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German Pages 416 [420] Year 1977
Henning Ottmann Individuum und Gemeinschaft bei Hegel Band I. Hegel im Spiegel der Interpretationen
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Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Günther Patzig, Erhard Scheibe, Wolfgang Wieland
Band 11
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1977
Individuum und Gemeinschaft bei Hegel Bandl Hegel im Spiegel der Interpretationen
von Henning Ottmann
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1977
Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung
CIP-Kurztitelauj"nahmen der Deutschen Bibliothek
Ottmann, Horst Henning Individuum und Gemeinschaft bei Hegel. Berlin, New York : de Gruyter. Bd. 1. Hegel im Spiegel der Interpretationen. — 1977. (Quellen und Studien zur Philosophie; Bd. 11) ISBN 3-11-007134-7
© 1977 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit 8c Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Walter de Gruyter, Berlin
Vorwort Hegel der „preußische Staatsphilosoph", Hegel der „Machtstaatslehrer", Hegel der „Nationalsozialist", Hegel der „Vater von Marx" und Hegel der „Lehrer des modernen Rechtsstaates", das sind nur einige der Schlagworte, mit denen man den Philosophen Hegel zu etikettieren pflegt. Wie einseitig, historisch verzerrt und ungerecht sie sind, soll dieses Buch beweisen. Es richtet sich deshalb nicht nur an Leser, die eine erste Bekanntschaft mit Hegel schließen wollen, es wendet sich zugleich und vor allem an die Hegelkenner der verschiedenen Schulen, für die es ein Anlaß und eine Anregung sein soll, die Dogmen des eigenen Lagers zu überdenken und mit den Hegelfreunden oder Hegelfeinden der „anderen Seite" in ein Gespräch zu treten. Vielleicht daß der Hegelforschung auf diese Weise gelingt, was ihr bisher verwehrt blieb: den Hegellegenden ein wenig von ihrer Attraktivität zu nehmen! Freilich ist diese Untersuchung nur ein kleiner Schritt zu diesem Ziel. Zu groß ist die Zahl der „Hegelianer", als daß sich alle Repräsentanten auch nur einer Schule in einem Buch darstellen ließen, zu bedeutend sind manche dieser Philosophen, als daß man ihren Theorien auf ein paar Seiten gerecht werden könnte, und zu vertraut sind die Legenden, als daß man auf eine allgemeine Bereitschaft, diese endlich zu verabschieden, hoffen dürfte. Aber diese Untersuchung sollte nicht leisten, was beim momentanen „Stand" der Erforschung der Wirkungsgeschichte Hegels gar nicht zu leisten ist. Sie sollte kein Versuch zu einer „vollständigen" Geschichte des politischen Hegelianismus, sondern ein Literaturbericht in systematischer Absicht sein, der aus der Not der Hegelforschung eine Tugend macht und, statt wieder einmal die sattsam vertrauten Legenden auf Hegel zu applizieren, zunächst diese selbst der Prüfung unterzieht. Deshalb wurde der Versuch gewagt, der Hegeldeutung (die der zweite Band entwickelt) diese systematische Geschichte der Interpretationen vorangehen zu lassen; deshalb wäre der Zweck dieses ersten Buches auch schon erreicht, wenn (vielleicht nicht jede einzelne Interpretation, aber doch die Stärke der Tendenzen und Konvergenzen) einige Leser davon überzeugen könnte, daß manches am Hegelbild der eigenen Schule einseitig und so manches
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Vorwort
am Hegelporträt der „anderen Seite" zumindest diskussionswürdig ist. Wenn damit auch das Zeitalter der Hegellegenden nicht zu Ende gehen dürfte, so würde doch allmählich eine der Quellen versiegen, aus denen sie sich speisen, der Dogmatismus, der Hegel in die enge Perspektive dieser oder jener Schule pressen will. Die vorliegende Schrift wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität München 1974 als Dissertation angenommen. Sie wurde für den Druck in zwei Teile geteilt: Band I „Hegel im Spiegel der Interpretationen", Band II „Die Entwicklungsgeschichte der politischen Philosophie". Durch das Entgegenkommen des Verlages und der Herausgeber der Reihe „Quellen und Studien zur Philosophie" wurde es möglich, das umfangreiche Manuskript in dieser Form ungekürzt zu veröffentlichen. Für dies und für die freundliche Betreuung ist der Verfasser Herrn Prof. Dr. H. Wenzel und Herrn Prof. Dr. W. Wieland zu großem Dank verpflichtet. Danken möchte ich ferner Herrn Prof. Dr. K. G. Ballestrem und Herrn Prof. Dr. A. Schöpf für ihre hilfreiche Lektüre einzelner Partien des Buches sowie Herrn Dr. M. v. Gagern, Herrn Dr. K.-H. Nusser und Herrn Dr. H. Scheit für ihre nützlichen Hinweise. Mein Dank gilt der Studienstiftung des deutschen Volkes für ein Stipendium und ein lehrreiches Jahr an der Yale-University sowie Herrn Prof. Dr. G. Brand von der Thyssen-Stiftung für seinen großzügigen Zuschuß zu den Druckkosten. Den Professoren Helmut Kühn und Robert Spaemann danke ich für ihre Begutachtung der Arbeit. Meinen besonderen Dank darf ich schließlich Herrn Prof. Dr. N. Lobkowicz aussprechen für seine Gesprächsbereitschaft, seine Ermutigung und nicht zuletzt für die wohlwollende Geduld, mit der er die Entstehung der Arbeit verfolgte. München, im Juni 1977 Henning Ottmann
Inhaltsverzeichnis Einleitung 1. Hegel — Denker der Individualität oder Philosoph des Universalismus ? 2. Anerkennung des Individuums oder Universalismus als Thema der „praktischen" Philosophie 3. Das beliebte Dilemma der Hegeldeutung — die Dialektik von Ganzem und Teil Hegel im Spiegel der Interpretationen I. Versuch einer Aktualisierung und Umformulierung der alten Einteilung in Hegeische Rechte, Linke und Mitte 1. Kurze Erinnerung an die Geschichte der Einteilung 2. Probleme der alten Schuleinteilung 3. Politische, politisch-philosophische und „Ursprungs"- bzw. „emanzipationsphilosophische" Kriterien für eine aktualisierte Gliederung der Deutungen 3.1. Politische Kriterien
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3.2. Politisch-philosophische Kriterien
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3.3. Ursprungs- und emanzipationsphilosophische Kriterien
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II. Linkshegelianische Kritik am antiindividualistischen System 1. Drei Strömungen der Kritik im alten Linkshegelianismus 1.1. Die politische Kritik oder Preußen und die politische Freiheit des Individuums (A. Rüge) 1.2. Die theo-logische Kritik oder monologisches System und unmittelbare Einzelheit (L. Feuerbach) 1.3. Die soziologische Kritik oder bourgeois, citoyen und homme (K. Marx)
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2. Die Ausdehnung der politischen Kritik auf das ganze „Restaurationssystem" (R. Haym) 74 3. Neuere Hegelkritik aus altem linkshegelianischem Geist 3.1. Hegel als Atheist und Revolutionär, als theologisch verhinderter Revolutionär und Ideologe der kapitalistischen Gesellschaft
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Inhaltsverzeichnis
3.1.1. Die beinah gelungene Verwechslung oder der junge Hegel in der Rolle des jungen Marx (G. Lukäcs) 87 3.1.2. Die Phänomenologie des Geistes als Bibel eines existentialistischen Marxismus (A. Kojeve) 93 3.2. Ambivalente Gesamtdarstellungen 99 3.2.1. Antiquarische Philosophie und Anamnesis contra Emanzipation und Utopie (E. Bloch) 100 3.2.2. Autoritäre Staatsphilosophie oder Geburtsstunde der kritischen Theorie? (H. Marcuse) 108 3.2.3. Nicht-Identität versus Identität (Th. W. Adorno) 115
III. Die rechtshegelianische Akklamation zum Universalismus und die korrespondierende „liberale" Kritik 124 1. Die preußische Akklamation oder der Staat als höchster, sittlicher Organismus (J. E. Erdmann) 126 2. Die Akklamation der Bismarck-Hegelianer 136 2.1. Hegels Staatsphilosophie als universalistische Überwindung von Revolution und Reaktion (C. Rößler) 2.2. Der Machtstaat zwischen Sittlichkeit und Omnipotenz (C. Rößler, A. Lasson) 3. Vereinzelte machtstaatlich orientierte Deutungen als schmale Brücke zwischen der Hegeldeutung des Zweiten und Dritten Reiches (G. Lasson, E. Spranger, E. Kaufmann) 4. Die totalitäre Akklamation zur Zeit des Dritten Reiches 4.1. Der junge Hegel als Theologe und Universalist (Th. Häring) ... 4.2. Moralität vor Sittlichkeit — ein „liberales" Mißverständnis (M. Busse) 4.3. Hegels Philosophie zwischen Universalismus und Totalitarismus — Versuch einer Gesamtdarstellung (J. Binder, W. Schönfeld, O. Spann, K. Larenz, G. Dulckeit, F. Biilow, M. Busse, Th. Häring, W. Schmidt) 5. Die liberale Kritik an Hegels Universalismus 5.1. Hegel als Bismarck-Hegelianer und Universalist in der deutschen Kritik (L. v. Ranke, Fr. Meinecke, H. Heller, Fr. Rosenzweig, P. Vogel, Th. Litt) 5.2. Hegel als Bismarck-Hegelianer und Konservativer in der angelsächsischen Kritik (J. Dewey, L. T. Hobhouse, C. E. Vaughan, G. H. Sabine, S. Hook, E. F. Carritt, J. P. Plamenatz) 5.3. Die Kritik am Vorläufer des Totalitarismus 5.3.1. Hegel als Ideologe der „geschlossenen" Gesellschaft und Feind der westlichen Demokratie (K. Popper) 5.3.2. Hegel als Herrschaftsideologe und mystischer Heilslehrer (E. Topitsch) 5.3.3. Hegel als einer der Väter vom Mythos des 20. Jahrhunderts (E. Cassirer)
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Inhaltsverzeichnis
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5.3.4. Hegel und die deutsche Vergangenheitsbewältigung (W. Apelt, A. v. Martin) 218 5.3.5. Noch einmal: Hegel, Hegelianismus und die deutsche Katastrophe (H. Kiesewetter) 219
IV. Die Apologie des modernen freiheitlichen Rechtsstaates durch die Hegeische Mitte 224 1. Der politische und philosophische Ausgleich zwischen den Extremen als Strategie der alten Hegeischen Mitte (K. Rosenkranz) 226 2. Die Zeitschrift „Der Gedanke". Michelets Hegelverteidigung in hegel-feindlicher Zeit 234 3. Die Verstärkung der historischen Argumente von Rosenkranz und der Beginn der theologisch-politischen Deutung (Fr. Rosenzweig) 239 4. Kritik der liberalen Kritik im Stile von Meinecke und Heller 246 4.1. Der Geist als das „eigene" Wesen des Individuums (G. Giese) 247 4.2. Die liberale Staatsphilosophie Hegels zwischen Revolution und Konservatismus (J. Löwenstein) 253 4.3. Hegel und die Macht des Gewissens (A. v. Trott zu Solz) 256 4.4. Sittlich-geistige Macht und moralische Autonomie (H. Heimsoeth) 259 5. Hegel als Lehrer des „modernen" Rechtsstaates oder die Rehabilitation Hegels im Lichte der westlichen Demokratievorstellungen 261 5.1. Hegel als Liberaler und „Beinahe-Demokrat" in der historischen und systematischen Hegelapologetik Frankreichs 261 5.1.1. Säkularisierte Politik und preußische Reformen (E. Weil) 262 5.1.2. Antikisierende Politik und freiheitlicher Staat (E. Fleischmann) 268 5.1.3. Freimaurerei und (heimlicher) politischer Widerstand Q. d'Hondt) 271 5.1.4. Individuum und Staat als „fins en soi reciproques" (Fr. Gregoire) 274 5.2. Die angelsächsische Reintegrierung Hegels „in the main stream of Western political theory" (T. M. Knox, J. N. Findlay, W. Kaufmann, Z. A. Pelczynski, Sh. Avineri, Ch. Taylor) 281 6. Der Höhepunkt der deutschen Hegelapologetik. Joachim Ritter und seine Schule 299 6.1. Hegel als Metaphysiker der Politik und Onto-Theologe, als Denker der modernen Gesellschaft und Philosoph der Revolution (J. Ritter) 300
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Inhaltsverzeichnis 6.1.1. Hegel als „klassischer" Philosoph im Kampf gegen den Atheismus der sittlichen Welt 6.1.1.1. Die zweideutige Wiederherstellung der ethischen Politik 6.1.1.2. Die zweideutige Restitution der „göttlichen" Theoria 6.1.2. Hegel als Philosoph von Revolution und Gesellschaft ... 6.2. Die Liberalisierung Hegels in der Ritter-Schule 6.2.1. Die Subjektivität im theologisch-politischen Denken des jungen Hegel (G. Rohrmoser) 6.2.2. Hegels Phänomenologie und die Versöhnung in der absoluten Gegenwart (R. K. Maurer) 6.2.3. Moderner Staat und politischer Protestantismus (G. Rohrmoser, R. K. Maurer) 6.2.4. Politische Hermeneutik und regressive Dialektik (O. Marquard) 6.2.5. Politische Antithetik und „gezielter Mangel an Radikalität" (H. Lübbe) 6.2.6. Geschichtsphilosophie und pragmatische Politik (H.-M. Saß, H. Lübbe) 7. Hegels Politik als (weder revolutionäre noch reaktionäre) „christliche" Emanzipationsphilosophie (M. Theunissen) . . . .
Ausblick Abkürzungsverzeichnis Personenregister Sachregister
301 306 324 338 346 347 355 360 369 373 375 378 388 394 397 405
Einleitung /. Hegel-Denker der Individualität oder Philosoph des Universalismus? „Wer Hegel verstehen will", sagt Dieter Henrich einmal, „ist immer noch mit sich allein"1. Die Erfahrung bleibt auch dem nicht erspart, der herausfinden möchte, welcher Platz in jener großen Philosophie eigentlich dem Individuum zugewiesen wird. Wer sich in die Sekundärliteratur einliest, ist nach kurzer Zeit schon nicht mehr überrascht, wenn er auf konträre oder sogar kontradiktorische Deutungen stößt. Da heißt es einmal, in Hegels Philosophie gehe das Individuum verloren2, da heißt es ein anderes Mal, Hegels ganzer Denkstil sei nur auf die rationale Erfassung des Individuellen ausgerichtet3. Die Situation wäre nicht so skandalös, wenn es sich nur um die Stimmen extremer Außenseiter handelte. Auch ein Kant oder ein Aristoteles werden manchmal extrem ausgelegt. Bei Hegel scheinen jedoch die kontroversen Deutungen eher dem Normalfall zu entsprechen als die konvergenten. Ganze Schulen finden keine Basis, auf der sie einen vernünftigen Konsens über Hegels Intentionen herstellen könnten. Was war Hegel? War er jener antiindividualistische Systemdenker, als den ihn die sogenannten Linkshegelianer4 bis heute kritisierten? War er der große moderne Universalist, als den ihn so mancher Philosoph der Bismarckära und so viele Hegelianer des Dritten Reiches für sich reklamierten? War er einfach der Machtideologe oder der Faschist, als den ihn Liberale und Theoretiker der offenen Gesellschaft in diesem Jahrhundert stets bekämpften? Oder sollen wir der deutschen, angelsächsi-
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D. Henrich, Hegel im Kontext, Fft. a. M. 1971, 7. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Fft. a. M. 21970, 18, 334; I. Fetscher, Individuum und Gemeinschaft im Lichte der Hegeischen Philosophie des Geistes, in: Zeitschrift für phil. Forschung, Bd. 7 (1953), 532; Th. Litt, Hegel. Versuch einer kritischen Erneuerung, Heidelberg 1953, 146; R. Marcic, Hegel und das Recht, in: Hegel und die Folgen, G. K. Kaltenbrunner (Hrsg.), Freiburg 1970, 196. E. Lask, Gesammelte Schriften Bd. L, E. Herrigel (Hrsg.), Tübingen 1923, 65ff.; H. Schmitz, Hegel als Denker der Individualität, Meisenheim/Glan 1957, 17. Die Brauchbarkeit dieses Begriffs wird noch diskutiert (L).
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Hegel-Denker der Individualität oder Philosoph des Universalismus
sehen und französischen Hegelapologetik der Nachkriegsjahre glauben, die uns Hegel als den „Denker der Individualität" vorstellt? Fast alle Opposition gegen Hegel ging von dem Vorwurf aus, daß in seiner Philosophie das Individuum unterdrückt werde5. Aber der Inhalt der Vorwürfe variiert schon in bestimmten Epochen. Folgt man der einflußreichen Argumentation der sogenannten Linkshegelianer, dann lassen sich bestimmte fundamentale Einwände herauskristallisieren, die allen gemeinsam sind, aber die Stoßrichtung ist doch schon jedesmal eine andere. Zwar sind sich alle einig, daß Hegels „System" und das Individuum sich wechselseitig ausschließen, aber jeder hat ein ganz anderes „Individuum" im Auge, das er vergeblich in Hegels Philosophie sucht. Hegel, so meinen sie alle, konnte sein „totales" System nur deshalb in sich „abschließen", weil er die Geschichte künstlich zum Stillstand brachte, weil er Kritik und Praxis ins „Begreifen dessen, was ist" auflöste, weil er schließlich seine eigene Zeit, die genauso relativ war wie jede andere, mit den Weihen einer absoluten Vernunft schmückte. Aber während Rüge und Haym gegen die metaphysische Glorifizierung des preußischen Polizeistaates die Freiheit des radikaldemokratischen (Rüge) oder des liberalen Individuums (Haym) einklagen, wendet sich ein Feuerbach gegen die „monologische" Selbstvermittlung des reinen Denkens und gegen die theologische Selbstentfremdung des Menschen im Namen des sinnlichunmittelbaren Einzelnen. Während ein Marx sich zum Anwalt der Emanzipation des ganzen Menschen und seiner gesellschaftlichen Produktion macht, während er das System der ideologischen Trennung des Menschen in einen Privatbürger und in einen Staatsbürger anklagt, protestiert ein Kierkegaard gegen die Vermittlungsmaschine im Namen der Innerlichkeit, der Wahlfreiheit und des Glaubens des existierenden Einzelnen. Freilich war diese Hegelkritik der „Linkshegelianer" die einflußreichste Tradition, die über akademische Kreise hinaus Hegels Philosophie als totales und abgeschlossenes System ins allgemeine Bewußtsein einprägte, als ein System, bei dem noch heute fast jeder gefühlsmäßig die Ausschaltung aller Kontingenz, alles Zufälligen und Individuellen assoziiert. Hatte die kritische Bewegung gegen Hegel nicht den „Wind der Geschichte" im Rücken? Und mußte man nicht annehmen, daß, was da im „Verfaulungsprozeß des absoluten Geistes"6 zu Tage trat, jeweils ein 5
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Nach Fetscher ging sogar „alle" Opposition gegen Hegel von diesem Vorwurf aus, Fetscher 1953, 511. K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1845/46), MEW Bd. 3, 13.
Einleitung
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Moment war, das Hegels System unter sich begraben und verschüttet hatte? Hayms brillantes Buch über „Hegel und seine Zeit" (1857), in gewissem Sinne das abgeklärte Ende jener furiosen Hegelkritik, verschaffte der „Akkommodationsthese" ihre bleibende Wirkung, Marx bereitete den Weg für die populäre Unterscheidung zwischen dem „reaktionären" System und der „progressiven" Methode, Kierkegaards Protest gegen das System blieb in der protestantischen Theologie ebenso lebendig wie in der Existenzphilosophie, und noch heute sieht man hinter den Köpfen der Frankfurter Schule die der „Linkshegelianer" auftauchen, sei es, wenn Habermas Hegel die Französische Revolution wegfeiern sieht, sei es, wenn Adorno das Desinteresse des totalen Systems am Einzelnen beklagt, sei es, wenn Marcuse in Hegel die Keime der kritischen Theorie entdeckt und doch den Untergang des Individuums bedauert. Andere Generationen von Hegelforschern haben ihrem Hegel gerade deshalb akklamiert, weil er für sie die ehrenvolle Rolle des großen modernen Universalisten spielte. Jetzt steht Hegel in ganz anderen Zusammenhängen, und man hat Mühe zu glauben, daß jener Systemphilosoph, den die „Linkshegelianer" angreifen, mit dem Universalisten identisch sein soll, den Rößler und Lasson im Zweiten und Binder, Larenz, Häring u. a. im Dritten Reich beschreiben. Nach der Blütezeit des „individualistischen" Naturrechts, nach Aufklärung, Liberalismus und den im Grunde vom Einzelnen ausgehenden Philosophien eines Kant oder Fichte, soll Hegel die Wende zum „Universalismus" herbeigeführt haben. Erst Hegel habe mit all jenen „atomistischen", philanthropischen und kosmopolitischen Ideen aufgeräumt, zu denen sich noch ein liberaler Weltbürger wie Kant bekannt hatte. Die sittlichen und kulturellen Lebensformen werden nicht mehr „naturrechtlich" von der Einzelpersönlichkeit aus konstruiert, der Staat wird nicht länger utilitaristisch begründet oder in seinen Funktionen minimalisiert, und die Philosophie wird nicht länger auf die schmale Basis des isolierten Subjekts gegründet. Hegel denkt den „Geist" als eine universalistische Struktur, als ein transpersonales Wesen, dessen Manifestationen „Selbstzwecke" verkörpern. Der Einzelne hat dem Ganzen, nicht das Ganze ihm zu dienen. Denn Hegels Staat ist die „Macht", die sich vorzüglich im Krieg bewährt, oder jener Repräsentant der Volkstotalität, die alle Lebensbereiche ihrer „Glieder" umgreift. Das ist Hegels Intention, die sich seit seinen Jugendjahren durchhält: die Versöhnung des Lebens und des Geistes, die vom lebendigen Ganzen, nicht jedoch von der Unabhängigkeit der Einzelnen aus begriffen werden muß.
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Hegel-Denker der Individualität oder Philosoph des Universalismus
Nach der distinguierten Gesellschaft der Linkshegelianer, so scheint es, macht Hegel die dubiosere Bekanntschaft der Machtideologen und Faschisten, eine Bekanntschaft, die für die Liberalen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg auf gegenseitiger Zuneigung beruht. Denn Hegels eigene Machtideologie (Meinecke, Heller, Rosenzweig, Dewey, Hobhouse, Vaughan, Sabine, Hook, Carritt, Plamenatz u. a.), sein Machiavellismus, sein Nationalismus, seine eigene Verherrlichung von Macht, Erfolg, reaktionärem preußischen Staat, Hordentum, Nationalismus und Krieg demonstriert, daß Hegel nicht nur für die Machtpolitik des Bismarckreiches, sondern auch für die Barbarei des Nationalsozialismus mit verantwortlich zu machen ist (Popper, Cassirer, Topitsch, v. Martin, Apelt, Kiesewetter). Hegels Philosophie läßt sich an ihren totalitären Früchten erkennen. Natürlich bleibt die Geistesverwandtschaft Hegels mit der Bismarckischen Machtpolitik genausowenig unbestritten wie die mit dem Faschismus oder der preußischen Reaktion. Mit Rosenkranz, Hinrichs und Michelet beginnt schon im 19. Jahrhundert, was in der französischen und angelsächsischen Hegelapologetik der Nachkriegszeit und in Deutschland durch Joachim Ritter und seine Schule den Höhepunkt erreicht, eine Interpretationsrichtung, die einen Hegel favorisiert, dessen Frontstellungen und Allianzen sich weder „rechts" noch „links" festlegen lassen. Für Joachim Ritter und viele andere ist Hegel Gegner und Befürworter von Revolution und Restauration zugleich. Gegen die romantische Idealisierung der Vergangenheit hat er sich mit der Französischen Revolution und mit der Realität der bürgerlichen Gesellschaft verbündet, in denen das unendliche Recht und die Freiheit des Einzelnen eine neue weltgeschichtliche Stufe ihrer Verwirklichung erreichen; gegen den Anarchismus und Terrorismus des revolutionären Subjektes, das keine stabilen politischen Lösungen zustande bringt, weiß Hegel sich einig mit der Romantik, die das Gute, Wahre und Schöne (das „Göttliche") in der Not der entzweiten Zeit noch zu retten versucht. Für Hegels höheren Standpunkt treffen sich die restaurative Romantik, die das Göttliche allein in der Innerlichkeit der Subjekte bewahren will, und die revolutionäre Emanzipation des Menschen von den Mächten der Metaphysik und der Religion ungewollt auf einem gemeinsamen Boden. Sie sind beide Gestalt derselben Entzweiung, die sich als Bruch mit der Herkunftsgeschichte manifestiert, einmal als Flucht des innerlichen Menschen aus der heillosen Gegenwart in die Vergangenheit, einmal als Sprung des emanzipierten Menschen aus der Vergangenheit in eine geschichtslose Gegenwart. Gegen diesen gedoppelten
Einleitung
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„Atheismus der sittlichen Welt"7 und gegen die Gefahr, die aus ihm der schon vorhandenen Rationalität der Welt und der Verwirklichung der Freiheit droht, hat Hegel wieder angeknüpft an die politische Ethik der Griechen und an die klassische Metaphysik, in deren Rahmen er die scheinbar vernunftlose Welt einbezieht. Die berüchtigte Identität von Vernunft und Wirklichkeit ist weder als reaktionärer Positivismus noch als revolutionäres Pathos allein zu vereinnahmen. Hegels Lehre vom Individuum ist in die Koordinaten von Restauration und Revolution in dem Sinne eingespannt, daß sie sowohl das weltgeschichtliche Recht des Einzelnen in beiden bewahrt, als sie es auch kritisch gegen beide sichert. Was von Rosenkranz bis Ritter für den „liberalen" Hegel angeführt wurde, es ist — muß man dies noch sagen? — keineswegs der Konsens der Hegelforschung unserer Tage. Die großen Synthesen von Griechentum, Christentum und Moderne, an deren Vereinbarkeit Ritter nicht weniger als Hegel noch glaubte, sind für viele heute zerbrochen, Hegels Philosophie ist ein Spielball der politischen und weltanschaulichen Strömungen bis auf unsere Zeit geblieben. Noch immer konkurriert der antiindividualistische Systemdenker und preußische Reaktionär mit dem Liberalen, der Liberale mit dem Machtideologen, Nationalisten und Faschisten. Dieter Henrichs Bonmot von der Einsamkeit des heutigen Hegellesers scheint demnach zuzutreffen. Viele Hegelbilder und doch kein „Steckbrief", der die Identifizierung erlauben würde. Wäre es da nicht am einfachsten, die Frage nach Hegel, dem „Denker der Individualität", oder die nach Hegel, dem „Universalisten", zu lösen, indem man die täuschenden Bilder beiseite schiebt und die Texte für sich „sprechen" läßt? Ist nicht jedem Leser einsichtig, daß Hegel weder ein Kommunist noch ein Faschist war, daß er wohl auch nicht der „Liberale" gewesen ist, zu dem man ihn jetzt so gerne „ehrenhalber" ernennt?8 Der Ausweg aus der unsicheren Lage der Hegelforschung kann nicht im Rückgriff auf „Hegel selbst" gefunden werden. Dazu waren gerade bei Hegel die Legenden und Bilder zu einflußreich, daß sie nicht auf jede scheinbar unvoreingenommene Fragestellung ihre Schatten werfen würden. Wir können von der Geschichte der Hegelforschung nicht mehr abstrahieren. Aber sollten wir es überhaupt? Henrichs Bonmot hat seine 7
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Rph 1821, SW VII, 25. Seit Jena bezeichnet der Atheismus der sittlichen Welt eine zentrale Ausgangsstelle für Hegels Versöhnungsanliegen. Für die folgende Abkürzungen wie „Rph" siehe das Abkürzungsverzeichnis am Ende des Buches. J. Habermas, Zu Hegels Politischen Schriften (1966), in: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Fft. a. M. 41971, 169.
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Hegel-Denker der Individualität oder Philosoph des Universalismus
Berechtigung; es verschweigt jedoch, daß wir, trotz aller Schwierigkeiten, Freunde und Feinde unter den Mitlesern zu identifizieren, nicht völlig „allein" sind. In allen, wie auch immer verzerrten Auslegungen muß sich ein Stück von Hegels eigener Intention wiederfinden lassen. Auch bei Hegel wird der „Zeitenabstand" seine Produktivität beweisen können. Und wenn wir die aktualistischen Verzeichnungen Hegels durchschauen, die Abhängigkeit der linkshegelianischen Fragestellung von der preußischen Restaurationspolitik, die der universalistischen von Bismarck-Zeit und Nationalsozialismus, die der liberalisierenden schließlich vom Klima der westlichen Demokratien, dann wissen wir von Hegel doch schon mehr, als es der grandiose Wirrwar zunächst auszudrücken scheint. Dieser erste Band der zweigeteilten Untersuchung soll aus der Lage der Hegelforschung die Konsequenzen ziehen, getragen von der hermeneutischen Hoffnung, doch aus allen Deutungen lernen zu können. Ein Literaturbericht soll (als Vorspann zu einer Darstellung der politischen Philosophie Hegels in einem weiteren Bande) systematisch zu klären versuchen, ob sich verschiedene Hegeldeutungen zu Gruppen zusammenfassen lassen, ob sich ihre Interpretationen wechselseitig ausschließen oder zu einer Palette vereinen lassen, deren Farben es erlauben, ein dem „echten" Hegel ähnlicheres Bild zu malen als bisher. Ob dieses Bild ein gelungenes Porträt genannt werden darf, wird freilich erst der zweite Band beweisen können, wenn die hier nacheinander gezeichneten Skizzen wieder in ein Gemälde zusammenfließen müssen.
2. Anerkennung des Individuums oder Universalismus als Thema der „praktischen" Philosophie Was Hegel wollte, ob er die Rechte des Individuums anerkannte oder ob er vom „Allgemeinen" und dessen Priorität ausging, das wurde zumeist im Kontext der praktischen Philosophie diskutiert, am häufigsten an Hand der Rechtsphilosophie, aber auch unter Einbeziehung der ganzen Hegeischen Entwicklung von den Ansichten des Stuttgarter Gymnasiasten bis hin zu den Lehren des Berliner Professors. Auch unser Thema soll die ethische, ökonomische und politische Lehre Hegels sein, die wir befragen wollen, ob (oder ob nicht) auf sie der traditionsreiche Vorwurf zutrifft, daß in ihr das Individuum untergeht. Aber nach der unsicheren Forschungslage begegnet der Eingrenzung des Themas gleich ein weiteres Problem, dem jede Hegeluntersuchung Rechnung zu tragen hat. Läßt sich
Einleitung
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bei Hegel überhaupt eine „praktische" Philosophie als Themenbereich abgrenzen, und wenn ja, wie? Hegels praktische Philosophie enthält noch die klassischen Disziplinen, Ethik, Ökonomie und Politik, wie sie seit über zwei Jahrtausenden in dieser Trichotomie angeordnet wurden. Jedoch ist es kein Geheimnis, daß Hegel auch gerade mit dieser alteuropäischen Einteilung bricht9. Denn anders als bei den Griechen, anders als in der scholastischen Tradition und anders als noch in der Schulphilosophie eines Wolff wird bei Hegel zwischen der philosophia practica und der philosophia speculativa nicht mehr strikte getrennt. Aus dem praktischen Wissen, das im Bereich der veränderlichen Pragmata und im Bereich des Nicht-Notwendigen nur „ungefähre" und „umrißhafte" Erkenntnis erlaubt10, aus dem „topischdialektischen" Verfahren, das nur mit Meinungen und Wahrscheinlichkeiten operiert, wird bei Hegel eine „Logik höchster Spekulation"11, die als Theorie auch auf das praktische Wissen übergreift12. Die Spekulation, die den der klassischen Theorie vorbehaltenen Exaktheitsanspruch erbt, überformt als Philosophie des Geistes die ehemals theoretischen Disziplinen genauso wie die ehemals der vorbehaltenen. Vernunft und Freiheit, Denken und Wille, Natur und Geist sind nicht mehr voneinander trennbare Manifestationen des einen Geistes. Die Philosophie, wie Hegel sie verstand, sollte für ihn immer noch (anders als für seine linken Schüler) die reine, autarke sein, und doch ist auch die Theorie nicht nur durch ihre Stellung zur Praxis, sondern auch in ihrer Stellung zur Geschichte zu etwas anderem geworden, als sie es in der abendländischen Tradition vor Hegel war. Immer noch „die 9
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Darauf verweisen Hennis (W. Hennis, Politik und praktische Philosophie, NeuwiedBerlin 1963) und Manfred Riedel; Riedel ist der begriff s geschichtlich reizvollen Umformung der traditionellen praktischen Philosophie bei Hegel öfters nachgegangen, M. Riedel, Tradition und Revolution in Hegels .Philosophie des Rechts' (1962), in: Studien zur Rechtsphilosophie, Fft. a. M. 1969, 100-34; ders., Der Begriff der ,Bürgerlichen Gesellschaft' und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs (1962), op. cit. 135 — 66; ders., Bürgerliche Gesellschaft und Staat bei Hegel, Neuwied-Berlin 1970, vor allem § l und § 5. Z.B. EN I, 7, 1098a 26ff.; II, 2, 1103b 34ff.; VI, 5, 1140b 1-4; VI, 9, 1142a 23ff. Hennis 1963, 109. An den Unterschied der griechischen von der Hegeischen Theorie erinnern N. Lobkowicz, G. W. F. Hegel, in: Die Revolution des Geistes, J. Gebhardt (Hrsg.), München 1968, 115; am entschiedensten immer Löwith, z.B. K. Löwith, Philosophische Theorie und geschichtliche Praxis in der Philosophie der Linkshegelianer, in: Die Hegeische Linke, K. Löwith (Hrsg.), Stuttgart-Bad Cannstatt 1962, 31; und schließlich der Löwithschüler M. Riedel, Theorie und Praxis, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1965, 224ff.
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Die Beschränkung der Fragestellung auf Hegels „praktische" Philosophie
leidenschaftslose Stille der nur denkenden Erkenntnis"13 und doch auch die Philosophie, die ihre Zeit in Gedanken erfaßt14, das ist der zweideutige Status der Theorie bei Hegel. Die Theorie, die sich die Pragmata der Menschen als Objektbereich einverleibte, reflektiert über die Geschichte, ist das Medium, in dem diese auf den Begriff gebracht wird und ist doch selber auch Teil der Geschichte und ihrer Bewegung. Während die Griechen die Geschichtsschreibung noch den politischen Historikern überließen und in ihrer philosophischen Schau die schöne Ordnung des immer gleichen Kosmos zu erfassen suchten15, rückt bei Hegel die Geschichte in einem nie gekannten Ausmaße in die Philosophie selbst ein. Nicht nur die Geschichte der Welt, der Kunst und der Religion, auch die der Philosophie selber ist nunmehr Teil dessen, was einmal Schau von Physis und Kosmos gewesen ist. Die Stellung des Individuums, die in der vorhegelschen Tradition noch im Rahmen von Ethik, Ökonomie und Politik lokalisierbar war, kann bei Hegel nicht mehr als Teil einer für sich bestehenden praktischen Philosophie verstanden werden. Riedel hat sehr schön gezeigt, wie der traditionelle Bau der Schulphilosophie bei Hegel durch das Einbrechen der bürgerlichen Gesellschaft geradezu gesprengt wird. Aber das ist nur eine Form, in der die Geschichte und ihre Theorie in die Philosophie des objektiven Geistes einbrechen. Da ist die Philosophie der Weltgeschichte, die der ältere Hegel immer an die Philosophie des objektiven Geistes anschließt und die doch eigentlich dieser schon vorausliegt. Es ist die Geschichte als der „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit", der auch ein Fortschritt im Bewußtsein der Individualität ist, angefangen von der Tragödie des Sokrates und der antiken Republik, über Römertum, Christentum, Germanen, Reformation, Aufstieg des Bürgertums und Universalwerden der bürgerlichen Gesellschaft bis zur Französischen Revolution, eine Geschichtsphilosophie, die kaum etwas ausläßt, was das Abendland in seinen Grundfesten geprägt hat. Da ist die Geschichte der Religionen, die im Christentum als der Religion der Individualität ihren Höhepunkt erreicht, die Geschichte der Kunst, die gleichfalls in der Romantik eine um das Individuum zentrierte Form entwickelte, und da ist schließlich die Geschichte der Philosophie selbst, die als das „Innerste der Weltgeschichte" um die Zeit der Französischen Revolution in der revolu-
i3 Logik, SW IV, 35. i" Rph (1821), SW VII, 35. is Löwith 1962, 31.
Einleitung
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tionären Subjektivitätsphilosophie eines Kant und Fichte kulminiert, welche die Welt aus dem Kopf entwerfen und nach dem Maßstab der Vernunft konstruieren wollen.
3. Das beliebte Dilemma der Hegeldeutung — die Dialektik von Ganzem und Teil Der enge Zusammenhang der philosophischen Disziplinen bei Hegel spiegelt freilich nur den Denkstil Hegels selbst, der keinen Gedanken aus sich allein bestimmt sein läßt, sondern jede Bestimmung auch durch ihre Beziehung auf eine andere definiert. Die ineinandergreifenden Disziplinen können genauso wie die ineinanderfließenden Gedankenschritte erst als Ganzes den Wahrheitstitel beanspruchen. Die Untersuchung eines Teilproblems scheint damit von vornherein zum Scheitern verurteilt, die Hegeldeutung zum Kommentieren des Ganzen verdammt zu sein. Aber Dialektik als Bewegung der Sache selbst gibt vor, ihr Ganzes nicht in einem deduktiven System zu konstruieren. Wie erst die Teile das Ganze konstituieren, so soll das Ganze nur an den einzelnen Teilen seine Wahrheit besitzen. Das Ganze zu deuten müßte demnach gegen den dialektischen Anspruch auf Konkretion genauso verstoßen wie die Explikation eines Teils sich gegen den Anspruch auf Totalität versündigt16. Wenn man sich hilfesuchend an die bisherige Hegelforschung wendet, dann ist zwar ein waches Problembewußtsein, vor allem heute, unverkennbar17, aber eine Maximallösung, die den ganzen Hegel zugleich akribisch erfaßte, oder eine Minimallösung, die an einem Teilabschnitt des 16
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Die beliebte Gegenüberstellung, an der das Dilemma aufleuchtet, markieren Gadamer und Heimann. Heimann sagt zutreffend: „Hegel zitieren heißt ihn mißverstehen und ihn mißbrauchen", B. Heimann, System und Methode in Hegels Philosophie, Leipzig 1927, XXI. Gadamer stellte die auflebende zweite Hegelrenaissance nach dem Zweiten Weltkrieg unter das Motto, man müsse Hegel endlich „buchstabieren", auch dies eine legitime Forderung. Hegel spricht das Dilemma aus (Phän. 21): „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen". So schlug Adorno vor, man müsse Hegel zweimal und von „rückwärts" lesen, Th. W. Adorno, Skoteinos oder Wie zu lesen sei, in: Drei Studien zu Hegel, Fft. a. M. 2 1966, 109. Sinngemäß meint dies auch Theodor Litt (Litt 1953, 16). Theunissen und Fetscher schrieben im Blick auf das Dilemma vorzügliche Kommentare zu Abschnitten des Hegeischen Opus. M. Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologischpolitischer Traktat, Berlin (2) 1970; I. Fetscher, Hegels Lehre vom Menschen. Kommentar zu den §§ 387 bis 482 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1950), Stuttgart 1970. Puntel versucht das Problem durch die Bestimmung einer Elementarstruktur zu lösen, L. B. Puntel, Darstellung, Methode und Struktur, Bonn 1973.
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Das Dilemma der Hegeldeutung — die Dialektik von Ganzem und Teil
Werkes den ganzen Hegel aufscheinen ließe, sind mit gutem Grund bislang nicht vorgelegt worden. Die mikroskopische Textanalyse schießt, sobald sie den ganzen Hegel zu besitzen vorgibt, über ihre Textbasis hinaus; Darstellungen des ganzen Hegel, die den Stand der Forschung spiegeln, liegen nicht vor. Die akribische Textanalyse, so verdienstvoll sie ist, und so gerne sie jeder einer globalen Deutung vorzieht, sie bleibt letztlich unbefriedigend, solange sie nicht den Teil im Lichte des Ganzen erhellt. Aber wer möchte sich tatsächlich daran wagen, den ganzen Hegel zu buchstabieren? Härings beeindruckende Bände, insgesamt ca. 1300 Seiten, der immer noch größte Versuch des Hegel-Buchstabierens, blieb nicht zufällig in einer kurzen Analyse der Phänomenologie stecken, ohne auch nur ein Wort über den älteren Hegel verlieren zu können. Ja selbst wenn jemand die kolossale Aufgabe gelänge, mit einem Auge auf dem Detail, mit dem anderen auf dem Ganzen, Hegel einmal in toto darzustellen, weder die Mikro-Analyse noch die Makro-Deutung garantieren, daß nicht wieder einmal ein Hegel in der Interpretation erscheint, dessen Umrisse nur durch die Scheuklappen einer einzigen Schule wahrgenommen werden. Autoren groß angelegter Deutungsversuche, die man durchaus Standardwerke nennen darf, ich erwähne nur Lukacs, Bloch, Marcuse, Rosenzweig und Häring, haben ihren Blick nur wenig über den Zaun ihres speziellen Hegellagers geworfen. Häring, wieder das beste Beispiel für diesen Sachverhalt, hat, trotz seiner kaum noch überbietbaren Textparaphrasen, eine einseitige Deutungstendenz, nämlich eine universalistische, konservativen Zuschnitts, verfolgt; Rosenzweigs Bände über „Hegel und den Staat", bis heute Musterbeispiele einer kenntnisreichen und abwägenden Interpretation, blieben (bis auf Anklänge an die liberale Hegelkritik) im Fahrwasser einer liberalen Hegelapologetik, und bei Lukacs, Bloch, Marcuse und so vielen anderen lassen sich die marxistischen Prämissen der Auslegung nicht verleugnen. Versuche, Hegel zu buchstabieren oder systemologisch zu erfassen, haben auf ihre Weise ihre Berechtigung; sie gehören zum unverzichtbaren Bestand einer Forschung mit abgestuften und nuancierten Mitteln. Auch diese Untersuchung muß dem Dilemma von Ganzem und Teil in dem faktisch unvermeidbaren Kompromiß18 Rechnung tragen, indem die von 18
Wenn das Dilemma nicht als Einschüchterungsstrategie mißbraucht wird, mit der sich freilich jede Deutung kritisieren läßt (da sie entweder einen Teil genau oder das Ganze nur global erfaßt), bleibt allein der Kompromiß. Er wird faktisch auch von denen vollzogen, die das Gegenteil behaupten.
Einleitung
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„unten und oben" in die Lehre vom objektiven Geist eingreifenden Philosophien des subjektiven Geistes, der Geschichte, der Kunst, der Religion und der Philosophie selbst in einem Balanceakt eingebracht werden müssen, soweit es das Thema unbedingt erfordert, eingebracht werden müssen, auch wenn sie sich nicht in dem Maße sicher belegen und auslegen lassen wie die direkt thematischen Texte. Dennoch legen die Erfahrungen der bisherigen Hegelforschung das Wagnis nahe, es einmal auf einem anderen Wege als bisher zu versuchen: durch die Reflexion auf die Wirkungsgeschichte, der erst in einem zweiten Schritt die direkte Deutung der politischen Philosophie Hegels folgt. Wenn wir zunächst Hegel-Schulen miteinander konkurrieren und Allianzen eingehen lassen, um sie erst danach in der Deutung Hegels zu Wort kommen zu lassen, ergibt sich für die Hegelforschung vielleicht ein weiterer Horizont als bisher, eine Perspektive, die eher als die unbefriedigende Beschränkung aufs Detail oder der unerfüllbare Traum von der Gesamtdarstellung ahnen läßt, was der „ganze" Hegel gemeint haben könnte. Denn das Vertrauen in das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein, von dem wir ausgehen, besagt, daß erst alle Auslegungstypen zusammen, durcheinander relativiert und verstärkt, den ganzen Hegel ausmachen können. Rosenkranz hat das Motto für diese Einstellung bereits 1840 formuliert: „Nur alle Schüler zusammen sind Hegel gleich; jeder für sich ist eine seiner Einseitigkeiten"19.
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K. Rosenkranz, Kritische Erläuterungen des Hegeischen Systems, Königsberg 1840, Nachdr. Hildesheim 1963, XXXV.
Hegel im Spiegel der Interpretationen
I. Versuch einer Aktualisierung und Umformulierung der alten Einteilung in Hegeische Rechte, Linke und Mitte Sucht man ein Gliederungsprinzip für die schier unübersehbar gewordene Menge der Hegeldeutungen, dann verblüfft die Einsicht, daß sich noch immer eine große Zahl von Auslegungen trichotomisch ordnen läßt. Zwischen politischen und philosophischen Parteinahmen für oder gegen Hegels Lösung des Problems von Individuum und Gemeinschaft und einer groben Einteilung in Rechte, Linke und Mitte besteht eine erstaunliche Parallelität. Die Linkshegelianer, die einmal wie Rüge, Feuerbach und Marx Hegels System und das „Individuum" gegeneinander ausspielten, haben heute ihre Urenkel in den Philosophen der Frankfurter Schule, aber auch in Autoren wie Bloch, Kojeve, Garaudy, die alle (trotz einer verstärkten Hegelfreundlichkeit) am Vorwurf des Antiindividualismus festhalten. Rechtshegelianer könnte man Philosophen wie Erdmann, Rößler, A. Lassen oder Binder, Larenz, Häring u. a. nennen, welche als preußische Konservative, als Bismarck-Hegelianer oder als Nationalsozialisten Hegels Universalismus applaudierten, und in die „liberale" Mitte könnte man immer noch einen Rosenkranz oder einen Michelet stellen, deren Anliegen heute durch Joachim Ritter und seine Schule in Deutschland, durch die französische und neuerdings auch angelsächsische Hegelapologetik lebendig erhalten wird. Die „Mitte" setzt sich noch immer mit denselben Strategien politisch und philosophisch von den rechten und linken Extremen ab1. Nun bringt ein Anknüpfen an so traditionsreiche Begriffe wie „Rechts-" oder „Linkshegelianismus" Probleme historischer, politischer 1
Eine weitere Gruppe „liberaler" Kritiker Hegels, die sich am Rechtsstaat, an der „offenen" Gesellschaft und an der Freiheit des Einzelnen orientieren (Heller, Meinecke, Sabine, Hook, Popper, Topitsch usw.) könnten wir als eigene vierte Gruppe entfalten. Da sie jedoch nur kritisieren, was die Rechtshegelianer feiern, bestätigen sie ex negativo das rechtshegelianische Hegelbild und können als korrespondierende Gruppe gesehen werden. Auch Liberale wie Haym müssen nicht in einer eigenen Gruppe dargestellt werden, da sie nur die linkshegelianischen Argumente reproduzieren. Linke Kritik, rechte Akklamation und „mittlere" Zustimmung zur ausgewogenen Lösung des Problems müßten demnach als Raster genügen.
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Kurze Erinnerung an die Geschichte der Einteilung
und philosophischer Art mit sich, historischer Art, weil sich die alte Schulspaltung zunächst an theologischen, dann erst an politischen und theologisch-politischen Streitfragen entzündete (ein Wirrwar, der schon die Klassifizierung der ersten Hegelianer zur Kontroverse macht), politischer Art, weil die Begriffe „Rechts" und „Links" allmählich ihre scharfen Konturen verloren haben (und eine sich über 150 Jahre erstreckende Anwendung so die Gefahr von Äquivokationen in sich birgt), philosophischer Art, weil sich, je abstrakter und anspruchsvoller man das Kriterium der Einteilung formuliert, eine scharfe Grenze zwischen den Gruppen nicht mehr ziehen läßt. Wäre es da nicht besser, andere Gliederungsprinzipien zu finden? Oder lassen sich die Schwierigkeiten ausräumen?
1. Kurze Erinnerung an die Geschichte der Einteilung Lange Zeit vergessen war die „Vorgeschichte" der Hegeischen Schule, schien doch jeder bei den Worten „Rechts-" oder „Linkshegelianismus" zunächst an politische Fronten zu denken. Erst die Studien von Moog, Löwith, Gebhardt, Lübbe und Beyer haben wieder das Bewußtsein für die Einsicht geweckt, daß sich die Schule zunächst wegen theologischer Kontroversen spaltete. Denn als „rechts" galt zuerst, wer noch an die Transzendenz des Absoluten, an ein Weiterleben nach dem Tode und an den historischen Christus als den (einzigen) Gottmenschen glaubte, „links" dagegen war, wer Gott (wie Strauß) in die Menschengattung immanentisieren, das Jenseits nur im Diesseits und Christus nur als eine Verwirklichung der universellen Göttlichkeit der Menschengattung anerkennen wollte; und in die Mitte stellte man einen Rosenkranz, weil er gegen Strauß die Erscheinung des Absoluten in einer Person und gegen die Goeschel und Gabler auch die Erscheinung in der Gattung für notwendig erachtet hatte2. 2
Die wörtliche Einteilung in „Rechte, Linke und Zentrum" hatte Strauß vorgenommen, D. F. Strauß, Streitschriften zur Verteidigung meiner Schrift über das Leben Jesu und zur Charakterisierung der gegenwärtigen Theologie 3. Heft, Tübingen 1837, 95ff., 126. Sein kritischer Ansatzpunkt war das Verhältnis von Begriff und Geschichte im Rahmen der Christologie (also wenigstens was die Schulspaltung angeht, in einem ganz eng umgrenzten theologischen Fachgebiet). Ließen sich die Rechtshegelianer durch den spekulativen Begriff die Historizität aller (und die „Mitte" wenigstens die Faktizität der wesentlichen) evangelischen Berichte verbürgen, so versuchte Strauß zwischen der philosophischen Rechtfertigung des Glaubens und der Glaubwürdigkeit der historischen Zeugnisse eine scharfe Grenze zu ziehen. Hegeische „Vorstellung" und den Mythos-
Aktualisierung und Umformulierung der alten Schuleinteilung
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Die schon seit Beginn der dreißiger Jahre schwelenden Kontroversen hatten durch Strauß 1837 ihre bekannte Formel erhalten. Erst ab 1839/40 schlägt diese Auseinandersetzung in eine politisch-philosophische im Doppelsinn des Wortes um3. Als politische und philosophische Hegelkritik durchgesetzt hat sie Rüge, der Strauß des politischen Hegelianismus, endgültig 18424. Seit dieser Zeit lassen sich die Linkshegelianer nicht nur als theologisch radikale Immanentisten, Anthropotheisten und Atheisten,
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begriff der „mythischen Schule" annähernd, erblickte er in den historischen Schilderungen nur mythische, m sinnliche und historische Form gebrachte, allein der Vorstellung nicht dem Begriff adäquate Einkleidungen der Idee der Gottmenschlichkeit. Deren spekulative Wahrheit erweist die Philosophie, ihre geschichtliche Glaubwürdigkeit kann getrost der historischen Kritik anheimgestellt werden (die klarste Darstellung dieser Entmythologisierung im Namen des Hegeischen Begriffes bei J. F. Sandberger, David Friedrich Strauß als theologischer Hegelianer, Göttingen 1972, 98ff.). Der Gegensatz zwischen dem „Zentrum" qua Rosenkranz und der „Linken" qua Strauß war alles andere als scharf, er wäre, wie schon Michelet vermutete, vielleicht sogar „zu vermitteln" gewesen (C. L. Michelet, Die Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel, Bd. II., Berlin 1838, Nachdr. Hildesheim 1967, 659). Denn in der Eschatologie stimmte Rosenkranz mit Strauß sowieso überein (Rosenkranz 1840, XXV). Der damals von Rosenkranz und heute in ähnlicher Weise von Theunissen erhobene Vorwurf, Strauß lasse die „Subjektivität der Substanz nur . . . in der Gattung der Menschheit gelten" (K. Rosenkranz, Kritik der Schleiermacher'schen Glaubenslehre, Königsberg 1836, XVII; Theunissen [2] 1970, 237), tut Strauß ein wenig Unrecht. Die Offenbarung Gottes in der Geschichte schließt für ihn die Offenbarung (auch) in der Person Christi keineswegs aus. Was Strauß ablehnt ist allein die rechtshegelianische Behauptung der „Exklusivität der Offenbarung in Jesus Christus" (Sandberger 1972, 21). Diese wollte Rosenkranz allerdings in dem Sinne gewahrt sehen, daß, auch wenn „jeder Mensch durch Gott zur Einheit mit ihm" bestimmt ist (Rosenkranz 1840, XX), Christus doch der einzige Vermittler dieser Einheit bleibt (op. cit. XXI). Bemerkenswert noch, daß Strauß wohl geglaubt hat, er hätte den Grad der recht verstandenen Orthodoxie als Kriterium der Einteilung gewählt. Doch handelte es sich, links wie rechts, kaum um eine kirchliche Rechtgläubigkeit. Wie Strauß so sahen auch die Rechtshegelianer das Christentum durch die Brille spekulativer Begriffe (siehe J. Gebhardt, Politik und Eschatologie. Studien zur Geschichte der Hegeischen Schule in den Jahren 1830 — 1840, München 1963, 109 und vorher). Gute Schilderungen der Schulspaltung außer bei Sandberger und Gebhardt (1963, 69ff., 97ff.) auch bei W. Moog (Hegel und die Hegeische Schule, München 1930, 429ff.) sowie in den älteren Darstellungen, Michelet 1838 Bd. II., 627ff.; Rosenkranz 1840, VII-XXXVI. Die früheste Geschichte der Schule läßt sich somit entweder in zwei Phasen (eine theologische 1831 — 39, eine politische 1840 — 44) oder, wenn man wie Rossi die Anfänge zu Hegels Lebzeiten berücksichtigen will, in drei Abschnitte teilen: „Origini della Scuola e polemiche in vita di Hegel 1816 — 31; Secondo periodo della Scuola. La controversie sulla religione 1831 — 39; Terzo periodo della Scuola. Ateismo e radicalismo 1839 — 44", M. Rossi, Marx e la dialettica hegeliana, Bd. II. La genesi del materialismo storico, Roma 1963, 27ff. Ruges berühmter Aufsatz aus diesem Jahr hieß: „Die Hegeische Rechtsphilosophie und die Politik unserer Zeit", in: DJ, 10.-13. Aug. 1842, Nr. 189-92, 755-68. Seine Wirkung konnte Rüge selbst mit der des „Leben Jesu" vergleichen, A. Rüge, Aus früher
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Kurze Erinnerung an die Geschichte der Einteilung
sondern auch als politisch extreme Gruppierung erfassen, die durch ihre doppelte Opposition gegen die preußische Politik und die bürgerliche Gesellschaft zu allen Schattierungen des politischen Radikalismus der damaligen Zeit getrieben wurde. Seit dieser Zeit begegnen wir jedoch auch dem changierenden Bild eines Hegelianismus, dessen verfließende Fronten sich der Trennkraft des Begriffes nicht mehr zu fügen scheinen. Zwar lassen sich eine theologische und eine politische Phase der Schulspaltung grob voneinander unterscheiden, aber die Politik wird ab 1840 so eng mit der Philosophie und der eigentümlichen philosophischen Religionskritik verknüpft, daß es außerordentlich schwierig wird zu sagen, wo die Politik anfängt und Philosophie oder Theologie aufhören. So war der direkt politische Sinn der Einteilung, der auf dem linken Flügel ein Sammelbecken der radikalen politischen Strömungen der Zeit von Radikaldemokratismus über Sozialismus bis hin zu Kommunismus und Anarchismus erkennbar machte, eingebettet in eine philosophische Argumentation, die sich gegen Hegels Identifizierung von Vernunft und Wirklichkeit wandte. Der zunächst von den meisten gefeierte Hegel galt ab 1840 als Komplize der Restauration, weil seine philosophische „Versöhnung" die Welt nur in der Theorie, nicht aber realiter geheilt haben sollte, weil das „abgeschlossene" und „totale" System Kritik und Praxis behinderte und Hegels Enthistorisierung und Metaphysizierung des Wirklichen angeblich zur Glorifizierung des Bestehenden tendierte; dieses aber war für die Linkshegelianer der beginnenden vierziger Jahre eine schlechte Realität geworden, ein „Polizeistaat", der allererst noch auf das Niveau der Vernunft praktisch gebracht werden mußte. Eine Philosophie der Tat, politischer Fortschritt und eine machbare Zukunft schienen nur gegen das „reaktionäre" System begründbar und einklagbar. Aber nicht nur mit der theoretischen Versöhnung im System, auch mit der religiösen im Namen der Hegeischen Philosophie wurde die Politik damals verschwistert. Auch die theologische Kontroverse um die eschatologischen, christologischen und um die „Person" Gottes zentrierten Fragen wurde auf die Formel der Einstellung zur Identität von Vernunft und Wirklichkeit gebracht und politisch umgesetzt5. Wer noch an ein
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Zeit, Bd. IV, Berlin 1867, 497. Daß „der kritische Hegelianismus" der „Kampfnatur" Ruges seine Verbreitung verdankt, betont D. Koigen, Zur Vorgeschichte des modernen philosophischen Socialismus in Deutschland, Berlin 1901, 293. Strauß selbst hat schon den Kampf der Hallischen Jahrbücher gegen die preußische Politik mit dem Autonomieanspruch der Religionskritik verbunden (hier II. 1.2), Feuerbach hat die Kritik an Hegels Theo-Logik mit dem Republikanismus und Radikaldemokratismus verknüpft; Moses Heß und natürlich Marx haben den Zusammenhang von
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transzendentes Absolutes glaubte, schien für Strauß, Feuerbach und Marx dem Menschen die Gewalt über seinen „Ursprung" zu verwehren, wer die Versöhnung von Vernunft und Wirklichkeit schon durch Christus in einem entscheidenden Sinne für vollzogen hielt, der konnte dem Menschen, so dachte man, keine selbstverantwortliche Politik, kein Machen der Geschichte oder gar einen revolutionären Bruch mit Tradition und Herkunft zutrauen. Nur die Kritik des „transzendenten" Hegeischen Systems, das den Menschen wie die Religion von sich selbst in ein reines Denken und einen abstrakten Staat entfremdet, kann das Tor öffnen für die Emanzipation der Gattung, die die noch ausstehende Realisierung der Vernunft in ihre eigenen Hände nimmt, unbehindert von einer schon geschehenen Versöhnung, von einem transzendenten Ursprung oder einem letztlich ursprungsphilosophischen System.
2. Probleme der alten Schuleinteilung Wenn wir die schillernden Begriffe des „Rechts-" und „Linkshegelianismus" nach dieser kurzen Erinnerung an die Geschichte ihrer Entstehung analysieren, lassen sich vier verschiedene Bedeutungen voneinander abgrenzen: 1. der rein theologische Sinn der alten Einteilung, 2. der direkt-politische, 3. der politisch-philosophische und 4. der ursprungs- bzw. emanzipationsphilosophische Sinn, der eine indirekt-politische Bedeutung besaß. Im Zusammenhang unseres Themas können nur die drei letzten Bedeutungen sinnvoll thematisiert werden. Aber ihre Unterscheidung reicht zur Klärung der Begriffe bei weitem nicht aus. Es scheint, als ob die Schwierigkeiten der Einteilung sich bei näherem Hinsehen noch vergrößern. Die Einordnung der Linkshegelianer wird durch die Tatsache erschwert, daß, wie in extremen politischen Gruppierungen auch sonst üblich, schließlich der Kampf aller gegen alle einsetzte. Einen reaktionären rechtshegelianischen Flügel, dessen Radikalität der der Linkshegelianer entsprach, hat es, wenn wir Lübbe glauben dürfen, nie gegeben6. Die Beteiligten selbst haben die ursprüngliche Einteilung nicht so ernst ge-
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Religionskritik und Emanzipation zur Basis ihrer Politik gemacht, und noch später hat Engels an den indirekt politischen Kampf in der Verkleidung der Religionskritik erinnert (hierauch . .2.). H. Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte (1963), München 21974, 27ff.
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nommen wie die Hegelinterpreten später7, Frontwechsel aus dem linken ins rechte Lager (oder umgekehrt) waren nicht außergewöhnlich8, Einigkeit über den genauen Standort aller Hegelianer wurde weder bei den Beteiligten noch bei den Historikern der Schule je erzielt. Die Behauptung schließlich, ein direkter politischer Sinn ließe sich mit der Einteilung verbinden, wird von manchen Kennern des Hegelianismus (wie z. B. Beyer) bestritten: die „Flügel" der Schule seien nie politische „Fraktionen" gewesen9. Nun hat die Hegelforschung an dem herrschenden Wirrwar selbst einen gewissen Anteil. Der Teilungsmechanismus der Linkshegelianer, der etwa zum Zerwürfnis Ruges mit den „Freien", zum Streit Ruges mit Marx, Marxens mit fast allen ehemaligen Mitkämpfern, Stirners gegen alle usw. führte, dieser Prozeß sollte nicht über das verbleibende gemeinsame Maß an Radikalität (meist sogar in religiöser und politischer Hinsicht) hinwegtäuschen. Zwar werden manchmal unterschiedslos die verschiedensten politischen Einstellungen als linkshegelianische zusammengefaßt, der Anarchismus eines Stirner, der Radikaldemokratismus eines Rüge, der Sozialismus eines Moses Heß, der Kommunismus eines Marx, der Evolutionismus eines Cieszkowski, die kritische Kritik der Massen bei Bruno Bauer und manchmal sogar die antirevolutionäre, die Massen verachtende Haltung eines Kierkegaard10. Aber man muß sich vor Augen halten, daß 7
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Bezeichnend schon der sich nur auf die theologische Einteilung beziehende sarkastische Vorschlag von Michelet, eine „Koalition" der Linken mit dem „Zentrum" zu bilden, welcher der „Abgeschiedene" präsidiere (Michelet 1838 Bd. II., 659). Rosenkranz machte sich auf andere Weise über die Einteilungssucht lustig, er schrieb eine Komödie, K. Rosenkranz, Das Zentrum der Spekulation. Ein Komödie, Königsberg 1840, zit. nach Lübbe 21974, 33. Der Vater der theologischen Schuleinteilung D. F. Strauß erwies sich 1848 als politischer Konservativer. Leopold v. Henning wandelte sich vom Demagogenverfolgten zum späteren Anhänger der ständischen Monarchie, Rüge hat sich von der theologischen und politischen Rechten zur Linken beider Lager geschlagen, um sich am Ende zu einem gewissen Grade mit Bismarck und Preußen zu versöhnen. Und Bruno Bauer machte eine ähnliche Entwicklung durch, von der theologischen Rechten über die politische und theologische Linke zur politischen Rechten zurück, hat er doch zuletzt noch für die „Kreuzzeitung" gearbeitet und mit dem Bismarck-Verehrer Hermann Wagener das konservative „Staats- und Gesellschaftslexikon" geschaffen. W. R. Beyer, Hegel-Bilder. Kritik der Hegel-Deutungen, Berlin 21967, 50f. Löwith ordnet Kierkegaard als Linkshegelianer ein, obwohl er ihn selbst sehr schön als Antipoden von Marx herausstellt, der nicht auf die Massen sondern auf den Einzelnen, nicht auf die Revolution sondern das Martyrium, nicht auf den Atheismus sondern auf die Erneuerung des verbeamteten Christentums setzt. K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 31969, 163ff.. Löwiths Liste der Linkshegelianer (Löwith 1962) schließt neben Kierkegaard Heine, Rüge, Heß, Stirner, Bruno Bauer und Feuerbach ein.
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auch andere Oberbegriffe wie „Alt-" und „Junghegelianismus" ähnliche Gliederungsprobleme aufwerfen11, daß es keine Rubrik gibt, in die sich alle Hegelianer werden einordnen lassen. Dennoch hat es immer noch einen Sinn, alle „links" von den damals gemäßigten politischen Ideen der Zeit stehenden Repräsentanten der Schule als politisch linke Hegelianer zusammenzufassen, egal ob sie Radikaldemokraten, Kommunisten oder Anarchisten waren12. Lübbes Entmythologisierung der Legende vom Konservatismus der Hegeischen Rechten verliert ihre Überzeugungskraft, wenn Lübbes Vorgehen näher analysiert wird. Lübbe ernennt nämlich zu Rechtshegelianern zuerst solche Interpreten, die nie als solche gegolten haben, um sie dann, in einem zweiten Kunstgriff, als „Liberale" zu präsentieren, die für maßvolle Reformen und die konstitutionelle Monarchie kämpften. Seine Liste der Hegeischen Rechten ist weitgehend ein Mitgliedsverzeichnis der Hegelschen Mitte, ja sogar der Linken13, und es sind eigentlich nur zwei Kandidaten, die als „echte" Rechtshegelianer bei dieser Aufzählung übrig bleiben, nämlich Erdmann und Rößler. Diese lassen sich aber dann auch nicht zu Liberalen umfunktionieren, d. h. zu Liberalen in dem Sinn, daß 11
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Diese schlägt Beyer als Ersatz vor (Beyer 21967, 47ff.). Stuke möchte die Begriffe „Junghegelianer" sowie politisch und religiös radikale (zum Atheismus und Kommunismus als den Extremen fortschreitende) „Linkshegelianer" unterscheiden, H. Stuke, Philosophie der Tat, Stuttgart 1963, 32/33 Anm.. Allerdings lassen sich auch so weder ein Kierkegaard noch ein Gans rubrizieren. Als Maßstab der Einteilung müßte wohl die Einstellung zur konstitutionellen Monarchie (als gemäßigter Forderung) dienen können, so daß (gewiß vereinfacht) als ein Liberaler der politischen Mitte zu bezeichnen wäre, wer seine Verfassungsforderung in eine konstitutionelle Monarchie einbringen wollte, als konservativ (man denke an Stahl, v. Haller, die Legitimisten), wer absolute oder ständische Monarchie weiterleben lassen wollte, und als links, wer für Volkssouveränität und Republikanismus sowie mit unterschiedlicher Radikalität für Radikaldemokratismus, Sozialismus, Kommunismus etc. eintrat. Lübbe zählt zur Hegeischen Rechten: Fischer, Rosenkranz, Carove, Gans, Hinrichs, Michelet, Oppenheim, Erdmann, Rößler, Lassalle, Lübbe 21974, 27ff.; H. Lübbe (Hrsg.), Die Hegeische Rechte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962. Kann man bei Oppenheim noch schwanken, da er sowohl sozialreformerische Programme entwarf als auch eine Machtstaatslehre vertrat, so galt Rosenkranz eigentlich immer als idealer (Michelet als ein wenig links vom Zentrum stehender) Repräsentant der Mitte, der Saint-Simonist Gans, der Burschenschaftler und Anhänger einer Humanitätsreligion Carove eher als Linke denn als Mitglieder der Rechten, und auch Lassalle scheint, trotz seiner Differenzen mit Marx, als Rechtshegelianer fehlplaziert. Was Lübbe beweist, ist eigentlich nur, daß Rosenkranz, Michelet und Hinrichs 1848 für die konstitutionelle Monarchie politisch und schriftstellerisch aktiv wurden, daß sie nach 48, wie fast alle Liberalen damals, resignierten. Vgl. zu diesem Komplex K. Rosenkranz, Hegel als deutscher Nationalphilosoph, Leipzig 1870, Nachdr. Darmstadt 1965, 312; N. Lobkowicz, Theory and Practice, Notre Dame - London 1967, 278; Michelet 1838, 659; Moog 1930, 425ff., 473ff.; Beyer 21967, 63.
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sie zwischen dem Konservatismus und den linken Forderungen der Zeit eine wie immer prekäre Mitte eingehalten hätten. Gewiß waren beide nicht so illiberal oder antiliberal wie die Hegelianer des Dritten Reiches, aber ihre organische Staatslehre und ihr Sittlichkeitsbegriff trennt sie doch Welten von Männern wie Rosenkranz oder Michelet. Lübbes Taktik ist ein Teil der (hier unter IV. entwickelten) umfassenden Strategie der heutigen Hegeischen Mitte, die Hegel selbst zum Liberalen machen möchte. Beyers Hinweis auf den politischen Status der Hegelschulen muß als Warnung vor dem Versuch ernstgenommen werden, eine kurzgeschlossene Beziehung zwischen Flügeln der Hegelauslegung und politischen Gruppierungen (etwa Parteien) herzustellen. Die oft geäußerte Meinung, die Linkshegelianer seien die erste „politische Partei" Deutschlands gewesen14, übertreibt die Geschlossenheit dieser sich mehr und mehr auseinanderdividierenden losen Vereinigung kritischer Hegelschüler15. Andererseits sollte man aus lauter Vorsicht nicht die handfesten Beziehungen zwischen Hegelianismus und Politik übersehen. Daß in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts der Begriff der „Partei" in Deutschland aufkam, läßt sich ohne die damaligen Kantianer, aber noch entscheidender ohne die Linkshegelianer nicht erklären. Was aber schon für die frühe Zeit der Schule gilt, das beweist sich (so unsere Hypothese) noch deutlicher, wenn wir den Blick über fast 150 Jahre Hegelianismus schweifen lassen. Vom Kampf der Hallischen Jahrbücher bis zur heutigen Oppositionsrolle der verbliebenen Linkshegelianer gegen die spätkapitalistische Gesellschaft, vom preußischen Konservatismus (etwa eines Erdmann) bis hin zum Hegeleinsatz der Bismarck-Hegelianer und der nationalsozialistischen Hegeldeuter, von der aktiv politischen Rolle des ostpreußischen Liberalen Rosenkranz über die Linksliberalität Michelets bis zur heutigen Nutzbarmachung Hegels als eines der Väter der westlichen Demokratie, vom politischen Kampf der Altliberalen wie R. Haym bis zur Hegelkritik vom Boden der Weimarer Republik, stets haben politische Grundstimmungen, ob es den Autoren bewußt war oder nicht, die Hegeldeutung beeinflußt und geformt. Begriffe wie „Fraktionen" oder „Parteien" würden die politische Analogie überzeichnen, die Tatsache eines engen Zusammenhanges von Hegelauslegung und Politik besteht. 14 15
So noch D. McLellan, Die Junghegelianer und Karl Marx, München 1974, 39f. Noch 1846 und 1847 konnten sich Prutz und Varnhagen darüber beklagen, daß es in Deutschland keine Parteien gebe. Siehe die ganz hervorragende Schilderung der Entstehung des Parteibegriffes bei G. Mayer, Die Anfänge des politischen Radikalismus im vormärzlichen Preußen (1913), in: Radikalismus, Sozialismus und bürgerliche Demokratie, Fft. a. M. 1969, 7-18.
