217).13 Der Eintritt des 10 Diese Herkunft von Bewusstsein, Ordnung und der Philosophie selbst aus der Situation mit dem Dritten stellt Inga Römer in Frage (vgl. Römer 2019, 188). Auf meine eigenen Bedenken bezüglich dieser Konstellation gehe ich im nächsten Abschnitt ein. 11 Vgl. auch Miguel Abensour (2005, 46 f.) und Fred Alford (2004, 148). Sophie Loidolt schlägt vor, dass Levinas damit einen »anderen Naturzustand« entwirft (vgl. Loidolt 2009, 256). Diese Lesart ist problematisch, insofern Levinas mit einem Ansatz bei einer anarchischen Affektion vielmehr die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur unterläuft (vgl. Kap. VI). 12 Der Dritte markiert die ethische Unterbrechung des Ethischen, wie sie in der Akedah exemplifiziert ist (vgl. Kap. VI.2). Abrahams Aussetzung des Opfers kann damit als das Hervortreten einer neuen Sphäre, des Politischen, betrachtet werden, das in Antwort auf die verschiedenen Stimmen erfolgt. 13 Statt von einem »Eintritt« des Dritten muss man entsprechend vielmehr von verschiedenen Analyseebenen oder Deutungsschichten sprechen (vgl. Bernasconi 1998, 95).

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Dritten ist kein zufälliges, empirisches Ereignis (vgl. JS 344), sondern ein »fortwährender Eintritt« (JS 348) und eine »unablässige Korrektur der Asymmetrie der Nähe« (JS 345), die aufgrund der diastatischen Struktur der Subjektivität gleichursprünglich mit der Begegnung mit dem Anderen ist.14 Das scheinbare Paradox, dass die Verantwortung früher als die Gerechtigkeit ist und dass der Dritte zugleich mit dem Anderen auftritt, löst sich so auf, weil Verantwortung und Gerechtigkeit auf unterschiedlichen Ebenen – verschoben um die zeitliche Differenz der diastatischen Subjektivität – koexistieren (vgl. Kap. VI). Ebenso wie Ich und Sich nicht getrennt voneinander existieren, sind auch Verantwortung und Gerechtigkeit nur in spannungsgeladener Koexistenz zu denken (vgl. Bedorf 2010, 79 ; Bernasconi 1998, 89 ; Tengelyi 1998, 166). Aus der diastatischen Struktur des Subjekts resultiert »die Unmöglichkeit […], sich in eindeutiger Weise entweder im Ethischen oder im Politischen einzurichten« (Bedorf 2003, 79). Die Selbstgleichheit des Ichs, das Maß und die Reziprozität werden unablässig herausgefordert durch den Anspruch des singulären Anderen. Andersherum ist die Nähe zum Anderen, die die Selbstgegenwart unterläuft, selbst schon wieder gebrochen durch die Pluralität der Anderen oder die Gerechtigkeit.15 Dabei sind die konfligierenden Ansprüche der Anderen nicht die Ursache des schlechten Gewissens, wie Robert Bernasconi dies meint (vgl. Bernasconi 2008, 68 ; Bernasconi 1998, 95 f.), aber sie sind die Bedingung dafür, dass es ein bewusstes Ich gibt, das immer schon – vor-ursprünglich – in der Schuld des Anderen steht. Indem Levinas Gerechtigkeit von der Verantwortung für den singulären Anderen her denkt, schreibt er ihr eine Unmöglichkeit ein, die sie dazu zwingt, unablässig über sich selbst hinauszugehen. Wie oben gesehen, macht die Verantwortung für die Vielzahl der Anderen den Vergleich der Ansprüche und die Herstellung einer gerechten Einheit oder Allgemeinheit erforderlich. Diese Einheit bleibt jedoch problematisch, denn »was für alle gerecht ist, wird nicht jedem gerecht« (Menke 1993, 65). Das »gerechte« Gesetz bzw. Urteil kann für das ein14 Aufgrund dieser Modifikation der ethischen Beziehung durch den Dritten ist ein Vorwurf, wie Michel Haar ihn artikuliert, nicht stichhaltig: »[M]ust we not rehabilitate the Same against the literally unbearable excess of the Other, against what Levinas himself calls the ’enormity’ and ’incommensurability’ of the ’absolutely Other’, and defend some kind of norm and measure or come back to the primacy and privacy of myself and yourself ? Without the balance of the Same, the Other could become highly dangerous, even terroristic and totalitarian ; that is to say, it could be more domineering than any Totality ever instituted by the Same.« (Haar 1997, 106) Es braucht nicht den Egoismus des Ich, um den Anspruch des Anderen einzuschränken, denn dies geschieht durch die Ansprüche Dritter. 15 Dass mich der Dritte in Totalität und Unendlichkeit aus den Augen des Anderen anschaut (vgl. TU 307 f.), während er in Jenseits des Seins die Beziehung zum Anderen unterbricht (JS 328), ist entsprechend den verschiedenen Perspektiven der Werke geschuldet.



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zelne Schicksal eine unzulässige Härte bedeuten. Wenn aber die Allgemeinheit dem Einzelnen nicht gerecht wird, ist sie noch nicht wirklich gerecht. Ebenso wenig, wie die Verantwortung für den Anderen gestattet, die Dritten zu vernachlässigen, erlaubt die Gleichheit aller, die Einzigkeit des Anderen zu missachten (vgl. JS 347). Levinas macht deutlich, dass die Abwägung von Ansprüchen niemals dazu führen darf, an dem Nächsten vorbeizugehen (Caygill 2002, 142). Denn die Gerechtigkeit fordert nicht nur, alle zu berücksichtigen, sondern sie besteht gerade auch darin, »über die gerade Linie der Gerechtigkeit hinauszugehen« (TU 360) und einem Anderen das zu geben, was nicht alle haben können. Paradox gesprochen muss die Gerechtigkeit manchmal ungerecht sein, um sie selbst zu sein. Levinas kritisiert die Auffassung, dass strenge Unparteilichkeit gerecht sei (vgl. Herzog 2020, 57). Sie gilt ihm vielmehr als Ausdruck der Unfähigkeit, den Anderen zu sehen (ebd.). Deshalb geht es ihm darum, Staat, Gesetz und rationales Denken mit der Verantwortung für den Anderen so zusammenzudenken, dass dabei keine der Seiten zum Verschwinden gebracht wird. Denn wird das Politische als nachrangig gegenüber dem Ethischen betrachtet, werden die Ansprüche anderer Anderer missachtet ; geht dagegen der radikale Einsatz des Ethischen im Politischen verloren, schlägt Gerechtigkeit in Selbstgerechtigkeit um (vgl. Bedorf 2003, 85 ; Bernasconi 1998, 89 ; Stegmaier 2016, 275). Die Gesetze und Institutionen, die aufgrund der Pluralität der Anderen erforderlich sind, laufen Gefahr, sich von ihrem ethischen Sinn abzulösen, wenn sie sich verselbstständigen. So droht jenseits der Gewalt, die sich zwischen dem Anderen und dem Dritten ereignen kann, auch die Unmenschlichkeit der Universalität (vgl. TU 356). Die Vernunft selbst kann in Levinas’ Augen tyrannisch sein: There are cruelties which are terrible because they proceed from the necessity of the reasonable order. There are, if you like, the tears that a civil servant cannot see: the tears of the Other. […] In such a situation individual consciences are necessary, for they alone are capable of seeing the violence that proceeds from the proper functioning of Reason itself. To remedy a certain disorder which proceeds from the Order of universal Reason, it is necessary to defend subjectivity. (TH 23)

Aus Levinas’ Sicht ist das einwandfreie Funktionieren »gerechter« Institutionen ungenügend (vgl. Bernasconi 1998, 95). Zwar fordert die Verantwortung Gesetze und Institutionen, aber diese können niemals die Güte ersetzen (vgl. Kap. VI). Die Nähe kann nie institutionalisiert werden (Caygill 2002, 142). Entsprechend muss eine »hyperbolische[] Gerechtigkeit« (vgl. Waldenfels 2005e, 232), die den Einzelnen in ihrer Einzigkeit gerecht zu werden sucht (vgl. Delhom/Hirsch 2007, 42), beständig »zwischen der Strenge der für allen gleichen Gesetze und der konkreten Fürsorge, die sie dem Nächsten zuwendet« (Mosès 1993, 377), oszillieren. Sie braucht dafür nicht »Funktionäre des objektiven Geistes, die von ihrer Indi-

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vidualität absehen« (Schönherr-Mann 2016, 302), sondern sie rekurriert vielmehr auf Subjekte, die in der Lage sind, das Leiden des Anderen zu sehen. So stellt die ethische Empfänglichkeit des Subjekts die unverzichtbare Rückseite der politischen Vernunft dar. Denn wenn Ethik ohne Politik unwirklich ist, so ist Politik ohne das Ethische blind (vgl. Critchley 1999, 283). VII.1.2  Das ethische Urteil

Der Dritte steht für die Weise, wie sich aus einer Affektion heraus, die in absoluter Passivität widerfährt, das Ich ergreift und als denkendes und handelndes Subjekt ersteht. Er ist damit wesentliches Strukturmoment der Subjektivität und artikuliert die Beziehung zwischen vor-ursprünglichem Sich und intentionalem Ich (vgl. Flatscher 2015, 194). Dieser Übergang birgt jedoch eine systematische Schwierigkeit: Auf der Ebene der ethischen Beziehung entzieht sich der Andere dem Erkennen, d. h. sein Anspruch ist nicht in der Weise artikuliert, wie dies für den Vergleich mit anderen Ansprüchen vorausgesetzt zu sein scheint. Diese Bestimmtheit geht Levinas zufolge erst aus dem Vergleich selbst hervor (vgl. JS 348), der damit nicht nur ein Abwägen von Gegebenem, sondern vielmehr »der eigentliche Ursprung des In-Erscheinung-Tretens, das heißt der eigentliche Ursprung des Ursprungs« (JS 349), ist.16 Dass das Ich das Universums trägt (vgl. JS 257), heißt also nicht nur, dass es für jeden und alles verantwortlich ist, sondern es bedeutet zugleich, dass sich diese Totalität erst von ihm her artikuliert (vgl. JS 264). Die Figur des Dritten beinhaltet damit ein interpretatorisches Problem, das in der Forschungsliteratur nicht thematisiert wird, dessen Klärung aber wesentliche Implikationen nicht nur für die Konzeption des Gewissens, sondern auch für das Verständnis von Levinas’ Gerechtigkeitstheorie hat. Der orthodoxen Lesart zufolge, mit der ich Levinas’ Denken des Dritten und der Gerechtigkeit im letzten Abschnitt eingeführt habe, sollen aus der Pluralität der Anderen Bewusstsein, Gerechtigkeit und Staat hervorgehen. Die Frage ist jedoch, wie der Dritte eigentlich begegnet, wie also eine Pluralität konfligierender Ansprüche auf der Ebene der vor-ursprünglichen Verantwortung zu denken ist. Insofern nämlich das Bewusstsein allererst Unterscheidbarkeit und damit auch Zählbarkeit herstellt, impliziert dies eine petitio principii. Es kann sich auf der Ebene der prä-reflexiven Verantwortung weder um einen Anderen noch um eine Pluralität Anderer handeln, die das Ich bedrängen, weil beides eine Individua16 In Totalität und Unendlichkeit geht das Ontologische noch aus der Unterweisung durch den Anderen hervor (s. o. Kap. V.4.3). Dies ist nicht notwendig ein Widerspruch, insofern Levinas meint, dass im Anderen schon der Dritte begegnet.



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tion voraussetzen würde, die erst durch die Synthese des Bewusstseins hervorgebracht wird. Ausdrücke wie der einer »Singularität im Plural« (Waldenfels 1995a) können, ebenso wie die Rede von dem (einzelnen) Anderen, immer nur nachträgliche Beschreibungen vom Standpunkt des bereits konstituierten Bewusstseins her sein. Das, was bisher als Begegnung mit dem Anderen bezeichnet wurde, muss deshalb vielmehr als eine Affektion verstanden werden, die ebenso wenig numerisch verfasst ist, wie in ihr bestimmte Eigenschaften und Merkmale des Anderen erfasst werden.17 Entsprechend kann es aber nicht die Pluralität der Anderen sein, die das Subjekt dazu nötigt, sich als bewusstes Ich zu ergreifen. Vielmehr erhebt sich das Bewusstsein aus einer vor-ursprünglichen Heterogenität als ihre – ihr inkommensurable und deshalb sie notwendig verfehlende – Synthese. Dieser Deutung zufolge beschreibt Levinas die Andersheit, die dem Bewusstsein zugrunde liegt, als eine Affektion durch den (einzelnen) Anderen, um den Sinn, den diese Affektion dem Bewusstsein einprägt, deutlich zu machen.18 Mit dieser Deutung lassen sich verschiedene interpretatorische Probleme in den Griff bekommen. Zum einen wird verständlich, was es heißen kann, dass die Anderen im Angesicht bzw. in der Nähe des Anderen begegnen (vgl. TU 307 f. ; JS 344), so dass der Dritte in der Begegnung mit dem Anderen immer schon zugegen ist. Diese Mitanwesenheit des Dritten deutet nach meiner Lesart weder auf die Beziehungen hin, in denen der Andere zu anderen Anderen steht, noch kann sie räumlich verstanden werden in dem Sinne, dass sich hinter oder neben dem Anderen schon Dritte abzeichnen. Beides ist ausgeschlossen, weil beide Arten von Relation Vermittlungen implizieren, die erst auf der Ebene des Bewusstseins offenbar werden, dessen Erstehen die Pluralität aber allererst erklären soll. Vielmehr erfährt das Subjekt prä-reflexiv, jenseits der Identifikation bestimmter sozialer Anderer, eine Affektion, die auf der Ebene des Bewusstseins die Gestalt einer Pluralität individuierter (und konfligierender) Ansprüche Anderer annimmt.19 Mit dieser Deutung wird zugleich auch die Diskussion müßig, ob das Subjekt bereits mit dem Anderen oder erst mit dem Dritten vollständig konsti17 Die Affektion ähnelt strukturell der Dauer (franz. durée) bei Henri Bergson, den Levinas in einem späten Interview als einen entscheidenden Einfluss auf sein Denken benennt (vgl. AUG 265). 18 Diese Interpretation ist bei Bernhard Waldenfels angelegt, wenn er fragt, ob nicht »eine minimale Differenz bestehen muß zwischen dem Anspruch des Anderen und dem Mitanspruch Dritter« (Waldenfels 1995c, 344). Waldenfels erwägt, »daß die Verantwortung für den Anderen eine Antwortkonstellation mitentstehen läßt, in der der Andere als dieser Andere auftritt und nicht als jener« (ebd. 345). 19 In diesem Sinne ist der Eintritt des Dritten erst vom Bewusstsein als »Feld simultaner Inkompossibilitäten« (Waldenfels 1994, 354, meine Hervorhebung) zu beschreiben ; die Spezifität der vor-ursprünglichen Affektion liegt gerade in ihrer Ungleichzeitigkeit. Die Ansprüche wären auch nichts als faktische Forderungen, wenn sie nicht aus einer Affektion entstünden, die das Subjekt in seinem Innersten konstituiert.