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Wir müssen demnach auch heute auf die berühmte Dreiteilung der Hegelschule nicht verzichten. Was sie bislang suspekt machte, geht zum Teil zu Lasten der Hegelforschung selbst, zum Teil löst es sich in zu bewältigende Gliederungsprobleme auf. Nicht nur der schon erwähnte Gleichklang der Trichotomie mit der Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, auch (und gerade) die Vagheit der Begriffe erlaubt es, mit ihnen an mehrere Grenzmarken zugleich anzuknüpfen, an die theologischen und philosophischen Probleme der Entstehungszeit der Schule, an die Politik damals wie heute sowie an die Wechselwirkungen zwischen beiden, an mehrfach verschränkte Assoziationen, die in ihrer Komplexität eingebracht werden müssen. Neutralere Begriffe wie „Universalismus-Individualismus" oder nur — politische Kategorien wie „konservativ", „liberal", „progressiv" etc. verschenken die vielfachen Parallelen und Abhängigkeiten, die sich doch ablesen lassen. Es hat nicht nur die bekannte Hegeische Linke oder die von manchen in Erinnerung behaltene Hegeische Mitte, es hat auch die von Lübbe bestrittene politische Rechte gegeben, die im 19. Jahrhundert zwar nur durch Erdmann, Rößler und A. Lasson repräsentiert wurde, deren zahlenmäßige Unterlegenheit jedoch die ganze Schule der Hegelianer des Dritten Reiches wettmachen kann. So hoffen wir, an jede der drei für uns relevanten Bedeutungen der alten Begriffe anknüpfen zu können, an die direkt-politische, die politisch-philosophische und die Ursprungs- bzw. emanzipationsphilosophische. Jede müßte sich so definieren lassen, daß relativ homogene Gruppen entstehen, die Sammelbecken der Hegelauslegung von damals bis heute bilden können.
3. Politische, politisch-philosophische und „Ursprungs-" bzw. „emanzipationsphilosophische" Kriterien für eine aktualisierte Gliederung der Deutungen 3.1. Politische Kriterien Eine politologisch saubere Definition von „rechts" und „links" wäre heute eine Aufgabe eigener Art, nachdem die Sozialpolitik nicht mehr distinktiv für die Parteien ist und die totalitären Ideologien ehemals revolutionäre und reaktionäre Elemente seitenverkehrt mischten. Nur ein Minimalkonsens über die politischen Kriterien wird sich erzielen lassen, und die Vertreter der Extreme werden (dem politischen Brauch gemäß) die
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Mitte einmal als reaktionär verdächtigen, ein andermal als revolutionär verteufeln. Dennoch springt der Parallelismus zwischen der Dreiteilung und den Einstellungen zum Problem von Individuum und Gemeinschaft ins Auge, wenn nur fünf (relativ) unkontroverse Maßstäbe einmal angelegt werden. (1) Eine Kontinuität der alten und neuen Hegelgruppen demonstriert die aktualistische Abhängigkeit von der jeweiligen Politik der Zeit. Die Oppositionsrolle gegen preußische Politik und/oder kapitalistische Gesellschaft setzt der heutige Linkshegelianismus fort, der Hegel immer noch in die zweideutige Rolle des Vaters des Marxismus und des Ideologen der kapitalistischen Gesellschaft zwingt und in ähnlich radikaler, sogar manchmal in der Theorie noch verschärfter Opposition gegen die spätkapitalistische Gesellschaft steht, deren Negativität, so lehren manche heute, total geworden sei und nun auch die Entzweiung integriert habe, die Hegel noch auszuhalten empfahl16. Die Rechtshegelianer haben sich einer Anpassung an die konservativen Tendenzen „schuldig" gemacht, sei es der preußische Konservatismus, die Bismarcksche Machtpolitik oder der Nationalsozialismus gewesen, eine Anpassung, die sich der Hegelauslegung durchaus als kontinuierliche, wenn auch ständig radikalisierte Deutungstendenz zu erkennen gibt. Die liberalen Kritiker des mit Bismarck oder Hitler geistesverwandten Hegel argumentieren vom Boden der Erfahrung des gerade gescheiterten Zweiten Reiches, von einer verschwiegenen Parteinahme für die junge Weimarer Republik, unter dem Eindruck des ausgehenden Zweiten Weltkrieges, des Faschismus und der Ideologie der westlichen Welt und sogar im Zuge der Vergangenheitsbewältigung im Nachkriegsdeutschland. Hatte die alte Hegeische Mitte für die konstitutionelle Monarchie und für Reformen gestritten, so ist sie heute bei einer versteckten, aber doch spürbaren Leseweise angelangt, welche Hegel in die Ahnenreihe der Väter der westlichen Demokratien einzubeziehen versucht und (wie in ihrer Frühgeschichte so auch heute) die rechtlich gesicherte und garantierte Freiheit und Gleichheit aller im „modernen" Rechtsstaat Hegels verwirklicht sieht17. 16
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Außer Adorno, Horkheimer und Marcuse jetzt auch Habermas, der das schlechte Ganze das Individuum mitsamt der „Entzweiung" vereinnahmen sieht, J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Fft. a. M. 1973, 162ff. Vgl. dazu den Schlußabschnitt des zweiten Bandes „Hegel und das Ende des Individuums". Die wechselseitige Abhängigkeit von Hegelianismus und Politik, die für den Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus des 19. Jahrhunderts Toennies bemerkte, reicht demnach bis ins 20. Jahrhundert, F. Toennies, Hegels Naturrecht (1932), in: H. Reichelt
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(2) Geradezu im wörtlichen Anklang an die Entstehungsgeschichte der Begriffe „links" und „rechts", die ja einmal die Sitzordnung der Parteien in ihrer Einstellung zum ancien regime angaben, gruppieren sich gestern und heute die Deutungen über die Rolle der Französischen Revolution (und der sie spiegelnden Theorien) in Hegels Philosophie18. Begrüßen die Rechtshegelianer die Delegierung des abstrakten Rechts, der Gesellschaft und der revolutionären Ideale von Freiheit und Gleichheit an Sittlichkeit, Volk, Nation und organischen Staat, so kritisieren die Linkshegelianer die Gefährdung von Freiheit, Gleichheit und Recht in der Sittlichkeit, im Volk oder im autoritären Staat. Rückt Hegel für beide näher an Burke als an Paine, Montesquieu, Rousseau, Kant und Fichte, so kritisieren die liberalen Hegelgegner die Pervertierung der Revolutionsideale und Hegels Geistesverwandtschaft mit der Gegenrevolution. Die Hegelianer der Mitte aber sehen in allen Auslegungsrichtungen eine überzeichnete Wahrheit. Zwar überwindet Hegel die Theorien der Revolution, zwar wendet er sich entschieden ab vom abstrakten Einzelwillen, der den anarchischen Terrorismus der Revolutionsphase des „terreur" verschuldete, aber die emanzipatorischen Ideale der Revolution wie Freiheit und Gleichheit werden von Hegel gerade anerkannt und als mit der Gesellschaft weltgeschichtlich universal gewordene Erscheinungsformen der modernen Welt gewürdigt. (3) Allgemein politischen Kriterien entspricht die Einstellung der Gruppen zur bürgerlichen Gesellschaft, die von den Linkshegelianern zum (heimlichen) Zentrum des Systems erklärt wird, das in seiner antagonistischen und individualistischen Struktur die Versöhnung im Großen (in der Philosophie) wie im Kleinen (im Staat) als Schein denunziert. Kein Zentrum des Systems, sondern einen relativen Bereich des objektiven Geistes symbolisiert die Gesellschaft für die Hegeische Rechte. Erklären die einen die Sphäre der Bedürfnisbefriedigung und Arbeit zum Reich der Selbstverwirklichung des Menschen, so stellen die anderen nach dem Wort, der Mensch lebe nicht vom Brot allein, Sittlichkeit und absoluten Geist über die Sphäre bloßer Bedürfnisbefriedigung. Die Hegeische Mitte kann der Gesellschaft als Naturbasis des Staates nur eine relative Funktion zuerkennen, sie ist jedoch auch bereit, sie als Sphäre der Emanzipation zu
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(Hrsg.), G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Fft. a. M.-Berlin-Wien 1972, 779ff. Habermas scheint eine Einteilung der Interpretationen in konservative (Larenz), liberale (Ritter, Fleischmann) und linkshegelianische (Marcuse) anzustreben, eine Dreiteilung, die sich unserer Gruppierung gut als ein wichtiger Punkt einpassen läßt, J. Habermas, Hegels Kritik der Französischen Revolution (1962), in: Habermas 41971, 140f.; ähnlich Habermas 1966, in: op. cit. 169.
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würdigen, die dem Menschen eine seine Naturbestimmung transzendierende Freiheit ermöglicht. (4) Hand in Hand mit der Gewichtung der Gesellschaft geht die Einschätzung ihrer Relation zum Staat, die sich vereinfacht auf die Formel Reduktion des Staates auf die Gesellschaft (linkshegelianisch), Stärkung des Staates gegenüber der Gesellschaft (rechtshegelianisch) und doppelseitige Beziehung beider Bereiche (Mitte) bringen läßt. Seit Marx attackieren die Linkshegelianer den Staat, in dem nur der abstrakte Staatsbürger frei, gleich und sicher sein kann, sich de facto aber der konkrete Privatbürger durchsetzt. Dieser Staat soll „absterben" und auf die Gesellschaft zurückgeführt werden, damit er sich nicht mehr als fremde Macht von den Individuen abhebt. Als Staat kann er keine positive, eigenständige, politische Funktion erfüllen, so heißt es im Namen des marxistischen Antiinstitutionsaffekts bis heute19. In spiegelbildlicher Seitenvertauschung setzen die Rechtshegelianer immer den „starken" Staat von der bloß individualistischen Gesellschaft ab. Die Reduktionsidee des Liberalismus, das Vertragsdenken, der Utilitarismus und alle vom Einzelnen ausgehenden Begründungsformen des Staates verwechseln Staat und Gesellschaft. Zwar garantiert erst der autoritäre Staat angesichts der anarchischen Gesellschaft überhaupt ein Zusammenleben, aber ein Staat legitimiert sich nicht erst aus der Zustimmung der Einzelnen; das Politische besitzt ein Eigenrecht, der Staat den Charakter eines Selbstzwecks. Für die Hegeische Mitte, die die Gefahr der Verselbständigung des Staates sieht und doch zugleich die in den Institutionen objektiv gespeicherte Freiheit anerkennt, symbolisieren Rechte und Linke einseitige Momente. Wie Hegel nämlich der Gefahr entgeht, durch die Reduktion des Staates den Menschen auf die Bedürfnisnatur zu verstümmeln, so weigert er sich auch, einen autoritären Staat über die Gesellschaft herrschen zu lassen, der den Verlust der gesellschaftlich bereits realisierten Freiheit herbeiführen müßte. Hegels Doppelstrategie anerkennt die moderne Trennung von Gesellschaft und Staat als auch ihre im Interesse beider notwendige Vermittlung, sozusagen von „unten" und von „oben". 19
So wiederholt noch heute die Kontroverse Luhmann-Habermas mit dem Gegensatz von „Systemebene" und „Handlungsebene" die vorher zwischen Hegel und Marx verlaufende Front. Wie Willms Hegel mit Luhmann und Fries mit Habermas vergleicht, so könnte man auch Luhmann mit Hegel und Habermas mit Marx verschwistem, da der eine es auf die Reduktion der Systemebene auf die Handlungsebene, der andere auf die unaufhebbare Differenz abstellt. B. Willms, Kritik und Politik. Jürgen Habermas und das politische Defizit der .Kritischen Theorie', Fft. a. M. 1973, 92ff.
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(5) Noch einmal ineinandergreifend in die Maßstäbe von (1) bis (4) entspricht auch das jeweils in Hegel hineingedeutete Staatshild politischen Minimalkriterien. Den Linkshegelianern erschien Hegels Staat als antidemokratisches, antiliberales, der Volkssouveränität und allen progressiven Forderungen der Zeit feindliches Monstrum, als ein Polizeistaat und Auswurf der bürgerlichen Gesellschaft, die Rechtshegelianer dagegen lobten Hegel als Philosophen der Restauration, als Lehrer des organischen Machtstaates und als Vorläufer des totalitären Staatsgedankens. Hatte sich Hegel für die einen an das reaktionäre Preußen akkommodiert, so hatte er für die anderen den Staat Bismarcks und den völkischen, totalen Staat bereits in der Struktur antizipiert und nicht nur den Staat über Recht, Moralität und Gesellschaft gesetzt, sondern auch Krieg über Frieden und Nationalismus über Kosmopolitismus gestellt. Die Hegelianer der Mitte kontrastieren beiden Richtungen Hegels Eintreten für die konstitutionelle Monarchie oder den modernen Rechtsstaat. Ohne sich an Preußen zu akkommodieren oder Bismarck oder Hitlers Staat zu antizipieren, hat Hegel Freiheit und Gleichheit auf der Basis des Rechts so im Staat bewahrt, daß die Ansprüche des modernen Individuums befriedigt werden.
3.2. Politisch-philosophische Kriterien Die direkt politisch, als Stütze für die Einteilung in Rechte und Linke, verwendbaren Maßstäbe bedürfen, obwohl sie manchmal schon in philosophische Kriterien übergehen, einer philosophischen Fundierung. Die alten Argumentationsmuster der Hegelschule lassen sich auch hier so aufnehmen, daß sie ein Gliederungsprinzip für die Entwicklung der Deutung bis heute bieten. Das Motto der Rechtsphilosophie: „Was vernünftig ist, das ist wirklich und was wirklich ist, das ist vernünftig"20, kann da immer noch als Leitformel der Schulspaltung einen gewissen Dienst leisten21. Für die Linkshegelianer war es, vereinfacht gesagt, die Glorifizierung der Vernünftigkeit des Wirklichen, welche zur ethisch-politischen Entmündigung des Individuums führen mußte. Indem Hegel alles Sollen als „ohnmächtiges" Postulieren abtut und er der Philosophie nur das nach20
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Rph 1821, SW VII, 33. Löwith erinnert mit Recht daran, daß sich an diesem Motto die Schulspaltungen ablesen lassen, da es „nach rechts und links" vereinzelt wurde, „zunächst in der Frage der Religion und dann in der Politik. Die Rechte betonte, daß nur das Wirkliche das Vernünftige und die Linke, daß nur das Vernünftige das Wirkliche sei . . .", Löwith 3 1969, 83.
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trägliche Begreifen der Ereignisse zutraut, indem er die eigene Epoche zu einer absoluten Gegenwart verklärt, kommt es zu einer Enthistorisierung und ungeschichtlichen Verabsolutierung einer Epoche und zur metaphysischen Überhöhung des Empirisch-Wirklichen, das vom VernünftigWirklichen ununterscheidbar wird. Die Komplicenschaft mit der preußischen Reaktion, die Beseitigung der Revolutionsideale, die Uberformung der Gesellschaft durch den starken Staat und das Staatsbild selbst haben auch in diesem Komplex von Lehren ihre Fundierung, die die Gravitation des Systems zum Bestehenden erzwingen. Wie eine solche politische Philosophie die Einzelnen um ihren Anteil am Staatsleben, um moralische Autonomie und individuelle Freiheit betrügt, so überläßt sie die Geschichte einem Weltgeist, der hinter dem Rücken des Einzelnen die Geschichte vorantreibt und nur nachträglich theoretisch eingeholt und anerkannt werden kann. Ein hypostasiertes Subjekt (nicht die Einzelnen) macht die Geschichte. Die Rechtshegelianer unterstützen die Präferenz für die Vernünftigkeit des Wirklichen vor allem bloßen Sollen und Postulieren. Hier liegt wiederum einer der Schlüssel für ihre starke Anpassung an die jeweilige Politik der Zeit, für ihre Absage an die revolutionären Ideale, für ihre Vorliebe für die vorhandene Sittlichkeit und den mächtigen Staat sowie für das Abrücken von den „leeren" Idealen von Völkerrecht, Kosmopolitismus und Frieden. Die Rationalität der vorhandenen Vernunft rechtfertigt die Einbettung des Individuums in Sitte, Sittlichkeit, Volk und Nation. Volksgeister, Nation und Weltgeist sind legitime Subjekte der Geschichte, die von ihnen und allenfalls noch von großen Männern gemacht wird. In der Deutung der Geschichtsphilosophie wird der historizistische Einschlag des Rechtshegelianismus unverkennbar. Was sich, wenn auch mit Gewalt, durch Krieg, Übel oder die Hilfe des Bösen durchgesetzt hat, beweist seine Rationalität eo ipso. Nur das Morsche und Brüchige geht in der Geschichte unter, die zugleich das Weltgericht ist. Die liberalen Kritiker haben oft nur die Auswirkungen dieses Komplexes von Ansichten attackiert, die Machtphilosophie, den Universalismus, die Absage ans Sollen, an die weltbürgerlichen und philanthropischen Ideale. Manchmal allerdings haben sie auch die Vermischung von Vernunftidee, Ideal und empirischer Existenz in ihre Kritik einbezogen. Schwerpunktmäßig aber war es der immanente Historizismus, die Gleichsetzung von Erfolg und Vernunft, die ihnen die Subordination der Individuen unter den Weltgeist zu erzwingen schien. Nur eine Marionettentheorie, die die Einzelnen zu Puppen in der Hand des Weltgeistes
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degradiert, garantiert die Einheit der Vernunft in der Welt, ohne allerdings verhindern zu können, daß der Weltgeist, der das Übel und das Böse für sich arbeiten läßt, sich selbst kompromittiert. Keine einseitige Verherrlichung des Wirklichen noch ein Ausschluß von Zukunft und „Tat", kurz von zukünftiger Realisierung von Vernunft, läßt sich Hegel nach den Lehren der Hegeischen Mitte anlasten. Die Sollenskritik Hegels bezeugt nicht die Vertheoretisierung der Praxis oder die Überschätzung der vorhandenen Vernunft, sondern nur Hegels Gegnerschaft gegen das „abstrakte" Sollen, das genauso wie der romantischrestaurative Wille den bereits realisierten Stand an Vernunft gefährdet. Erst eine „Theorie" wie die Hegels, die sich nicht dem Zeitgeist verschreibt, sondern das „Ewige im Jetzt" als Maßstab an die Gegenwart anlegt, kann sich die Distanz zum Faktischen bewahren. Wie Hegel sich nicht an Preußen akkommodiert, sondern den „modernen" Staat mit den Idealen der Revolution zusammen etabliert, so geht der Vorwurf der Vermengung des Empirisch-Wirklichen mit dem Vernünftig-Wirklichen an Hegel vorbei. Zwar ist alles, was wirklich ist, für Hegel „göttlich" im Sinne der Tradition, aber nicht alles, was „existiert", ist auch wirklich. Wie der Staat Freiheit und Autonomie der Einzelnen auf der Basis des Rechts bewahrt, so wird den Individuen ihr Anteil an der Geschichte gesichert, die kein hypostasiertes Subjekt kennt, sondern die Einzelnen als konstitutiven Teil des Geistes aktiv mitwirken läßt.
3.3. Ursprungs- und emanzipationsphilosophische Kriterien Die Unterscheidung der Deutungsgruppen nach Kriterien ergibt das volle Spektrum der Trichotomie nicht mehr, wenn wir uns der letzten Differenzierung zuwenden. Die theologischen Rechtshegelianer lassen sich politisch den Linkshegelianern nicht als eigene Gruppe gegenüberstellen. Wie es das Wort von der „theoretischen Beschaulichkeit" und dem „Brahmanentum" (Rüge) anzeigt, waren sie eher politisch abstinent, als an den politischen Streitfragen oder gar an einer Umsetzung ihrer theologischen Ansichten in Politik interessiert. Sogar bei den „politischen" Rechtshegelianern wie Rößler, A. Lasson und den Hegelianern des Dritten Reiches spielt die Religionsphilosophie keine für die Politik oder die politisch-philosophische Hegelauslegung erkennbare Rolle. Zwar akzentuieren manche antitheologischen Deutungen marxistischer Provenienz den Revolutionär und Politökonomen Hegel, während theologische Deutun-
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gen (wie etwa die von Häring) den Politiker, Ökonomen und Revolutionär herunterspielen. Aber allenfalls bei Erdmann läßt sich eine synchrone Parteinahme für die kirchliche Orthodoxie und die preußischen Zustände ausmachen, allerdings auch nicht so, daß man hierin ein Gegenstück zu der linkshegelianischen Umsetzung der Religionskritik in die Forderung nach sozialer und politischer Emanzipation sehen könnte. Die Gleichung der Vergötzung von „Thron und Altar"22 entspricht (wenigstens in der Geschichte der Hegelforschung) eher linkshegelianischem Wunschdenken als der Wirklichkeit. So bleibt das Problem, daß der vierte Sinn, den die alte Einteilung hatte, in der Geschichte der Hegelforschung eigentlich nur zwischen linkshegelianischen und mittleren Deutungen trennt. Für diese oft anspruchsvollen Auslegungen ist der Raster der Begriffe „Ursprungs- und Emanzipationsphilosophie" allerdings von entscheidender Wichtigkeit, ein Schlüssel, der oft bis in die subtilen Höhen der Logikkritik die Aversion gegen Hegels Behandlung der Individualität oder die Anerkennung seiner Lösung auf schließt. Der Zusammenhang zwischen linker Religionskritik, Hegelkritik und Politik, wie er mit den Namen Strauß, Feuerbach und Marx verbunden ist, durchzieht auch heute noch die meisten linkshegelianischen Hegeldarstellungen, nicht nur die der Religionsphilosophie, sondern die des ganzen Systems. Die Negation des „transzendenten" Absoluten und die Negation des „transzendenten" Hegeischen Systems, beide zusammen ergaben erst die Position des Individuums sowohl für den tagespolitischen Kampf der Hallischen Jahrbücher, als auch für die Intentionen eines emanzipatorischen naturalistischen Materialismus, als auch für die Zwecke revolutionärer soziopolitischer Emanzipation. Schon damals wollte sich die zum avancierte Gattung nicht die Realisierung der Vernunft und das Machen der Geschichte durch einen den Menschen entzogenen Ursprung (oder durch eine durch Christus bereits objektiv geschehene Versöhnung) mehr verderben lassen. Das abschlußhafte, sich in sich schließende System, so meinte man, hat den „Ursprung" der traditionellen Theologie und Metaphysik noch einmal in seine transzendente, in sich zurückkehrende Logik und in ein Kreisen von Kreisen gerettet. „Emanzipation" in allen ihren Schattierungen wurde zur linkshegelianischen Gegenlosung. Die einzige Neuerung, die der heutige Linkshegelianismus hinzubrachte, ist quasi der Versuch, diese frühere Gegenparole mehr und mehr in Hegel 22
Beyer 21967, 61, 68.
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zurückzuprojizieren. Hegel selbst wird für Kojeve fast völlig, für Lukäcs partiell zum Emanzipationsphilosophen; Bloch, Marcuse, Adorno und Habermas lassen ihn die fundamental zweideutige Rolle des gleichzeitigen Emanzipations- und Ursprungsphilosophen spielen, allerdings letztlich so, daß den emanzipationsphilosophischen Ansätzen schließlich der Ursprungsphilosoph die Pointe „verpatzt", sei es durch das Übergreifen des antiquarischen über den utopischen Hegel, des reaktionären Systemphilosophen über den kritischen Theoretiker oder der Identität über die Nicht-Identität. Nicht nur die Kritik am System und an der Logik, auch die am Weltgeist und absoluten Geist hat hier ihre oft versteckte religionskritische Wurzel. So formuliert einmal Habermas ganz typisch, man kritisiere den absoluten Geist, der „noch in der Geschichte über sie Herr geblieben war"; denn mit der „Wissenschaft der Logik . . . verpatzt Philosophie die dem Mythos gestohlene Pointe des atheistischen Gottes, der zur Geschichte erstirbt und wahrhaft eine Geburt durch Menschenhand, die darum auch nicht bloße Wiedergeburt sein darf, geschichtlich riskiert"23. Die einzige Gegenposition offerieren dazu die Hegelianer der Mitte, die sich weigern, die noch zu realisierende Göttlichkeit des Menschen gegen die schon geschehene oder noch zu leistende Versöhnung auszuspielen. Denn wenn der tiefere Sinn der Identität von Vernunft und Wirklichkeit ein religionsphilosophischer ist, der von einer durch Christus geheilten „Wirklichkeit" und einer logosphilosophischen „Vernunft" ausgeht, dann muß Hegels Philosophie wieder gegen reaktionäre und revolutionäre Folgerungen geschützt werden. Verstand Hegel die Versöhnung primär als „christliche", dann kann er sich nicht zugleich der Glorifizierung des Bestehenden und der Akkommodation schuldig gemacht haben, die Empirisch- und Vernünftig-Wirkliches durcheinanderwürfelt. Kann sich die Entzweiung der modernen Welt nur auf dem Boden einer christlich geschehenen Versöhnung entfalten, dann kann nicht Hegel selbst revolutionärer Emanzipationsphilosoph gewesen sein, der den Bruch mit der Herkunftsgeschichte intendierte. Die schon objektiv geschehene Versöhnung und das transzendente Absolute sind somit gerade die Basis einer praktischen Philosophie, welche die Menschheit weder utopisch überschätzt noch im Namen der Vergangenheit entmündigt. Dem Christentum selbst verdankt Hegels Philosophie die emanzipatorischen Ideale genauso (von der Vorgeschichte des modernen 23
J. Habermas, Zwischen Philosophie und Wissenschaft. Marxismus als Kritik, in: Habermas 41971, 247.
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Individuums im Erlösungsereignis, in der Verbreitung der christlichen Lehre, bis zur Reformation und der Geschichte der „Innerlichkeit") wie die Revolutionsferne. Beides anerkennt Hegel, die immer schon vorliegende Versöhnung und die Notwendigkeit der Entäußerung und Entzweiung, zu der das Individuum auf allen Stufen der geistphilosophischen Entwicklung gehört. Wie Hegel konkret sozio-politisch seine Zeit als eine entzweite anerkennt und doch ihre Versöhnung nicht ausschließt24, so erweist sich sein ganzes Denken als ein ausgewogenes Ineinander von Ursprungs- und Emanzipationsphilosophie bis in den Denkstil und die Logik hinein, in der die Dialektik von Ansich und Fürsich, von immer schon Vorausgesetztem und Einholung der Voraussetzung, von Anfang und Ende immer die Doppelbewegung bezeugt, die sowohl zu dem zurückkehrt, was sie schon immer war, als auch die größte Differenz entfaltet und zuläßt.
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Inwieweit das Individuum selbst zu dieser „Entzweiung" gehört, wird in Abschnitt IV deutlich werden.
II. Linkshegelianische Kritik am antiindividualistischen System Die bekanntesten Hegelkritiker waren und sind die Linkshegelianer, deren Argumente das Hegelbild wahrscheinlich stärker geprägt haben als die aller anderen Gruppen zusammen. Deshalb kann eine Diskussion der Hegelinterpretationen nicht an ihnen vorübergehen, auch wenn die Gefahr besteht, daß gerade hier oftmals, anders als bei den vergessenen Rechtshegelianern und manchen Hegelianern der Mitte, sozusagen offene Türen eingerannt werden. Aber manches, so hat es oft den Anschein, ist doch vergessen, anderes wird nur in der Zusammenstellung mehrerer Interpreten sichtbar. Manchmal wird die aktualistische Abhängigkeit dieser Gruppe unterschätzt, die schon vom Beginn ihrer Geschichte an Hegelkritik und Politik verknüpfte, vom Kampf gegen die preußische Restaurationspolitik über die Reforminteressen der frühen Liberalen (die sich der linkshegelianischen Argumente bedienten und ebenfalls die Hegelkritik als eine politische Waffe benutzten) bis zur heutigen pessimistischen Gesellschaftskritik, in der Hegel als Ideologe der kapitalistischen Gesellschaft und als geistiger Vater von Marx sich einer zweideutigen Beliebtheit erfreut. Der philosophische Grund für die aktualistische Anfälligkeit dieser Gruppe darf wohl in der Glorifizierung des „Zeitgeistes" gesehen werden, der als historizistisch verdächtiger Maßstab der Vernunft zurückblieb, nachdem aus Hegels Einheit von Geschichte und Metaphysik die Metaphysik gestrichen wurde. Allerdings hat der Linkshegelianismus nicht nur (durch aus der jeweiligen Zeit allein verständliche Verzerrungen) Hegel entstellt, sondern neben den in seinem geistigen Milieu entstandenen Vorwürfen wie Akkommodation, Mystifizierung und Uberformung der Gesellschaft durch einen abstrakten und autoritären Staat, die sich zum Teil verhängnisvoll für die Hegelforschung ausgewirkt haben, hat er auch entscheidende Perspektiven für das Problem von Theorie und Praxis, Logik und Empirie, Metaphysik und Geschichte, Individuum und Allgemeinheit eröffnet, die in die Diskussion eingebracht werden müssen. Rüge (!.!.)> Feuerbach (1.2.) und Marx (1.3.) können uns als drei idealtypische Repräsentanten des alten Linkshegelianismus gelten, Rüge als
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Drei Strömungen der Kritik im alten Linkshegelianismus
Verbreiter der Akkommodationskritik, die den Vorwurf der Unterdrückung des Individuums auf ihre bis heute einflußreichste politische Formel brachte, Feuerbach als Popularisierer der Religionskritik, welcher der emanzipationsphilosophischen Grundstimmung des Linkshegelianismus in der Kritik am totalen, alles Individuelle ausschließenden System und seiner Theo-Logik ihre anthropotheistische Grundlage gab, Marx schließlich als derjenige Linkshegelianer, der als einziger die Nahtstelle von Gesellschaft und Staat in ihrer Bedeutung erkannte und die Stellung des Individuums in der sozio-politiscben Dimension in die Diskussion einbezog. Die akademisch einflußreiche Fortsetzung und Etablierung der linkshegelianischen Kritik thematisieren wir mit Rudolf Haym (2.), der, eng angelehnt an Ruges Argumente, die Kritik an der ethisch-politischen Subordination der Individuen auf das ganze „Restaurationssystem" ausdehnte. Der ganze Hegel, der junge wie der ältere, ist im Linkshegelianismus (wie auch in den anderen Hegelgruppen) erst in diesem Jahrhundert in den Blick gekommen. Die Nähe des jungen Hegel zu Revolution und Atheismus hat dort im Verein mit dem heute fehlenden politischen Druck, der in der Urphase des Linkshegelianismus die Abgrenzung erzwang, eine eigenartige Situation geschaffen, die am Ende zu Konflikten führt. Die berühmteste linkshegelianische Darstellung des jungen Hegel, die von Lukäcs (3.1.1.), versucht Hegel als Revolutionär, Antitheologen und Politökonomen zu vereinnahmen, Kojeve tauft den Hegel der Phänomenologie mit den geweihten Wassern der Revolution und des Atheismus (3.1.2.), und selbst die Gesamtdarstellungen sind von der Ambivalenz einer simultanen Hegelattraktion und Hegelrepulsion nicht frei. Bloch ernennt Hegel (trotz partieller Überwindung des Dogmas der Trennung von System und Methode) sowohl zum Philosophen der Hoffnung als auch zum reaktionären Systematiker (3.2.1.), Marcuse sieht in Hegel sowohl den Vater der kritischen Theorie als auch den Akkommodationsphilosophen und Universalisten (3.2.2.), und Adorno schneidet das Identitätssystem auf eine negative Dialektik zurecht, die in Feuerbachscher-Kierkegaadscher Radikalität das Denken durch eine neue Logik dem Individuellen zukehren möchte, das Hegels Spekulation unter sich begraben haben soll (3.2.3.).
Linkshegelianische Kritik am antiindividualistischen System
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1. Drei Strömungen der Kritik im alten Linkshegelianismus 1.1. Die politische Kritik oder Preußen und die politische Freiheit des Individuums (A. Rüge) Erst mit Arnold Rüge beginnt die eigentliche Geschichte jener wohl einflußreichsten Legende der linkshegelianischen Hegelkritik überhaupt, jener Legende, mit der man Hegel bis heute vorwirft, er habe moralische Autonomie und politische Freiheit des Subjekts dadurch verspielt, daß er seine Philosophie an ein „reaktionäres" Preußen akkommodierte. Dabei war Rüge gewiß nicht der erste, der nach dem Flug der Eule der Minerva in der Dämmerung nun die Morgenröte eines neuen Tages anbrechen sah und gegen das theoretisch „geschlossene", „totale" System zu einer Philosophie der Tat aufrief1. Ebenso kann Rüge kaum als der Urvater jener Legende gelten, die Hegels Philosophie zur königlich preußischen Staatsphilosophie erklärte2. Aber Ruges Kritik fiel nicht nur auf den fruchtbaren Boden eines politisierten „Zeitgeistes", der in Deutschland das literarische Leben (wie Gervinus es formuliert hatte) durch das politische ablöste3 und den Aufstieg des Bürgertums nach den Freiheitskriegen 1
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Die Stimmung, in der man den neuen „Morgen" der Weltgeschichte erwartete, war schon vor Ruges Linkswende um 1839/40 unter den Linkshegelianern allgemein verbreitet (z.B. Stuke 1963, 52 — 82), auch hatte Cieszkowski, der Systematiker einer nach-hegelschen Philosophie der Tat, seine „Prolegomena zur Historiosophie" bereits publiziert (Berlin 1838). Stuke 1963, 85ff.; Lobkowicz 1967, 164ff., Gebhardt 1963, 180ff. Paulus greift in seiner Rezension der Rechtsphilosphie bereits 1821 (!) das Dictum von der Identität der Vernunft und Wirklichkeit als Vermengung des „Empirisch-Wirklichen" mit dem „Vernünftig-Wirklichen" an, I Bd. L, 365ff. Bereits 1822 fällt das Won „accomodiren" im Sinne einer Anpassung an die „Tagesordnung" und einer (anachronistisch gesagt) „historistischen" Gleichsetzung von bloßem Geschehen und Norm, und zwar in der Rezension des anonymen Rezensenten „Z. C.", I Bd. L, 403. Heine meinte 1835, Hegel sei einer der Philosophen, die alle Interessen des Staates rechtfertigten, „worin sie sich angestellt befanden". H. Heine, Schriften über Deutschland, Werke Bd. IV, H. Schanze (Hrsg.), Fft. a. M. 1968, 238. Erdmann beklagte sich, daß bereits 1837 von der „heidnischen Staatsvergötterung" Hegels allenthalben die Rede war, J. E. Erdmann, Die deutsche Philosophie seit Hegels Tode, Berlin 1896, Neudr. mit einer Einleitung von H. Lübbe, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, 710 u.a.m. Rüge konstatierte und förderte diese Tendenz. Das zeigen schon seine berühmten Worte „Unsere Zeit ist politisch . . ." (DJ, 10. Aug. 1842, Nr. 189, 455), aber auch das Manifest „Protestantismus und Romantik", in dem Rüge (und Echtermeyer) nur noch der Politik, nicht aber mehr der Kunst, und sei es Schillers „Ideal der freien Menschheit" oder Goethes „schöne Subjektivität", eine Versöhnung der romantisch zerrissenen Welt zutrauen (HJ, 6. Nov. 1839, Nr. 226, 2727). Wie Gervinus den Versuch der Politisierung durch Literaturgeschichte symbolisiert (G. G. Gervinus, Schriften zur Literatur, G. Erler, Hrsg., Berlin 1962, XVIIIff.), so repräsentiert Rüge den „Übergang vom
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Drei Strömungen der Kritik im alten Linkshegelianismus
signalisierte, sondern sie erfüllte auch für die linkshegelianische Bewegung die wichtige Doppelfunktion, eine Verarbeitung der allgemein-politischen Enttäuschungen als auch eine Kompensation für die bis ins Private reichenden Frustrationen über die preußische Politik anzubieten, und zwar in unverfänglichem philosophischem Gewände. Mit dem Mantel des Zeitgeistes konnte man so bedecken, was freilich nicht ausschließlich, aber doch zum Teil private Verbitterung gewesen ist. Voraussetzung dafür war freilich, daß schon die vorhergehende Zustimmung zu Preußen und Protestantismus eine hegelianische gewesen war, die mit politisch-philosophischen Begriffen beide zu einer Einheit verschmolzen hatte. Erst so wurde es möglich, Hegel zu „schlagen" und Preußen zu meinen, erst so konnte Ruges politische Schwenkung „von einem regierungsfrommen Liberalismus zu einem radikal oppositionellen Demokratismus"4 die Basis werden, von der aus Hegel zunächst für Preußen reklamiert und dann mit Preußen kritisiert wurde. Schwer nachvollziehbar ist für uns heute schon jene erste Symbiose von Preußen, Protestantismus und Hegelscher Philosophie, zu welcher der ehemalige Burschenschaftler Rüge5, zusammen mit den Autoren der Hallischenjahrbücher6, 1838 die politische Realität verklärt. Zwar kämpft
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literarischen zum politischen Journal", das erst jetzt, nach der vorausgegangenen politischen Publizistik (etwa in Wielands „Teutschem Merkur" oder Schlözers „Staatsanzeiger") seine von nach-hegelschem Geist beflügelte Blüte erreichte, wie sie heute noch die verschiedenen „Anekdota" Ruges oder Grüns, Herweghs „Einundzwanzig Bogen", Bauers „Allgemeine Literaturzeitung" sowie die verschiedenen „Jahrbücher" bezeugen, siehe H. Rosenberg, Theologischer Rationalismus und vormärzlicher Vulgärliberalismus, in: Historische Zeitschrift Bd. 141 (1930), 515f. H. Strauß, Zur sozial- und ideengeschichtlichen Einordnung Arnold Ruges, in: Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte Bd. 12 (1954), 165. Ruges so farbenreicher Lebensweg (1803 — 1880) vom Burschenschaftler, der mehr als ein halbes Jahrzehnt in Festungshaft verbringt, vom Borussophilen zum Antipreußen, vom Mitglied der Paulskirche zum Anhänger Bismarcks wurde oft ausführlich dargestellt. Sehr lesenswert die kenntnisreiche Biographie W. Neher, Arnold Rüge als Politiker und politischer Schriftsteller, Heidelberg 1933, aber auch die Aufsätze des Vaters der modernen Vormärzforschung G. Mayers, neben Mayer 1913, in: Mayer 1969, 7ff., auch ders., Die Junghegelianer und der preußische Staat, in: Historische Zeitschrift Bd. 121 (1920), 413ff.; H. Rosenberg, Arnold Rüge und die Hallischen Jahrbücher, in: Archiv für Kulturgeschichte Bd. 20 (1930), 281 ff. Die philosophische Entwicklung Ruges natürlich auch in der älteren Darstellung von Löwith 31969, 96ff., 295ff., 320ff., 368f. und bei S. Hook, From Hegel to Marx, New York 31958, 126ff. Die Hallischen Jahrbücher gelten auch heute noch als die wohl einflußreichste philosophische Zeitschrift, die es in Deutschland je gab. „Die deutsche Philosophie hat bis zur Gegenwart dieser Zeitschrift nichts an die Seite zu stellen, was ihr an kritischer Eindringlichkeit, Schlagfertigkeit und geistespolitischer Wirksamkeit gleichkäme, Löwith 3 1969, 99. Dieses Urteil Löwiths dürfte gerechter sein als das bei Heine wie bei Marx
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man gegen die „Reaktion" in Preußen, wie sie sich im Katholiken Görres, im Führer der orthodoxen Pietisten Hengstenberg und im Hallenser Historiker Leo verkörpert7, zugleich versichert man aber, daß Preußen diese „Opposition der Vergangenheit gegen die Gegenwart" genau so wenig zu fürchten habe wie jene ehemalige, in Burschenschaften und Turnvereinen entstandene, nationalliberale „Opposition der Zukunft gegen die Gegenwart"8. Denn diese, so spricht der Hegelianer Rüge, bringt es nur zum „Sollen"9, Preußen aber ist bereits als „Reich der Sittlichkeit" „zu einer bewunderungswürdigen Wirklichkeit gediehen"10. Die Garantie gegen Revolution und Reaktion besitzt Preußen am Prinzip der freiwilligen Entwicklung, das der theologisch-politische Doppelsinn von Reformation und Reform bezeichnet11. Wir waren 1838, sagt Rüge später im Rückblick, „nicht nur Hegeische Christen, wir waren auch preußisch orthodox"12. Ein Jahr später bröckelte die Einheit von religionsphilosophischer und preußischer Orthodoxie an beiden Enden ab13. Als Altenstein Rüge eine Professur verweigert, verkehrt sich das private Erlebnis zum Schicksal Preußens. Nicht Altenstein, sondern Preußen selbst ist auf die Linie der Gegner des Hegelianismus eingeschwenkt. Preußen, von Rüge gerade noch mit den Weihen des reformatorischen Prinzips geschmückt, ist doch noch „katholisch"14. Denn wie es in der Katholischen Kirche Priester und und Engels zu findende Wort von Rüge dem „Türhüter" der Hegeischen Schule (und seinen „fürchterlichen Totschlagblättern"), so H. Heine, Vorrede zur zweiten Auflage von „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" (1852), in: Schanze 1968, Bd. IV, 46f.; Rüge als manifestwütiger „Portier" der deutschen Philosophie und gar als „Gosse, in der alle Widersprüche der Philosophie, der Demokratie . . . zusammenlaufen" bei K. Marx/F. Engels, Die großen Männer des Exils (1852), in: MEW Bd. 8, 273, 275, 276. Auch politisch Andersdenkende wie der Liberale Scheidler anerkannten das Freiheitspathos der Jahrbücher, K. H. Scheidler, Hegel, in: Das Staatslexikon Bd. VI, C. v. Rotteck/C. Welcker (Hrsg.), Altona 21847, 641. 7 Leo hat bereits eine revolutionäre Gesinnung bei den Linkshegelianern gewittert, als diese noch an ihr Preußen glaubten, H. Leo, Hegelingen, Aktenstücke zur sog. Denunziation der ewigen Wahrheiten, Halle 1838 und in einem vieldiskutierten „Sendschreiben an Görres", Halle 21838. 8 A. Rüge, Preußen und die Reaktion, Leipzig 1838, 25. 9 ebd. 10 op. cit. 93. 11 op. cit. 92. 12 Rüge 1867, 484. Die theologische Orthodoxie HJ, 9. Juni 1838, Nr. 138, 1101 Anm. und HJ, 2. Okt. 1838, Nr. 236, 1888. 13 Die theologische Linkswende kündigt sich an HJ, 13. März 1839, Nr. 62, 496 und HJ, 29. Dez. 1840, Nr. 312, 2491 ff. 14 HJ, 2. Nov. 1839, Nr. 263, 2101.
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Laien gibt, so ist der preußische Bürger „nur Laie im Staat"15. Die Beamten sind die „Priester" der politischen Hierarchie, und nur die höchsten Behörden sowie der Monarch erfreuen sich des direkten Besitzes des Absoluten16. Preußen muß erst noch zu dem protestantischen Prinzip finden, „daß wie . . . jeder die Wahrheit für sich weiß und will . . . so dieselbe Vermittlung mit der Wahrheit auch im Staate stattfinde . . ,"17. Nachdem die preußische Realität Ruges liberalen politischen Idealen nicht mehr standhält, wendet er sich nicht gegen seine eigene Glorifizierung Preußens, sondern gegen Hegel selbst, dessen Versöhnung von Sein und Sollen sich nun als „theoretische Selbstgenügsamkeit"18 enthüllt, dessen Wissenschaft man gegen ihn selbst ausspielen müsse, „sofern er seinem Prinzip durch Akkommodation und Zurechtmacherei ungetreu wird"19. Ein paar Monate später ist Rüge gleichfalls nicht bereit, seine eigene Einstellung zu reflektieren, sondern die Hegelkritik wird wieder zum Surrogat für Selbstreflexion. Nicht aus seiner eigenen Identifizierung von Hegel und Preußen, sondern aus Hegels Philosophie selbst folgt Akkommodation im Sinne einer metaphysischen Überhöhung nur relativer geschichtlicher Existenzen. Aus der „Abgeschlossenheit" des Hegeischen Systems, aus der Vertheoretisierung der Praxis und der Verabsolutierung des Geistes deduziert Rüge als Konsequenz einen „unhistorischen Standpunkt", der zur Überschätzung und Fixierung geschichtlicher Zustände führen muß20. An die Stelle des absoluten Geistes setzt er „Geschichte" 15 16 17
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HJ, 1. Nov. 1839, Nr. 262, 2093. HJ, 1. Nov. 1839, Nr. 262, 2092. HJ, 4. Nov. 1839, Nr. 264, 2106. HJ, 2. März 1840, Nr. 53, 417/418. Es geht um den Aufsatz „Zur Kritik des gegenwärtigen Staats- und Völkerrechts". HJ, 25. Juni 1840, Nr. 152, 1210; 27. Juni 1840, Nr. 154, 1228; 29. Juni 1840, Nr. 155, 1236; 30. Juni 1840, Nr. 156, 1243. Tatsächlich ist der Akkommodationsvorwurf komplexer und diffuser, enthält er den moralischen Vorwurf der Servilität, der Konstruktion als schlecht erkannter Realitäten (HJ, 29. Juni 1840, Nr. 155, 1237), den Vorwurf der Inkonsequenz als Abkehr von den eigenen logischen oder geistphilosophischen Prämissen und daneben schon den wichtigeren Vorwurf einer prinzipiellen Akkommodation des Systems. Rüge kritisiert im Detail: daß Hegel die Souveränität nur auf die fürstliche Gewalt (als Einzelheit) und die Regierungsgewalt (als Besonderheit), nicht aber auf die gesetzgebende Gewalt bezieht, obwohl der „Begriff" Hegels eine Entsprechung für die Allgemeinheit fordert und der Geist ohne „allgemeines Selbstbewußtsein" kein Selbstgefühl besitzt (HJ, 27. Juni 1840, Nr. 154, 1225ff.), daß Hegel die Abfolge der Begriff s momente mit Allgemeinheit, Besonderheit, Einzelheit umkehrt, um mit der fürstlichen Gewalt beginnen (op. cit. 1228) und die „Nationalvertretung" noch nach der Regierungsgewalt abhandeln zu können (HJ, 29. Juni 1840, Nr. 155, 1235), daß Hegel die Monarchie auf ein Naturverhältnis (Geburt) gründet (HJ, 27. Juni 1840, Nr. 154, 1228) und den Monarchen als Zusammenfassung der drei Gewalten dann zum bloßen
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und „Staat"21, an die Stelle der „Abgeschlossenheit" die „Zukunft", an die Stelle der „Beschaulichkeit" die „Fichtesche Tatkraft"22. Rüge, der ausgezogen war, für die Union von Preußen, Protestantismus und Hegelianismus zu streiten, bekämpft nach nur fünf Jahren alle zugleich vom Boden eines radikal oppositionellen Demokratismus und Republikanismus. Der endgültigen Abrechnung mit Hegel (und Preußen) sind wieder persönliche und politische Enttäuschungen vorausgegangen, die sich für einen Linkshegelianer wie Rüge, der stets die Avantgarde des Zeitgeistes zu bilden meint, in epochale Ereignisse verwandeln. Die romantische Politik Friedrich Wilhelms IV., die mit der Weigerung, der Versammlung der Landesrepräsentanten das Plazet zu erteilen, ihren „reaktionären" Höhepunkt erreicht23, die ständigen Molesten mit der Zensur, das Verbot der Jahrbücher in Preußen, die vom 2. Juli 1841 an als „Deutsche Jahrbücher" in Dresden erscheinen müssen, Bruno Bauers Relegation von der Bonner Universität, ein für alle Linkshegelianer epochaler Skandal, der allgemein das Ende der akademisch geduldeten Linkshegelei signalisierte24, das Zerwürfnis mit den „Württembergern" um Strauß25 sowie der Bruch mit den „Freien"26, diese und ähnliche Erfahrungen bilden den Hintergrund der sich epidemisch ausbreitenden Hegelkritik Ruges. 1842 substituiert Rüge Hegels System die Erfahrungen mit der preußischen Politik, die er und seine Mitstreiter hatten sammeln müssen. Der so erfolgreiche Aufsatz „Die Hegeische Rechtsphilosophie und die Politik unserer Zeit" wäre auch nur als Beginn der einflußreichen politischen Kritik von historischem Interesse, wenn nicht Rüge unter der Hand, quasi trotz seiner psychologisch und politisch motivierten Voraussetzungen, eine systematische Begründung des Akkommodationsvorwurfs gelungen wäre. Dabei ist nicht so entscheidend, daß Rüge durchaus Hegels
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„Jabruder" degradiert (HJ, 29. Juni 1840, Nr. 155, 1233/1234), und last not least, daß Hegel nicht an die demokratische „Wahl", nicht an „Majorität" und „Masse" glaube, die Rüge mit dem „Zeitgeist" und diesen wiederum mit der „Wahrheit" gleichzusetzen bereit ist, daß er dafür die Korporations- und Majoratstheorie konstruiere, durch welche eine ganze Herde „naturwüchsiger Existenzen" in den Staat „hineinschneit" (op. cit. 1235-1237). HJ, 30. Juni 1840, Nr. 156, 1243. HJ, 25. Juni 1840, Nr. 152, 1211. Neher 1933, 68 f. op. cit. 80; auch Mayer 1913, in: Mayer 1969, 23. Neher 1933, 78. op. cit. 85. Das Kaffeehausdasein der „Freien", zu denen die beiden Bauer, Engels, Buhl, Stirner, Nauwerk und Koppen gehörten, bei Mayer 1913, in: Mayer 1969, 52ff.
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Staatsbegriff und seine Definition von Praxis übernehmen will, wenn sie nur von der Vertheoretisierung im absoluten Geist heruntergeholt und „auf die schon erreichte äußere Wirklichkeit" zurückbezogen werden27, auch ist nicht so fundamental, daß er Hegel selbst „Sollen" und „Postulieren" nachweist28 und den Akkommodationsvorwurf moralisch aus der protestantischen „Privattugend" erklärt, die Kant im Zensurstreit mit Wöllner und Hegel in seiner Anpassung an Preußen irregeführt hätten29, und schließlich ist nicht so zentral, daß er die Privattugend durch eine öffentliche ersetzen will, genauso wie an die Stelle der metaphysischen Philosophie die historische „Kritik", an die Stelle der Religion „das praktische Pathos für das Ideale" und an die Stelle der Kunst „die heitere Praxis" von Witz und Komödie treten sollen, alle auf ihre Weise „praktische" Überwindungen alter historischer Existenzen30. Man sieht, daß Rüge Hegels Philosophie die theoretische Spitze abbricht, um sie dann wahrhaft auszubeuten, selbst dort noch, wo er sich gegen sie zu wenden scheint. Es ist die fundamentale Kritik am Verhältnis von Metaphysik und Geschichte, von logischem Wesen und historischer Existenz, wodurch Ruges Akkommodationsvorwurf einen besseren Status erhält, als den einer moralischen Besserwisserei, die bei Rüge besonders peinlich wirken muß, nachdem er doch gerade zuvor Preußen und Hegelianismus selbst verschwistert hat. Ausgehend von der Argumentationskette „einseitig theoretisches — abgeschlossenes System — Enthistorisierung — unhistorische Verabsolutierung relativer geschichtlicher Existenzen", trennt Rüge scharf zwischen der Metaphysik (und deren „ewigen Wesenheiten") und der historischen Kritik (und deren geschichtlichen „Existenzen"). In der Metaphysik kann man von historischen Existenzen abstrahieren, und es hat manchmal den Anschein, als ob Hegel genau dies intendiert hätte, durch Abstraktion von historischen Existenzen zu logisch-metaphysischen Bestimmtheiten zu gelangen, etwa zu den Begriffen „Person, Familie, Gesellschaft, Staat oder 27 28
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DJ, 11. Aug. 1842, Nr. 190, 757f.; 12. Aug. 1842, Nr. 191, 764; 13. Aug. 1842, Nr. 192, 765. Auch Rüge sieht schon, wie dann Haym und Rosenkranz, daß Hegel Öffentlichkeit, Verfassung, Geschworenengerichte, Pressefreiheit etc. fordert, Institutionen, die es in Preußen noch gar nicht gab. Trotzdem (!) läßt er sich nicht vom Akkommodationsvorwurf abhalten. DJ, 11. Aug. 1842, Nr. 190, 757-759. Die protestantische Borniertheit, „die Freiheit nur als Gewissensfreiheit in Anspruch zu nehmen", sei Schuld an der Illusion Kants und Hegels, „als könne man theoretisch frei sein, ohne es politisch zu sein". DJ, 11. Aug. 1842, Nr. 190, 760. DJ, 13. Aug. 1842, Nr. 192, 768.
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deren Prinzipien, Wille, Liebe, Recht, Freiheit"31. Dann wäre Hegels Rechtsphilosophie „eine Metaphysik des ethischen Gebietes", Hegels Staat wäre dann freilich nicht realer als eine Platonische Idee und kein Schluß vom Begriff auf die geschichtliche Existenz (etwa von Freiheit) konsequenterweise erlaubt. Aber Hegel sieht gar nicht von den Existenzen ab. Verfassung, Erbkönigtum, Majorate, Zweikammersystem und andere geschichtliche Erscheinungsformen politischer Institutionen gehen in eine Philosophie ein, die doch zugleich eine metaphysische, „absolute Theorie" sein soll. Was Hegel tatsächlich vorführt, nennt Rüge eine „Taschenspielerei"32. Statt, um der Metaphysik willen, die Existenzen auszuklammern, erhebt Hegel sie in den Rang logischer Wesenheiten. Um den absoluten Status der Theorie nicht zu gefährden, werden „die flüssigen Existenzen der Geschichte als ewige Bestimmtheiten" „verkauft"33. Zugleich aber, und damit schlägt Ruges Mangel an Selbstreflexion wieder durch die philosophische Analyse durch, besteht für Rüge gar kein Zweifel, daß es die „schlechten" Existenzen sind, die Hegel zum Begriff apotheotisiert34. Der Staat, der die „olympische Ruhe" der Hegeischen Philosophie honoriert, war „absolutistisch", „ein Polizeistaat"35; Hegels System von Freiheit und Vernunft stand „mitten in der Unvernunft und Unfreiheit" der preußischen Verhältnisse36. Indem Hegel die Philosophie an die schlechte Existenz des Polizeistaates akkommodiert, hat er den Individuen Quietismus verordnet, wo kritische Praxis die Forderung einer rationalen Philosophie hätte sein müssen; indem Hegel Vernunft und Realität inmitten der unvernünftigen Wirklichkeit theoretisch versöhnt, hat er die ethische Autonomie und die politische Freiheit der Einzelnen an einen reaktionären Staat veräußert. Versucht man, aus Ruges Analyse eine vorläufige Bilanz zu ziehen, dann sieht man, daß hier mehreres durcheinander geht. Fraglich ist ja schon 1. der positive Ausgangspunkt, von dem aus Rüge Preußen, Pro31 32 33 34
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DJ, 12. Aug. 1842, Nr. 191, 763. ebd. ebd. ebd. DJ, 11. Aug. 1842, Nr. 190, 758, 760; DJ, 12. Aug. 1842, Nr. 191, 761. Rüge scheint manchmal nicht den von Hegel noch benutzten altpolitischen Begriff von „Polizei" qua „Verwaltung" (Rph 1821, SW VII, §§ 231-49; dazu H. Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, Neuwied-Berlin 1966, 38ff., 282ff.), sondern schon den modernen Sinn von ,,Polizei"(-Staat) zu meinen. DJ, 11. Aug. 1842, Nr. 190, 759.
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testantismus und Hegeische Philosophie bis zur Unkenntlichkeit vereint. Wäre Ruges Leben nicht das Indiz für das „verzweifelt-ehrliche" Bemühen, das Löwith den Linkshegelianern allgemein unterstellt37, so ergäbe sich der Verdacht, daß die Identifizierung des Preußens von 1838 mit dem protestantisch-freien Staat politischer Taktik entsprang38. Warum sollte sich das Preußen von 1838 überhaupt mit Hegels Preußen von 1820/21 vergleichen lassen? Wenn aber schon verglichen wird, warum soll dann 2. das sich für Rüge 1839 zum Polizeistaat wandelnde Preußen „Hegels Preußen" post festum in einen reaktionären Staat verwandeln? Hier wird Ruges Vorgehen zu einer doppelten Inkonsequenz. Nachdem das Preußen von 1838 die Reaktion nicht zu fürchten hatte, wird, vor den staunenden Augen des Lesers, Hegels ehemals progressiver Staat simultan zum reaktionären. Neben diesen, man muß schon sagen, zweifachen Anachronismus tritt 3. die Ambivalenz des Akkommodationsvorwurfes, die ihm seit Rüge anhängt. Einerseits ein Vorwurf auf philosophischem Niveau, die Kritik an einer Systemtendenz zur Anpassung ans Bestehende, andererseits die politisch-geschichtliche Frage nach dem tatsächlichen Zustand Preußens und damit verbunden die Frage nach Hegels Moralität. War Preußen 1820/21 ein reaktionärer Staat, war Hegel ein serviler Royalist preußischer Provenzienz? Ruges Verwechselspiel der verschiedenen „Preußen" ist an der unseligen Geschichte des Akkommodationsvorwurfs nicht unschuldig. Denn wenn auch Rüge das Verdienst beanspruchen darf, den Vorwurf philosophisch auf dem Niveau von Theorie und Praxis, Logik und Empirie zusammenhängend begründet zu haben, so hat er doch zugleich dem Zweig der Hegelforschung den Boden bereitet, der bis heute sich über den historischen Zustand Preußens oder den moralischen Zustand Hegels ausläßt, von Hegels potentiellem Weinkonsum beim Pichelsberger Fest bis hin zur Attacke auf Fries, eine Forschungsrichtung, welche die eigentlich relevante Frage nach der Systemtendenz zur Akkommodation oft verdrängte. Schließlich können wir uns 4. fragen, was Rüge denn selbst zurückbehält, nachdem er Hegels Einheit von Metaphysik und Geschichte auf37
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Löwith 1962, 12. Die Gesinnungsemphase, die Rüge mit den Jungdeutschen verbindet, nahm sogar solche Ausmaße an, daß Heine sich veranlaßt sah, gegen die politische Indienstnahme der Musen und gegen die Kultivierung der Gesinnung auf Kosten der Kunst den „Atta Troll" zu schreiben; dort wird Rüge mit den Worten persifliert: „Kein Talent, doch ein Charakter!" (Caput XXIV). Diese Vermutung äußern Strauß (1954, 167) und Hook (M958, 128), der von „sleep inducing incantation for the censor" spricht.
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löste, zum einen die ganze, ihrer metaphysischen Basis beraubte Philosophie und Terminologie Hegels39, zum anderen den „Zeitgeist", ein selbst nicht unzweifelhaftes Surrogat für den Zeit und Ewigkeit noch vereinenden Hegeischen „Geist". Denn die allen Linkshegelianern gemeinsame Tendenz, das jeweils Neue mit dem Wahren gleichzusetzen, jener Glaube, der den ganzen Prozeß auslöste, bei dem sich „die Gedankenhelden . . . mit unerhörter Hast" überstürzten40 und einander von der Avantgarde des Zeitgeistes durch stete Uberbietung an Radikalität zu verdrängen suchten41, jener Prozeß ist das Resultat der aus Hegels Einheit von klassischer und ihre Zeit erfassender Theorie gestrichenen Metaphysik. Die linkshegelianische „Philosophie", die nur noch ihre Zeit in Gedanken erfaßt, hat mit der Autarkie der klassischen Theorie die Distanz zum Bestehenden eingebüßt. Sie wird selbst zu einer der Zeit preisgegebenen „Akkommodation"42.
1.2. Die theo-logische Kritik oder monologisches System und unmittelbare Einzelheit (L. Feuerbach) Repräsentiert Rüge die Geburt des einflußreichen Akkommodationsvorwurfs aus der Verwicklung der Linkshegelianer in die preußische Oppositionspolitik, so symbolisiert Feuerbach die Durchsetzung der religionsphilosophisch linken Hegelkritik mit indirekten politischen Folgen. Wie Rüge den Akkommodationsvorwurf nicht erfand, so hat Feuerbachs Kritik ihre Vorgeschichte in Straußens Immanentisierung des Absoluten in die Gattung. War Rüge der Strauß der politischen Hegelei gewesen, so galt Feuerbach damals als der „Feuer-bach", jenes für uns nicht mehr so leicht zu erfassende „Purgatorium der Gegenwart"43, in 39
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„Rüge . . . verdankt dem Studium der Hegeischen Philosophie alle Kategorien, mit denen er als Publizist oft so glücklich und treffend gewirtschaftet hat". Rosenkranz 1870, 160. K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1845/46), MEW Bd. 3, 17. Freilich war Marx selbst von dieser Einstellung nicht frei und seine Wende zum historischen Materialismus mag zum Teil davon inspiriert gewesen sein, Stirners Radikalität und Novität zu übertrumpfen. Siehe Lobkowicz 1967, 401 ff. Siehe auch H. Popitz, Der entfremdete Mensch. Zeitkritik und Geschichtsphilosophie des jungen Marx, Fft. a. M. 21968, 17f. Für Rüge arbeitet diese Anpassung an die „Zeit" Löwith heraus, Löwith 31969, 96ff. K. Marx, Luther als Schiedsrichter zwischen Strauß und Feuerbach (1842), MEW Bd. l, 27.
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dessen Bann alle Linkshegelianer mehr oder weniger gerieten44. Hatte Ruges credo gelautet „die Zeit ist politisch", hatte Rüge direkt über den Zeitgeist seine Kritik vermittelt, so leitet Feuerbach politische Folgerungen aus der Religionskritik ab, die gleichfalls den Schlüssel für das politische Bedürfnis der Zeit bereitstellt: „Die Philosophie tritt an die Stelle der Religion, aber damit tritt eben auch eine toto genere unterschiedene Philosophie an die Stelle der früheren. Denn religiös müssen wir wieder werden — die Politik muß unsere Religion werden — aber das kann sie nur, wenn wir ein Höchstes in unserer Anschauung haben, welches uns die Politik zur Religion macht . . . Dieses Prinzip ist kein anderes — negativ ausgedrückt — als der Atheismus, d. i. das Aufgeben eines vom Menschen verschiedenen Gottes"45. Feuerbach transformiert die linkshegelianische Religionskritik in Politik. Auch er kann beweisen, daß Religionskritik damals Teil eines „indirekt-politischen Kampfes war46, an dessen Bedeutung für die Entstehung der kritischen Theorie man heute zu Recht erinnert47. Schon Feuerbach möchte gegen Hegel das allseitige, humanistische Ideal vom ganzen Menschen wiederbeleben. Denn Hegel hat, so meint er, den 44
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F. Engels, Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1886), MEW Bd. 21, 272. Dort heißt es im Blick auf das „Wesen des Christentums": „Man muß die befreiende Wirkung dieses Buches selbst erlebt haben, um sich eine Vorstellung davon zu machen. Die Begeisterung war allgemein: Wir waren alle momentan Feuerbachianer". Vgl. auch K. Marx/F. Engels, Die Heilige Familie (1844/45), MEW Bd. 2, 98. L. Feuerbach, Die Notwendigkeit einer Reform der Philosophie (1842), BJ II, 219. Engels 1886, MEW Bd. 21, 271. Dies unternimmt der Frankfurter Alfred Schmidt, dessen Buch den Höhepunkt einer selbst Marxisten ergreifenden Feuerbach-Renaissance repräsentieren dürfte. Nachdem zunächst die protestantische Theologie ihre ehemals zweideutige Einstellung zu Feuerbach (wie sich etwa noch bei Barth findet) revidierte und ihn für ihre Zwecke vereinnahmte (z. B. das interessante Buch von K. E. Bockmühl, Leiblichkeit und Gesellschaft, Göttingen 1961), nachdem selbst auf orthodox-marxistischer Seite ein Rehabilitierungsprozeß einsetzte (z. B. bei W. Schuffenhauer, Feuerbach und der junge Marx, Berlin 1965), war der Boden bereitet für die Erkenntnis der Verwandtschaft zwischen kritischer Theorie und Feuerbachscher Emanzipationsphilosophie, eine Einsicht, welche dem mit Feuerbachs „Solidarität" und Marcuses „befreiter Sinnlichkeit" sympathisierenden Schmidt noch leichter fallen mußte als einen orthodoxen Kollegen. Schmidt versucht, das Vorurteil vom kritiklosen Positivisten Feuerbach genauso zu untergraben wie die seit Marx und Engels üblich gewordenen Vorwürfe des unhistorischen und praxisfeindlichen Denkens. A. Schmidt, Emanzipatorische Sinnlichkeit, München 1973, 30ff., 228ff.; ders., Einleitung. Für eine neue Lektüre Feuerbachs, in: Anthropologischer Materialismus. Ausgewählte Schriften Bd. L, Fft. a. M. 1967, 13ff. Schmidts Revision der Marx-Kritik an Feuerbach hatte schon vorweggenommen M. v. Gagern, Ludwig Feuerbach, München-Salzburg 1970.
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ganzen Menschen in die „Person", das „Subjekt" und den „Bürger" auseinandergerissen48. Der wahre Staat, für Feuerbach wie für Rüge und (damals noch) Marx ein radikaldemokratischer, bringt den Menschen in seiner Totalität zur freien Entfaltung. „Im Staat vertritt Einer den Anderen, Einer ergänzt den Anderen — was ich nicht kann, weiß, kann der Andere. Ich bin nicht für mich, preisgegeben dem Zufall der Naturmacht; Andere sind für mich, ich bin umfangen von einem allgemeinen Wesen, bin Glied des Ganzen. Der wahre Staat ist der unbeschränkte, unendliche, wahre, vollendete, göttliche Mensch. Der Staat ist erst der Mensch — der Staat, der sich selbst bestimmende, sich zu sich verhaltende, der absolute Mensch"49. Freilich darf dies kein Staat sein, der sich selbst wieder als objektiver Geist vom subjektiven Menschen abhebt. „Weder die Politik noch der Staat für sich selbst ist Zweck. Der Staat löst sich in Menschen auf, ist um der Menschen willen"50. Deshalb kann „eine unumschränkte Monarchie" auch nur „unsittlich" genannt werden. Der Auflösung der Theologie in Anthropologie korrespondiert politisch „die Auflösung der Monarchie in die Republik"51. Der Mensch, der nicht zur Maschine degradiert und „enthumanisiert" werden soll, muß in Freiheit alle seine Wesenskräfte auch politisch entfalten können, er darf nicht nur „geistig", im spiritualistischen Sinne, frei sein. „Politische Freiheit" begreift nur der Materialist, der auch die theologische Spiritualisierung des Menschen durchschaute. „Politische Freiheit ist im Sinne des Spiritualisten der Materialismus auf dem Gebiete der Politik. Zur wirklichen Freiheit gehört in der Tat auch materielle, körperliche . . . Dem Spiritualisten aber genügt die gedachte . . ,"52. Feuerbach ist der Prototyp eines religionsphilosophischen Linkshegelianers in unserem Sinne, der aus der Religionskritik eine politisch radikale Opposition und die Parteinahme für die unmittelbare Demokratie ableitet. Und doch war er nicht der politische Kopf, als den man ihn jetzt zu sehen versucht sein könnte. Die politischen Äußerungen sind spärlich, der politisch klingende Aufsatz über „Die Notwendigkeit einer Reform der Philosophie" darf nur als einmaliges Dokument eines Weges gelten, den Feuer48 49 50 51
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L. Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie (1842), BJ II, 243f. L. Feuerbach, Notwendigkeit einer Reform der Philosophie (1842), BJ II, 220. L. Feuerbach, Nachgelassene Aphorismen, BJ X, 312. op. cit. 314. op. cit. 315. In den Aphorismen findet sich auch die Formel: „Kant repräsentiert die Revolution, Hegel die Restauration. Was Kant gestürzt, die Herrschaft des Übersinnlichen, hat Hegel wieder hergestellt" (op. cit. 318).
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bach nicht weiter beging53. Das Einschwenken auf Ruges Demokratismus hatte alle Anzeichen einer verbalen linkshegelianischen Pflichtübung, was Rüge selbst nicht entgangen war54. Feuerbach hat das religionskritische Instrumentarium der Linkshegelianer ähnlich erfolgreich popularisiert wie Rüge das politisch-kritische. Genau wie Rüge hatte auch Feuerbach seine Vor- und Mitkämpfer. Auch Strauß hat damals den politischen Kampf der Hallischen Jahrbücher mit seiner eigenen Logifizierung und Vergöttlichung der Gattung verknüpft. Denn allein diese, die Transzendenz Gottes wegschaffende Philosophie schien auch ihm die Basis einer fortschrittlichen Politik abgeben zu können55. Nicht in dieser Ausarbeitung politischer Konsequenzen lag jedoch das Zentrum der Feuerbachschen Hegelkritik oder seiner Philosophie. Feuerbach, das wird sich noch zeigen, war eher der Begründer der Universalwissenschaft der Anthropologie und des „homo homini deus" als der Vorkämpfer der politischen Emanzipation. Er war eher als ein Materialist und Sensualist ein humanistischer Anthropologe, dessen Lehre freilich ständig am Abgrund des Naturalismus sich bewegte56. Feuerbachs Hegelkritik57 findet eher als in den politischen Einwänden gegen Hegel, den Restaurations-Philosophen, ihren Niederschlag in einer zunächst logischen, dann aber auch theo-logischen System-Kritik, welche für die Hegeldeutung des Linkshegelianismus bis heute einen entscheidenden Grundimpuls verkörpert. Zunächst kritisiert Feuerbach Hegel noch 53 54
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C. Ascheri, Feuerbachs Bruch mit der Spekulation, Fft. a. M. 1969, 134. „. . . Feuerbach müßte . . . nun auch mal politisch werden". Rüge an Stahr, in: P. Nerrlich (Hrsg.), Arnold Ruges Briefe und Tagebuchblätter Bd. L, Berlin 1886, 247. Der Artikel „Die preußische Regierung und die Hallischen Jahrbücher" in der Beilage der Allg. Zeitung vom 9. Febr. 1841 stammt vermutlich von Strauß, wie Scheidler angibt, bei dem sich auch das längere Zitat findet, in dem „Rationalismus" und „Liberalismus" auf das Fundament des in die Menschheit verlagerten Gottes gestellt werden und umgekehrt von der preußischen Politik gesagt wird: „Im Gegensatz hiermit scheint nun allerdings die Tendenz der neuen preußischen Regierung auf dem sehr bestimmten Bewußtsein eines auch außerhalb der Menschheit realen Gottes zu beruhen: und daß von diesem Bewußtsein aus die ganze politische, religiöse und wissenschaftliche Ansicht derselben mit der der Hallischen Jahrbücher in scharfe Differenz treten muß, bedarf wohl keiner Erwähnung. Namentlich kann dem Menschengeist von dieser Seite her keine Selbstherrschaft mehr zugeschrieben werden . . .", Scheidler 21847, 640, 641; vgl. Hook 3 1958, 81, 84ff. Da die Hegelkritik im Zentrum unserer Analyse stehen muß, können wir diese Gefahr nur konstatieren. Jedoch kann man wohl immer noch auf S. Rawidowicz (Ludwig Feuerbachs Philosophie, Berlin 1931, 146ff.) verweisen. Ihre Motive bei Schmidt 1973, 91 ff.; der Lösungsprozeß von Hegel ausführlich bei v. Gagern, der seinen Ablauf nach der berühmten Feuerbachschen Formel „GottVernunft-Mensch" rekonstruiert, Gagern 1970, 35ff.
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„logisch", in einem damals fast unbemerkten Aufsatz „Zur Kritik der Hegeischen Philosophie", der 1839 in den Hallischen Jahrbüchern erschien. Vorbereitet wurde diese Abkehr von Hegel in den immer stärker werdenden naturalistischen, sensualistischen und humanistischen Tendenzen des „Bayle", bewußt ausgesprochen wird sie aber erst 1839. Wie bei Rüge bedeutet die Lösung von Hegel auch für Feuerbach die Bewältigung der eigenen hegelianischen Vergangenheit. Noch näher verbunden gefühlt hatte sich Feuerbach seinem Lehrer, als er in seiner Jugend einen spiritualistischen und antiindividualistischen Gattungsbegriff entwickelt hatte, der zwischen Individuum und Gattung eine unüberbrückbare Grenze zog58. Gerade durch die je individuellen Sinneseindrücke, die sich im Medium der „allgemeinen" Sprache nicht mitteilen lassen, sollte das sinnliche Wesen Mensch in sich verkapselt und vereinzelt sein, erst die Negation der Sinnlichkeit im Denken sollte den Einzelnen befähigen, die Totalität der anderen Menschen als Allgemeinheit und Gattung zu erreichen59. Erst im „Tod" der Einzelheit könne der Mensch die Allgemeinheit des Denkens und die wahre Unendlichkeit realisieren60. Sicher modifizierte und verkürzte Feuerbach auch schon in dieser frühen Phase Hegels Gattungsbegriff naturalistisch61, aber die Identifizierung mit dem spekulativen Idealismus ging doch noch so weit, daß er 1835 in einer Kontroverse mit Bachmann die spekulative „Identität Unterschiedener"62, die Einheit von Denken und Sein63 und Hegels Begriff der Allgemeinheit64 verteidigte, daß er dem Kantianer Bachmann einen „gedankenlos empirischen Standpunkt" vorwarf65. Weder die Identität Unterschiedener noch die Einheit von Denken und Sein, noch Hegels Begriff der Allgemeinheit will der zum Individualismus bekehrte Feuerbach 1839 noch anerkennen66. Hegels Philosophie, so 58 59
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Dazu Aschen 1969, 9ff. L. Feuerbach, De Ratione, Una, Universali, Infinita. Dissertatio (1828), BJ XI, 14, 15, 17, 38. L. Feuerbach, Dissertation. De ratione una, universali, infinita (B 28), BJ II, 365. Von diesem eigenartigen Tod spricht Feuerbach auch in seinem der Dissertation beigelegten Brief an Hegel. Feuerbach an Hegel am 22. Nov. 1828, Br. Bd. III, 246. Dies arbeitet Braun deutlich heraus. H.-J. Braun, Ludwig Feuerbachs Lehre vom Menschen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, 45 ff. L. Feuerbach, Kritik des ,Antihegel' (1835), BJ II, 21. op. cit. 24. op. cit. 50. op. cit. 53. Äußerlich läßt sich der Bruch mit Hegel daran ablesen, daß Feuerbach nicht mehr in den orthodoxen „Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik" publizieren kann. Siehe Fr. Jod!, Vorwort des Herausgebers zu Bd. II der Bolin-Jodl-Ausgabe, BJ II, IX.
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behauptet er jetzt, habe ihr Element in der „Differenz", in „Subordination und Sukzession"67. Die jeweils letzte Entwicklungsstufe könne sich bei Hegel nur dadurch als Totalität behaupten, daß sie die vorige subordiniere und ihr ein selbständiges Leben nehme. Der Anfang der angeblich absoluten Philosophie bei der Identität von Denken und Sein könnte nur dann absolut sein, wenn die Zeit still stände68. Aber da auch Hegels Philosophie nur ihre Zeit in Gedanken erfaßt, so beginnt sie nicht mit einem absoluten Anfang, sondern mit einer Voraussetzung. Aus dem absoluten System wird eine Scheinvermittlung des Denkens mit sich selbst, ein Monolog ohne menschlichen und spekulativ-empirischen Dialog, ein Monolog ohne Individualität. Feuerbachs Kritik am „totalitären", alle Individualität gewaltsam integrierenden System basiert auf einem Muster, das für die linkshegelianische System-Kritik fortan entscheidend wurde. Attackiert wird nämlich die spekulative Einheit von Denken und Sein auf dem Niveau der Identität von Darstellung und Dargestelltem, auf der Folie von Vermittlung und Unmittelbarkeit. Feuerbach sieht, wie Hegel das für Fichtes Wissenschaftslehren zentrale Problem von Darstellung und Dargestelltem nicht in einem unendlichen Progreß des strebenden „Ich" auflösen will, sondern daß sich für Hegel eine Identität herstellen soll, wenn das System am Ende sich in den Anfang zurückbiegt. Die auch für Hegel notwendig sukzessive Darstellung der Gedanken soll zugleich schon die Entfaltung der Sache selbst sein, die Differenz zwischen sukzessiver Darstellung und dem Ganzen soll sich in der absoluten Idee auflösen. Diese Vermittlung von Denken und Sein, von Form und Inhalt ist Hegel nach Feuerbachs Ansicht nur scheinbar gelungen, und zwar dadurch, daß eine Selbstvermittlung des reinen Denkens mit sich selbst inszeniert wurde, die schon immer in sich abgeschlossen und vermittelt war, bevor sie sich entfalten und zurücknehmen durfte69. Schon bevor Hegel die Entwicklungen des Begriffs entfaltet, gilt die spekulative Identität als bewiesen, die Darstellung der Gedanken läuft nur hinter der dogmatischen Voraussetzung hinterher. Am Ende wird aber nicht für den Leser bewiesen, was am Anfang präsupponiert wurde. Statt in die Evidenz des Lesers mündet die Entwicklung am Ende in die reine Form des 67 68
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L. Feuerbach, Zur Kritik der Hegeischen Philosophie (1839), BJ II, 159. op. cit. 164. „Was Hegel vorausschickt als Vermittlungsstufen, das dachte er schon bestimmt von der absoluten Idee. Hegel . . . denkt schon den Gegensatz, aus dem sie sich erzeugen soll, unter ihrer Voraussetzung" (op. cit. 181).
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Denkens, von der sie ausging. Das heißt, technisch ausgedrückt, daß sich die phänomenologische Problematik von Ansich-Erstem und Für-unsErstem auf dem Niveau der Logik reproduziert, Hegel Fichtes Problem nicht lösen konnte, das heißt, populärer gesagt, daß kein Dialog zwischen dem Denker Hegel und dem Leser stattfindet, sondern Dialektik nur in sich monologisiert. Wahre Dialektik, so sagt Feuerbach später einmal, ist aber „kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du"70. Zur Kritik an Hegels Behandlung der Individualität wird Feuerbachs Angriff dadurch, daß er die „Andersheit" der Idee oder den Gegensatz zum „reinen" Sein im empirisch feststellbaren, anschaubaren, individuellen „Sein" lokalisiert. Denn die Vermittlung des Denkens mit sich selbst kann Hegel nur behaupten, weil er die Differenz, aus der sich die logisch-metaphysische Identität von Denken und Sein ergibt, gar nicht als „echte" Andersheit des „reinen" Denkens und Seins thematisiert. Die Hegeische Philosophie beginnt „nicht mit dem Anderssein des Gedankens, sondern mit dem Gedanken von dem Anderssein des Gedankens"71. Damit wird durch die schmale Eingangspforte des Systems nur schon spekulativ Vermitteltes, aber kein wirklich Unmittelbares eingelassen. Unmittelbarkeit und Individualität aber gehören quasi wie Zwillinge zusammen. Wie Hegels Spekulation kein Dialog zwischen Philosophie und Leser sein kann, so ist sie kein „Dialog" zwischen Logik und Empirie72, zwischen Vermittlung und Unmittelbarkeit, Allgemeinheit und Individualität. Am berühmten Anfang der Phänomenologie hat Feuerbach, in einer nominalistischen Kehrtwendung gegen seinen ursprünglichen Gattungsrealismus, zu beweisen versucht, wie Individuelles a limine in Hegels System ausgeschlossen wird. Nur wer die nomina schon von vorneherein für „real" hält, und nur für den, „dem das Allgemeine . . . als das Reale im Voraus . . . gewiß ist"73, ist Hegels Umkehrung der sinnlichen Gewißheit nachvollziehbar, nicht dem Sensualisten, Materialisten und Nominalisten, der allererst noch überzeugt werden müßte74. Wie die 70
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L. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843), § 62, BJ II, 319; ähnlich auch Feuerbach 1839, BJ II, 170 f. Feuerbach 1839, BJ II, 187. op. cit. 183. op. cit. 185. Was Hegel gegen die Realität des „Dieses" anführt, spricht nur gegen die Reichweite der Sprache. „Mein Bruder heißt Johann, Adolph; aber außer ihm sind und heißen noch unzählige Andere auch Johann, Adolph. Folgt nun daraus, daß mein Johann keine
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Logik so beginnt die Phänomenologie nicht beim Anderssein der Idee, sondern nur beim Anderssein der Idee von sich selbst. Für unsere Fragestellung nach dem praktisch-philosophischen Problem vom Individuum wird diese logische Hegelkritik aus mehreren Gründen relevant. Zum einen wird die logische Form der Kritik an der doppelt mystifizierten Entäußerung und Zurücknahme, die später via die Religionskritik wieder gegen die Logik gewendet wird, vorweggenommen, zum anderen verbirgt sich hinter der Kritik am Hegeischen „Anfang" der Philosophie Feuerbachs teils „existenzphilosophische", teils intersubjektiv orientierte Konzeption einer Philosophie der Zukunft, welche noch bei Hegel die neuzeitliche, solipsistische Einstellung einer Subjektivitätsphilosophie überwinden zu müsssen glaubt. In den „Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie" (1842) sowie in den „Grundsätzen einer Philosophie der Zukunft" (1843) stellt Feuerbach den Zusammenhang her zwischen der Kritik am transzendenten Gott der Theologie und der Kritik an der „transzendenten", doppelt mystifizierten Logik Hegels, welche die realen Verhältnisse genauso auf den „Kopf stellt" wie die Theologie75. Sanktioniert diese den Zustand, daß die Prädikate, die der Menschengattung „eigentlich" gehören, quasi dem falschen Subjekt, Gott, zugeschrieben werden, so entfremdet die Hegelsche Theo-Logik den Menschen von sich selbst, indem sie seine konkrete, sinnlich erfahrbare, materielle Existenz „mystisch" in ein reines Denken verwandelt. Das Heilmittel muß demnach hier wie dort dasselbe sein. „Die Methode der reformatorischen Kritik der spekulativen Philosophie überhaupt unterscheidet sich nicht von der bereits in der Religionsphilosophie angewandten. Wir dürfen nur immer das Prädikat zum Subjekt und so das Subjekt zum Objekt und Prinzip machen — also die spekulative Philosophie nur umkehren, so haben wir die unverhüllte, die pure, blanke Wahrheit"76. Erhält der Mensch durch die Religionskritik seine „gött-
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Realität ist? Dem sinnlichen Bewußtsein sind alle Worte Namen . . . sie sind für dasselbe . . . nur Zeichen . . . Dem sinnlichen Bewußtsein ist eben die Sprache das Unreale, Nichtige" (ebd.). „Das Wesen der Theologie ist das transzendente, außer den Menschen hinausgesetzte Wesen des Menschen; das Wesen der Logik Hegels das transzendente Denken, das Denken des Menschen außer den Menschen gesetzt". L. Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie (1842), BJ II, 226; vgl. Grundsätze einer Philosophie der Zukunft (1843), §7, §8, §9, §23, §24, §51. Es handelt sich auch hier für Feuerbach wieder um eine doppelte Mystifikation, da Hegels Entäußerung der Idee schon eine der Idee von sich ist, die nur wieder zu ihrer „Andersheit" zurückkehrt. L. Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie (1842), BJ II, 224.
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liehen" Eigenschaften wieder zurück, so kann die Kritik der logischen Entfremdung den Menschen wieder dem konkreten Leben, der allseitigen (nicht nur denkerischen) Verwirklichung seiner Wesenskräfte, kurz der „Existenz" zurückgeben. Die Umkehrmethode stellt die Logik Hegels vom Kopf auf die Füße, indem das konkrete, individuelle Sein über das reine, das Leben über die Philosophie, die Existenz über das Wesen, die Anschauung über die Begriffe und das Einzelne über das Allgemeine gestellt wird77. Die Kritik des theologischen Himmels schenkt sozusagen dem Menschen die Erde, die Kritik der Theo-Logik das Leben und die Existenz. Aus Feuerbachs Hegelkritik folgt einmal ein quasi existenzphilosophischer kategorischer Imperativ, der vom Menschen fordert, als ganzes, existierendes Wesen zu denken78, zum anderen, was eng damit zusammenhängt, eine Neubesinnung der Philosophie, die nicht mehr das Ganze des reinen Seins, sondern die „Totalität des menschlichen Lebens" begreifen will. Diese schließt in ihrer anthropotheistisch formulierten Lehre die Überwindung des neuzeitlichen Solipsismus ein. „Einsamkeit", so heißt es nämlich, „ist Endlichkeit und Beschränktheit, Gemeinschaftlichkeit ist Freiheit und Unendlichkeit. Der Mensch für sich ist Mensch (im gewöhnlichen Sinn); Mensch mit Mensch — die Einheit von Ich und Du — ist Gott"79. Damit erhalten nicht nur die ehemals „religiösen" Prinzipien von „Liebe", „Herz" und „Passivität" einen neuen anthropologischen Stellenwert, die ganze Philosophie der Zukunft muß den traditionellen „Anfang" revidieren. Feuerbach ist wie Kierkegaard ein Denker, der gegen Hegels System auf die individuelle Existenz verweist, er ist wie dann Buber und andere nach ihm auch schon ein Philosoph der Intersubjektivität. Die moderne Philosophie seit Descartes ging für ihn einseitig von der Subjektivität aus, 77
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In diesem Umkehrungstheorem liegt einer der Gründe für den manchmal unerträglichen linkshegelianischen Stil. „Die kontrastierende Reflexionsmanier . . . ist einförmig ohne einfach zu sein und brillant ohne Glanz", Löwith 1962, 11. Das Umschlagenlassen von Begriffen, das gewiß auch das Eingeweihtsein in den dialektischen Ritus bezeugt, demonstriert zudem, in welchem Maße die meisten linkshegelianischen Aper$us Bonmots aus zweiter Hand waren. Wie Kierkegaard stets sagte „Laßt uns doch Mensch bleiben", so heißt es bei Feuerbach: „Wolle nicht Philosoph sein im Unterschied vom Menschen; sei nichts weiter als ein denkender Mensch, denke nicht als Denker, d. h. in einer aus der Totalität des wirklichen Menschenwesens herausgerissenen und für sich isolierten Fakultät . . . denke in der Existenz . . .". L. Feuerbach, Grundsätze einer Philosophie der Zukunft (1843), § 51, BJ II, 314. op. cit. §60, BJII, 318.
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die Welt wurde vom Einzelsubjekt her gedacht, in res extensa und res cogitans, in Innen und Außen, Bewußtsein und Gegenstand zerrissen80. Der deutsche Idealismus hat durch den Anfang der Philosophie bei der „Ichheit" und bei der bloß gedachten Identität der „Iche" diese Tradition fortgesetzt, die in Hegels Bruch mit der sinnlichen Anschauung und der Existenz kulminiert. Zwar fängt auch die Philosophie der Zukunft beim „Ich" an, aber dieses „Ich" hat nichts mit einem idealistisch oder spiritualistisch konzipierten zu tun. Es ist das je einzelne Ich des leibhaftigen Menschen, der schon immer in einer „Ich-Du"-Beziehung lebt, ohne die er genausowenig existieren könnte wie ohne Leib. So gewinnt auch die Identität von Subjekt und Objekt für Feuerbach einen neuen Sinn: „Das wirkliche Ich ist nur das Ich, dem ein Du gegenübersteht, und das selbst einem anderen Ich gegenüber Du, Objekt ist; aber für das idealistische Ich existiert, wie kein Objekt überhaupt, so auch kein Du . . ., ,Ich denke', aber ich dieser Mensch, nicht das Ich oder die Ichheit, die Intelligenz überhaupt. Ich bin wesentlich Individuum . . . Ich setze nur ein Objekt, ein Du außer mich, weil an und für sich mein Ich, mein Denken ein Du, ein Objekt überhaupt voraussetzt. Ich bin und denke, ja empfinde nur als ,Subjekt-Objekt'. . ."«. Hegel trifft der gleiche Vorwurf wie Descartes und Spinoza, die Väter der neuzeitlichen Philosophie. Sein „Anfang" der Philosophie bricht mit der sinnlichen Anschauung, er setzt die Idee dogmatisch voraus, statt sie aus der „Andersheit" wirklich zu entwickeln82. Die Philosophie der Zukunft wird die neuzeitliche Fragestellung der Philosophie umkehren und mit der „Nichtphilosophie" anfangen83, mit dem Leben des je einzelnen Menschen, der bereits in einer Ich-Du-Beziehung steht. Wie Kierkegaard und heutzutage Adorno versucht schon Feuerbach, die Logik der Identität zu durchbrechen und sie dem Nicht-Identischen, dem Unvermittelten und Unmittelbaren zuzukehren84. Das Individuum, dessen Position die Negation des Absoluten bedeutet, wird als der neue-alte Gott gegen den traditionellen Anfang der Philosophie beim Sein genauso beschützt wie gegen den beim modernen Ich oder gegen die subtile Monologisierung des absoluten Geistes, die aus Hegels Dialektik von Andersheit und Identität 80
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Feuerbach zeichnet meist eine Entwicklungslinie von Descartes über Spinoza zu Kant, Fichte und Hegel, op. cit. § 17, § 18, § 22, BJ II, 268ff., 277fi. L. Feuerbach, Über Spiritualismus und Materialismus in besonderer Beziehung auf die Willensfreiheit (1866), BJ X, 214f. Feuerbach 1839, BJ II, 184. L. Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie (1842), BJ II, 235. Darauf macht Schmidt zu Recht aufmerksam, Schmidt 1967, 34f.; Schmidt 1973, 172ff.
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eine Selbstvermittlung werden läßt. Mit Hegel kritisiert Feuerbach den Schlußpunkt der modernen Philosophie, die noch einmal den transzendenten Ursprung der Metaphysik in eine „transzendente" Logik auf Kosten des Individuellen gerettet hat. Aber Feuerbachs „Individuum", dessen Emanzipation gegen Hegel eingeklagt wird, ist selbst in der Gefahr, mit Hegeischen Begriffen kritisiert werden zu müssen. Zwar stellt Feuerbach klar, daß der Einzelne nicht mit dem solipsistischen Einzigen im Sinne Stirners verwechselt werden darf; dagegen spricht der Tenor der Ich-Du-Philosophie genauso wie der der Religionskritik85. Aber Feuerbachs „Individuum" scheint doch in mancher Hinsicht „abstrakt" zu bleiben. Einmal ist seine Erkennbarkeit und Begreifbarkeit ähnlich wie bei Kierkegaard durch die Nähe der Irrationalität gefährdet, zum anderen schlägt, trotz der jüngst von Schmidt demonstrierten „praktischen" Gehalte der Feuerbachschen Philosophie, eine Tendenz zum positivistischen Naturalismus (vor allem beim älteren Feuerbach) durch, welche eine gewisse Praxisferne und Kritiklosigkeit sowie eine gewisse Ahistorizität mit sich bringt. Ein Vergleich mit Kierkegaard mag dies demonstrieren. Kierkegaard, der nach der alten (und nach unserer) Einteilung sich weder als Rechts- noch als Linkshegelianer klassifizieren läßt, teilt mit Feuerbach das existenzphilosophische Pathos gegen das nur gewaltsam geschlossene und totale System. Auch für ihn war der „Knacks" in den ständigen Vermittlungen der Spekulation nicht zu überhören, auch er glaubte, Unmittelbarkeit und Individualität hätten im System keinen Platz. Der scheinbar voraussetzungslose Anfang der Logik wird von Hegel nur durch den „a-logischen" Entschluß zustande gebracht, der den sonst einsetzenden Regreß der Reflexion künstlich zum Stehen bringt und demonstriert, wie der existierende Denker hinter dem System als dessen Bedingung der Möglichkeit auftaucht86. Mit Hegels System, da war 85
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Gerade die Religion möchte ein Individuum (Gott) als „unvergleichliches" von allen anderen abheben. Stirner ist sozusagen ein verkappter Theologe! Für die Religionskritik aber gilt: „Eine Religion aufheben heißt darum nichts anderes als die Identität ihres geheiligten Gegenstandes oder Individuums mit den anderen profanen Individuen dergleichen Gattung nachweisen". L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums in Beziehung auf den .Einzigen und sein Eigentum' (1845), BJ VII, 294ff., 299. Allerdings wird man das Gefühl nicht los, daß Feuerbach nicht nur gegen Stimer, sondern auch gegen widerstreitende Tendenzen seiner eigenen Philosophie ankämpft. Denn die nominalistisch gesicherte Individualität der Einzelnen scheint manchmal mit dem früheren realistischen Gattungsbegriff in Konflikt zu geraten. S. Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, I.Teil (1846), Gesammelte Werke 16. Abt., Düsseldorf-Köln 1957, 104ff.
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Kierkegaard überzeugt, läßt es sich genausowenig leben, wie es unmöglich ist, mit einer stahlfedergroßen Karte von Europa durch Dänemark zu reisen87. Und mit den Waffen seiner brillanten Ironie hat er die „Komik" des Systematikers verspottet, der nur auf dem Katheder das beliebte Spiel des Idealistseins spielen kann. Aber anders als bei Feuerbach blieb Kierkegaards Existenzbegriff ein „inter-esse", nicht nur im Sinne des „leidenschaftlichen", praktischen Interesses am Dasein (das auch Feuerbach lehrt88), sondern auch im wörtlichen Sinne des „Zwischen-Seins", des zwischen Zeit und Ewigkeit, Denken und Sein gespannten Daseins. Erst weil wir da sind, können wir denken, daß wir da sind, und so ist die Existenz dem Denken vorgeordnet, aber zugleich muß der Mensch, und das zeigt die fundamentale Differenz zwischen Feuerbach und Kierkegaard, etwas denken können, „um darin zu existieren"89. Erst darin liegt die Paradoxie des Daseins, daß der Einzelne in der Zeit das Ewige anzustreben und als Daseiender denkend zu leben hat. Dasein und Wesen vereinen sich erst im leidenschaftlichen Entschluß und Sprung, der die Wahl des guten Lebens und die Erlangung der Seligkeit „pathetisch-dialektisch", d. h. für Kierkegaard leidenschaftlich und unvermittelt, erreicht. Das Denken allein kann den Graben nicht überbrücken, denn das Denken ist für Kierkegaard ganz im Sinne der klassischen Tradition „allgemein", Existieren aber bedeutet ein „Einzelner-Sein"90. Feuerbach und Kierkegaard sind in ihrem Kampf gegen das System auf weite Strecken vereint. Sogar in der Gefahr, ihren Kampf gegen die logische Identität mit dem Irrationalismus zu bezahlen, sind noch beide aneinander gekettet. Aber während Kierkegaard die Spannung und die Paradoxie, in die sich jede Parteinahme fürs Unmittelbare, nur Anschaubare, Lebbare, Individuelle begibt, bewußt formuliert und in der heroischen Daseinsform des unglücklichen Bewußtseins aushält91, überspielt 87 88
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op. cit. 2. Teil (1846), Düsseldorf-Köln 1958, 11. So heißt es beispielsweise: „Die Liebe ist Leidenschaft, und nur die Leidenschaft ist das Wahrzeichen der Existenz". L. Feuerbach, Grundsätze einer Philosophie der Zukunft (1843), § 33, BJ II, 297f. Kierkegaard 1846, 2. Teil, 32ff. op. cit. 29. Kierkegaard wird oft zutreffend mit dieser Hegeischen Bewußtseinsgestalt identifiziert, z. B. durch J. Wahl, Etudes Kierkegaardiennes, Paris 1938, 134. Freilich kann auch Kierkegaards unglückliches Bewußtsein nicht ganz der Kritik entgehen. Es hat ähnlich wie Feuerbachs Idolatrie der Gattung letztlich eine Auflösung des „Handelns" zur Folge, dessen „Wie" im leidenschaftlichen Entschluß entscheidender als das „Was" wird. Siehe dazu Th. W. Adorno, Konstruktion des Ästhetischen, Fft. a. M. 21962, 50ff.;
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Feuerbach den drohenden Irrationalismus rein verbal. Das Sein „des Sinns, der Anschauung, der Liebe", so sagt er einmal, „ist stets das Einzelne, das Hegel das Unsagbare nennt". Aber wenn „Unsagbarkeit Unvernünftigkeit ist, so ist alle Existenz, weil sie ... immer nur diese Existenz ist, Unvernunft. Aber sie ist es nicht. Die Existenz hat für sich selbst, auch ohne Sagbarkeit Sinn und Vernunft"92. Ist sich Feuerbach der Tragweite des Zusammenhanges von individualistischer Existenzphilosophie und Irrationalismus nicht recht bewußt, so übersieht er auch die Spannung zwischen Dasein und Wesen, die bei Kierkegaard das humane „Zwischen-Sein" des Menschen ausmacht, der weder nur wie ein Ding „da ist", noch als Idee existiert. Die Feuerbachsche Existenz hat quasi schon soviel „Vernunft", daß die Differenz zwischen Sein und Wesen keine Rolle spielt und nicht etwa als praktische Aufgabe des einzelnen Menschen oder der Gattung noch zu überbrücken wäre. „Was mein Wesen ist", so lautet ein berühmter Abschnitt der „Grundsätze", „ist mein Sein. Der Fisch ist im Wasser, aber von diesem Sein kannst Du nicht sein Wesen abtrennen . . . Nur im menschlichen Leben sondert sich, aber auch nur in abnormen, unglücklichen Fällen, Sein vom Wesen . . ,"93. Der ältere Feuerbach hat, freilich manchmal nicht ohne die Freude des Provokateurs, die „Differenz" zwischen Sein und Wesen noch völlig naturalistisch heruntergebracht. Nicht zwischen Zeit und Ewigkeit, Denken und Dasein, sondern zwischen „Leib" und „Geist", zwischen Hunger, Durst, Trieb und jeweiliger Trieberfüllung wird die ehemals spekulative Einheit von Subjekt und Objekt gerückt, die sich auf diesem Niveau nicht schwer als Einheit von Wesen und Sein etablieren läßt94. Ein statischer, zum Positiven tendierender Naturalismus, der beim älteren Feuerbach manchmal in Plattheiten ausartet, kennzeichnet die späteren Entwicklungsphasen95. Er trifft sich in der Tendenz mit der H. Reuter, S. Kierkegaards religionsphilosophische Gedanken im Verhältnis zu Hegels religionsphilosophischem System, Leipzig 1914, 124f.; den Verlust der objektiven Wahrheit des Christentums sieht Löwith 31969, 388ff. Siehe das Schlußkapital des zweiten Bandes: „Hegel und das Ende des Individuums". 92 L. Feuerbach, Grundsätze einer Philosophie der Zukunft (1843), § 28, BJ II, 228. 93 op. cit. § 27, BJ II, 296; Hervorhebung H. O. 94 L. Feuerbach, Das Geheimnis des Opfers oder der Mensch ist, was er ißt (1862), BJ X, 41 ff.; Feuerbach 1866, BJ X, 221 f. Siehe auch Hook 31958, 267ff., ausgewogen über „Feuerbach's .Degenerate Sensationalism'". 95 Rawidowicz konstruiert eine dreifache Konsolidierung des naturalistischen Positivismus, die Ausarbeitung einer naturalistisch-positivistischen Religionsphilosophie zu einer
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Voraussetzung der Religionskritik, die wohl erst letztlich Feuerbachs Identifizierung von Sein und Wesen aufschlüsselt. Denn die reformatorische Kritik sollte die Gattung nur wieder in ihre Rechte inthronisieren, die sie immer schon hätte beanspruchen dürfen. Der Mensch, der durch die kritische Umkehrung von Subjekt und Prädikat wieder in seine ursprüngliche Unendlichkeit eingesetzt wird, ist schon der Gott-Mensch, von dessen „Perfektibilität" zu reden keinen Sinn haben kann96. „Wem das höchste Wesen Gegenstand ist", so lautet der ontologische Gottesbeweis der Philosophie der Zukunft, „das ist selbst das höchste Wesen"97. Trotz aller Versuche Feuerbachs, den Naturalismus nicht zu sehr auf den Anthropotheismus und Humanismus übergreifen zu lassen, trotz der Absicht, die „Natur" nicht einfach zu verherrlichen, trotz der gewiß berechtigten neueren Bemühungen, die Eigenständigkeit und Modernität Feuerbachs gegen die traditionelle Linie der Feuerbachkritik herauszustellen, eine Tendenz zum naturalistischen Positivismus läßt sich genausowenig verschweigen wie eine aus der schon vorhandenen Göttlichkeit des Menschen fließende Distanz zu Praxis, Kritik, Gesellschaft und Geschichte98. Cum grano salis können Marx und Engels noch immer die Richtung einer hegelianischen Feuerbachkritik weisen. Nicht nur ist die Identifizierung von Sein und Wesen eine „schöne Lobrede aufs Bestehende"99, Feuerbachs „Individuum" muß von einem Hegel näher
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solchen theoretischen und schließlich eudämonistisch-praktischen Philosophie, Rawidowicz 1931, 115ff. Lobkowicz 1967, 225 f. L. Feuerbach, Grundsätze einer Philosophie der Zukunft (1843), § 7, BJ II, 252. Weder Löwiths oft so anziehende Erinnerung an und der Griechen, die ihn in der Feuerbachschen „Unmittelbarkeit" so etwas wie einen „Fortschritt zurück" zur wahren „Natur" erkennen lassen (K. Löwith, Vermittlung und Unmittelbarkeit bei Hegel, Marx und Feuerbach, in: Vorträge und Abhandlungen. Zur Kritik der christlichen Überlieferung, Stuttgart-Köln-Berlin-Mainz 1966, 200ff.), noch Gagerns kritische Bemerkung, daß der „Wert der Marxschen Feuerbachkritik für das Verständnis Feuerbachs sehr gering" sei (Gagern 1970, 317, 333ff.), können der Marx-Kritik an Feuerbach allen Wind aus den Segeln nehmen. Zwar mag Marx tatsächlich jedes Verständnis für Feuerbachs Theodizee- und Gottesproblem abgegangen sein, zwar mag seine Religionskritik wie die Feuerbachsche auf „unbewiesenen" Voraussetzungen ruhen (ebd.), dies entkräftet nicht einen zumindest „latenten" Positivismus im Denken Feuerbachs, den selbst Schmidt konzediert (Schmidt 1967, 39 Anm.). Von den Schwierigkeiten Löwiths beim Versuch, heute noch griechisch zu denken J. Habermas, Karl Löwiths stoischer Rückzug vom historischen Bewußtsein (1963), in: Philosophischpolitische Profile, Fft. a. M. 1971, 116ff. Zu Feuerbachs Vergleich des Menschen mit dem „Fisch im Wasser" hatte Engels bemerkt: „Eine schöne Lobrede aufs Bestehende". F. Engels, Feuerbach (1845/46), MEW Bd. 3, 543.
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stehenden Standpunkt als ein abstraktes, ungeschichtliches und ungesellschaftliches erscheinen. Die von Marx und Engels im Gegenzug zu Feuerbachs „passiver Anschauung" entwickelte revolutionäre Praxis100 und auch die ganze Hinwendung zum historischen Materialismus der „Deutschen Ideologie" bedeuten immer noch eine gewisse Rückkehr zu Hegel. Feuerbachs vergöttlichte „Ich-Du"-Beziehung, die wohl nicht ohne Grund immer nur als Zweier-Relation auftaucht101, ist in ihrer Unmittelbarkeit nicht mit Hegels geistphilosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Vermittlungen vergleichbar. Dabei ist auch Feuerbachs unmittelbares, in sentimentaler Liebe und Freundschaft schwelgendes Sinneswesen, so meinen Marx und Engels, erst durch Geschichte und Gesellschaft geworden, was es ist. „Selbst die Gegenstände der untersten, sinnlichen Gewißheit", sagt Marx einmal, die Hegelkritik zurückgebend, „sind ihm (Feuerbach, H. O.) nur durch die gesellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den kommerziellen Verkehr gegeben. Der Kirschbaum ist, wie fast alle Obstbäume, bekanntlich erst vor wenigen Jahren durch den Handel in unsere Zone verpflanzt worden und wurde deshalb durch diese Aktion einer bestimmten Gesellschaft in einer bestimmten Zeit der ,sinnlichen Gewißheit' Feuerbachs gegeben"102. Wie Rüge dem System nur die theoretische Spitze abbrach, um die verbleibenden Elemente „praktisch" nutzbar zu machen, so verdankt Feuerbach seine Kategorien dem Lehrer, den er kritisiert. Den jungen Hegel, der Feuerbachs Religionskritik vorwegnimmt, hat Feuerbach nicht gekannt103. Aber auch die Phänomenologie, mit der Feuerbach vertraut war, hatte der Religionskritik in Feuerbachs Sinn einen (!) Abschnitt (und nicht mehr) gewidmet104, und nicht nur der junge Hegel benutzte die Begriffe wie „Herz", „Liebe" und „Leben". Damit ist Feuerbachs Kritik am monologischen System allerdings nicht entkräftet. Wenn Feuerbach demonstriert, wie wenig die sinnliche Gewißheit auf dem Kopf zu gehen bereit war, so mag darin, wie in der Kritik am monologischen absoluten 100 101
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Siehe die „Thesen über Feuerbach"; eine detaillierte Analyse bei Hook 21958, 272ff. Engels vermutet die Geschlechtsbeziehung als Modell. F. Engels, Feuerbach (1845/46), MEW Bd. 3, 542. K. Marx, F. Engels, Die deutsche Ideologie (1845/46), MEW Bd. 3, 43ff. Die berühmteste „Feuerbachsche" Stelle: „Außer früheren Versuchen blieb es unseren Tagen vorzüglich aufbehalten die Schätze, die an den Himmel verschleudert worden sind, als Eigentum des Menschen wenigstens in der Theorie zu vindizieren." N225. Phän. 376-383. „Der Glaube und die reine Einsicht". Nach Rosenkranz beutet Feuerbach zwei Kapitel der Phänomenologie „nach allen Richtungen" aus, „das eine, welches die Beschreibung des unglücklichen Bewußtseins enthält, das andere welches den Kampf des Glaubens und der Aufklärung schildert". Rosenkranz 1870, 313.
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Drei Strömungen der Kritik im alten Linkshegelianismus
Geist, ein entscheidender Einwand liegen, dem noch nachzugehen sein wird. Feuerbach kann aber auch anschaulich beweisen, daß in der Hegelkritik die prima philosophia der alten Metaphysik sich nur schwer abschütteln läßt105. Der Mensch avanciert zum „Ursprung" seiner Geschichte und seiner selbst, freilich um den Preis einer „göttlichen" Existenz, welche nicht nur in ihren humanen Äußerungen, sondern auch in ihren natürlichen Beschränktheiten bereits vollkommen sein soll. Feuerbach ist gewiß ein Emanzipationsphilosoph im Sinne Adornos und Schmidts, und doch geht mit der Religionskritik, mit der verbalen Zustimmung zum Anthropotheismus und zur politischen Emanzipation die Tendenz zum unvermittelten Unmittelbaren Hand in Hand, die, statt zu befreien, das aus allen geschichtlichen und gesellschaftlichen Bindungen herausabstrahierte Individuum aufs Bestehende verpflichtet und seiner emanzipatorischen Potentiale geradezu beraubt. Hegels größerer geistesphilosophischer Horizont wird, so könnte man im Jargon der Hegeischen Mitte sagen, durch Naturalismus und Unmittelbarkeit unterboten. Erst der Marx, der Feuerbachs Religionskritik soziopolitisch und historisch ummünzt, versucht Feuerbachs Argumentationspotential auch gegen Hegels politische Philosophie nutzbar zu machen.
l .3 Die soziologische Kritik oder bourgeois, citoyen und homme (K. Marx) Wenn uns Rüge als Popularisierer der politischen Kritik, Feuerbach als Verbreiter der theo-logischen Kritik gilt, die im Gewand der Systemkritik und nur beiläufig als politische Kritik auftrat, so gilt uns Marx als der Initiator der Hegelkritik, die sowohl den Rugeschen Akkommodationsvorwurf als auch Feuerbachs Instrumentarium aufnimmt, jedoch beide auf eine Problematik transponiert, die Rüge wie Feuerbach schlechthin verborgen geblieben war: das Problem von Gesellschaft und Staat. Dabei handelt es sich gerade hier um eine jener Nahtstellen, an denen sich sowohl der Anspruch der Spekulation, ihre Zeit in Gedanken zu erfassen, als auch der Anspruch, Individuum und Allgemeinheit zu versöhnen, entscheiden müssen. 105
R. K. Maurer, Hegel und das Ende der Geschichte. Interpretationen zur Phänomenologie des Geistes, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1965, 92 f.
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Mit der Analyse von Gesellschaft und Staat greift Marx ein Problem auf, das Hegel im Wissen um die moderne politische Philosophie seit Rousseau als auch im Bewußtsein um die großen sozialen und industriellen Umwälzungen seiner Zeit aufgenommen hatte. Die alte Problematik von „bourgeois", „citoyen" und „homme", die ehemals noch, wie es die Begriffe verraten, im Umkreis einer ,,bourg" oder „cite" ihre soziopolitische Heimat gehabt hatten, hatte sich für Hegel schon mit der Emanzipation der mittelalterlichen Stände zu einer ökonomischen gewandelt, die ä la Rousseau eine neue Bestimmung des Verhältnisses des ökonomisch emanzipierten bourgeois zum freien Staatsbürger qua citoyen und zum ganzen Menschen verlangte106. Die bürgerliche Gesellschaft, als die aus der alten Einheit von Staat und Gesellschaft emanzipierte, galt schon Hegel als eine individualistische, von Antagonismen geschüttelte Sphäre, mit seinem Staat aber hatte er einen Bereich zu beschreiben versucht, der die Konflikte dieser Gesellschaft und ihrer konkurrierenden Individuen in einem konkreten Allgemeinen aufheben sollte. Schon der Marx, der an seiner Dissertation arbeitet, zieht aus der linkshegelianischen Systemsicht radikalere Konsequenzen als Rüge und Feuerbach. Der Akkommodationsvorwurf, stellt er mit Blick auf seine linken Freunde fest, kann als „moralischer" wenig Sinn haben107, auch ist es keine Lösung des geschichtlich anstehenden Problems, wenn man, wie die anderen Hegelianer, durch partielle Verbesserungen der Philosophie oder der Welt die Verwirklichung der Vernunft nach Hegel zu leisten versucht. Nach einer „totalen" Philosophie kann das Leben nur weitergehen, wenn die Umkehr von der in sich geschlossenen Philosophie mit der gleichen Radikalität betrieben wird, mit der die Theorie sich zur Totalität entfaltete. In das „Athen" der Theorie führt kein Weg zurück: Die Philosophie selbst muß als reine Theorie aufgegeben werden, damit ein „neues Leben" gegründet werden kann108. 106
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Die Hegel und Marx gemeinsame Einsicht in den modernen Zusammenhang von Gesellschaft und Staat beschreibt auf seine informative Weise M. Riedel, Bürger, bourgeois, citoyen, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. H, J. Ritter (Hrsg.), Darmstadt 1971, 962 ff. F. Marx, Anmerkungen zur Doktordissertation (1840/41), MEW Ergänzungsband I.Teil, 327. F. Marx, Hefte zur epikuräischen, stoischen und skeptischen Philosophie (1838/39), VI. Heft, op. cit. 217. Marx kleidet den notwendig gewordenen Abschied von der totalen, aber auch von der reinen, klassischen Theorie in das Bild des Themistokles, der bei der drohenden Verwüstung Athens riet, „es vollends zu verlassen und zur See . . . ein neues Leben zu gründen". Die ausführlichste Analyse der Vorarbeiten bei G. Hillmann, Marx und Hegel. Von der Spekulation zur Dialektik, Fft. a. M. 1966, 117ff.
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Die Notwendigkeit über Hegel hinauszugehen hat Marx eigentlich strenger hegelianisch konstruiert als alle seine Mitstreiter. Die Einschätzung der Philosophie nach Hegel fordert eine Metareflexion auf die Widersprüche, welche die „unmittelbare" Abschaffung der totalen Philosophie, ihre Verwirklichung, mit sich bringen muß. Sie fordert zunächst den Nachweis der Akkommodation bei Hegel selbst, und zwar aus der Fassung des „Prinzips", aus dem „esoterischen" Bewußtsein des Philosophen von sich selbst109, einen Nachweis, der sich des „Maulwurfes" des inneren Bewußtseins bedient und so in einer kritischen Geschichtsschreibung Schein vom Wesen trennen kann110. Die Kritik, die aus dieser immanenten Widerlegung der Philosophie Hegels entsteht, ist theoretisch und praktisch zugleich, eine kritische Messung der Existenz an ihrem Wesen, aber auch die dadurch ermöglichte praktische Überwindung der bestimmten Gestalt, deren Erscheinungsweise als so bestimmte abgeleitet wurde. Der theoretisch in sich geschlossene Geist muß mit psychologischer und geschichtlicher Notwendigkeit in praktische Energie umschlagen. Dessen hat sich Marx in der Analyse der Situation der Philosophen nach Aristoteles versichert, der Situation, die das Modell abgibt für die der Hegelianer nach Hegel. Das „unmittelbare Umschlagen" der totalen Philosophie, die aus ihrer Selbstgenügsamkeit heraustreten muß, erlaubt aber nur eine widersprüchliche Realisierung111, aus deren Gegensätzen sich auch die quasi historische Notwendigkeit der theoretischen Hegelkritik ablesen läßt. Die Theorie, die nicht mehr wie die Hegeische (oder auch klassische) autark in sich ruht, sondern praktisch werden soll, verliert ihre überweltliche „Exclusivität" und wird selbst „zu einer Seite der Welt". Philosophie und Welt geraten in einen „Reflexionsgegensatz", der sie ineinander verschränkt und zur wechselseitigen Nachäffung zwingt. Wenn Theorie auch als Kritik praktisch wird und die Welt auf das Niveau der Philosophie hebt, so wird doch Theorie auch Teil der Welt, die sie bekämpft. Das „Philosophisch-Werden der Welt" wird mit dem „Welt109
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Marx 1840/41, MEW Ergänzungsband I.Teil, 327. Marx, der bei Abfassung der Dissertation stark unter dem Einfluß von Bruno Bauer steht, übernimmt die Unterscheidung von „esoterisch-exoterisch" aus Bauers „Posaune" (McLellan 1974, 84ff.). Marx 1839/39, VII. Heft, MEW Ergänzungsband I.Teil, 247. Es geht im Folgenden um eine Analyse der Anmerkungen zur Dissertation, Marx 1840/41, MEW Ergänzungsband I.Teil, 327ff. Für unsere Zwecke muß eine vereinfachende Deutung genügen. Ausführlicher Popitz 21968, 51 ff.; Hillmann 1966, 245 ff.; K. Hartmann, Die Marxsche Theorie. Eine philosophische Untersuchung zu den Hauptschriften, Berlin 1970, 15 ff.
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lieh-Werden der Philosophie" bezahlt. Dieser Widerspruch spiegelt sich, außer in der Philosophie selbst, noch einmal wider im Bewußtsein der Subjekte und in den philosophischen „Richtungen", die nur jeweils ein Extrem realisieren wollen, die kritisch-praktische Verbesserung der Welt oder die theoretische Ausbesserung der Philosophie112. Dabei kann eigentlich, da ist Marx überzeugt, nur beides zugleich gelingen, das Philosophisch-Werden der Welt im Verein mit der Befreiung von der „totalen" Philosophie. Da der Mangel einer der Philosophie und der Welt ist, muß nachgewiesen werden, wie und warum die gerade so defiziente Welt mit der gerade so defizienten Philosophie zusammengehört. Dann läßt sich die Theorie ihrer Abhängigkeit von der Welt überführen und als historische Gestalt überwinden. Die Befreiung „der Welt von der Unphilosophie" fordert die „Befreiung von der Philosophie, die sie (die Subjekte, H. O.) als ein bestimmtes System in Fesseln schlug"113. Die Aufdeckung der wesentlichen, esoterischen Bewußtseinsform Hegels sowie die Befreiung von den Fesseln der totalen Theorie wird in der „Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie" vollzogen114. Dabei ist analog zum Programm der Anmerkungen der Dissertation die Hegelkritik zugleich eine der Welt, die Kritik der Welt zugleich eine der Philosophie, die als bestimmte Gestalt zu ihr gehört. Drei konkrete Ziele, so könnte man es ausdrücken, verfolgt Marx auf drei methodischen Ebenen115: Er möchte die konstitutionelle Monarchie via eine Hegelkritik attackieren, er 112
Hillmann bezieht die beiden „Richtungen" (die „liberale" und die „positive") auf das Hegeische Zentrum (= die „positive" Partei oder Michelet und Cieszkowski) und Marx (die „liberale" Partei). Nach Hartmann ist die Aufschlüsselung der „positiven" Richtung falsch, die der „liberalen" jedoch richtig (Hillmann 1966, 295ff.; Hartmann 1970, 19). Demgegenüber glauben wir, daß sich Marxens Standpunkt schon damals nicht auf eine Seite fixieren läßt, da er schon 1840/41 sowohl Verwirklichung des Begriffs in der Praxis als auch theoretische Kritik zugleich sein soll. Entgegen Hartmanns Selbstverständnis verweist seine richtige Deutung des „philosophischen" Sinns der Aufhebung der Philosophie auf die den Gegensatz umfassende Position von Marx. Die Analyse beider Richtungen setzt als Bedingung ihrer Möglichkeit immer schon mehr Einsicht voraus als sie ein Extrem des Gegensatzes zu bieten hat. 113 Marx 1840/41, MEW Ergänzungsband I.Teil, 329. 114 Die weitere Vorgeschichte der Hegel-Kritik in Marxens Zeitungsartikeln bei J. Barion, Hegel und die marxistische Staatslehre, Bonn 1963, 114ff.; informative Einführungen bei J. J. O'Malley, Editor's Introduction, in: Critique of Hegel's Philosophy of Right by Karl Marx, Cambridge 1970, Xlff., XIIIff. und M. Rubel, Karl Marx. Essai De Biographie Intellectuelle, Paris21971, 49ff.; eine überlange Paraphrase bei Rossi Bd. II. 1963, 295-423. 115 O'Malley 1970, XII, XXVIIff. Die Vermischung verschiedener Anliegen, die Marx selbst einmal zugesteht (K. Marx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEW Ergänzungsband I.Teil, 467), war wohl für das Absehen von einer
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möchte für sich selbst die Beziehung zwischen den politischen Institutionen und den ökonomischen Verhältnissen klären, die sich ihm in seinen Artikeln für die „Rheinische Zeitung" als Problem aufdrängte, und er will drittens, Hegels Philosophie nicht nur als politische, sondern auch als systematische treffen. Die gleichfalls komplexe Methodik besteht 1. in einer Umsetzung der Feuerbachschen reformatorischen Kritik in eine solche der politischen Philosophie, 2. in einer mikroskopischen Textanalyse und 3. in einer historisch-genetischen Kritik. In der nach der Kritik des Staatsrechts geschriebenen „Einleitung" wird die Verlängerung der Feuerbachschen Kritik an der religiösen Selbstentfremdung in eine Kritik an der sozio-politischen Entfremdung, welche den „Himmel" der Politik als die gleiche Mystifikation entlarvt wie den Himmel der Theologie, deutlich ausgesprochen. „Für Deutschland", so heißt es dort mit dem Blick auf Feuerbach, „ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik"116, und eine Seite später formuliert Marx prägnant: „Die Kritik des Himmels verwandelt sich . . . in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik"117. Aber nicht die Zustände des Deutschlands, das die Restaurationen der modernen Völker ohne ihre Revolutionen teilte und „unter aller Kritik" steht, sondern die „Kopie" des deutschen status quo, die in der Rechtsphilosophie zu finden ist, gilt es zu kritisieren. Denn die „deutsche Rechts- und Staatsphilosophie ist die einzige mit der offiziellen modernen Gegenwart al pari stehende deutsche Geschichte118. An die „Kopie" muß das Instrumentarium der reformatorischen Kritik angelegt werden. Subjekt und Prädikat, als Idee und empirische Realität, müssen wieder in ihr „wahres" Verhältnis gebracht werden, indem die Idee, welche die Andersheit des empirischen Seins nur als Andersheit ihrer selbst aus sich entläßt und auch nur als solche wieder in sich aufhebt119, Veröffentlichung ausschlaggebend; allerdings glaubte Marx noch bei Abfassung der „Einleitung" an eine Publikation (K. Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, Einleitung [1843/44], MEW Bd. l, 378). 116 K. Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung (1843/44), MEW Bd. l, 378. Als Zwischenglied zwischen Feuerbachs Religions- und Marx' Politikkritik hat wohl der Aufsatz von Moses Heß „Über das Geldwesen" fungiert, der zum ersten Mal Feuerbachsche Kategorien auf sozio-ökonomische Verhältnisse übertrug, siehe McLellan 1974, 177 ff. 117 op. cit. 379. 118 op. cit. 383. 119 Dieser gedoppelte Fehler Hegels wird von Marx auch an der Phänomenologie in Feuerbachschem Geist „aufgewiesen", besonders an der Negation der Negation, aber auch am
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entmystifiziert und all der Prädikate entkleidet wird, die den Menschen und nicht ihr gehören. Nur die Mystifikation erlaubt es Hegel, von der „Tätigkeit" der Idee, ihrer „Diremtion" und dergleichen zu sprechen. So ist nicht der „Staat" selbst das Tätige, sondern seine reale Grundlage, Familie und Gesellschaft120. Indem Hegel überall die Idee zum Subjekt und die Realität zum bloßen Phänomen macht, erweist sich das Gerede vom vielzelebrierten reinen Zusehen als falsch. Nicht die Sache selbst wird frei von Voraussetzungen entfaltet, sondern eine fertige Logik hat sich ihre empirische Realität zu beschaffen121. So sucht Hegel irgendeine empirische Existenz, welche ihm die Idee bestätigt, ein Verfahren, das dogmatisch das Bestehende überhöht. Wie Rüge spricht auch Marx vom „Umschlagen von Empirie in Spekulation und von Spekulation in Empirie"122, auch er attackiert die Taschenspielerei, auch er kann sich mit den empirischen Existenzen nicht abfinden, die wie Erbkönigtum und Majorate metaphysiziert werden, auch er ist damals noch wie sein Vorgänger ein Kämpfer aus radikaldemokratischem Geist123. Wenn das alles wäre, was Marx vorzubringen hätte, dann wäre seine Kritik eine kaum originelle Anwendung Rugescher und Feuerbachscher Prinzipien auf die Rechtsphilosophie. Aber Marx hat in seinem Kommentar mehr geleistet, und zwar hat er die neuzeitliche Geschichte von Gesellschaft und Staat wieder aufgerollt, die auch Hegel als wichtiges Element der „Entzweiung" der Zeit und ihrer Versöhnung in seine Philosophie einbezogen hatte. Erst diese Perspektive eröffnet das eigentliche Niveau der Marxschen Hegelkritik. Als Resultat seiner Kreuznacher historisch-politischen Studien kommt Marx wie Hegel vor ihm zu dem Schluß, daß die Französische Revolution die ehemals geeinten Bereiche von Staat und Gesellschaft endgültig trennte. Im Mittelalter waren „Eigentum, Handel, Sozietät, Mensch politisch", Gesellschaft und Staat insofern identisch, als jede Privatsphäre
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Begriff der Entäußerung. K. Marx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte (1844), MEW Ergänzungsband I.Teil, 568ff., besonders 572ff., 580-582. K. Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie (1843), MEW Bd. l, 206. Marx drückt dies einmal sehr klar aus: „Nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik ist das philosophische Moment. Die Logik dient nicht zum Beweis des Staates, sondern der Staat dient zum Beweis der Logik", op. cit. 216, 250, 267. op. cit. 241, 244, 263. op. cit. 231, vgl. auch K. Marx an A. Rüge (Mai 1843), MEW Bd. l, 339; „Apologie de la democratie", Rubel 21971, 55 ff.
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unmittelbar einen politischen Charakter besaß124. Volks- und Staatsleben waren vereint, der Mensch galt als Prinzip des Staates. Aber nicht der freie Mensch war als gesellschaftlicher zugleich politisch, sondern konkreter Mensch und Standesbestimmung waren zu einer solchen unmittelbaren Einheit verschmolzen, daß der Mensch nur als „Tier" zählte. Die Stände selbst zersetzten sich in selbständige „Sozietäten", die sich durch Privilegien voneinander abgrenzten, der Mensch war summa summarum von seinem allgemeinen Wesen getrennt125. Mit dem Aufkommen der absoluten Monarchien und deren zentralistischen Verwaltungen begannen sich die vormals politischen Stände der feudalen Gesellschaft in bürgerliche zu verwandeln, ein Prozeß, den die Französische Revolution vollendet, indem sie konsequent aus den Ständen soziale Gruppierungen und aus den Standesunterschieden private Kategorien machte, die gesamte Gesellschaft entpolitisierte und eine eigene politische Sphäre freisetzte126. Mit der modernen Trennung der bürgerlichen Gesellschaft vom Staat ist allerdings nicht die allgemein-menschliche Emanzipation, sondern nur eine Stufe der politischen Befreiung erreicht127. Die modernen Verhältnisse kehren die mittelalterlichen nur um. War der mittelalterliche Mensch als Standeswesen politisch, so ist der moderne Bürger als politisches Wesen nur im „status" des Privatstandes. Die Kehrseite der politischen Emanzipation ist die Freisetzung des egoistischen Privatbürgers, der alle Tätigkeiten nur als Mittel für seine individuelle Existenz mißbraucht128. Zwar wurden durch die Zerschlagung der alten Ordnung die politischen Angelegenheiten zur Sache jedes Individuums129, jedoch kann der Mensch auch nur als vereinzelter die allgemeinen Angelegenheiten realisieren130. Der „Himmel" der politischen Sphäre131, in der gemäß den Deklarationen der Menschenrechte und den Forderungen der Revolution alle gleich, frei und sicher sein sollen132, wölbt sich über einer Gesellschaft, in welcher 124
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K. Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie (1843), MEW Bd. l, 233; vgl. auch „Zur Judenfrage I" (1843), MEW Bd. l, 352, 354ff., 363-370. Im folgenden wird alternierend oder gleichzeitig aus beiden Aufsätzen zitiert. op. cit. 285. op. cit. 283/284. Die allgemein-menschliche „Emanzipation", in der Feuerbachs humanistisches Ideal bei Marx wiederkehrt, liegt der „Staatskritik nur sachlich zugrunde, wörtlich taucht sie erst im Aufsatz zur Judenfrage auf (op. cit. 351 u. 388). op. cit. 285. op. cit. 369. op. cit. 281. op. cit. 283, 307, 325. op. cit. 283, 363 ff.
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nur individualistische Interessen ökonomisch konkurrieren und kollidieren. Die Deklarationen der Menschenrechte sind nur Verbriefungen für die Rechte des egoistischen Privatbürgers qua Bourgeois133. In den Kategorien der modernen politischen Philosophie gesprochen, der egoistische Bourgeois hat sich den Titel des „homme" angemaßt und den Staatsbürger (citoyen) zu seinem Diener gemacht134. Formale Gleichheit und Freiheit sind nur der Schein des politischen Himmels, in dem die Privatinteressen der Bürger de facto herrschen. Denn der wirkliche Mensch ist jetzt der Privatbürger, der „abstrahierte, künstliche Mensch" der Staatsbürger, beide zusammen aber nicht der allseitige menschliche Mensch, sondern ein in ein egoistisches, privatistisches bürgerliches Individuum und in einen abstrakt-allgemeine n Staatsbürger zerrissenes Wesen. Erst innerhalb dieses sozio-historischen Rahmens wird Marxens Vorwurf der Akkommodation und der nur logisch-spekulativen Versöhnung von Einzelheit und Allgemeinheit verständlich. Hegel selbst ist, wie Marx anerkennt, von der modernen Trennung des Staates von der Gesellschaft ausgegangen135. Zugleich hat er die Kluft auf eine Weise zu überbrücken versucht, die dem an der praktischen Aufhebung des Gegensatzes von Gesellschaft und Staat interessierten Marx als eine widersprüchliche erscheinen muß. Denn Hegel erkennt im Staat nicht die verselbständigte „Abstraktion" der Gesellschaft von sich, er durchschaut nicht, daß diese Gesellschaft und diese Staatsform nur zueinander gehörende Extreme sind (so wie „Geist" und „Materie"), ja er verwechselt, was für Marx noch einen konträren (und in der radikal-demokratischen Vergesellschaftung des Staates auflösbaren) Gegensatz bildet, mit einem kontradiktorischen136. Damit wird Hegel inkonsequent gegenüber der eigenen Prämisse. Denn nun versucht er zu vereinen, was nicht zu vereinen ist. Ein kontradiktorischer Gegensatz von nicht-politischem Privatbürger und politischem Staatsbürger, ein sich ausschließender Gegensatz, läßt sich nicht vermitteln wie ein konträrer oder polarer Gegensatz, bei dem es ein „Drittes" oder eine „Mitte" gibt137. Sich ausschließende Extreme „bedürfen aber auch gar keiner Vermittlung, denn sie sind entgegengesetzten Wesens. Sie haben 133
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op. cit. 295. Die Kritik der „abstrakten" Menschenrechte zuvor bei Moses Heß, McLellan 1974, 178. op. cit. 355, 363, 369f. op. cit. 233, 247, 252, 266, 276/277, 279, 281, 319. Dies als Paraphrase von op. cit. 291 ff. Auch wenn Marx die Ausdrücke „konträrer" (oder „polarer") und „kontradiktorischer" Gegensatz hier nicht verwendet, scheint seine Unterscheidung von „Unterschied der Existenz" (Beispiel: „Nordpol" und „Südpol" mit der „Mitte" „Pol") und „Unter-
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nichts miteinander gemein . . . Wenn aber Hegel Allgemeinheit und Einzelheit . . . als wirkliche Gegensätze behandelt, so ist das eben der Grunddualismus seiner Logik"138. Da hilft es nichts, daß für Hegel der Gegensatz nur einer der Erscheinungen, nicht einer der „Idee" oder des „Begriffes" sein kann. Für Marx steht fest, daß dieser Schachzug die Hegeische Vermittlung des Unvermittelbaren nicht mehr rettet. Denn ihre Widersprüchlichkeit ist selber kein Zufall. Der Versuch logisch-spekulativ den realen Gegensatz von Gesellschaft und Staat zu versöhnen beweist nur die Widersprüchlichkeit der Realität, die er reflektiert. „Hegels Hauptfehler besteht darin, daß er den Widerspruch der Erscheinung als Einheit im Wesen, in der Idee faßt, während er allerdings ein Tieferes zum Wesen hat, nämlich einen wesentlichen Widerspruch . . ."139. Bei Hegel muß demnach der Widerspruch der Realität in der theoretischen Versöhnung durchschlagen. Er wird für Marx sichtbar in den Scheinidentitäten, zu denen die Synthesen von Gesellschaft und Staat gerinnen. Marx erfindet für sie verschiedene Schimpfnamen: „Identität zweier feindlicher Heere", „Traktat wesentlich heterogener Gewalten", nur „formelle", „symbolische", „zeremonielle" Vermittlung, „mixtum compositum", „schlechtester Synkretismus"140 u. s. f. Genau diese Scheinidentitäten lassen sich nur erreichen, wenn Hegel ein Extrem des Gegensatzes jeweils auf das andere zurechthämmert und ihm „anpaßt", also nur
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schied des Wesens" (Beispiel: „Pol" und „Nichtpol") doch genau diese Widerspruchsarten zu bezeichnen. op. cit. 292. op. cit. 298/299. Prima facie erscheinen Hegelkritik und Unterscheidung der Widerspruchsarten klar, auch wenn Marx zwischen „Gegensatz", „Widerspruch" und bloßem „Unterschied" nicht differenziert. Bei näherem Hinsehen verwickelt sich Marx jedoch in Widersprüche, die auch Kommentare ä la Popitz nicht auflösen (Popitz 21968, 80ff.). Zwar tappt man ein wenig im Dunkeln, da Marx sein Vorhaben einer Kritik der Hegeischen Logik, in welcher der „Widerspruch" von Einzelheit und Allgemeinheit sicher zentral gewesen wäre, nie ausgeführt hat. Aber soviel darf man wohl behaupten: daß Marx sich angesichts seines damaligen Radikaldemokratismus in ein Dilemma verstrickt: (la) Seine Hegelkritik kann nur sinnvoll sein, wenn Hegel fälschlicherweise von einem kontradiktorischen Gegensatz ausgeht (Marx hält den Gegensatz ja für demokratisch vermittelbar), (l b) Dann aber wird schwer nachvollziehbar, daß Hegels Theorie mit ihrem Widerspruch den der Welt wiedergeben soll (der ja, falls (l a) wahr ist, kein kontradiktorischer sein kann). (2 a) Liegt andererseits ein kontradiktorischer Gegensatz vor, (2b) dann gibt es weder für Hegel noch für Marx etwas zu vermitteln. Marx müßte also entweder darauf verzichten, die Hegeische Theorie zur wahren Beschreibung der Welt zu erklären, oder aber, was er sehr bald vollziehen wird, eine revolutionäre Überwindung des ganzen Gegensatzpaares von bestehender Gesellschaft und Staat zu seinem Standpunkt machen. op. cit. 251, 253, 260 264f., 268, 270, 288, 300.
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durch eine Akkommodation, welche die Trennung der Bereiche inkonsequent überbrückt141. So ist, um ein wichtiges Beispiel zu nennen, der „Stand" der bürgerlichen Gesellschaft „kein politischer Stand", wenn Hegel, zunächst noch konsequent, von der erkannten Trennung von Gesellschaft und Staat ausgeht. Um aber den unpolitischen Standesbürger mit dem Staatsbürger vereinen zu können, verwandelt Hegel in einer „Transsubstantion" dann die Stände wieder in politische Organisationen zurück142. Für Marx ist damit Akkommodation als Lüge des Prinzips „erwiesen", als notwendige Konsequenz einer Philosophie, welche die gegensätzliche Welt zu versöhnen vorgibt und doch nur durch eine Anpassung an deren widersprüchliche Realität sich den Schein ihrer Versöhnung erkauft. Zugleich hat für ihn auch die Suche nach der „esoterischen" Bewußtseinsform Hegels ein Ende gefunden, nachdem der Zusammenhang der Hegelschen Philosophie mit der Welt, und damit die Vorbedingung für die Befreiung von der totalen Philosophie, angebbar geworden ist. Hegels verzerrte Philosophie spiegelt die gerade so verzerrte Wirklichkeit, in welcher der egoistische Privatbürger zugleich ein zweites Wesen, ein Staatsbürger, sein soll und es doch nur „symbolisch" und „formell" sein kann wie Hegels Synthesen. Hegels esoterische Bewußtseinsform und seine Philosophie gehören als ideologischer Ausdruck zur schlechten Realität der Welt. Wie die Nationalökonomen nur wiedergeben, was tatsächlich ist, ohne zugleich die Unvernunft zu denunzieren, so macht sich Hegel erst dadurch „schuldig", daß er sein zutreffendes Bild der Wirklichkeit für die verwirklichte Vernunft hält, statt es als Index der Unwahrheit der bestehenden Verhältnisse zu begreifen. „In den modernen Staaten, wie in Hegels Rechtsphilosophie, ist ... die wahre Wirklichkeit der allgemeinen Angelegenheiten nur formell, oder nur das Formelle ist wirklich allgemeine Angelegenheit. Hegel ist nicht zu tadeln, weil er das Wesen des modernen Staates schildert, wie es ist, sondern weil er das, was ist, für das Wesen des Staats ausgibt. Daß das Vernünftige wirklich ist, beweist sich eben im Widerspruch der unvernünftigen Wirklichkeit, die an allen Ecken das Gegenteil von dem ist, was sie aussagt . . ,"143. Damit haben wir die Grundelemente der Marxschen Hegelkritik versammelt. Marx selbst hat die „Fehler" Hegels zu vermeiden versucht, indem er durch die allgemein-menschliche Emanzipation, durch die For141 142
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op. cit. 232, 251, 260, 300. op. cit. 280, 282. op. cit. 266, 321; vgl. 384f.
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derung nach Veränderung der individualistischen bürgerlichen Gesellschaft und nach Abschaffung des Staates die wahre Identität von Individuum und Gattung zu antizipieren versuchte. Schon kurz nach der Kritik des Hegelschen Staatsrechts schreibt er den programmatischen Satz: „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ,forces propres' als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht"144. Marx hat schon 1843 begonnen, sich mehr und mehr von seinen linkshegelianischen Mitstreitern sowie von der Basis seiner eigenen Hegelkritik zu lösen. Schon in der „Einleitung" zur Kritik des Hegeischen Staatsrechts avanciert das Proletariat zum Träger der allgemein-menschlichen Emanzipation. Obwohl nur eine Klasse unter anderen, traut Marx ihr von nun an die Befreiung des Menschen als Menschen zu. Hatte Marx in der ausführlichen Hegelkritik noch den Radikaldemokratismus Ruges geteilt und die Demokratie als das „aufgelöste Rätsel aller Verfassungen"145 gepriesen, so wandelt er sich nun vom Radikaldemokraten zum kommunistischen Anwalt der Arbeiterklasse146. Die Kritik des Privateigentums, die in der frühen Hegelkritik noch in der Verkleidung einer langen Polemik gegen die „Majorate" erscheint147, weitet sich zu ökonomischphilosophischen Entfremdungsanalysen. Lehrreicher als die Rechtsphilosophie wird für Marx 1844 die Phänomenologie, die er auf die bis heute bei den Linkshegelianern so beliebte Formel einer zweideutigen Ursprungs- und Emanzipationsphilosophie bringt. Einerseits wird sie ä la 144
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K. Marx, Zur Judenfrage I (1843), MEW Bd. l, 370. Bruno Bauer hatte den Juden geraten, sich die politische Emanzipation durch den Verzicht auf die Religion zu erkaufen. Marx reduziert das religiös-politische Problem auf das sozio-politische der allgemeinmenschlichen Befreiung. Nicht nur der christliche Staat, sondern „der Staat schlechthin" muß kritisiert und abgebaut werden (op. cit. 350). Marx 1843, MEW Bd. l, 231. Am Streit Rüge-Marx läßt sich bereits der Konflikt ablesen, der gegen Ende der sechziger Jahre zur endgültigen „Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie" führte. Dies schildert hervorragend G. Mayer, Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland, 1863-1870, in: Mayer 1969, 108ff. Marx 1843, MEW Bd. l, 303ff.; der Hegeischen Darstellung der Majorate (in zwei Paragraphen) hatte Marx schon 1843 vierzig Seiten gewidmet! Avineri, der die Hegelabhängigkeit Marxens überall herausstreicht, sieht hier bereits Keime der Kritik am Warenfetischismus, Sh. Avineri, The Hegelian Origins of Marx's Political Thought, in: The Review of Metaphysics Vol. XXI, Iss. 81 (1967), 42ff.
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Feuerbach als „doppelte Mystifikation" der Gattung kritisiert, andererseits wird sie als Philosophie der „Arbeit" und als ein Buch gewürdigt, das alle „Elemente der Kritik" schon in sich enthalte und nach Abzug der Mystifikation doch das Schema der Wiedergewinnung der menschlichen Wesenskräfte schon ahnen läßt148. Diese Wiedergewinnung wird zur Aufgabe des auf sich gestellten Menschen, der als Atheist „theoretischer" und erst als Kommunist auch „praktischer Humanist" sein kann149. Der Kommunismus letzter Stufe, der das Privateigentum „positiv" aufgehoben hat, ersetzt nun den Demokratismus als „das aufgelöste Rätsel der Geschichte", als „die wahre Auflösung des Streites zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung"150. Marx, der 1844 die Identifikation des Individuums mit der Gattung noch in enger Anlehnung an Feuerbach beschreibt, hat noch im selben Jahr damit begonnen, sich vom Feuerbachschen Naturalismus endgültig zu trennen und den tendenziell ungeschichtlichen Gattungsbegriff historischmaterialistisch zu konkretisieren. Wie sein Individuum von nun an nicht mehr der kritische Bürger Ruges sein soll, der sich von der radikalen Demokratie die Einlösung der vernünftigen Ansprüche eines aufgeklärten Zeitgenossen erwartet, so soll sein Einzelner auch nicht mehr Feuerbachs unmittelbar-sinnlichem Gattungsglied ähneln, und schon gar nicht soll er mit dem „Einzigen" Stirners zu verwechseln sein, dessen kleinbürgerliche Herkunft Marx und Engels hinter dem wild-anarchistischen Gestus bald aufspüren werden. An die Stelle des bürgerlichen, naturalistischen und isoliert-anarchistischen Einzelnen soll das Individuum der befreiten Gesellschaft treten, deren baldige geschichtliche Ankunft Marx nicht anzukündigen versäumt. Ist der bürgerliche Staat mit seinen nur proklamierten Menschenrechten und seiner faktischen Klassenherrschaft erst einmal negiert, dann wird sich die neue Gesellschaft selbst organisieren und dem Einzelnen ermöglichen, sich als Individuum auch realiter allseitig zu entfalten. In der gemeinschaftlichen Arbeit der Menschen, die sich nicht länger um egoistischer Interessen willen nur über die Produkte aufeinander beziehen, realisiert sich die (von der Entfremdung befreite) Produktion des Menschen für den Menschen151, welche humane Gesell148 149 150
151
Marx 1844, MEW Ergänzungsband I.Teil, 573f. op. cit. 583. op. cit. 536. K. Marx, Auszüge aus James Mills „filemens d'economie politique" (1844), in: MEW Bd. l, 451, 459ff., 462.