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tuiert ist (vgl. Flatscher 2015, 194): Der Dritte ist immer schon da. Das Subjekt in seiner diastatischen Struktur ist nichts anderes als die Spannung von Anderem und Dritten. Levinas bezeichnet die Geburt des Ichs als latent (vgl. JS 342), weil der Übergang von der vor-ursprünglichen Affektion zur Bewusstseinssynthese durch kein Prinzip aufgeklärt werden kann. Entsprechend kann die Affektion durch den Anderen niemals zum Grund des Bewusstseins in Hegels Sinne werden (vgl. Kap. I.1.2). Auch wenn das Subjekt sich von ihr her ergreift (oder, in der bisherigen Ausdrucksweise, die Verantwortung für die Pluralität der Anderen Gerechtigkeit erforderlich macht), besteht zwischen den Ebenen kein Begründungsverhältnis (vgl. Ciaramelli 2005, 84 ; Critchley 2004, 178).20 Das bedeutet aber, dass weder das ethische Urteil noch auch der Staat und die sittlichen Verhältnisse aus der vor-ursprünglichen Verantwortung ableitbar sind. Dies ist, wie Jacques Derrida überzeugend darlegt, kein Fehler der Theorie, sondern macht gerade den radikalen Charakter der Verantwortung aus, die dem Subjekt obliegt (vgl. Derrida 1999, 20, 117 ; Derrida 1994, 404). Das ethische Urteil ist ein »Akt persönlicher Freiheit, der als solcher unableitbar ist« (Tengelyi 2014, 255). Ein Urteil, das aus einer vollständig bestimmten Welt hervorgehen und gegebenen Regeln folgen würde, wäre nicht nur unfrei, sondern auch verantwortungslos (Derrida 1999, 117 ; Derrida 1994, 353). Freiheit und Verantwortung implizieren damit für Levinas ein Moment des Nicht-Wissens und der Unverantwortlichkeit (vgl. Derrida 1994, 399). Dabei ist das ethische Urteil nicht ohne Kriterien. Anders als der unbedingte Anspruch, der jenseits von sozialen Formen und kulturellen Kontexten ergeht (vgl. Kap. V), bezieht sich das ethische Urteil auf einen Kontext und eine Ordnung. Aber es geht in diesem Kontext nicht auf und ist nicht auf Kriterien reduzierbar. Ethisch zu urteilen bedeutet, »ein maximales Wissen der Situation zu fordern und dieses Wissen dennoch zu transzendieren, weil es nie genug und nie allumfassend sein kann« (Delhom/Hirsch 2007, 61). Das ethische Urteil scheint damit auf den ersten Blick Hegels Darstellung eines Gewissens zu ähneln, das an irgendeiner Stelle die unabschließbare moralische Reflexion durch die eigene Überzeugung zur Entscheidung bringt (vgl. Kap. II und Kap. III). Allerdings ist die Situation bei Levinas eine grundlegend andere: Es geht beim ethischen Urteil weder darum, das begrifflich nicht Bestimmte zu bestimmen (vgl. GPR § 214, Anmerkung), noch handelt es sich darum, die unendliche Folge der Einflüsse und Konsequenzen abzuschneiden, die das empirische Subjekt nicht einholen kann (vgl. 20 In diesem Sinne ist es problematisch, von einer »Fundierung der Politik durch Ethik« (Gürtler 2001, 194) zu reden, wie Sabine Gürtler dies tut, weil dies eine Art von Beziehung suggeriert, die Levinas gerade destruieren will.



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PhG 472). Vielmehr ist die Abgeschlossenheit des Wissens aufgrund der prinzipiellen Inkommensurabilität des Anderen mit jeder Bestimmtheit grundsätzlich ausgeschlossen. Entsprechend hat die Synthese des Bewusstseins keine ontologische Begründung. Als Selbstergreifung des Subjekts im Angesicht der Anderen ist sie »sine fundamentum in re« (JS 338). Das ethische Urteil betrifft einen Bereich, in dem es keine letzte Bewahrheitung gibt. Levinas sieht sehr wohl, dass die Grundlosigkeit der Freiheit die Möglichkeit des Bösen eröffnet. Das Subjekt kann in einer Weise urteilen und handeln, die den Anderen berücksichtigt ; es kann aber auch seine Ansprüche verleugnen und verletzen. Der Anspruch des Anderen, der als an-archische Affektion unabweisbar ist, kann auf der Ebene des Ontischen sehr leicht abgewiesen und verleugnet werden. Es wird auch immer möglich sein, bestimmte Seiten der Situation in den Vordergrund zu stellen, wie Hegel dies befürchtet (vgl. Kap. II), und dadurch ein verzerrtes Urteil zu rechtfertigen. Allerdings hat diese Möglichkeit bei Levinas eine andere Bedeutung als bei Hegel: Denn das Urteil ist nicht das Gewissen, auch wenn es mit diesem Gewissen unlösbar verbunden ist. Entsprechend ist für Levinas die Freiheit ambivalent – sie impliziert immer die Möglichkeit, sich vom Anderen abzuwenden. Das Gewissen ist dagegen durch seinen me-ontologischen Status – seine ontologische Zweideutigkeit – von dieser inhaltlichen Zweideutigkeit befreit. So kann Levinas die Möglichkeit von bösen Handlungen im Namen des Anderen zugestehen, ohne deshalb das Gewissen einhegen zu müssen. Dieses ist in Abwesenheit anderer Maßstäbe oder Kriterien vielmehr die einzige Orientierung der Freiheit. Sowohl Hegel als auch Levinas assoziieren das Gewissen mit der Funktion des Richters. Aber während Hegel die Funktion des Richters darin sieht, innerhalb eines gegebenen Rahmens über das darin unbestimmt Bleibende zu urteilen, denkt Levinas ein Subjekt, das gerade als Angeklagter (als Subjekt im Akkusativ, s. o. Kap. VI.1) zum Richter wird (vgl. Krewani 1992, 242) und das deshalb »über alle durch ein objektives Gesetz festgelegte Grenze hinaus verantwortlich ist« (TU 360). In seinen Augen ist die Gerechtigkeit unmöglich, »ohne daß derjenige, der sie gewährt, sich selbst in der Nähe befindet« (JS 347). So fällt das Subjekt nicht das Urteil, das jeder Andere in der gleichen Situation fällen würde, und tut das, was jeder Andere unter den gleichen Umständen täte (vgl. Kap. II). Gerade deshalb, weil das Subjekt tief in seinem Innersten von dem Anderen betroffen ist, lässt sich seine Funktion nicht auf die Anwendung von Gesetzen und Regeln reduzieren (s. o. Kap. II.3). Es erfindet vielmehr eine neue, singuläre Norm in Bezug auf den unendlichen Anspruch und den bestimmten, endlichen Kontext, in dem er begegnet (Critchley 2007, 99 f.). So setzt es mit seinem Urteil zugleich den Entscheidungsrahmen selbst ein (vgl. Critchley 2004, 180 ; Derrida 1991a, 47 f. ; Mosès 1993, 376).

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Levinas kritisiert die Vorstellung, dass der Anspruch des Anderen in der Sittlichkeit aufgehoben werden könnte, als eine Illusion, durch die das Subjekt seine wesensmäßige Endlichkeit zu verleugnen sucht (vgl. Kap. II.3). Weder kann das Subjekt seine Endlichkeit in einer vernünftig eingerichteten Sittlichkeit überwinden (vgl. Kap. II.3), noch gelingt dies durch Versöhnung (s. o. Kap. III.2.3 ; vgl. Bernasconi 1998, 91). Denn in Levinas’ Augen kann niemand  – nicht einmal Gott – im Namen eines Anderen verzeihen (vgl. IuT 31). Wenn aber jeder nur das verzeihen kann, was ihm selbst angetan wurde, dann kann weder ein Anderer mich von meiner Schuld freisprechen, noch kann ich dies für ihn tun, denn ich überblicke nicht, was seine Handlungen für Dritte bedeuten. Ihm zu verzeihen hieße, das ihnen geschehene Unrecht noch durch die Missachtung ihres Anspruches zu potenzieren (vgl. ebd.). Die Grundlosigkeit und Opazität des Sozialen einzusehen bedeutet dagegen, diese nicht zu überwindende Endlichkeit anzuerkennen. VII.1.3  Schwierige Universalität

Eine Universalität, die aus der Verantwortung für singuläre Andere hervorgeht, stellt eine paradoxe Allgemeinheit dar. Denn es handelt sich um die Synthese von solchen, die nicht in einem Ganzen aufgehen. Eine solche Gemeinschaft, die sich der Totalisierung entzieht, weil die Transzendenz der Einzelnen die Gemeinschaft daran hindert, ganz immanent zu werden (vgl. Critchley 2014, 227), bezeichnet Levinas als »wirkliche Gesellschaft« (vgl. TU 443). Das thematische Zentrum und den Zusammenhalt einer solchen Gesellschaft bilden nicht die Sittlichkeit und eine geteilte zweite Natur, sondern die Menschenrechte. Diese Rechte, die Levinas als »Rechte des Anderen« (MRA 97) konzeptualisiert, nehmen eine Zwischenstellung zwischen dem Ethischen und dem Politischen ein (vgl. Bernasconi 2008, 71 ; Hirsch 2005, 242): Sie stehen für den vor-ursprünglichen Anspruch des anderen Menschen, der jenseits von jedem sozialen und kulturellen Kontext und jeder Institutionalisierung erfahren wird (vgl. Kap. V), und bezeichnen zugleich die reale Institution jener Rechte, die diesen Anspruch zu artikulieren sucht. Gerade in dieser Zweideutigkeit – es handelt sich um Rechte, die der Andere immer schon hat, die ihm aber nicht immer schon gewährt werden – vermitteln sie zwischen dem Ethischen und dem Politischen und fungieren als das »Prinzip« des Staates.21 21 Im Sinne dieser Zweideutigkeit, dass sie Rechte sind, die der Andere immer schon hat, die aber nicht unbedingt auch immer anerkannt und berücksichtigt werden, ist Rancières Charakterisierung zu verstehen, dass »the rights of man are the rights of those who have not the rights that they have and have the rights that they have not« (Rancière 2004, 302).



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Für Levinas sind Menschenrechte grundlegend die Rechte des Anderen. Ihre »Phänomenologie« ist, dass sie ursprünglich der Anspruch des Anderen sind und mich fordern (vgl. MRA 108). D. h. man besitzt Menschenrechte nicht, sondern man ist durch sie enteignet (vgl. Caygill 2002, 152). Von der vor-ursprünglichen Verantwortung her gedacht haben die Menschenrechte den Status unbedingter Rechte, die weder von sozialen noch von individuellen Faktoren abhängen. Ihnen kommt eine »unabweisbare Autorität« zu, die »älter und höherstehend« als der Staat, die Institutionen und die Vernunft selbst ist. Entsprechend müssen sie weder verliehen noch können sie aberkannt oder veräußert werden (vgl. MRA  98). In diesem Sinne bezeichnet Levinas sie auch als »Rechte a priori« (MRA 97), die »jeder Gewährung vorausgehen[]« (MRA 98). Der Andere hat diese Rechte unabhängig von seinen Leistungen, seiner sozialen Stellung und der sozialen Ordnung. Sie nicht zu gewähren ist damit immer schon (und nicht erst im Staat, der die Menschenrechte anerkennt) ein Unrecht. Levinas’ Konzeption der Menschenrechte weist damit eine gewisse Ähnlichkeit zu dem sogenannten Naturrecht auf. Wie oben gesehen grenzt Hegel sich von dieser Tradition, die Rechte annimmt, die jenseits des Staates und unabhängig von ihm gelten, ab, weil er meint, dass Recht und Unrecht allererst im Staat bestehen (vgl. Kap. IV). Aber auch Levinas grenzt sich vom Naturrecht ab ; die vor-ursprüngliche Verantwortung für den Anderen ist nicht der Naturzustand. Levinas meint vielmehr, dass der Anspruch des Anderen den natürlichen Selbsterhaltungstrieb transzendiert (vgl. Caygill 2002, 153). Die Menschenrechte werden nicht von Menschen institutionalisiert, die den eigenen gewaltsamen Tod fürchten ; es geht vielmehr darum, das Leben und die Unversehrtheit der Anderen zu schützen. Sie sind in diesem Sinne anders als die Natur, aber auch anders als die instituierte sittliche Gesellschaft.22 Die Verantwortung steht quer zu ­beiden. Levinas versteht die Menschenrechte in der Doppeldeutigkeit von Rechten, die dem Anderen vor jeder Gewährung zukommen, und als Artikulation und Insti­ tutionalisierung dessen, was dem Subjekt immer schon obliegt (vgl. MRA 98) Dabei hat der Staat seine primäre Aufgabe darin, diese Rechte durchzusetzen und sie zu einer Ordnung zu ergänzen. Das ursprüngliche Recht des Anderen, das als das »Du sollst/wirst nicht töten« im bzw. als Gewissen erfahren wird (vgl. Kap. V), entfaltet sich in ein System objektiver Rechte, das hinsichtlich der Dringlichkeit der unterschiedlichen Rechte hierarchisch strukturiert ist: 22 Levinas spricht in einem Atemzug vom natürlichen und sozialen Determinismus, d. h. die instituierten sozialen und kulturellen Verhältnisse sind in seinen Augen nicht wesensmäßig anders als die Natur (vgl. Alford 2004, 148). Erst mit dem Ethischen eröffnet sich eine neue Dimension.

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Zur Idee der Menschenrechte gehören fortan – untrennbar und in ständig wachsender Zahl – alle gesetzlichen Regeln, welche die tatsächliche Ausübung diese Rechte bestimmen. Hinter den Rechten auf Leben und auf Sicherheit, auf die freie Verfügung seines Eigentums und auf die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, auf die Freiheit des Denkens und seines Ausdrucks, auf Bildung und auf die Beteiligung an der politischen Macht – kommen alle anderen Rechte, die sie verlängern oder sie konkret ermöglichen: Die Rechte auf Gesundheit, auf Glück, auf Arbeit und Ruhe, auf die Bleibe und auf den freien Verkehr usw. Aber auch, jenseits von alledem, das Recht, sich der Ausbeutung durch das Kapital zu widersetzen – gewerkschaftliche Rechte –, und bis hin zum Recht auf den sozialen Fortschritt ; auf die – utopische oder messianische – Verfeinerung der menschlichen Bedingtheit [condition humaine], das Recht auf Ideologie sowie das Recht auf den Kampf für das vollständige Menschenrecht und das Recht, die politischen Bedingungen dieses Kampfes zu sichern (MRA 102).