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schaft und emanzipierten Einzelnen in eine Identität verschmilzt. „Es ist daher vor allem zu vermeiden", heißt es in einer vielzitierten Passage, „die ,Gesellschaft' wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäußerung ist daher eine Äußerung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens"152. Rüge hatte die ethisch-politische Freiheit aus dem System Hegels herausbrechen wollen und dafür den Einzelnen dem dubiosen „Zeitgeist" anvertraut. Feuerbach hatte die Theo-Logik kritisiert und sich ein naturalistisch beschränktes Individuum eingehandelt. Marx' Kommentar zur Rechtsphilosophie ist vielleicht der einzige im 19. Jahrhundert geblieben, „der mit den Hegeischen Erörterungen auf gleicher Stufe steht"153. Und doch wird auch von Marx eine folgenschwere Verstümmelung der Hegelschen Perspektive vorgenommen, welche, trotz gegenläufiger Bekundungen, die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung des Individuums zu verspielen droht, die Hegels Gesellschaft und Staat und absoluten Geist einbeziehender Horizont vielleicht noch besser zu realisieren erlaubte154. Es ist vor allem die Verkürzung der Hegeischen Perspektive auf die Gesellschaft, aber auch die (damit zusammenhängende) Verschmelzung des Individuums mit seiner sozialen Funktion, die als Basis der Hegelkritik selber fragwürdig werden. Es entsteht sogar das Problem, ob Marx nicht das dialektische Identitätsmodell von Einzelheit und Allgemeinheit nur in materialistischem und soziologischem Gewand reproduziert, jedoch zugleich so, daß die anthropologische Basis des Menschen, der bei Hegel die Gesellschaft noch durch die Teilnahme an den Sphären des Staates, der Kunst, der Religion und Philosophie transzendiert, sich auf die Gesellschaft verengt. Falls sich Hegels Dialektik noch als eine relationistische Denkweise erweisen sollte, die notwendig zum Universalismus gravitiert, Marx' materialistische Version, welche die trans-gesellschaftlichen Bereiche sogar noch in die alles umfassende Gesellschaft hereinzieht, müßte es nicht weniger. Die Kritik am sozialen „Atomismus" ist Hegel und Marx 152 153
154
Marx 1844, MEW Ergänzungsband I.Teil, 538/539. M. Riedel, Tradition und Revolution in Hegels ,Philosophie des Rechts' (1962), in: Riedel 1969, 102. Die folgende Marx-Kritik aus Hegelschem Geist erhält zwangsläufig einen dogmatischen Ton, da Marx' Staatstheorie, wie sie sich etwa aus dem „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte" oder „Dem Bürgerkrieg in Frankreich" herausfiltern läßt, nicht entfaltet werden kann; auch die äußerst komplizierte Frage, wie die Staatslehre der letzteren Schrift im Lichte der sich widersprechenden Äußerungen Marx' einzuschätzen ist, muß hier ausgeblendet bleiben.
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gemeinsam155, die neue Gesellschaft soll eine „konkrete Allgemeinheit" erreichen, nur daß diese aus der Gegenwart in die Zukunft, aus Staat und absolutem Geist in die Gesellschaft abgewandert ist. Kann das Individuum in der Zukunftgesellschaft Marx' noch die „Nicht-Identität" und Distanz zur sozialen Funktion besitzen, die für seine Selbständigkeit unerläßliche Voraussetzung sind? Muß sich der Einzelne, der seine Besonderheit quasi nur durch die Beziehung auf andere Produzenten erhält, nicht zwangsläufig im Kollektiv auflösen156? Es ist Marx nicht gelungen, die Gesellschaft als Sphäre „allseitiger" Emanzipation zu legitimieren. Zwar hat er die Problematik der Gesellschaft bei Hegel vielleicht als erster in ihrer Bedeutung erkannt und herausgestellt. Das ist ohne Zweifel ein Verdienst. Aber alle Rechtshegelianer haben schon gegen die Reduktion des Staates auf die Gesellschaft eingewendet, daß diese den Menschen zum homo oeconomicus verstümmeln muß157, ganz zu schweigen von der Vereinnahmung der die Gesellschaft transzendierenden Bereiche, deren Transzendenz die Hegelsche Mitte ganz zu Recht als einen Angelpunkt der Freiheitsbewahrung bei Hegel feien. Denn ihre Soziologisierung schafft genauso wie der Denkstil die Voraussetzung für eine tendenziell totale Vereinnahmung des Individuums in die Gemeinschaft. Marx hat Hegel nicht wie Feuerbach naturalistisch unterboten, ging es ihm doch um die Synthese von Natur und Geschichte und Gesellschaft. In seiner Forschungspraxis hat er die Selbsterzeugung der Gattung auch meist in doppelter Perspektive geschildert: im Blick auf die Produktion als auch auf Ideologiekritik und praktische Weltveränderung. Aber das Modell, an dem Marx sich im Gegenzug zu seiner Forschungspraxis orientiert, ist die Arbeit gewesen, nicht die Praxis, die seit alters mit dem „guten Leben" verschwistert war. Die „anthropo1SS
Hook31958, 4l ff. is6 Gegen eine relationale Begründung von Individualität spricht (kurz gesagt) ihre Unfähigkeit zu erklären, wie die Beziehung (als ein Allgemeines) auch noch die Individualität der relata soll hervorbringen können (statt sie quasi schon vorauszusetzen). Da dieser Verdacht längerer Begründüng bedarf, die erst im zweiten Band ausgeführt werden kann, formulieren wir als Fragen, was Dicke bewiesen zu haben glaubt, der den Feuerbachschen Humanismus bei Marx untergehen sieht. Die Einheit des Einzelnen mit der Gesellschaft bei Marx ist seiner Meinung nach „eine Nur-Identität, die die Nicht-Identität des Einzelnen total auslöscht", G. Dicke, Der Identitätsgedanke bei Feuerbach und Marx, Köln-Opladen 1960, 166. is? ^^ Marx einmal vom Menschen als dem spricht, so verbindet er mit diesem klassischen Begriff doch keinen über Produktionskategorien hinausweisenden Sinn. Auch dieser Terminus meint bei Marx nicht mehr als das arbeitende „gesellige Tier", K.Marx, Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie (1857), MEW Bd. 13, 616.
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logische Unterernährung" des Marxismus (Bloch) geht bereits auf die Armut zurück, die das Bild des Menschen bei Marx bestimmt. Nur das Bedürfniswesen als Träger von Produktion und Konsumtion kommt in den Blick158. Marx' soziologische Reduktion verkürzt den ehemaligen Doppelsinn des „guten Lebens" auf das Wohlleben, sie birgt zugleich die Gefahr, daß hinter der übermächtigen Gestalt der Gesellschaft der Staat nur noch als freiheitsberaubende Institution und Instrument der Klassenherrschaft, nicht aber als (auch) Freiheit sichernde und ermöglichende Instanz sichtbar wird. Die in ihrem Kern anarchische Forderung nach Abschaffung des Staates159 (von Engels gar noch als ein „Absterben" prophezeit160), eine Forderung und eine Voraussage, die Marx und Engels aus der Tradition der Godwin, Fourier und Heß161 übernahmen, hat in manchen Formen des Marxismus bis heute einen Anti-Institutionsaffekt geschaffen, der den Staat nur als Freiheitsbedrohung, nicht als Handlungsentlastung oder gar Freiheitsermöglichung zu würdigen erlaubt. Damit sind Hegeische Staatslehre und Marxsche Staatsaversion wie Welten getrennt. Wenn Hegel die äse Diese Verkürzung des Marxschen Selbstverständnisses (nicht seiner Forschungspraxis) hat Habermas aufgewiesen, der genau die Reduktion der Selbsterzeugung der Gattung auf „Arbeit" und die Beschneidung der „Reflexion" durch das Modell instrumentalen Handelns kritisierte und durch seine Scheidung von Arbeit und Interaktion zu kurieren versuchte. J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Fft. a. M. 1968, 59ff. Freilich unterscheidet sich der Habermassche Praxisbegriff auch nach der Unterscheidung von kommunikativem Handeln und Diskurs noch immer prinzipiell vom klassischen Begriff, da Habermas immer die Hervorbringung für die Erreichung des Zieles (sei es die ideale Sprechsituation oder nun die Konsensusbedingungen für Wahrheit), nicht aber eine in sich ihren Zweck findende Tätigkeit anzielt. Mit seiner „Transzendentalisierung" der Praxis stellt sich Habermas doch noch in die Reihe der modernen Philosophen, die den alten Sinn der Praxis durch Theoretisierung untergraben. Als unverfänglicherer Kronzeuge könnte deshalb R. Bubner dienen, der zutreffend feststellt: „. . . Marx vermag keinen Begriff der Praxis anzubieten, der nicht in der anthropologischen Naturausstattung des arbeitend sich selbst in seiner Gattung erhaltenden menschlichen Lebewesens fundiert wäre", R. Bubner, Theorie und Praxis — eine nachhegelsche Abstraktion, Fft. a. M. 1971, 23. 159 Anarchisch, insofern sie den Staat qua Staat als Übel ansieht, nichtanarchisch, insofern nicht der Staat selbst, sondern die Gesellschaft die Quelle des Übels sein soll, siehe R. C. Tucker, The Marxian Revolutionary Idea, New York 1969, 85ff., 89. 160 Marx pflegte aktivere Begriffe wie „Abschaffung" dem berühmten naturalistischen Vergleich Engels vorzuziehen; die Formulierung vom „Absterben" des Staates mitsamt der folgenschweren Unterscheidung zwischen der sich angeblich auflösenden „Regierung über Personen" und der nur noch verbleibenden „Verwaltung von Sachen" bei F. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1876-78), MEW Bd. 20, 262. 161 Die Abschaffung „jeder Herrschaft" zuvor wieder bei Moses Heß, M. Heß, Sozialismus und Kommunismus (1843), in: ökonomische Schriften, D. Horster (Hrsg.), Darmstadt 1972, 58 f.
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Dialektik von Anarchie und terreur in der Französischen Revolution kritisiert (eine Kritik, die durchaus als Reprise des klassischen Topos vom Umschlag der Anarchie in die Tyrannis gesehen werden darf), dann beweist er, daß er um die Gefahren weiß, die in der prinzipiellen Ablehnung von Herrschaft schlummern. Denn Herrschaft läßt sich nicht nur mit der Verheißung künftiger Herrschaftsfreiheit gerade wieder neu begründen, auch die Herrschaft über Personen läßt sich desto unkontrollierter ausüben, je mehr Herrschaftsfreiheit als schon realisierte behauptet und ein Zeitalter der bloßen Verwaltung von Sachen angekündigt wird. Demgegenüber hat Hegel auch und gerade nach der Französischen Revolution mit der Realität von Herrschaft gerechnet, die in der Form des modernen Rechtsstaates der revolutionär proklamierten Freiheit erst eine nicht selbstzerstörerische Verwirklichung erlaubt. Marx hat uns Schwächen des Hegeischen Staates sehen gelehn. Seine Kritik an der Verbindung von Gesellschaft und Staat bei Hegel verweist uns auf knarrende Scharniere von den „Majoraten" über die „Stände" bis hin zur problematischen Beziehung von Logik und Empirie. Hegels Staat hatte seine Schwierigkeiten bei der Versöhnung des bourgeois mit dem citoyen. Dennoch hat Hegel weder den Rechtsstaat verraten, noch zeigt sich in den Schwächen seiner Staatslehre die Illusion des „bürgerlichen" Staates an sich, dessen Menschen- und Bürgerrechte Hegel, wie so manches andere an errungener „Emanzipation", zu bewahren empfahl. Nicht jeder Staat, der die bürgerliche Gesellschaft zu zähmen sucht, muß, wie es von Marx bis Marcuse verkündet wird, ein autoritärer oder gar faschismusschwangerer sein, welcher die gesellschaftlich erreichte Emanzipation mit seinen Interventionen rückgängig mach t. Barion spricht für viele Kritiker, wenn er einmal sagt, Marx sehe richtig „die Bedeutung der ökonomischen Macht in Gesellschaft und Staat, aber der Bedeutung der politischen Macht ist er doch wohl nicht gerecht geworden. Sie ist zwar durch die ökonomische weitgehend bedingt, aber es besteht auch das umgekehrte Verhältnis. Der Staat kann die ökonomischen Mächte unter Kontrolle nehmen, ihnen Grenzen setzen, und so gerade durch seine Macht die Freiheit des Menschen sichern"162. Je auf seine Weise hat jeder der drei Kritiker eine kritische Richtung der Hegeldeutung eröffnet und etabliert, Rüge die politische Kritik in der Form des systematischen Vorwurfs der Akkommodationstendenz des Systems, Feuerbach die theologische Kritik am alle Andersheiten nur 162
Barion 1963, 131.
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mystifikatorisch umgreifenden System, Marx die soziopolitische Kritik an der die Menschen in bourgeois und citoyen spaltenden Philosophie. Alle drei, so scheint es, können ihre Hegelkritik aber nur durch eine Reduktion erreichen, Rüge durch die Reduktion des Metaphysik und Geschichte umgreifenden „Geistes" auf den „Zeitgeist", Feuerbach durch die Reduktion der Theologie auf Anthropologie, der Vermittlung auf die Unmittelbarkeit, der Geistphilosophie auf den Naturalismus, Marx schließlich durch die Reduktion des „Geistes" auf die Gesellschaft. Wir könnten unsere drei Kritiken demnach auch die politische (Rüge), die anthropologische (Feuerbach) und die soziologische Reduktion (Marx) nennen.
2. Die Ausdehnung der politischen Kritik auf das ganze „Restaurationssystem" (R. Haym) Rüge, Feuerbach und Marx waren politisch, bei allen ihren bald einsetzenden Streitigkeiten, in der Opposition gegen die preußische „reaktionäre" Politik geeint. Ihre Ideale waren die unmittelbare Demokratie, die „Volkssouveränität" (Rüge, Feuerbach) oder der Kommunismus (Marx). In der Opposition gegen die preußische Restaurationspolitik trafen sie sich mit den Liberalen, welche für das Ideal einer konstitutionellen Monarchie stritten. Auch für diese war Hegel in den vierziger Jahren schon zum Synonym für die Restaurationspolitik nach Karlsbad, zum Synonym für Quietismus und Konservatismus geworden, von dem sich jede auf Reform bedachte politische Strömung abzugrenzen hatte. Vor Rudolf Hayms Übernahme der linkshegelianischen politischen Kritik demonstriert am augenfälligsten Scheidler, wie die Liberalen den Kampf gegen Hegel damals als nationale Aufgabe betrachteten. Ausgehend von der Hegelkritik unterschiedlichster Provenienz, von der der spekulativen Theisten, die Hegel meist Pantheismus vorwarfen, über die Pamphletliteratur eines Schubarth, bis hin zur Kritik des Kantianers Bachmann, des Philosophiehistorikers Chalybäus und des konservativen Hegelgegners Stahl, zieht Scheidler alle Vorwürfe gegen den Staatsvergötterer und Restaurationsphilosophen Hegel in eine Liste zusammen163. 163
Gebhardt (1963, 161 ff.) hat auf den südwestdeutschen Liberalen Scheidler aufmerksam gemacht. Scheidlers Hegelkritik, eine Synthese wohl aller damals kursierenden Hegelangriffe, attackiert die Verherrlichung der Vernünftigkeit des Wirklichen (Scheidler 2 1847, 619), die Auflösung der praktischen Philosophie ins Begreifen dessen, was ist (op. cit. 621), die Einebnung jeden Unterschieds zwischen Sollen und Sein (op. cit. 621,
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Dabei verblüfft bei Scheidler, wie denn auch bei Haym, daß er die Geschichte des Hallischen Jahrbücher sowie die der ganzen Hegelschule, von den theologischen bis zu ihren politischen Kontroversen, aufs genaueste kennt, daß er jedoch keineswegs Ruges Verwechselspiel der verschiedenen preußischen Staaten von 1820/21, 1838 und 1840 zu bemerken scheint. Scheidler weiß um die Konversion Ruges, der sich vom Borussophilen zum Antipreußen mausert, er lokalisiert Ruges Linkswende darin, „daß die frühere Begünstigung der Hegel'schen Philosophie und Schule von Seiten des Staates aufgehört hat"164. Die kosmopolitische Tendenz der Hallischen Jahrbücher, ihre Gallomanie, ihre Parteinahme für die Volkssouveränität und schließlich ihre Vergöttlichung des Menschen mußten den Konflikt mit dem Staat provozieren, in dem die Zeitschrift nur unterliegen konnte165. Daß diese Geschichte der Jahrbücher einen großen Teil der Argumente für die Akkommodation erst erzeugte, stört Scheidler wie dann Haym keineswegs. Freilich haben weder Scheidler noch Haym Ruges Verwechselspiel übernommen. Aber beide zeigen, wie weit sich die Vorwürfe gegen Hegels politische Philosophie bereits von ihrer Entstehungsgeschichte abgelöst hatten und zum festen Bestandteil jeder Hegelkritik geworden waren. Scheidler hatte alle kursierenden Argumente gegen Hegel gesammelt. Haym soll uns als Repräsentant der liberalen Hegelkritik gelten, welche die Argumente des Linkshegelianismus (und vor allem die Ruges) gegen Hegels System einsetzt, das Haym in seinem einflußreichen, brillanten und mit Kennerschaft geschriebenem Buch als Restaurationssystem in allen seinen Teilen attackierte. Haym schrieb sein Buch über „Hegel und seine Zeit" im Jahre 1857, zu einem Zeitpunkt, als die lebhaften Kontroversen um Hegel bereits abgeklungen waren. Haym muß bereits an das Pathos der Linkshegelianer erinnern, „welche in vollem bitteren Ernst die Frage ventilierten, was wohl den ferneren Inhalt der Weltgeschichte bilden werde, nachdem doch in der Hegel'schen Philosophie der Weltgeist an sein Ziel . . . hindurch-
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623), die Nachträglichkeit der Theorie, das „Zusehen" und „Nachbeschauen", welches wirklich Goethes „niederträchtiges" Grau und nicht das Grün des Lebensbaumes als Farbe tragen soll (op. cit. 623/624), die „Staatsvergötterung", derzufolge der Staat ein Selbstzweck sein soll (op. cit. 626), aber auch schon die historistische Gefahr, welche die Gleichsetzung von „wirklicher Welt" und „gegenwärtigem Gott" mit sich bringen muß (op. cit. 617). Hegels Philosophie, so meint Scheidler schon vor Haym, führt zu einem „Servilismus und unnatürlichem Quietismus konsequenter Weise . . . welcher dem Prinzip der Reform oder des politischen Fortschritts, zu welchem sich das Staatslexikon (Rotteck/Welcker, H. O.) bekennt, diametral entgegengesetzt ist" (op. cit. 608). op. cit. 629. op. cit. 640.
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rungen sei"166. Mit dem epochalen Selbstverständnis der Linkshegelianer ist zugleich die Aktualität des ehemaligen Weltphilosophen gestorben. Haym kann in seiner souveränen Darstellung bereits von der abgeklärten Höhe des akademischen Philosophen sprechen, der weiß, daß die Zeit der „Systeme" genauso vorbei ist wie die der klassischen Poesie, deren Ende auch schon Rüge und Echtermeyer angezeigt hatten. Hegels Philosophie ist nicht nur theoretisch widerlegt, „sie ist einstweilen durch den Fortschritt der Welt und die lebendige Geschichte beseitigt worden"167. Das technische Zeitalter hat das klassische und philosophische abgelöst. „Das ist keine Zeit mehr der Systeme, keine Zeit mehr der Dichtung oder der Philosophie. Eine Zeit statt dessen, in welcher, Dank der großen technischen Erfindungen des Jahrhunderts, die Materie lebendig geworden zu sein scheint. Die untersten Grundlagen unseres physischen und geistigen Lebens werden durch die Triumphe der Technik umgerissen und umgestaltet"168. Wie Strauß die religiösen Dogmen in ihre Geschichte auflöste und wie Feuerbach u. a. den Materialismus als Philosophie der Zeit etablierten, so möchte Haym (quasi ideologiekritisch) Hegels Philosophie, die „letzte große", auf ihre realen historischen „Motive" zurückführen und aus ihrer so bestimmten „Zeit" genetisch ableiten169. R. Haym, dessen Lebensweg ähnlich farbig ist wie der Ruges, auch wenn Haym nie von einem Rugeschen Aktivismus besessen war, durchläuft die typischen Stationen des liberalen Bildungsbürgers im Vormärz und nach 48; er symbolisiert wie mancher damals die Symbiose von Geist, Politik und universaler Bildung, die viele Mitglieder der Paulskirche vorgelebt haben170. Seine philosophischen Absichten, die er mit der Hegelkritik verfolgt, sind komplexer als dies bisher meist dargestellt wurde. Sie lassen sich weder als unoriginelle herunterspielen noch als 166
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R. Haym, Hegel und seine Zeit, Berlin 1857, (Reprograph. Nachdruck) Hildesheim 1962, 5. op. cit. 6. op. cit. 5. op. cit. 12 ff. Haym (1821 — 1901) wurde durch die Bekanntschaft mit der Straußschen Religionskritik vom Studium der Theologie abgebracht und unter dem Einfluß Ruges auch zeitweilig auf die politische linke Seite gezogen. Sein Studium beendete er 1843 in Halle, seine Habilitation wurde von Kultusminister Eichhorn vereitelt, worauf er von 1843 — 1845 als unabhängiger Publizist in Halle lebte. Im Revolutionsjahr wurde er wie Rüge Abgeordneter in Frankfurt, 1850 gelang dann doch die Habilitation, 1850/51 zog er sich wie die Hegelianer der Mitte (Michelet, Hinrichs, Rosenkranz) wieder ganz ins private und akademische Leben zurück, um dann aber später wieder in der Partei seines väter-
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positivistische diskreditieren. Gewiß hat es einen Sinn, wie Löwith festzustellen, Haym modifiziere ,,in akademischer Form diejenigen Motive der Hegelkritik, welche schon Feuerbach, Rüge und Marx in radikaler Weise vorgebracht hatten"171, aber in dieser Liste ist Marx fehl am Platze (denn das Problem von Gesellschaft und Staat nimmt Haym gar nicht auf), Feuerbach und Marx aber sind Rüge nicht gleichzuordnen. Feuerbachs Kritik der Theologik schlägt sich auch bei Haym nieder, aber seine Kritik der Religionsphilosophie verdankt Schleiermacher mehr als Feuerbach, von Rüge hat Haym den Akkommodationsvorwurf übernommen und ihn quasi als Tendenz des ganze Systems herausgeschält172. Auch kann die Trias von „Historismus, Positivismus und Liberalismus"173, welche gewiß die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts prägte, nur cum grano salis die Synthese Haymscher Verwurzelungen angeben, denn ein Liberaler war Haym, ein Historist mag er gewesen sein, ein Positivist im antimetaphysischen Sinne, wie J. Ritter es meint174, oder ein Positivist, der an die facta bruta glaubt (wie es damals nicht unüblich war), war Haym gewiß nicht. Wenn er an den „Materialismus" seiner Zeit anknüpfen wollte, so hatte er zugleich von einer Restitution des „Idealismus" gesprochen. Sein Postivismus ist eher ein gesunder Empirismus im Sinne Kants als Feuerbachs, seine philosophische Position läßt sich letztlich wohl nur als die eines immens gebildeten Eklektizisten verstehen, dessen Hegelkritik aus liberal-politischem Pathos und aus Argumenten Feuerbachscher und
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liehen Freundes Duncker (dem rechten Zentrum) politisch aktiv zu werden. Er avancierte zum Redakteur der konstitutionellen Zeitung und gab von 1858-1864 die einflußreichen „Preußischen Jahrbücher" heraus. 1866/67 wurde er noch einmal Abgeordneter, diesmal im Preußischen Abgeordnetenhaus. H. Rosenberg, der eine Biographie bis 1850/51 schrieb (R. Haym und die Anfänge des klassischen Liberalismus, München-Berlin 1933), nennt ihn wohl zu Recht den „Führer des nationalpolitischen Liberalismus". Eine Kurzbiographie und eine Bibliographie in: H. Rosenberg (Hrsg.), Ausgewählter Briefwechsel Rudolf Hayms, Stuttgart-Berlin-Leipzig 1930, 5ff. Leider unzugänglich blieben W. Hessler, Die philosophische Persönlichkeit Rudolf Hayms, Diss. Halle 1933 sowie H. Rosenberg, Die Jugendgeschichte Rudolf Hayms, Diss. Berlin 1928. Löwith 31969, 72. Hayms enges Verhältnis zu Rüge in Halle ist bezeugt. „Wir rissen uns", sagt er auf seine mokante Art, „um jede neu erschienene Nummer (der Hallischen Jahrbücher, H. O.) und leisteten den tapferen Führern, so oft sie mit klingendem Spiel gegen einen neuen Feind und in ein neues Gebiet vorrückten, willig Folge, überzeugt, daß an ihre Fahnen der Sieg geknüpft sei". R. Haym, Erinnerungen aus meinem Leben, Berlin 1902, 103. Feuerbachs „Wesen des Christentums" hatte ihn freilich wie alle Zeitgenossen in seinen Bann geschlagen, op. cit. 116. Lobkowicz 1968, 112. J. Ritter, Hegel und die Französische Revolution (1957), in: Metaphysik und Politik, Fft. a. M. 1969, 183-188.
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Rugescher Provenienz gespeist wird175. Joachim Ritter hat Hayms Argumente dadurch abzuschwächen versucht, daß er ihn zum Positivisten abstempelte, der von vornherein keinen Zugang zu Hegels Metaphysik haben konnte. Diese Strategie macht sich die Auseinandersetzung mit Haym zu leicht, auch wenn Hayms Argumente letztlich an Hegel vorbeizielen sollten176. Es ist also hauptsächlich Ruges Hegelkritik, mit deren Hilfe Haym den „ganzen" Hegel, den älteren wie den jüngeren, zu erfassen versucht. Mit Rosenkranz ist er der einzige, der sich im letzten Jahrhundert überhaupt mit dem jungen Hegel befaßt, ein Verdienst, das nicht geschmälert wird dadurch, daß man wohl zugeben muß, daß er (wie Rosenkranz auch) die Bedeutung der Manuskripte unterschätzte177. Aber in einer Zeit, da so mancher als seine Lehre ausposaunte, was beim jungen Hegel schon stand, als keiner bereit war, die unpublizierten Schriften zu lesen, verdient Hayms Versuch, sie seiner Deutung einzugliedern, keine abwertende Beurteilung. Man findet doch die Ursprünge des Hegeischen Denkens, die Französische Revolution, Kant, das Tübinger Stift, die Mischung aus Aufklärungsabsicht und gefühlvoller Volksreligion, Hegel und Hölderlin, 175
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Den Materialismus nannte Haym einen „Aberglauben" (Haym 1857, 469), seine Hinwendung zum „Materialismus" hatte er vollzogen, „um aus der Verschüttung des Geistes den unvertilgbaren Funken idealistischer Ansicht desto kräftiger wieder aufzublasen" (op. cit. 14, 12 unten). Sein Feuerbachbuch hieß bezeichnenderweise „Feuerbach und die Philosophie. Ein Beitrag zur Kritik beider" (Halle 1847). Seit 1845 propagierte er (zwanzig Jahre vor Liebmann!) eine Rückkehr zu Kants „Transzendentalismus" (Rosenberg 1933, 57ff.), allerdings so, daß die geschichtlichen Elemente der Hegeischen Philosophie in einer Kritik der historischen Vernunft (zwei Generationen vor Dilthey!) nicht verloren gehen sollten (Haym 1857, 468). Wie wenig Hayms Empirismus mit Positivismus zu tun hat, zeigt der Briefwechsel mit Karl Twesten. Haym fragt sich, wie Twesten, der einen Essay über Comte geschrieben hatte, „unsere Metaphysik (sie sei so abenteuerlich als sie wolle) gegen diese Philosophie hingeben kann" (Rosenberg 1930, 182). An anderer Stelle heißt es dort: „Alles wahrhaft geistvolle Denken ist bis auf einen gewissen Grad . . . metaphysisch, alle Metaphysik, wenn ein großer Verstand dann waltet, zugleich kritisch und auf der Fährte nach positiver Wahrheit" (op. cit. 212). Haym hat von Herder, Humboldt, Kant, Fichte, Schlegel, Schleiermacher, Lessing, Schiller, Feuerbach, Rüge, Hegel u. a. eklektiziert. Eine gewisse, allerdings immer noch nicht ganz ausreichende Aufwertung Hayms bringt Theunissen in seiner guten Zusammenfassung, Theunissen (1) 1970, 2ff. Theunissen würdigt jedoch nicht Hayms Ausdehnung der Kritik aufs ganze System. Rosenkranz, der einen Teil der Manuskripte in seiner Hegelbiographie abgedruckt hatte, wollte von den „skizzenhaften" Versuchen keine „weitläufige" Mitteilung machen. K.Rosenkranz, Aus Hegels Leben, in: Literaturhistorisches Tagebuch, R. E. Prutz (Hrsg.), Jg. l, Leipzig 1843, 104f. Zitiert nach Seh 113. Haym übertrug nur seine Kritik am theoretisch übergewichtigen System auf den jungen Hegel. Haym 1857, 66f., 74ff.
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Positivität, und was dergleichen Formeln mehr sind, in denen man den jungen Hegel auch heute noch einzufangen sucht178. Als Vertheoretisierer der Praxis und als Akkommodationsphilosophen liest Haym schon den jungen Hegel. Denn schon dieser, so meint er, möchte seiner negativen Welterfahrung durch die Flucht in eine metaphysische Vermittlung von „Ideal" und „Realität" entgehen. Spekulativ und nicht praktisch soll sich die Entzweiung der Zeit versöhnen lassen. Die politischen Pamphlete des jungen Hegel sollen an den entscheidenden Stellen eine „theoretische Ratlosigkeit" bezeugen, in die der „Reformeifer" jeweils umschlägt179. Hegels Verstehen dessen, was ist, befriedigt sich schon damals „an der Schwelle der Tat"180. Dieser geradezu pathologische Eskapismus wird Hegel zur lieben Gewohnheit, so daß er schließlich immer mehr seine metaphysischen Träume mit der Wirklichkeit verwechselt181. Als er schließlich in Preußen auf eine Wirklichkeit stößt, die soviel besser war als alles, was er zuvor in Bayern oder Württemberg gesehen hatte, da muß schließlich die gegenläufige Tendenz die Krankheitsgeschichte krönen. „. . . so mußte das Bedürfnis endlich durchschlagen, daß eine bestimmte und konkrete Wirklichkeit ihm seinen eigenen Glauben an das System versinnliche und bestätige"182. Daß der junge Hegel zum Teil in direkter Opposition gegen den älteren Hegel steht, daß es heute Versuche gibt, ihn freilich übertrieben, aber nicht völlig unbegründet zum Vater der kritischen Theorie zu machen, das alles sieht Haym nicht. Wie Rüge ist er zudem an der psychologischen und moralischen Version des Akkommodationsvorwurfes nicht unschuldig. Auch bei der Analyse des älteren Hegel taucht sie wieder auf. Hegels „servil-lobrednerische" Schrift über die Württembergischen Landstände, aber vor allem Hegels Polemik gegen den Wartburgredner Fries (den Hegel noch denunzierte, als dieser bereits polizeilich verfolgt wurde), hat Haym in diesem Sinne ausgeschlachtet183. Jedoch täte man Haym wieder Unrecht, wollte man das Zentrum seiner Kritik hier lokalisieren. Schon anläßlich der Friesaffäre konstatiert er, daß die
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Haym 1857, 16ff., 4Off. op. cit. 67. op. cit. 78. Sinngemäß op. cit. 273. op. cit. 362.
op. cit. 352f., 365. Die Schrift über die Württembergischen Landstände soll Hegel verfaßt haben, um sich als Kanzler der Tübinger Universität zu empfehlen (op. cit. 350).
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Polemik gegen Fries „in der ethischen und in letzter Instanz in der philosophischen Gesamtansicht" Hegels zu suchen ist184. In gleicher Weise liegt Hayms Schwerpunkt der Argumentation nicht in der historischen Rezeption des Akkommodationsvorwurfes. Zwar hält auch er das Preußen von 1821 für restaurativ, aber statt wie Rüge diese Behauptung anachronistisch vorzutragen, geht Haym von einem präziseren Bild Preußens aus. Denn Hegel hat, seiner Meinung nach, das Preußen von 1821 mit seinen restaurativen und progressiven Tendenzen zum Modell seiner Philosophie gemacht, allerdings auf solche Weise, daß sein System der beginnenden Restaurationspolitik in die Hände arbeitete. Hegel hat ein Preußen philosophisch widergespiegelt, in dem „die Keime der gesündesten ökonomisch-politischen und politisch-nationalen Entwicklung" und der „faule Geist der Reaktion", „die freisinnigen Institutionen" und die ungebrochenen „Reste des alten Absolutismus" miteinander kämpften. Noch waren die Stein- Hardenbergschen Reformen nicht vergessen, noch waren Aufklärung und wirtschaftlicher Fortschritt lebendig und eine „tüchtige" Bürokratie am Werk, aber es hatte auch eine Tendenzwende eingesetzt, die Hegel mitunterstützte. Nach den Karlsbader Beschlüssen muß Hardenberg abdanken, der König bricht sein Verfassungsversprechen; Zensur, Unterdrückung, Einkerkerung der Wartburgredner und Turner, das sind unübersehbare Anzeichen der einsetzenden Restauration185. Was Hayms wie Ruges Deutung eigentlich attraktiv macht, ist der Versuch, eine Systemtendenz zur Akkommodation nachzuweisen. Wenn Haym Hegels Philosophie mit den Begriffen „Behausung des Geistes der preußischen Reaktion"186 oder „Rechtfertigung des Karlsbader Polizeisystems"187 etikettiert, dann verbirgt sich hinter diesen Überschriften der Glaube an die philosophische Nachweisbarkeit des Zusammenhanges von System und Reaktion. Denn wie für Rüge so ist auch für Haym das System „intellektualistisch"188, in sich geschlossen189, zum Sein statt zum Sollen gravitierend und gegen Kritik und Postulieren feindlich eingestellt. Die Formel von der Identität von Vernunft und Wirklichkeit
184
185 186 187 188 189
op. op. op. op. op. op.
cit. cit. cit. cit. cit. cit.
365. 359f., 386. 359. 364. 367. 369.
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enthält den ganzen „Konservatismus, Quietismus und Optimismus"190 einer Philosophie, welche „das Bestehende als Bestehendes heilig spricht"191. Haym berücksichtigt die von der Hegelapologetik immer wieder vorgebrachte Unterscheidung, die Hegel selbst noch, wohl beunruhigt durch die Rezension von Paulus, formulierte. Scheidler hatte sie schon vor Haym widerlegen wollen, nach Haym ist sie in Engels berühmte Trennung von System und Methode eingegangen192. „Wirklichkeit" im emphatischen Sinne wird von Dasein, Existenz und Erscheinung unterschieden. Damit scheint dem Einwand von der Vermengung des Empirisch-Wirklichen mit dem Vernünftig-Wirklichen der Wind aus den Segeln genommen. Haym läßt sich jedoch von dieser Differenzierung genausowenig blenden wie Scheidler und Engels. Denn entweder reduziert sie die Identität von Vernunft und Wirklichkeit zur „Tautologie", oder sie ist das Anzeichen eines „Grundschadens des Systems". Der Logik, die den Fehler beheben soll, liegt nämlich die gleiche Vertauschung von logischmetaphysischer und empirisch-geschichtlicher Wirklichkeit zugrunde. Haym schwenkt damit in gewissem Sinne auf die Linie der Kritik am Mystizismus ein. Rüge hatte von einer „Taschenspielerei" gesprochen, Feuerbach den Zusammenhang von Identität und Andersheit für die mystische Auflösung des Empirischen verantwortlich gemacht, Marx das ideologische „Umschlagen" von Empirie in Spekulation beklagt. Haym greift wie Feuerbach auf die Logik zurück und erklärt die politische Verdoppelung des Wirklichkeitsbegriffs zur spiegelgleichen Duplikation des logischen. Keine Identität von traditioneller Logik und Metaphysik, 190
191 192
op. cit. 365. op. cit. 367/368. Scheidler hatte zu der Unterscheidung in § 6 der Berliner Enzyklopädien bemerkt, daß das Motto der Rechtsphilosophie „aus einem allgemein bejahenden Urteile bestehe, welches in ein ebenfalls allgemein bejahendes rein umgekehrt worden ist, mithin nach bekannten Regeln der Logik aus äquipollenten oder Wechselbegriffen besteht, wonach also die Sphären der Wirklichkeit und Vernünftigkeit einander ganz gleich sind" (Scheidler 21847, 621/622). Auch ist nicht der göttlich-logische Prozeß beseitigt, der alles Bestehende als „Willen Gottes" sanktioniert (op. cit. 622). Engels löste die Unterscheidung in einen revolutionär-methodischen und reaktionär-systematischen Teil auf. „Alles, was im Bereich der Menschengeschichte wirklich ist, wird mit der Zeit unvernünftig . . . alles, was in den Köpfen der Menschen vernünftig ist, ist bestimmt, wirklich zu werden, mag es auch noch so sehr der bestehenden scheinbaren Wirklichkeit widersprechen", soweit also eine revolutionäre Methode. Dem steht allerdings das abschlußhafte, endgeschichtliche System gegenüber; „damit wird die revolutionäre Seite erstickt unter der überwuchernden konservativen". Engels 1886, MEW Bd. 21, 266f., 268ff.
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sondern ein „Wechselspiel" von realitätslosen Gedanken und empirischer Wirklichkeit hat Hegel in der Logik inszeniert. Abstrakte Gedankenbestimmungen werden erst „realisiert", dann aber wieder „spiritualisiert"193. Diese Spiel wird quasi nach der logischen Premiere in der politischen Philosophie noch einmal aufgeführt, wobei Hegel freie Hand hat, ob er das Spiel jeweils als Idealismus oder Empirismus auf die Bühne bringt. Denn beide Versionen entsprechen der „Duplizität des Systems"194. Die Ambivalenz des Logischen im Verein mit den Charakteristika des Systems, als da sind Vertheoretisierung der Praxis und Abgeschlossenheit, führt 1821 zu einer Verschiebung im System. Staat und Philosophie wachsen in der „Theorie" zusammen, die Religion, sonst über dem objektiven Geist stehend, wird dem Staat subordiniert, da dieses zweideutige logische-wirkliche Monstrum einmal wie die Philosophie „sich wissende Vernunft" ist (die Religion aber nur ein „vorgestellter", nicht begriffener Besitz des Absoluten), da er zum anderen real-objektiv existiert (und nicht nur in der Innerlichkeit der Subjekte erfaßt werden kann). Wird also einmal die Logik der Wirklichkeit versichert, so wird nun der Staat philosophisch „apotheotisiert", mit den Prädikaten der absoluten Idee geschmückt und wie bei Hobbes zum „sterblichen Gott" erhöht195. Ist Haym damit auf die apologetische Hegelleseweise eingegangen, so greift er einen weiteren Aspekt auf, den sonst auch nur die ersten Rezensenten und Scheidler bemerkt hatten, nämlich Hegels Anknüpfung an die klassische Tradition des Naturrechts. Zwar erfaßt Haym die Tragweite dieser Verbindung nicht ganz, aber er erkennt doch, daß Hegels Staatslehre sowie sein Sittlichkeitsbegriff antikisierend sind. Hegel sei es „im Grunde . . . immer auf die Verbindung des objektiven hellenischen mit dem bewußten und innerlichen Geist der neuen Zeit" angekommen196, jedoch sei diese Synthese nicht gelungen. Der antike „Harmonismus" siegt 193 194
195
196
Haym 1857,307, 362 ff. „Aus dem Spiritualismus ihrer Metaphysik, aus der Wirklichkeit der reinen Begriffe entschlüpft sie (Hegels Philosophie, H. O.) mit einem Sprunge in den Realismus der Staatslehre: aus dieser . . . vexiert sie uns im Nu hinüber in den Platonismus der Logik" (op. cit. 369). op. cit. 371 ff. op. cit. 377. Haym verschenkt diese wichtige Erkenntnis, da er Hegel vom klassischen Ideal der schönen Erscheinung ausgehen sieht (was nur für den Tübinger Hegel zutrifft). Daß der ältere Hegel die Antike (nicht ästhetisch, sondern) naturrechtlich mit dem Subjekt der Moderne versöhnen wollte, hat damals Scheidler besser erfaßt (Gebhardt 1963, 161 ff.), andeutungsweise erkannten dies auch die ersten Rezensenten der Rechtsphilosophie, so der nur mit seinen Initialen bekannte Z. C. (I Bd. I, 410ff.), so ein anderer
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über den modernen „Individualismus". Hegel zwingt zusammen, was nicht zusammen paßt, den modernen Staat qua Preußen und die Lykurgische, Solonische, die Platonische und Aristotelische Politic197. Damit sind alle Prämissen beisammen, die nach Haym den Antiindividualismus des Systems zwingend ergeben. Im Intellektualismus des Systems verdampfen „Wille und Freiheit", moralische Autonomie wird zum bloßen „Durchgangspunkt" zwischen Recht und Sittlichkeit, Gewissens- und Bürgerfreiheit werden dem vergötterten Staat „tributär"198, antiker Harmonismus überwältigt die moderne Subjektivität, deren Spitzen „fortwährend in den Boden des Substantiellen zurückgebogen werden"199. Nun sieht Haym freilich, daß Hegel immer wieder dem antiken Staat vorwirft, dieser habe die Subjektivität nicht integrieren können, gerade die universalistische Struktur der Polis habe deren Untergang herbeigeführt. Aber diese Äußerungen gelten Haym nur als Lippenbekenntnisse ans moderne Bewußtsein200. Hayms guter Textkenntnis bleibt auch nicht verborgen, daß die Rechtsphilosophie eine Vielzahl von Institutionen beschreibt, die es in Hegels Preußen noch gar nicht gab, konstitutionelle Monarchie, Ständeverhandlungen, Schwurgerichte, Öffentlichkeit. Aber auch mit diesen liberalen Einrichtungen kann es Hegel nicht ernst gemeint haben. Die „Öffentlichkeit" dient Hegel nämlich nur als ein „Korrektiv der öffentlichen Meinung"201, die Mitbestimmung der Geschworenen fungiert in der dialektischen Konstruktion des Gerichts nur als Ersatz für das Geständnis des Verbrechers202, und der Konstitutionalismus ist wieder eine Entmachtung der Persönlichkeit, nämlich der des Monarchen, der nur den Punkt aufs „i" setzen darf203. Hayms Kritik, das sieht man hier deutlich, war von einem gewissen Ressentiment einer Kritik um jeden Preis nicht frei. Die Unterstellung unlauterer Motive mag noch angehen, wenn sie ein sachliches Fundament erhält. Aber den Konstitutionalismus als individualitätsfeindlich hinzu-
197 198 199 200
201
202 203
anonymer Rezensent (op. cit. 477ff.), so wohl auch Julius Stahl (op. cit. 561 ff.) und E.Gans (op. cit. 592ff.). Haym 1857, 377. op. cit. 370, 375, 376. op. cit. 369. op. cit. 378. op. cit. 380. Sie wird nur als „Eitelkeit des Besserverstehenwollens" eingeführt, die Pressefreiheit soll ein entbehrlicher „Überfluß" sein, das Volk tritt nur als „Pöbel" auf (op. cit. 384). op. cit. 381. op. cit. 383.
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stellen, da der Monarch seiner Freiheit beraubt wird, würde doch die Befürwortung einer absoluten Monarchie voraussetzen, die kaum in Hayms eigene politische Ideale paßt. Die Stärke der Haymschen Kritik ist in diesen gewaltsamen Vorwürfen nicht zu finden. Sie liegt wieder in der Herausarbeitung der restaurativen Systemtendenz, deren Nachweis Haym auch für Religionsphilosophie, Ästhetik und Geschichtsdeutung versucht, um den Namen des „Restaurationssystems" völlig einzulösen. Restaurative Konsequenzen hat auch die Religionsphilosophie, die sich genauso mit der „Orthodoxie" arrangiert wie die politische Philosophie mit dem bestehenden Staat. Hegel setzt zunächst die Dogmatik voraus, dann löst er sie, mitsamt dem dazugehörigen Kultus, nach bewährter Manier ins Wissen und Begreifen auf 204 . In der Ästhetik scheint Hegel zunächst von der Restaurationstendenz abzuweichen, da er das „Schöne" nicht in Begriffe aufzuheben verspricht205. Aber auch hier setzt sich für Haym der Intellektualismus des Systems wieder durch und zwar augenscheinlich in der zweideutigen Stellung von klassischer und romantischer Kunst. Wird der Maßstab der Kunst angelegt, so gilt die Klassik als Vollendung, wird das Begreifen als Prinzip angesetzt, dann steht die Klassik nur zwischen symbolischer und romantischer Kunst. Erst die Romantik entspricht den Anforderungen des Begriffs, da erst sie „das Hinausgehen der Kunst über sich selbst" manifestiert. „Was Wunder", so fragt sich Haym rhetorisch, „wenn mit dieser Herabsetzung des Vollbegriffs der Kunst . . . selbst abermals auch die Herabsetzung des Wertes und der Innerlichkeit des Gemüts Hand in Hand geht"?206 Wie die Moralität in der Rechtsphilosophie so wird die romantische Innerlichkeit zu einer Durchgangsstufe in der Ästhetik. Die Innerlichkeit der Innerlichkeit ist allererst „das selbstbewußte Denken"207. Schließlich darf auch die Philosophie der Geschichte als „ein Komplement zur Rechtsphilosophie" gelten208. Zwar vermeint der Leser zunächst eine Durchbrechung des geschlossenen Systems zu verspüren, wenn der Weltgeist als absoluter Herrscher über die einzelnen Staaten gestellt wird, „der Ring der Vernunft" scheint „in den unendlichen Strom der Zeit geworfen zu sein"209. Aber wieder sind die gegenläufigen Tendenzen 204 205
206 207 208 209
op. cit. op. cit. op. cit. op. cit. op. cit. op. cit.
406ff., 408, 413, 426. 435. 438/439. 434. 443. 445.
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stärker. Auch dem Weltgeist wird die Logik übergestülpt, das Ziel der Geschichte wird mit dem der Philosophie in eins gesetzt und in ein „Maximum des Wissens"210 verlegt. Die Individuen werden genauso um ihre moralische Autonomie sowie um ihre Freiheit gebracht wie in der Politik. Denn die Volksgeister machen die Geschichte211, und sogar die welthistorischen Individuen werden von einer absoluten Idee hintergangen, die sich selbst im Hintergrund hält und dafür ihre Realisierer bluten läßt212. Hegels letzte Vorlesung über Geschichte der Philosophie fällt zusammen mit der Veröffentlichung des Artikels über die Englische Reformbill, der Hegels „Angst vor der weiterdrängenden Entwicklung" 213 sowie sein noch immer gleiches Heilmittel demonstriert: das Begreifen dessen, was ist. Mit der Reformbill kritisiert der ältere Hegel das Reformieren selbst, das er in seiner Jugend wenigstens noch theoretisch angestrebt hatte214. „Die Kritik Rudolf Hayms", sagt Ritter einmal, „war erfolgreich. Hegels Philosophie blieb für Jahrzehnte ohne Einfluß; der Ruf des Etatismus und der reaktionären Verabsolutierung des Staatsmacht hält sich bis heute"215. Hayms Kritik war in der Tat erfolgreich. Sie symbolisiert auch heute noch einen ernstzunehmenden Ausgangspunkt jeder Hegelapologetik, die nicht „Hegel in gewaltsamer Vereinfachung entweder zum kompletten Reaktionär oder zum Pionier der sozialistischen Weltrevolution abstempelt"216. Ihre Größe liegt in dem konsequent durchgehaltenen Versuch, alle die Züge der politischen, theologischen, ästhetischen und historischen Philosophie zu beschreiben, welche eher der Feier des Bestehenden als der Anerkennung des Forderns und Postulierens dienen. Spätestens seit Haym müßte der Akkommodationsvorwurf demnach als systematisches Problem der Hegeischen Philosophie behandelt und untersucht werden, nicht als Frage, die sich durch den Hinweis auf den Paragraphen 6 der Berliner Enzyklopädien oder durch eine historische Analyse der preußischen Verhältnisse zureichend beantworten ließe217.
210 211 212 213 214
215 216 217
op. cit. 447. op. cit. 446. op. cit. 448. op. cit. 455. op. cit. 456. Ritter 1956, in: Ritter 1969, 185. Theunissen (1) 1970, 8. Dennoch sollte sich jener § 6 bis heute nicht weniger großer Beliebtheit erfreuen als die historischen Strategien und Analysen zum Thema „Hegel und Preußen", die — vor
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Neuere Hegelkritik aus altem linkshegelianischem Geist
Freilich hat Haym sein eigenes Niveau manchmal selbst unterboten, und schon die Verwandtschaft seiner Kritik mit der Ruges läßt ahnen, daß auch er die Perspektive noch verzerrte. So verdunkelt er die Klarheit seiner eigenen systematischen Argumente, wenn er die moralische und psychologische Version des Akkommodationsvorwurfs wieder aufwärmt, so legt er alles, was doch zumindest zweideutig ist und für einen Hegel zwischen den politischen Fronten spricht, immer nur einseitig aus, seien es Hegels Bekenntnisse zur modernen Subjektivität, seien es die über Preußen schon hinausweisenden Institutionen. Eigentlich verbieten schon die mehrfachen Metamorphosen der politischen Philosophie Hegels, die Deutung auf die Perspektive „Hegel und Preußen" zu fixieren. Aber warten wir ab, was die Hegeische Mitte von Rosenkranz bis Ritter der populären Anklagen Hayms entgegenhalten wird218.
3. Neuere Hegelkritik aus altem linkshegelianischem Geist 3.1. Hegel als Atheist und Revolutionär, als theologisch verhinderter Revolutionär und Ideologe der kapitalistischen Gesellschaft Atheist und orthodoxer Theologe, Revolutionär und reaktionärer Apologet der kapitalistischen Gesellschaft kann Hegel, so sollte man meinen, nicht zugleich gewesen sein. Der neuere Linkshegelianismus macht auch dieses möglich. Die sich bei Marx ankündigende Ambivalenz der Deutung, welche einerseits die kritischen Potentiale der Hegeischen Philosophie anerkennt, aber zugleich das System als Spiegelung der schlechten Realität attackiert, wird heute fast bis zur Schizophrenie kultiviert. Sicher, Hegel ist in gewissem Sinn der Vater einer die Realität der bürgerlichen Gesellschaft aufnehmenden Theorie, auch der einer Art von kritischer Theorie (etwa in Bern, aber auch später) gewesen; er war zugleich (wenigstens vom Ende seiner Frankfurter Jahre an) der Philosoph eines sich tendenziell akkommodierenden Systems. Insofern dies der Fall
218
allem (aber nicht nur) in der französischen und angelsächsischen Hegelapologetik unserer Tage — oft als Ersatz für systematische Argumente herhalten müssen. Rosenkranz, selbst ein Liberaler und ein Bildungsbürger vom Schlage Hayms, dürfte zugleich Hayms bester Gegenspieler sein. Wie sehr sich Haym von Rosenkranz' Gegenkritik seiner Hegelkritik (hier IV. 1.) betroffen fühlte, zeigt sein geplanter Brief an Rosenkranz, siehe R. Haym, Hegel und seine Zeit, 2. um unbekannte Dokumente vermehrte Auflage, H. Rosenberg (Hrsg.), Leipzig 1927, 471 ff.
Linkshegelianische Kritik am antiindividualistischen System
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ist, könnte man sagen, spiegelt die linkshegelianische Krankheit nur den Schaden des Hegeischen Systems. Aber die linkshegelianische Zwangslage, die von den Interpreten fordert, Hegel als Ahnherrn des Marxismus anzuerkennen, die von ihnen aber auch verlangt, ihn als Ideologen der kapitalistischen Gesellschaft anzugreifen, läßt Auslegungen gedeihen, die Hegel entweder mehr vereinnahmen, als es die antikisierenden, christlichen und ursprungsphilosophischen Gehalte seiner Philosophie erlauben, oder aber ihn mehr verteufeln, als es seine keineswegs schon aus der bürgerlichen Gesellschaft ableitbare, zwischen Antike und Moderne, Revolution und Restauration vermittelnde Politik zuläßt. Man ist soweit gegangen, Hegel selbst in den Atheisten, Polit-Ökonomen und humanistischen Emanzipationsphilosophen zu verwandeln, der quasi schon Feuerbach und Marx in einem gewesen sein soll, man hat sich, in der Nachfolge von Engels, der revolutionären, negativen, kritischen und utopischen Elemente der Dialektik bedienen wollen und doch zugleich den reaktionären Systematiker verdammt. So versucht Lukäcs den jungen Hegel soweit wie möglich auf den Polit-ökonomen und Revolutionär, Kojeve den Hegel der Phänomenologie auf den atheistischen Emanzipationsphilosophen zu reduzieren; und bei Bloch, Marcuse und Adorno findet jene zweideutige Feier des jüngeren und älteren Hegel statt, die stets mit der Begrüßung des Emanzipationsphilosophen beginnt, um dann mit der empörten Demonstration gegen den Ursprungsphilosophen zu enden.
3.1.1. Die beinah gelungene Verwechslung oder der junge Hegel in der Rolle des jungen Marx (G. Lukäcs) Den Reigen der marxistischen Interpreten, welche den jungen Hegel in großem Stil als Linkshegelianer zu vereinnahmen suchten, eröffnete Georg Lukäcs219. Sein sorgfältig angelegtes Buch hat für die Erforschung des jungen Hegel eine, das sei nicht geleugnet, wichtige Funktion gehabt, indem es die Aufmerksamkeit auf den politisch-ökonomischen Schriftsteller Hegel lenkte, der bis dato, wenigstens was den jungen Hegel betrifft, in seiner Bedeutung nicht recht erfaßt worden war. Die alte Hegelschule hatte, wie wir gerade gesehen haben, die Jugendschriften nicht als eigenständige Leistungen erkannt, die nicht einfach den Gedan219
G. Lukäcs, Der junge Hegel und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft, Zürich 1948, Berlin 21954.
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kenwelten des älteren Hegel gleichzusetzen sind und auch nicht bloß die ziellosen Odysseen eines Lernenden bedeuten. Dilthey, der die Manuskripte überhaupt erst in die Diskussion gebracht220 und die Veröffentlichung der bei Rosenkranz, Haym und Thaulow verstreuten Abdrucke durch Nohl angeregt hatte221, lenkte seinerseits die Forschung in eine einseitige Richtung. Er nannte als erster die Jugendschriften „theologischhistorische Fragmente", er setzte das Etikett vom „mystischen Pantheismus"222 Hegels in Umlauf, das Hegel zum schwärmerischen Theologen abstempelte. Diltheys, durch ihre historische Stellung sowie durch den Rang des Autors, extrem einflußreiche Deutung war auf den Frankfurter Hegel konzentriert gewesen223, eine Präferenz, die Diltheys Blickrichtung sehr zu Hilfe kam. Man kann Lukacs' Auslegung des jungen Hegel ohne diese Vorgeschichte nicht verstehen. Denn es ist der Gegenzug gegen diese theologische Hegeldeutung, dem sowohl die Verdienste als auch die übers Ziel hinausschießenden Einseitigkeiten des Lukacsschen Buches zu verdanken sind. Die theologischen Jugendschriften, heißt es jetzt, sind von einer „theologiefeindlichen Stimmung" getragen224, Hegel der Theologe, das ist eine „reaktionäre Legende"225, die vertuschen soll, daß Hegel „im Christentum die letzthin entscheidende Ursache der gesellschaftlichen und politischen Vorkommnisse des modernen Lebens (erblickt), gegen die sein Hauptkampf gerichtet ist"226. Lukacs versucht, die ehemals „theologischen" Manuskripte als Pariser Manuskripte zu lesen227. Die Präferenz für bestimmte Phasen der Hegelschen Entwicklung kehrt sich damit um. Es ist vor allem der Berner Hegel, der Lukäcs* Wunschbild vom Antitheologen und Revolutionär entgegenkommt. Denn wenn auch Hegel damals den „radikal-plebeischen Flügel des Jakobinismus" verachtet, so bildet doch „der RousseauischeJakobinische Gedanke von der verhältnismäßigen Gleichheit der Vermögen die ökonomische Grundlegung seiner Philosophie der Revolu-
220
221 222 223 224 225 226
227
W. Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels, Berlin 1905, Gesammelte Schriften Bd. IV., Stuttgart 21959. Die philologische Vorgeschichte am besten in Seh 112 ff. Dilthey 21959, 43 ff. Über Stuttgart, Tübingen und Bern schrieb Dilthey 36, über Frankfurt 137 Seiten. Lukacs 21954, 38. op. cit. 31 ff. op. cit. 39. Sinngemäß op. cit. 29.
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tion"228. Hegel in Bern, das war, wenn wir Lukäcs glauben dürfen, ein radikal-demokratischer Republikaner, der sich an den Idealen der Revolution orientierte229 und das Christentum als Religion des Despotismus und der Sklaverei bekämpfte230. Bei seiner Herausstellung der Berner Periode gelingt Lukäcs ein Fund. Er „entdeckt" quasi den Begriff der „Positivität" als den Gegensatz von lebendiger, subjektiver Freiheit und toter Objektivität231, der sich in der Tat sowohl für die Charakterisierung der Berner Periode als auch für die Nachzeichnung der Wandlungen in Hegels Denken vorzüglich eignet. Auch hier hat Lukäcs der Hegelforschung unverzichtbare Impulse gegeben, bis hin zu den Deutungen von Rohrmoser und anderen, die sich von Lukäcs abgrenzen und doch „Subjektivität und Verdinglichung" nur als nach-lukäcsschen Titel wählen können. „Positivität", zuerst der Name für Hegels Kampf gegen alles Tote, Verdinglichte und vom Lebenszusammenhang Abgespaltene, enthält schon in nuce das Schema der späteren Dialektik. „. . . i n der Gegenüberstellung von subjektiver Selbsttätigkeit und Freiheit und toter Objektivität, Positivität ist im Keime eine Zentralfrage der späteren . . . Dialektik enthalten: diejenige Frage, die Hegel später mit dem Terminus ,Entäußerung' zu bezeichnen pflegt und in der . . . das ganze Problem der Gegenständlichkeit im Denken, in der Natur und in der Geschichte enthalten ist"232. Mit dem Frankfurter Hegel kann Lukäcs allerdings schon nicht mehr recht etwas anfangen. Zwar fallen in diese Zeit die entscheidenden politisch-ökonomischen Studien, die Lukäcs gelegen kommen, andererseits aber kann Lukäcs nicht leugnen, daß Hegel damals sogar die positive Religion bis zu einem gewissen Grade anzuerkennen beginnt. Lukäcs entledigt sich des Problems vorläufig, indem er die protheologischen Züge zur verworrenen „mystischen Abstraktion" erklärt233. So kann Hegel auch in Frankfurt noch sein, was Lukäcs möchte, der Kritiker der kapitalistischen Gesellschaft, ihrer Privatisierung und Verdinglichung aller menschlichen Verhältnisse, deren Entzweiung Hegel versöhnen will.
228
op. cit. 71; vgl. op. cit. 79. op. cit. 89. Bern als „Kulminationspunkt seiner revolutionären Begeisterung". 230 op. cit. 88ff. 231 op. cit. 47ff., 105 ff. Genauer gesagt, er „entdeckt" die Bedeutung des Begriffs „Positivität". 232 op. cit. 105. 233 op. cit. 129f. 229
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Wie sich bald herausstellt, ist die Frankfurter „Krise" in Hegels republikanisch-revolutionären Anschauungen doch ernsthafterer Natur. Denn was sich in Hegels gewandelter Einstellung zur Religion jetzt ankündigt, ist Hegels Idealismus, den der nun linientreue Verfasser von „Geschichte und Klassenbewußtsein" keineswegs mehr teilen möchte. Die Stellung der Religion, die im Systemfragment noch die Philosophie überformt, kann Lukäcs nicht übersehen234. Hegel hat das Positivitätsproblem neu formuliert, zwar nicht so, daß man Hegel die reaktionäre Glorifizierung des Faktischen vorwerfen könnte235, aber doch so, daß die Dialektik jetzt via die Anerkennung der positiven Religion die Zweideutigkeit erhält, die ihr nach Aussage der alten linkshegelianischen Kritik zukommt. Denn letztlich führt die Anerkennung der Positivität doch zu Hegels Versöhnung mit der kapitalistischen Gesellschaft, deren „Entzweiung" ab Jena nur noch „idealistisch" und „mystisch" aufgehoben wird. Wenn Lukäcs beschreibt, wie die ehemalige „Positivität" in den Begriff der „Entäußerung" übergeht236, dann kehrt seine Deutung wieder in die vorgezeichneten Bahnen linkshegelianischer Zweideutigkeit zurück. Der Rollentausch, bei dem der junge Marx in die Rolle Hegels schlüpfen sollte, hat ein jähes Ende gefunden, Marx und Hegel treten wieder auseinander, der eine muß an den Platz des logischen Mystikers zurück, der andere darf seine Hegelkritik von 1844 entfalten. Freilich, nach all der Mühe, die Lukäcs hatte, aus Hegel den Marx der Pariser Manuskripte zu machen, möchte er Hegels realistischen Blick für die Probleme der bürgerlichen Gesellschaft nicht missen, andererseits wird die Abgrenzung von der „idealistischen Gefahr"237 unausweichlich. „Trotz einzelner Illusionen betrachtet er (Hegel, H. O.) diese Entwicklung (die gesellschaftliche, H. O.) viel zu realistisch, um innerhalb des Kapitalismus an eine Zurücknahme der ,Entäußerung' auch nur denken zu können. Aber gerade darum wird bei ihm . . . der Begriff der ,Entäußerung' noch weiter verallgemeinert, um dann in dieser 'Verallgemeinerung wieder aufgehoben, ins Subjekt zurückgenommen werden zu können. Hegel sieht gesellschaftlich nicht über den Horizont des Kapitalismus hinaus. Seine Gesellschaftslehre kennt dementsprechend keine Utopie"238. So hat Hegel, so heißt es ein anderes 234
235 236 237
238
op. cit. 263. op. cit. 277ff. op. cit. 365ff., 384ff. op. cit. 385. op. cit. 385/386.
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Mal, „die Ausbeutung der Arbeiter in der industriellen Produktion . . . nie begriffen"239. Die Ökonomie Hegels hat ihre „Schranken"240, die sich Lukäcs aus den unterentwickelten Klassengegensätzen in Deutschland erklärt241. Auf jeden Fall faßt der Begriff der Entäußerung von nun an die Widersprüchlichkeit der Hegeischen Philosophie zusammen242, die Lukäcs ä la Marx an der Phänomenologie beweisen möchte. Zunächst wird diese nach Marxens Skizze des Aufbaus nach der nun marxistisch verbindlichen Dreiteilung gegliedert243, dann wird ihre Aufgabe als „die Aneignung der Gattungserfahrungen durch das Individuum" definiert244. Stillschweigend wird also immer noch vorausgesetzt, daß sich die Phänomenologie des Geistes erst einmal als Geschichte der Gattung materialistisch lesen läßt. Dann aber wird die Feuerbachsche-Marxsche Kritik so reproduziert, daß Lukäcs schließlich direkt die Pariser Manuskripte statt der Phänomenologie referiert. „Entäußerung" fächert Lukäcs dreifach auf: 1. als die „mit jeder Arbeit" verbundene Subjekt-Objekt-Beziehung245, 2. als typisch kapitalistische und „fetischistische"246 und 3. als allgemein-philosophische Vergegenständlichung247. In allen drei Formen hat Hegel den Geist sich mystisch entäußern und dann zu sich selbst zurückkehren lassen, vor allem aber im letzten Teil der Phänomenologie, der sogar die wirkliche Geschichte theologisch eliminiert. Das „Werden in der Geschichte" ist nur noch eine „Scheinbewegung"248. Die bei Hegel sich schon anbahnende Erkenntnis von den Menschen, die ihre Geschichte selber machen, wird um ihre Früchte gebracht durch die ursprungsphilosophische Konzeption eines Geistes, der nur zu dem wird, was er schon „ansich" war, der dann schließlich noch die Geschichte in einen mystischen Träger qua absolutes Wissen auflöst. Das Ende der Phänomenologie, das die „Erinnerung" der 239
240 241 242
243
244 245 246 247 248
op. cit. 387. op. cit. 419ff. op. cit. 422. op. cit. 428, 449. Die Phänomenologie durchläuft die Geschichte dreimal, im Durchgang durch den subjektiven (Kapitel I—V), den objektiven (Kapitel VI) und den absoluten Geist (Kapitel VII—VIII), op. cit. 540. Diese Einteilung findet sich auch bei Habermas 1968, 29 und E. Bloch, Subjekt-Objekt, Fft. a. M. 31971, 69ff. op. cit. 537. op. cit. 614. op. cit. 615f. op. cit. 616. op. cit. 617.
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Geister und das Pantheon des Geisterreiches beschreibt, formuliert „eine Selbstaufhebung der Geschichte". Denn „Geschichte wird in die bloße Verwirklichung eines in ihrem Subjekte, in ihrem Geiste von Anfang an vorhandenen Zieles verwandelt, und zugleich hebt sich ihre Immanenz auf: nicht die Geschichte selbst erhält ihre wirkliche Eigengesetzlichkeit und Eigenbewegung, sondern all dies kommt zu einer wirklichen Existenz erst in der die Geschichte begreifenden und aufhebenden Wissenschaft, im absoluten Wissen"249. Lukäcs' eigenartige Situation des zum „Feind übergelaufenen Bürgers"250, der Bürger blieb, aber auch Leninist wurde, hat ihn zu seiner doppelseitigen, zugleich bildungsschweren wie marxistisch-verkürzenden Hegelauslegung geradezu prädestiniert251. Sicher, seine attraktiv einfache (und teilweise auch legitime) Deutung hat manche Nachfolger bei Marxisten wie „Bürgerlichen" gefunden; immer mehr Autoren waren bereit, den anti-christlichen, a-theologischen, ethischen und politischökonomischen Charakter mancher Jugendschriften oder gerade die noch am ehesten einleuchtende Schilderung der Berner Epoche (manchmal mit Abstrichen) anzuerkennen252. Aber man hat, selbst auf marxistischer Seite, 249
op. cit. 622. Eine glänzende Schilderung Lukäcs' bei G. Rohrmoser, Stillstand der Dialektik. Grundpositionen expliziter und impliziter Marxismuskritik, in: Marxismus-Studien V, Tübingen 1968, 21 ff., 29. 251 So hat sich Lukäcs trotz seiner Belesenheit und trotz aller Kritik, die sein Hegelbuch hervorrief, nicht davon abhalten lassen, auch die Philosophie des älteren Hegel nach dem schon „bewährten" Schema zu deuten, d. h. im „Dünger der Widersprüche" von Gesellschaft und Staat, System und Methode, Realität und „Subjekt-Objekt-Mydios" solange zu bearbeiten, bis hinter dem materialistisch entmythologisierten System ein Hegel auftauchen konnte, dessen prozessuale Dialektik Lukäcs wieder sympathisch war. Siehe den Vorabdruck des Hegelkapitels aus G. Lukäcs, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Hegels falsche und echte Ontologie, Neuwied-Berlin 1971, 21 ff., 27, 34ff. 252 Vor allem in Italien haben sich Interpreten wie Massolo, Negri und Rossi an Lukäcs angenähert. Siehe den Literaturbericht von W. Kern, in: Scholastik 37. Jg. (1962), 85ff. A. Massolo, Prime Ricerche di Hegel, Urbino 1959; A. Negri, Stato e diritto nel goivane Hegel. Studio sulla genesi illuministica della filosofia juridica e politica di Hegel, Padua 1958 (politisch-historische Intention der Schriften und „Hegel giacobino", 120, 152, 175, 269); Rossi 1960 Bd. I. (primär ethisches Interesse, 292). Die theologisch-politische Doppeldimension ist fast schon ein Gemeinplatz geworden, das primär ethisch-politische Interesse in Bern wird auch immer häufiger akzeptiert, z. B. A. T. B. Peperzak, Le jeune Hegel et la vision morale du monde, Den Haag 1960 („Hegel republicain et revolutionaire" in Bern 45, 88, „une religion areligieuse au service de la liberte politique, 89, „une Dieu programme humaniste", 116), K. Wolf, Die Religionsphilosophie des jungen Hegel, Phil. Diss. München 1960 (Religion „bloßes Epiphänomen der Moralität", 63, „Funktion des politischen Lebens", 79), H. Scheit, Geist und Gemeinde, München 1973 (Volksreligion als politisches Konzept, 27ff., Berner Republikanismus 40ff.). Und selbst 250
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bald zwischen den Phasen der Hegeischen Entwicklung besser differenziert253. Denn so verdienstvoll Lukacs' radikale These vom Politökonomen Hegel war, weil sie das Tor für eine vielschichtigere Analyse der Hegeischen Entwicklung erst aufgestoßen hat, so gehört sie doch antithetisch zu den theologischen Deutungen a la Dilthey und Häring, deren Radikalität sie nur mit umgekehrten Vorzeichen reproduziert. Bern war eine Station in Hegels Leben, Frankfurt eine andere, mindestens genauso wichtige. „Nicht alles an Hegel", sagt Lübbe einmal mit Blochs Worten, „was zum Marxismus noch nicht in einem unmittelbar-funktionierenden Verhältnis steht, kann deshalb von vorneherein rechts liegengelassen werden"254.
3.1.2. Die Phänomenologie des Geistes als Bibel eines existentialistischen Marxismus (A. Kojeve) Ein weitaus extremeres, wenn nicht das extremste Beispiel einer linkshegelianischen Vereinnahmung Hegels liefert A. Kojeve in seiner, man darf wohl sagen, genial verzerrten Hegeldeutung255. Noch ungehemmter als Lukacs verkleidet Kojeve Hegel als atheistischen, revolutionären und anthropologischen Marxisten mit existentialistischem Einschlag. Die Vorlesungen, die Kojeve in den dreißiger Jahren hält, jene Vorlesungen, die von nicht zu unterschätzendem Einfluß auf die französische Philosophie gewesen sind256, stellen die Phänomenologie des Geistes ins Zentrum der Hegeischen Philosophie, den Abschnitt über „Herr und Knecht" noch einmal ins Zentrum der Phänomenologie selbst. Denn diese soll nicht nur
253 254
255
256
Altmeister Lacorte meint: „theologische" Jugendschriften, das sei der ungenaueste Titel. C. Lacorte, II primo Hegel, Firenze o. J., 55. Rossi 1960 Bd. L, 124ff. H. Lübbe, Zur marxistischen Auslegung Hegels, in: Philosophische Rundschau Bd. 2 (1954/55), 46; Bloch 31971, 52. A. Kojeve, Introduction a Lecture de Hegel. $ sur la Phenomenologie de l'Esprit, professees de 1933 ä 1939 ä l'Ecole des Hautes-Etudes reunies et publiees par R. Queneau, Paris 1947; auf deutsch etwas weniger als die Hälfte davon, Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, I. Fetscher (Hrsg.), Stuttgart 1958, mit einem neuen Vorwort von I. Fetscher, Fft. a. M. 2 1975. Kojeve, eigentlich Kojevnikov, wurde um 1900 in Moskau geboren; er floh vor der Oktoberrevolution über Heidelberg nach Paris, wo er Nachfolger Koyres an der „Ecole des Hautes Etudes" wurde; er starb dort 1968. Zu den Hörern zählten Satre, Aron, Merleau-Ponty, Fessard, Hyppolite. Siehe I. Fetscher, Der Marxismus im Spiegel der französischen Philosophie, in: MarxismusStudien III, Tübingen 1954, 182 ff.
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wie bei Lukacs, Bloch und Habermas die Selbsterzeugung der Gattung beschrieben haben, sondern auch noch die Geschichte des Menschen als eine Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft, die nach Kojeves kühner Extrapolation im Weltstaat des Napoleonischen Reiches sowie im absoluten Wissen der Hegeischen Philosophie (sagesse) ans Ende gekommen sein soll. Was die Linkshegelianer Hegel sonst vorwerfen, die Vertheoretisierung der Praxis, die Verabsolutierung der eigenen Epoche und damit die Enthistorisierung der Philosophie, die sich in sich selbst abschließt, all dem kann Kojeve zunächst einen marxistisch verbindlichen Sinn abgewinnen. Denn im Grunde soll die Phänomenologie eine geschichtliche Anthropologie sein257, die in einer atheistischen Revolutionslehre kulminiert. Die Geschichte des Menschen beginnt mit dem Prestigekampf der Begierden („la lütte . . . de pur prestige"258), in dem der Mensch einmal seine Abhängigkeit von der Natur im Kampf auf Leben und Tod überwindet (und zum „Herrn" wird), in dem der Mensch zum anderen die Verlängerung seines biologischen Lebens über das Risiko des Todes im Kampf stellt, sich so als noch abhängig von seinem natürlichen Leben erweist und zum „Knecht" wird, der erst über die Arbeit sich seine Befreiung von der Natur schaffen kann. Von jetzt an entsteht die Geschichte, die eine von Klassenkämpfen war, in der zunächst ideologischen und schließlich offenen Auseinandersetzung zwischen Herr und Knecht. Wird die revolutionäre Durchsetzung der Emanzipation des Knechts zunächst durch die Ideologien gebremst, die philosophisch, wie der Stoizismus und der Skeptizismus, oder theologisch, wie das Christentum, Freiheit und Anerkennung durch den Rückzug in die Innerlichkeit der Subjekte oder in einer jenseitigen Welt einzulösen versprechen, so bricht in der Französischen Revolution der offene, letzte Kampf („la lütte finale"259) aus, der zum Ende der Geschichte führt. Das Ende der Geschichte tritt ein, weil die Geschichte zunächst einmal nichts anderes gewesen sein soll als „die Geschichte des Arbeiterknechts"260. Dessen Bedürfnis nach Anerkennung und Freiheit läßt sich jedoch nach dem Endkampf faktisch und nicht mehr nur ideologisch einlösen, sowohl durch die durch „Arbeit" geschaffene Befreiung von der äußeren Natur als auch durch die endgültige Beseitigung jeder theolo257 258 259
260
„une anthropologie genetique ou historique". Kojeve 1947, 417. Kojeve 1947, 14. op. cit. 500. Kojeve 1958, 25.
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gischen Transzendenz, die von nun an nicht mehr als ideologisches Herrschaftsmittel mißbraucht werden kann. Es ist aber nicht Hegel selbst, der den Höhepunkt dieser theologisch-transzendenten Selbstentfremdung des Menschen symbolisiert, wie man es jetzt, hat man Feuerbach und Marx im Hinterkopf, erwarten müßte. Vielmehr darf schon Hegel selbst die ehrenvolle Rolle des ersten „Anthropotheisten"261 spielen. Denn schon Hegel wollte, „daß das transzendente Allgemeine (Gott) . . . durch ein der Welt immanentes Allgemeines ersetzt werden muß. Und für Hegel kann dieses immanente Allgemeine nur der Staat sein. Im und durch den Staat, im irdischen Königreich, muß verwirklicht werden, was angeblich durch Gott im Königreich des Himmels Wirklichkeit werden sollte"262. Der endzeitliche Weltstaat qua Napoleonisches Reich befriedigt die menschlichen Bedürfnisse, indem er den alten Gegensatz von Einzelnem und Allgemeinem synthetisiert263. Alle Transzendenz verwandelt sich in Immanenz. Die Revolution verwirklicht die jenseitigen und nur ideologisch befriedigten Wünsche nach Freiheit und Anerkennung im Diesseits, Napoleon verbreitet die mit der Revolution geschaffene neue Realität in der Welt. Das Christentum vollendet seinen Sinn quasi in der eigenen Selbstaufhebung, in der Säkularisation seiner Ideale, welche die Revolution und ihr Realisierer Napoleon im Diesseits einlösen, welche Hegel, dazu korrespondierend, im absoluten Wissen offenbart. Napoleon ist der „Gottmensch" der Neuzeit, Hegel sein Prophet. „Si Napoleon est le Dieu revele, c'est Hegel qui le revele"264. Die Zeitvorstellung jüdisch-christlicher Provenienz, das Bild einer sich auf ein Ziel hinbewegenden Entwicklung, muß am Ende der griechischen „Zeit" wieder weichen, in der das Immergleiche ewig wiederkehrt. Wenn die Zeit „erfüllt" ist, hat auch die Philosophie abgedankt, die wie die christliche Ideologie nur aus der unerfüllten Sehnsucht des Knechts nach Freiheit und Anerkennung entsprang. Am Ende der Geschichte steht, was zu wissen nötig ist, allen Menschen in verobjektivierter Form zur Verfügung, in Hegels Phänomenologie und Logik, „qui est le Logos eternel incarne"265. Die Menschheit, die ihre Geschichte hinter sich gebracht hat, wird in den Büchern alles finden, was sie zum Verstehen des Lebens noch benötigt, „il n'y a plus rien z faire, et on n'est Homme que dans la mesure 261 262 263 264 265
Kojeve Kojeve Kojeve Kojeve op. cit.
1947, 47, 300. 1958, 65. 1947m 200; Kojeve 1958, 58 Anm. 1947, 153. 411.
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ou l'on lit et comprend le Livre qui revele tout ce qui a ete et pouvait etre fait"266. Die marxistisch inspirierte Deutung kulminiert in der Utopie einer posthistorischen Endzeit, in welcher Kunst, Liebe und Spiel die Geschichte der Klassenkämpfe für immer abgelöst haben267. Aber es ist nicht nur ein marxistischer, sondern auch ein existentialistischer Rock, den Kojeve Hegel überwirft, eine weitere Verkleidung, bei der Kojeve sein Kollege Koyre268 und auch Jaspers halfen. Im Kampf zwischen Herr und Knecht wird nicht nur die Geschichte geboren, sondern auch der Mensch als das „nichtende Nichts", das sich aus dem Kreislauf der immergleichen Natur durch die Negation der Natur heraushebt, sei es durch das Aufs-Spiel-Setzen des Lebens im „Kampf" (wie der „Herr") oder erst durch die „Arbeit" (wie der „Knecht"). Freilich bleiben beide, Herr und Knecht, Glieder der Natur, aus der sie stammen, da keiner dem „Tod" entgehen kann, der am augenfälligsten die Endlichkeit des Daseins aufscheinen läßt269. Die heroische Annahme der Endlichkeit ist quasi Kojeves Fegefeuer vor dem Eintritt in den diesseitigen Himmel des befreiten Lebens. Erst die Einsicht in die unaufhebbare Endlichkeit garantiert das Verschwinden der entfremdeten Transzendenz und damit das Eintreten der Bedürfnisbefriedigung. „Da die Vollendung des Menschen die Fülle seines Selbstbewußtseins und der Mensch in seinem Sein selbst wesentlich endlich ist, gipfelt die menschliche Erkenntnis im freiwilligen Hinnehmen der Endlichkeit. Und das volle . . . Begreifen des Sinns des Todes stellt jene Hegeische Weisheit dar, die die Geschichte zum Abschluß bringt, indem sie dem Menschen Befriedigung verschafft"270. Kojeve beweist auf radikale Weise, wie weit der Linkshegelianismus gegangen ist, um die ehemals gegen Hegel erhobenen Vorwürfe fallen zu lassen und sie in marxistischem (und existentialistischem) Gewand wieder in Hegel zurückzutragen. Dieser so unorthodox denkende Philosoph hat sich bei den Marxisten strengerer Observanz damit sicher unbeliebt gemacht; seine Feier von Kampf und Tod hat ihm, der er in der Resistance gekämpft hatte, sogar den Faschismusvorwurf eingetragen271. Anders als orthodoxe Marxisten, für die die Ökonomie den deus ex machina aller 266 267
268 269
270
271
op. cit. 385. op. cit. 435 Anm. Maurer 1965, 139 Anm. Kojeve 1958, 191 ff. Beim existentialistischen Hegel sollen auch Geist und Zeit schon identisch sein, op. cit. 103. op. cit. 231. Siehe die Vorworte von Fetscher, z. B. 21975, 8, 11 ff.
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sich komplizierenden Probleme spielt, hat er die Rolle der „Herrschaft" in der Geschichte ein wenig vom Odium marxistischer Staatsfeindlichkeit befreit272, anders als Existentialis'ten und Faschisten hat er über Herrschaft und Kampf nicht die Rolle der Ökonomie vergessen. Aber wenn Kojeve uns auch oft unerwartet in eine Hegeische Tiefe blicken läßt, die jeder andere Zugang nicht eröffnen würde, er hat Hegel doch zu sehr auf die Bedürfnisse eines existentialistischen Marxismus zugeschnitten, der sich anschickt, Hegel links zu überholen, ohne dies zugeben zu wollen. Die Textbasis wird durch den überstarken Bezug auf die Herr-KnechtPassagen entstellt, die, noch einmal verkürzt, in nur-sozialer Perspektive erscheinen273. Einseitige, plakativ gedachte Gegensätze wie die von Hegel und Napoleon, „Le Realisateur — le Revelateur . . . l'Action (universelle) et le Savoir (absolu)"274 verkürzen die komplizierte Perspektive der Geschichte als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, in der Napoleon als ein welthistorisches Individuum unter anderen auftritt, schon gar nicht als der Hegel selbst korrespondierende „persönliche" Realisateur der Revolution. Wenn man weiß, wie Hegel immer die Idee nicht mit seiner Person identifizieren wollte, müssen einem Kojeves Personalisierungen besonders peinlich erscheinen275. Bildlich und anschaulich freilich sind sie, genauso wie der groteske Gedanke der in einem Buch aufgehobenen Entfremdung, der freilich von den Intentionen einer Lehre, die die „Substanz" nie ohne das „Subjekt" und den Geist nie ohne die Subjektivität hat definieren wollen, so weit entfernt sein muß wie begriffliches Denken vom Anschauen. Manches von der anziehend-abstoßenden Attraktivität der Kojeveschen Deutung läßt sich freilich aus der säkularisierten Terminologie erklären, 272
Rohrmoser formuliert noch stärker, er habe auf den Mangel marxistischer Theorie aufmerksam gemacht, „die progressive Rolle von Herrschaft in der Geschichte zu "begreifen", Rohrmoser 1968, 61. 273 Nusser spricht zutreffender von „Herr und Knecht" als einem Einzelereignis der Bildung, K.-H. Nusser, die Französische Revolution und Hegels Phänomenologie des Geistes, in: Philosophisches Jahrbuch 77. Jg., 2. Hbbd. (1970), 280ff.; Kelly versucht gegen die Reduktion der Herr-Knecht-Problematik auf das Soziale an die Dimension des individuellen Ich und die Verschränkung der individuellen mit der sozialen Perspektive zu erinnern, G. A. Kelly, Bemerkungen zu Hegels ,Herrschaft und Knechtschaft', in: Materialien zu Hegels ,Phänomenologie des Geistes', H. F. Fulda/D. Henrich (Hrsg.), Fft. a. M. 1973, 193ff. 274 Kojeve 1947, 153. 275 So hat Hegel bekanntlich auf all das keinen Anspruch erhoben, was in „seiner" Philosophie von „ihm" selbst enthalten sei. „. . . das Kurze aber ist, daß, wenn von Philosophie als solcher die Rede ist, nicht von meiner Philosophie die Rede sein kann . . .", Hegel an Hinrichs im Sommer 1819, in: Br. Bd. II, 215/216.
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die dem Leser jetzt an Stelle der zumindest zweideutigen theologischen Sprache Hegels die moderne, handgreifliche, anthropologische, historische, säkularisierte Übersetzung bereithält, für den Logos, die Selbstschöpfung des Menschen, die Transzendenz und die Offenbarung. Sie erlaubt es, das vage Bewußtsein, daß doch etwas an diesen Begriffen sein könnte, mit einer Erklärung zu verbinden, welche den säkularisierten Heilswünschen entspricht. Dabei übertrifft Kojeves „auto-creation de l'Homme", wie Maurer sehr schön gezeigt hat, in ihrer Radikalität noch das Feuerbachsche Anthropologisieren und das Marxsche „Machen der Geschichte". Denn der Kojevesche Mensch muß sich, quasi wie Münchhausen, nicht nur seine eigene Geschichte und Versöhnung, sondern auch noch die Genese seiner selbst als solche erschaffen, ohne jedoch schon über ein „Selbst" zu verfügen, das die Erschaffung zustande bringen könnte276. Kojeve, so läßt es sich salopp ausgedrückt sagen, reduziert sich auf die Formel „Münchhausen 2 ". Die Selbsterschaffung des „selbstlosen" Menschen rächt sich am Ende im Rückfall in den Anfang, der die ganze Geschichte wieder rückgängig macht. Die vom Menschen sich selbst gegebene sowie aus eigener Kraft zurückgenommene Transzendenz mündet in die Naturbasis zurück, von der die Geschichte ihren Anfang nahm277. Der Feuerbachsche Naturalismus, Marxens Verkürzung des Lebens auf die soziologische Perspektive, auf Produktion und die Reproduktion der Gattung finden bei Kojeve ihr Pendant in der endzeitlichen Naturalisierung des Menschen, auf die Kojeve, trotz des Hinweises auf Spiel, Liebe, Kunst und Glück Hegels „geistiges" Leben reduziert, auf das Leben des emanzipierten, befriedigten Tieres. Denn am Ende gilt auch: „II n'y a plus d'Histoire, l'avenir y est un passe qui a dejä etc, la vie est done purement biologique"278. Nie war für Hegel Geschichte nur Geschichte von Klassenkämpfen, noch hat sie für ihn je mit dem Kampf auf Leben und Tod begonnen. Geschichte war für Hegel vorrangig politische Geschichte in dem Sinne, daß sie erst mit der Staatenbildung bei den Völkern überhaupt einsetzen konnte279. Aber davon ist im Kapitel „Selbstbewußtsein" in der Phänomenologie gar nicht die Rede. Dort hat es nicht einmal vergleichsweise 276
277 278 279
Maurers Widerlegung von Kojeve: ein Glanzstück immanenter Deutung, Maurer 1965, 149 ff. Sinngemäß op. cit. 156. Kojeve 1947, 387. „In der Weltgeschichte kann nur von Völkern die Rede sein, welche einen Staat bilden". Phil. d. Gesch. SW XI, 71.
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Sinn, bereits vom vollentwickelten Geistbegriff zu sprechen, der als noch nicht realisierter Begriff und auch nur „für uns" dort in Erscheinung tritt280. Auch hat die Dialektik von Herr und Knecht nicht den noch unmittelbaren objektiven Geist und seinen „freien Willen" zur Basis, mit dem die Rechtsphilosophie einsetzt, die vom Geist- und nicht vom Naturbegriff des Menschen ausgeht. Der Mensch, der der Sklaverei fähig ist, sagt Hegel dort, war nur als „Naturwesen" gefaßt. „Diese frühere unwahre Erscheinung betrifft den Geist, welcher nur erst auf dem Standpunkt des Bewußtseins ist, die Dialektik des Begriffs und des nur erst unmittelbaren Bewußtseins der Freiheit, bewirkt daselbst den Kampf des Anerkennens . . ,"281. Es gehört schon eine Portion Mut dazu, jenen Übergang von der „Natürlichkeit" des Menschen zum „sittlichen" Wesen, den Übergang aus dem status naturae in die beginnende Sozialisation zum Modell der ganzen Hegeischen Geschichte machen zu wollen. Daß Hegels Intentionen auch in der Phänomenologie andere waren, bezeugen wenigstens noch die Linkshegelianer, die wie Marx und Lukacs die idealistische Entäußerung, das ursprungsphilosophische Zusichkommen eines Geistes, der wird, was er ist, materialistisch und emanzipationsphilosophisch angreifen. Daß Hegel das „Ende" der Geschichte und die Transponierung der theologischen Transzendenz auf den Weltstaat Napoleons vorgenommen haben soll, müßte es den Marxisten Kojeve nicht veranlassen, wie seine Ahnen daraus eine Kritik an einer verabsolutierten Gegenwart, die doch auch nur eine Epoche wie andere war, oder gar an einer Akkommodationstendenz zu machen? Von solchen Zweifeln, so scheint es, war Kojeve nicht geplagt. Nur selten, vielleicht nur an zwei Stellen, zieht er en passant überhaupt eine theologische Deutung in Betracht282.
3.2. Ambivalente Gesamtdarstellungen Lukacs hatte den jungen Hegel, Kojeve den Hegel der Phänomenologie zum Linkshegelianer gemacht. In den großen Gesamtdarstellungen von Hegels Philosophie läßt sich diese Tendenz wiederfinden, allerdings abgeschwächt und im Konflikt mit der gegenläufigen Hegelkritik. Das 280 Ygj phän. 140, wo das „Wir = Ich" und „Ich = Wir" nur erst dem philosophischen Betrachter einleuchten kann. 281 Rph 1821, SW VII, 112. 282 Kojeve 1947, 426; Kojeve 1958, 109.
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Bemühen um die Vereinnahmung Hegels als des Kirchenvaters des Marxismus und die Abgrenzung von Hegel als dem Ideologen der kapitalistischen Gesellschaft treibt manchmal seltsame Blüten. Garaudy kann sich zwischen den beiden Möglichkeiten, anthropologischer Humanismus oder theologisch-philosophische Rechtfertigung des Kapitalismus, nicht eindeutig entscheiden283, Bloch schwankt zwischen der Trauer um den „antiquarischen" Hegel und der Freude über den Krypto-Utopisten hin und her, Marcuse ernennt Hegel zum Vater der kritischen Theorie, der zugleich ein reaktionärer Staatsphilosoph gewesen sein soll, und Adorno, der kritischste dieser Kritiker, kann seine negative Dialektik immerhin noch aus Hegels Spekulation entwickeln, die um ihren Totalitätsanspruch und ihre Abschlußhaftigkeit gekürzt wird.
3.2.1. Antiquarische Philosophie und Anamnesis contra Emanzipation und Utopie (E. Bloch) Ernst Bloch macht den „Kerngedanken" Hegels zunächst noch unverfänglich in der Identität von Subjekt und Objekt aus284. Subjekt-Objekt, das ist die Formel für den Prozeß der Selbsterkenntnis des Selbst und für das „omnia ubique" der Spekulation. In diesem Prozeß wird, so meint er, die Konkretion unzulässig übersprungen. Zwar ist das „Selbst", das kein partikulares Ich ist, durchaus „menschlich"285, und Kierkegaards Subjektivismus einer puren Innerlichkeit kann keine standfeste Gegenposition gegen Hegel bilden, aber der Prozeß der Selbsterkenntnis hat das Subjekt doch „oft übermäßig" aus dem „Lebendig-Unmittelbaren" herausgezogen286, „es verschwindet, was jedem unmittelbar auf den Nägeln brennt, was die Welt der Aktualität wie der Entscheidung ausmacht . . ."287. 283
284
285 286 287
R. Garaudy, Gott ist tot. Das System und die Methode Hegels, Fft. a. M. 1965, 426. „Hegels Philosophie ist stets zweideutig. Ist sie Theologie oder Humanismus?" Ansonsten bleibt Garaudy auf der Linie der Engelsschen Unterscheidung von reaktionärem System und progressiver Methode, op. cit. 206ff. Da Garaudy gegenüber Bloch und Marcuse nichts Neues bringt, werden wir uns auf Bloch, Marcuse, Adorno einschränken. Eine gute Besprechung von Garaudys zweideutiger Auslegung, W. Kern, Hegel-Bücher 1961-1966, in: Theologie und Philosophie 42. Jg., Heft 3 (1967), 41lff. E. Bloch, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel. Erweiterte Ausgabe, Fft. a. M. 31971, 36, 35, Vorwon von 1951, 12. op. cit. 38. op. cit. 394. op. cit. 39.
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Eine existenzphilosophische Aversion gegen Hegel spielt freilich bei Bloch kaum eine Rolle. Zwar teilt er das sympathische Mißtrauen „gegen jedes den Menschen vergewaltigende geschlossene Weltbild"288 mit der Existenzphilosophie, aber die Plattform seiner Kritik bildet nicht Kierkegaard, sondern ein auf Utopie, Offenheit und dialektischen Materialismus verpflichteter Marx (und Engels). Von Lukäcs' sozio-politischer und ökonomischer Verkürzung des jungen Hegel distanziert sich Bloch ausdrücklich289. Zugleich ist er bestrebt, die Folgen der seit Engels üblichen und auch bei Lukäcs wirksamen Trennung von System und Methode zu überwinden. Denn Bloch hat die verhängnisvollen Konsequenzen dieser dogmatisierten Unterscheidung erkannt, wenn er sie für die „anthropologische Unterernährung"290 des Marxismus, für die verflachte Ästhetik und für den Ökonomismus verantwortlich macht. Gegen die festgefahrene Trennung von System und Methode soll sich der Marxismus auch bei Hegels System Hilfe erbeten, und zwar sowohl für die Zwecke einer besseren Erklärung komplexerer Phänomene des Überbaus als auch zur Aufspürung utopischer Gehalte. Zwar soll auf die Engelssche Kritik an der „Abgeschlossenheit" und „Statik" des Systems291 nicht verzichtet werden, handele es sich doch bei Hegel um eine „Sperre gegen Zukunft, Neuheit und Unabgeschlossenheit"292, die sich als Platonische Anamnesis erkennen lasse und sowohl im zyklischen Denkstil als auch im System als dem Kreis von Kreisen den inneren Widerspruch offenbare. Aber dieser Widerspruch erkläre sich nicht einfach als der von progressiver Methode und reaktionärem System: „. . . hier ist kein Gegensatz zwischen Methode und System, sondern einer zwischen Methode plus System . . . ein Widerspruch sowohl in Methode wie im System"293. Was Bloch hier als begrüßenswerte Überwindung der verhängnisvollen Trennung von System und Methode programmatisch formuliert, wird in „Subjekt-Objekt" allerdings nicht immer programmgemäß eingelöst. Manchmal treten doch wieder reaktionäres System und revolutionäre Methode einander gegenüber, so wenn das Motto von der Identität von Vernunft und Wirklichkeit ä la Engels geteilt wird: Daß alles Vernünftige 288 289
290
291 292 293
Nachschrift 1962, op. cit. 14. op. cit. 51 f. E. Bloch, Das Problem der Engelsschen Trennung von .Methode' und ,System' bei Hegel (1956), in: Über Methode und System bei Hegel, Fft. a. M. 1970, 65. op. cit. 56. op. cit. 57. op. cit. 58.
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nach Hegel wirklich ist, sei ebenso „revolutionär", wie der nachfolgende Satz, daß alles Wirkliche vernünftig ist, „konservativ" sei294. Andererseits wird durch die nun auch im System ausgemachte Progressivität gegen den Willen des Autors sichtbar, welch instrumentelles Verhältnis zu Hegel hier gepflegt wird: Vereinnahme ihn dort, wo er sich (und jetzt nicht nur als Vater der neueren dialektischen „Methode", sondern auch als progressiver Systemdenker) für die Zwecke eines anspruchsvollen Marxismus verwenden läßt, kritisiere ihn dort, wo sein System sich gegen Emanzipation und Utopie abschließt! Ob dieser Hegel nicht gute Gründe hatte, zwischen den nach vorn weisenden und den rückwärts blickenden Elementen seines Denkstils und Systems nach einem (wie auch immer prekären) Ausgleich zu suchen, muß bei diesem Verfahren gar nicht erst geprüft werden295. Freilich stellt Blochs Verfeinerung des simplifizierenden Gegensatzes von „System" und „Methode" auch einen Fortschritt gegenüber den Ansätzen von Lukäcs und Kojeve dar. Denn selbst die von Bloch quasi nur im Lichte eines schon im voraus feststehenden Begriffs von Emanzipation und Utopie beleuchtete Hegeische Philosophie wird in der (oft expressionistisch farbigen) Darstellung doch als ein Gedankengebäude erkennbar, das weder in den dunklen Farben der Restauration noch in den helleren der Revolution allein nachgemalt werden kann. Schon bei der Interpretation der Phänomenologie kann Bloch im enggesteckten Rahmen seines emanzipatorisch-utopischen Vorurteils doch eine gewisse Virtuosität der Interpretation entfalten. Denn bereits in diesem Werk laufen für ihn höchst verschiedene Motive in ein schillerndes Bild der Hegeischen Philosophie zusammen: das Motiv des bürgerlichen, kritischen, sich emanzipierenden, revolutionären Subjekts, das neuzeitliche Motiv des homo faber, der die Erkenntnis more mathematico aus sich erzeugen will, sowie schließlich das restaurative Motiv der „romantisch-historischen Schule"296. „Restaurativ" ist der historisch-romantische Sinn, weil er den Rückzug aus der gegenwärtigen Welt in ein irrationales Weben und Wachsen betreibt. Hegel hat der Romantik somit die Anerkennung des bourgeoisen Ichs und des neuzeitlichen Menschen voraus, zugleich fallen für Bloch Romantik und Hegel unter dasselbe Verdikt. Denn hinter dem Etikett „restaurativ" verbirgt sich, was den letzten 294 295
296
Bloch M 971, 253. So bleibt ausgeklammert, ob Hegel, wie die Hegelianer der Mitte versichern, einige Vermittlungen zwischen Vergangenheit und Zukunft gelungen sind. op. cit. 60ff.
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Grund der Blochschen Gegnerschaft gegen Romantik und Hegel zugleich bezeichnet, die Kritik der Ursprungsphilosophie, die Bloch in Charakterisierung des romantischen Naturbegriffes beim Namen nennt: „Der historische Sinn der Romantik stieg in diese natura naturans wie in eine Brunnenstube hinab, worin die Erzeugung bewußtlos quillt: Ursprung ist dann nirgends in des Menschen Hand"297. Allerdings ist die Phänomenologie, wie Bloch in Anlehnung an den jungen Marx hervorhebt, keine reine Ursprungsphilosophie, nimmt sie doch „die reale Selbsterkenntnis als Erkenntnis der Erzeugung des Menschen durch seine Arbeit und Geschichte vorweg"298. Aber eine die reale Natur einschließende Emanzipationsphilosophie kann sie für Bloch auch wiederum nicht sein, auch wenn sie fern aller romantischen natura naturans Elemente einer materialistischen Gattungsgeschichte schon enthält. Denn diese Philosophie endet „geistig, allzu geistig" im „panhistorischen Erntefest" einer Idee299, die ihren Stoff in sich auflöst, sich ohne Einbeziehung der wirklichen Natur in sich abschließt und Entäußerung von Entfremdung nicht mehr scheiden kann. Erst die vom jungen Marx geahnte Naturalisierung des Menschen im Verein mit der Humanisierung der Natur kann für Bloch die Versöhnung vollbringen, in der, statt eines die Natur nur verlassenden Geistes, Natur sich verklärt und zum „aufgedeckten Angesicht" wird300. Bloch, hier auf eigentümliche Weise, als „marxistischer Schelling", geschichtliche Befreiung des Menschen und Restitution der gefallenen Natur jüdisch-mystisch zusammendenkend301, möchte anders als der Geistphilosoph Hegel die „Materie" (als die reine Möglichkeit) zum Substrat einer marxistischen Verzahnung von natura naturans und emanzipatorischer Selbsterschaffung des Menschen erklären. Und es scheint voraussehbar zu sein, daß diesem auf die Versöhnung von Geschichte und Natur unter materialistischem Heilszeichen hoffenden Denken auch Hegels Logik als ein fundamental zweideutiges Vorbild und Trugbild erscheinen muß. Denn so sehr Hegels Dialektik für Bloch auch das Prozessuale und Noch-Nicht-Seiende gedanklich nachzubilden erlaubt, so ist sie ihm doch zugleich „zu buchmäßig", ein Verfahren, das „nicht selten an den Gang der Dinge herangetragen" wird, statt aus ihm „heraus297 298 299 300
301
op. cit. 67. op. cit. 103. op. cit. 100. op. cit. 108. J. Habermas, Ernst Bloch. Ein marxistischer Schelling, in: Habermas 1971, 154ff.
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gehört" zu werden302. Hegels Logik — für Bloch ist sie Prozeß-Dialektik und Theo-Logik in einem, die einmal aufs „ungeheuerlichste" theologisiert und an Goethes Wort über Bachs Musik erinnert, die hören lassen soll, „wie es im Busen Gottes vor Erschaffung der Welt aussah"303, die aber auch vom Philosophen der Hoffnung als Logos künftiger Zeiten gelesen wird, da der siebte Tag der vollendeten Schöpfung noch aussteht304. So muß sich die mystifizierte Begrifflichkeit gefallen lassen als „Kategoriensammlung . . . der bürgerlichen Gesellschaft" entlarvt zu werden305, sie darf zugleich als „Weltnetz" und nicht als „spanischer Stiefel" gelten306. Die Logik, das ist „ein Organen dialektischer Begriffe"307, ebenso aber eine sich ursprungsphilosophisch in sich abrundende Philosophie, welche Geschichte überflüssig macht. Denn die Wesenslogik vermittelt den „Grund" ohne Rest, „der Grund des Wesens ist zur Welt ausgeschöpft . . . es gibt kein uneingesenktes Wesen mehr . . . es gibt nichts Wesenhaftes mehr zu besorgen"308. Überall möchte sie das „Novum" und den „Sprung" aufzeigen, und doch taucht kein Novum strenggenommen auf. „Das Erste ist nur vergangen, indem das Letzte wieder das Erste ist, das schon ganz logisches Material war"309. Für diese sich zurückwendende Tendenz der Hegeischen Philosophie findet Bloch zunächst den Begriff des „Antiquarischen", welcher Hegel als den dialektischen Freund des Geschehens von Hegel dem „Reichsverwalter" der Geschichte trennt310, später übernimmt die gleiche Deutungslast der Begriff „Anamnesis". Der Dialektiker Hegel schreibt eine für die Zukunft offene Philosophie, der Antiquar Hegel reduziert Geschichte auf „ein werdendes Gewordensein"311, für dessen Vollzug bezeichnenderweise die „mythologischen" Drahtzieher, die Volksgeister, verantwortlich sind. Die List der Vernunft, deren Begriffsgeschichte einmal bei Hobbes und Mandeville optimistisch begann, im Vertrauen auf das sich durch die antagonistischen, ja sogar schlechten Interessen hindurch befördernde Allgemeinwohl, endet bei Hegel kontrapunktisch. 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311
Bloch 31971, 135. op. cit. 161. op. cit. 163. ebd. op. cit. 172. op. cit. 169. op. cit. 170. op. cit. 178. op. cit. 227. op. cit. 228.
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Denn was als Spielen des Subjekts mit dem Objekt noch in der romantischen Ironie spürbar wird, schlägt bei Hegel um ins Spielen des Objekts mit dem Subjekt, „des Allgemeinen mit den Individuen"312. Janusgesichtig muß man demnach die Lehren der Rechtsphilosophie nennen, welche die Spannung zwischen der revolutionären Wirklichkeit der Vernunft und der reaktionären Vernünftigkeit des Wirklichen aushalten muß. So spricht vieles gegen den traditionellen Vorwurf von Akkommodation und Konservatismus: Nicht jede empirische Existenz anerkannte Hegel als „wirklich"313; der Staat wird nach oben relativiert durch den absoluten Geist314; die „Vernunft" erinnert zwar an den Johanneischen Logosbegriff, jedoch ist sie „historisch-politisch" der ratio der Aufklärung verwandt315; Hegel beschreibt Institutionen, die es in Preußen damals noch nicht gab316; die konstitutionelle Monarchie entwickelt er nach englischem Muster317; mit den konservativen Preußen vom Schlage eines von Haller und Stahl hatte Hegel nichts zu schaffen318; und gegen das instinktmäßige Walten des Volksgeistes der historischen Rechtsschule setzt Hegel seine revolutionäre Vernunftsphilosophie entschieden ab319. Getreu der doppelseitigen Auslegungsstrategie steht dieser Liste nichtreaktionärer Aspekte der Rechtsphilosophie aber ein ähnlich langer Katalog linkshegelianischer Vorwürfe gegenüber. Immerhin rangiert die Rechtsphilosophie auf der politischen Skala ganz unten als Hegels „reaktionärste Schrift"320. Die Kriegsverherrlichung „rechnet dem Säbel zu, was nur die Freiheitslosung verdient", die Majorate werden verteidigt, das Volk degradiert zum Pöbel, der nicht weiß, was er will. Die Definition der Philosophie selbst, die wie die Eule der Minerva erst in der Dämmerung ihren Flug entfaltet, ist „abendlich"321 und sogar „reaktionär", dem „Ruhebedürfnis" des älteren Hegel entsprechend322. Zwar übertreiben die Kritiker, die Hegel vorwerfen, sein System enthalte keine Ethik, aber doch ist Hegel „die gesamte Innerlichkeit . . . fremd, sogar verdächtig"323. 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323
op. cit. op. cit. op. cit. op. cit. op. cit. ebd. op. cit. op. cit. op. cit. op. cit. op. cit. op. cit.
235. 253. 255. 252. 249. 250. 252. 245. 246. 247. 256.
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Sucht man nach einer verbindlichen Antwort, was Hegel denn im Grunde war, dann erhält man die Art von Replik, die innerhalb des auf Dualismus vorprogrammierten Vorurteils allein möglich ist. Innerhalb des feststehenden Gegensatzes wird mal die eine, mal die andere Seite betont. So scheint Bloch bei der Deutung der Rechtsphilosophie die „revolutionäre" Seite der Vernunft, die wirklich ist und werden will, ein wenig gegenüber der Vernünftigkeit des Wirklichen zu favorisieren324. Diese in der Doppeldeutigkeit vorherrschende Auslegungstendenz läßt sich noch in der Interpretation der Ästhetik und (teilweise sogar) der Religionsphilosophie aufspüren. Dagegen tritt in den letzten Passagen des Buches wieder eine leichte Verschiebung ein. Die Ambivalenz bleibt, aber statt des revolutionären Revolutionär-Reaktionärs präsentiert Bloch nun den reaktionären Revolutionär-Reaktionär. Rüge hatte an die Stelle der Hegeischen Ästhetik die heitere Praxis von Witz und Komödie setzen wollen. Bloch erinnert zu Recht daran, daß Hegel selbst der heiteren Überwindung abgelebter Bewußtseinsgestalten eine zentrale Rolle in der Ästhetik eingeräumt hatte, nicht nur am Beispiel einzelner Helden wie Don Quijote, sondern auch an den Nahtstellen der kunstgeschichtlichen Entwicklung. Die symbolische Kunst hebt sich im Epigramm, die klassische in der Satire und die romantische in der Komödie auf325. Dieser hintergründige „Humor" läßt in Hegels Ästhetik wieder ahnen, was hauptsächlich die Methode im Denkstil symbolisierte, die nach vorne weisenden Tendenzen, „ein feines Blitzen und Leuchten aus einem ganz anderen Frieden als dem, der mit der Welt gemacht wird . . ."326. So lassen sich auch noch aus der Ästhetik utopische Gehalte ablesen, die ansonsten den Stoff in der Form „verbrausen" läßt, die Schönheit in ein „irdisches Pantheon" entrückt und nicht einmal im Sinne Schillers in der Schönheit den „Vor-Schein" der Wahrheit erkennt327. Die Rechtshegelianer haben sich nicht „grundlos" auf den Thron Gottes berufen können, der von Prometheus unerschüttert blieb, aber dennoch hat die Religionsphilosophie ihr Zentrum nicht in einem „Gottprimat"328. Hegels „Gott" neigt sich zum Untergang im Menschen; das Reich des Vaters hebt sich im Reich des Sohnes und des Geistes auf, auch 324 325
326
327 328
op. cit. 253, 259. Der erste Teil des Mottos der Rechtsphilosophie sei „grundlegend". op. cit. 293. op. cit. 294. Die Heiterkeit des Abschieds sehr schön im „Prinzip der Hoffnung", E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Gesammelte Werke Bd. V, Fft. a. M. 1959, 1034ff. Bloch 31971, 288 f. op. cit. 328.
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wenn Hegel die „Dreieinigkeit" manchmal als gegenwärtige vom Prozeß ausnimmt und sie als statische „Einteilung" Gottes mythologisiert329. Hegels Religionsphilosophie vernichtet und erfüllt das Christentum zugleich. „Da dieses Neigen(Gottes, H. O.) ebenso ein Aufbegehren gegen die Gotteshypostase droben und drüben ist, ist sie lauter Schlange, Prometheus, Hybris. Da sie / aber im gleichen Zug ein Ernten der reanthropologisierten Himmelsfülle ist, ist diese Hybris die frömmste oder das konkrete Sursum corda der Religion"330. Hegel ist zumindest partiell schon Feuerbachscher Emanzipationsphilosoph, die „Reflexion aus Gott in mich" das „Modellzeichen"331 einer anthropologischen Religionskritik, die Hegel freilich nicht ganz durchhält. Schwankend wird das Bild des halb utopischen, halb rückwärts gewandten Hegel, der Rüge und Feuerbach näher steht als seinem eigenen restaurativen alter ego, wenn Bloch auch die Geschichtsphilosophie sich ursprungsphilosophisch abschließen sieht. Gegen das „,Offenbare' ohne Rest" streicht er jetzt verstärkt „das offene Daß im Sein"332 und den „Tendenzimpetus der Materie" heraus333, der bei Hegel allenfalls „kryptomaterialistisch" verborgen sein soll. Zwar bleibt Hegel partiell im Recht gegen Kierkegaards haltlosen Subjektivismus sowie gegen Feuerbachs abstraktes und naturalistisches Gattungswesen, jedoch bedarf die Philosophie eines neuen Materialismus, den Hegels Geistphilosophie nicht bieten kann. Nur die Abgrenzung gegen den mechanischen Materialismus, der nicht sieht, daß auch die Menschen auf die Umstände einwirken, kann noch Hegel bewerkstelligen334. Den Schritt zur Materie als dem „In-derMöglichkeit-Sein" kann erst der Materialist selber vollziehen. Am Ende, wie gesagt, scheint Bloch den Akzent noch einmal zu verschieben. Daß Hegel die Geschichte der Philosophie mit seiner eigenen Lehre beendet, „ist beispiellos. Es wirkt wie der Wahn eines Solipsisten, der ernsthaft-praktisch . . . daran glaubt, er sei allein auf der Welt. . ."33S. 329
op. cit. 337. op. cit. 330/331. 331 E. Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Gesammelte Werke Bd. XIII, Fft. a. M. 1970, 197, 89. 332 Bloch 31971, 363. 333 op. cit. 364, 437. 334 op. cit. 394, 404; Immerhin habe Hegel das Arbeitsphänomen als erster so in den Griff bekommen, daß es „ökonomisch", jedoch nicht „ökonomistisch" begriffen werden kann. Auch knüpft Hegel selbst an Aristoteles' an, die auch in Blochs Materiebegriff eingeht. 335 op. cit. 442. 330
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Das Sollen wurde dem antiquarischen Denker „lästig", der zu einer erstaunlichen „Prozeßbremsung"336 greift und mit dem Sollen letztlich auch das „absolute Insichgehen", die „Tiefe" und die Innerlichkeit aus der Philosophie vertreibt, die ein Kant, trotz der von Hegel legitim kritisierten Abstraktheit seines Sollens, noch gekannt und vor ihrer völligen „Erscheinung" bewahrt hatte337. Hegel spottet zu Recht über den vermeintlich Einzelnen, „der nur in Beziehung zu sich selbst zu stehen glaubt, (und) nicht reicher (ist) als der allzu Allgemeine und nach außen Gewendete, der nur noch aus zwischenmenschlichen Beziehungen besteht"338. Aber Hegels Subjekt verfehlt die Mitte zwischen Innen und Außen durch die Er-innerung, die alles Innere als Äußeres in sich zurücknimmt, ohne es als Sollen und Postulieren überhaupt zuvor eingebracht zu haben.
3.2.2. Autoritäre Staatsphilosophie oder Gebunsstunde der kritischen Theorie? (H. Marcuse) Eine weitere Variante des ambivalenten Hegelverständnisses im heutigen Linkshegelianismus symbolisiert Herbert Marcuse, der Hegel in die zweideutige Rolle des Vaters der kritischen Theorie und des Konstrukteurs eines autoritären Staates zwingt. Wenn Bloch die utopischen Gehalte, nicht nur der Methode, sondern auch des Systems herausarbeiten wollte, so traut Marcuse vor allem der Dialektik die Fähigkeit zu, sowohl theoretisch-kritisch die Inadäquatheit der Fakten aufzudecken und im Bestehenden das Noch-Nicht-Seiende und durch jede Bestimmung auch Ausgeschlossene sichtbar zu machen, als auch als bestimmte Negation praktisch zu werden, anknüpfend an die sozio-historischen Zustände diese aktiv zu verändern339. Dialektik als negatives Denken und Handeln in einem, das ist die eine Seite von Hegels Philosophie; System und Verherrlichung des Bestehenden, das ist die andere. Denn wenn auch Vernunft für Hegel der Name für Denken und Wollen ist, für den kritischen Nachweis, daß eine Existenz ihrem Wesen noch nicht entspricht, und für die Freiheit, die sich in kontinuierlicher Negation erhält, so wird doch 336
337 338
339
op. cit. 444. op. cit. 489ff. ebd. H. Marcuse, Reason and Revolution. Hegel and the Rise of Social Theory, Boston 71969, XV, XII. Alles zunächst folgende in der anspruchsvollen „Note on Dialectic", op. cit. VII-XIV.
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letztlich Praxis in reines Denken aufgelöst340; die Philosophie schließt sich in sich ab und überhöht das Bestehende mit metaphysischem Glanz341. Das Wahre ist immer noch nur das Ganze, aber das Ganze ist heute für Marcuse wie für Adorno das Falsche, eine Gesellschaft, die den status quo perpetuiert und jede Opposition in ihre Eindimensionalität integriert. Die populäfe Konsequenz, die Marcuse aus dem globalen Verdacht einer totalen Negativität ableitet, ist die bekannte „große Weigerung", eine Art von verzweifelter Praxis, die ähnlich wie Adornos Philosophie den Praxisverlust der Frankfurter Schule augenfällig demonstrierte. Die Hegelauslegung von 1941 bleibt freilich noch auf dem Boden eines weniger spektakulären Begriffs einer kritischen Praxis, die Hegel noch mehr verdankt als die spätere abstrakte Negation des Ganzen342. Denn sowohl der junge als auch der ältere Hegel werden zum Ahnen der kritischen Theorie erklärt. Bereits der junge Hegel verfolgt theoretisch und praktisch kritische Intentionen. Sein Begriff des Volksgeistes läßt Montesquieus Ideen, nicht die der Blubo-Mystiker durchscheinen343. Die politischen Kampfschriften zeigen einen kritischen Zeitgenossen, der die verrotteten Zustände mit ihrem wahren Wesen konfrontiert344. Alle endlichen Dinge, so lehrt schon der junge Hegel, sind „negativ" und ohne Bestand345. Die Phänomenologie entfaltet die Philosophie einer selbstbewußten Menschheit, „that lays claim to the mastery of men and things and to its right to shape the world accordingly, a philosophy that enunciates the highest ideals of modern individualist society"346.
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op. cit. IX. Aus der kritischen Philosophie wird „a neat and comprehensive system which, in the end, accentuates the positive emphatically", op. cit. XII. Daß die von Dante entlehnte große Weigerung „abstrakt" bleiben muß, kann hier nicht ausgeführt werden. Nur scheint angesichts des theoretischen Defizits der Sozialwissenschaft insgesamt der Anspruch einer Einsicht in die totale Negativität global, ganz zu schweigen von der erkenntnistheoretischen Unmöglichkeit, sich eines Standorts zu vergewissern, der dann, würde die totale Negativität herrschen, von ihr ausgenommen wäre. Hätte Marcuse recht, so wäre auch seine „Weigerung" nur der schlechte Reflex dessen, wogegen sie aufbegehrt. Inwieweit die „Weigerung" bei Marcuse ein Heideggersches Erbe sein könnte, läßt Maurer ahnen, R. K. Maurer, Der angewandte HeideggerHerbert Marcuse und das akademische Proletariat, in: Revolution und Kehre, Fft. a. M. 1975, 62 ff. Marcuse 71969, 32. op. cit. 49ff. op. cit. 66. op. cit. 97.
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Die logische Form dieser kritischen Theorie grenzt Dialektik als Prozeß von den statischen Kategorien des common sense ab. Die Welt des Alltagsverstandes ist noch nicht die Welt, wie sie sein sollte. Jedes Ding muß nach dem Prinzip der Negativität werden, was es noch nicht ist, um zu sein, was es wirklich ist347. Die Unaufhaltsamkeit dieses ÜbergehenMüssens hat ihre Parallele in der späteren Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen348. Wie jedes Ding in seine Negativität umschlagen muß, so zeigen sich beim legitimen Erben Hegels die Krise und der Kollaps als wesentliche Erscheinungsform des sozialen Systems349. Die Denkgesetze, welche die Wesenslogik entwickelt, sind zerstörerische Kräfte für eine schlechte Realität. „Thought is herewith installed as the tribunal that contradicts the apparent forms of reality in the name of their true content. The essence, ,the truth of Being', is held by thought, which, in turn, is contradiction"350. Die unerhörte Form der Hegeischen Logik, die anders als die traditionelle Metaphysik die abstraktesten Begriffe mit den inhaltsreichsten gleichsetzt, antizipiert das wahre Wesen, das sie Vorscheinen läßt, solange die Wirklichkeit noch hinter ihrem Begriff zurückbleibt. „The world of fact is not rational but has to be brought to reason, that is to a form in which the reality actually corresponds to the truth. As long as this has not been accomplished the truth rests with the abstract notion . . ."3S1 Die Hegeische Logik, nicht nur als mystifikatorischer Spiegel der desolaten Zustände, sondern geradezu umgekehrt als Antizipation des geglückten Lebens, das ist die erstaunliche Wendung, die Marcuse ähnlich wie Bloch Hegel abgewinnt. Soziologisch konkret heißt dies, daß Hegel nicht nur die bürgerliche Gesellschaft kritisiert, indem er zeigt, daß sie zwangsläufig mit einem autoritären Staat schwanger geht352, sondern Hegels Ablehnung dieser Gesellschaftsform impliziert, daß Hegel l. diese Gesellschaft nicht für die rationale Gemeinschaft der Menschen halten kann353, daß er 2., auch positiv, das Bild einer wahren universalen Gemeinschaft antizipiert, in der die Individuen mit dem Allgemeinen endlich versöhnt werden können354. Aber hatten die Linkshegelianer nicht 347 348
349 350 351 352 353 354
op. cit. op. cit. op. cit. op. cit. op. cit. op. cit. op. cit. op. cit.
124. 137. 148. Auch für Marcuse ist Hegel in diesem Sinne Kryptomaterialist. 149. 156. 59, 61, 79, 174, 202, 203, 209, 231. 60. 83, 88, 202.
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immer kritisiert, daß diese „wahre" Gemeinschaft für Hegel schon in einem eminenten Sinne „da" war? Hat sich Hegel nicht dem Staat seiner Zeit oder dem Preußens angepaßt? Gilt nicht, daß auch Hegels Philosophie zu „ihrer" Zeit gehört? Marcuse möchte beides behaupten. Einmal ist da „Hegel I", sozusagen der Vater der kritischen Theorie, dann ist da „Hegel II", der uns bekannte Akkommodationsphilosoph, gegen den Marcuse sogar die Argumente der liberalen Kritiker einsetzt, die ihm Universalismus vorwerfen. Wieder ist es bereits der junge Hegel, der die kritische Theorie umschlagen läßt in eine Philosophie, die vor der historischen Notwendigkeit kapituliert, mit der eine Kluft zwischen Individuum und Staat aufbricht. Die Verfassungsschrift identifiziert Freiheit und Notwendigkeit355, sie bezieht Stellung für den „Machtstaat"356, läßt allein den Krieg die Konflikte der Völker entscheiden, enthält „a distinct subordination of right to might"357, die liberale Freiheit der Einzelnen wird dem Staat geopfert358. Werk für Werk läßt Marcuse „Hegel " dem „Hegel I" gegenübertreten. Das System der Sittlichkeit spiegelt die Entwicklung eines liberalen politischen Systems zum autoritären Staat, der allein noch die Antagonismen der Gesellschaft bändigen kann359. Nur noch als Exemplare, nicht mehr als Individuen tauchen die Menschen fortan in Hegels Philosophie auf. „The individual is determined not by his particular but by his universal qualities, for instance, by his being a Greek citizen, or a modern factory worker, or a bourgeois"360. Die Phänomenologie, einerseits das Dokument der begriffenen Selbsterzeugung der Gattung, wendet sich andererseits endültig ab von der Orientierung an der tatsächlichen Geschichte, an Arbeit und konkreter Sozialität. Denn Hegel denkt von jetzt an vom Ende der Geschichte her, in der es nichts Neues zu erwarten gibt361. Die Begeisterung für die Französische Revolution muß nach der Einsicht in ihre blutigen Folgen einer Philosophie weichen, welche die Versöhnung mit dem Bestehenden all den Kontingenzen vorzieht, die ein neuer Umbruch mit sich bringen müßte. Der Zusammenbruch von Hegels progressiven Ideen in der Realität stimuliert die Flucht in den „reinen", 355 356 357
äse 359 360 361
op. cit. 33. op. cit. 54. op. cit. 55. ebd
op. cit. 59. op. cit. 71. op. cit. 91 ff.
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entsoziologisierten und enthistorisierten Geist, der die Revolution in Kunst, Religion und Philosophie aufhebt. „Freedom and reason are made activities of the pure mind and do not require a definite social and political order as a pre-condition, but are compatibel with the already existing state"362. Logik und Rechtsphilosophie werden aus dem Regal der Lehrbücher der kritischen Theorie wieder in den Giftschrank bürgerlicher Ideologien zurückgestellt. Denn Hegels „Idealismus" setzt die Trennung der geistigen von der materiellen Sphäre der Produktion voraus, seine Gültigkeit wird diskreditiert durch die Klassensituation der Philosophen, welche, von den befreit, die bestehende Gesellschaft transzendieren können363. Aber eben nur in Gedanken läßt sich die Freiheit erreichen, die in der Welt dem Handeln verwehrt bleiben muß. „Only thought, pure thought, fulfills the requirements of perfect freedom, for thought »thinking' itself is entirely for itself in its otherness . . ,"364. Wie die Phänomenologie so eleminiert die Logik die Geschichtlichkeit, die im kritischen Denkstil angelegt war365. Trotz der Behauptung der Antizipation der „wahren" Gemeinschaft kehrt der Akkommodationsvorwurf in der Marxschen Version wieder, d. h. als Lüge des Prinzips, nicht als moralische Anklage366. Denn es ist wieder die schlechte Realität der autoritären Gesellschaft, welche sich ihr philosophisches Spiegelbild schafft: „It is not an inconsistency in Hegel's system that individual freedom is thus overshadowed by the authority vested in the universal, and that the rational finally comes forward in the guise of the given social order. The apparent inconsistency reflects the historical truth and mirrors the course of the antagonisms of individualist society, which turn freedom into necessity and reason into authority. Hegel's Philosophy of Right, to a considerable degree, owes its relevance to the fact that its basic concepts absorb and consciously retain the contradictions of this society and follow them to the bitter end. The work is 362 363 364
365
366
op. cit. 92. op. cit. 163. ebd. Daß Hegels Spekulation eine „Ontologie" sei, die ihre eigenen geschichtlichen Elemente letztlich endiistorisiere, hatte Marcuse schon in seiner Heideggerianisch-Diltheyschen Habilitationsschrift zu zeigen versucht. H. Marcuse, Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit, Fft. a. M. 1932, 227, 340, 346, 367f. Siehe dazu Maurer 1965, 132 f. Manchmal allerdings läßt sich Marcuse zu globalen Vorwürfen hinreißen, so nennt er Hegel „the official -ideological spokesman for the Prussian state" oder „the philosophical dictator of Germany", Marcuse 71969, 169, 171.
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reactionary in so far as the social order it reflects is so, and progressive in so far as it is progressive"367. „Hegel II" beginnt den „Hegel I" jetzt sogar zu verdrängen, heimlich unterstützt von einem im Hintergrund bleibenden Marx. Denn Hegel nimmt schon die Uberflüssigkeit der Theorie vorweg. Solange die Welt irrational war, mußte die Theorie das Bestehende transzendieren und als Idealismus auftreten. „When the given order is taken as rational, idealism has reached its end"368. Jede weiterlebende Theorie wäre utopisch, ein bloßes Belehren der Welt, die es quasi schon besser weiß als jede Theorie369. „. . . Hegel renounces critical theory . . ."37° Hegels alter ego verspielt den Kredit, den der kritische Theoretiker Hegel bei Marcuse hatte. Die traditionellen Vorwürfe stellen sich ein371, Hegel verrät seine höchsten Ideale. „His political doctrine surrenders society to nature, freedom to necessity, reason to caprice"372. Die Potentiale der Emanzipationsphilosophie werden geschichtsphilosophisch vertan. Der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit endet in Hegels Gegenwart, der Weltgeist als hypostasiertes Subjekt treibt die Geschichte voran, indem er die Individuen als Mittel einsetzt373. Da jeder Übergang zu einer „neuen" Stufe des Geistes gleich als Fortschritt zu einer „höheren" Verwirklichung gilt, kann Hegel der Gefahr des Historizismus nicht entgehen374. Auch Marcuse hatte einen aktuellen Anlaß für sein Hegelbuch. Wie ein paar Jahre später Popper und Cassirer so hat auch er die Geburt des Faschismus vor Augen. Ausdrücklich möchte er die Gegnerschaft zwischen Hegel und dem Faschismus beweisen375. Dieser Anlaß macht 367 368
369
370 371
372 373 374
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op. cit. 178. op. cit. 182. Hegel die Uberflüssigkeit der Theorie in den Mund zu legen ist die stärkste Verdrehung, die Marcuse sich leistet. Denn die Sollenskritik, die er hier als Indiz der überflüssigen Theorie auffaßt, ist doch gerade ein Hinweis auf die gegenseitige Tendenz, die (gegenüber Kant-Fichte) ungewöhnliche Hochschätzung der Theorie gegenüber allem „bloßen" Postulieren. Das Gegensatzpaar der Sollenskritik ist nicht „Idealismus-überflüssige Theorie", sondern „Theorie-Sollen". Siehe auch Theunissen (1) 1970, 39. Marcuse 71969, 183. Hegel unterdrückt die Moralität (op. cit. 200), deduziert metaphysisch die Erbmonarchie (op. cit. 217) und hebt den autoritären Staat von der Gesellschaft ab (op. cit. 215). op. cit. 218. op. cit. 229, 234. op. cit. 246. „We hope that the analysis offered here will demonstrate that Hegel's basic concepts are hostile to the tendencies that have led into Fascist theory and practice", op. cit. XV. Diesen Zusammenhang übersieht Theunissen (1) 1970, 28ff.
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vielleicht teilweise verständlich, warum Marcuse so stark das kritische und in seiner Terminologie „rationale" Element der „negativen Philosophie" Hegels herausarbeitet. Andererseits möchte Marcuse gleichzeitig auch die Marxsche Kritik an Hegel applizieren, ja er ist sogar bereit, die von Heller und Sabine vorgeschlagene machtstaatliche Deutung mit dem Schwerpunkt auf Universalismus, Macht, Krieg etc. zu übernehmen376. Bloch hatte nur die Absicht verfolgt, Hegel als einen Philosophen zu schildern, der zwei Seelen in seiner Brust trägt: die des Antiquars und die des Utopikers. Marcuse ist quasi gegen seinen Willen über den engen Dualismus schon hinaus, wenn er Hegel als Vater der kritischen Theorie, als Philosophen der Akkommodation, als Machtstaatslehrer und als nicht zum Vorläufer des Nationalsozialismus degradierbaren Denker auftreten läßt. Aber wenn damit auch die verschiedenen Rollen bereits schemenhaft sichtbar werden, die Hegel zu spielen hatte, so kann Marcuse doch genausowenig wie Bloch ein einheitliches Hegelbild gelingen, solange er sich vom linkshegelianischen Drehbuch der Hegeldeutung letztlich alle Auftritte verbieten läßt, in denen Hegel mehr zeigt als das vorgeschriebene Gesicht des Reaktionärs und kritischen Theoretikers. Marcuse übersieht die Spannung zwischen dem Vorwurf der Akkommodation an Preußen und dem der Machtstaatslehre, weil er beide sofort in die Schublade mit der Aufschrift „Reaktion" abzulegen versucht; er unterscheidet nicht scharf genug zwischen Hegel und seinen faschistischen Nachfolgern, weil er sich zu sicher ist, daß der Urahn der kritischen Theorie und Vater von Marx keine legitimen Söhne im rechten Zweig seiner großen Familie gehabt haben kann. Zwar zeigt Marcuse überzeugend, daß einige der „offiziellen" Ideologen des Nationalsozialismus (wie Hitler, Rosenberg, Schmitt, Krieck und Boehm) Hegel ablehnten377, andererseits verschweigt er die ganze nicht einflußlose Schule des nationalsozialistischen Rechtshegelianismus in Deutschland378, ja in seiner Heller und Sabine entlehnten Kritik am Universalismus der Hegeischen Staatslehre, an der Kriegsverherrlichung, am Historizismus und an der Abhebung des autoritären Staates von der Gesellschaft benennt er selbst jene Topoi, auf die man sich berief, als man Hegel als Vordenker des völ376
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Marcuse kritisiert die Standardgegner der liberalen Kritiker wie organizistische Staatslehre, fehlendes Völkerrecht und den sittlichen Krieg sehr deutlich, Marcuse 71969, 219, 221 f. op. cit. 409ff. Siehe hier III. 4. Marcuse verweist allerdings auf den italienischen Hegel-Faschismus von Croce und Gentile, op. cit. 402ff.
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kischen Staates feiern wollte. Nur ein sich in Marx oder Marcuse verwandelnder Hegel hätte selbst schon die Idee einer wahren „zukünftigen" Gemeinschaft oder die Vorstellung einer überflüssig werdenden Theorie entwerfen können; ersteres widerspricht der Hegeischen Überzeugung von der Vernünftigkeit des modernen Staates nicht weniger wie letzteres der Hegeischen Lehre von der Theoria. Ideologe einer neuen Gesellschaft war Hegel genausowenig wie Theoretiker des Proletariats (oder anderer materialistischer Erfüllungsgehilfen einer direkt praktischen Theorie). Freilich wird sich Marcuses Insistieren auf der kritischen Dialektik noch als außerordentlich fruchtbar für ein Verstehen der eigentümlichen kritischen Philosophie des Berner und Frankfurter Hegel erweisen. Jedoch erschließt sich diese Seite des Hegelschen Denkens erst dann, wenn man anders als Marcuse den Spuren der „kritischen Theorie" zu folgen bereit ist, auch wenn sie weder zum Vater von Marx noch zum Reaktionär Hegel führen.
3.2.3. Nicht-Identität versus Identität (Th. W. Adorno) Stärker als Bloch und Marcuse weiß sich Adorno der Hegelkritik Kierkegaards verbunden. Zwar bleibt auch für ihn die „Gesellschaft" das zentrale Problem des Hegeischen Systems, aber anders als seine Mitstreiter, die nur Marxens Gattungsbegriff von Feuerbachs abstraktem Gattungswesen und Kierkegaards Einzelnem absetzen, anders als sie ist Adorno bereit, der sonst für Marxisten „subjektivistischen" Kritik Kierkegaards mehr Raum zu geben379. Die Ambivalenz der linkshegelianischen Hegelauslegung tritt dadurch ein wenig hinter die Hegelkritik zurück, ohne jedoch auch hier ganz verloren zu gehen. Was Adorno mit Kierkegaard und teilweise noch mit Feuerbach verbindet ist die Parteinahme für das Einzelne oder (bei Adorno synonym dafür) das Nicht-Id entische, das vor dem Übergriff des totalen Systems und seiner Identität beschützt werden muß. Hegels System, so hatte Feuerbach es behauptet, enthält ein Sein nur als Anderssein der Idee von sich, Hegels Philosophie, so hatte Kierkegaard kritisch argumentiert, zwingt Denken und Sein in einer Identität zusammen, die vom Einzelnen „interesse-los" absieht. Aus dem gleichen Blickwinkel einer die Tradition 379
Adorno hat ein Kierkegaard seelenverwandtes Buch über Kierkegaard geschrieben, Th. W. Adorno. Konstruktion des Ästhetischen, Fft. a. M. 21962.
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der Philosophie bewußt in Frage stellenden neuen Logik der NichtIdentität lokalisiert auch Adorno das Zentrum der Hegeischen Philosophie in der Formel von der „Identität der Identität und der Nicht-Identität"380, die den Primat des Identischen schon aufscheinen lassen soll. NichtIdentität ist der logische Ort des Individuellen und Qualitativen, dessen, was nicht mit Anderem übereinkommt. Hegel degradiert es, wie es in der abendländischen Tradition seit Plato üblich ist, zum Zufälligen und Unwesentlichen, ein Schachzug, der es erlaubt, das Einzelne ins System zu zwängen381. Hegel bekundet „sein Desinteressement . . . beim Begrifflosen, Einzelnen, Besonderen; bei dem, was seit Platon als vergänglich und unerheblich abgefertigt wurde und worauf Hegel das Etikett der faulen Existenz klebte"382. Während Adornos Freund Horkheimer mehr vom Problem von Darstellung und Kritik ausging und gegen das „abgeschlossene" System und den idealistischen „Mythos" von Denken und Sein den Begriff einer kritischen Theorie und ihres „Interesses" an praktischer Veränderung herausarbeitete383, wendet Adorno die Sicht des „abschlußhaften"384, nicht wahrhaft das Werden erfassenden Systems385 in eine neue Dialektik um, mit all den Konsequenzen, die schon bei Feuerbach und Kierkegaard als gefährlicher irrationalistischer Abgrund der beginnenden Existenzphilosophie sich ahnen ließen. 380 Th W Adorno, Negative Dialektik, Fft. a. M. 21970, 17. Daß in der philosophischen Tradition des Abendlandes das Einzelne als das Zufällige und Unwesentliche beiseite geschoben wurde, das versucht in Adornos Geist KarlHeinz Haag zu beweisen. Zwar sind die Begriffe „Identität" und „Nicht-Identität" von Haag nur vage definiert, aber trotzdem erweist sich die Perspektive als historisch fruchtbar für ein Verständnis des Zusammenhangs von Ideenlehre, Hylemorphismus und Hegelscher Logik, die sich alle des Primats des Allgemeinen und Identischen gewiß sind. K.-H. Haag, Philosophischer Idealismus. Untersuchungen zur Hegeischen Dialektik mit Beispielen aus Hegels Wissenschaft der Logik, Fft. a. M. 1962. 382 Adorno 21970, 18. 383 Außer im berühmten Artikel über „Traditionelle und kritische Theorie" auch im Aufsatz, M. Horkheimer, Hegel und das Problem der Metaphysik (1932), in: Geschichtsphilosophie, Hegel, Montaigne, Fft. a. M. 1971, 84, 86; ders., Zum Problem der Wahrheit, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. IV., Heft 3 (1935), 328, 331 ff. Eine gute Darstellung der Horkheimerschen Hegelbeziehung bei Fr. W. Schmidt, Hegel in der kritischen Theorie der ,Frankfurter Schule', in: O. Negt (Hrsg.), Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, Fft. a. M. 1970, 17ff. 384 Adorno 21970, 23. 385 „Das Hegeische (System) war nicht in sich wahrhaft ein Werdendes, sondern implizit in jeder Einzelbestimmung bereits vorgedacht. Solche Sicherung verurteilt es zur Unwahrheit", op. cit. 36. Vgl. Kierkegaard 1846, Gesammelte Werke Bd. XVI, 1. Teil, 5 und S. Kierkegaard, Philosophische Brocken (1844), Gesammelte Werke Bd. X, 71. Weitere Parallelen Kierkegaard 1846, Gesammelte Werke Bd. XVI., 2. Teil, 55f. 381
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Philosophie, da ist sich Adorno mit Marx einig, darf „auf Totalit t nicht mehr hoffen", da der „Fundamentalcharakter jeglichen Allgemeinbegriffs vor dem bestimmten Seienden zergeht"386. Dem marxistischen Abgesang auf die klassische Theorie entspricht bei Adorno noch ein zus tzlicher logischer Pessimismus, der die Erfassung des Individuellen nur in einer paradoxen Anstrengung anzielbar macht. Denn wie Feuerbach das Individuelle einfach der Anschauung und dem Leben zu berantworten, dazu ist Adorno nicht bereit. Wenn jedoch die Begriffe, die stets das Gemeinsame, und d. h. das Allgemeine, repr sentieren, doch auch dem Individuellen Rechnung tragen sollen, dann mu man mit Hilfe des Denkens gegen das Denken denken, eine Sisyphusarbeit, die Adorno einzig einer negativen Dialektik zutraut. Die negative Dialektik n mlich geht aus aufs Individuelle und NichtIdentische, nicht aufs Allgemeine und Identische. Sie bedient sich der Art von „Negation", die der Marx der Pariser Manuskripte bereits als kritisches Element der Ph nomenologie anerkannt hatte. Jedoch setzt sie die ehemalige Durchgangsphase der Spekulation zum Ganzen, da ihr die Position, in der bei Hegel die doppelte Negation aufgehoben wurde, nur als die petitio principii der Identit tsphilosophie gilt. Denn Hegel unterschiebt die Position genauso wie er die Identit t voraussetzt. „Da die Negation die Positivit t sei, kann nur verfechten, wer Positivit t, als Allbegrifflichkeit, schon im Ausgang pr supponiert. Er (Hegel, H. O.) heimst die Beute des Primats der Logik ber das Metalogische ein . . ,"387. Nicht um die echten Objekte wird in Hegels Spekulation gewu t, sondern die Formel von der „Gleichheit mit sich" beweist f r Adorno wie f r Feuerbach die geistphilosophische Mystifizierung der Objekte, die in der „νόησις νοήσεως" sich aufl sen388. Der affirmative Schein verschwindet erst in einer negativen NichtIdentit ts-Dialektik, die das Einzelne nicht mehr l nger unter Oberbegriffe subsumiert und als Exemplar katalogisiert. Sie versucht den Schaden, den die Begriffe dem Objekt angetan haben, „wiedergutzumachen"389. An die Stelle der Systemphilosophie tritt deshalb das Denken in „Modellen", statt Klassifikationen umschreiben „Konstellationen" das Einzelne, die es hnlich „aufschlie en" wie eine Nummernkombination 386 387
388
389
Adorno 21970, 138. op. cit. 160. op. cit. 161. Das Wissen des Objekts ist „Gaukelei, weil dies Wissen gar nicht mehr das des Objekts ist, sondern die Tautologie einer absolut gesetzten νόησις νοήσεως". op. cit. 147.
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einen Kassenschrank390. Wie Feuerbach in Thesen und Aphorismen, wie Kierkegaard mit den Mitteln des Essays, der indirekten Existenzmitteilung, der Ironie, Rhetorik und Verführung, so schreibt der „philosophierende Intellektuelle" Adorno in Aphorismen, die den Affekt gegen das „Hauptwerk" spüren lassen391. Der Irrationalismus, der unerwünschte Begleiter jeder Parteinahme fürs Einzelne, scheint sich schon in der Form der Darstellung wieder anzukündigen. Nun müßte die ganze Polemik gegen Hegel wohl unverbindlich bleiben, wenn es Adorno bei den Formeln von Identität und NichtIdentität bewenden ließe, die zwar einen gewissen Reizcharakter seit Feuerbach und Kierkegaard besitzen, die jedoch auch den Nachteil einer kaum zu übertreffenden Vagheit mit sich herumschleppen. Meint man die „realen" nichtidentischen Einzelobjekte, eine formal-logische (Nicht-) Identität, den realen Prozeß der Konstituierung einer Ich-Identität, das alte Problem von Nominalismus-Realismus (auch ein ganzes Bündel verschiedenster Probleme) oder gar einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang einer zur Identität tendierenden Gesellschaft, die alles Einzelne unter ihr Tauschprinzip zwingt?! Gewisse Differenzierungen nimmt Adorno selbst vor, auch wenn der genaue Sinn der Begriffe fortwährend wechselt und schwankt, und die Münze Identität nicht nur floatet, sondern dauernd in anderen Währungen gehandelt wird. So unterscheidet Adorno einmal die Identität des persönlichen Bewußtseins im Sinne der Kantischen Apperzeption von der Identität der in allen Vernunftwesen gleichen Vernunft, die „Sichselbstgleichheit eines Gegenstandes" von der erkenntnistheoretischen Einheit von Subjekt und Objekt392. Der Zusammenhang zwischen dem „Ich-denke", das alle Vorstellungen begleiten muß, und der „logischen" Allgemeinheit des für alle gleichen Denkens läßt dabei die Notwendigkeit der dialektischen Erfassung von Individualität aufscheinen. Denn ohne die individuelle Identität des „Ich-denke" läßt sich „kein Vergangenes in einem Gegenwärtigen, damit überhaupt nichts Gleiches (festhalten)"393, dafür wiederum bedarf es der logischen Allgemeinheit eines in allen Menschen 390
391
392 393
op. cit. 164. J. Habermas, Th. W. Adorno. Ein philosophierender Intellektueller, in: Habermas 1971, 176ff. „Sein (Adornos) Hauptwerk ist eine Sammlung von Aphorismen. Sie darf getrost, als sei sie eine Summe, studiert werden", op. cit. 178 (Habermas meint die „Minima Moralia"). Adorno 21970, 143 Fußnote. op. cit. 144 Fußnote.