Für Levinas sind die Menschenrechte das latente Prinzip des Rechts (vgl. MRA 97). Der Staat kann nicht expressiv, d. h. als Ausdruck und Realisierung individueller Freiheit, verstanden werden.23 Nicht der Wille in seiner idealen Gestalt bestimmt die Rechtsordnung (s. o. Kap. II), sondern die Rechte des Anderen sind die Inspiration und die Grenze aller positiv formulierten Rechte (vgl. Sirovátka 2009, 134). Die Herstellung der Rechtsordnung ähnelt dem oben beschriebenen Streben nach Gerechtigkeit: Alle die genannten Rechte und noch andere mehr sind zu fordern und zugleich ist die Ordnung und Hierarchie dieser Forderungen zu beachten, um sicherzustellen »ob sie nicht die Grundrechte gefährden, wenn man alles unbedacht fordert. Aber dies heißt nicht, daß man eine Grenze bei der Verteidigung dieser Rechte anerkennt« (MRA 102). D. h. die Menschenrechte sind nicht erfüllt, solange nicht alle Forderungen für jede und jeden Einzelnen erfüllt sind, aber diese Forderung darf nicht zu Lasten der elementarsten Rechte für Andere gehen. In Levinas’ Augen fungieren die Menschenrechte als Prinzip des Strebens nach (mehr) Gerechtigkeit. Dies vermögen sie gerade in der Spannung zwischen ihrer unbedingten Geltung und den historischen Prozessen und Akten, die sie erst zu Bewusstsein gebracht und sie effektiv in Geltung gesetzt haben. Die Menschenrechte gelten ihm – ebenso wie das Gewissen selbst – als ahistorisch. Sie sind gleichursprünglich mit der Existenz des Menschen selbst (vgl. MRA 97). So machen sie den Staat und die Institutionen erforderlich, bei denen Levinas aber nicht stehen bleibt (vgl. Burggraeve 2003, 142). Letztlich stehen die Menschenrechte in Spannung mit nationalstaatlichen Grenzen und fordern die Ausweitung 23 In diesem Sinne scheint auch das Urteil, das Howard Caygill äußert, dass Levinas letztlich bei einer Art Sittlichkeit landet, der derjenigen bei Hegel ähnelt, fehlgeleitet (vgl. Caygill 2002, 142).



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der Gerechtigkeit über alle Grenzen hinaus. Nationale Gerechtigkeit muss also zugunsten allgemeiner Gerechtigkeit überschritten werden, ohne dadurch totalitär zu werden. Diese weltweite menschliche Gemeinschaft bezeichnet Levinas als Brüderlichkeit (vgl. Burggraeve 2003, 143). Der Terminus »Brüderlichkeit« darf nicht im Sinne einer biologischen, ethnischen, religiösen oder kulturellen Zugehörigkeit verstanden werden, die andere, die nicht in diesem Zugehörigkeitsverhältnis stehen, ausschließt.24 Der Ausdruck verweist vielmehr auf eine Gemeinschaft von Geschöpfen, die sie selbst als Antwort auf einen Anspruch sind, der sie in die Verantwortung für den Anderen einsetzt (vgl. JS 195).25 Die Brüderlichkeit ist also die Gemeinschaft derer, die durch die unsichtbare Universalität des Gewissens verbunden sind (s. o. Kap. VI.2). Wie auch die Figur des Dritten steht die »Brüderlichkeit« damit für die doppelte Valenz von Singularität und Allgemeinheit bzw. (ethischer) Nähe und (politischer) Pluralität (vgl. Bernasconi 1998, 102 ; Critchley 2014, 226), die in der diastatischen Struktur der Subjektivität angelegt ist.26 D. h. sie bezeichnet die Beziehung zur Singularität, die aber zugleich auf die Pluralität der Anderen verweist, insofern der Andere »von vornherein der Bruder aller anderen Menschen« (JS 344) ist. Von der doppelten Valenz der Brüderlichkeit her lässt sich die umstrittene Frage klären, ob auf der Ebene des Politischen auch dem Ich Gerechtigkeit widerfährt. Während einige Interpreten ganz unumwunden vertreten, dass das Ich hier Gleiches unter Gleichen sei (vgl. Critchley 2004, 173), meinen andere, dass die Frage zumindest für den späteren Levinas nicht mehr eindeutig zu beantworten sei oder sie schließen die Gleichheit des Ich sogar aus (vgl. Delhom 2000, 204). Beide Deutungen sind verfehlt, denn die Frage ist auf der Grundlage der Doppelstruktur des Subjekts ganz klar zu beantworten: Als Sich ist das Subjekt »Bruder der Anderen und in der Brüderlichkeit von vornherein für die Anderen verantwortlich« (JS 225) ; als Ich ist es den Anderen gleich (vgl. JS 225, 344). Entsprechend bedeutet Gerechtigkeit für Levinas eine Gleichheit, die jedoch so gedacht werden muss, dass zugleich die Asymmetrie der Verantwortung in ihr erhalten bleibt (vgl. Waldenfals 1995, 316). Während das Subjekt also als Ich dem 24 Die patriarchalen und theologischen Implikationen dieser Konzeption der Gemeinschaft weist Simon Critchley aus (vgl. Critchley 2014, 227). 25 Gestiftet wird die Brüderlichkeit durch die Beziehung zum Vater, für den jeder Sohn einziger Sohn ist (vgl. TU 408). Mit der zugleich bestehenden Beziehung der Gleichheit zwischen den Brüdern findet so in der Brüderlichkeit eine Verschränkung von Singularität und Universalität statt (vgl. Bedorf 2005a, 238). 26 Thomas Bedorf arbeitet die unterschiedliche Akzentuierung des Begriffs in den beiden Hauptwerken heraus: Während sich »Brüderlichkeit« in Jenseits des Seins auf die Ebene des Ethischen bezieht und »systematisch nichts Neues [erschließt]« (Bedorf 2005a, 231), hat der Begriff in Totalität und Unendlichkeit eine stärker politische Bedeutung (vgl. ebd.). Ich orientiere mich in diesem Abschnitt an letzterer.

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Anderen gleich ist, bleibt es ihm als Sich zugleich ausgesetzt und ungleich ; die Gleichheit aller ist getragen von der Ungleichheit, die es in seinem Gewissen erfährt (vgl. JS 344, 347). Ich bin für jeden und alles verantwortlich und ich bin zugleich – versetzt um das zeitliche Intervall im Jetzt-Moment selbst – Anderer unter Anderen, mit denen ich in reziproken Beziehungen stehe. Eine menschliche Gemeinschaft, die aus dieser Verschränkung hervorgeht, unterscheidet sich grundlegend von einer Allgemeinheit, unter die das Besondere subsumiert wird, und sie entspricht auch nicht dem hegelschen Ideal eines »Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist« (PhG 145). Da die Gemeinschaft der Brüderlichkeit konstitutiv auf das bezogen bleibt, was ihr unverfügbar ist, kann sie sich niemals zur Totalität schließen (s. o. Kap. V). Die Forderung des Anderen bildet ein Außen, eine Extra-Territorialität im Staat selbst, die gleichsam das Herz des Staates ist. Ausgehend von dieser Intransparenz im Zentrum der Gemeinschaft stehen Gesetze unter dem Zeichen des Kompromisses und der partiellen Entfremdung. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Politische ein Kompromiss mit der Realität wäre, von dem das Ethische das Ideal wäre. Es gibt keine Utopie eines nicht-entfremdeten Zusammenlebens, weil die Entfremdung notwendige Implikation der Gerechtigkeit ist (vgl. Caygill 2002, 96). Absolutes Wissen ist hier unmöglich – nicht aus historisch-kontingenten Gründen, sondern notwendigerweise, weil der Universalität eine Bedeutungsschicht unterliegt, die nicht totalisierbar ist. Anders als bei Hegel, wo es ein Zeichen der Machtvollkommenheit des modernen Staates ist, dass er Andersdenkende tolerieren kann, bildet Alterität den unbestimmten, unaufhebbaren »Kern« der Gemeinschaft. Sie ist nicht ein bloßer Anhang der Staatslehre, sondern stellt das Prinzip von Staatlichkeit überhaupt dar. Paradox gesprochen ist das Außen der Gesellschaft ihr Zentrum. Anstatt – wie Hegel es vorschlägt – den sogenannten »Pöbel« von Zeit zu Zeit in die Kolonien abzuschieben und damit die Gesellschaft von ihrem nicht aufgehenden Rest zu befreien (vgl. GRP § 248), ist die Brüderlichkeit eine Gemeinschaft ohne Ausschluss. Dabei ist die Brüderlichkeit kein Idyll. Sie bezeichnet nicht das harmonische Zusammenleben solcher, die nur den Konsens kennen. Gerade weil der Staat von der Verantwortung ausgeht und jede instituierte Ordnung wesentlich grundlos ist, ist das Politische dauerhaft umstritten. In der Überkreuzung von Verantwortung und Gerechtigkeit gibt es Raum für Widerspruch und Dissens, die nie endgültig zur Ruhe gebracht werden können. Die Anderen, mit denen zusammen das Subjekt die Gerechtigkeit schafft, nehmen Perspektiven ein, die sich nicht zu einer Ganzheit versöhnen lassen. Während verschiedene Standpunkte für Hegel immer nur die Bedeutung partikularer und endlicher Auffassungen der Wirklichkeit haben können – der absolute Geist hat jeden Widerspruch überwunden – eröffnet die Grundlosigkeit des Politischen bei Levinas die Möglichkeit und Not-



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wendigkeit zu echtem Dissens. Auftretende Spannungen sind in diesem Sinne nicht Hinweise auf Unvollständigkeit der Regelungen, sondern deuten auf deren Unvollendbarkeit hin. Dabei gibt es kein Ich, das Wir und Wir, das Ich ist (vgl. Kap. III), sondern eine Nicht-Indifferenz über jede Übereinstimmung und jeden Antagonismus hinaus. Im Ausgang von der vor-moralischen Verantwortung für den Anderen entsteht bei Levinas ein Ungleichgewicht, das in gewisser Weise komplementär zu der Asymmetrie ist, die ich bei Hegel ausgemacht habe (s. o. Kap. IV.2.2). Während Hegel die Individuen gegenüber einer Objektivität, der als der absoluten Macht zugleich das absolute Recht zukommt, entmächtigt, besteht bei Levinas umgekehrt die Gefahr, dass der ethischen Subjektivität zu viel aufgeladen wird. Wenn das Subjekt alles entscheiden und einrichten muss, ohne schon auf Strukturen zurückgreifen zu können und an der Objektivität einen geeigneten Maßstab zu haben, scheint dies eine maßlose Überforderung darzustellen (vgl. Delhom/ Hirsch 2007, 60). Deshalb bezweifelt Richard Wolin rundheraus die Möglichkeit, dass das Ethische im Levinasianischen Sinne politisch wirksam werden könnte (Wolin 2008, 243). Er hält Levinas’ Ansatz überdies für gefährlich, insofern Levinas sich lediglich auf die moralische Intuition des Ichs verließe (vgl. ebd. und auch Alford 2004, 163). Aber Levinas weiß um die Schwäche des Subjekts und die Notwendigkeit des Staates und verbindlicher Institutionen. Diese können jedoch nicht als gegeben angenommen werden. Es gibt keine kosmologische, religiöse oder metaphysische Instanz, an die das Subjekt sich entlasten könnte. VII.2  Schwierige Freiheit 27

Wenn die beiden historischen Momente, die Hegels Denken in besonderer Weise prägen, die griechische Polis und die Französische Revolution sind (s. o. Kap. IV), so sind der Holocaust und der Stalinismus jene historischen Ereignisse, die Levinas Denken zeichnen. Angesichts der erschreckenden Abwesenheit oder Ohnmacht von Sitte und Moral in einer ganzen Nation, die – mit Ausnahme Einzelner – das äußerste Leiden und den gewaltsamen Tod tausender unschuldiger Menschen billigend in Kauf genommen hat, wenn sie nicht selbst am menschenverachtenden Tun beteiligt gewesen ist, und vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass das Wollen des Guten selbst in einer Weise entarten kann, die es von dem Bösen ununterscheidbar macht, stellt sich Levinas die dringende Frage, wie das Ethische überhaupt noch zu denken ist. 27 Difficile Liberté ist der Titel einer Aufsatzsammlung von Levinas, in der sich vor allem Texte zum Judentum und zur politischen Philosophie finden.

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Beiden Autoren steht also die Perversion der menschlichen Freiheit vor Augen. Sie begreifen die Bedrohung aber in einer gegensätzlichen, ja komplementären Weise: Hegel fürchtet, dass die individuelle Freiheit ihre eigene Grundlage zerstört ; Levinas sieht dagegen die Gefahr, dass der Staat, indem er totalitär wird, seinem eigenen telos zuwiderhandelt. Wie im ersten Teil der Arbeit gesehen reagiert Hegel auf die von ihm wahrgenommene Gefahr, indem er das Ich von der Gemeinschaft her denkt, d. h. er vermittelt Individualität und Kommunalität in einer Weise, die die Gefahr, die von der individuellen Freiheit ausgeht, entschärft (vgl. Kap. II). Allerdings opfert er damit zugleich jede Eigenständigkeit des Subjekts gegenüber der Sittlichkeit (vgl. Kap. IV). Jede Besonderung des Subjekts gegen das Allgemeine kann von ihm deshalb nur als Eigensinn, als nichtabgearbeiteter Rest an Naturhaftigkeit verstanden werden. So eliminiert Hegel in seiner Sorge, dass Subjektivität in der Stellung des formellen Gewissens die Sittlichkeit destabilisieren und damit die Realisationsbedingungen von Freiheit zerstören könnte, letztlich die individuelle Freiheit (ebd.). Gegen diese von Hegel zur Vollkommenheit geführte Totalisierung erhebt Levinas Einspruch. Er kehrt dafür aber nicht einfach das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft um und rehabilitiert das formelle Gewissen. Vielmehr verweist er die individuelle Freiheit insgesamt auf den zweiten Platz und denkt sie von der vor-ursprünglichen Verantwortung für die Anderen und der Forderung nach Gerechtigkeit her neu (vgl. Kap. VI). Während in Hegels Augen Freiheit in der modernen Sittlichkeit realisiert ist und das Allgemeine den Rahmen darstellt, in dem überhaupt nur über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit geurteilt werden kann (s. o. Kap. II und IV), kann eine Gerechtigkeit für Levinas nicht abschließend in einem Gemeinwesen instituiert sein. Es kommt dem Subjekt zu, die sittliche Wirklichkeit von jenseits des Staates, d. h. von der Verantwortung für die Anderen her, zu beurteilen und daran zu arbeiten, Gerechtigkeit herzustellen (vgl. Ciaramelli 2002, 53). In diesem Bemühen um Gerechtigkeit zeichnet sich damit auf der Ebene des Seins eine individuelle Freiheit ab, die ethisch qualifiziert ist, ohne in ontologisch notwendigen Verhältnissen aufzugehen. Die Pointe von Levinas’ Konzeption von Subjektivität und Gewissen besteht so gerade darin, dass dem Individuum von seiner absoluten Passivität her eine eigene Substanzialität zuwächst (vgl. Keintzel 2010, 23). Anders als bei Hegel, wo Freiheit letztlich nur dem Geist zukommt, sind es bei Levinas wirklich die Individuen, die eine – freilich endliche – Freiheit haben. In diesem abschließenden Unterkapitel geht es mir darum zu zeigen, dass bei Levinas eine Lösung für jene schwerwiegenden Probleme angelegt ist, die ich bei Hegel ausgemacht habe, die aber durchaus nicht nur sein Denken betreffen, auch wenn sie dort, aufgrund des systematischen Charakters dieses Denkens, besonders deutlich zu erkennen sind (s. o. Kap. IV.2). Dabei kommt es mir darauf