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gleichen Denkens. Der Bezug ist ein wechselseitiger. Ohne die logische Gleichheit könnte die Beziehung des Einzelnen auf sich nicht als die verstanden werden, die sich von allem Gleichen abhebt; ohne die individuelle Identität des jeweiligen Bewußtseins wäre das Allgemeine nicht erfaßbar. Entscheidend aber bei dieser noch nicht ungewöhnlichen Unterscheidung ist die „Gleichursprünglichkeit" beider Beziehungen, welche das eigentliche Scharnier der negativen Dialektik ausmacht. Die traditionelle Entscheidung für eine einfache Priorität des Allgemeinen oder einen den Wechselbezug übergreifenden Vorrang des Allgemeinen möchte die negative Dialektik gerade vermeiden. Genauso wie das Individuelle des Allgemeinen bedarf das Allgemeine des Individuellen. Gleichursprünglichkeit heißt allerdings bei Adorno gerade nicht, daß beide Seiten des Gegensatzes die Stelle des traditionellen „Ursprungs" besetzen. Zwar muß der einseitigen „Identität in der Nichtidentität" die „Nichtidentität in der Identität" kontrastiert werden, aber deswegen ist Dialektik keineswegs wieder prima philosophia als „prima dialectica"394. Mit dem „Ganzen", das unweigerlich dahin ist, muß auch der „Ursprung" abdanken. Der linkshegelianische Emanzipationsanspruch schlägt hier in der logischen Analyse noch durch. Nicht nur die Negation Gottes ergibt erst die Position des Individuums, sondern auch, so könnte man sagen, erst die Negation der Identität. Zwar bestimmt noch immer ein Ganzes alles Einzelne, aber das Ganze ist nicht mehr der „Geist", sondern die Gesellschaft, und dieses Ganze biegt sich nicht am Ende in seinen Anfang zurück, sondern ist selber durch und durch ein Negatives, das auf keine „Position" und in keine wahre „Identität" mehr zu bringen ist395. Mit der gleichwertigen Gewichtung von Identität und Nicht-Identität bleibt Adorno immer noch im Kreis des Hegeischen Denkens, und zwar sozusagen in der logischen Unterposition, die bei Hegel noch einmal vom Allgemeinen oder von der Identität übergriffen wird. Aber auch bei Hegel existiert so eine Wechselbestimmung von Individualität und Allgemeinheit, die ein nicht zu unterschätzendes Movens der dialektischen Bewegung ist. Alle qualitativ hochstehenden Deutungen haben diese Wechselseitigkeit auf ihre Weise anerkannt und gegen die simplifizierenden Deutungen Hegels vorgebracht, die ihm einfach einen Universalismus vor394
395
op. cit. 155. „Ist das Ganze der Bann, das Negative, so bleibt die Negation der Partikularitäten, die ihren Inbegriff an jenem Ganzen hat, negativ", op. cit. 159.
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werfen, ohne diese wechselseitige Bedürftigkeit zu erkennen396. Das angemessene Niveau der Hegelbeurteilung kann eigentlich erst erreicht werden, wenn auf dem Boden dieser Einsicht die weitergehende Frage nach dem über die Wechselbestimmung übergreifenden (oder nicht übergreifenden) Allgemeinen und Identischen aufgenommen wird. Für Adorno steht fest, daß das Übergreifen auf Kosten des Individuellen zustande kommt. Die Rechtshegelianer, das werden wir sehen, behaupten gerade umgekehrt, daß nur dadurch die „wahren" Interessen der Einzelnen realisierbar werden, und die Hegelianer der Mitte leugnen, daß es eine über die Wechselbestimmung übergreifende hypostasierte Identität bei Hegel überhaupt gibt. Adorno erfaßt Hegel also immer noch kongenial auch in der Kritik, die er vorbringt. Freilich wird die logische Form der Kritik erst verständlich, wenn man berücksichtigt, daß sie auf einem soziologischen Hintergrund erhoben wird, der neben die etwas verschwiegene emanzipationsphilosophische Motivation tritt. Und gerade dieser soziologische Aspekt trennt Adorno dann doch endgültig von Hegel. Wenn die Wendung zur NichtIdentität von Feuerbach und Kierkegaard inspiriert war, die Sicht des Ganzen als der Gesellschaft orientiert sich an Marx; sie bringt die Kritik der logischen Identität fast um allen Kredit. Keineswegs durch irgendwo ausgewiesene politisch-ökonomische Studien, die der verwandelten Gesellschaft dieses Jahrhunderts entsprechen, sondern durch stereotype Wiederholung des Theorems von der Tauschgesellschaft, die heimlich das Identifikationsprinzip fundiert397, wird die Beziehung von logischer Identität und Realität letztlich hergestellt. Damit wird nicht nur wie bei Marx, Bloch und Marcuse die Gesellschaft, die bei Hegel nur ein relativer Bereich des objektiven Geistes sein sollte, zum Ganzen, sondern auch die Position des Kritikers selbst bleibt eigenartig unreflektiert. Wenn das Ganze unter dem „Bann" steht, wie gibt es sich dann der negativen Dialektik zu erkennen, ohne diese selber mit dem Zwang der Identität zu affizieren?398 396
397 398
Gut herausgearbeitet haben dies fast alle Rechtshegelianer, besonders Rößler und die nationalsozialistischen Hegelianer, von der Hegeischen Mitte natürlich Ritter und am deutlichsten Gregoire. op. cit. 147ff. Mit dem Totalitätsanspruch und dem Verzicht auf die harte Arbeit der Polit-ökonomie geht bei Adorno wie bei Marcuse ein Praxisverlust Hand in Hand, den Wellmer sehr gut herausarbeitet. A. Wellmer, Empirisch-analytische und kritische Sozialwissenschaft, in: Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus, Fft. a. M. 1969, 54ff. Ein Indiz für diese fast intuitive Einsicht in das, was die Gesellschaft ist, scheint das
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Hegels Philosophie jedenfalls hat das Ganze gespiegelt, aber eben als Reflex der schlechten Realität, der die negative Dialektik — man weiß nicht wie — nicht verfallen sein soll. In kaum origineller Weise werden Marxens Vorwürfe wiederholt. Die Akkommodation ist also wieder keine moralische Verfehlung, sondern die Lüge des Prinzips, Hegels Philosophie so „unwahr" wie die Gesellschaft, „die das Substrat seiner Philosophie ausmacht"399. Die „Vergötzung" des Staates bedeutet nicht bloß eine „empirische Aberration oder unwesentliche Zutat"400. Hegel drückt begrifflich genau aus, was ist, ohne es kritisch zu entlarven. Denn die Individuen dünken sich zwar „autonom", sind es aber nicht, sondern sind in der Tat unter den gesamtgesellschaftlichen Zwangszusammenhang geraten, den Hegels Philosophie als begrifflichen reproduziert401. Wie die politische Philosophie entlehnt auch Hegels Weltgeist seine angebliche Rationalität „der Irrationalität des Weltlaufs"402. Denn auch die Geschichte entwickelt sich de facto über die Köpfe der Einzelnen hinweg. Der Weltgeist, der sich als mystifiziertes Geschichtssubjekt gewaltsam, mit Zwang und Notwendigkeit durchsetzt, gehört zum Bestand einer „Ideologie der Naturgeschichte"403. Ein wahrhaft Herrschender aber kann er nicht sein, da, was „kein Partikulares erträgt . . . sich selber als partikular Herrschendes (verrät)"404. Adorno, seit Kierkegaard vielleicht der Hegelianer, der sich am meisten um den Einzelnen sorgte, war überzeugt, daß „heute die Spur des dauernde Gerede vom „Wesen" und von der „verdinglichten" Methode, durch das der große Ontologiekritiker zumindest in eine ontologisierende Sprache zurückfällt. 399 Th W Adorno, Aspekte, in: Adorno 21966, 44. 400 op. cit. 41. 401 Manchmal entsteht der Eindruck, als ob sich die Individuen, trotz des „totalen" Banns, wenigstens partiell in der Gesellschaft wiederfinden können, Th. W. Adorno, Gesellschaft, in: Aufsätze zur Gesellschaftstheorie und Methodologie, Fft. a. M. 1970, 140; M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie (1937), in: Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze, Fft. a. M. 1970, 28. 402 Adorno 21970, 297ff. 403 op. cit. 348. 404 op. cit. 309. Die Kritik am Hegeischen Weltgeist, der als Naturgewalt in der Geschichte herrscht, steht in der Tradition der „Dialektik der Aufklärung", deren Bedeutung für Adornos Denken wir hier nicht gerecht werden können. Adorno und Horkheimer hatten dort die These vertreten, die Vernunft regrediere um so stärker auf Natur, je mehr sie sich als absoluten Gegensatz zur Natur zu behaupten suche. Weder Adorno noch Horkheimer waren bereit, den Marxschen Optimismus, der den Fortschritt der Freiheit an den der Produktivkräfte koppelte, weiter zu teilen, als sie erkannten, wie die technisch befreiende Vernunft selbst wieder zur „Fessel" wird, wie die wachsende Beherrschung der äußeren Natur Hand in Hand geht mit der Unterdrückung der inneren sowie mit der Herrschaft von Menschen über Menschen.
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Menschlichen einzig am Individuum als dem untergehenden zu haften scheint"405. Hegel war ihm der Vollstrecker der abendländischen Unterdrückung des Individuums, er selbst verstand sich als dessen Kritiker, der dem Vollender der klassischen Philosophie den Begriff eines Individuums entgegenhält, dessen Herkunft zwischen dem realen Humanismus Marx* und der Erinnerung an den liberalen Bildungsbürger eigenartig im Dunkel verbleibt406. Gegen das Drängen seiner Schüler hat er recht daran getan, die Gestalt des bürgerlichen Individuums nicht zurückzulassen, solange die Ablösung des alten Subjektes durch ein neues mehr der Traum mancher gegenwärtiger Marxisten als Realität war (und blieb)407. Aber seine verzweifelte und anrührende Trauer über fast verblichenen Glanz und heutiges Elend des Einzelnen hat Adorno doch weit von dem entfernt, was ihn mit Hegel, mehr als er wußte, weiter hätte verbinden können. Mehr Emanzipationsphilosoph als liberaler Kritiker oder liberaler Verwandter Hegels hat er seinen quasi in Pessimismus getauchten Anspruch auf Befreiung bis zum bitteren Ende durchgehalten. Wie seine großen Vorkämpfer ist er der Gefahr des Irrationalismus nicht ganz entgangen, wie Marcuse konnte er seine eigene Position im „totalen" Verblendungszusammenhang nicht mehr legimitieren; in eigenartiger ReOntologisierung hat er die Gesellschaft zum Gesamtsubjekt hypostasiert, dessen drohende Allgewalt der Praxis nur noch minimale Freiheitsräume übrig zu lassen schien — eine, in der Tat, prekäre Situation für ein Denken, das auf dem schmalen Grat zwischen verabschiedeter Philosophie und doch noch betriebener Theorie als kritische Praxis seine Balance zu halten versucht! Daß die Möglichkeit der Einsicht in die gesellschaftlichen Zwänge ein gewisses „Darüber-Hinaus-Sein" des Subjekts anzeigen könnte, darauf wollte Adorno nicht mehr hoffen. Dabei hätte ihm schon die noch bestehende Kraft der Reflexion Anlaß sein können, dem Hegel näher zu bleiben, der das Individuum in der nicht (völlig) geschlossenen 405
406
407
Th. W. Adorno, Monade, in: Minima Moralia, Fft. a. M. 1970, 198; „Aufstieg und Niedergang des Individuums" auch bei M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1947), Fft. a. M. 21974, 124ff. Adorno war gewiß ein „Philosoph des realen Humanismus", der nicht nur in der Welt des schönen Scheins, sondern auch auf dem härteren Boden der Geschichte Humanismus realisiert sehen wollte; diese Einstellung sollte man allerdings anders als A. Schmidt nicht als bloße Antithese zum Humanismus des Bürgertums deuten, siehe A. Schmidt, Adorno — ein Philosoph des realen Humanismus, in: Neue Rundschau 80. Jg. (1969), 654ff. Siehe J. Habermas, Vorgeschichte der Subjektivität und verwilderte Selbstbehauptung, in:Habermas 1971, 191.
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„Entzweiung" im Wissen um seine Gefährdung zu bewahren suchte408. Wie Hegels System mit seiner letztlich nicht zu leugnenden Akkommodationstendenz der Kritik der Linkshegelianer nicht immer entgehen kann, so bleibt Hegel andererseits ein legitimer Kritiker seiner linken Schüler, die wie Adorno einen Gesellschaftspessimismus zelebrieren, der nicht weniger realitätsfern sein dürfte als der Hegeische Versöhnungsoptimismus409.
408 409
Siehe das Schlußkapitel des zweiten Bandes: „Hegel und das Ende des Individuums". Pessimismus und Optimismus sollen nicht nur-subjektive Einstellungen, aber doch Haltungen bedeuten, in die neben unleugbaren historischen Erfahrungen zuviel an subjektiver, historisch nicht-legitimierter Psychologie eingegangen ist.
III. Die rechtshegelianische Akklamation zum Universalismus und die korrespondierende „liberale" Kritik Die stärkste Anpassung an die Politik ihrer Zeit haben die Rechtshegelianer vollzogen1, die, statt in Hegel den Komplicen der Restauration zu bekämpfen, in ihm den heimlichen Verbündeten der preußisch-konservativen Politik, der Bismarck-Zeit oder sogar des Nationalsozialismus begrüßten. Dies mag einer der Gründe gewesen sein, warum die Linkshegelianer und die Hegelianer der Mitte diese Gruppe nahezu völlig aus der Diskussion ausschalteten. Die Rechtshegelianer des Dritten Reiches wurden dazu im Zuge einer ungeschehenen Vergangenheitsbewältigung verdrängt und sind, mit den Worten von Topitsch gesagt, so etwas wie eine Leiche im Keller der akademischen deutschen Philosophie. Vergessen sind die Rechtshegelianer schließlich, weil sie dort, wo sie, wie bei Hermann Heller, Topitsch, Popper u. a., erwähnt werden, in ihrem Niveau völlig unterbestimmt sind. Das ist um so bedauerlicher, als der alte Rechtshegelianismus mit Gestalten wie Erdmann und Constantin Rößler ein Niveau der Deutung entwickelte, das nahezu alle Säulen der hegelianisch mittleren Auslegung in seine Darstellung einbezieht und an entscheidenden Punkten eine Abgrenzung zu den konkurrierenden Schulen erlaubt. Bildlich gesagt, schon der alte Rechtshegelianismus benutzte die grundlegenden Bausteine einer anspruchsvollen Deutung, das Haus, das er daraus baute, unterschied sich jedoch von dem der Linkshegelianer und dem der Hegelianer der Mitte. Auch die Rechtshegelianer des Dritten Reiches lassen sich nicht einfach als Faschisten abqualifizieren, deren Hegeldeutung sich durch die Politik ihrer Repräsentanten automatisch desavouiert. Wie die Linkshegelianer eigentlich selbstverständlich ernst genommen werden, obwohl sie nicht weniger radikal waren als die Rechtshegelianer, meint man heute, sich die Auseinandersetzung mit der rechten Gruppierung ersparen zu können. Das wäre nicht verhängnisvoll, wenn 1
Hatte bei den Linkshegelianern die Anlehnung an den „Zeitgeist" die politische Position bestimmt, so verursacht beim Rechtshegelianismus der Glaube an die Vernünftigkeit des Wirklichen eine Anpassung an die Politik der jeweiligen Zeit und die „Vernunft" der vorhandenen Institutionen.
Rechtshegelianische Akklamation zum Universalismus und liberale Kritik
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man nur die offensichtlich „faschistischen" opuscula der Binder, Larenz und Häring im Auge hätte. Es bedeutet jedoch einen Substanzverlust für die Diskussion, wenn diese Einstellung die Auseinandersetzung mit dem Universalismus dieser Auslegung verhindert, wie er in den ernsthaften Werken von Häring oder in den akademischen Büchern der BinderLarenz enthalten ist. Als Beispiel einer an Preußen orientierten universalistischen Akklamation dient uns Erdmann (1.), als Repräsentant der Hegel zwischen Revolution und Reaktion plazierenden konservativen Auslegung Rößler (2.1.), als Bismarck-Hegelianer, die Hegel auf den organischen Machtstaat verpflichten wollten, Rößler und A. Lasson (2.2.). Nur als historische Brücke zwischen der universalistischen Deutung des Zweiten und des Dritten Reiches werden kurz G. Lasson, Kaufmann und Spranger erwähnt (3.), bis wir schließlich das neue Pendant der alten Hegeischen Rechten erreichen, jene starke Schule von Interpreten, die, wie Häring, Busse, Binder, Bülow, Larenz, Spann, Schmidt, Schönfeld und Dulckeit, Hegel zum Totalitaristen machen wollten. Analog zum neueren Linkshegelianismus verfügte diese Schule über ein Gesamtbild Hegels, das uns für den jungen Hegel Theodor Häring (4.1.), für den Hegel der Phänomenologie Busse (4.2.) zeichnen soll. Die Interpretationen der übrigen Autoren werden, da es sich um eine Schule handelt, in einer Gesamtskizze zusammengefaßt (4.3.). Dem Rechtshegelianismus in seinen zwei Hauptphasen, dem Hegelianismus des Zweiten und des Dritten Reiches, entspricht eine starke Strömung „liberaler" (d. h. am Rechtsstaat, am Individuum und an der „offenen" Gesellschaft orientierter) Kritik, die Hegel mit Universalismus und Bismarckpolitik verbindet und meist beide zugleich bekämpft. Sie wurde in Deutschland vertreten durch Ranke, Meinecke, Heller, Vogel, Rosenzweig und Litt (5.1.), in den angelsächsischen Ländern wird sie repräsentiert durch Dewey, Hobhouse, Vaughan, Sabine, Hook, Carritt und Plamenatz (5.2.). Der Verbindung von Hegel und Hitler korrespondiert eine Kritik am Totalitaristen Hegel, die populär und polemisch von Popper (5.3.I.), ideologiekritisch und wissenschaftstheoretisch von Topitsch (5.3.2.), geistesgeschichtlich von Cassirer (5.3.3.), im Zuge der Vergangenheitsbewältigung durch Apelt und v. Martin (5.3.4.) und in historischer Synopse ihrer eigenen Geschichte wie der der Rechtshegelianismus jetzt von Kiesewetter (5.3.5.) etabliert wurde. Was die Rechtshegelianer bei Hegel für die Zwecke ihrer Politik und Weltanschauung freudig finden, genau dies werfen die liberalen Ankläger dem Hegel vor, der sich am
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Die preußische Akklamation
Niedergang der Kulturnation zur Machtstaatsnation sowie an der Barbarei des Nationalsozialismus mitschuldig gemacht haben soll.
1. Die preußische Akklamation oder der Staat als höchster, sittlicher Organismus (J. E. Erdmann) Der aus Livland stammende Theologe Erdmann, der 1839 nach Halle berufen wird2, symbolisiert den Rechtshegelianismus der ersten Generation der Hegelschüler theologisch und politisch ohne Abstriche3. Sein Anliegen blieb allerdings wie bei Kuno Fischer eigentlich nur lebendig in den großartigen philosophiegeschichtlichen Untersuchungen, in denen er, wie dann auch Zeller, Prantl, Windelband und all die anderen, Hegels dialektische Geschichte der Philosophie in der organischen Ableitung einer Philosophie aus der anderen bewahrte4. Wie R. Haym das Ende der Systeme angezeigt hatte, so war Erdmann sich bewußt, daß die Zeichen der Zeit nicht ein Interesse am selbständigen Philosophieren signalisierten, sondern daran „zu sehen, wie von anderen philosophiert wurde"5, eine Einstellung, die Philosophie, wenn nicht systematisch, so doch historisch vor ihrem völligen Verlust bewahrte. Der aus Hegels System freigesetzte Historismus wurde damals, wie es Löwith einmal mit Croces Worten definiert, die „letzte Religion der Gebildeten, die noch an Bildung und Wissen glaubten"6, es war die Zeit, als der Begriff der „Geistesgeschichte" zu kursieren begann und sich die politische Frustration des Jahres 48 auch im akademischen Leben langsam ausbreitete. 2
3
4
5 6
Johann Eduard Erdmanns Leben (1805 — 1892) am besten nachlesbar in der Biographie von H. Glockner, Johann Eduard Erdmann, Stuttgart 1932. Als theologischer Rechtshegelianer hatte Erdmann sich schon in den dreißiger Jahren profiliert. J. E. Erdmann, Vorlesungen über Glauben und Wissen als Einleitung in die Dogmatik und Religionsphilosophie, Berlin 1837. Erdmann bekräftigt schon damals seine in unserem Sinne rechtshegelianische Anerkennung der Identität von Vernunft und Wirklichkeit (op. cit. 254ff.); er lehnte das bloße Sollen genauso ab wie Pantheismus oder Atheismus (op. cit. 234ff.). Es handelt sich um zwei Werke: J.E. Erdmann, Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der neueren Philosophie 6 Bde., Leipzig 1834-1853, Stuttgart 21931ff. und J. E. Erdmann, Grundriß der Geschichte der Philosophie 2 Bde., Berlin 1866, in Bd. II auch der berühmte Anhang, den Lübbe nach der 4. Auflage von 1896 neu auflegen ließ. Eine gekürzte Neuveröffentlichung des Bd. II des Grundrisses unter dem Titel „Der deutsche Idealismus. Geschichte der Philosophie", Bd. VI—VIII, Hamburg 1971, als Ergänzung zu Bd. I — V der Geschichte der Philosophie von Vorländer. Erdmann 41896, 914. Löwith 31969, 76.
Rechtshegelianische Akklamation zum Universalismus und liberale Kritik
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Erdmann freilich hatte, schon bevor er Bismarck-Anhänger wurde, nie auf der Seite der Linkshegelianer wie Rüge oder in den Reihen der Mitte wie Rosenkranz, Michelet oder sein Hallenser Kollege Hinrichs gestanden, die alle, gepackt vom Wirbel des Jahres 1848, politisch aktiv wurden, Rüge als Abgeordneter und aktivistischer, so richtig in seinem Elemente sich befindender Umstürzler, Rosenkranz als Vortragender Rat in Berlin und Michelet und Hinrichs als Verfasser von Pamphleten für die konstitutionelle Lösung der Verfassungsfrage. Zwar ließ sich auch Erdmann zu Pamphleten hinreißen7, aber was er politisch anstrebte, war in fast jeder Hinsicht von den Intentionen entfernt, für welche die Männer der Paulskirche kämpften. Keinen zentralistisch verwalteten Staat wie das „Bienenvolk" der Franzosen8 und kein „Reich", sondern eine Konföderation nach dem Muster der Vereinigten Staaten9, keine revolutionäre Umwälzung wie in Frankreich, sondern Veränderungen im Stile der englischen Revolutionen, in denen niemals „alle Institutionen in Frage gestellt wurden"10, lieber eine oktroyierte Verfassung als eine konstituierende Versammlung11, das sind Erdmanns politische Glaubensartikel. Voller Verachtung blickt er auf das Revolutions jähr zurück, „wo Professoren der Geschichte sich einbildeten, sie könnten Geschichte machen"12. Durch seine offen und fast derb vorgetragenen konservativen Ansichten schockierend, schließt Erdmann 1851 seine Vorlesungen mit den Worten: „Werfen Sie mich nun, nachdem Sie gehört haben, daß ich die Konföderation für die einzige Staatsform des ganzen Deutschlands halte, in die Klasse der Großdeutschen oder gar der Antediluvianer, — ich werde es mir gefallen lassen . . . weisen Sie mich, wenn ich wiederholt gesagt habe, die Hauptsache bei einem Gesetz sei nicht, daß es einen parlamentarischen Ursprung hat, sondern daß es vernünftig ist, der Familie Absolutus zu, ich werde dazu schweigen, um so mehr, da ich wirklich eine Antipathie gegen alles Relative und Halbe habe, — nennen Sie mich, wenn ich mit Bitterkeit 7
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J. E. Erdmann, Über einige vorgeschlagene Universitätsreformen. Ein Votum, Leipzig 1848; ders., Die Zusammensetzung der ersten Kammer nach § 38 des Verfassungsgesetzes, Halle 1848; ders., Wie die Bienen einmal eine Republik machten. Eine Geschichte für Jedermann, erzählt von einem alten Bienenfreund, kostet nur einen Sechser, Halle 1848 (anonym). J. E. Erdmann, Philosophische Vorlesungen über den Staat, Halle 1851, 49. Ein teilweiser Wiederabdruck bei Lübbe 1962, 220-269. Erdmann 1851, 52. op. cit. 68. op. cit. 69. op. cit. 40.
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von denen gesprochen, die unser schönes Preußen aus der Zahl der Staaten streichen wollen, einen Stockpreußen, ich will den Namen gern tragen . . ,"13. Ein „Stockpreuße" ist Erdmann allerdings in gewissem Sinn gewesen, so recht das Pendant zu Rüge (in seiner antipreußischen Phase). Vehement verteidigt er die Majorate14, jene für Rüge wie für Marx exemplarisch naturwüchsige und durch keine Vernunft mehr legitimierte Institution, das Wahlrecht beschränkt er auf die vermögenden Grundbesitzer, die Gewerbetreibenden und Beamten15, und eine Verfassung wird für ihn auch 1851 noch nicht „gemacht". Die Frage, wer die Verfassung geben soll, hat gar keinen Sinn, so wenig wie die Frage, wer einem Volk seine „Mission" aufträgt. „Diese hat es von Gott, von Natur und Geschichte"16. Hatten Rüge und seine Freunde Hegel als Philosophen des reaktionären Preußens kritisiert, Erdmann nennt ihn voller Stolz den „Philosophen der Restauration", der diesen Namen dreifach verdiene. Denn gegen Kant habe Hegel die alte Metaphysik, die kirchliche Orthodoxie und die Substanz der sittlichen Mächte wiederhergestellt17. Kant und Fichte, so sagt er ein anderes Mal, waren die Denker der Revolution, Schelling symbolisiert das Napoleonische Weltreich und Hegel die Phase der Restauration18. Bei Erdmann kündigen sich die Tendenzen allgemein-politischer Art an, die in der Blütezeit der Bismarckpolitik die versprengten und vereinzelten Rechtshegelianer wie Rößler und Lasson ergriffen. Zwar liegt es Erdmann noch völlig fern, den Krieg als sittliches und kulturelles Ideal zu feiern oder Kosmopolitismus und Humanismus als lächerliche Ideale zu verketzern19, zwar ist sein preußischer Patriotismus noch nicht ein Natio13 14
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op. cit. 191/192. op. cit. 29, 57. op. cit. 119ff., 122. Die Koppelung von Grundbesitz und Wahlrecht soll allein in der Lage sein, die Verbundenheit mit der „Commune" zu garantieren. op. cit. 62. Daß Hegel die sittlichen Substanzen resümierte, lobt Erdmann, weil damit auch ,,das übergreifende Recht der Ganzheit" wieder zur Geltung gelangt. Erdmann "1896, 634f. Erdmann 1866 Bd. II, 594; Erdmann 21931 Bd. III, 3, 556. Der Krieg ist noch kein Selbstzweck, sondern nur ein „vorübergehendes Mittel" zur Wiedererlangung der normalen „Beziehungen" der Staaten untereinander; nur der Amtsträger verschmilzt mit dem Patrioten, nicht jedoch der Mensch, sofern er glaubt und Wissenschaft betreibt. Erdmann 1851, 189f. Anders als bei den Rechtshegelianern nach Erdmann gilt noch die „Menschheit" als höchstes Ideal der Nation, siehe J. E. Erdmann, Das Nationalitätsprinzip (1862), in: Ernste Spiele. Vorträge teils neu teils vergessen, Berlin 41890, 206 ff.
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nalismus mit imperialistischen Tendenzen, aber dennoch beginnt schon bei Erdmann die Glorifizierung der Sittlichkeit die lästigen Probleme der bürgerlichen Gesellschaft zu verdrängen. Ein Bewußtsein der „sozialen Frage" kann man Erdmann wohl kaum bescheinigen. Es sind Begriffe wie „Patriotismus" (fast schon ein Synonym für den ganzen subjektiven Willen des Staatsbürgers), „Nation" und „Volk", welche den Mangel zu kompensieren haben. An die Stelle der egoistischen Ansprüche der Einzelnen schiebt sich der organische, gewachsene Staat, der seinen Patrioten einen quasi selbst-losen Einsatz für das „Ganze" abzuverlangen beginnt. Erdmann greift das Instrumentarium der Hegeischen Rechtsphilosophie auf, wohl in dem Glauben, in ihm den Raster zu besitzen, der, auch nach den Erfahrungen von 1848, immer noch die synthetische Kraft besitzt, die Politik der Zeit auf den Begriff zu bringen. Tatsächlich aber wird das alte Begriffsgerüst mit neuem konservativ-etatistischem Inhalt gefüllt. „Der Staat ist der höchste sittliche Organismus"20, so lautet die Formel des nachrevolutionären preußischen Konservatismus, der den Staat die Früchte der gescheiterten Professorenpolitik ernten läßt. (1) Wie die Binder und Larenz in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts genauso nennt auch schon Erdmann den Staat einen „Organismus", der sich nicht als „bloße Summe" isolierter Atome, sondern nur als lebendige Einheit eines Ganzen mit seinen „Gliedern" soll verstehen lassen können. Das anschauliche Bild des Aristoteles von der Hand, die nicht getrennt vom Körper existieren kann, scheint für Erdmann den Schluß nahe zu legen, daß es kein Fürsich-Bestehen der Subjekte geben kann21. Zwar ist der Egoismus eine psychologische und soziologische Realität; aber allenfalls eine „Bande", nicht jedoch ein „gesunder" Staat wird durch den Eigennutz zusammengehalten. Der Egoismus, eine für Erdmann in ihrem Kern „natürliche" Eigenschaft des Menschen, ist, gerade weil er nur dem Menschen als Naturwesen zukommt, keine Basis des Zusammenlebens. Ähnlich wie später Binder, der stets versuchte, den Naturalismusverdacht vom Organismusvergleich fernzuhalten, so beruft sich auch Erdmann auf den eigentümlichen Zwitter eines „geistigen" oder „künstlichen" Organismus. Nicht der triebhafte Egoismus, sondern die geistige Einstellung der Bürger, welche „Pietät" oder „Patriotismus" heißt, fundiert die politische Gemeinschaft. „Darum ist der Staat ein übernatürlicher, d. h. ein künstlicher oder Kulturzustand . . ."22. 20 21 22
Erdmann 1851, 28. op. cit. 19. op. cit. 21.
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Noch lehrt der Rechtshegelianismus keine unreflektierte Identität der Individuen mit ihrer Gemeinschaft. Aber schon die Erdmannsche Identifizierung des Subjekts mit der patriotischen Gesinnung stellt die Verbindung der Einzelnen mit dem Allgemeinen nur noch über das Allgemeine her. Muß sich der Einzelne auch noch nicht präreflexiv an sein Volk gebunden und mit ihm eins fühlen, der geistigen Gesinnung bleibt doch nur die Bestätigung der affirmativen Freiheit übrig, die von vorneherein von der Identität der subjektiven und allgemeinen Interessen ausgeht. Freiheit „von etwas" oder gar eine gegen die Ansprüche des Gemeinwesens zu sichernde Freiheit, wie sie das angelsächsische moderne Denken inaugurierte, werden so vom Ansatz her ausgeschlossen. Was bleibt, trifft sich in der Konsequenz mit den naturalistischen Konzeptionen des Altertums23, auch wenn der geistphilosophische Anspruch die Folgen mit dem Mantel dialektischer Identität und Differenz bedecken soll. Die Individuen werden zu „Gliedern" des „geistigen" Organismus, der sie mit dem Patriotismus über den Verlust realer Freiheitsräume tröstet. (2) Wenn die Gemeinschaft als Organismus eine „sittliche" Lebensform darstellt, dann scheint die Zweideutigkeit der Organismusvorstellung zugunsten einer nicht-naturalistischen Staatslehre entschieden. Wie schon der Organismus-Begriff mit geistphilosophischem Anspruch auftrat, so soll auch Sittlichkeit nicht das bloße Abbild „natürlich" gegebener Sitten und Gebräuche sein. Anders als manche nationalsozialistischen Rechtshegelianer lokalisiert Erdmann den Unterschied zwischen der antiken und der modernen Sittlichkeit gerade darin, daß in der Neuzeit die Sitten nicht mehr unmittelbar gelten, sondern eine durch Reflexion vermittelte „zweite" Natur verkörpern24. Aber wie schon bei der OrganismusLehre so klafft auch bei der Definition der Sittlichkeit eine Lücke zwischen theoretischem Anspruch und ausgeführter Konzeption. Wie bei Hegel so soll auch bei Erdmann die Sittlichkeit das abstrakte Recht und die Moralität synthetisieren. Aber anders als bei Kant, für den die Errichtung des Staates auch für „ein Volk von Teufeln . . . auflösbar" sein muß25, anders als mit Hilfe der dichotomischen Trennung von Legalität und Moralität wird die Stufenleiter von Recht und Moral als ein 23
24 25
Man denke an die berühmte Geschichte bei Livius (Ab urbe condita, II, 32.8), die schon auf klassische Weise zeigt, wie das Organismus-Bild dazu dient, den Einzelnen einen quasi naturwüchsig feststehenden Platz anzuweisen. Erdmann 1851, 25. I. Kant, Zum Ewigen Frieden. Erster Zusatz (1795), A 60.
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fortschreitendes Ergänzungs- oder Aufstufungsverhältnis gefaßt, bei dem die jeweils höhere Sphäre neue, für das Bestehen des Ganzen notwendige Momente ins Spiel bringt, die durch die unteren Bereiche noch nicht garantiert werden können. Das „nur" legale Handeln in der Befolgung des für alle gleichen Rechts bedarf der guten Gesinnung der Patrioten, diese wiederum benötigt als Lebenselexier die in den Sitten und Institutionen habitualisierten Lebensäußerungen eines Volkes. Während in der Tradition der Vertragstheorien meist aus dem „rationalen" Vertragskalkül ein Rechtsstaat abgeleitet wird, ein Staat, der weder aus der guten Gesinnung der Einzelnen stammt noch von seinen „guten" Bürgern verlangt, daß sie gute Menschen seien26, beginnt die Sittlichkeit Recht, Sicherheit und Frieden als Zwecke des Staates abzulösen, genauso wie der Staat den Tribut einer staatsfördernden Gesinnung zu fordern anfängt. Das den Individuen abverlangte Vertrauen in die Vernunft der sittlichen Substanzen ersetzt die Forderung nach Rechtsgarantien. „Der Staat", so formuliert Erdmann im Tone auch der späteren rechtshegelianischen Sittlichkeitslehre, „ist kein bloßes Rechtsinstitut, und die Theorie des Rechtsstaates hat an mir keinen Anhänger, weil der Rechtsstaat nur ein aus einem Vertrage hervorgehender sein könnte und weil in einem solchen es sich nur um Rechtsobjekte, d. h. um erzwingbare Leistungen handelt, die Gesinnung aber ganz gleichgültig bleiben würde"27. (3) Die Ablösung des Rechtsstaates durch die sittliche Gemeinschaft hat das Tor geöffnet, durch welches in den folgenden Jahrzehnten etatistische Ansprüche in die rechtshegelianischen Staatslehren einströmten. Bei Erdmann freilich hat die Sittlichkeitslehre noch keinen totalitären oder machtstaatlichen Beigeschmack. Seine Wendung zu den sittlichen Institutionen, die auf einer differenzierten Analyse der „Substanzen" im Lichte der Politik der Zeit beruht, erinnert doch mehr an Hegels Restitution der „antiken" Macht der Sittlichkeit als an die neueren Versuche, welche die Substantialisierung des Rechts und der Moral als Mittel des politischen Integrationsdrucks benutzen. Das gute Leben der klassischen Tradition kann für Erdmann nur der Staat ermöglichen, weil nur der Staat der „höchste" sittliche Organismus ist. Zwar darf schon die Familie als sittliche Lebensform gelten, enthält sie 26
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Dies gilt für Hobbes und Kant, freilich schon nicht für Rousseau, der den Gegensatz des egoistischen bourgeois mit dem homme bereits durch die (antikem Vorbild abgelesene) öffentliche Gesinnung des citoyen überbrücken will. Kant freilich ging davon aus, daß erst eine gute Staatsverfassung moralische Bildung erzeugt und nicht umgekehrt. Erdmann 1851, 25.
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als „verklärte Naturgemeinschaft"28, als Naturbasis jeden sittlichen Lebens doch schon mehr als den juristischen Ehevertrag oder die moralisch gute Gesinnung29, aber die Übertragung ihrer Prinzipien auf die politische Gemeinschaft kann nur einen „Patriarchalstaat" entstehen lassen, eine Staatsform, in der die Staatsgewalt nach dem Vorbild der väterlichen Gewalt, die Rechtfertigung der bestehenden Verhältnisse in Analogie zum Erbrecht gedacht wird30. Erdmann aber ist in dieser Hinsicht sehr viel „moderner" als Kant. Denn das alte Abbildverhältnis von häuslicher und politischer Gemeinschaft möchte er (wie übrigens schon Hegel) nicht mehr als Modell der Staatslehre benutzen. Die Oikos-Lehre spiegelt sich nicht mehr in der Politik31. Wenn Erdmann auch kein Bewußtsein von der „sozialen Frage" hatte, die Realität der bürgerlichen Gesellschaft übersieht er keineswegs. Es ist nämlich die Gesellschaft, welche die patriarchalischen Verhältnisse in der Wirklichkeit durchbrochen hat, welche zugleich auch die Berufung auf Naturverhältnisse nicht mehr zuläßt. In ihr gelten die „künstlichen" Rechtsverhältnisse, allerdings so, daß auch sie nicht ausreichen, den sittlichen Staatszweck zu garantieren. Die Anerkennung der Individuen ist auch hier noch keine sittliche, sondern, statt des familiären Gefühls, das immerhin noch die natürliche Person als je einzelne respektiert, herrscht in der Gesellschaft (die Erdmann „Commune" nennt) nur der berechnende Verstand, für den die Individuen Eigentümer, nicht aber Menschen sind. „Die Commune ist ein Rechtsverhältnis, welches zwar zum Sittlichen veredelt ist dadurch, daß sie das allgemeine Wohl bezweckt und durch Glauben (Vertrauen) vermittelt ist, in welcher aber das Vertrauen nur auf Rechtsobjekte geht und darum Kredit ist ... Die Schätzung des Menschen ist hier der Census"32. Die Verpflanzung der gesellschaftlichen Prinzipien auf den Staat muß deshalb genauso unbefriedigend bleiben wie der Versuch, den Staat nach dem Bilde der Familie zu errichten. Die Gesellschaft, die ihre Prinzipien politisch durchsetzt, wird zum „Polizeistaat"33, dessen Oberhaupt nicht 28
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op. cit. 27. Erdmann meint mit diesem „mehr" wohl einerseits die „Liebe", andererseits die Familie als Institution der sittlichen Welt, wobei das Gefühl mehr ist als Moralität und die Institution mehr als ein Besitzverhältnis. op. cit. 29. Siehe hier IV. 6. l. Erdmann 1851, 28. Wie Hegel so verwendet noch Erdmann den altpolitischen Begriff der „Polizei" qua „Verwaltung".
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als „Vater", sondern als „Beamter" regiert, zum Verwaltungsstaat, in dem nichts der zentralistischen und despotischen Administration entgeht. Dabei bemächtigt sich die Verwaltung der alten Freiheitsräume im Namen des materiellen Wohls. „Die Ansicht vom Polizeistaat kann die revolutionäre genannt werden, indem erst seit den großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts dieses System der Zentralisation und des Despotismus im Namen des allgemeinen Wohls begonnen hat, mit welchem das bürgerliche Wohl gestiegen, dagegen die natürliche Freiheit und substantielle Sittlichkeit sehr abgenommen hat"34. Erdmann setzt wie Hegel den sittlichen Organismus des Staates über Familie und Gesellschaft. Aber während die politisierte Deutung von Familie und Gesellschaft (als Patriarchal- und Polizeistaat) noch Hegels Intentionen sinngemäß entspricht, Erdmanns weitere Aktualisierungen lassen sich nicht mehr mit Hegel vereinen. Die Familie weitet sich nämlich noch zur „Nation", die Gesellschaft zum „Volk"35. Die Politiker der anbrechenden fünfziger Jahre scharen sich um die Fahnen einer nationalen (d.h. patriarchalischen) oder legitimitätsorientierten (d.h. bürgerlichen) Politik, deren Repräsentanten die Professoren der Paulskirche (mit ihrer familiären Politik „beim Reben- und Gerstensaft"36) und Politiker vom Schlage eines Metternich sind, welche das kalte Berechnungsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft dadurch in Politik umsetzen, daß sie die Völker „mit Zirkel und Lineal" fusionieren. Der Staat als höchster sittlicher Organismus muß und darf nur die positiven Inhalte der extremen politischen Pole in sich vereinen. „FamiliePatriarchalstaat-Nation-Nationalitätspolitik" und jene andere Verkettung von „Gesellschaft-Polizeistaat-Volk-Legitimitätspolitik" treffen sich im Begriff des „Patriotismus", der weder kalte Verstandespolitik duldet noch sich dem Nationalismus des Reichsgedankens verschrieben hat. Gegen die kalte Vertragspolitik müssen Tradition und Natur ihr Recht erhalten, gegen das bloße Beharren auf dem „Naturwüchsigen" muß der Patriot die zukünftigen Institutionen ausspielen, die durchaus der bürgerlichen Verstandespolitik anvertraut werden können37. Patriotismus ist also für Erd34
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op. cit. 30. Erdmanns politische Formel für den Zeitgeist lautet: „Die Nationalität ist die gesteigerte Familiarität, die Volkstümlichkeit die gesteigerte Communalität" op. cit. 34; „Nation" meint bei Erdmann immer eine „natürliche", „Volk" immer eine „künstliche" Gemeinschaft, vgl. Erdmann 1862, in: Erdmann 41890, 208ff. Erdmann 1851, 40. op. cit. 42f., 57f.
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mann weder das, was man sonst Nationalismus nennt, noch überhaupt ein Begriff in dem „vaterländische" Inhalte dominieren. Im Gedanken des Patriotismus verbirgt sich vielmehr die ganze Formel der Erdmannschen Politik, welche sowohl „Achtung vor dem Hergebrachten" als auch „Rücksicht auf die kommenden Geschlechter"38 sein will, und zwar durchs „Festhalten der Idee oder des Vernünftigen"39. In concreto brechen aber auch diesmal wieder unparteiischer Anspruch und tatsächliches Resultat der Erdmannschen Staatsmetaphysik auseinander. Die Synthese von Legitimitäts- und Nationalitätspolitik wird überlagert von der Polemik gegen die „Professoren-Politik" der Paulskirche40. Im Grunde hing Erdmann, so meint Glockner zu Recht, noch immer an der ständischen Verfassung41, das Festhalten am „Naturwüchsigen", das er der abstrakten Politik gegenüberstellt, bedeutet nicht mehr als die Konservierung der Majorate. Die als politische Lösung angerufene „Vernunft" ist zwar nicht die Rugesche des Zeitgeistes, aber sie ist auch nicht die Hegeische Synthese von ewiger und zeitlicher Vernunft, sie ist nur ein ungeschichtlicher42 oder besser trans-geschichtlicher Maßstab, wodurch sich Erdmann wieder als Ruges Pendant bewährt. „Was vernünftig ist", heißt es in diesem Sinne, „das gilt für Vergangenheit und Zukunft, darum realisiert, wer das Vernünftige tut, den Willen des uns überdauernden Volkes oder den allgemeinen Willen, der wie Kant sehr richtig sagt, nicht das ist, was alle wollen, sondern was alle Vernünftigen wollen sollen"43. Die Beschwörung der immergleichen Vernunft hat Erdmann nicht davor bewahrt, genau das zu sein, was die Linkshegelianer Hegel vorwarfen, „der preußische Staatsphilosoph"44 par excellence. Hatte Hegel noch Institutionen beschrieben, die es im Preußen seiner Zeit gar nicht gab, bei Erdmann findet sich, außer einer vage großdeutschen Einstellung nichts, was über das Preußen seiner Zeit hinausweist. Erdmanns Staatsphilosophie muß, um sich mit der Realität decken zu können, sogar Hegeische Gedanken auslassen45. Hatte Hegel es noch sorgfältig ver38 39
40 41 42
43 44 45
op. cit. 58. op. cit. 59. Glockner 1932, 91. Erdmann 1851, 119ff., Glockner 1932, 97. Die Ungeschichtlichkeit kritisiert K. Larenz, Hegelianismus und preußische Staatsidee, Hamburg 1940, 43. Erdmann 1851, 60. Larenz 1940, 28. op. cit. 15ff. Glockner meint abschwächend, die Vorlesungen von 1851 seien „zeitgebundener" als die anderen Erdmannschen Schriften. Glockner 1932, 98.
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mieden, Preußen direkt beim Namen zu nennen, Erdmann bezeichnet sich nicht nur voll Stolz als „Stockpreußen", 1854 hält er auch unverblümt die laudatio auf Ihre Kgl. Majestät. „Preußische Staatsphilosophie" und „Hofphilosophic", meint er dort, sich an Hegels vermeintlichen Platz drängelnd, waren „in jener glücklichen Zeit" noch synonym46, nicht nur „das deutsche Wesen" ist von der Philosophie untrennbar, sondern auch Preußen hat den „im Himmel" geschlossenen Bund mit der Philosophie „treu gehalten"47. Voller Bedauern hat Larenz bemerkt, Erdmann habe „Volk" und „Rasse" noch nicht als das für Hegel „Erste" erkannt, genauso wie er den Führungsanspruch des geschichtlich dominanten Volkes, versteht sich des deutschen, noch nicht gesehen habe48. Noch ist der preußische Rechtshegelianismus als ehrlicher Konservatismus frei von imperialistischen, rassistischen, machtpolitischen oder gar totalitären Tendenzen. Und doch signalisieren Erdmanns Betonung der „organischen" Gemeinschaft, für welche die Individuen nur „Glieder" sind, die Ablehnung des „bloß" mechanischen, konstitutionellen, parlamentarischen Rechtsstaates, die Hervorhebung des Patriotismus und die einseitige Tendenz zur Abhebung des Staates von der Gesellschaft, wohin der Weg des Rechtshegelianismus führen würde. Die Ablehnung von liberalen Ideen jeglicher Art, die über das ökonomische hinausgreifen, wird von jetzt an zur rechtshegelianischen Plichtübung, der sich auch Erdmann schon unterzieht, wenn er die Liberalen seiner Tage nur „Libertinisten" nennen möchte49. Begünstigt freilich wird diese Entwicklung durch die konservative Schwenkung des Liberalismus selbst, die so manchen Hegelianer, von Rüge über Haym bis zu Oppenheim, Rößler und Lassen, zum mehr oder weniger konsequenten Bismarck-Anhänger deutsch-nationaler Provenienz werden ließ.
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J. E. Erdmann, Preußen und die Philosophie. Akademische Rede, gehalten zum Geburtstagsfest Sr. Majestät des Königs, Halle 1854, 11 und 11 f. op. cit. 20. Larenz 1940, 32, 35. Die Liberalen waren Erdmann nicht genug national, christlich und patriotisch-konservativ, Erdmann 1851, 37, 57.
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2. Die Akklamation der Bismarck-Hegelianer 2.1. Hegels Staatsphilosophie als universalistische Überwindung von Revolution und Reaktion (C. Rößler) Constantin Rößler, der in Halle studierte, wo sich der Einfluß Ruges mit dem Erdmanns und Hinrichs kreuzte, symbolisiert bereits die zweite Generation der Hegelschüler, die sich nicht mehr die Erdmannsche Zurückhaltung auferlegten, sondern mit vollen Kräften den Hegelianismus mit den neuen politischen Tendenzen verbanden, wie sie der Name Bismarck, das Dictum von der Zeit von „Blut und Eisen" und die skrupellose Machtpolitik der aufstrebenden Nationen bezeichneten. Rößler, der bereits 1862 Bismarck als Außenminister vorgeschlagen hatte und mit dem Blick auf Bismarck geschrieben hatte, „Eine Diktatur für einen Mann"50, hat, fast sein ganzes Leben lang, Bismarck publizistische Schützenhilfe gegeben51. Sein Hegelbuch aus Bismarckschem Geist veröffentlichte er bereits 1857, im selben Jahr, als auch Rudolf Haym seine Vorlesungen über „Hegel und seine Zeit" publizierte. Mehr produktive Weiterentwicklung Hegelscher Gedanken als akademische Hegelinterpretation im Stile Hayms war es ein Buch, das an Rang, Brillanz und Weite des Blicks doch dem Hayms vergleichbar ist, auch wenn Rößler nicht von der beliebten Akkommodation, sondern von einer konservativen Analyse des Verhältnisses von Gesellschaft und Staat ausgeht. Es ist an der Zeit, Rößlers Argumente wieder in die Diskussion einzubringen52. 50
H. Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, Leipzig-Berlin 1921, 187. 51 Rößler (1820-96), auf den das Wort „der Gelehrte als Politiker" gut paßt (H. Delbrück, Constantin Rößler, in: Erinnerungen, Aufsätze, Reden, Berlin 1902, 439), der GustavFreytag-Freund und Bismarck-Verehrer, ist ein Mann von ähnlicher geistiger Statur wie Haym, der sowohl eine große Staatslehre wie aktuelle historische oder literarische Artikel schreiben konnte (so den berühmten Aufsatz „Krieg in Sicht" von 1875 oder Essays über Goethe, Hamlet oder Wagners „Ring der Nibelungen"). 1859 hatte er eine Broschüre über „Preußen und die italienische Frage" verfaßt, die man zunächst allgemein Bismarck selbst zuschrieb, 1865 wurde er der preußischen Gesandtschaft in Hamburg als Pressereferent zugeteilt, 1872 gehörte er zu den Mitbegründern des „Vereins für Sozialpolitik", von 1877 bis 1892 leitete er das Literarische Büro, das die „Zeitungsausschnitte sowohl für den König wie für die Ministerien zu besorgen . . . (hatte)", Delbrück 1902, 454. Wie er schon in den sechziger Jahren sich nicht scheute, für Bismarck eine Diktatur zu fordern, so hat er noch in seinen letzten Lebensjahren die politische Welt mit dem Ruf nach der Diktatur schockiert, damit ankündigend, was sich im 20. Jahrhundert beweisen sollte, daß die glanzvolle Bildungswelt der deutschen Klassik, von der auch Rößler noch zehrte, vor politischer Torheit nicht mehr bewahrte.
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Rößlers Deutung verdient es, ganz besonders hervorgehoben zu werden, weil sie ihre Hegelsicht in eine geistesgeschichtliche Perspektive stellt, die zwischen reaktionären und revolutionären Staatsphilosophien eine konservative Mitte anstrebt. In einer großartigen tour d'horizon durch die Staatslehren von Plato bis zu Stein und Mohl wird Hegel als Synthese antiker und moderner Philosophie, vor allem aber als konservativer Staatsphilosoph geschildert, der die Einseitigkeiten und Abstraktionen der revolutionären Theorien ä la Montesquieu und Rousseau genauso vermeidet wie die der konterrevolutionären Lehren von Burke über die Romantiker bis zu den Legitimisten. Was Heller, Topitsch und Kiesewetter bei Rößler übersehen, weil sie (zu Recht) die Anlehnung an die Machtstaatslehre, an Nationalismus und Kriegseuphorie im Augen haben53, das ist der geistige Horizont seiner Deutung, die von einer ähnlichen Einschätzung des geistigen Standorts Hegels ausgeht wie heute Joachim Ritter und seine Schule. Nur zieht Rößler aus dieser Einschätzung gerade nicht die Konsequenz, Hegel mit der Französischen Revolution und der rechtsstaatlich garantierten Freiheit und Gleichheit der Individuen zu verbinden, sondern, gerade umgekehrt, Hegels Überwindung der einseitigen Theorien wird in seinem Universalismus und seiner Illiberalität verankert. Die Entwicklungslinie der revolutionären Theorien beginnt bei Montesquieus Idealen von Freiheit und Gleichheit und bei Rousseaus Freiheitsprinzip, dessen ideale Gestaltungen die Republik und die Demokratie sein sollten. Der deutsche Idealismus setzt für Rößler diese Tradition fort, die nach dem Zusammenbruch des Napoleonischen Reiches schließlich im Liberalismus weiterlebt. Dabei hat nach Rößler schon Kant den falschen Ausgangspunkt der französischen Theorien übernommen. Zunächst ist da das autonome Individuum, dann erst kommt der Staat, der die innere Freiheit des Einzelnen in der Außenwelt zu schützen hat. Diese Problemstellung trennt Rößler innere und äußere Freiheit nur „abstrakt", ohne die Ansprüche des umfassenden Staates selbst in Anschlag zu bringen. Fichtes Rechtsgedanke geht gleichfalls von den Einzelnen aus, die sich wechselseitig zwingen und einschränken, auch Fichte deduziert die Republik aus der unmittelbaren Selbstbestimmung der Subjekte. Damit potenziert er noch den Fehler Kants; denn jetzt wird das ganze Dasein vom einzelnen Ich aus konstruiert. Der Liberalismus, der das Erbe der 52
53
C. Rößler, System der Staatslehre, Halle 1857. Ein kurzer Ausschnitt davon bei Lübbe 1962,270-320. Sofern Rößler auch ein typischer Bismarck-Hegelianer war, wird seine Lehre zusammen mit der von Adolf Lasson referiert, hier unter III. 2.2.
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revolutionären Theorien antritt, fordert eine schrankenlose Freiheit, die nicht durch den Staat, die Bürokratie und den Zentralismus behindert wird. Wieder ist der konstitutionelle Rechtsstaat nur für die Einzelnen da. „Das einzig positive Ziel ist ihm (dem Liberalismus, H. O.) die möglichste Unabhängigkeit der Individuen"54. Der Fehler dieser ganzen Entwicklung liegt im Ausgang vom Individuum und seinen Rechten. So kann der Begriff von „wahrer" Freiheit nicht gefaßt werden, der sich erst als Freiheit zu etwas innerhalb eines organischen Ganzen definieren läßt. „Das gesellschaftliche Leben bildet einen Organismus aus, in welchem die individuelle Kraft nur ein Moment ist. Daß die Idee dieses Organismus in dem Individuum lebendig werde, das ist die wahre Freiheit . . . . Mit der wahren Freiheit hört aber auf, daß das Individuum den ganzen Inhalt seines Daseins unmittelbar selbst bestimme . . . . Es läßt sich durch die Idee des / Ganzen bestimmen"55. Der Liberalismus kann mit seinem Prinzip unbeschränkter ökonomischer und privater Freiheit den Völkern keine positiven, begeisternden Ideale geben, er ist nicht in der Lage, den moralischen Sinn des Staates zu erfassen. Letztlich bleibt seine Basis der Materialismus der Gesellschaft, jedoch so, daß nicht einmal alle Glieder der Gesellschaft vom Wohlleben profitieren können. Als der Sozialismus aufkam, zeigte sich bald, daß die liberalen Freiheitsrechte der besitzlosen Menge nichts nutzen, solange sie „verhungert"56. „Das parlamentarische System" war für die Liberalen „nicht ein Mittel, der Regierung positiven Inhalt und geistig-moralische Macht zu geben, sondern ein Mittel, die Regierung zu Gunsten der individuellen Sicherheit lahm zu legen . . . . Der Staat der liberalen Doktrin war nichts Anderes, als der Staat der materiellen Utilität als Rechtsstaat gefaßt"57. Den Geist der Zeit repräsentieren andererseits die von Rößler als „Reaktionäre" und „Konterrevolutionäre" eingestuften Schriftsteller58, vom großen Kritiker der Revolution Burke über Friedrich Schlegel, den Repräsentanten der Romantik, bis hin zu den de Maistre, de Bonald und von Haller, die man vielleicht als Legitimisten zusammenfassen könnte. Gegen das Ziel der bloß materiellen Wohlfahrt, gegen die abstrakte Gleichmacherei und gegen den Bruch mit der Geschichte setzten die Autoren der Gegenrevolution den moralischen Staatszweck, die indivi54
55 56 57
58
op. cit. 323. op. cit. 320/321. op. cit. 325. op. cit. 324. op. cit. 326ff.
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duelle Verschiedenheit der Personen und die historisch gewachsenen Rechte. Burke versucht den revolutionären Geschichtsbruch wieder in die geschichtliche Kontinuität zurückzunehmen, von Haller möchte den Staat auf das Naturprinzip der Herrschaft des Stärkeren und auf das Privatverhältnis als moralisches Band der divergierenden materiellen Kräfte gründen, Schlegel möchte den Kaiser als moralische Macht und die Kirche als spirituelle Anstalt erneuern; de Maistre und de Bonald lehren das Gottesgnadentum der bestehenden Mächte, und die historische Rechtsschule erhebt das instinktmäßige, bewußtlose Walten des Volksgeistes zum Prinzip. Mit der historischen Rechtsschule als Endpunkt hat sich für Rößler der Zustand geistesgeschichtlich vollendet, den Hegel mit dem Wort vom „Atheismus der sittlichen Welt" beschreibt, jene Einstellung, die auch für Joachim Ritter zu einem Schlüssel für Hegels Intention wurde. „Jetzt", so meinte Rößler, „war die doppelte Transzendenz gegen den Geist fertig. Die Natur und Gott sind dem Geist undurchdringlich, und Gott offenbart sich nur in der Natur . . . . Nur die Vernunft ist das schlechthin Ungöttliche"59. Rößler nimmt die gleiche geniale Wendung wie Ritter. Hegel steht zwischen Revolution und Reaktion, und zwar auf solche Weise, daß er beide gegeneinander ausspielt, wo sie sich ergänzen, beide miteinander kritisiert, wo sie sich zu den extremen Polen voneinander entfernen. Aber wenn Ritter diesen übergreifenden Standpunkt quasi linkslastig sich der Revolution nähern sieht, verschiebt ihn Rößler auf der gleichen Problemhöhe nach rechts in die Nähe der Theorien, die den Rechtsstaat und die ungezügelte gesellschaftliche Freiheit bekämpfen und dafür den organischen, starken Staat setzen wollen. Zwar soll auch der mächtige Staat den liberalen Ideen der Zeit insofern Rechnung tragen, als in jeder Gemeinschaft die „Privatsphäre die unantastbare Grundlage"60 bleiben sollte, aber wie Rößlers Staatsidee diesen Anspruch soll einlösen können, das ist noch fraglicher als bei Erdmann, der den sittlichen Organismus des Gemeinwesens immerhin noch nicht mit der „Macht" identifiziert hatte. Die liberalen Ansprüche der Rößlerschen Staatslehre lassen sich als Schein erkennen, hinter dem das autoritäre Bild des mächtigen Staates hervortritt. Denn im Endeffekt wendet sich Rößler gegen „Reaktion" und Liberalismus aus dem gleichen Grunde. Liberale Ideen und reaktionäre Staatslehren glaubt er als Brüder wider willen zu durchschauen, die in 59 60
op. cit. 333. op. cit. 326.
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derselben Absicht den absoluten Staat, die Bürokratie und die Zentralisation bekämpfen. Auch liberales laissez faire und instinktmäßiges Walten des Volksgeistes sind hinter ihrem Rücken geeint. Denn alle Strömungen verbindet der Ruf nach der Freiheit des „Einzelnen" sowie der Glaube an ein harmonisches Ganzes, das sich aus der ungestörten Bewegung der Einzelteile von selbst ergibt61. Dieses liberale Grundvertrauen mag Rößler angesichts des anarchischen Spiels der gesellschaftlichen Kräfte nicht mehr teilen. Der Versuch von Liberalismus und Reaktion, den Staat um der Individuen willen zu schwächen, beschwört die Gefahr des gesellschaftlichen Chaos herauf, eines Chaos, in dem Sicherheit und Freiheit der Einzelnen letztlich untergehen müssen. Rößler verfolgt auch diesen Zusammenhang ideengeschichtlich, indem er den alten Gegensatz von zufälliger (Gesellschaft) und notwendiger Macht (Staat, Reich) aufgreift, indem er die von Hegel und Marx bemerkte Emanzipation der Gesellschaft vom Staat schildert, um schließlich über die Darstellung des moralisierenden, sozialistischen Begriffs der Solidarität aller die nüchternen Gesellschaftsanalysen von Stein und Mohl zu erreichen, für welche die Gesellschaft die „natürliche-zufällige Bewegung der materiellen Interessen", der Staat „die Beherrschung dieser Interessen" ist (Stein), für welche auf jeden Fall die Gesellschaft die unkontrollierte Bewegung sich isolierender und ohne Rücksicht aufs Ganze absolut setzender Mächte bedeutet (Mohl)62. Die Realität der Gesellschaft hat quasi die liberalen Ideen schon überholt. Die Liberalismus, Sozialismus und vorrevolutionäre politische Theorie verbindende Staats- und Institutionsfeindlichkeit kann der gesellschaftlichen Situation nicht mehr gerecht werden. Die egoistischen Triebe haben in der Realität das Interesse an gemeinsamer Wohlfahrt und Sicherheit als Illusion entlarvt. Die von Marx empfohlene Reduktion des Staates auf die Gesellschaft, die in den damals aufstrebenden Sozialismus einging, wird demnach den Schaden mit der falschen Therapie kurieren. Statt die Abschaffung des Staates zu fordern, hätte es „ebenso gut heißen können, die Gesellschaft müsse sich in den Staat auflösen. Denn der Sozialismus ist die Verschlingung aller formellen Rechte der Einzelnen, damit allen das vermeinte materielle Recht zu Teil werde"63. Gerade nicht die bei den Links61
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„Es ist", so meint Rößler, „derselbe Zustand, den Hegel bewunderungswürdig Atomistik genannt hat, den sich Liberalismus und Reaktion gegenseitig zuschieben", op. cit. 342. op. cit. 359ff., ein Exkurs zu Stein 431 ff. op. cit. 360.
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Hegelianern so beliebte Formel vom Absterben des Staates, sondern die Stärkung der politischen Gemeinschaft gegenüber der Gesellschaft, das ist die Parole, auf die Rößler den Rechtshegelianismus verpflichtet. Erst der Staat kann die sich absolut setzenden Mächte der Gesellschaft wieder auf die „Ganzheit" beziehen. Die nur die materiellen Interessen umgreifende Gesellschaft bedarf als relative Totalität der absoluten „Totalität" des Staates, der die Macht der isolierten Interessen im Namen des Ganzen bricht64. Dieser Staat geht in seiner Zielsetzung gerade über den gesellschaftlichen Materialismus hinaus. Er befriedigt positiv die Bedürfnisse des Menschen, der „nicht vom Brot allein lebt", er ist negativ dadurch definiert, kein „Verein" für die Beförderung des „ephemeren Glücks der Einzelnen einer Generation" zu sein. Zwar sieht auch Rößler die Gefahr einer Trennung von Regierung und Bürger, aber der Vereinigungspunkt darf, so lautet seine Warnung, nicht in der Gesellschaft (etwa im „Wohl") liegen, sondern nur im politischen Bereich, d. h. in der „Sittlichkeit" des politischen Lebens, in der die Staatsorgane genauso stehen sollen wie die Einzelnen. Der Staat trägt demnach einmal das Antlitz der klassischen Gemeinschaft des guten Lebens, die der Sphäre des bloßen Überlebens übergeordnet ist, zum ändern aber auch die Züge der von Rößler selbst „reaktionär" genannten Staatslehren. Denn die „Reaktion" hatte nicht nur die alte Lehre vom Menschen, der nicht vom Brot allein lebt, restituiert, ihr Verdienst war es auch gewesen, gegen die „mechanische Auffassung des Staates" zu polemisieren. Die Reaktion steht der Staatslehre, die Rößler anstrebt, näher, weil sie „die Erkenntnis (besitzt), daß organische Bande, moralische Empfindungen die Gesellschaft zusammenhalten . . . daß für ein Volk die organische Kontinuität seiner Geschichte . . . ein ungeheures moralisches Kapitel ist"65. Die nur „formellen" Gesetze eines liberalen Rechtsstaates müssen den Gesetzen weichen, welche Ausdruck einer „konkreten" Sitte sind. Rößlers Staatslehre, die mit dem Anspruch auftritt, liberale und „reaktionäre" Prinzipien in gleicher Weise zu kritisieren und zu affirmieren, erweist sich doch als eine heimlich zur „Reaktion" gravitierende Politik. 64
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Deshalb darf der Staat auch als „absolute Macht" definiert werden: „Es ist der wesentliche Unterschied des Staates von der Gesellschaft, daß der Staat jede Macht in sich auflöst, die der seinen ebenbürtig werden könnte, und daß er selbst für den Fall der Notwendigkeit die unbedingte Macht über Alles in Anspruch nimmt", op. cit. 357. op. cit. 339/340.
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Zwar wird die Unantastbarkeit der Privatsphäre behauptet, aber die liberale Idee des Individuums, die allein die Konstruktion eines staatsfreien Raumes tragen könnte, wird gerade als einseitiger Ausgangspunkt der „revolutionären" Theorien abgelehnt. Wie Erdmann möchte auch Rößler noch nicht die formellen Gesetze zugunsten einer unmittelbaren Sitte abschaffen (sei sie ins Gewand des antiken Ethos oder des Volksgeistes der historischen Rechtsschule gekleidet), zwar bleibt auch noch Rößlers Hegelianismus auf dem Niveau der „zweiten" Natur, einer Sittlichkeit, die sich gegen die Antike mit der modernen Subjektivität, gegen die historische Rechtsschule mit dem „bewußten" Geist verbündet, aber mit Rößler bricht in den Hegelianismus die Lehre vom Machtstaat ein, der seine dezisionistische Politik nur unzureichend mit den klassischen Ansprüchen des guten Lebens kaschieren kann. Deutlicher aber als Erdmann schlägt Rößler die Brücke von der Politik der Zeit zurück zu Hegel. Die Folie seiner tour d'horizon durch den Geist der Zeit ist eine Hegelsicht gewesen, die in Hegel nicht nur die Synthese von antiker Staatsgesinnung und moderner Freiheit feiert, sondern in ihm auch den großen Arzt erblickt, der in seiner Revolution und Reaktion umgreifenden Lehre schon die Therapie bereithält, mit der der kranke Mann „Gesellschaft" zu heilen ist. „Es kommt allerdings alles darauf an", so faßt er sein aus Hegel übernommenes Anliegen zusammen, „in die Idee des Staates, dessen Aufgabe auf das materielle Wohl reduziert und dessen Funktionen zum Mechanismus herabgesunken, die lebendigen moralischen Kräfte . . . aufzunehmen. In Hegels Staatslehre fanden wir dies geleistet. Wir haben diese zunächst nur aufgefaßt als die Aufhebung der Trennung zwischen der inneren Freiheit und Sittlichkeit und der äußeren Welt, wie sie sich bei Kant zugespitzt hatte. Aber Hegels großer historischer Sinn hat in seine Staatslehre allen Gewinn aufgenommen, welchen die pragmatische oder Zweckmäßigkeitslehre des Staates von einem einseitigen Standpunkt seit Montesquieu erworben. In Hegels Prinzip liegt ohnedies die Anerkennung der moralischen Kräfte für das Staatsleben, auf welche die Reaktion hinweist . . ,"66
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op. cit. 350/351.
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2.2. Der Machtstaat zwischen Sittlichkeit und Omnipotenz (C. Rößler, A. Lassen) Constantin Rößler darf nicht nur als großer Rechtshegelianer gelten, der das Wort von der Philosophie, die ihre Zeit in Gedanken erfaßt, im guten Sinne wahr macht. Er hat auch im schlechten Sinne des Wortes seine Hegeldeutung der Bismarck-Zeit adaptiert, im Verein mit dem Rechtsphilosophen und Gymnasialprofessor Adolf Lasson. Lassen, der in Berlin noch Hotho und Gabler gehört hatte und nicht nur in zeitlicher Konkordanz zu Bismarckschen „Triumphen" seine Hegeldeutung vorlegte67, symbolisiert mit Rößler die Anpassung der Hegeldeutung an die Bismarckpolitik, ähnlich wie Erdmann die Akkommodation an das Preußen vor Bismarck verkörpert. Typisch für die Stimmung jener Jahre, in denen Kant wiederentdeckt wurde, war, daß die verbliebenen Hegelianer durch Aktualisierung Hegels gewissermaßen rechtfertigen mußten, warum sie sich überhaupt noch mit Hegel befaßten. Selbst Rosenkranz wollte 1870 Hegel als „Schriftsteller" nationaler Provenienz vorstellen, ähnlich wie Köstlin, der eine popularisierende nationale Hegeldeutung vorlegte68. Es war die Zeit, als man Hegel wie einen „toten Hund" behandelte69. Die Stoßrichtung des Rechtshegelianismus hatte zwei Spitzen. Einerseits vertrat man ein heute noch ernstzunehmendes Anliegen, die Warnung vor dem Verlust des sittlichen Lebens an den Ökonomismus und Materialismus der Gesellschaft, zum anderen aber betrieb man, ob bewußt oder nicht, handfeste Ideologie, welche den Bedürfnissen der Bismarckpolitik die benötigten Legitimationen für Nationalismus, Machtstreben und Krieg lieferte.
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Heller 1921, 197. Biographische Angaben über den hervorragenden Aristoteles-Kenner, Verfasser des Abschnitts über die Mystiker im Überweg, langjährigen Vorsitzenden der „Berliner Philosophischen Gesellschaft" und als Rechtsphilosophen nicht einflußlosen A. Lasson (1832-1917) in: W. Ziegenfuß/G. Jung (Hrsg.), Handwörterbuch der Philosophie nach Personen, Bd. II., Berlin 1950, 23 — 25; eher spärliche Hinweise im Nachruf von F. J. Schmidt/A. Liebert, Adolf Lasson zum Gedächtnis, in: Kant-Studien Bd. XXIII, Heft l (1918), l l O f f . ; ähnlich uninformativ das Gedenkblatt von F.J. Schmidt, in: KantStudien Bd. XXXVII, Heftl/2 (1932), 220ff.; eine Schilderung Lassons vom rechtsphilosophischen Standpunkt bei F. Berolzheimer, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie Bd. H., Neudr. der Ausgabe 1905, Aalen 1963, 269ff. Das schon erwähnte Buch „Hegel als deutscher Nationalphilosoph". K. Köstlin, Hegel in philosophischer, politischer und nationaler Beziehung, Tübingen 1870, vor allem Kap. VI, 150ff. Beides allerdings keine nationalistischen Werke! K. Marx, Das Kapital. Nachwort zur 2. Auflage (1873), MEW Bd. 23, 27.
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Rößler und A. Lassen veröffentlichten ihre politischen Absichten im unverdächtigen Kleid akademischer Hegelanalyse. Rößler betonte gegen das zeitgenössische Desinteresse an Hegel, wie er sich nur im Aufbau der Disziplinen, nicht aber im Inhalt von Hegels Staatslehre trennen will70, Lassen versicherte, auch er stehe völlig auf Seiten des zu Unrecht vergessenen Hegel. Denn auch seine Rechtsphilosophie habe keine andere Aufgabe als die, „im Seienden überhaupt die ihm immanente Vernunft zu begreifen", ganz im Sinne einer Theorie „von dem, was ist" und nicht im Sinne einer Anleitung „zu dem, was sein sollte"71. Rößler und Lasson demonstrieren ein gerütteltes Maß an Einigkeit. Aber während Rößler die autoritären Konsequenzen seiner Lehre meist ideengeschichtlich verbrämt, ist Lasson immer ein Stück weiter auf der abschüssigen Bahn vom Konservatismus zur Reaktion. Einig sind sich beide, daß jede vom Einzelnen ausgehende Staatsbegründung „die" Sünde wider den Geist des Universalismus bedeutet, ja daß selbst ein Rechtsstaat kein läßliches Vergehen ist. Aber heißt es bei Rößler noch, „Aus Individuen, die durch eine äußere Rechtsordnung vor Kollisionen geschützt und Jeder einen isolierten inneren Zweck haben .. . wird nie ein Staat noch ein Volk"72, lautet derselbe Gedanke in Lassons zynischer, antiindividualistischer Terminologie schon so: „daß der Staat nicht eine Anstalt für die Bequemlichkeit und den Frieden der Einzelnen i s t . . . kein Treibhaus, in dem jeder Pflanze sein Mistbeetchen gesichert und ihre künstliche Wärme bereitet wird, damit sie recht üppig gedeihe und geile Schößlinge treibe, sondern daß er immer zunächst sich selber im Auge hat als mächtiges, umfassendes Ganzes . . ,"73 Bei Lasson bleiben von der bei Rößler theoretisch noch reklamierten Synthese von reaktionären und liberalen Ideen nur noch die den starken Staat stützenden Konstruktionen zurück. Die Transponierung des Staates in die hehren Höhen von Allgemeinheit und Vernunft wird zum ver70
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Rößler 1857, XI. Freilich ist schon diese Veränderung der Form ein Indiz für die Hervorhebung des Staates. Statt vom objektiven zum absoluten Geist überzugehen, setzt Rößler den Staat formell über Religion, Kunst und Wissenschaft und konstruiert folgende Stufenleiter der „Sittlichkeit": die Persönlichkeit, die Gemeinschaft des individuellen Lebens (Familie), die Gemeinschaft der Arbeit (die bürgerliche Gesellschaft), die Gemeinschaft der theoretischen Freiheit (die Wissenschaft), die Gemeinschaft des absoluten Geistes (die Religion) und die Konstituierung der Totalität der sittlichen Funktionen (Staat). A. Lasson, System der Rechtsphilosophie, Berlin-Leipzig 1882, 12f. Rößler 1857,354. A. Lasson, Das Kulturideal und der Krieg, Berlin 1868, 13.
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schwiegenen Zweck aller Strategien, welche nur noch die Ablösung der politischen von der gesellschaftlichen Sphäre betreiben. Hegels Größe soll gerade in drei Leistungen gelegen haben: 1. der Ablehnung jeder utilitaristischen Staatsbegründung, 2. der Trennung der gesellschaftlichen Privatinteressen vom Staat und 3. im Begreifen der Vernunft der „positiven Gesetze"74. Der Staat werde von Hegel sogar so verselbständigt, daß er mit dem „Willen" der Bürger gar nichts mehr zu schaffen habe. Dieser Staat sei nämlich „nicht durch den Willen der Menschen entstanden; er besteht auch nicht durch den Willen der Menschen, und seine Formen und Gesetze entnehmen ihre Gültigkeit nicht daraus, daß die Menschen sie geschaffen haben"75. Die verselbständigte politische Gemeinschaft darf sich der Kontrolle des Rechts selbstverständlich entziehen. Rößler argumentiert nicht ohne Raffinement gegen Naturrecht und historische Rechtsschule für die rechtssetzende Macht des Staates. Denn auf „unveränderlichen Naturgesetzen" kann ein Staat nicht ruhen, da der staatstragende „Wille" nicht „Natur", sondern „Geist" ist, er kann aber noch viel weniger sich auf historisch gewachsene positive Gesetze gründen, da er das Recht durch seine Macht erst stiftet76. Was das vergängliche Recht begründen soll, muß aber selbst eine autonome Macht sein, welche die Schranken des empirischen Rechts durchbricht. Das Recht bedarf der „Omnipotenz des Staates"77. Die bedenkliche Eingliederung des Individuums in den Organismus des Machtstaates konnte sich noch mit der drohenden gesellschaftlichen Gefahr rechtfertigen, sie durfte sich auch noch mit dem Glanz der alten Naturrechtslehren schmücken, die dem Rechtshegelianismus die Kraft gaben, gegen den gesellschaftlichen Materialismus in der Hoffnung auf das gute Leben anzugehen. Verglichen mit den totalitären Staatslehren des Dritten Reiches konnte die „Würde" des Einzelnen noch als Funke weiterglühen, dem die Wendung gegen die Verkürzung des Lebens durch die Gesellschaft und der klassische Anspruch auf individuelle Freiheit Leben einbliesen78. Aber alle diese, Machtstaatshegelianer und National74 75
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Lasson 1882, 104-106. op. cit. 228. Rößler 1857, 207, 210, 353. op. cit. 207. Primitiver als Rößler, doch mit derselben Konsequenz, leistet sich Lasson ein Orwellsches doublethink. Jede Rechtssetzung des Machtstaates ist als solche „rechtlich", auch wenn sie „ungerecht" ist. A. Lasson, Prinzip und Zukunft des Völkerrechts, Berlin 1871, 63; Lasson 1882, 37f. So schwächt Rößler das Wort von der „Omnipotenz" des Staates ab. Es dürfe nicht mit der „Absorption jeder Einzeltätigkeit durch das Allgemeine" verwechselt werden, Rößler
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Sozialisten trennenden Unterschiede lassen sich nicht mehr erkennen, wenn die verhängnisvollen Tendenzen der Machtglorifizierung im äußeren Staatsrecht zur Debatte stehen. Die bisherigen Darstellungen von Rößler und Lasson, wie sie neben Heller auch Topitsch und Kiesewetter vorgelegt haben79, verschweigen den Restbestand an liberalen, humanistischen und klassisch-naturrechtlichen Ideen, die sich als Spuren einer besseren deutschen Vergangenheit damals noch erkennen lassen, Spuren, die es verbieten, die BismarckHegelianer zu eng mit dem kruden Totalitarismus des Volksstaates zu liieren. Heller, Topitsch, Kiesewetter, sie alle erblicken in den Lehren des äußeren Staatsrechts auch das Leitbild der innerstaatlichen Beziehung von Individuum und Staat. Darüber geht die Differenz der Bereiche verloren, die eine zwischen Sittlichkeit und Macht noch changierende Staatsphilosophie und eine sich der Brutalität faktischer und totaler Macht verschreibende Staatstheorie trennt. Die Hegelkritik in der Tradition Hellers kann allerdings zu Recht an den engen Zusammenhang zwischen „äußerem" Staatsrecht der frühen Rechtshegelianer und späterem Totalitarismus erinnern. Schon Rößler und Lasson vollziehen eine so starke Akkommodation an den politischen Geist der Zeit, daß Hegel als Kronzeuge für nationalen Imperialismus, Machtverherrlichung und die Verabschiedung humanitärer Ideale angerufen wird. Das Bild des preußischen Restaurationsphilosophen, wie es Linkshegelianer und Frühliberale attackiert und Rechtshegelianer wie Erdmann bestätigt hatten, verwandelt sich in das schwarz-weiß-rote Gemälde des deutsch-nationalen Machtpolitikers, dessen Nuancierungen nur noch ein wenig retuschiert zu werden brauchten, um später in die braune Einheitsfarbe zerfließen zu können. Nationalismus gegen Kosmopolitismus, Macht vor Recht, Krieg vor Frieden, faktischer Erfolg vor Sittlichkeit, heroische Moral vor humaner Gesinnung, so lauten von nun ab die Parolen. Während Droysen etwa zur gleichen Zeit die Gleichsetzung von
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1857, 354. Familie und Staat müssen die moralische Autonomie als „unerläßliches Moment" (op. cit. 253/254) respektieren. Nur der Machtstaat ist überhaupt in der Lage, individuelle Freiheit zu garantieren! Denn ohne ihn entstehen in einer sich selbst überlassenen Gesellschaft,,rein nach dem Naturgesetz des Stärkeren sozialpolitische Unterschiede und Bande, welche der freien Entwicklung Aller hemmend in den Weg treten" (op. cit. 354). Und selbst für Lasson steht fest, daß nur das „natürliche" Individuum dem Machtstaat unterworfen ist. Der moralische Mensch, der Künstler, Wissenschaftler und Gläubige, der Mensch also, der am Hegeischen absoluten Geist partizipiert, wird durch die absoluten Zwecke dem „nur" sittlichen Staatszweck entzogen, Lasson 1868, 14. Siehe hier III. 5.I., III. 5.3.2., III. 5.3.5.
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Staat und Macht noch als Tatsachenbehauptung versteht80, bei Rößler und Lasson wird Macht zu einem „sittlichen" Postulat, hinter das alle anderen ethischen Forderungen zurückzutreten haben. Rößler, der große Staatsrechtler, kann jetzt auch nicht mehr der Versuchung widerstehen, gegen Kants Schrift vom „Ewigen Frieden" zu geifern, ist sie doch ein „Haufe unglaublicher Trivialitäten". Gegen den Krieg opponieren nur die „Aufklärung", „die sentimentale Philanthropie", „der verwaschene Humanismus" und das „Gesindel", das auf den Friedenskongressen „herumspukt"81. Da ist Hegel doch ein ganz anderer Denker, der in seiner „gewöhnlich schlichten" Weise gezeigt hat, daß nur der Krieg das „Einhausen" der Individuen in die Endlichkeit verhindert. Krieg, nicht nur als unausweichliche Notwendigkeit, die sich aus den differenten Zwecken der Völkerindividualitäten ergibt, sondern Krieg als Beweis der Macht, Krieg sogar als „stärkste Bewährung der Freiheit und des Idealismus"82, das ist die angebliche Stärke der Hegeischen Konzeption. Ein Völkerrecht, so sekundiert Lasson, die Argumentations weise ganzer Generationen von Rechtshegelianern vorwegnehmend, ein Völkerrecht ist kein Recht, das diesen Namen verdient, fehlt es ihm doch an einer gesetzgebenden und an einer zwingenden Gewalt genauso wie an einem anerkannten Gericht83. Kriege sind mehr als unausweichliche Konflikte, sie sind ein Kulturideal von höchster Bedeutung. „Erst im Krieg erlangt der Staat das rechte Bewußtsein von sich selber, erlangt der Bürger das rechte Bewußtsein seiner Zugehörigkeit zum Staat"84. Mit den Ansprüchen einer Vernunft- und Geistphilosophie freilich läßt sich diese Kriegsphilosophie nicht mehr vereinen. Naturgesetze werden zum Prinzip des Weltgeistes, der Historizismus ersetzt die Notwendigkeit vernünftiger Legitimation. Das „Richteramt der Weltgeschichte", ein auch in der Folgezeit gern gebrauchtes Schillerwort und Hegelzitat, garantiert in jedem Fall die gerechte Lösung eines Krieges, da nur „das innerlich 80
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G. Droysen, Grundriß der Historik, Leipzig 21868, § 76. Droysens „organischer Machtstaat" ist allerdings wie die Gemeinschaft Rößlers und Lassons nicht für die Individuen da, ebd.; so auch in späteren Auflagen, siehe R. Hübner (Hrsg.), J. G. Droysen, Historik, München-Berlin 21943, 353. Droysen und der Machtpolitiker Duncker werden hier nicht dargestellt, da sie zwar von Hegel beeinflußt waren, aber nur dann als „Hegelianer" gelten können, wenn man von einem ähnlich weit gefaßten Begriff des Hegelianismus ausgeht wie Heller (Heller 1921, 176ff.). Rößler 1857,547. op. cit. 549. Lasson 1882,401/402. Lasson 1868, 15. Lassons Kriegseuphorie hat selbst 1868 einen „Entrüstungssturm" hervorgerufen. Schmidt/Lieben 1918, 118.
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Vermorschte" zugrunde geht85. Quasi nach physikalischen Gesetzen „muß" das stärkere Volk das schwächere unterwerfen86. Die Raubtierethik verpflichtet „die starken Nationen . . . die Welt zu teilen"87. Herrschaftstitel verleiht „die Kraft"88, ein Völkerrecht, das über Klugheitsregeln hinausgeht, hat keinen Sinn; denn wenn die Machtverhältnisse sich ändern, so entscheidet der „Kampf" der Völker und nicht ein kraftloser Rechtsanspruch89. Hegels heute so fremd erscheinende Lehre vom äußeren Staatsrecht, die im Kriege die wohltätige Erschütterung der Individuen begrüßt90, feiert damals ihre Auferstehung in der Vereinigung mit dem extremen Historizismus des 19. Jahrhunderts. Freilich, der Zeitgeist läßt uns Hegel nicht nur in der Gesellschaft der Jakobiner91, sondern auch gemäßigterer Zeitgenossen erblicken, die wie Fichte, Schleiermacher, Kleist und Schiller alle eine uns heute fernliegende Kriegsfreundlichkeit gepredigt haben; nach den Erfahrungen der großen Weltkriege ist es leicht, sich mit den Lorbeeren moralischer Besserwisserei zu schmücken; und, geht es um die Feststellung der Einflußgröße, dann dürfte es nicht einmal sicher sein, ob Hegel und seine Schüler neben Romantik und historischer Rechtsschule, neben Adam Müller und Fichte92 überhaupt einen Sonderplatz in der 85 86
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Lassen 1882, 411; sinngemäß auch Rößler 1857, 537. „Mit der Notwendigkeit des Naturgesetzes, mit welcher die dichtere kalte Luft in die lockere warme einströmt . . . mit derselben Notwendigkeit muß das stärkere Volk die schwächere Völkerindividualität auflösen . . .", Rößler 1857, 554. op. cit. 538. op. cit. 547. op. cit. 556f. Hegels Kriegslehre z. B. NA, GW IV, 450; Phän. 324; Rph 1821, SW VII, § 324. An den kriegsfreundlichen Geist der Epoche Hegels erinnert Jacques d'Hondt, der Hegels Kriegslehre aus dem jakobinischen Kriegsideal hervorgehen sieht; die Quelle, aus der Hegel schöpfe, sei Georg Forsters „Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790". J. d'Hondt, De Hegel a Marx, Paris 1972, 74ff.; das Problem des Krieges und die typischen Entlastungsstrategien der Hegelapologeten wie bspw. der Hinweis auf Hegels angeblich nur „deskriptive" Darstellung oder seine „existentielle" Würdigung des Krieges werden uns noch öfter beschäftigen, siehe z. B. Popper (IV. 5.3.1.), Weil (IV. 5.1.1.) oder Avineri (IV. 5.2.). Lübbe verweist auf die Rolle, die Fichte für das nationalistische und kriegsfeiernde deutsche Denken gespielt hat. Seiner Meinung nach stieg Fichte nicht ohne Grund zum bevorzugten Weltkriegsphilosophen auf, auf den sich Natorp, Eucken, A. Weber, Scholz und Ziegler 1914 beriefen. Denn bei Fichte würden, anders als bei Hegel, die Lehre von der absoluten Sündhaftigkeit der Zeit und ein „totales" Engagement wie zwei Seiten einer Münze zusammenpassen. Daher sei erklärlich, daß Fichte sich der Regierung als philosophischer Feldredner anbieten konnte, während Hegel immer die Distanz zur Praxis gehalten habe, „durch welche die Theorie im Verhältnis zur Praxis erst Theorie ist" (Lübbe 21974, 194ff., 203). Allerdings wäre zu Lübbes Gegenüberstellung einschränkend
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Ahnengalerie deutscher Kriegsverherrlichung beanspruchen dürfen. Die Berufung auf den Nationalisten Hegel entsprang im 19. Jahrhundert mehr den Bedürfnissen einer chauvinistischen Epoche als Hegels eigener Gedankenwelt93. Aber sowenig der Aufweis einer monokausalen Verbindung zwischen Hegel-Rechtshegelianismus-Nationalsozialismus das Ziel der Analyse sein kann (und so gewiß die liberale Hegelkritik hier zu übertreiben pflegt), dennoch führt eine Brücke von Hegels „äußerem Staatsrecht" über die Rechtshegelianer der Bismarck-Zeit zu den Völkerrechtslehren der Weimarer Republik und dem Hegelianismus so mancher Nationalsozialisten. Durch ihre Lehren von Macht und Krieg haben die Schüler Hegels jene geistige Klimaveränderung mit-hervorgerufen, die an die Stelle Kantischer Rechtsprinzipien, Weltoffenheit und Friedensliebe im 19. und 20. Jahrhundert jene Ideologien treten ließ, die den Verfall humaner Gesinnung bewirkten und dokumentierten.
3. Vereinzelte machtstaatlich orientierte Deutungen als schmale Brücke zwischen der Hegeldeutung des Zweiten und Dritten Reiches (G. Lasson, E. Spranger, E. Kaufmann) Nach den noch immer anspruchsvollen produktiven Hegelauslegungen eines Erdmann, Rößler und A. Lasson versickerte der Rechtshegelianismus fast vollständig, bis er über den Umweg des Neukantianismus und der Lebensphilosophie Auftrieb bekam, um schließlich zur Zeit des Dritten Reiches wieder eine geschlossene Schule auf teilweise beachtlichem Niveau zu werden94. Nur vereinzelt wurde Hegel auch rechtshegelianisch in die Wilhelminische Zeit hinübergerettet, allerdings so, daß man fast sagen kann, daß er nicht einmal mehr wie ein „toter Hund" behandelt
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anzumerken, daß sich Fichte genausowenig zum alleinigen Träger der deutschen nationalen Ideologie machen läßt wie Hegel, daß zudem Hegels unbezweifelbare Distanz zur Praxis manche seiner Schüler nicht davor bewahrte, ihn wie Fichte für den Staat von 1914 zu reklamieren (siehe den nächsten Abschnitt III. 3.). Dies hat Avineri (IV. 5.2.) überzeugend nachgewiesen. Allenfalls in der Strafrechtstheorie war Hegels Einfluß spürbar geblieben (siehe z. B. Berolzheimer 1963, Bd. V, 3ff.; ausführlich E. Sulz, Hegels philosophische Begründung des Strafrechts und deren Ausbau in der deutschen Strafrechtswissenschaft, Berlin-Leipzig 1910). Dies gilt auch für den sich selbst als „Neuhegelianer" bezeichnenden Kohler (J. Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, Berlin-Leipzig 1905, 21917, 48), dessen Heraklit, Neuplatonismus und Vedanta (!) mischender Evolutionismus noch nicht den Beginn des Neuhegelianismus markiert; vgl. J. Kohler, Hegels Rechtsphilosophie, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie Bd. 5 (1911/12), 104ff.
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Machtstaatlich orientierte Deutungen zwischen Zweitem und Drittem Reich
wurde. Man mißbrauchte ihn schon schlicht als Kriegsphilosophen, der schon vor Fichte und Schleiermacher, ohne des Anstoßes durch die Freiheitskriege zu bedürfen, den Krieg als sittliche Macht verherrlichte95, oder man benutzte ihn in der Zeit der Feldausgaben als Vater des Staates von 191496. Nur eine schmale Brücke führt über Georg Lassen, Eduard Spranger und Erich Kaufmann in der machtstaatlichen Deutung vom Zweiten ins Dritte Reich. Georg Lasson, der Sohn Adolf Lassons, ein evangelischer Geistlicher und verdienstvoller Hegelphilologe, scheint nun gar nicht in diese Gruppe zu passen. Denn gerade Georg Lasson war doch ein bei den nationalsozialistischen Hegelianern beliebter „liberaler" Gegner, dem ein Dulckeit, ein Larenz und ein Busse nicht verzeihen konnten, daß er Hegel einmal „Staatsvergötterung" und eine nicht zufriedenstellende Behandlung der Moralität97 vorgeworfen hatte. Aber Georg Lasson hat neben der Rolle des liberalen Kritikers auch manchmal die des universalistischen Hegelinterpreten gespielt, der sogar den Historizismus und Nationalismus seines Vaters tradierte. Die subjektivistische Moral, sagte er 1911, kritisiert Hegel zu Recht; der Staat, so sagte er 1920, darf nicht als „Summe der Einzelwillen" verkannt werden98. Wie sein Vater so lehrt auch er die Abgrenzung des Staates von der Gesellschaft, „die der Zwang der endlichen Bedürfnisse mit sich bringt"99. Der antidemokratische und antiparlamentarische Affekt wird deutlich, wenn G. Lasson die Staatsvemunft vom Willen der Einzelnen abtrennt und ihnen überordnet. Nur der Staat kann „der amorphen Masse der unablässig auftauchenden und verschwindenden Individuen . . . eine allgemeine Vernunft, Gestalt und Zusammenhang geben, eine Vernunft, die nicht erst aus dem Zusammenkommen der Vielen hervorgeht, sondern die der einzige Grund dafür ist, daß sie zusammenkommen". „Der Staat", so folgert Lasson, „ist also früher als das Individuum . . ."10°. Der Feind, den Lasson bekämpft, ist immer 95
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Th. Ziegler, Hegels Anschauung vom Kriege, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie Bd. 6 (1912/13), 88 ff. G. Lasson bei der Besprechung eines Buches von Plenge: „Hegel ist der geistige Vater des Staatsgedankens von 1914. Diesen Nachweis hat Plenge ohne Zweifel erbracht". G. Lasson, Hegel und die Ideen von 1914, in: Hegel-Archiv Bd. 3, Heft 2, Leipzig 1916, 57. G. Lasson, Einleitung des Herausgebers zu Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts . . .", Leipzig 1911, XVIIff. und XLII. Inhaltlich trifft, so meint Lasson, keine Akkommodation an Preußen zu, aber formell wird die Stellung des Staates, vor allem gegenüber der Moralität, zu hoch veranschlagt. G. Lasson, Hegel als Geschichtsphilosoph, Leipzig 1920, 94. op. cit. 73. op. cit. 95.
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noch derselbe wie für Erdmann, Rößler und A. Lassen: der Liberalismus. Dieser konnte nämlich den Widerspruch zwischen der formalen Freiheit der Einzelnen und der materialen des Staates ebensowenig lösen wie den zwischen der „Summe" der Einzelnen und der organischen Ganzheit des sittlichen Gemeinwesens101. Lasson teilt also selbst, trotz seiner kritischen Einwände, auch die Frontstellung des alten Rechtshegelianismus gegen die liberale Atomistik und vom Einzelnen ausgehende Staatsbegründung. Daß den nationalsozialistischen Rechtshegelianern dieser Universalismus noch nicht ausreichte, bezeugt eher ihre Radikalität als Lassons Liberalität. Auch Lassons Auslegung der Geschichtsphilosophie ähnelt sehr viel mehr der seines Vaters als der der liberalen Hegelkritiker. Wie sein Vater unterschreibt er die rechtshegelianische Eintrittsurkunde der Sollenskritik, die sich auch für ihn in der Ablehnung von Kosmopolitismus und Frieden konkretisiert. Kosmopolitismus und Weltfrieden, so meint er verächtlich, sind „kraftlose" Ideen und sogar ein „unehrlicher Trost", der das Ziel zum Sankt-Nimmerleinstag aufschiebt, um es bloß nicht realisieren zu müssen102. Was sich geschichtlich durchsetzt, darf immer noch den Titel der Vernunft beanspruchen. Im „Wettkampf der Geschichte", wie es bezeichnenderweise heißt, hat stets „das in sich gesündere, nach seiner geistigen Substanz gediegenere . . . Volk . . . die Führung"; Macht und Recht dürfen gleichgesetzt werden, da Macht „stets das Korrelat der inneren Tüchtigkeit" ist103. Was G. Lasson an der Geschichtsphilosophie tradiert, setzt sich bei Erich Kaufmann im Völkerrecht fort. Den Staat definiert er „als wesentlich universale Macht"104, die sich idealiter im „siegreichen Krieg" behauptet105. Das Völkerrecht basiert auf der Formel „Nur der, der kann, darf"106 und auf der „clausula rebus sic stantibus", die schon Rößler den Vorrang der Macht vor dem bloßen Recht symbolisierte. Ändern sich Machtverhältnisse und Interessenlagen, bleibt als objektives Prinzip allein der Selbsterhaltungstrieb der Staaten107. Hegel habe, meint Kaufmann angesichts des 100. Todestages Hegels, „dem Staate, ohne ihn absolut zu setzen, eine geistige und sittliche Begründung gegeben, die von allen . . . 101 102
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op. cit. 175. op. cit. 187. op. cit. 79, 94. Hervorhebung H. O. E. Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sic stantibus, Tübingen 1911, 137. Auf Kaufmann verweist noch Heller 1921, 206ff. op. cit. 146. op. cit. 153. op. cit. 204.
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individualistischen oder sozialen Utilitätsdeduktionen durch eine Welt geschieden ist"108. Eduard Spranger schließlich, der Kulturphilosoph aus Diltheys Schule, hat Hegel ebenfalls als Universalisten und Philosophen der transpersonalen Lebenssubstanzen gewürdigt. 1916 wollte er das humanistische Bildungsideal, das die Persönlichkeit einseitig hervorhebe und sich am „Rechtscharakter" und der „Wohlfahrtsbedeutung" des Staates orientiere, durch ein neues Erziehungsideal ablösen, das den Einzelnen nicht mehr für sich, sondern „zur Unterordnung unter eine Machtorganisation und zum Machtwillen erzieht"109. 1931 sieht auch er Hegels Verdienst im Universalismus: „. . . der einzelne Mensch . . . ist etwas an einer größeren, über ihm waltenden, ihn tragenden Lebensbewegung. Er ist nur flüchtiger Modus an der Substanz, Welle im Meer . . . deshalb, weil der Geistgehalt, der durch ihn hindurchwächst, nicht sein individuelles Werk ist: die Wirtschaft so wenig wie die Sprache oder gar die Wissenschaft. Die flüchtige Einzelexistenz ist für diese substantiellen Mächte nur Instrument"110. 4. Die totalitäre Akklamation in der Zeit des Dritten Reiches Was sich schließlich nur noch in Schriften tertiärer Bedeutung zu finden scheint, das schwillt zu Beginn der dreißiger Jahre zu einer mächtigen Strömung an, welche den alten Rechtshegelianismus mit seinen Frontstellungen und Universalismen wieder aufnimmt und noch einmal radikalisiert. Nach der ursprünglich von der Lebensphilosophie111 und 108
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E. Kaufmann, Rede bei der Hegelfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, in: Hegelfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 14. November 1931, Berlin 1932, 18. Kaufmanns Deutungsrichtung hat noch einen Nachfolger gefunden, als sein Doktorand Süsser feststellte: „Der anrüchige Beigeschmack des Schlagwortes Hegelscher Machtstaat ist unberechtigt", H. Süsser, Staat und Gesellschaft in der Rechtsphilosophie Hegels, Diss. München 1950, Maschinenschr. Anm. 80. Süsser fand noch 1950 nichts dabei, daß für Hegel „von allem Anfang an die Gemeinschaft den Vorrang vor dem Individuum . . . (habe)" (op. cit. 10), daß der Staat die „primäre Ordnungsmacht" sei, „in der die Individuen nur die Stellung von Momenten haben" (op. cit. 45), daß Hegel dem „absoluten Recht und der Moralität" „minderen Rang" (op. cit. 47) zuweise, u. s. f. E. Spranger, Das humanistische und das politische Bildungsideal in Deutschland, Berlin 1916, 7, 9, 15. Vgl. Heller 1921, 202f. E. Spranger, Rede bei der Hegelfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, in: Hegelfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 14. November 1931, Berlin 1932, 8. Die lebensphilosophische Hegel-Erneuerung, in Bewegung gesetzt vom 1905 durch Dilthey entdeckten jungen Hegel, erfaßte neben Dilthey selbst auch Spranger, Litt und
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vom Neukantianismus112 angestoßenen Hegel-Renaissance begann sich eine eigenständige universalistische, nur noch manchmal an ihre lebensphilosophische (etwa bei Häring) und neukantianische Herkunft (z. B. bei Binder) erinnernde Schule herauszubilden, die mit Häring, Binder und Larenz bald ihre eigenen Autoritäten besaß. Schon in der Zeit der Weimarer Republik gefielen sich dem Hegelianismus nahestehende Gelehrte wie Max Wundt113 oder echte Hegelianer wie Julius Binder in der Rolle des „Totengräbers" der jungen Demokratie, indem sie ihren Beitrag dazu leisteten, die Theorie der Repräsentation, des
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teilweise Glockner, Kroner, Heimann und Häring; ihr Erkennungsmerkmal war die Hervorhebung der irrationalistisch-rationalen Denkweise Hegels, den man quasi als rationalen Mystiker las. Kroner nannte Hegel den größten Irrationalisten in der Geschichte der Philosophie, R. Kroner, Von Kant bis Hegel Bd. II., Tübingen 1924, 271 f.; Glockner wählte als Leitmotive seiner Hegelmonographie die Begriffspaare „apollinischdionysisch", „klassisch-romantisch" und „rational-irrational", H. Glockner, Hegel. Bd. I. Die Voraussetzungen der Hegeischen Philosophie, Stuttgart 41965, 180f.; 190f.; die Bedeutug der Entdeckung des jungen Hegel bei H. Glockner, Krisen und Wandlungen in der Geschichte des Hegelianismus. Prolegomena zu einer künftigen Darstellung, in: Logos Bd. XIII, Heft 3 (1925), 343ff. Einen guten Überblick über die Hegelforschung zwischen 1925 und 1930 verschafft F. J. Brecht, der das Irrationalitätsproblem bei N. Hartmann, Häring, Kroner und Glockner herausstellt, F. J. Brecht, Die Hegelforschung im letzten Jahrfünft, in: Literarische Berichte aus dem Gebiete der Philosophie, Erfurt 1931 (= Heft 24), 5ff, 10, 16, 18. Wie dominierend die neukantianischen Anregungen für die Rückbesinnung auf Hegel waren, beweisen nicht nur G. Lassons Wort von 1916, „Hegelianismus ist der umfassend durchgeführte, der zur Vollendung gebrachte Kantianismus" (G. Lasson, Was ist Hegelianismus?, Berlin 1916, 10), sondern auch Levys Darstellung der Hegel-Renaissance, in welcher die Neukantianer der Marburger und Südwestdeutschen Schule zu Recht den größten Raum einnehmen (H. Levy, Die Hegelrenaissance. Mit besonderer Berücksichtigung des Neukantianismus, Berlin 1927, 30 — 90), sowie die Tatsache, daß noch 1931 zu Hegels 100. Todestag ein eigener Hegel-Band der Kant-Studien aufgelegt wurde, in dem sich Glockner und G. Lasson über die „Auferstehung Hegels" wunderten und Glockner den Hegelianismus der Zeit in drei Problemkreise einordnete: „kantische Philosophie", „nova scientia" und „das Irrationale", H. Glockner, Nach hundert Jahren, in: Kant-Studien Bd. XXXVI, Heft 3/4 (1931), 231; vgl. auch H. Glockner, Bericht über den Stand und die Auffassungen der Hegeischen Philosophie in Deutschland, in: Verhandlungen des Ersten Hegel-Kongresses vom 22. bis 25. April 1930 im Haag, B. Wigersma (Hrsg.), Tübingen-Haarlem 1931, wo es gleichfalls noch heißt: „. . . die //ege/frage ist heute in Deutschland zunächst eine Äiwifrage" (op. cit. 79). Auf die Rolle des Fichte-Forschers Max Wundt, der Herausgeber der Zeitschrift „Deutschlands Erneuerung" war und gegen jüdisch-abstraktes Verstandesdenken, Aufklärung und Demokratie Deutschland zum völkischen Denken und zum Ständestaat führen wollte, hat in diesem Zusammenhang zuerst Topitsch aufmerksam gemacht, E. Topitsch, Hegel und das Dritte Reich, in: Der Monat 18. Jg., Heft 213 (1966), 39ff.; M. Wundt, Die Weltkatastrophe und die deutsche Philosophie, Erfurt 1920; ders., Vom Geist unserer Zeit, München 21922; ders., Deutsche Weltanschauung. Grundzüge völkischen Denkens, München 1926.
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Parteienstaates und der Abgeordneten-Demokratie zu unterminieren und durch ihre harmonistische organische Staatslehre zu ersetzen114. Aber erst als die politische Ordnung wieder ihren Idealen näherkam, konnten sie ihren radikalisierten Rechtshegelianismus so recht zur Entfaltung bringen. Alle Zurückhaltung, welche Erdmann seinem ehrlichen preußischen Konservatismus und selbst Rößler und A. Lasson noch teilweise ihrem Bismarck-Hegelianismus auferlegt hatten, wurde fallengelassen. Der organische Staat verwandelte sich in die völkische Gemeinschaft, die Sittlichkeit, bislang noch auf dem Niveau der „zweiten Natur" bewahrt, regredierte zur unmittelbaren Übereinstimmung des Einzelnen mit Sitte und Volk, der Führer trat an die Stelle des Monarchen, und den Volksgeist löste eine Volksnatur ab, eine Feier von Blut und Boden, von Rasse und Reich, welche die Vertreibung des Geistes signalisierte. Hatten die Rechtshegelianer, wie die Konservativen des 19. Jahrhunderts allgemein, noch den Anspruch erhoben, daß der starke Staat, die historische Kontinuität und die organische Struktur der Gemeinschaft auch im Namen der individuellen Besonderheit der Person gegen die Zügellosigkeit des laissez faire, gegen Traditionslosigkeit und „abstrakte" Gleichmacherei gewendet werden müssen, so verkommt dieser Anspruch in der mehr und mehr vom Konservatismus zum Totalitarismus driftenden Schule zum bloßen Lippenbekenntnis, dem in den Kriegsjahren auch offen widersprochen werden wird. Der ganze Hegel wird gnadenlos vereinnahmt, der junge Hegel durch Härings monumentales Werk, der Hegel der Phänomenologie durch Busses Studie, der Hegel der Rechtsphilosophie durch eine wahre Flut akademischer bis populärer Schriften, die außer von Häring und Busse auch von Binder, Larenz, Dulckeit, Spann, Schönfeld, Bülow und Schmidt verbreitet werden sollten.
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Eine ausführliche Darstellung des Rechtshegelianismus in der Weimarer Zeit jetzt bei H. Kiesewetter, Von Hegel zu Hitler. Eine Analyse der Hegeischen Machtstaatsideologie und der politischen Wirkungsgeschichte des Rechtshegelianismus, Hamburg 1974, 213 ff. Allerdings ist Kiesewetter zu schnell bereit, alle transpersonalistischen, organischen und tendenziell totalitären Lehren als hegelianische zu klassifizieren; auch überbetont er, getreu seiner heimlichen Absicht, sich in die heutige Auseinandersetzung zwischen kritischen Rationalisten und Dialektikern einzuschalten, zu stark die (tatsächlich verschwimmende) Grenze zwischen antiparlamentarischem Rechtshegelianismus und angeblich am kommenden Unglück völlig unschuldigem Neu-Kantianismus bzw. Positivismus. Siehe III. 5.3.5.
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4.1. Der junge Hegel als Theologe und Universalist (Th. Häring) Bei Häring müssen zwei Einstellungen zeitlich und sachlich unterschieden werden, einmal die des sorgfältig arbeitenden akademischen Hegel-Philologen, dessen über 1300 Seiten fassende Bücher über den jungen Hegel noch immer als ein Musterbeispiel für das Hegel-Buchstabieren gelten dürfen115, zum anderen die des sich den nationalsozialistischen Lehren anpassenden Schriftstellers, der hauptsächlich in Schriftchen und Traktätchen den Universalismus seiner Hegeldeutung noch herausstrich und Hegel eine Führerapotheotisierung und eine Lehre vom totalen Staat in den Mund legte116. Von diesen Entgleisungen ist das große Werk über den jungen Hegel frei, das auf akademischem Niveau eine rechtshegelianische Deutung entwickelt, im großen ganzen konträr zu der Auslegung im Sinne von Lukäcs. Zwar hatte auch Lukäcs Hegels Konzeption eine „kollektive" genannt117, so daß Härings Motto, Hegel gehe von Anfang an „von der Erfahrung des Uberindividuellen" aus 118, zunächst nur zu beweisen scheint, daß die politischen Extreme sich berühren. Aber es ist immer der entgegengesetzte Schwerpunkt, den Häring behauptet. Revolution hat für Hegel „im Grunde doch immer . . . mehr Evolution als Revolution . . ,"119 bedeutet, das gilt selbst von Hegels radikalster Phase, der in Bern. Nie war Revolution für Hegel „Streben nach Auflösung aller bestehenden Gemeinschaft, vor allem der bestehenden Kirche, Religion, Staatsgemeinschaft usw., um eine absolut neue an ihre Stelle zu setzen; und, wie wir schon wissen, noch weniger ein solches nach Freiheit und Selbständigkeit des einzelnen Individuums . . . Was Hegel will, i s t . . . eine Erneuerung der Gemeinschaften . . ."12°. War Hegel also „eigentlich" nie revolutionär gesinnt, so hat er es natürlich mit der Kritik am Christentum, an der Positivität und an der Gesellschaft nicht allzu ernst 115
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Th. Häring, Hegel. Sein Wollen und sein Werk, Bd. I., Leipzig 1929; Bd. II., Leipzig 1938, Reprograph. Nachdr. Aalen 1963. Th. Häring, Hegels Lehre von Staat und Recht. Ihre Entwicklung und ihre Bedeutung für die Gegenwart, Stuttgart 1940, 25f.; ders., Verheißung und Verhängnis der deutschen Art, Stuttgart 1941. Lukäcs 21954, 36. Hegel denke anders als Kant „von vornherein kollektiv und gesellschaftlich". Häring Bd. I. 1929, 21, dann auch 84, 91, 263 u. ö. op. cit. Bd. I. 39. Leider ist dieses „im Grunde doch immer" oder „dann aber auch doch wieder" etc. kennzeichnend für Härings Stil, der sich so anscheinend vor gegenteiliger Evidenz sichern will. op. cit. Bd. I. 49.
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gemeint. Zwar war Hegel nie so kritisch eingestellt gegen das Christentum wie in Bern121, aber seine Kritik richtet sich nur gegen das unlebendige, tote Christentum und dessen historische und politische Rollen. Für eine „lebendige Religion" tritt Hegel aber gerade ein122. Schon in Bern muß die Positivität im „guten Sinn" von der im „schlechten Sinn" unterschieden werden123. Zwar wendet sich Hegel damals verstärkt staatsphilosophischen Studien zu, aber eine andere Seite des Volkslebens, nämlich die Religion, interessiere ihn damals „weit mehr", so daß „die Beschäftigung mit dem Staat . . . zunächst immer nur eine Neben- und Hilfsauf gäbe, nicht das eigentlich Wesentliche für ihn bedeutet"124. So täuscht man sich auch, wenn man in dieser Zeit Rousseausche Töne zu hören meint. „Nicht für die Gleichheit der Stände, sondern nur gegen allzugroße . . . Ungleichheit der Stände setzt Hegel sich ein"125. Daß der Staat Hegels von den Individuen geschaffen sein soll, darf in diesem Sinne nicht besonders betont werden. „Denn stets . . . steht ihm (Hegel, H. O.) grundsätzlich fest, daß diese Tätigkeit des einzelnen am Staat doch nur eine wirklich lebendige ist, sofern der einzelne mindestens ebensosehr schon im Staat als vor dem Staat, d. h. schon als Glied, nicht bloß als Teilursache sich betrachtet und betrachtet wird, ja daß er sich ihm zu opfern hat"126. Die Kritik des Privateigentums steht nicht innerhalb eines Gesamtangriffs auf die bürgerliche Gesellschaft, sondern im Kontext von Hegels grundsätzlicher Bemühung, Abspaltungen vom lebendigen Volksganzen wieder aus ihrer Absonderung und Erstarrung zu lösen und zu reintegrieren127. Hegel war „nichts weniger als Revolutionär im eigentlichen Sinn"128. Sein Hauptanliegen lag in der lebendigen Volkstotalität129, deren Kräfte er zu einem harmonischen Ganzen vereinen wollte. Die Individuen sind darum nicht der Zielpunkt für Hegels Versöhnungsversuche, sondern der Volksgeist, der nur einen Ausdruck für Hegels Grundgedanken darstellt, „daß nur in einem lebendigen Volksleben und Volksganzen der einzelne 121 122
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op. cit. Bd. I. 133. op. cit. Bd. I. 135. op. cit. Bd. I. 137i., 167, 172f. op. cit. Bd. I. 126. op. cit. Bd. I. 183. op. cit. Bd. I. 263. op. cit. Bd. I. 216. „Der Einzelne und sein Eigentum ist für Hegels überindividuellen Gemeinschaftsstandpunkt der radikalste denkbare Gegensatz", op. cit. 265. op. cit. Bd. I. 295. op. cit. Bd. I. 20ff., 139ff., 434ff.
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und überhaupt alles geistige Leben lebendige Existenz und Entfaltung finden könne"130. Dabei entfaltet Hegel seine Begriffe und seine Methode nicht aus einem theoretischen Interesse, etwa um Schwierigkeiten in einem Gedankensystem zu beseitigen, sondern in einer eminent praktischen Absicht, mit der „praktisch-volkspädagogischen" Intention131, das durch bestimmte Formen der Religion, der Eigentumsverhältnisse und der Gesinnungen erstarrte und gespaltene Leben wieder zur Einheit zu bringen. Häring hat mit dieser Herausarbeitung von Hegels praktischem Interesse am lebendigen Volksganzen, genauso wie Lukäcs, eine wichtige Seite von Hegels „Wollen und Werk" aufgeschlossen. Aber trotz der ungeheuer textnahen Paraphrase und der immer wieder floskelhaft eingeschränkten Deutung hat er seine Akzente einseitig gesetzt und die theologische Intention des jungen Hegel ähnlich radikal überschätzt wie Lukäcs die soziologische. Schon in Tübingen ist der junge Hegel rein pragmatisch, nicht religiös an der Religion interessiert, die ihm nur als Mittel zur Beförderung freien Gemeinschaftslebens dient, in Bern wächst sich seine Kritik an der geschichtlichen Rolle des Christentums zur prinzipiellen Entgegensetzung von Christentum und Freiheit aus, eine Tatsache, an der auch die neueren ausgewogeneren theologisch-politischen Deutungen nicht vorbeikommen. Ethisch-politisch-praktisch denkt der Berner Hegel, seine scheinbar theologischen Begriffe (wie z. B. der des Reichs Gottes) wie seine Beschäftigung mit der Person Jesu bedeuten nicht, was Häring in sie hineinliest, scheint Hegel doch mit dem Reich Gottes ein innerliches, nicht mit dem Staat und nicht mit der sichtbaren Kirche identisches Reich der „Guten" (im Sinne Kants) und mit Christus einen kantianisierten Lehrer der Tugend zu meinen132. Hegel favorisiert damals die Revolution, wenn auch schon nicht mehr in der Interpretation ihres radikalen Flügels. Häring projiziert nur die Frankfurter Anerkennung der Positivität auf die früheren Jahre zurück. Wie Lukäcs nur von vorne, von Tübingen und Bern, nach hinten, so liest er nur von hinten nach vorn. Hier dokumentiert sich sein apologetisches Interesse an einer kontinuierlichen Entwick-
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op. cit. Bd. I. 93. Der Volksgeist wird von Häring hier noch vom Blut- und Bodenbegriff als „rein geistige" Größe getrennt. op. cit. Bd. I. 7, 30ff., 247f., 297, 419, 573ff. Siehe Bd. II., II., wo gezeigt werden soll, daß weder die theologische These (auch in ihrer Hegel mit dem Pietismus verbindenden Form) noch die Freimaurerthese (wie sie etwa d'Hondt vertritt, hier IV. 5.1.3.) Hegels Berner Begriffe zureichend erklären.
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lungsgeschichte, die zwar leichte Verschiebungen, aber keine Sprünge zulassen will133. Besser als für Bern paßt Härings Deutung demnach auf Frankfurt. Mit feinem Gespür wird die Entstehung der Dialektik von Vereinigung und Zerrissenheit in den Fragmenten dieser Jahre aufgedeckt und auch Diltheys ja gedanklich sehr verwandte Darstellung einmal sorgfältig ausgebaut, was die religiöse und lebensphilosophische Akzentsetzung angeht, zum anderen aber auch modifiziert, soweit Dilthey pauschal einen „mystischen Pantheismus" vermutet hatte. Denn Hegels Gottesbegriff erlaubt nach Häring sowohl eine adäquate Erfassung der einzelnen Persönlichkeit des Menschen als auch der einzelnen Persönlichkeit Gottes. Der Gegensatz zwischen Gott als dem einen Kontrahenten und Glied der Entgegensetzung von Gott und Mensch und von Gott als dem umfassenden Ganzen beider Momente sei nur ein scheinbarer, der sich dialektisch auflösen lasse. „Gott als bloße einzelne Persönlichkeit . . . ist ein schlechter Begriff oder bloß eine Teilwahrheit Gottes, ebenso aber auch Gott als bloßes . . . Ganzes und bloße Einheit im Sinne des Pantheismus; der wahre Begriff Gottes enthält beides, aber nur in der lebendigen, persönlich-geistig-dialektischen Einheit . . . welche zugleich auch den Gegensatz von Mensch und Gott im ersten Sinne . . . in sich enthält und doch im Ganzen aufhebt"134. Diese wichtige Korrektur von Diltheys Einordnung, die Häring auch noch auf gelungene Weise durch eine Abgrenzung von einem Schellingianischen Pantheismus oder einer Jacobischen Gefühlsreligion vervollständigt, kommt, wenn es so etwas wie ein Hegelsches Grundproblem gibt, diesem sehr nahe. Denn diese „Struktur" von Identität und Nicht-Identität, von Einheit und Gegensatz ist so etwas wie das Grundmodell der Hegelschen Denkweise, das sich auch in Jena für Hegel bewährt, wenn er Kant, Fichte und (implizit schon) Schelling auf der Folie dieser Frankfurter Einsicht kritisiert135. Daß die Erscheinung ins Absolute selbst, die NichtIdentität in die Identität, die Entzweiung und Differenz in die Einheit selbst gesetzt werden müssen, das bezeichnet die Wendung, die Hegel seit Frankfurt nimmt und die erst seinen ganz eigentümlichen Denkstil letztlich verständlich macht. Häring möchte sich über die Hegeische Entwicklung bis ca. 1800 kein definitives politisches Urteil erlauben. Noch vertrete Hegel keine ganz 133 134 135
Typisch dafür op. cit. Bd. I. 546. op. cit. Bd. I. 549. Z. B. op. cit. Bd. I. 637.
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bestimmte Staatslehre oder eine schematische Konzeption von der Struktur eines Volkes. Der Umstand, „. . . daß Liberalismus und Konservatismus sich nicht mit Unrecht beide auf ihn berufen können, vor allem aber die Tatsache, daß sogar extreme Gegensätze wie Marxismus und Konservatismus sich gleichermaßen von ihm herzuleiten pflegen, (sollte) zur Vorsicht mahnen, Hegel allzufrüh einer bestimmten Theorie zuzurechnen"136. Aber freilich hat Häring selbst schon Urteile gefällt, wenn er Hegels revolutionäre und republikanische Einstellung für Bern bestreitet, wenn er überhaupt Hegels Interesse an Ethik, Politik und Ökonomie als zweitrangig einstuft. Daß sich letztlich hinter seiner Objektivität eine universalistische Deutung rechtshegelianischen Zuschnitts verbirgt, spricht Häring dann auch aus. Denn sein Interesse an einer kontinuierlichen Entwicklung Hegels läßt ihm ein Bekenntnis zum Nationalstaats- und Machtstaatsgedanken entschlüpfen, für den schon der ganz junge Hegel „unwillkürlich" eintrete. „Gegen eine'n verwaschenen, die Gliederung der Völkerindividuen übersehenden Universalismus, Irrationalismus und Kosmopolitismus ist er (Hegel, H. O.) tatsächlich und grundsätzlich auch hier immer noch eingenommen. In diesem Sinne mag man dann auch schon damals von einem /staatsgedanken bei ihm reden . . . Ebenso wie man auch den ,^/iic^istaatsgedanken' . . . auch jetzt schon bei ihm angelegt finden muß . . ."137 Wie Häring bis Frankfurt das ethisch-politische und ökonomische Interesse Hegels hinter das theologische zurücktreten läßt, so gibt er ab 1801, wie allgemein üblich, der systematischen und theoretisch-erkenntnistheoretischen Tendenz der Entwicklung Hegels einen gewissen Vorrang138. Neben dem neuen Buch von Kimmerle139 dürfte die Darstellung der Jenenser Phasen durch Häring noch immer die ausführlichste und solideste sein. Sogar in der Deutung der „praktischen" Philosophie werden die Einseitigkeiten der bisherigen Auslegung etwas abgeschwächt. Die Verfassungsschrift gilt keineswegs als einseitiges Dokument einer reinen Machtphilosophie. Was Hegel dort angestrebt hat, soll vielmehr eine Mitte zwischen einem extremen Individualismus sowie einer Uberbetonung des „Allgemeinen" gewesen sein, eine zwischen Absolutismus und Liberalismus. Wie Hegel schon in den Kritiken an Kant, Jacobi und Fichte die systematische Absicht verfolgt, zwischen einem extremen Subjektivismus 136 137
138 139
op. cit. Bd. I. 597. op. cit. Bd. I. 598. Häring 1938, Bd. II. 21ff. H. Kimmerle, Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens, Bonn 1970.
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und einem „Allgemeinheitsstandpunkt" zu vermitteln140, so ist die Verfassungsschrift sowohl gegen die Staatsomnipotenz als auch gegen den „bloßen liberalistischen Nachtwächterstaat" in gleicher Weise gerichtet141. „Den ganzen Hegel also hat man immer erst, wenn man beide Anliegen und beide Richtungen der Kritik zusammenschaut: diejenige gegen die Überbewertung des Allgemeinheitsfaktors (welche bis zu fast Rousseauschen Ausdrücken im Blick auf die Wahrung und Wiederherstellung der ,natürlichen' Freiheit und Selbständigkeit des einzelnen geht/ . . .) ebenso wie diejenige gegen die Überbewertung der absoluten egoistischen Freiheit des Einzelnen"142. Wenn Hegel deshalb den Staat als „Macht" bezeichnet, so darf dies nicht falsch verstanden werden. Die alte Intention der praktischen Versöhnung des lebendigen Volkslebens liegt auch dieser Staatskonstruktion zugrunde. Das zerfallene Reich bedarf als eine Seite des „Volksganzen" der Wiederherstellung der Macht, damit das Reich wieder eine lebendige Gemeinschaft sein kann. Daß Hegel einen Gewaltherrscher herbeiwünscht, der diesem Staat seine Existenz zurückgibt, entspricht nur der ungewöhnlichen „Notlage", in der der Teufel „durch Beelzebub" ausgetrieben werden mußte143. Machiavellismus läßt sich Hegel nicht anlasten, da Machiavelli und Hegel nur formal das gleiche Hilfsmittel (die Gewalt) anpreisen, ihre Ziele jedoch differieren. Denn für Machiavelli stand nie das Ideal „eines lebendigen Gemeinwesens freier Menschen im Hintergrund", für das Hegel die Gewaltlösung riskiert144. Die Darstellung der praktischen Philosophie Hegels wird, je weiter Häring seine Paraphrase entwickelt, immer blasser. Die schwierigen Probleme der Textgliederung schieben sich immer mehr vor die inhaltliche Auslegung145. Die Grundannahme, Hegels letztes Ziel bleibe die lebendige, „überindividuelle" Gemeinschaft, wird aufrechterhalten146. Nur beiläufig fallen noch eindeutige Stellungnahmen ab. Aber es ist die Selbstverständlichkeit, mit der Häring kontroverse Fragen einfach mit Hegels Worten dem Leser vorsetzt, die dann doch wieder stutzig macht. So soll es sich schon beim Staat des Systems der Sittlichkeit ganz eindeutig um ein „Ideal" handeln, von dem dann immer gilt, daß es von der Wirklichkeit 140 141
142 143 144
145 146
Häring op. cit. op. cit. op. cit. op. cit. op. cit. op. cit.
1938, Bd. II. 47ff. Bd. II. 323. Bd. II. 324/325. Bd. II. 328. Bd. II. 333. Bd. II. 337ff. Bd. II. 338.
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„gleichweit entfernt (ist), ob man an die preußische Verwirklichungsabsicht oder an irgendeine andere denken mag . . ,"147. Die metaphysischen Prädikate der „absoluten" Regierung und des Staates müssen quasi „hinter aller, auch der besten realen Regierung angewendet" werden148. Die „absolute Gewalt", die es in jedem Staate geben muß, hat bei Hegel keinerlei empirisch festlegbare Gestalt. Deshalb wird die absolute und „göttliche" Regierung auch nicht „gemacht". Der naheliegende Einwand gegen diese „Mystifikation", daß sie das „Absolute" von seinen einzelnen Trägern völlig ablöst, soll aber anderseits nicht gegen Hegel stechen. Denn Hegels „Hauptanliegen" intendiere wiederum beides zugleich, die wirkliche Lösung des Absoluten von aller Einzelheit wie die Verbindung beider. Selbst die absolute Regierung darf in einer Hinsicht nur als „das eine dialektische Moment . . . nicht losgelöst von dem Einzelnen . . . gedacht werden . . ,"149. Wie beides zugleich gedanklich nachvollziehbar sein soll, verrät Häring allerdings jetzt genauso wenig wie zuvor, als er die Struktur des Absoluten beschrieb, das zugleich Teil des dialektischen Gegensatzes als auch das diesen umfassende Ganze sein sollte. Heißt das nicht „to eat one's cake and have it too", wenn man so selbstverständlich sowohl die Trennung als auch die Verbindung zwischen den Einzelnen und dem jeweiligen „Absoluten" für möglich hält? Häring jedenfalls läßt die Frage insofern in der Schwebe, als er zwar in der typisch rechtshegelianischen Einstellung dem „System der Bedürfnisse" eine untergeordnete Stelle im Ganzen des Systems zuweist (die Gesellschaft wird als das Elementarische in der Sittlichkeit aufgehoben150); aber eine bestimmte Staatsform hat Hegel damals noch nicht bevorzugt151, und die Rolle des Krieges sowie der Kolonisation referiert Häring, ohne genau Stellung zu beziehen152. Nur auf ein ungetrenntes Beieinander von objektivem und absolutem Geist legt Häring sich fest. Denn noch werden Religion, Kunst und Wissenschaft nur als Manifestationen des Volksgeistes, nicht als selbständige Gestalten entfaltet153.
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op. cit. Bd. II. 373. op. cit. Bd. II. 375. op. cit. Bd. II. 376. op. cit. Bd. II. 378ff. op. cit. Bd. II. 384. op. cit. Bd. II. 383. Doch hat Häring wohl auch nichts einzuwenden gegen die Beschreibung der Kolonisation, die von ihr behauptet, in ihr werde das Volk „auch nach außenerzieherisch, (es) .objektiviert sich selbst', indem es ,ein anderes Volk hervorbringt'". op. cit. Bd. II. 386.
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Der Naturrechtsaufsatz knüpft wieder stärker an die „praktisch politischen, vaterländischen Fragen und Probleme"154 der Verfassungsschrift an, so daß Häring sich dementsprechend deutlicher exponiert. Den Schluß des Aufsatzes, der gegen die „Gestaltlosigkeit des Kosmopolitismus . . . (die) Leerheit der Rechte der Menschheit . . . eines Völkerstaates und der Weltrepublik" wettert und vom „Opfer" eines Teils der Sittlichkeit spricht, kommentiert Häring zustimmend: „Das ist der echte Hegel, der auch die zeitweiligen Einschränkungen und Einseitigkeiten als ein notwendiges Opfer an das absolute Leben des Ganzen zu wissen und zu tragen vermag"155. Die zweifache Frontstellung Hegels gegen die empirische (Hobbes, Rousseau, Smith) und die formale (Kant, Fichte) Behandlungsart des Naturrechts wendet sich nicht nur gegen die Berufung auf Fakten (wie den Naturzustand oder eine historische Entwicklung), sondern auch gegen die Standpunkte, „welche die rechtlichen Gemeinschaftsphänomene . . . durch das bloße Zusammentreten irgendwie beschaffener, mit besonderen Eigenschaften, Trieben, Zielen usw. ausgestatteter Individuen genügend begreiflich machen zu können glauben. Sie alle versuchen sozusagen, den Gaul von hinten aufzuzäumen . . ."1S6. Ist somit wieder Hegels überindividueller Zielpunkt angesprochen und der „absolute Volksgeist" als lebendige Einheit der einseitigen Rechtsauffassungen erkannt, so versucht Häring auch noch die späte Jenenser Geistphilosophie im Begriff des Volks, wenigstens teilweise, zu fundieren. Nur gegen sein Programm möchte Hegel am Ende den absoluten Geist gesondert vom Volksgeist darstellen157, jedoch bleibe auch der Staat eine Manifestation des absoluten Geistes. Die crux der Hegelforschung, ob Hegel den absoluten Geist dem Staat überstülpt oder ob er beide voneinander trennt, löst Häring durch eine Unterscheidung. Einerseits bleibt die alte Verbindung zwischen dem Volksganzen und den absoluten Formen des Geistes wie Religion, Kunst und Philosophie bestehen(„Das Volksleben ist nichts, ohne lebendige Manifestation aller Formen und Seiten des absoluten Geistes zu sein . . ,"158), andererseits grenzt Hegel mehr und mehr das „Ubervölkisch-Absolute"159 in der Weltgeschichte und im absoluten
154 155 156 157 158 159
op. cit. Bd. II. 394. op. cit. Bd. II. 397. ebd. op. cit. Bd. II. 467. op. cit. Bd. II. 472. op. cit. Bd. II. 474.
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Geiste vom Volksleben ab, ohne freilich „die Spuren jener alten Zentrierung" je ganz zu verwischen. Eine metaphysische Überhöhung des Volkslebens und des Staates, das scheint damit impliziert zu sein, liegt nicht vor. Denn objektiver und absoluter Geist spiegeln nur verschiedene Intentionen Hegels wieder, der einmal mehr „systematisch-theoretisch" die Selbsterkenntnis des absoluten Geistes anzielt, der ein anderes Mal mehr das alte Interesse am „praktischen Ziel" des lebendigen Volkslebens das Übergewicht gewinnen läßt160. Was Häring dieser Unterscheidung alles zutraut, wird klar, wenn er sie auch als Schlüssel für das alte Problem der Identität von Vernunft und Wirklichkeit anbietet. Da kein sachlicher Gegensatz zwischen dem praktischen Ziel des lebendigen Volkslebens und dem theoretischen Erfassen des absoluten Geistes besteht161 (das auch gerade von Hegels praktischer Intention gefordert wird), darf Hegel das Wirkliche ins Entwicklungsgesetz des Absoluten aufnehmen und als Vernünftiges deklarieren. Nur das Vernünftige kann für Hegel wirklich sein, „weil . . . vernünftig gar nichts anderes ist und sein will, als das Vernehmen des tiefsten Lebensgesetzes der Selbstbehauptung alles Wirklichen . . . Was diesem Gesetz . . . widerspräche, kann gar nicht wirkungskräftig, d. h. wirklich sein . . ,"162. So darf auch die Selbsterkenntnis des Absoluten ihren Maßstab im Begreifen des wirklichen Geschehens haben. „Die Weltgeschichte ist im obigen Sinn in der Tat das einzige Weltgericht, d. h. Kriterium der Wahrheit und Richtigkeit des Erkennens wie des Handelns. Auch die Rolle der ,Regierung' . . . untersteht letzten Endes nur diesem Kriterium". Das zweite Buch Härings endet mit einem eigenartigen Niveauverfall. Man kann nicht genug bedauern, daß Häring aus publikationstechnischen Gründen große Teile seines Manuskriptes weglassen mußte; denn anders ist wohl nicht zu erklären, wie er Deutungen von der Art, die er von der Identität von Vernunft und Wirklichkeit oder von der Weltgeschichte als dem Weltgericht anbietet, für auch nur annähernd ausreichend halten konnte. So einfach wird sich die Frage nach einem möglichen Historizismus des Hegeischen Denkens, nach der Differenz zwischen der „Selbst160
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op. cit. Bd. II. 473. Scholastisch ausgedrückt: Häring versucht, verschiedene Formalobjekte an einem Materialobjekt aufzuweisen. ebd.
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Behauptung alles Wirklichen" und den Ansprüchen der „Vernunft", nach dem fragwürdigen Zusammenhang von Logik und Empirie nicht aus der Welt schaffen lassen. Daß Hegels „Volk", sein Regierungs- und Staatsideal in Jena überhaupt keine Verbindung mit der Empirie eingehen, dem widerspricht Häring selbst, wenn er leugnet, daß sich Hegels Absolutes in seinen verschiedenen Formen von den Einzelnen abhebt und nur losgelöst von ihnen gesehen werden kann. Das im zweiten Band immer stärker durchschlagende Interesse an philologischen Fragen rächt sich am Ende im Zerfließen der Deutung, die noch im ersten Teil mit sicheren Strichen das Bild des Theologen und Universalisten Hegel herausgearbeitet hatte. Härings durchaus verdienstvoller Versuch, Hegel einmal als den Denker der Ganzheit des Volkslebens zu schildern, der alle Phänomene der zerrissenen Zeit, Politik, Ethik, Ökonomie, Religion, Kunst und Philosophie harmonisch vereinte, endet mit einer ironischen Pointe. Zwar läßt sich Häring einige universalistische Tendenzen der Jenaer Zeit nicht entgehen: die Uberordnung des antik-universalistischen über das modernindividualistische Naturrecht von Hobbes bis Fichte, die Dominanz des Volksganzen über seine Teile, die transpersonale Staatsbegründung, den Nationalstaat, den Hegel von Kosmopolitismus und Friedensideal abgrenzt, die von allen Rechtshegelianern so gern herbeizitierte „Weltgeschichte als Weltgericht"; aber dem sich in philologische Subtilitäten verstrickenden Häring entgehen sogar noch andere, gleichfalls antiindividualistische Lehren des Hegel, der nie zuvor und nie danach so universalistisch gedacht hat wie in seinen ersten Jenenser Jahren. Auch wenn Hegel damals nicht zum reinen Rechtshegelianer wird (läßt er doch das Individuum die Früchte der religiös und spekulativ begründeten „Entzweiung" und Versöhnung ernten, anerkennt er doch in der „Tragödie im Sittlichen" die Emanzipation der Gesellschaft), Naturrechtsaufsatz und System der Sittlichkeit repräsentieren doch so etwas wie den Höhepunkt des Hegeischen Universalismus, der sich in einer (stärker als beim Berliner Hegel) antikisierenden Ständelehre, der Auflösung der Gewaltenteilung in ein System der „allgemeinen Regierung" und in der Mystifizierung einer „absoluten Regierung" verrät163. Eine „reaktionäre" Auslegung Hegels im Sinne einer faschistischen Hegelvereinnahmung wird man die frühe Hegeldeutung Härings freilich noch nicht nennen können. Es sei denn, man ist wie Bloch und Lukäcs
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Siehe Bd. II., IV.
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bereit, Vitalismus, Theologie und Irrationalismus in den Brei des Reaktionären zu verrühren164. Erst in späteren Jahren hat Häring die akademischen Skrupel abgelegt und seinen ursprünglich konservativen Universalismus in Totalitarismus umkippen lassen — dann allerdings mit einer Brutalität, welche der Larenz' und all der anderen in nichts nachsteht165. 4.2. Moralität vor Sittlichkeit — ein „liberales" Mißverständnis (M. Busse) Ähnlich sorgfältig wie Häring nahezu Zeile für Zeile den jungen Hegel explizierte, so hat auch Martin Busse in einer von Binder und Larenz angeregten Arbeit Aufgabe, Gedankengang, Vor- und Nachgeschichte der Phänomenologie peinlich genau interpretiert. Hegel näher kommend als die linkshegelianischen Vereinnahmungen, die die Phänomenologie zur emanzipatorischen Geschichtsphilosophie, zur Lehre von der Selbsterzeugung der Gattung oder zum Kryptomaterialismus umfunktionieren, beläßt ihr Busse ihre Aufgabe als Einleitung zum System166 wie ihren geistphilosophischen Charakter. Da die systemologischen Fragen im Zusammenhang unseres Themas nicht angeschnitten werden können, wollen wir Busses Deutung nur insofern aufnehmen, wie sie für das Problem von Moralität und Sittlichkeit die für Binder, Larenz und die anderen verbindliche Auslegung mitbegründete. Diese etablierte Busse in Abgrenzung von der „liberalen" Auffassung Lassons und Rosenzweigs. Denn beide hatten aus der Stellung der Moralität in der Phänomenologie gefolgert, Hegel plaziere, entgegen seiner späteren Uberordnung der „verstaatlichten" Sittlichkeit über die Moralität, jetzt noch die Moralität des Subjekts über die Sittlichkeit167. 164
Lukacs 21954, 37, 61; Bloch 31971, 51: „die sentimental-vitalistische Hegel-Legende Diltheys, die faschistisch-irrationalistische der Häring, Kroner . . .". 165 Hatte es 1938 noch unverdächtig geheißen, es sei Sache der „Wissenden . . . die Frage zu beantworten, welches Maß an Macht . . . (den) verschiedenen Komponenten des Volkslebens zugebilligt werden kann" (Häring 1938 Bd. II., 472), so wird aus den „Wissenden" 1940 unmißverständlich der „Führer" (Häring 1940, 26), dessen Legitimität freilich immer noch das Weltgericht der Weltgeschichte demonstriert (ebd.). Das organische Volksganze wird zur Volkstotalität, habe Hegel doch „nie den geringsten Zweifel darüber gehabt und gelassen, daß die Macht des Staates sich auf alles andere im Volksleben ohne Ausnahme . . . (zu erstrecken habe)" (op. cit. 25). 166 M. Busse, Hegels Phänomenologie des Geistes und der Staat. Ein Beitrag zur Auslegung der Phänomenologie und Rechtsphilosophie und zur Geschichte der Entwicklung des Hegeischen Systems, Berlin 1931, 3ff. 167 Fr. Rosenzweig, Hegel und der Staat, München-Berlin 1920, (Reprograph. Nachdruck von Band I und II in einem Band) Aalen 21962, Bd. I. 218; die gleiche Ansicht findet
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Wenn diese Auslegung bewiesen werden könnte, würde sich für den Rechtshegelianismus und seine Berufung auf Hegel sowie seine Betonung der Aufhebung der „subjektivistischen" Moralität in der konkreten Sittlichkeit und im Volksleben ein Problem ergeben. Dieses schafft aber Busse überzeugend aus der Welt. Daß in der Phänomenologie die Moralität zwischen Sittlichkeit und Religion/absolutes Wissen zu stehen kommt, kann nicht den Sinn haben, daß Hegel der Autonomie des moralischen Subjekts zeitweilig den Vorrang vor der Sittlichkeit zusprechen wollte. Denn 1. schildert Hegel in der Phänomenologie die Moralität eines gegenstandslosen Pflichtdenkens, das die Wirklichkeit der ausgeführten Handlung nur postulieren kann168 und im Widerspruch von abstraktallgemeiner Pflicht und individueller Bestimmung des Inhalts der Pflicht steht, 2. ist die Moralität nur die „ärmste Gestalt" des Bewußtseins, welche die Beziehung auf die konkrete Substanz, auf die vorhergehende Welt der Bildung, der Staatsmacht und des Reichtums verloren zu haben scheint und nur die eine Seite der Gedankenbewegung entwickelt, die zum Fürsichsein führt, nicht aber auch die andere, die von der unmittelbaren Sittlichkeit über Staatsmacht und Reichtum als „Bewegung des gewußten gegenständlichen Wesens" sich entfaltet169. Die Moralität in der Phänomenologie kann noch nicht eine Einheit sein, die wie die Sittlichkeit das Selbst und die Gegenständlichkeit in sich enthält. Darauf weist auch der prinzipielle Unterschied zwischen der phänomenologischen und systematischen Gedankenentwicklung hin. Die Phänomenologie stellt nur erst das erscheinende Wissen vom Staat dar. Sie leitet erst zum absoluten Wissen, während das System schon auf dem Niveau der Idee einsetzt und von dort aus adäquat die Bestimmungen des Staates entfaltet. Die Staatslehre der Phänomenologie wird von Hegel für die Bedürfnisse des erscheinenden Wissens seiner Zeit zurechtgestutzt. Zwar entwickelt Hegel eine „Phänomenologie des Staatsbewußtseins"170, welche die Erscheinung der Familie, des abstrakten Rechts, der bürgerlichen Gesellschaft und der Moralität enthält, aber diese Gestaltungen bleiben voneinander isolierte Momente, die unverbunden nebeneinander
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169 170
Rosenzweig auch in der späten Jenenser Geistphilosophie (op. cit. Bd. I. 192) und in der Nürnberger Propädeutik (op. cit. Bd. II. 16ff.) bestätigt. Lassen 1911, XXIX. „Aber das moralische Bewußtsein kann diese Wirklichkeit (der erfüllten Pflicht, H. O.) nur postulieren und damit ein notwendiges Moment des Geistes denken, ohne es in der Welt zu finden", Busse 1931, 58. op. cit. 60ff., 62. op. cit. 100.