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an, deutlich zu machen, dass Levinas’ Konzeption nicht einfach der von Hegel entgegengesetzt ist. Wäre das der Fall, würde sie erstens erneut in die Dialektik hineingezogen und hätte zweitens die komplementären Probleme. Das Innovative von Levinas’ Ansatz besteht vielmehr darin, eine Figur zu denken, die eine Schließung fordert, die sie zugleich unterläuft. Diese Figur ist mit hegelscher Dialektik nicht zu fassen. Sie weist eine eigene Art der Dialektik auf, die Hegels Grundbewegung in gewisser Weise invertiert. Diese Figur notwendiger Unabgeschlossenheit ereignet sich in der Spannung zweier inkommensurabler Ebenen, die Levinas mit den beiden hauptsächlichen Quellen europäischer Kultur identifiziert: dem griechischen Denken und der jüdischen Religion. Dabei steht das Griechische für das Allgemeine und die Reziprozität von Rechten und Pflichten ; das Jüdische dagegen für einen ethischen Individualismus, der sich in keine Allgemeinheit einholen lässt.28 Anders als Hegel strebt Levinas gerade nicht nach einer Vermittlung der beiden Seiten. Denn einzig ihre irreduzible Spannung aufeinander vermag vor der schlimmsten Gewalt zu bewahren (vgl. TH 24). Jede Vereinseitigung würde dagegen die Perversion der Sozialität und den Verlust der Freiheit implizieren. Ich gehe in diesem letzten Unterkapitel in vier Schritten vor, die Abschnitte des Abschlusskapitels zum Hegel-Teil der Arbeit aufgreifen und Lösungen für die in Hegels Konzeption angelegten Probleme skizzieren (vgl. Kap. IV.2). Die Reihenfolge der Schritte entspricht dabei nicht den Abschnitten im Hegel-Teil, sondern weist einen eigenen Zusammenhang auf. Im ersten Schritt argumentiere ich, dass von der absoluten Passivität des Subjekts her eine qualifizierte individuelle Freiheit denkbar wird, die ich entsprechend als Hetero-Autonomie bezeichne. Dabei weise ich die Nähe von Levinas’ Gewissenskonzeption zum kantischen Faktum der Vernunft aus, argumentiere jedoch, dass das ethische Urteil nicht der kantischen Universalisierung entspricht. Im zweiten Schritt weise ich das kritische Potential aus, das einem Subjekt zukommt, das nicht in der Spannung von Allgemeinem und Besonderem, sondern in der Beziehung auf Transzendenz gedacht wird. Ich argumentiere, dass Kritik dadurch eine grundsätzliche Bedeutungsmodifikation erfährt, da sie sich nicht gegen das Allgemeine richtet, sondern vielmehr als eine Doppelbewegung zu denken ist, in der das Subjekt die Ordnung, die es einsetzt, zugleich überschreitet. In dieser Bewegung ist das Subjekt nicht an den Rahmen des Gegebenen gebunden, sondern hat am Anderen eine absolute Orientierung. Im dritten Schritt gehe ich auf das schwierige Verhältnis von Macht und Gerechtigkeit ein. Ich zeige, dass die Gerechtigkeit von zwei Seiten gefährdet ist, da sie einerseits gegen ihre Feinde durchgesetzt werden muss, sie sich jedoch 28

Zu der Kritik an Levinas Eurozentrismus vgl. Robert Bernasconi (2005a, 179 f.).

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andererseits, wenn dies in totalitärer Weise geschieht, in ihrem Wesen verkehrt und selbst ungerecht wird. Die Herausforderung, die die Gerechtigkeit meistern muss, um sie selbst zu bleiben, besteht also darin, auch dem Ungerechten gerecht zu werden. Wo dies gelingt entsteht ein Freiraum, in dem die Individuen nicht nur die ontologisch notwendigen Strukturen verwirklichen, sondern selbst die soziale Ordnung gestalten. Anders als Hegels Konzeption der Sittlichkeit gelangt eine Ordnung, die von der Beziehung auf Transzendenz her gedacht wird, niemals zur Vollendung. Dies kommt in dem von Jacques Derrida geprägten Begriff einer Demokratie-im-Kommen (franz. democratie à venir) zum Ausdruck, der nicht lediglich das Ausstehen einer Gerechtigkeit bezeichnet, die in einer zukünftigen Gegenwart verwirklicht sein kann, sondern vielmehr die konstitutive Unabgeschlossenheit der Gerechtigkeit zum Ausdruck bringt. Ich argumentiere, dass Levinas mit dieser Figur eine Berührung des Unendlichen im Endlichen denkt, die sich aber – anders als bei Hegel – nicht als Aufhebung der Zeit (vgl. Kap. III), sondern als ein Moment der Zukünftigkeit in dem Jetzt-Moment selbst ereignet. VII.2.1  Endliche Freiheit als Hetero-Autonomie

Levinas erteilt dem souveränen Subjekt eine Absage. Er versteht Subjektivität von einer absolut passiven Affektion her, die sich jenseits des Bewusstseins und des Wollens immer schon ereignet hat, wenn das urteilende und handelnde Ich sich ergreift (vgl. Kap. VI). Aber er gibt Freiheit und Selbstbestimmung damit nicht auf. Im Gegenteil: Gerade indem sie auf den zweiten Platz verwiesen werden, werden sie denkmöglich. Denn weder ein Subjekt, das sich rein nach seinen Bedürfnissen und Neigungen bestimmt, noch ein solches, das in den sittlichen Strukturen aufgeht, ist im eigentlichen Sinne frei (vgl. Kap. II und Kap. IV). Von der Verantwortung für den Anderen her lässt sich dagegen eine im wörtlichen Sinne unbedingte Freiheit denken. In der Substitution löst sich das Subjekt aus seiner Bedingtheit im Sein und vermag sich angesichts der Pluralität der Anderen in einem ethischen Urteil zu ergreifen, das durch kein Gesetz oder Prinzip angeleitet wird. Es gelingt Levinas so, eine qualifizierte Freiheit zu denken, ohne das Subjekt in einer Kommunalität aufgehen zu lassen. Die absolute Entmächtigung der vor-ursprünglichen Verantwortung führt zu einer ganz unerwarteten Ermächtigung des Subjekts, in die jedoch immer schon der Anspruch des Anderen eingeschrieben ist. In Levinas’ Denken zeichnet sich damit eine Antwort auf jene Frage ab, die ich als das zentrale Problem von Hegels Gewissenskritik herausgestellt habe (s. o. Kap. IV.2). In meiner Evaluation seiner Konzeption habe ich argumentiert, dass



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Hegel keine individuelle Freiheit denken kann, weil dem Subjekt keine moralische Eigenständigkeit gegenüber den sittlichen Verhältnissen zukommt. Damit urteilt und handelt das Subjekt entweder im Rahmen der gegebenen Ordnung oder es fällt auf die Position des von Hegel zu Recht kritisierten sogenannten formellen Gewissens zurück. So oder so wird individuelle Freiheit verfehlt (ebd.). Dieser schlechten Alternative setzt Levinas ein Drittes entgegen, indem er Subjektivität von der Affektion durch Andersheit her denkt (s. o. Kap. V und Kap. VI). Indem das Ich sich als Antwort auf einen unbedingten Anspruch kon­ stituiert, der sich nicht bruchlos in das Bewusstsein und die sittliche Ordnung einholen lässt, wird eine Selbstbestimmung denkbar, die nicht bloß ein Reflex der gegebenen Verhältnisse ist (vgl. Gates 2002, 499). Es bietet sich an, von Hetero-Autonomie statt von Autonomie zu sprechen, da es sich um eine Spontanität handelt, die aus einer absoluten Passivität hervorgeht. Diese besondere Form einer qualifizierten Freiheit ist in der diastatischen Struktur des Subjekts angelegt. Wie im letzten Kapitel dargestellt, denkt Levinas die Subjektivität des Subjekts, das Sich, als eine Affektion, die in absoluter Passivität widerfährt, bevor überhaupt ein Ich zugegen ist (s. o. Kap. VI). Das Subjekt ist so »zunächst alles andere als das Produkt eines Selbstkonstitutionsaktes« (Tengelyi 2014, 264). Die Pluralität der Anderen macht jedoch die Synthese des Ichs erforderlich und hier, in dem Ergreifen seiner selbst im ethischen Urteil, ist es »nicht mehr unangebracht, von einem Selbstkonstitutionsakt zu reden« (Tengelyi 2014, 265). Denn zwischen der Affektion, die in absoluter Passivität erfolgt und jeder Kontrolle des Ichs vorausgeht, und der konkreten Antwort, die das Ich angesichts der Pluralität der Anderen gibt, liegt ein Moment der Freiheit (vgl. PGL 145), insofern zwar das Dass der Antwort unausweichlich ist, diese aber nicht inhaltlich determiniert ist (vgl. Bedorf 2010, 141). Autonomie besteht so für Levinas in der »Initiative der Antwort« (MG 81). D. h. der Andere setzt mich – jenseits jeder Wahl – in eine Verantwortung ein, von der her ich autonom zu entscheiden habe (vgl. Esterbauer 1992, 54 ; Fischer 1999, 188 ; Flatscher/Seitz 2016, 227).29 Dass die Autonomie des Subjekts von einer unhintergehbaren Nötigung her zu denken ist, erinnert an die Vorfindlichkeit des Sittengesetzes bei Kant.30 An die Stelle des kantischen Faktums der Vernunft scheint dabei bei Levinas das Fak29 Wie bei der exzessiven Subjektivität, die Dominik Finkelde analysiert (s. o. Kap. IV.1.3), realisiert sich Autonomie in einer Struktur der Nachträglichkeit gegen sich selbst. Dies aber nicht in dem Sinne, dass die Gewissenstat zur Geltung bringt, was untergründig schon in einer fungierenden Ordnung angelegt ist, sondern in der Nachträglichkeit des Ich gegen das Sich. Das Subjekt handelt aus einer ethischen Notwendigkeit heraus, die vorontologisch ist und sich nicht an der Wirklichkeit bewahrheiten lässt. Dominik Finkelde lehnt es explizit ab, Levinas im Sinne exzessiver Subjektivität zu lesen (vgl. Finkelde 2014a, 153 Anmerkung 268). Dass dies voreilig ist, merkt auch Thomas Bedorf an (vgl. Bedorf 2016, 1039). 30 Diesen Zusammenhang stellen unter anderen heraus: Peter Atterton (1999) und (2001) ;

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tum des Anderen zu treten (vgl. Critchley 2004, 180 ; Peperzak 2004, 201 ; Peper­ zak 1986, 211). Und insofern dieser Andere in der absoluten Passivität der Sinnlichkeit begegnet (s. o. Kap. VI), ist uns der moralische Kompass, von dem Kant meint, dass wir ihn immer schon in uns tragen, gleichsam in die Sinnlichkeit eingeschrieben. Dennoch wird das Subjekt durch den Anderen nicht sinnlich oder – wie Kant sagt – pathologisch bestimmt. Vielmehr zerbricht die transzendentale Argumentation (vgl. Atterton 2001, 337 ; Atterton 1999, 257). Levinas denkt mit der Affektion in absoluter Passivität eine »Imperativität« (EA 261), die an-archisch verfasst ist (vgl. Abensour 2002, 13). Ihr liegt also kein allgemeines Gesetz oder Prinzip zugrunde (vgl. JS 183), sondern sie ruft das Subjekt allererst in die Existenz (vgl. Kap. VI). Anders als bei Kant, für den »[a] l le Achtung für eine Person […] eigentlich nur Achtung fürs Gesetz« (GMS AA IV 401) ist, ist das Subjekt bei Levinas damit dem Anderen verbunden, bevor es überhaupt ein Ich ist, das fähig wäre, Gesetze zu verstehen und zu befolgen. Damit geht er nicht lediglich einen Schritt vor Kant zurück und klärt die Herkunft des Sittengesetzes auf, sondern er destruiert es zugleich als Prinzip. Denn die Pluralität der Anderen macht zwar – wie im ersten Teil des Kapitels gezeigt – eine Abwägung und einen Vergleich der Ansprüche notwendig, aber diese entsprechen nicht der kantischen Maximenprüfung (vgl. Lyotard 2004, 290). Dabei anerkennt Levinas durchaus die genuin ethische Inspiration des kategorischen Imperativs. Er bestreitet aber, dass sich das Ethische auf ein allgemeines Gesetz reduzieren ließe (vgl. MRA 104 f. ; MRW 112). Es kann seinen Ausdruck vielmehr ebenso darin finden, der Vernunft zu folgen, wie auch, ihr zuwider zu handeln (vgl. Atterton 2001, 334). Der unbedingte Anspruch des Anderen erfordert ein singuläres Urteil, das sich nicht auf Grundsätze oder Prinzipien reduzieren lässt. Dieses ethische Urteil ist nicht beliebig, aber es lässt sich nicht kodifizieren, ohne dadurch schon verfehlt zu sein (vgl. Lyotard 2004, 287 f. ; Mersch 2016, 369 ; Perpich 2019, 254 ; Perpich 2009, 22). Eine absolute Orientierung hat das Subjekt dabei nur an diesem Anspruch selbst, der sich in seinem Gewissen abzeichnet (vgl. Bernasconi 1990, 6, 13 ; Delhom/Hirsch 2007, 67 ; Simhon 2010, 325 ; Stegmaier 2016, 256). Die Affizierbarkeit durch die Anderen stellt damit die Bedingung einer Autonomie jenseits aller anwendbaren Kriterien dar: Kein Gesetz, keine Sittlichkeit und auch keine göttliche Instanz kann das Individuum von seiner radikalen Verantwortung entlasten. Levinas ersetzt damit zugleich die kantische Unterscheidung zwischen einem Handeln aus Pflicht und einem bloß pflichtmäßigen Handeln durch die Unterscheidung zwischen einem Handeln aus Verantwortung und einem Gabriela Basterra (2015) ; Catherine Chalier (2001) ; Simon Crichley (2004) ; Norbert Fischer (1999) ; Adriaan Peperzak (1986) ; Christian Rößner (2011) und Elisabeth Rottenberg (2003).



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Handeln, das den Anderen ignoriert. Gemäß dieser Modifikation muss der »Antwortverweigerer, der aus Achtung fürs Gesetz handelt« (Tengelyi 1998, 169)  – also z. B. der Mensch, der nicht einmal dann lügt, wenn die Mörder des Freundes, der sich bei ihm verbirgt, vor der Tür stehen – nicht als Exempel der Moralität betrachtet werden (was wohl kaum jemandem wirklich einleuchten mag), sondern er macht sich vielmehr der Missachtung des Anspruches des Anderen schuldig (vgl. Derrida 1994, 390).31 Indem Levinas eine Selbstbestimmung vom Anderen her denkt, die keinem Gesetz und keiner Norm folgt, ohne deshalb willkürlich zu sein,32 teilt er die Intuition jener Ansätze, die gegen Hegel einen gesetzlosen (vgl. Menke 2012) oder radikal autonomen (vgl. Finkelde 2014) Akt geltend machen wollen (s. o. Kap. IV). Er unterscheidet sich von diesen Ansätzen jedoch darin, dass er angeben kann, was diesen Akt von Willkürfreiheit unterscheidet: die absolute Orientierung durch den Anspruch des Anderen. Autonomie ist mithin von einer absoluten Heteronomie her zu denken (vgl. Critchley 2007, 57 ; Waldenfels 2005a, 173). Sie wird möglich in Bezug auf eine radikale Unverfügbarkeit, die die Spontanität hervorruft und das Subjekt in seine Freiheit einsetzt (vgl. Flatscher/Seitz 2016, 227 ; Gates 2002, 499 ; Hofmeyr 2009, 2). Entsprechend muss die Willkür des Subjekts nicht von außen beschränkt werden, weil sein Wollen von der Verantwortung her anhebt (vgl. Gates 2002, 498). Autonomie in Levinas’ Sinne ist radikal, weil sie sich durch kein Gesetz und durch keine Wirklichkeit objektiv in Geltung setzen lässt. Eine solche Autonomie-Konzeption ist naturgemäß dem Willkür-Verdacht ausgesetzt. So vermutet etwa Ludwig Siep, dass »die persönliche, situationsgemäße Gerechtigkeit […] zur Willkür [wird], wenn sie nicht Regeln voraussetzt, die sie in Ausnahmesituationen auf eine zumindest prozedural verallgemeinerbare Weise modifiziert« (Siep 1993, 607). Diese Kritik zielt jedoch an Levinas’ Anliegen vorbei, denn es gibt in seinen Augen jenseits der ethischen Beziehung und des Gewissens keine verbindliche Ordnung, auf die das Subjekt sich berufen könnte. Levinas fühlt sich Kant gerade darin nahe, dass sich der moralische Wert einer Handlung nicht an ihrem Erfolg ermessen lässt. Das Ich an dem zu messen, was objektiv feststellbar ist, betrachtet Levinas als »eine mögliche, aber willkürliche Einstellung« (JS 267). 31 Als Beispiel für einen solchen Antwortverweigerer führt Laszlo Tengelyi denjenigen an, der – wie Kant es will – noch nicht einmal dann lügt, wenn sich ein Freund bei ihm verbirgt und dessen Verfolger an der Tür steht (vgl. Tengelyi 1998, 169). Und er argumentiert: »Schon die bloße Denkbarkeit dieser Figur ist ein gewaltiger Grund, der unmißverständlich dafür spricht, mit Levinas eine Dimension der Verantwortung einzuräumen, die sich nicht durch den Sollensanspruch des Gesetzes bestimmt.« (Tengelyi 1998, 169). 32 Bernhard Waldenfels spricht treffend von einem »Pathos der Freiheit« (Waldenfels 2002, 239).

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Dagegen ist der Anspruch des Anderen – auch wenn er sich nicht als universales Gesetz oder Prinzip formulieren lässt – nicht bloß subjektiv (vgl. Morgan 2019, 332). Was die ethische Freiheit von Willkür unterscheidet, ist ihre Rücksicht auf Andere. Levinas denkt damit eine wesentlich grundlose Freiheit, die gerade in dieser Grundlosigkeit erst zu sich selbst kommt und – anders als bei Hegel – auch in Krisen- oder Umbruchszeiten, in denen die Ordnung ihre Geltung einbüßt, nicht völlig ihre Orientierung verliert. Ebenfalls anders als bei Hegel, der die Freiheit als Realisierung der Unendlichkeit des Subjekts begreift (s. o. Kap. I und Kap. II), bleibt die Freiheit des Subjekts bei Levinas endlich. Levinas hat nicht die Phantasie, dass das Subjekt vollständige Selbsttransparenz erlangen und nur sich selbst erfahren könnte (s. o. Kap. I und Kap. IV). Denn das hieße, ein Subjekt zu denken, das keinem genuin Anderen begegnete (vgl. Kap. V). Andersherum bedeutet die wirkliche Pluralität, dass das, was Hegel das Tragische nennt, nicht überwunden wird. Es erscheint vielmehr in einer veränderten Form: Nicht als die Kollision gleichermaßen berechtigter Prinzipien (s. o. Kap. IV.1.1), sondern als die unvermeidliche Gewaltsamkeit eines Handelns, das nie jedem Einzelnen gerecht zu werden vermag und das dennoch in der unablässigen Bemühung um Gerechtigkeit seinen Sinn hat. Der kantischen These, dass sich das Subjekt nie seiner eigenen Motive sicher sein kann, fügt Levinas hinzu, dass es sich nie sicher sein kann, richtig geurteilt und das Richtige getan zu haben. Diese Ungewissheit ist in Levinas’ Augen kein Mangel, denn sie ist konstitutiv für Gerechtigkeit. Derjenige, der sich gerecht wüsste, wäre es schon nicht mehr (vgl. TH 16). VII.2.2  Der Anspruch des Anderen als Inspiration der Kritik am Gegebenen

Der Staat und seine Institutionen haben bei Levinas die zweideutige Stellung, für die Gerechtigkeit notwendig und zugleich selbst ungerecht und gewaltsam zu sein. Eine endgültige Aufhebung des Widerspruchs zwischen Allgemeinheit und Besonderheit, wie Hegel sie denkt, ist für Levinas grundsätzlich nicht möglich. Vielmehr ist die gerechte Ordnung notwendig ungerecht, weil das Ethische nie im Politischen aufgeht. Die instituierte Gerechtigkeit – das Recht – muss deshalb im Namen der Gerechtigkeit kontrolliert, kritisiert, modifiziert und überschritten werden. Die vor-ursprüngliche Verantwortung fordert so nicht nur die Gerechtigkeit und den Staat als ihre Institutionalisierung, sondern sie fungiert zugleich auch als ihr Maß und als Grenze des Staates (vgl. Bernasconi 1988b, 236 ; Ciaramelli 1995, 88 ; Delhom 2010, 138 ; Delhom/Hirsch 2007, 8 f., 30 ; Mosès 2004, 335 ; Peperzak 2000, 164). Um Ungerechtigkeit zu erkennen und den Staat zu begrenzen, bedarf es der unablässigen Wachsamkeit und des Einsatzes von



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Subjekten. Ihr Widerstand gegen das Recht und die Institutionen unterscheidet sich jedoch in signifikanter Weise von der von Hegel kritisierten Figur des formellen Gewissens. Denn er richtet sich nicht gegen das Allgemeine, sondern erfüllt dessen innerstes Anliegen. Ausgehend von Levinas’ Gewissenskonzeption werden eine Kritik und ein Widerstand denkbar, der die instituierten Verhältnisse nicht zerstören, wie Hegel dies befürchtet, sondern sie – im Gegenteil – lebendig halten und befördern. Obwohl Levinas’ Charakterisierung der Subjektivität als an-archisch dies nahezulegen scheint, zielt seine Theorie auf keinen politischen Anarchismus ab. Levinas will den Staat nicht abschaffen. Denn um den Ansprüchen der vielen Anderen bestmöglich gerecht zu werden, braucht es das Recht und die soziale Ordnung. Sie müssen lediglich davor bewahrt werden, totalitär zu werden. Das Gleiche gilt für die Verantwortung: Würde die Anarchie herrschend werden, wäre dies der Garant ihrer Degeneration. Gerade nur in der Spannung zwischen Ethischem und Politischem wird es möglich, ein kritisches Verhältnis zwischen Individuum und sittlicher Ordnung zu denken, das nicht zur Identität verschmilzt. Weil Hegel das Subjekt aus dem Verhältnis von Partikularität und Allgemeinheit begreift, kann diesem keine Eigenständigkeit oder Substanzialität gegenüber den universalen Strukturen zukommen (s. o. Kap. IV.2). Dies ist bei Levinas grundsätzlich anders, weil das Individuum seine Bedeutung nicht von den sittlichen Verhältnissen her gewinnt, sondern diese ihren Sinn und ihre Berechtigung von der Verantwortung für den Anderen her erhalten (vgl. Drabinski 2005, 197). Entsprechend sind die sittlichen Verhältnisse bei Levinas nicht der letzte Horizont der Reflexion über Recht und Unrecht. Das ethische Urteil geht nicht aus der Anwendung der Grundsätze der Sittlichkeit hervor (s. o. Kap. II), sondern schließt vielmehr die Kritik der gegebenen sittlichen Verhältnisse selbst mit ein (vgl. Delhom/Hirsch 2007, 33). Denn das Subjekt kann gegen das Leiden des Anderen Einspruch erheben. Dieses Leiden ist nicht als ontologische Notwendigkeit – »Sachzwänge« – zu rechtfertigen. Das Ethische hat das Potential einer Kritik, die gänzlich unmittelbar an die Verhältnisse herantreten kann, ohne bloß äußere Kritik zu sein, da doch das Ethische die Inspiration des Politischen ist. Der Staat ist für Levinas kein Selbstzweck (vgl. Delhom 2010, 129). Er kann sich in seiner Autorität nicht selbst begründen, sondern erhält seine Legitimation aus einer Sphäre, die ihm nicht untersteht (vgl. Bedorf 2003, 90 ; Delhom/Hirsch 2007, 33 f.): der ethischen Beziehung. Diese bildet gleichsam ein Außerhalb des Staates im Staat selbst (vgl. Derrida 1999, 76) – eine Bedeutungsdimension, die dem Staat unverfügbar ist, die er aber nicht ignorieren kann, ohne sich zu delegi­ timieren. Denn der Sinn der Gesetze ist die Wahrung des Anspruchs des Anderen, der sich in den Menschenrechten abzeichnet. Levinas behauptet damit

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gleichzeitig die Untrennbarkeit von Recht und Gerechtigkeit, Legalität und Legitimität, und hält eine Differenz zwischen ihnen offen. Damit wird zugleich eine Unterscheidung zwischen der eigensinnigen Besonderung des Individuums und seinem berechtigten Einspruch und Widerstand gegenüber dem, was dem Anderen nicht gerecht wird, möglich. Mit der Theorie des Dritten wird deutlich, dass sich die Kritik des Rechts im Namen der Gerechtigkeit und der Widerstand gegen die Ungerechtigkeit zwar äußerlich betrachtet gegen das Allgemeine richten, ihm tatsächlich aber dienen. Sie erinnern den Staat an seinen Zweck, den Anspruch des Anderen zu wahren, und unterstützen ihn damit in seinem ursprünglichen Anliegen. Umgekehrt trägt derjenige, der sich lediglich den sittlichen Verhältnissen anpasst, wie Hegel es will, zur strukturellen Unterdrückung und Ungerechtigkeit bei ; er dient dem Allgemeinen nur scheinbar. Allerdings richtet sich eine Kritik im Namen der Gerechtigkeit auch nicht gegen die Konkretheit der Institutionen wie die absolute Freiheit, die Hegel vor Augen steht (vgl. Kap. II). Die Singularität des Gesichts mit der Allgemeinheit der Gesetze zusammenzudenken erfordert vielmehr die Doppelstellung des Subjekts, eine Ordnung zu schaffen, die es zugleich überschreitet: Levinas argues that there is a sense in which one must fight for the equality, reciprocity, and symmetry of justice, while at the same time critiquing it from the standpoint of the call of the other. […] It requires thinking the universal together with the unique and unsubsumable particular, creating systems while critiquing systems, fighting for symmetry only because of the asymmetry of my responsibilities (Roberts-Cady 2009, 249).

Subjektivität erweist sich so als doppelt gebrochene. Heimgesucht durch Ansprüche, die es von vorneherein enteignen, nötigt die Anwesenheit Dritter das Subjekt dazu, nicht einfach für den Anderen zu sterben (s. o. Kap. VI.3.2), sondern sich in einer konkreten Antwort, dem ethischen Urteil, selbst zu ergreifen (Delhom 2000, 61 ; Flatscher 2016, 147). Dieses Urteil ist jedoch selbst schon wieder von der Andersheit des Anderen unterlaufen. Die gegenläufige Bewegung von Ich und Sich, in der das Ich immer weiter von sich selbst abgetrieben wird, was ich als die spezifische Dynamik von Bewusstsein und Gewissen erläutert habe (s. o. Kap. V und Kap. VI), ist so von der Pluralität der Anderen und der irreduziblen Spannung zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit her zu verstehen. In dieser Spannung zwischen Singularität und Allgemeinheit wird die sonderbare Dynamik des Gewissens – »je gerechter ich bin, desto schuldiger bin ich« (JS 249) – erst eigentlich verständlich (s. o. Kap. V.3.2). Levinas hat damit der Gefahr, die bei Hegel darin liegt, dass letztlich alles, was ist, auch gerechtfertigt ist, weil es seinen Platz in der dialektisch-teleologischen



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Entwicklung hat, etwas entgegen zu setzen, ohne in das andere Extrem einer Position zu verfallen, in der die Freiheit die sittliche Ordnung zerstört.33 Gerecht sind dabei für ihn weder reale noch ideale Institutionen, sondern die Korrektur der existierenden Institutionen im Namen der Gerechtigkeit. Entsprechend gilt es, eine in sich gegenläufige Bewegung der gleichzeitigen Instituierung des Allgemeinen und seiner Überschreitung zu vollführen. Keine Revolution darf sich in der Ordnung einrichten, die sie schafft ; sie vollführt nur ihren Zweck, wenn sie die im Namen der Gerechtigkeit instituierte Ordnung im Namen der Gerechtigkeit transzendiert. Während die Besonderung des Individuums gegen das Allgemeine in Hegels Augen böse ist (s. o. Kap. II.2), erkennt Levinas, dass sie zuweilen ethisch notwendig sein kann (vgl. Abensour 2005, 52). Dabei mögen die Entscheidungen und Handlungen des Subjekts von außen nicht immer von Hegels formellem Gewissen zu unterscheiden sein (vgl. Cohen 1986, 2) – was immerhin dafür spricht, dass es beiden um das gleiche Phänomen geht. Aber die Haltung des Subjekts ist eine grundsätzlich andere. Während Hegel das formelle Gewissen als eine Figur überzogener Selbstgewissheit darstellt, zeichnet sich das ethische Subjekt bei Levinas dadurch aus, dass es für jeden Anderen empfänglich bleibt. Gerecht ist in diesem Sinne ein Mensch oder ein Staat, der durch das Bewusstsein angeleitet ist, dass die Gerechtigkeit, für die er sich einsetzt, noch ungerecht ist, und der bereit ist, seiner eigenen Ungerechtigkeiten gewahr zu werden und sie zu korrigieren (vgl. Atterton/Calarco 2005, 79). Levinas beschreibt damit eine Haltung, die Hegels Darstellung der Gewissen in der Versöhnungsszene in der Phänomenologie des Geistes ähnelt (vgl. Kap. III). Anders als bei Hegel muss diese Haltung bei Levinas aber nicht politisch folgenlos bleiben (vgl. Kap. III und Kap. IV). Denn die sittlichen Verhältnisse gehen nicht aus der notwendigen Entwicklung ontologischer Strukturen hervor, sondern werden von den Subjekten gestaltet. VII.2.3  Ontologie und Gerechtigkeit

Das Gute, wie Levinas es denkt, bleibt jenseits des Seins. Es kann niemals in der Sittlichkeit instituiert werden. Damit bleibt das Streben nach Gerechtigkeit, das das Gute zu verwirklichen sucht, konstitutiv auf eine Andersheit bezogen, die keine Ordnung in sich aufheben kann. Und wenn Hegel moniert, dass derjenige, der die Wirklichkeit überspringt, zu keiner kohärenten Konzeption des Guten 33 Es ist allerdings Bernhard Waldenfels zuzustimmen, dass Levinas’ eigene Ordnungskritik nicht zwischen verschiedenen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Ordnungen differenziert und von daher unbestimmt bleibt (vgl. Waldenfels 2005e, 236 f.).

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kommt (s. o. Kap. II), so setzt Levinas dem entgegen, dass ein Denken, das einzig von der Wirklichkeit ausgeht, zu keiner Konzeption des Guten kommt. Dabei geht es auch Levinas nicht um ein Spekulieren über bloße Möglichkeiten. Aber er widerspricht der Identifikation von Wirklichkeit und Vernunft. Denn das Leiden der Schwachen manifestiert sich nicht in der Geschichte ; es stellt nur für das Gewissen einen »Widerspruch« dar – einen Widerspruch, der zudem nicht dialektisch in eine höhere Einheit »aufgehoben« werden kann. Das Leiden des Anderen macht es vielmehr erforderlich, seinen Hunger zu stillen und ihm in seiner Not beizustehen. So erteilt nicht die Geschichte das letzte Urteil über die Taten der Menschen, sondern diese entscheiden im Angesicht der Anderen über das Gegebene. Hegel versucht in seiner Rechtslehre Macht und Gerechtigkeit zusammenzudenken, indem er das Wirkliche und das Vernünftige identifiziert (s. o. Kap. IV). Entsprechend ist das, was sich durchsetzt, auch das Gerechte. Die Überzeugung des Gewissens selbst wird letztlich durch das Urteil der Weltgeschichte bewahrheitet. Wie ich gezeigt habe, sanktioniert Hegel damit nicht einfach das Faktische (vgl. ebd.). Er kann das Gewissen, die Sittlichkeit und den Staat in der Weltgeschichte fundieren, weil er diese selbst als logisch verfasst versteht. Durch die Handlungen der Subjekte hindurch, aber gleichsam hinter ihrem Rücken, realisieren sich die ontologisch notwendigen Strukturen (s. o. Kap. IV.2.3). Die menschlichen Subjekte sind so Instrumente der Vernunft, die zwar für die Genese dieser Strukturen notwendig sind, sie aber nicht im eigentlichen Sinne gestalten. Das verhält sich bei Levinas grundsätzlich anders. Levinas mag nicht darauf vertrauen, dass  – zumindest mit der Zeit  – das Vernünftige wirklich und das Wirkliche vernünftig sein wird. Er widerspricht deshalb dem Kurzschluss von Wirklichkeit und Geltung, den Hegel faktisch vollzieht, indem er das gewissenhafte Urteil der Einzelnen in der Weltgeschichte gründen lässt (s. o. Kap. IV). Denn nicht das Bestehen einer Institution rechtfertigt diese schon. Rechtfertigung erfolgt vielmehr vor Anderen und im Hinblick auf die Menschenrechte. Entsprechend manifestiert sich in der Objektivität nicht ontologische Notwendigkeit, sondern ethische Notwendigkeit und ethische Unmöglichkeit (s. o. Kap. V). Die konstitutiv unabgeschlossene Gerechtigkeit, die Levinas von der vor-ursprünglichen Verantwortung für die Anderen her denkt, steht quer zu dem Gedanken eines Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit, wie Hegel ihn vertritt. Es gibt kein immanentes Voranschreiten durch die Entwicklung immanenter Widersprüche, sondern das Neue kommt von außen, aus der Extra-Territorialität im Staat selbst. Dabei stellt es für Levinas weder einen Widerspruch dar, die politische Geschichte anzuerkennen (vgl. Herzog 2020, 120), noch er muss leugnen, dass es bessere und schlechtere Institutionen gibt. Aber der Anschein ihrer



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Notwendigkeit ergibt sich höchstens nachträglich und es gibt keine Vollendungsgestalt, weil es keiner Ordnung gelingt, ihr Außen aufzuheben. Eine zentrale Schwierigkeit für einen Ansatz, der in dieser Weise eine Differenz zwischen der Wirklichkeit und dem Guten einzieht, liegt in dem Verhältnis von Gerechtigkeit und Macht. Denn einerseits bedarf die Gerechtigkeit der Macht und es ist ethisch gefordert, dass sie diese ausübt, um die Ansprüche des Anderen zu wahren. Der Gerechte muss mächtig sein, damit das Böse unterliegt. Jedoch ist das Verhältnis der Gerechtigkeit zur Macht aporetisch. Denn eine Gerechtigkeit, die gewaltsam durchgesetzt wird, verkehrt sich in ihr Gegenteil. Indem sie den Ungerechten mit Gewalt unterwirft, handelt sie ihrem eigenen, genuinen Anliegen zuwider und zerstört sich damit selbst. In eben diesem Dilemma befindet sich auch der gerechte Staat: Entweder er erlaubt den Feinden der Demokratie, durch demokratische Verfahren an die Macht zu kommen, oder er versucht dies zu verhindern, indem er Vorkehrungen trifft und die demokratischen Verfahren aussetzt. Aber der Staat, der gewaltsam gegen Ungerechtigkeit und Gewalt vorgeht und dabei totalitär wird, wird selbst ungerecht. Die gewaltsame Durchsetzung der Gerechtigkeit markiert ein Versagen des gerechten Staates. In diesem Sinne bewegt sich der Staat zwischen der Gefahr der Auflösung und der Gefahr, ungerecht zu werden, gerade dann, wenn er erfolgreich darin ist, seine Prinzipien durchzusetzen (vgl. Herzog 2020, 482). Beide sind potentiell zerstörerisch für Gerechtigkeit und Freiheit (vgl. Patton 2007, 773). Vor diesem Dilemma stehen sowohl Hegel als auch Levinas. Hegel wählt letztlich den Weg, jene Tendenzen, die sich gegen das Allgemeine stellen, einzuhegen. Er versucht dabei den Totalitätscharakter des Staates durch seine vernünftige Gestalt abzufedern, in der Freiheit allererst realisiert sein soll (vgl. Kap. II). Levinas stellt sich nicht einfach auf die andere Seite. Aber er sucht eine Figur zu artikulieren, in der die Totalität aus sich selbst heraus zu keiner Schließung kommt. Übersetzt heißt dies, dass der Staat sich, ebenso wie das Subjekt, im Kampf gegen die Ungerechtigkeit seiner eigenen Ungerechtigkeit bewusst bleiben muss. Zu meinen, dass die Durchsetzung der Gerechtigkeit jedes Mittel rechtfertigen könnte, bedeutet entsprechend, das »Prinzip« der Gerechtigkeit selbst, die Verantwortung, zu verraten. Wo aber die Grenze liegt zwischen der Verteidigung der Gerechtigkeit und ihrer Selbstzerstörung, lässt sich nicht in prinzipieller Weise klären. Levinas schließt auch den bewaffneten Konflikt nicht aus. Allerdings bleibt der gerechte Krieg nur gerecht, wenn derjenige, der ihn führt, vor seiner eigenen Gewalt zittert (vgl. JS 394). Die Spontanität, die von der Verantwortung her anhebt, darf sich nicht wieder in souveräne Selbstbehauptung verwandeln. Die Gerechtigkeit zu verteidigen ist mithin ein paradoxes Unterfangen, das nicht immer auf direktem Wege angegangen werden kann. Denn die Gerechtig-

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keit wäre nicht, was sie ist, wenn sie nicht auch die Ansprüche derer beachten würde, die ihr entgegentreten. Sie impliziert also eine Schwäche, die in ihrem »Prinzip«, der vor-ursprünglichen Verantwortung für den Anderen, verankert ist. Dabei ist ihr Selbstverzicht nicht ein Moment einer dialektischen Bewegung, die letztlich zur Totalität führt, sondern muss als ein wirkliches Sich-Aussetzen verstanden werden, das die Gefahr tatsächlicher Verletzung birgt. Denn »die Demokratie [deren Begriff für Derrida unlösbar mit der Gerechtigkeit verbunden ist, A.C.] schützt und erhält [sich], indem sie sich beschränkt und damit sich selbst bedroht« (Derrida 2003, 59). Diese Selbstbeschränkung kann kein Taktieren sein. Nur so bleibt die Gerechtigkeit, was sie ist: konstitutiv unabgeschlossen. VII.2.4  Demokratie-im-Kommen

Eine Gerechtigkeit, die von der vor-ursprünglichen Verantwortung für den Anderen anhebt, verwirklicht sich in einer Demokratie, die immer (noch) aussteht. Diese Demokratie-im-Kommen, wie Jacques Derrida sie nennt, drückt das im gerechten Staat vorhandene Verlangen aus, über die bereits instituierte Gerechtigkeit hinauszugehen. Sie meint aber mehr und anderes als eine Perfektibilität der Institutionen und Gesetze. Denn sie verweist auf die grundsätzliche Unabschließbarkeit der Gerechtigkeit. Eine Gerechtigkeit, die von der vor-ursprünglichen Verantwortung her gedacht wird, kann nie endgültig eintreten ; sie bleibt zukünftig oder »im Kommen« – nicht im Sinne der Moralität Kants, von der Hegel spöttisch bemerkt, dass sie nie erfüllt sein darf, um Bestand zu haben (vgl. PhG 446 f.), sondern aufgrund der Inkommensurabilität von Singularität und Allgemeinheit. Die Unabgeschlossenheit der Demokratie ist damit keine schlechte Unendlichkeit in Hegels Sinne, sondern sie verweist auf das konstitutive Ausstehen der Gerechtigkeit, in dem diese nur sie selbst ist. Mit dieser Figur, die die Beziehung von Totalität und Unendlichkeit aufnimmt (vgl. Kap. V) und direkt aus der an-archischen Struktur der Subjektivität hervorgeht (vgl. Kap. VI), unterläuft Levinas auf der Ebene der Ontologie und des Denkens die Vollendung des logisch-geschichtlichen Fortschritts und die Totalität des hegelschen Staates. Bei Hegel ist der Staat eine Vollendungsgestalt (s. o. Kap. II). In ihm sind die verschiedenen Bedürfnisse und Rechte in eine vernünftige Form gebracht und zu einer Totalität integriert. Der moderne Staat ist in Hegels Augen die Verkörperung des Absoluten, das sich in anderer Weise in der Selbsterfassung des Erfassens in der Phänomenologie und der Wissenschaft der Logik vollendet (vgl. Kap. I). Jenseits der Spannungen, die sich bezüglich Hegels Freiheitskonzeption ergeben (vgl. Kap. VI), stellt sich damit aufgrund von Hegels Engführung von logischer und historischer Entwicklung die Frage, was nach der vollständigen



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Synthese kommt (vgl. ebd.). Was macht der Weltgeist, nachdem Freiheit vollständig realisiert ist, nachdem also kein weiterer Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit mehr möglich ist, sondern nur ein Rückschritt ? Diese Frage lässt sich nicht einfach durch die Feststellung beiseiteschieben, dass die Eule der Minerva stets erst mit Anbruch der Dämmerung ihren Flug beginnt (vgl. GPR 28). Denn das Problem besteht nicht darin, dass Hegel über die Entwicklungen der nachfolgenden Zeiten Schweigen bewahrt ; es liegt vielmehr darin, dass sein System für uns Nachgeborene gar nichts mehr offen zu lassen scheint. Dieser Schließung, die prägnant in der These vom »Ende der Geschichte« (vgl. Fukuyama 1989) artikuliert ist, widerspricht Levinas. Denn der Staat als Vollendungsfigur kann in seinen Augen niemals gerecht sein. Die Gerechtigkeit als erreicht zu betrachten bedeutet, sich auf sich selbst zu schließen ; es heißt, mit dem Anderen schon fertig zu sein. Den Anderen als bekannt vorauszusetzen heißt aber gerade, ungerecht zu sein. Die Gerechtigkeit kann folglich nur gerecht sein, indem sie sich selbst als unabgeschlossen begreift, indem sie also offen bleibt für Ansprüche, die sie nicht kennt und antizipiert. Entsprechend kann sie sich nicht mit Gesetzen und Grundsätzen zufriedengeben, die immer das Eigene, Bekannte sind. Dass die Gerechtigkeit nie ist, sondern immer noch aussteht, dass ein Abschluss nicht erreicht werden kann, macht nicht den Mangel der Gerechtigkeit aus, sondern ist ihre positive Bestimmung. Begründet ist diese in der vorursprünglichen Verantwortung, die gleichzeitig die Bedingung der Möglichkeit und Bedingung der Unmöglichkeit der Gerechtigkeit ist (vgl. Derrida 2003, 82). Levinas setzt dem Staat als Vollendungsfigur mit seiner Konzeption der Gerechtigkeit eine Struktur entgegen, die zugleich die Schließung anstrebt und sie aus sich selbst heraus unterläuft. Dabei bedeutet die Beziehung zur Singularität, die die Gerechtigkeit daran hindert, sich in sich selbst zu schließen, das im-Kommen-Sein der Demokratie. Entsprechend kann die Demokratie nie voll realisiert sein (vgl. Critchley 1999c, 280 ; Rancière 2009, 275). Denn ihre Unabgeschlossenheit deutet nicht auf Widersprüche hin, die sich in der Grundbewegung aufheben, sondern steht für Aporien, die aus der prinzipiellen Nicht-Totalisierbarkeit hervorgehen. Der Staat ist niemals in der Lage, diese internen Spannungen und Widersprüche aufzuheben. Er ist nie gerecht ; und gerade indem er sich für gerecht hält, ist er ungerecht. Die Demokratie-im-Kommen impliziert damit eine Form der Zukünftigkeit, die anders zukünftig ist als eine Zukunft, die irgendwann zur Gegenwart wird. Die Gerechtigkeit ist nicht lediglich ungenügend und steht noch aus, sondern sie wird aufgrund der Inkommensurabilität der Ansprüche auch in keiner zukünftigen Gegenwart aktualisiert (vgl. Patton 2007, 772). Ihr Ausstehen ist als ein Moment der Zukünftigkeit im Jetzt-Moment selbst zu verstehen. Ebenso wie die unvordenkliche Vergangenheit an-archischer Subjektivität nicht eine Vergangen-

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heit ist, die so weit in der Zeit zurückliegt, dass das Subjekt sich ihrer nicht mehr erinnern kann (vgl. Kap. VI), liegt die Zukünftigkeit der Gerechtigkeit nicht in einer zukünftigen Zeit, die sich noch nicht antizipieren und vorhersehen lässt, sondern in der Offenheit und dem Versprechen im Jetzt-Moment selbst. Die Zukünftigkeit der Demokratie impliziert eine eigene Form der Normativität (vgl. Fritsch 2002, 574). Dabei leitet Levinas aus der vor-ursprünglichen Verantwortung kein ontisches Sollen ab. Aber die Unmöglichkeit der vollständigen Verselbigung strukturiert die Handlungen der Individuen in der Gegenwart, auch ohne regulative Idee im kantischen Sinne zu sein. Auch wenn wir ständig Bestimmtheiten setzen müssen, die die Zukunft schließen, können wir doch ihre Instabilität nicht vermeiden, die entsteht, weil sie sich einer letzten Schließung entziehen. Diese innere Spannung der Gerechtigkeit zwischen Allgemeinheit und Singularität ist der Motor von Veränderung im Hier und Jetzt. Die konstitutive Unabgeschlossenheit der Gerechtigkeit in der inneren Spannung zwischen Allgemeinheit und Singularität übersetzt sich in eine Kritik an jeder selbstgerechten und missbräuchlichen Position, die die Gerechtigkeit als eingetreten und gegenwärtig darstellen und so die von ihr ausgehende Forderung zum Schweigen bringen will. Sie erhebt genau dort Einspruch, wo die Diskurse über Menschenrechte und Demokratie zum obszönen Alibi verkommen, wenn sie sich mit dem entsetzlichen Elend von Milliarden Sterblicher abfinden, die der Unterernährung, Krankheit und Erniedrigung preisgegeben sind, die nicht nur in erheblichem Maße Wasser und Brot, sondern auch Gleichheit und Freiheit entbehren (Derrida 2003, 123). Die Figur der Demokratie-im-Kommen ist nicht nur das Pendant zum Staat als Vollendungsfigur, sondern denkt zugleich die Aufhebung der Zeit in der Versöhnung der Gewissen um (vgl. Kap. III). Hegel und Levinas denken beide eine Berührung des Endlichen mit dem Unendlichen, die sich nicht in ferner Zukunft, am Ende der Zeit, sondern im Jetzt-Moment selbst ereignet. Der gravierende Unterschied besteht jedoch darin, dass es sich bei Hegel um eine Erfüllung des Absoluten handelt, während Levinas eine Entzugsgestalt, eine Abwesenheit der Gegenwart von sich selbst, denkt. Die Demokratie-im-Kommen verweist auf eine Öffnung zwischen der Gegenwart und der Zukunft, die eine nicht vorhersehbare, berechenbare und planbare Zukunft denkbar macht ; eine Zukunft, die nicht von der Vergangenheit und Gegenwart präfiguriert und lediglich eine zu Verwirklichende ist. Die Arbeit für diese Zukunft basiert nicht auf der Überzeugung, dass ich sie vollbringen kann. Sie impliziert vielmehr ein Ausgesetztsein über die eigenen Möglichkeiten und das eigene Können hinaus.

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as Gewissen hat keine Konjunktur.1 Weder in der Öffentlichkeit noch in gegenwärtigen philosophischen Debatten spielt es eine nennenswerte Rolle. Der Grund für dieses Schweigen scheint mir darin zu liegen, dass das Gewissen mit dem Wegfall verbindlicher Ordnungen metaphysischer, kosmologischer oder religiöser Provenienz problematisch wird. Wenn die Vorschriften und Verbote des Gewissens nicht länger in einer unbezweifelbaren Ordnung verankert sind, werden sie suspekt. Rein psychologisch verstanden, wie dies im Anschluss an seine beiden prominentesten Kritiker, Nietzsche und Freud, der Fall ist, verliert das Gewissen seine besondere Würde und erscheint vielmehr als Zwangsgestalt: Es bindet das Subjekt durch sich selbst an kontingente Normen und Werte, verstellt die rationale Reflexion und schränkt seinen Träger erheblich ein. So erscheinen die Hemmungen und Skrupel, die man hat, als etwas, das man besser ablegen und überwinden sollte, weil es einen unfrei macht. Es ist unzeitgemäß, ein Gewissen zu haben. Und für den Fall, dass man doch mit einem ausgestattet ist, redet man besser nicht darüber. Dieser Auffassung, dass das Gewissen rein psychologische Bedeutung hat und in unserer heutigen Zeit obsolet ist, trete ich mit der vorliegenden Arbeit entgegen. Ich denke, dass das Gewissen für Subjektivität unverzichtbar ist. Wie Kant, ein anderer prominenter Theoretiker des Gewissens, es vertritt, macht das Gewissen die Möglichkeit des Subjekts aus, verbunden zu werden. Mit dem Verzicht auf das Gewissen geht etwas verloren, auf das jede Theorie, die mit vernünftigen Akteuren rechnet, schon rekurriert. Die schwierige Frage ist jedoch, wie man diese Verbindlichkeit zu verstehen hat, wenn man nicht auf eine gottgegebene sittliche Ordnung oder ein Faktum der Vernunft rekurrieren will. Entsprechend habe ich, um den Begriff des Gewissens zu rehabilitieren, eine Konzeption desselben herausarbeitet, die seine subjektkonstitutive Funktion erfasst, ohne es in seiner problematischen Gestalt wiederzuerwecken. Dies gelingt unter Rückgriff auf einen Autor, der bislang kaum mit dem Gewissen assoziiert wurde: Emmanuel Levinas. Mit Levinas wird das Gewissen in seiner wahren Bedeutung sichtbar. Entscheidend ist dabei, dass Levinas völlig davon absieht, die Verbindlichkeit bestimmter Inhalte zu behaupten, die als solche stets fragwürdig und umstritten sein müssen. Er trennt vielmehr die unbedingte Verbindlichkeit, die den eigent1

Diesen Satz übernehme ich aus dem Gutachten meines Zweitgutachters, Thomas Bedorf.

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lichen Kern des Gewissensphänomens ausmacht, von der Beantwortung normativer Fragen. Das Gewissen ist die Erfahrung eines Anspruches des anderen Menschen. Dieser schreibt nicht schon eine bestimmte Handlung vor, sondern fordert, den Anderen nicht zu schädigen und ihm Beistand zu leisten. Diese Forderung, das Tötungsverbot, betrifft das Subjekt, bevor es ein Ich ist. Sie gibt dem Subjekt keine Handlungsanweisungen, sondern ruft es in die Existenz. Der Anspruch des Anderen hat als solcher kein Sein, aber er manifestiert sich dort, wo ein Mensch für den Anderen einsteht und ihn schützt, obwohl er damit sich selbst und sein eigenes Glück gefährdet. Ein solches Handeln wird nie ohne Rücksicht auf die bestimmten Gegebenheiten des sittlichen Kontextes auskommen, aber das Gewissen transzendiert diese und geht nicht in ihnen auf. Levinas beschreitet damit einen Weg, auf dem Heidegger vor ihm Entscheidendes geleistet hat. Denn auch Heidegger fasst das Gewissen nicht als Quelle von Ge- und Verboten auf, sondern versteht es formal. Das Gewissen steht bei ihm für einen unbedingten Anspruch, der aus der Struktur der Existenz selbst ergeht und das Individuum auffordert, sich selbst zu ergreifen. Damit erfasst Heidegger eine wichtige Intuition, die wir bezüglich unserer Existenz haben. Der Anspruch, den er artikuliert, hat auch normative Implikationen für unsere Lebensführung. Allerdings ist zweifelhaft, ob das, was Heidegger herausarbeitet, wirklich das Gewissen ist, da die Rücksicht auf Andere, die doch für dieses Phänomen zentral ist, in Heideggers Konzeption nur vermittelt durch das Selbstverhältnis des Individuums Eingang findet, das selbst in keiner Objektivität abgestützt ist. Die Bedeutung, die das Gewissen für die Vermittlung des Einzelnen mit der Gemeinschaft hat, geht hier verloren. Entsprechend deutet Levinas den Anspruch, der bei Heidegger aus der Struktur der Existenz hervorgeht, in einen unbedingten Anspruch um, der vom Anderen ausgeht. So ist die Berücksichtigung Anderer nicht in das eigene Selbstverhältnis eingeschrieben, sondern die Möglichkeit, ein Verhältnis zu sich selbst zu haben, ist, im Gegenteil, von dieser unbedingten Verbindlichkeit her zu denken. Levinas denkt, dass keine Erfahrung, keine geschichtliche Entwicklung und keine Reflexion uns moralisch machen könnte, wenn wir nicht schon solche wären, die vor-ursprünglich in Beziehung zum Unendlichen stehen, die also vom Anderen affiziert sind, bevor sie überhaupt ein Ich sind. Welches immer die Regeln und Gesetze des sittlichen Lebens an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten sind, ist der Umstand, dass wir überhaupt verbindbar sind, irreduzibel. Er macht einen Wert des singulären Individuums aus, der keiner Begründung bedarf und auch keiner fähig ist. Wie auch Heidegger unterläuft Levinas mit seiner Konzeption des Gewissens jedes Begründungsdenken. Die Affektion durch den Anderen als die Quelle aller Verbindlichkeit kann selbst nicht begründet werden, weil sie die Sphäre rationa-



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len Begründens allererst eröffnet. Sie kann auch nicht zum Grund werden, weil sie dem Denken und dem Sein inkommensurabel ist. Dennoch bleibt das Gewissen nicht wirkungslos. Das Gewissen entfaltet praktische Wirkung, weil das Subjekt nicht nur von einem einzigen Anderen beansprucht wird. Die Pluralität der Anderen macht eine Abwägung ihrer konfligierenden Ansprüche notwendig, die das Subjekt dazu nötigt, sich selbst im ethischen Urteil zu ergreifen. Da der Anspruch des Anderen in keiner bestimmten Antwort aufgeht, hebt vom Gewissen her eine in sich gegenläufige Bewegung an, nach Gerechtigkeit zu streben und im selben Zuge jede erreichte Ordnung in ihrer Absolutheit in Frage zu stellen. So zeigt Levinas nicht nur die spezifische Struktur ethischen Handelns auf, sondern er liefert zugleich den Ansatz dafür, eine soziale Ordnung zu denken, die nicht auf normative Begründungen zurückgreifen muss, ohne deshalb beliebig zu sein. Ich denke, dass die Empfänglichkeit für den Anderen, die Levinas freilegt, uns eine Weise gibt, heute, d. h. nach Autoren wie Nietzsche, Freud, Marx und Althusser, die den Glauben an gottgewollte Ordnungen ebenso wie das Vertrauen in die Rationalität menschlicher Akteure erschüttert haben, das Gewissen zu denken. Dieser Gewissensbegriff kann erst zu einem bestimmten historischen Moment sichtbar werden, nämlich dann, wenn sich sowohl das Begründungs­denken als auch der bloße Bruch damit als normativ ungenügend erwiesen haben. Levinas hebt die gesamte Diskussion auf eine neue Ebene, indem er den an-archischen, me-ontologischen Status der Subjektivität herausarbeitet und das Gewissen als jene absolute Orientierung sichtbar werden lässt, die die Bedingung jeder Ordnung ist, ohne in irgendeiner aufzugehen. Damit fügt er sich in gewisser Weise in die Reihe historisch-logischer Bewusstseinsgestalten ein, die Hegel, der zweite Autor, den ich in dieser Arbeit eingehend behandelt habe, herausarbeitet. Aber Levinas transzendiert Hegels Entwicklungsgeschichte des Geistes zugleich. Denn das Gewissen, das bei Levinas angelegt ist, ist nicht einfach nur eine weitere Gestalt in der Reihe, sondern es stellt eine mit Hegels dialektisch-teleologischem Fortschrittsdenken grundsätzlich unvereinbare Gegenkonzeption dar. Die Originalität von Levinas besteht darin, Subjektivität im Ausgang von einer Andersheit zu denken, die sie nie in sich einholen kann und die damit die Bewusstseinstotalität unterläuft, ohne erneut in einen dialektischen Gegensatz mit ihr zu geraten.2 Levinas invertiert damit die Gestalt von Hegels absolutem 2 Anders als Silvia Benso, die annimmt, dass Levinas Hegel nicht konfrontiert und sich ihm gegenüber nicht positioniert (vgl. Benso 2007, 326), denke ich, dass gerade diese für das Denken paradoxe Figur, die sich nicht in die Totalität integrieren lässt, die einzige Weise ist, Hegel zu widersprechen, ohne selbst in der Dialektik zu stehen und sie so unversehens zu bestätigen.

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Wissen: Während Hegel am Ende der Phänomenologie zu einer Bewusstseins­ gestalt gelangt, die die Reihe der Gestalten beschließt und als deren Aufhebung zugleich keine Bewusstseinsgestalt mehr ist, legt Levinas die Ausgesetztheit an den Anderen als die unvordenkliche Bedingung aller Gestalten frei. Diese Denkfiguren lassen sich nicht bruchlos integrieren ; sie bleiben notwendig unvermittelt. Es lässt sich jedoch noch mehr über ihren Zusammenhang sagen. Die Affektion durch Andersheit – das Gewissen – hat kein Sein. Sie wird zum Phänomen nur, indem sie ausgedrückt wird und sich in einer konkreten Antwort manifestiert. Entsprechend konnte das Gewissen im Laufe der Geschichte in ganz unterschiedlicher Weise verstanden werden: als Mitwissen mit dem eigenen Handeln, als göttlicher Befehl, als innerer Gerichtshof, als absolute Gewissheit, als Grundsatzwissen oder als Verinnerlichung sozialer Vorschriften und Verbote. Alle diese Gewissensphänomene und -konzeptionen von Sokrates über Kant und Hegel bis hin zu Nietzsche und Freud sind also Deutungsweisen des vor-ursprünglichen Anspruchs des Anderen. In ihnen wird der eigentliche Sinn des Gewissens mehr oder weniger verstellend zum Ausdruck gebracht. Auch Hegels Gewissensbegriff ist als eine solche Deutung zu verstehen. Er nimmt dabei jedoch eine besondere Stellung ein. Denn Hegel bringt zum Ausdruck, was von dem Anspruch des Anderen auf der Ebene der begrifflichen Reflexion artikuliert werden kann. Gerade dort, wo – dem telos des Begriffs entsprechend, alteritätslose Selbstheit herzustellen  – alle Differenz abgearbeitet ist – der Figur des Gewissens in der Phänomenologie des Geistes –, stößt Hegel auf die Irreduzibilität des Anderen. Er kommt damit der Wahrheit des Gewissens so nahe, wie dies auf der Ebene des Denkens und der Ontologie überhaupt nur möglich ist. Die ethische Vorgeschichte des Subjekts, die Levinas in einer unvordenklichen Vergangenheit verortet, erscheint so in einem Höhepunkt der Phänomenologie, der Versöhnungsszene. In dieser Szene rekonstruiert Hegel begrifflich, was Levinas als die nicht-begriffliche Bedingung des Begrifflichen ausweist. Die Versöhnungsszene der Gewissen bildet den Abschluss einer ganzen Reihe von misslingenden Versuchen, die Besonderheit des Einzelnen mit der Allgemeinheit zu vermitteln. Diese Problematik wird überwunden, indem jedes der beteiligten Subjekte sich vor dem Anderen zurücknimmt und auf die Definitionsmacht verzichtet. Aus der Anlage der Phänomenologie wird ersichtlich, dass diese Versöhnung, in der sich die Anerkennungsbewegung vollendet, für Hegel immer schon vor dem Hintergrund einer geteilten Sittlichkeit stattfindet. Verzeihen ist möglich, weil es einen Rechtsrahmen gibt, in dem Verbrechen geahndet werden. Dennoch wird spürbar, dass dieser sittliche Kontext selbst von der zwischenmenschlichen Beziehung her zu denken ist. Hegel zeigt sich in der Gewissensdialektik beinahe als Personalist, für den einzig die anderen menschlichen



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Subjekte alle Wirklichkeit haben. Jedenfalls tritt der Andere hier in einer Weise auf, wie dies etwa bei Kant nie der Fall sein kann.3 Die Versöhnung der Gewissen markiert ein Moment der Transzendenz, die Hegels philosophisches System überschreitet. Die Einzelnen stellen sich über das Gesetz, um den jeweils Anderen in seiner Irreduzibilität anzuerkennen. Dieser Verzicht des Begriffs auf sich selbst stellt einen Übergang dar, der nicht mehr dialektisch verfasst ist. Der sich selbst über sein eigenes Erfassen erhebende Geist wird von Hegel als ein Ereignis verstanden, das zwar notwendig eintritt, das er aber für unableitbar erachtet. Eine Parallele hat diese Stelle nur im Übergang von der Wissenschaft der Logik in die Naturphilosophie, den Hegel als einen Selbstverzicht der Idee beschreibt. Hier scheint das Innerste des Geistes auf, das aber nur als Ursprung und Grenze der Systematizität besteht. Die außerordentliche Bedeutung dieser Stellen sieht Hegel. Anders jedoch als Levinas, der sich gleichsam mitten in diese Stellen hineinstellt und sie zum Zentrum seiner Untersuchungen macht, von dem her alles andere neu zu denken ist, bleiben sie bei Hegel nur in ihrer unergründbaren Tiefe und Faszination stehen. Letztlich wird so die Überschreitung des Systems im System wieder zum Verschwinden gebracht. Dies zeichnet sich etwa darin ab, dass die Versöhnungsszene nicht den Keim zu einer weiteren logischen oder sittlichen Entwicklung in sich trägt. Obwohl mit der Aufgabe der Definitionsmacht ein Moment der Indeterminiertheit entsteht, geht hier nichts Neues in die Entwicklung der ontologischen Struktur der Wirklichkeit ein. Man sollte dies Hegel nicht zum Vorwurf machen. Es zeugt vielmehr von seiner Einsicht in den irreduziblen Charakter jener Stellen, die aus dem System herausragen, dass er nicht versucht, sie noch einmal mit dem System zu vermitteln, sondern sie in ihrer Spannung mit der Systematizität bestehen lässt. In der Versöhnungsszene kommt Hegel Levinas so nahe wie nirgendwo sonst. Die Generosität des freien Entlassens, die auch den erwähnten Übergang von der Logik zur Naturphilosophie ausmacht, steht im Gegensatz zu einer Selbstsucht, die auch Levinas bekämpft. Dennoch ist Versöhnung nicht Substitution. Denn auf der Ebene der Reflexion geht notwendig der Anspruch des Anderen verloren. Das freie Entlassen des Anderen, in dem beide Subjekte ihre Freiheit realisieren, ist nicht ein Vor-jeder-Initiative-von-ihm-beansprucht-Sein. Denn ein Subjekt, das in dieser Weise vom Anderen beansprucht ist, kann sich nicht von ihm freihalten. Was hier stattfindet, ist nicht ein Verzicht auf die Macht als Vollendung der Macht, sondern ein Sich-Ergreifen von einer vor-ursprünglichen Enteignung 3 Für Kant ist Verpflichtung immer Verpflichtung gegen sich selbst. Zwar gibt die Zweckformel des Kategorischen Imperativs an, dass Andere niemals nur als Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck behandelt werden dürfen, aber die Verbindlichkeit dieses Grundsatzes geht nicht aus der intersubjektiven Beziehung hervor, sondern gründet in der Selbstachtung des moralischen Subjekts.

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her. Das hineni, »hier bin ich/sieh mich«, ist kein »Ja« zu einem schon geteilten Geist. In diesem Sinne hat die begriffliche Wiedergewinnung des Anderen ihre unvordenkliche Bedingung immer schon verfehlt. Levinas weist die Vorstellung zurück, dass das Individuum sich selbst gehört. Wir sind uns selbst in unserem Gewissen vor-ursprünglich enteignet. Diese Enteignung entfremdet uns nicht, sondern sie individuiert uns in absoluter Weise. Ich bin jemand, weil das Leiden des Anderen mich angeht und fordert. Die Bindung an den Anderen ist das Innerste, Eigenste des Subjekts. Der Andere ist mir darin paradoxerweise näher, als ich es selbst mir bin. Diese Nicht-Indifferenz gegenüber dem Anderen bringt die Übertragung der Innerlichkeit in ein begriffliches Register zum Verschwinden – auch wenn es Hegel – scheinbar ähnlich – darum geht, verständlich zu machen, dass die Rechte Anderer das Subjekt nicht begrenzen, sondern ihm in seine eigene Struktur eingeschrieben sind. Aber die Struktur dieser Einschreibung des Anderen in das Subjekt ist eine grundlegend andere. Menschliche Subjektivität zeichnet sich dadurch aus, dass sie fähig ist, ihren naturhaften Egozentrismus zu überwinden. Hegel interpretiert diese Fähigkeit als eine Ausweitung des Selbst. Das ursprünglich punktförmige Selbst gelangt durch eine Reihe von Transformationen und Konversionen dazu, seine ursprünglichen Triebe und Bedürfnisse derart umzubilden und zu modifizieren, dass es den Staat und die sittliche Substanz als sein eigenes Wesen begreift. Das richtig verstandene Interesse des Subjekts schließt so das sittliche Ganze ein, für das es zur Not sein Leben lassen würde. Es wäre verfehlt, ein solches Individuum des bloßen Egoismus zu bezichtigen. Aber diese Identifikation mit der Sittlichkeit ist in Levinas’ Augen immer noch naturhaft verfasst. Das Ethische kann für ihn nie aus der Selbstbezüglichkeit des Subjekts hervorgehen. Entsprechend denkt er mit der absoluten Identität des Subjekts, dem Sich, eine Struktur, die der naturhaften Selbstbehauptung des Subjekts zuwiderläuft. Ein Subjekt, das in dieser Weise zwischen dem Sein und seinem Jenseits aufgespannt ist, realisiert nicht ein zivilisiertes, geistiges Sein. Durch es hindurch manifestiert sich vielmehr ein Anders-als-Sein, das sowohl das natürliche Sein als auch die sittliche Axiologie durchkreuzt. Dem Ausgang des Subjekts aus sich, der bei Hegel im selben Zuge Rückkehr in sich und eine gesteigerte Wiedergewinnung des Eigenen ist, setzt Levinas so die Erzählung eines Ausgangs ohne Rückkehr entgegen. Das Gewissen ist nicht das Einstehen für das, was im erweiterten Sinne das Eigene und Eingesehene ist, sondern es verweist auf Transzendenz. Anders als bei Hegel, wo Subjekt und Sittlichkeit in ihrer Vollendung verschmelzen, kann das Individuum bei Levinas von seinem Gewissen her niemals in den sittlichen Strukturen aufgehen. Weil Ich und Sich dauerhaft irreduzibel aufeinander bleiben, ist das Subjekt aufgespannt zwischen dem Sein und seinem Jenseits. Entsprechend ist auch das Politische bei Levinas nicht mit Hegels Sitt-



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lichkeit gleichzusetzen, da sich die diastatische Struktur des Subjekts auf die Struktur der Gesellschaft überträgt. Das kritische Moment, das bei Hegel nur als Vollzugsform der Subjektivität gegeben ist, ist im Politischen auf Dauer gestellt. Um Autonomie denken zu können, macht Hegel eine Sittlichkeit geltend, die nicht einfach faktisch gegeben ist, sondern aus einem Vermittlungsprozess hervorgeht, der selbst rational verfasst ist. Das Gewissen in seiner wahren Gestalt hat die Funktion, das Individuum dieser Sittlichkeit zuzuordnen ; es ist gleichsam der individuelle Durchgangspunkt für die autoritativen Inhalte. Die Subjekte sind autonom, indem sie die sittlich-normativen Bestimmungen erfassen ; darin handeln sie zugleich ethisch. Aufgrund dieser Theorieanlage, in der es kein Jenseits gibt, an dem die Sittlichkeit noch einmal zu messen wäre, fehlen Hegel jedoch die Mittel, zwischen der eigensinnigen Besonderung des Gewissens und seinem berechtigten Einspruch und Widerstand gegen ungerechte Verhältnisse zu unterscheiden. Dies verhält sich bei Levinas grundsätzlich anders. Da der Staat und die Institutionen von der Verantwortung für den Anderen gefordert werden, die in ihnen niemals aufgeht, stellt diese Verantwortung ein Außen in Bezug auf die instituierten Verhältnisse dar, das zugleich ihr innerster Kern ist. Levinas kehrt damit Hegels Logik, der zufolge die sittliche Ordnung über jeder einzelnen Person steht, weil sie über alle Personen hinausweist und den Grund ihrer Existenz ausmacht, um: Der Staat hat seine Berechtigung nur von der Verantwortung für den Anderen her ; in der Missachtung des Anderen diskreditiert er sich selbst. Die Freiheit und Unversehrtheit des Anderen ist so die »Norm«, an der die sittlichen Verhältnisse zu messen sind. Durch Levinas erfährt Hegels Kritik des Gewissens eine Kritik, die nicht die Rehabilitation eines dogmatischen Gewissensstandpunktes bedeutet, sondern die Vernunft einer Sensibilisierung unterzieht. Levinas’ Begriff des Gewissens muss jedem autoritativen Streben verdächtig sein. Er wirft auch die kritische Frage nach Irrtum und Fehlbarkeit des ethischen Urteils auf. Allerdings wird, wenn von einem irrenden Gewissen die Rede ist, immer schon eine Objektivität vorausgesetzt. Dies kann jedoch für Levinas nicht gelten. Denn das einzig Unbedingte ist der Anspruch des Anderen im Gewissen. Dieser Anspruch gibt keinen bestimmten Inhalt vor, aber er kann auch nicht von jedem Inhalt assimiliert werden. Levinas transformiert die Zweideutigkeit, die das formelle Gewissen bei Hegel aufgrund seines Inhalts hat, in eine ontologische Zweideutigkeit. Das Gewissen ist nicht. Es manifestiert sich nur durch ein Subjekt, das sich nie sicher sein kann, ob sein Urteil richtig ist, ob es tatsächlich ethisch motiviert ist, ob überhaupt eine ethische Forderung besteht und sein Handeln also einen Sinn hat. Nur in dieser Zweideutigkeit erhält das Ethische seine Transzendenz und bewahrt sich davor, in der Dialektik von Sein und Nichts aufzugehen.

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Aus dieser Ambiguität des Ethischen erhebt sich eine wesentlich grundlose Freiheit. Levinas macht damit Ernst, dass es keine ontologisch notwendige Struktur gibt, die zugleich normativ bindend wäre. Aber diese Grundlosigkeit verunmöglicht Freiheit nicht, sondern lässt sie erst eigentlich zu sich selbst kommen. Ihr Reflexivwerden bei Hegel ist gleichsam der Durchgang auf eine Freiheit, die sich von ihrer wesenhaften Grundlosigkeit selbst zu begreifen hat. Wir werden durch Ansprüche konstituiert, die durch die Vernunft nicht zu begründen sind, und wir müssen Urteile fällen und Entscheidungen treffen, die nicht noch einmal objektiv in Geltung zu setzen sind. Insofern wir dabei nicht lediglich Normen folgen, sondern auf Ansprüche antworten, sind wir in einem ausgezeichneten Sinne frei. Dabei macht die absolute Orientierung am Anspruch des Anderen Einsicht und Rationalität nicht obsolet, sie entthront jedoch die Wirklichkeit und das Denken als letzten Grund. Anders als der Pflichtbegriff, der sich auf gegebene Normen bezieht, schließt der Verantwortungsbegriff die Verantwortung für die Normen selbst mit ein. Wie auch Heidegger trifft Levinas damit eine wesentliche Intuition, die wir mit dem Gewissen verbinden. Das Gewissen und die Freiheit des Gewissens sind in gewisser Weise »letzte« Instanzen, die mit ihrer Radikalität ihre Bedeutung verlieren. Die Kehrseite dieser radikalen Konzeption von individueller Verantwortung ist die implizierte Selbstüberhebung und auch die Möglichkeit völligen Fehlgehens. Allerdings muss diese Zweideutigkeit der Freiheit in Kauf genommen werden, denn es gibt keine Begründung des Sozialen. Wird dagegen das Gewissen mit dem Bewusstsein der sittlichen Wirklichkeit identifiziert, kommt dies seiner Aufhebung gleich. Levinas widerspricht Hegels Identifikation von Freiheit und Transparenz. Während Selbstbestimmung für Hegel darin verwirklicht ist, dass das Subjekt sich in dem Anderen erkennt, bestreitet Levinas nicht nur die Möglichkeit, den Anderen zu erkennen, sondern zugleich auch die Selbsttransparenz des Subjekts für sich. Ebenso wie der Andere sich dem Begreifen entzieht, ist sich das Subjekt, das überhaupt nur als von ihm affiziertes ist, niemals vollständig selbst transparent. Diese Intransparenz verunmöglicht aber nicht die Freiheit, sondern von ihr her wird vielmehr eine qualifizierte Freiheit denkbar, in die der Anspruch des Anderen engeschrieben ist. Geschichtlicher Fortschritt als Fortschritt in der Transparenz ist in diesem Sinne für Levinas nicht denkbar und auch nicht erstrebenswert. Denn während das Gewissen als sittliches Bewusstsein so weit reicht, wie der intersubjektiv geteilte Gehalt ist, sind die Subjekte bei Levinas nicht verbunden durch das, was sie teilen, was ihnen gemeinsam und verstehbar ist, sondern gerade durch das, was sich ihnen entzieht. Das menschliche Subjekt ist in seiner Leiblichkeit, aber auch in seinen geistigen Vermögen endlich. Es kann den Ansprüchen, die sich an es richten, nicht



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gerecht werden, und es überblickt nicht alle Implikationen und Konsequenzen seines Tuns. Diese Endlichkeit wird als Schuld erfahren. Hegel meint, dass wir diese Schuld in einer vernünftig eingerichteten Sittlichkeit nicht mehr gewärtigen müssen. Und auch die Versöhnung steht für die Überwindung der Endlichkeit. Ich teile Levinas’ Auffassung, dass diese Aufhebung der Endlichkeit, die zugleich Hegels Version einer Überwindung des Todes darstellt, zu bestreiten ist: Weder können wir durch den Verzicht auf die eigene Partikularität unsere Sterblichkeit überwinden, noch kann die Sittlichkeit je so eingerichtet sein, dass das Subjekt nicht vom Anderen gefordert würde. Die Endlichkeit ist uns wesentlich. Den Schmerz dieser Endlichkeit affirmiert Levinas, weil er uns für das Leiden des Anderen öffnet. Er offenbart uns unsere wesentliche Gebundenheit, von der her Freiheit nur möglich ist.

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