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stehen, geradeso wie sie für das erscheinende Wissen auftreten. Der Ausgang von der unmittelbaren Sittlichkeit sowie das Kulminieren der Moralität im reinen Fürsichsein des Gewissens kann nicht die dem System angemessene Synthese des objektiven Geistes leisten, der nicht nur das unmittelbare Sein, sondern auch das reflektierte Staatsbewußtsein in der Sittlichkeit zusammenschließt. Das „politische Bewußtsein" wird in seiner entwickelten Form weder durch die Sittlichkeit noch durch die Moralität der Phänomenologie repräsentiert171. „Auf dem Wege vom unmittelbaren sittlichen Bewußtsein zu der reinen Form des für sich selbst existierenden Begriffs, der in der Bewegung des Gewissens zunächst abstrakt sich darstellt, / kann der Staat nicht erscheinen, da er eben das Sichselbstwissen als allgemeines Selbstbewußtsein voraussetzt und enthält, es aber als konkrete Wirklichkeit und nicht in seiner abstrakten Reinheit als Form des Sichwissens des Geistes darstellt"172. Während die phänomenologische Entwicklung nur die Bewegung zum absoluten Geist nachvollzieht, die der Zeit näher lag173, entdeckt Busse beim vorphänomenologischen Jenenser Hegel die andere Entwicklungsreihe, die aus der substantiellen Wirklichkeit, aus dem Bewußtsein der Stände, zum absoluten Wissen zu führen versucht (jedoch auch wieder so, daß der „individualistischen" Moral kein Vorrang vor der Sittlichkeit eingeräumt wird). Zwar schiebt Hegel die Moralität auch schon damals zwischen die Sittlichkeit und den absoluten Geist, aber diese wird gar nicht individualistisch gewertet, sondern als „eine Stufe des Sichwissens des Geistes, d. h. des allgemeinen und absoluten Geistes"174; zum anderen überschätzen Interpreten wie Rosenzweig wieder einmal Hegels Liberalität, wenn sie aus der Stellung der nach dem Staat dargestellten Religion eine staatsfreie Innerlichkeit ableiten wollen, „. . . dadurch findet nicht die Seele eine dem Staat innerlich enthobene Stellung jenseits des Staates, sondern es ist derselbe Geist, der als Regierung und Soldatenstand seiner selbst als des individuellen Ganzen gewiß ist und in der Religion sich anschaut"175. Die Moralität gilt dort nur als Gesinnung der Beamten, die auf die Geisteshaltung der niederen Stände folgt und über sich „als höhere, vollendetere Form des Wissens des Geistes von sich als dem konkreten
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173 174 175
op. op. op. op. op.
cit. cit. cit. cit. cit.
lOOf., 127f. 100/101. 128. 112. 112.
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Ganzen, die Gesinnung der Soldaten und der Regierung"176 hat. Hegel konnte diese, die substantielle Wirklichkeit der Stände einschließende Entwicklungsreihe als phänomenologische nicht verwenden, da das Bewußtsein des Ganzen doch immer auf bestimmte Stände eingeschränkt blieb und sich der Übergang des unmittelbaren Bewußtseins der Sittlichkeit in das Fürsichsein der Idee besser empfahl. Busse versucht in Abwehr des „liberalen Mißverständnisses" Hegels die Universalismen besser zu nutzen, aus denen der frühe Häring noch nicht genug faschistisches Kapital geschlagen hatte. Den universalistischsten Hegel, den es je gab, nämlich den Jenenser, als ganzen Hegel nehmend, möchte Busse die Brücke von der konkreten Sittlichkeit Hegels zur völkischen Sitte seiner Tage schlagen. Alle sich selbst in der Jenenser Ständelehre noch zeigenden Bezüge auf die emanzipierte Gesellschaft genauso verschweigend wie die Entzweiungslehre, macht er sich das Bild eines Hegels zurecht, der nie vom Pfade der universalistischen Tugend abgewichen ist. Die Phänomenologie könnte sogar, meint er, „heute" anders als zu Hegels Zeiten geschrieben werden. Denn der bei Hegel abgebrochene Weg vom Bewußtsein der Stände zum absoluten Wissen ist in den Tagen des völkischen Bewußtseins begehbar geworden! „Das Bewußtsein, / das die ,absolute Individualität des Volkes' als sein Wesen und sich selbst weiß, ist ... das dem absoluten Geist nächste Wissen des Geistes von sich selbst. — Indem es heute über die Bestimmtheit, Gesinnung nur eines bestimmten Standes zu sein, hinausgegangen ist, würde heute eine Phänomenologie des Geistes über dieses Sichselbstwissen zum absoluten Wissen hinführen können . . ."177. 4.3. Hegels Philosophie zwischen Universalismus und Totalitarismus — Versuch einer Gesamtdarstellung (J. Binder, W. Schönfeld, O. Spann, K. Larenz, G. Dulckeit, F. Bülow, M. Busse, Th. Häring, W. Schmidt)178 Bei Härings relativ unverfänglicher Analyse des jungen Hegel und bei Busses beachtlicher Auslegung der Phänomenologie ist es nicht geblieben. Als Max Wundt zu Hegels 100. Todestag den noch teilweise verkannten
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ebd. op. cit. 128/129. Da sich so etwas wie eine rechtshegelianische-nationalsozialistische „Schule" herausbildete, versuchen wir, die Ansichten der einzelnen Autoren in eine Gesamtdarstellung zu verdichten. Wenn im folgenden der Begriff „nationalsozialistisch" ohne weitere
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Hegel als „einen wahrhaft völkischen Denker"179 der Aufmerksamkeit der Leser des Völkischen Beobachters empfahl, war die Richtung abzusehen, in welche sich, trotz nicht fehlender Warnungen180, der neue Rechtshegelianismus entwickeln würde. Der ehemalige Neukantianer Binder, der „Personal-Idealist" Schönfeld, begabte Juristen wie Dulckeit, Busse, Larenz, Philosophen einer neuen Wirtschaftsordnung wie Bülow und Spann, völkische „Denker" wie Schmidt, der sich radikalisierende Häring, sie alle begannen den jungen wie den älteren Hegel mit brauner Farbe zu übermalen, bis er als völkischer Denker, Universalist und Totalitarist zur frühen Autorität des Nationalsozialismus werden konnte. Die Fahne, um die sich die neuen Rechtshegelianer jetzt scharten, trug noch immer die Aufschrift „Universalismus", aber der Bedeutungsgehalt des Kampfrufs begann sich fast ins Unermeßliche zu weiten. Nicht nur die seit Rößler bekannten Gegner wie Kant-Fichte181, die Vertragstheoretiker Hobbes-Rousseau182 sowie alle, die den Staat „militaristisch", d. h. als ein Mittel für das Zusammenleben der Einzelnen, begründen wollen183,
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Differenzierung verwendet wird, so soll damit nicht die Fruchtbarkeit der Unterscheidungen geleugnet werden, die vom liberal-kritischen Standpunkt aus von Sontheimer, (Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 21968, z.B. 113ff.) oder in konservativer Sicht von Mohler (A. Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1932, Darmstadt 21972, z. B. 130ff., 357ff.) zur Unterscheidung der verschiedenen Weimarer Gruppierungen eingeführt worden sind. Das Prädikat „nationalsozialistisch" läßt sich rechtfertigen, da die meisten dieser Rechtshegelianer weder zu den Deutsch- (oder Alt-Nationalen), noch zu den Jungkonservativen (Konservative Revolution), noch zu den Nationalbolschewisten und, selbst in ihrer Rezeption der Hegelschen Kriegslehre, nicht zu den revolutionären Nihilisten ä la Jünger zu rechnen sind. Am ehesten lassen sie sich noch zu den Deutsch-Völkischen und den Nationalsozialisten schlagen, sieht man ihre Verwendung des Begriffs „Volk", ihren Antisemitismus, ihre Führerverherrlichung und ihre Ständelehren. Eine breitere Darstellung bietet jetzt Kiesewetter, dessen Deutung der Rechtshegelianer (im Gegensatz zu seiner Hegelinterpretation, siehe III. 5.3.5.) verläßlich ist; vgl. Kiesewetter 1974, 261 ff., 326ff. (Häring), 263ff. (Dulckeit), 270 ff. (Bülow), 287ff. (Larenz). M. Wundt, Zu Hegels Gedächtnis, in: Völkischer Beobachter 44. Jg., 318. Ausgabe (14. 11. 1931), Erstes Beiblatt. So hat Tillich dem Nationalismus, Rassismus und der Volk-ohne-Raum-Ideologie die Hegeische Dialektik des Schicksals kontrastiert. „Die Reaktionen des verletzten Schicksals" könnten für Deutschland „den völligen Untergang bedeuten", P. Tillich, Hegel und Goethe. Zwei Gedenkreden. I. Der junge Hegel und das Schicksal Deutschlands, Tübingen 1932, 32. J. Binder, Staatsraison und Sittlichkeit, Berlin 1929, 12. J. Binder, Der deutsche Volksstaat, Tübingen 1934, 17; ders., System der Rechtsphilosophie, Berlin 21937, 150; die Vertragstheorie nach Spann „die wichtigste individualistische Gesellschaftslehre", O. Spann, Gesellschaftsphilosophie, in: J. Stenzel et. al., Handbuch der Philosophie. Staat und Geschichte, Teil B, München-Berlin 1934, 11. K. Larenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie, Tübingen 1934, 43.
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nein, auch die Allianz von Liberalismus, Demokratismus und Aufklärung184 oder die von Anarchismus, Marxismus, Kommunismus185 muß den buntgewürfelten Haufen der Feinde der „wahren" Staatslehre bezeichnen. Was diesen Staatstheorien, im Blickwinkel des angeblich alles erklärenden Gegensatzes von Individualismus und Universalismus186, fehlt, ist die „organische" und „ständische" Staatskonzeption, woran sie kranken sind ihre verwerflichen „Summen- und Mengenbegriffe", ihr „Atomismus", ihre „bloße" Willkürfreiheit und ihre „nur" mechanistische Staatsauffassung. Die Deutung des jungen Hegel fuhr sich in den von Häring vorgezeichneten Bahnen fest. Schon Busse hatte für seine Schilderung der Jenenser Entwicklung auf Häring zurückgegriffen187, Larenz orientiert sich am gleichen Maßstab188 und Schmidt wiederholt Häring, Busse und Larenz189. Es sind die immer gleichen Autoritäten, die beifällig zitiert, sowie die immer gleichen liberalen Gegner, die mit denselben Argumenten stets aufs Neue widerlegt werden190. Grundbegriffe der Auslegung bleiben das lebendige Volksganze als Hegels eigentliches Ziel191, die Freiheit „zu etwas" in der Gemeinschaft, die konkrete Ethik und der gegen die abstrakte und atomistische Gesellschaft sowie gegen den linken „Staatssozialismus", aber auch „den schrankenlosen wirtschaftlichen Liberalismus" gerichtete organische und ständische Staat192. Immerhin 184
J. Binder, Die Gerechtigkeit als Lebensprinzip des Staates, Langensalza 1926, 42 ff. J. Binder, Der Idealismus als Grundlage der Staatsphilosophie, in: Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie Bd. l, Heft 2 (1935), 154. 186 £)je beliebte Gegenüberstellung von Individualismus und Universalismus bei Binder 2 1937, 143ff. oder Spann, der seinen eigenen wirtschaftlich orientierten Katalog propagierte mit Anarchismus, Machiavellismus und Vertragstheorie auf der einen, Theokratie, ständischer und körperschaftlicher Auffassung, völkischem Gedanken und Genossenschaftswesen auf der anderen Seite, Spann 1934, 11—14; siehe auch K. Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, Berlin 1931, 93ff. und Th. Häring, Was ist deutsche Philosophie?, Stuttgart 1936, 24. 187 Busse 1931, 136, 102 ff. 188 K. Larenz, Die Rechts- und Staatsidee des objektiven Idealismus, in: J. Stenzel et. al. 1934, 146ff., 147 Anm., 150. 189 ^ Schmidt, Hegel und die Idee der Volksordnung. Untersuchungen zur Staats- und Gesellschaftslehre Hegels und zur Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts, Leipzig 1944, 6, 13, 16, 18 u. ö. 190 Gegen Rosenzweig oder G. Lassen: Busse 1931, U l f . ; Larenz, in: Stenzel et. al. 1934, 156, 158; Schmidt 1944, 13, 21 ff., 24 u. ö. 191 Larenz, in: Stenzel et. al. 1934, 147f.; besonders stark auch Schmidt 1944, 14, 22, 31, 39. 192 Larenz, in: Stenzel et. al. 1934, 151, 153, 155ff.; F. Bülow hatte das Gegenbild, den bis ins Kleinste durchorganisierten neuen Ständestaat, entworfen, F. Bülow, Der deutsche Ständestaat, Leipzig 1934. 185
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wurde der „Machtstaat" manchmal nicht zum bloßen Gewaltstaat uminterpretiert, sondern der „Freiheitsspielraum" der Einzelnen blieb noch im Blick193. Aber noch deutlicher als bei Häring wird das Eigenleben der Einzelnen nicht um ihrer selbst, sondern um der „inneren Lebendigkeit des Ganzen willen" gefordert194. Der Krieg tritt auch schon beim jungen Hegel jetzt als wesentliche Funktion des Staates hervor, der sich als Individualität gegen andere Staaten durch Kampf abzugrenzen hat und nur so die sittliche Erschütterung der Einzelnen bewerkstelligt, die schon Rößler und A. Lasson als kulturellen Wert hervorgehoben hatten195. Mehr als der junge Hegel freilich faszinierte die Rechts h egelianer, die damals fast alle Juristen waren, Hegels Rechtsphilosophie und ihr streng gegliederter Aufbau. Sie fungierte zumeist als das „dogmatische" Werk, das, über jeden Zweifel erhaben, den (völkischen) Staat über die Vorstufen des sittlichen Lebens gestellt haben sollte und so bezeugen konnte, daß schon Hegel das abstrakte Recht, die Moralität, die Gesellschaft und die Willkürfreiheit in der sittlichen Substanz vor ihrer Haltlosigkeit und Abstraktheit bewahren wollte. Der Hegeische Staat ruht auf der Idee der „Freiheit", die Hegel als „Recht" proklamiert196. Aber diese Freiheitsidee ist anders als die liberalistische Willkürfreiheit (zu tun und lassen, was man will) eine Freiheit der „Fülle" (und nicht der „Leere), die erst in der Bindung an die Gemeinschaft einlösbar wird197. Die Basis dieser Freiheitskonzeption kann nicht Hegels Nähe zur Französischen Revolution und deren Idealen sein, noch kann die Lehre des Naturrechts vom animal sociale den Universalismus fundieren. Denn mit dem abstrakten Recht kritisiert Hegel sowohl die
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Larenz, in: Stenzel et. al. 1934, 158; Spann, in: Stenzel et. al. 1934, 12; Schmidt 1944, 21, 28. Schönfeld, der die Hegelrenaissance beim „Ideal-Realismus" des „unpersönlichen" Hegeischen „Systems" stehenbleiben sah, erblickte in der Geschichtsphilosophie „die Logik als Persönlichkeit", also einen, wie er es nannte, „Personal-Idealismus", der ihm die „Persönlichkeit" sogar noch nicht genug von der „Idee" befreite, W. Schönfeld, Der deutsche Idealismus und die Geschichte, Tübingen 1936, 24, 45. Rosenzweigs liberale Deutung des „staatsfreien Bezirks" im Machtstaat verschweigt, so glaubte man, diese universalistische Intention. Spann versuchte die eigenartige Freiheit des Einzelnen im Namen des Ganzen durch den Begriff einer „gliedhaften vita propria" sowie durch seine Wortschöpfung „Gezweiung" als Kennzeichen einer (aus mindestens zwei Personen bestehenden) organischen Gemeinschaft zu fassen, Spann, in: Stenzel et. al. 1934, 13. Larenz, in: Stenzel et. al. 1934, 155f. J. Binder, Die Freiheit als Recht (1930), in: Wigersma 1931, 146ff.; Larenz, in: Stenzel et. al. 1934, 167. Larenz, in: Stenzel et. al. 1934, 161.
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klassische als auch die unmittelbar vorrevolutionäre Naturrechtslehre. Nie kam das Naturrecht über den „unvermittelten" Widerspruch zwischen der einzelnen, abstrakten Person und deren Einheit mit den anderen Personen hinaus. Hegels abstraktes Recht konstruiert keine in sich geschlossene Sphäre des Privatrechts, auf die dann später das öffentliche Recht erst folgt198. Freiheit und Gleichheit des Rechts sind nur Abstraktionen, welche die Rechtspflege in der bürgerlichen Gesellschaft genauso voraussetzen wie die konkrete Sittlichkeit. Wie die nur formelle Allgemeinheit der Kantischen Pflichtmoral so bedarf auch das Recht einer Verankerung in der sittlichen Totalität des Volkes199. Das Einzelne als solches hat keinen Wert. „Das Recht der Subjektivität, der Individualismus, ist nur ein vorläufiger Standpunkt, der überwunden werden muß und der tatsächlich in der Wirklichkeit des Rechts und im wirklichen Verlauf* der Geschichte überwunden ist; es gäbe keine Geschichte, wenn die Subjektivität das Letzte und Höchste wäre; indem der geschichtliche Geist über das Individuum mit seinen Leiden und Freuden hinwegschreitet, zeigt er, daß es als das schlechthin Einzelne kein Recht, keine Wahrheit und keine Wirklichkeit hat . . ."20°. Die Dialektik von Ansich und Fürsich kann selbst als Kronzeuge für den Vorrang der Sittlichkeit dienen, wenn sie differenziert begriffen wird. Die logische Priorität von Recht und Moralität bedeutet nicht eine Vorrangigkeit in der realen, metaphysischen und sittlichen Ordnung. Denn was am Ende erst expliziert wird, lag schon am Anfang zugrunde. „. . . Wahrheit und alleinige Wirklichkeit des Rechts ist so die sittliche Gemeinschaft, die logisch-absolut betrachtet, die Einzelperson hervorbringt und im Verhältnis zu ihr das Ursprüngliche ist"201. Einen persön198
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K. Larenz, Hegel und das Privatrecht, in: Verhandlungen des zweiten Hegelkongresses vom 18. bis 21. Oktober 1931 in Berlin, B. Wigersma (Hrsg.), Tübingen-Haarlem 1932, 137, 143, 146; J. Binder, Der obligatorische Vertrag im System der Hegeischen Rechtsphilosophie, in: Verhandlungen des dritten Hegelkongresses vom 18. bis 23. April 1933 in Rom, B. Wigersma (Hrsg.), Tübingen-Haarlem 1934, 47. Man versuchte einerseits, mit Hegels nicht-abstraktem, substantiellem Rechtsbegriff die Antinomien im Begriff der formaljuristischen „Persönlichkeit" zu lösen — beispielhaft, auch für das dabei verwendete Maß an sophistication, K. Larenz, Hegels Dialektik des Willens und das Problem der juristischen Persönlichkeit (1931), in: Reichelt 1972, 773-78, andererseits kritisierte man Hegel, weil er bestimmte privat- und strafrechtliche Bestimmungen in Rechtspflege und Sittlichkeit nicht genügend zur Geltung gebracht habe, Binder 1933, in: Wigersma 1934, 41 f.; Larenz 1931, in: Wigersma 1932, 147. Larenz, in: Stenzel et. al. 1934, 163f.; Häring 1940, 27. Binder 1931, in: Wigersma 1932, 183. G. Dulckeit, Rechtsbegriff und Rechtsgestalt, Berlin 1936, 19f.
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liehen Wen besitzen die Individuen nicht schon für sich genommen, sondern erst durch ihre Einordnung in die Gemeinschaft, die sie bereits im Recht und in der Moralität umfaßt. „Persönlichkeit, Wertträger ist das Individuum gerade nicht als absolutes Einzelding, sondern in der Gemeinschaft, durch die Gemeinschaft und für die Gemeinschaft"202. Binder und Larenz bekämpften mit vereinten Kräften sowohl den Rechtspositivismus, der vom „abstrakten" Einzelnen ausging, als auch die „normative" Rechtsauffassung, die zunächst unverbundene Einzelne quasi nachträglich vereinen wollte203. Hegel diente dabei als Vehikel für die „Substantialisierung des Formalrechts"204, die zwei strategische Ziele auf einen Schlag erreichte. Man mußte nicht mehr wie Binder unverbindlich über die Weimarer Zeit als Epoche der Entzweiung klagen205, sondern durch die nun eintretendeÄquivokation im Rechtsbegriff ließ sich gegen das abstrakte Recht und das Recht der Moralität, gegen das Recht auf formal garantierte Freiheit und Gleichheit das höhere „Recht"*der Sittlichkeit ausspielen, zum anderen konnte man unter dem Mantel philosophischer Bemühung die juristische Dogmatik ethisieren und sich so eine praktikable politische Waffe schaffen, welche die Integration der Einzelnen in das Volksleben befördern half206. Hegels ständische Gliederung der Gesellschaft kehrte im veränderten Gewände juristischer Formeln wieder, die noch einmal die Zeit der hierarchischen Genossenschaften und kleinen Sozietäten anachronistisch ins 20. Jahrhundert übertragen sollten. Denn das Recht, das nicht mehr an der Natur des Menschen festgemacht ist, sondern an der Gemeinschaft, die es aus sich schöpft207, kennt nicht mehr Individuen als rechtsfähige Personen. Das Hegeische Rechtsgebot („Sei eine Person und respektiere 202 203
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Binder 21937, 152. Larenz 1931, 93.; ders., Volksgeist und Recht. Zur Revision der Rechtsanschauung der Historischen Schule, in: Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie Bd. l, Heft l (1935), 46. H. R. Rottleuthner, Die Substantialisierung des Formalrechts. Zur Rolle des Neuhegelianismus in der deutschen Jurisprudenz, in: Negt 1970, 219, 229ff., 235ff. Binder 1930, in: Wigersma 1931, 146. Rottleuthner demonstriert hervorragend die juristischen Konsequenzen der „Substantialisierung" (Rottleuthner, in: Negt 1970, 233f., 239ff.); er bietet zudem eine gute Bibliographie der Flut rechtshegelianischer juristischer Schriften (op. cit. 260ff.). Kirschenmann zeigt den „objektiven Idealismus" Binders und Larenz' als eine wichtige Quelle nationalsozialistischer Rechts- und Staatsvorstellung neben Schmitts konkretem Ordnungsdenken und dem völkischen Vitalismus von Nicolai, Koellreutter, Höhn, Ritterbusch und Walz, D. Kirschenmann, ,Gesetz' im Staatsrecht und in der Staatsrechslehre des NS, Berlin 1970, 36-45. Larenz 1934, 5, 8.
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die anderen als Personen"208) symbolisiert nur noch „die Notwendigkeit steter Besinnung auf die eigene soziale Bedingtheit, nämlich auf die eigene Allgemeinheit"209. Diese ist es denn auch, welche den Einzelnen erst in den Rang eines Rechtssubjektes erhebt210. Denn die Rechtsfähigkeit hängt nicht mehr vom „Personensein überhaupt", sondern vom „konkreten Gliedsein" ab. Nicht der Mensch als Person hat Rechte, sondern „Rechtsgenosse" wird der Mensch als „Bauer, Soldat, Geistesarbeiter, Ehegatte, Familienmitglied, Staatsdiener"211. Und wie ein Staatswesen mit einer solchen Rechtsordnung sich wirtschaftlich zu organisieren hat, das demonstrierte Bülow, der als wichtigste „sozialpolitische Forderung" postulierte: „In den Berufsständen sollen Unternehmer, Angestellte und Arbeiter einheitlich zusammengefaßt werden; sie sollen eine gemeinsame Arbeitsfront bilden"212. Hegels Ständelehre als Folie, auf der sich die neuen „Reichsstände" abzuzeichnen beginnen, vom „Reichsstand der deutschen Industrie" bis zum (jetzt zum „höchsten Stand" avancierten) „Reichsnährstand"213! 208
Rph 1821, SW VII, §36. Binder 21937, 35. 210 op. cit. 43. 211 Larenz 1934, 40. Busse geht noch darüber hinaus, wenn er die Volksgemeinschaft nicht einmal mehr auf Rechtsgenossen, sondern auf kleine Gemeinschaften wie „Familie" und „Kameradschaft" gründen will. M. Busse, Grundlagen der Rechtswissenschaft, in: Deutsche Rechtswissenschaft Bd. I. (1936), 172f.; zit. nach Rottleuthner, in: Negt 1970, 240. 212 Bülow 1934, 34. 213 op. cit. 54. Nach Adam Müller durfte Hegel für Bülow den zweiten Platz in der Ehrenliste der modernen Lehrer des Ständestaates einnehmen, weit vor Dahlmann, Ahrens, Riehl, Mario, Planck, Bismarck, Frantz, Spann und Heinrich, op. cit. 17. In doppelter Wendung gegen den marxistischen Klassenbegriff, der die Wirtschaft nur aus sich, von unten her und ohne rechtliche Legitimation organisiere, wie gegen den nur additiven Volksbegriff des Liberalismus sollte es um die Gliederung der Gesellschaft von oben, durch den Staat, gehen, was allein rechtlich und sozial zur legitimen Ordnung führe (op. cit. 14ff., 31). „vom Klassenstaat zum Ständefrieden" (op. cit. 24), „Versoldatung der Arbeit" (op. cit. 49) und ,,Ehre der Arbeit als sittliches Ordnungsprinzip der Wirtschaft" (F. Bülow, Hegels Staats- und Geschichtsphilosophie als Gärstoff der abendländischen Geistesentwicklung. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Bd. 100, Heft4 [1940], 470), lauteten die Parolen. Bülow hat selbst, wie wohl so mancher dieser die Nachkriegszeit erlebender Rechtshegelianer eine kreisförmige Entwicklung durchlaufen. Konnte man seine frühe konzentrierte Darstellung der Hegeischen Sozialphilosophie, welche etwa die „republikanisch-revolutionäre Stimmung" des Berner Hegel erkannte (F. Bülow, Die Entwicklung der Hegeischen Sozialphilosophie, Leipzig 1920, 21), fast als eine Kritik am Hegeischen Universalismus lesen („Die Sittlichkeit des Individuums . . . wird nicht genügend gewürdigt" op. cit. 66, ähnlich 108), so kehrte er nach seiner nationalsozialistischen Phase zu einer relativ ausgewogenen Hegeldeutung zurück, z. B. 209
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Während Binder seine idealistisch-geistphilosophische Deutungsbasis nie ganz verließ, da ihm allein seine Version des Idealismus eine organische Staatslehre zu gewährleisten schien, welche nicht zur Unterdrückung der Einzelnen führen muß214, haben andere ihre „Geist"-Feindlichkeit, und damit ihre Hegel-Feme, deutlich genug unter Beweis gestellt. Wie es damals Mode war, gegen die Asphaltliteratur zu polemisieren, so ließ sich Spann zu einer Attacke auf so ziemlich alle Erscheinungsformen der jüngsten Kultur hinreißen215; Larenz war dabei, mit der Konkretisierung des Rechts den Sittlichkeitsbegriff zu naturalisieren, der bei Erdmann, Rößler und A. Lasson noch eindeutig auf dem Niveau einer „zweiten" Natur verblieben war und jetzt wieder zu dem zusammenschmelzen mußte, was er für Hegel und die frühen Rechtshegelianer nur in der Antike hatte sein können, zur unmittelbaren Sitte, zum Ethos216; und so mancher (freilich oft nicht ohne Enttäuschung, daß ein noch so bearbeiteter Hegel sich hier nicht in den Zeugenstand rufen ließ) hat den Hegelschen Volksgeist seiner antiken, an die Polis erinnernden Bedeutung beraubt, ihn, der das Ineinander aller natürlichen und geistigen Lebensäußerungen eines Volkes meinte, naturalistisch halbiert und an einen Rassen- und Blut-und-Boden-Begriff anzunähern versucht217.
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F. Biilow, Hegel, der Historismus und die Dialektik, in: Schmollers Jahrbuch 69. Jg. l.Hbbd. (1949), 283ff. Binder 21937, 157f.; Binder 1934, 184. Schönfeld muß dies gespürt haben, als er in einer die Grenzen des guten Geschmacks überschreitenden Kontroverse mit Binder (dem er wohl den Rang des Vaters des juristischen Neuhegelianismus streitig machen wollte), noch zuviel Neukantianismus und Entfernung vom „gewöhnlichen" Bewußtsein bei seinem Gegner ausmachte, W. Schönfeld, Der absolute Idealismus Julius Binders im Lichte Hegels, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Bd. 98, Heft l (1937), 54 ff. Die kuriose Liste des Kulturverfalls: „Kino, Variete, Operette, Materialismus, Naturalismus, Atonalismus, Kubismus, Impressionismus, Expressionismus, Dadaismus, Zeitung, Wissenschaftsindustrie, Demagogentum", Spann, in: Stenzel et. al. 1934, 162. Wobei allerdings noch zu fragen wäre, ob in der Antike nach den Sophisten und Sokrates je ein solch unreflektiertes propagiert wurde, wie es Larenz empfiehlt (man denke an Aristoteles' doppeldeutige Aufnahme und Weiterentwicklung des !). Larenz über den Einzelnen: „Sem völkisches Gemeinschaftsbewußtsein und sein eigenes Selbstbewußtsein sind unterschiedslos eins", K. Larenz, Die Bedeutung der völkischen Sitte in Hegels Staatsphilosophie, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 98. Bd., Heft l (1938), 129; oder: „Kraft der Einheit seines individuellen Selbstbewußtseins mit jenem Selbstbewußtsein seiner völkischen Gemeinschaft weiß das Individuum unmittelbar, d. h. ohne Reflexion und Spekulation, was für es recht ist . . .", K. Larenz, Gemeinschaft und Rechtsstellung, in: Deutsche Rechtswissenschaft Bd. I. (1936), 36, zit. nach Rottleuthner, in: Negt 1970, 231. „Blut muß Geist und Geist muß Blut werden", Larenz 1935, 42, 48; Larenz 1940, 33. Nicht im „Volksgeist", sondern in Hegels Anthropologie entdeckte Schönfeld „eine
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Substantialisierung des Rechts, Geist- und Kulturfeindlichkeit, naturalistische Reduktion des Sittlichkeits- und Volksgeistbegriffes werden vervollständigt durch das Bild des totalen Führerstaates, der sich nach Hegels Lehre von der „Volkstotalität" „auf alles . . . ohne Ausnahme"218 beziehen soll. „Es kann keine dem staatlichen Leben entzogenen sogenannten Freiheitssphären seiner Bürger geben, und ein Versuch gegenüber diesen die Grenzen der staatlichen Wirksamkeit zu bestimmen . . . ist sinn- und aussichtslos . . ."219. Wenn die Gemeinschaft den ganzen Menschen umfassen soll, muß sie „ihrem Wesen nach total sein"220. Verwandelt sich die „Totalität" so unmittelbar in das Ganze des totalitären Staates, so muß eine ähnlich kurzgeschlossene Dialektik von der Einheit der Individualität mit der Allgemeinheit die Notwendigkeit des Führers demonstrieren. „Wie die höchste Gemeinschaft die höchste Freiheit, so ist die höchste Allgemeinheit zugleich die höchste Individualität . . . Darum ist der Staatsmann, der das Allgemeine, den Staat will, nicht nur ein Organ oder gar Werkzeug des Staates, sondern er ist der Staat"221.
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kleine Rassenlehre", W. Schönfeld, Die Geschichte der Rechtswissenschaft im Spiegel der Metaphysik, Stuttgart-Berlin 1943, 509; Schönfeld 1936, 29; man bedauerte allerdings, daß Hegel „die Judenfrage" noch nicht als Rassenproblem erkannte (sondern im Gegenteil für die „Judenemanzipation" eingetreten war), daß er auch die „Naturseite des Volkes" nicht stärker hervorgehoben hatte, Larenz 1938, 135; Schönfeld 1943, 510. Häring 1940, 25. Binder 1934, 33; Binder 21937, 322. Binder hatte die Spannung zwischen Macht und Recht zunächst in der „Rechtsidee" idealistisch auflösen wollen, J. Binder, Recht und Macht als Grundlagen der Staatswirksamkeit, Erfurt 1921, 17. Von 1929 ab nivellierte er diesen Gegensatz wie den von Staatsräson und Moral, um ihn zunächst in Hegels „Sittlichkeit" (= „Macht im Dienste der Gemeinschaft", Binder 1929, 12, 17), dann mehr und mehr im alles umfassenden Staat aufzulösen. Larenz 1938, 114. Biilow fordert im Namen des totalen Staates unmißverständlich „Ausmerzung alles abgesonderten oder in Opposition sich / stellenden Daseins . . . " (Bülow 1934, 11/12), Spann konkretisiert dies „Dasein" als die „Menge von Entarteten, Zügellosen, Ränkemachern, Fallstaffen, Verführern, Neidigen, Verrätern, Zersetzern, Krankhaften / und anderen Arten von Finstergeistern" (Spann, in: Stenzel et. al. 1934, 161/62), mit denen demokratische Systeme als „einem beständigen Bestandteil der politischen Gewalt (arbeiten würden)" (op. cit. 162). Larenz, in: Stenzel et. al. 1934, 168; Larenz 1934, 44; Bülow 1934, 10f.; Binder 1934, 38ff.; Binder 21937, 312ff.; Häring 1940, 26; G. Dulckeit, System und Geschichte in Hegels Philosophie, in: Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie Bd. 4 (1937), 49; der Jurist und Rechtsphilosoph, der wissenschaftliche Leiter des Nietzsche-Archivs und stellvertretende Direktor der „Akademie für deutsches Recht" Carl August Emge, der zunächst mit akademischen Hegel-Arbeiten hervorgetreten war, hat ebenfalls (allerdings ohne sich auf Hegel zu beziehen) eine Philosophie des Führertums entworfen, C. A. Emge, Ideen zu einer Philosophie des Führertums, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Bd. XXIX, Heft 2 (1935/36), 175ff.; vgl. Kiesewetter 1974, 267ff., 439.
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Der bei Rößler und A. Lassen nach „innen" noch eingeschränkte Machtstaat hat sich zum totalen Führerstaat gewandelt. Wie schon manchmal Rößler so argumentieren auch die totalitären Denker im Stile des Orwellschen double think. Unvereinbare Gegensätze verschwimmen zur Einheit hinter den Wortschwaden einer Vernebelungssprache, die sich mit dem Prestige der Dialektik zu tarnen versteht. Kein Wunder, daß dieser Denkstil, der bei der „Deduktion" des Führers gerade noch die mögliche Einheit von Individualität und Allgemeinheit postulierte, im äußeren Staatsrecht wieder die Unversöhnlichkeit der individuellen Staaten zu betonen weiß. Der möglichen Vereinigung der Staaten im Geiste des Kantischen Kosmopolitismus, Humanismus und Friedensideals wird wieder einmal der gefeierte Krieg222, die „Ohnmacht des bloßen Sollens"223 im Völkerrecht und „der Richterstuhl des objektiven Geistes" kontrastiert. Es wäre sicher angenehm, dieses traurige Kapitel in der Geschichte des Hegelianismus schnell zu durchblättern und dann zu vergessen. Man hat Hegel wie wohl in keiner der nicht gerade zimperlichen Hegelschulen benutzt und ausgebeutet, seinen Rechtsstaat in den totalen Staat, seinen Geistbegriff in rassischen Ungeist, seine noch auf der Höhe des GoetheZeitalters stehende Philosophie in die Barbarei des 20. Jahrhunderts heruntergezogen. Aber so eindeutig dies jedem Betrachter einleuchtet, der nicht selbst (wie so mancher der liberalen Hegelkritiker) Vergangenheitsbewältigung auf dem Rücken Hegels austragen will, diese Tatsache sollte uns nicht der schmeichelhaften Täuschung vertrauen lassen, bei dieser Nazifizierung Hegels für den juristischen Hausgebrauch werde nur ein Hegel aus zweiter Hand repräsentiert. Mit den Häring, Binder, Bülow und Larenz waren Hegelkenner der ersten Garnitur am Werk, „Denker von Gewerbe", die sicher oft genug, gegen besseres Wissen, in Hegel hineinlasen, was ihnen die Zeit gerade zu fordern schien, die aber auch 222
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Lassons „Kulturideal und der Krieg" entspricht J. Binders, Die sittliche Berechtigung des Krieges und die Idee des ewigen Friedens, Berlin 1930; vgl. auch Binder 1929, 36; Binder 21937, 500. Der Krieg „die höchste Probe der Volksgemeinschaft", Larenz, in: Stenzel et. aJ. 1934, 48. Hoffmeister hat damals Hegels Theorie des sittlichen Krieges Kants Kosmopolitismus und Friedensideal gegenübergestellt, allerdings in sehr abgeschwächter Form, sollte doch Hegels Souveränitätslehre eine Völkerverständigung nicht völlig ausschließen, J. Hoffmeister, Die Problematik des Völkerbundes bei Kant und Hegel, Tübingen 1934. Häring dagegen leistete sich, als der Krieg schon begonnen hatte, noch die Geschmacklosigkeit, eine kreuzfidele Philosophie des Heldentodes zu verbreiten, siehe Kiesewetter 1974, 326ff. Larenz, in: Stenzel et. al. 1934, 169; Binder 21937, 471, 491.
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„anders konnten" und es nicht nötig hatten, alles zu erfinden und es dem unschuldigen Hegel in den Mund zu legen. Vergessen wir die totalitären Auswüchse, dann bleiben doch einige Aspekte dieser Hegelauslegung übrig, die als teilweise geglückte Abgrenzung von konkurrierenden Hegelschulen wie als Hinweise auf einen möglichen Universalismus Hegels ernsthafte Aufmerksamkeit verdienen. (1) Zunächst läßt sich der Punkt allgemein fixieren, an dem sich der Universalismus Hegel auf Schrittweite nähert. Denn der Anspruch dieses Rechtshegelianismus ist kein anderer als der von Hegel selbst immer wieder beteuerte, der einer Versöhnung von Individuum und Allgemeinheit, die weder auf Kosten des Einzelnen noch auf Kosten der Lebendigkeit und Sittlichkeit des Gemeinwesens zustandekommt. Die wechselseitige Abhängigkeit von Individuum und Gemeinschaft erkennt diese Hegeische Rechte nicht weniger als die Hegeische Mitte! Erst mit der zusätzlichen These, die Freiheit des Einzelnen werde von Hegel nur im Namen der Lebendigkeit des Ganzen gefordert und eingebracht, trennen sich die Wege der auf den Rechtsstaat oder auf den Machtstaat bzw. totalitären Staat zusteuernden Schulen. Die liberale Hegelkritik, wie sie sich für Dulckeit mit den Namen Haym, Rosenzweig, Heller, Meinecke und G. Lassen verbindet, hat sich im Blickwinkel dieser Einsicht ein Interpretationsproblem geschaffen, das bei Hegel gar nicht vorhanden ist. „Wie ist es möglich, daß Hegel die Moralität, den Standpunkt des freien Einzelnen unter die objektive Sittlichkeit des Staates gestellt hat, wo sein gedanklicher Ausgangspunkt für seine Staatslehre doch angeblich der Einzelwille gewesen ist?", das ist in der Tat eine falsch gestellte Frage, da Hegel nie vom isolierten Einzelnen aus den Staat konstruieren wollte224. Hegel läßt sich im Begriffsrahmen nur einer Hegelschule eben nicht erfassen. Und wenn wir von den Aktualismen des alten und neueren Rechts224
G. Dulckeit, Hegel und der preußische Staat. Zur Herkunft und Kritik des liberalen Hegelbildes, in: Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie Bd. 2, Heft l (1935), 73. Läßt sich nicht spüren, daß diese Rechtshegelianer durchaus eine Seite der Hegeischen Gemeinschaftslehre erfassen? So wenn etwa Larenz schreibt, daß sich für Hegel die Frage nicht stellen läßt, ob „es nicht immer die einzelnen Menschen (sind), die wollen und handeln, und (ob) somit nicht der Staat, auch wenn er sich durch die Handlungen der Menschen verwirklicht, ein ihnen gegenüber Fremdes, eine nur abstrakte, gedachte Allgemeinheit (bleibt)" (Larenz, in: Stenzel et. al. 1934, 168), oder wenn Häring positiv gewendet formuliert, immer „jedenfalls steht ihm (Hegel, H. O.) beides fest: das (lebendige) Individuum ist ohne (lebendige) Gemeinschaft . . . ebenso undenkbar, wie die (lebendige) Gemeinschaft ohne lebendige, selbständige, freie aktive Individuen, die sie tragen"! Th. Häring, Gemeinschaft und Persönlichkeit in der Philosophie Hegels, in: F. Krüger (Hrsg.), Philosophie der Gemeinschaft, Berlin 1929, 64.
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Hegelianismus absehen, bleiben doch genug zum Universalismus gravitierende Lehren übrig, genug jedenfalls, uns vor der liberalen Hegelvereinnahmung zu warnen, die immer geflissentlich herunterspielt, was die Rechte feiert, die Kritik an Liberalismus, Atomismus und Vertragstheorie, die „Überwindung" Kants und Fichtes, die Struktur der Sittlichkeit und die schon in der Bismarck-Zeit begrüßte Aversion Hegels gegen Kosmopolitismus, Friedensideal und „bloßes" Sollen. (2) Trotz der zeitabhängigen Hegelverzerrungen hat selbst der totalitäre Rechtshegelianismus manchmal das Niveau einer mit allen akademischen Finessen operierenden Richtung der Hegelforschung erreicht. Dafür steht nicht nur die verhängnisvolle und oft sophistisch-subtile juristische Argumentation, mit der Larenz oft genug brillierte, dafür zeugt in ähnlicher Weise die geschickte Aufnahme und Abwehr liberaler Hegelapologie sowie linker Hegelkritik. Larenz verstand es, mit den seit Rosenkranz üblichen Strategien der Hegeischen Mitte Hegel vor dem Vorwurf des preußischen Staatsphilosophen zu schützen225, Dulckeit gelang es, beim Versuch der Widerlegung des Panlogismusvorwurfs und der Akkommodationskritik an die Problematik der Relation von Logik und Empirie wieder anzuknüpfen, die ein zentraler Angriffspunkt schon der frühen Linkshegelianer gewesen war. Durch die Unterscheidung von „Begriff" und „Gestalt", die an Differenziertheit nichts zu wünschen übrig läßt, wollte Dulckeit den Ursprüngen so mancher Hegellegende ihre Glaubwürdigkeit nehmen, dem Panlogismusvorwurf durch die Charakterisierung des Begriffs, der allein auf sein Dasein, nicht jedoch auf die „konkrete" Gestaltung übergreife, der Akkommodationskritik durch die Herausarbeitung der logischen Struktur der Rechtsphilosophie, die nur die „zeitlose Entwicklung des Rechts^egn^Ts" entfalte und die „Wirklichkeit" nur als eine „Gestaltung des Begriffs" enthalte226. Zwar war die Motivation dieser 225
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Larenz verweist auf die Kontinuität in Hegels Denken von Jena bis Berlin sowie auf die über Preußen hinausweisende Institutionen der Hegeischen Staatslehre, Larenz 1940, 9ff. Dulckeit 1936, 17; ders., Die Idee Gottes im Geiste der Philosophie Hegels, München 1947, 16 ff. Wie kompliziert man interpretieren konnte, wenn man nur wollte, beweist diese Analyse von „Begriff" und „Gestalt", die sich nach Dulckeit nicht einfach wie logisches Wesen und empirische Existenz entsprechen. Beide besitzen vielmehr einen Doppelsinn, der sich auf dem Niveau des objektiven Geistes noch einmal mit der zweifachen Bedeutung des „Geistes" kreuzt, der „subjektiver" und „objektiver" Geist sein kann (Dulckeit 1936, 43). An der „Gestalt" müssen zwei Seiten unterschieden werden, eine, die sie mit dem Dasein des Begriffs identisch sein läßt, und eine „empirische", die den ganzen Reichtum phänomenologischer, geschichtlicher und philosophiegeschichtlicher Ausformungen der Idee enthalte (= die „konkrete" Gestaltung,
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Hepelapologie nicht uneigennützig (ging es doch darum, hinter den Legenden das Bild des Lehrers der „Volkstotalität" freizulegen, der ja nicht gleichzeitig preußischer Staatsphilosoph, Bismarckscher Machtstaatslehrer und völkischer Denker gewesen sein konnte), aber Argumentationen wie diese beweisen, daß sich nicht alles am totalitären Rechtshegelianismus mit dem ansonsten berechtigten Ideologieverdacht beiseite schieben läßt. Manche falsche Fährte zu einem Hegeischen Universalismus wie der Irrweg einer falsch begründeten Akkommodationsanklage wurde bewußt zu vermeiden versucht. Gewiß, oft ließ man aus dem Sümpfen der völkischen Mentalität nur dialektische Wortnebel aufsteigen; manchmal aber haben die flankierenden Abgrenzungen nach links und zur Mitte auch etwas vom Glanz anspruchsvoller Hegelauslegungen gespiegelt. (3) Die versuchte Beseitigung der Akkommodationskritik ist allenfalls in den Strategien von Larenz, nicht aber in Dulckeits Unterscheidungen ein wenig geglückt227. Bedeutender als dieser Abgrenzungsversuch ist die Abwehr der linkshegelianischen Reduktion des Staates auf die Gesellschaft, die von den totalitären Rechtshegelianern zwar genauso einseitig mit dem vollständigen Übergreifen des Staates auf die gesellschaftliche Emanzipation komplementiert wird, die jedoch von den Larenz und Binder nicht weniger als Abkehr von Hegel durchschaut wird wie von den
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op. cit. 27, 29, 34 Anm., 42f.). Der Begriff schließt sich selbst und sein begriffliches Dasein ein. Doppeldeutiger Begriff und doppeldeutige Gestalt müssen sich aber sowohl auf der „subjektiven" Seite des Begriffs (in der Rechtsphilosophie z. B. bei der „Person") als auch auf der „objektiven" Seite (z. B. beim „Eigentum") wiederfinden lassen. Ein logisches Entsprechungsverhältnis existiert (nach Dulckeit) aber nur zwischen dem gerade logisch führenden Moment und der Gestaltung als dem Dasein des Begriffs, nicht zwischen der logischen Abfolge der Gestalten und der geschichtlichen Entwicklung, in der aus dem „Eigentum" natürlich nie der „Vertrag" oder das „Unrecht" wurde. Während Dulckeit mit diesem letzten Punkt wohl etwas Wahres trifft, so kann seine Analyse als grundsätzliche Widerlegung liberaler und linkshegelianischer Hegelkritik nicht überzeugen. Denn abgesehen davon, daß der Begriff der „Gestalt" bei Hegel, zumindest terminologisch, nur in die Jenenser Jahre gehört, Dulckeit muß seinen Hegel übermäßig platonisieren und enthistorisieren, um die Verbindung der Logik zur Empirie abzuschwächen. Die Konkretion, die in der Rechtsphilosophie auftaucht (z. B. Zweikammersystem, Majorate, Erbkönigtum), wird von Hegel ausdrücklich und direkt mit dem „Instrumetarium" logischer Begriffe behandelt. So bemerkte selbst Binder schon kritisch, Dulckeit sehe „die Rechtsphilosophie als Logik des'Rechtsbegriffes, der gegenüber die Gestalten des Rechtsbewußtseins als der empirischen . . . Welt angehörend zurücktreten müssen", J. Binder, Mein Absoluter Idealismus und Hegel. Eine Klarstellung gegenüber der Kritik meines Systems, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 98. Bd., Heft 3 (1938), 415. Nur ein wenig, weil die Problematik der Akkommodationstendenz, die aus der Endgeschichtlichkeit des Hegeischen Systems folgt, weder als Frage zureichend formuliert noch widerlegt wurde.
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frühen Rechtshegelianern. Larenz hat das Hegeische „Eigenrecht des Politischen" recht glaubhaft gegen alle Theorien abgegrenzt, die den Staat aus materiellen oder sogar kulturellen Zwecken ableiten228. Das Eigenrecht des Politischen, das bedeutet nicht nur die Gegnerschaft gegen jede „militaristische" Staatsbegründung, sondern auch die Abweisung eines jeden Versuchs, die Gesellschaft gegen den Staat auszuspielen. Vergessen wir wieder einmal die völkisch-totalitäre Folie der Argumentation, dann scheinen die Rechtshegelianer diesmal einer zentralen Hegeischen Lehre nahezukommen, welche die linkshegelianische Staatsfeindlichkeit nur verdunkelt. Denn auch für Hegel war die Gesellschaft keine selbständige Sphäre des sich von sich entfremdenden Privatbürgers, keine Basis unter einem abgeleiteten Überbau qua Staat, sondern die Gesellschaft galt ihm eher als ein Reflex oder „Schein" der staatlichen Gemeinschaft229. Anders als in der marxistischen Soziologisierung alles Politischen hat Hegel die Selbständigkeit der Politik gewahrt, weil er die Gesellschaft nicht als sich selbst tragende, geschlossene Gemeinschaftssphäre konzipierte, sondern als einen abhängigen Bereich, dessen atomistische Elemente sich auf den Staat als ihre Substanz beziehen müssen. Die Gesellschaft war für Hegel im wörtlichen Sinne nur „relativ" auf den Staat, der sie „trägt"230. Die Marxsche Hegelkritik fällt auf Marx zurück. Nicht Hegel abstrahiert vom konkreten Bürger, wenn er den Staat über die Gesellschaft setzt, sondern Marx sieht von der Ganzheit des Menschen ab, wenn er seine Lehre auf das „wirtschaftende Individuum" einschränkt. Marx bleibt beim Bedürfniswesen Mensch und bei der Wirtschaftsgesellschaft stehen, die er sogar komplizierter Organisationsformen, wie sie bei Hegel noch die Stände oder die Bürokratie darstellen, berauben will231. Hegel beschreibt nur einen, wie Schmidt es nennt, „dialektischen" Gegensatz zwischen dem „Volk" und seiner „Entzweiung" in der Gesellschaft, einen Widerspruch, der sich als relativer im Staat versöhnen ließ. Marx spitzt den Gegensatz auf einen „absoluten" zu, der sich nur noch durch die Vernichtung eines Extrems, nicht mehr unter Einbeziehung beider 228
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Das bemerkenswerte Zitat lautet: „Hegels Staatsauffassung ist eine wesentlich politische. Er lehnt es nicht nur ab, den Staat lediglich als Mittel für die Zwecke der Individuen zu betrachten, sondern auch als Mittel für sogenannte .höhere' Kulturzwecke . . . Solchen Auffassungen gegenüber betont Hegel, als Einziger der deutschen Idealisten, das Eigenrecht des Politischen", Larenz, in: Stenzel et. al. 1934, 167. Bei Schmidt freilich als Reflex der „völkischen" und „totalen" Gemeinschaft, Schmidt 1944, 140. op. cit. 138-40. op. cit. 131.
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Die liberale Kritik an Hegels Universalismus
Sphären, lösen läßt232. Damit unterschätzt Marx wie später seine Schüler den Wirklichkeitsgehalt, der Hegels Staat genauso zukommt wie der Gesellschaft. Denn der Staat233 läßt sich nicht als ideologisches Hirngespinst abtun, er ist nicht weniger real als die „sozialen Antagonismen".
5. Die liberale Kritik an Hegels Universalismus Das Hegelbild der Rechtshegelianer bestätigen auf frappierende Weise die liberalen Kritiker, die vom Boden der Weimarer Republik oder unter dem Eindruck der deutschen Katastrophe in Hegel den Philosophen fanden, der sich am Verhängnis der deutschen Politik mitschuldig gemacht hat. Genauso wie man sich auf den Macht- und Volksstaatsphilosophen berief, kritisierte man den vermeintlichen Bismarck-Anhänger und Nationalsozialisten, und es ist nicht immer einfach, von Fall zu Fall zu entscheiden, ob die liberale Hegelkritik nicht eher eine Kritik des Rechtshegelianers Hegel als eine Deutung Hegels ist. Im Grundtenor freilich wird der Rechtshegelianismus nur mit anderen Mitteln fortgesetzt. Machtpolitik, Nationalismus, Kriegsverherrlichung, Historizismus und Philosophie der Sittlichkeit werden genauso gedeutet wie zuvor, nur wird die Rolle dieses rechtshegelianischen Hegel nicht begrüßt, sondern als Wegbereitung für das beispiellose Unterdrückung der Individuen verdammt, die unserem Jahrhundert vorbehalten blieb.
5.1. Hegel als Bismarck-Hegelianer und Universalist in der deutschen Kritik (L. v. Ranke, Fr. Meinecke, H. Heller, Fr. Rosenzweig, P. Vogel, Th. Litt) Mit Leopold von Ranke beginnt, was dann bei Friedrich Meinecke und Hermann Heller sich zu einem vollständigen liberal-kritischen Typus der Hegel-Deutung weitet, eine sich zunächst gegen Hegels Geschichtsphilosophie, dann aber auch gegen seine Staatslehre wendende Kritik, die gegen Hegel das Recht der Individualität von Staaten und Epochen, aber auch 232
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op. cit. 132. Bei Schmidt natürlich „die völkische Totalität" op. cit. 135. Um Schmidts These zu präzisieren, müßte man vielleicht sagen, daß Marx den Realitätsgehalt des Staates immer dann unterschätzt, wenn er die Relation „Gesellschaft-Staat" in Analogie zum Verhältnis „Basis-Ideologien" zu begreifen sucht.
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die Ansprüche des Individuums einzuklagen versucht. „. . . jede Epoche ist gleich unmittelbar zu Gott"234, so hatte Ranke in seiner berühmten Vorlesung für Maximilian II. seine Gegnerschaft gegen jede ideologische, die Generationen „mediatisierende" Geschichtsphilosophie bekundet; denn der Wert einer Epoche „beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst"235. Der Fortschritt, er scheint Ranke eher einem „Strom" vergleichbar, der sich seinen Weg bahnt, als einer geraden Linie, die stetig auf ihr Ziel zuläuft. Zwar läßt er sich finden „im Bereich der materiellen Interessen"236, nicht jedoch in der Moral, nicht in der Politik, nicht in der Religion, nicht in der Philosophie, nicht in der Geschichtsschreibung und auch nicht in den genialen Schöpfungen der Kunst237. Lächerlich „ein größerer Epiker sein zu wollen als Homer, oder ein größerer Tragiker als Sophokles"238! Hegel und seine Schule aber haben durch ihren großen Einfluß im 19. Jahrhundert ihren Teil dazu beigetragen, daß die Eigenwertigkeit von Epochen und Menschen auf dem Altar eines für Ranke illusionären Fortschrittsglaubens geopfert wurde239. Ihnen galt die Geschichte als logischer Prozeß einer zu sich findenden Idee. „Nach dieser Ansicht", so urteilte Ranke, „würde bloß die Idee ein selbständiges Leben haben; alle Menschen aber wären bloße Schatten oder Schemen, welche sich mit der Idee erfüllten. Der Lehre, wonach der Weltgeist die Dinge gleichsam durch Betrug hervorbringt und sich der menschlichen Leidenschaften bedient, um seine Zwecke zu erreichen, liegt eine höchst unwürdige Vorstellung von Gott und der Menschheit zu Grunde; sie kann auch konsequent nur zum Pantheismus führen; die Menschheit ist dann der werdende Gott, der sich durch einen geistigen Prozeß, der in seiner Natur liegt, selbst gebiert"240. Friedrich Meinecke wie Ranke auf der Suche nach dem in der Geschichte, nach der Providenz im Angesicht der Herrschaft des Bösen, 234
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L. v. Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte. Weltgeschichte 9. Teil, 2. Abt., A. Dove (Hrsg.), Leipzig 1888, 5. ebd. op. cit. 6. op. cit. lOff. op. cit. 6. Inwieweit Ranke selbst trotz aller Kritik von Hegel beeinflußt blieb, kann uns nicht weiter beschäftigen. Eine aufschlußreiche Schilderung der Differenzen und Gemeinsamkeiten bei E. Simon, Ranke und Hegel, München-Berlin 1928, 119ff., 150, 170, 189, 193. op. cit. 7.
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konnte schon nicht mehr Rankes Vorsehung einer zeitlos über der Geschichte thronenden Gottheit vertrauen, welche „die ganze historische Menschheit überschaut und überall gleich viel wert findet"241. War es für Rankes Providenzgedanken noch selbstverständlich, daß das Böse in der Geschichte dem Guten dient, Meineckes durch die jüngere Geschichte geschärftem Skeptizismus schien jedes menschliche Begreifen „verstummen" zu müssen angesichts des Gewissens auf der einen und der „Heterogenie der Zwecke" auf der anderen Seite, „die Gutes und Böses zusammen wachsen läßt"242. Der platte Fortschrittsglaube des 19. Jahrhunderts, Rankes noch tröstlicher Providenzgedanke, aber auch Hegels „alle Abgründe mit Gleichmut überbrückender Panlogismus"243 scheinen ihm keine Lösung des Rätsel mehr, das die Geschichte dem Betrachter ungelöst (und als weder „dualistisch" noch „monistisch" lösbare Aufgabe) überliefert. Schon der jüngere Meinecke, der dem Ziel der deutschen Kultur, der „Synthese von Geist und Macht . . . von Kultur, Staat und Nation, von Weltbürgertum und Nationalstaat"244, nachgespürt hatte, hatte Hegel in Präzisierung des Rankeschen Verdikts einen höchst zweideutigen Platz in der Geschichte der Nationalstaatslehre einnehmen lassen. Die berühmte, die Idee des Nationalstaates in biographischen Essays veranschaulichende Darstellung nannte Hegel zwar in einem Atemzug mit Ranke und Bismarck einen der drei „großen Staatsbefreier"245, aber die Anerkennung, die dem frühen Lehrer des Volksgeistes und der Individualität der Staaten damit gezollt wurde, wurde schon damals komplementiert durch die Kritik am Universalismus der Weltgeistphilosophie, die „konsequent dahin (führt), alle Individualitäten der Geschichte ihres Eigenrechtes zu berauben und sie zu bewußtlosen Werkzeugen und Funktionären des Weltgeistes zu machen"246. Bei Meinecke wandelt sich Rankes berühmtes Wort von den Epochen, die gleich unmittelbar zu Gott sind, zu einer nicht weniger einprägsamen Formel, die bald in keinem Arsenal liberaler Hegelkritik mehr fehlen sollte. Denn Hegel löst für Meinecke die Problematik seiner Gutes wie 241
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op. cit. 5/6. F. Meinecke, Deutung eines Rankewortes (1942), in: Friedrich Meineckes Werke Bd. IV. Zur Theorie und Philosophie der Geschichte, E. Kessel (Hrsg.), Stuttgart 1959, 135. op. cit. 137. F. Meinecke, Die deutsche Katastrophe, Wiesbaden 1946, 21. F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, München-Berlin 31915, 173. op. cit. 279.
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Böses in eine Einheit zwingenden Metaphysik durch die Zauberformel seiner „Marionettentheorie"247. Indem diese die Individuen zu Marionetten einer Weltvernunft werden läßt, „deren List es ist, Böses wie Gutes, Elementares wie Geistiges für sich arbeiten zu lassen"248, kann Hegel die Irrationalität des Weltlaufs zur bloßen „Vordergrundserscheinung" erklären, hinter der doch alles von höherer Hand zum Besseren gelenkt wird. Wenn aber Hegel die Weltgeschichte in den Bann eines monistischen Optimismus zwängt, dann muß er auch den Staat die Individuen in den Kreis seiner Macht ziehen lassen. Sollen Moralität und Gewissen den Monismus nicht sprengen, darf sich der Konflikt zwischen Politik und Moral nur im Sieg der Macht lösen, „Staatsvergötterung"249 muß Hegels Vereinigung des Unvereinbaren krönen. Meinecke, nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges sensibilisiert für die Ohnmacht des Geistes, kämpfte in der Nachkriegszeit noch stärker gegen die Unterdrückung des Einzelnen, die sich ihm nun in der Macht einer Staatsräson zeigte, die sich zum Selbstzweck aufwirft. Aus dem Trio der Staatsbefreier „Hegel, Ranke, Bismarck" wird 1924 ein Triumvirat von Machtstaatslehrern, symbolisiert Hegel doch neben Machiavelli einen der „markantesten Gipfel"250 in der verhängnisvollen Geschichte der Staatsräson. Denn bei Hegel geschieht etwas Ungeheuerliches, was es in der Staatsräsonlehre zuvor noch nicht gegeben hatte: Der Machiavellismus, der bislang neben dem individualistischen Naturrecht sein Dasein fristen mußte, bricht ein „in den Zusammenhang einer idealistischen, alle sittlichen Werte zugleich umfassenden . . . Weltanschauung . . . Es war fast wie die Legitimierung eines Bastards, was hier geschah"251. Im großen Zusammenhang der Geschichte der Staatsräson steht Hegels Lehre an einem Scheitelpunkt. Die beiden Ideen, mit denen Meinecke operiert, die „Individualitätsidee", die von Herder, Goethe, den Romantikern und der historischen Rechtsschule eingebracht und vom Historismus entwickelt wird, und die „Identitätsidee", der Versuch einer Vereinigung von Natur und Geist, spiegeln sich beide in Hegels Philosophie, jedoch auf solche Weise, daß Hegel die Identitätsidee die Individualitätsidee überschatten läßt. Es ist das identitätsphilosophische Grundinteresse, 247
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F. Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, München-Berlin 1924, 436. op. cit. 453. op. cit. 454. op. cit. 456. op. cit. 435.
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welches der „List der Vernunft" bedarf, um „die Einheit und Vernünftigkeit des gesamten Weltzusammenhangs dartun zu können"252. So wurde Hegels Ziel zwar nicht die nationale Macht, wie es manche MeineckeSchüler undifferenzierter als ihr Lehrer noch behaupten sollten, sondern „die nationale Kultur"253; dennoch hat der ungeheuerliche Optimismus dieser Identitätsphilosophie auf „die Nachtseite der Staatsräson ein beschönigendes Licht" fallen lassen, dennoch hat er das moralische Gefühl abgestumpft und eine Einstellung mitbegründen helfen, welche „die Exzesse der Machtpolitik auf die leichte Achsel . . . (nimmt)"254. Ranke und Meinecke, diese großen Historiker, waren Hegels Geschichtsphilosophie, in der ideologisches Denken, Fortschrittsglaube, Versöhnungsoptimismus und Theodizeeproblematik ineinanderlaufen, bei aller Kritik noch nahe gewesen. Hermann Heller, der bedeutende Propagandist des sozialen Rechtsstaates und heute wieder gewürdigte Antipode von Carl Schmitt, auch gerade niemand von geringer Statur im Reich der Geister, ist von Hegel doch schon weiter entfernt als sein Inspirator Meinecke, wenn er Hegel in die Perspektive des machtstaatlichen Denkens im 19. Jahrhundert einrückt und den von Meinecke noch als „Kulturnation" klassifizierten Staat Hegels in einen nationalen Machtstaat verwandelt. Bismarck-Hegelianer und andere Konservative erscheinen ihm als treue Schüler ihres Lehrers Hegel, beginnt die Geschichte der Machtstaatslehre doch nicht erst mit Treitschke, sondern mit Hegel selbst. Hegel steht am Anfang der Entwicklung, die aus der Kulturnation die Machtstaatsnation werden ließ. Heute nach einem halben Jahrhundert erscheint uns Hellers Arbeit mit manchen Schwächen belastet. Der junge Hegel, den wir in so vielen entwicklungsgeschichtlichen Interpretationen kennen und schätzen lernten, für Heller tritt er nur in der immer gleichen Rolle des sich nie ändernden nationalen Machtstaatslehrers auf; der Restbestand an Liberalität, den die Staatsphilosophie der Bismarck-Hegelianer wie Rößler und Lassen noch enthielt, er wird von Heller (um der Geschlossenheit des konservativen Bildes willen) erst gar nicht zur Sprache gebracht; das theoretische Niveau, auf dem ein Rößler argumentierte, wird nicht wiedergegeben, Philosophen der ersten Garnitur werden durcheinandergewürfelt mit Sekundärphilosophen (wie Plenge) oder tertiären Denkern (wie Bernhardi), und manch252 253 254
op. cit. 459. op. cit. 457. op. cit. 459.
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mal scheint schon Heller das Motto „post hoc, ergo propter hoc" zu beachten, das später Popper befolgen sollte. Aber was auch immer heute leicht kritisierbare Schwächen dieser Studie sein mögen, für lange Zeit war Heller der einzige, der überhaupt die Rolle des konservativen Hegelianismus in Erinnerung brachte. Heller sieht bei Hegel wenigstens noch den Anspruch auf Einlösung der individuellen Freiheit, den er bei den Rechtshegelianern überlas. Die Organismuskonzeption des Staates, so erkennt er scharfsinnig, die Argumente der Binder-Larenz vorausahnend, erlaubt die Kettung der Einzelnen ans Ganze, sie erzwingt aber auch „Freiheitszugeständnisse"255. Allerdings fordert Hegel diese nicht im Namen der Einzelnen, sondern, da ist sich Heller wieder mit Häring und Larenz einig, nur um der Macht des Ganzen willen. Nur in der Gesellschaft, nicht aber im Staat läßt Hegel überhaupt Freiheitsräume zu 256, und der einzige Zweck der „unteren" Organisationen, die Hegel einschiebt, ist eine Bindung der Einzelnen an den organischen Staat, die noch fester geknüpft werden kann, wenn es solche scheinbaren Spielräume gibt. Hegel inaugurierte einen Universalismus, der sich nur zeitweilig als Individualismus tarnte. Das Ziel des jungen Hegel bildet bereits die Idee eines „transpersonalen" Staates257 und einer „nationalen Machtstaatslehre"258, aus der sich schon die Aversion gegen das Christentum und die Programmatik der Verfassungsschrift speisen. Der junge Hegel schreibt aus dem Geist Machiavellis259. Zwar vergötzt er nicht die „militärischphysische" Macht, sondern auch Macht ist ihm ein „sittliches" Phänomen. Aber diese Parteinahme ist keineswegs eindeutig, sondern Hegel kann nach Belieben „von einem Bein auf das andere treten"260. Nach „innen" basiert Hegels Staat auf einer „rein nationalen Sitte"261, in der Moralität und religiöse Innerlichkeit verschwinden262, sich eine universalistische Ethik an die Stelle einer Individualethik und ein transpersonaler Rechtsbegriff an die Stelle einer Konzeption schieben, welche das Recht auch für die Einzelnen da sein läßt. In Hegels Staatslehre können Rechtsansprüche 255 256
257 258
259 260 261 262
Heller 1921, 98. op. cit. 102. op. cit. 29,31. op. cit. 34. op. cit. 54ff. op. cit. 62. op. cit. 77. op. cit. 79.
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der Individuen gegen den Staat gar nicht erst auftreten263. Der Staat „nach außen" erhält unter dem Deckmantel der Philosophie den Freibrief für eine Machtpolitik, da der subjektive Machtwille eines Staats mit dem objektiven Zweck des Weltgeistes koinzidiert, Hegel den Krieg logisch aus der Individualität der Staaten als Notwendigkeit deduziert und das Völkerrecht auf die faktischen Machtverhältnisse reduziert wird264. Die geistige Verwandtschaft zwischen Hegel und Bismarck sticht für Heller damit in die Augen. Zu Recht haben die Rößler und Lasson in Hegel ihren Ahnen gesehen. Und prophetisch hatte der 1933 im Madrider Exil gestorbene Heller sein Buch beschlossen, als er von seinem Machtstaatslehrer schrieb: „Die bislang unzulängliche Politisierung Deutschlands sichert Hegel auch für die Zukunft fortdauernden Einfluß"265 — ohne freilich wissen zu können, wie schnell sich seine Ahnung in den dreißiger Jahren bestätigen sollte. Hellers Hegelkritik trifft eher die rechtshegelianischen Hegelschüler als Hegel selbst. Dennoch ist sein Hinweis auf die universalistische Grundtendenz im Denken Hegels genauso beachtenswert wie die hartnäckigen Interpretationen der totalitären Hegeldeuter Deutschlands. Freilich, Hegel in die Nähe Bismarcks zu stellen, nachdem er für die Linkshegelianer und die alten Liberalen der preußische Restaurationsphilosoph gewesen war, ist nicht ohne Ironie. Hatte man ihm damals seine Gegnerschaft gegen die „nationalen" Bewegungen wie Burschenschaften und Turnvereine verübelt und ihn manchmal gar als vaterlandslosen Gesellen angegriffen, der mehr mit dem Franzmann Napoleon als mit dem sich auflösenden Reich sympathisierte266, so ist der ehemalige preußische Staatsphilosoph nun zum Philosophen der Nation geworden, die es erst vierzig Jahre nach seinem Tode überhaupt gab. Aus Hellers Darstellung kann man ersehen, „wie Hegel gedacht hätte, wenn er — nicht Hegel, sondern ein nationalliberaler Hegelianer der Bismarckschen Ära gewesen wäre"267, schrieb einmal Rosenzweig, der auch selbst von Meineckes Hegelkritik nicht unbeeindruckt blieb. Aber während er bei Heller ganz klar die Gravitation vom Kultur- zum Machtstaat ausmacht268, möchte er, darin vorbildlich für die Absicht unserer 263
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266 267 268
op. cit. 88. op. cit. 119ff. op. cit. 210. Z.B. Haym 1857, 273f. F. Rosenzweig, Bücher über Hegel, in: Kleinere Schriften, Berlin 1937, 509. „Heller weiß sehr wohl, daß für Hegel die Gleichung von Macht und Geist gilt, aber in der Darstellung verschiebt sich ihm der Akzent ganz auf die Macht" (op. cit. 507).
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Arbeit, das „labile Gleichgewicht" herausschälen, das Hegels Philosophie zwischen ihren idealistischen und realistischen Elementen „in jedem Augenblick" spüren läßt269. Rosenzweigs liberale Kritik, das ist demnach nur eine Seite seines um Ausgewogenheit bemühten Hegelporträts, aber doch eine, die oft übersehen wird und nicht übersehen werden darf. Denn schon das Hölderlin-Motto von Rosenzweigs Arbeit270 erinnert an die Absicht, Hegel und die Ereignisse von 1866 und 1871 zu verbinden. Hegel und Treitschke sind insgeheim die Verbündeten Bismarcks gewesen, der die Trennung von Staat und Nation und damit die von Staat und Kultur besiegelte. Voraussetzung für den „furchtbaren Schnitt von 1866" war die Hegel-Treitschke-Bismarck verbindende Geisteshaltung. Denn wie für den einen der Einzelne erst im Staat überhaupt „sittlich" werden kann, so war für die anderen die Nation erst im Staat ein Volk, „beide, Einzelmensch und Nation, sind so in gewissem Sinne dem Staat zu opfern, dem vergötterten Staat das Eigenrecht des Menschen wie die Ganzheit der Nation . . ."271. Im Lichte dieser Idee wird die liberal-kritische Seite der zweigleisigen Auslegung Rosenzweigs erst verständlich. Ohne aus dem Bismarck verwandten Hegel den ganzen Hegel zu machen, verzichtet Rosenzweig nicht darauf, die Wandlungen Hegels zu verfolgen, die ihn von seinen revolutionären (Bern) und liberalen Ideen (Frankfurt) auch einmal zum Universalismus und zur Machtstaatslehre führen. Ist es zunächst nur ein antiindividualistischer Schicksalsbegriff, der Hegels Wende ca. ab 1798 anzeigt, so tritt bald eine Staatslehre hinzu, die die Einzelnen der Macht subordiniert272. Obwohl Rosenzweig die individuellen Freiheitsräume besonders hervorhebt, die Hegel in seinem Staat jeweils offenläßt, so entdeckt er doch auch den Machtstaat, der nicht um der Einzelnen willen existiert273, den Machiavellismus274 und nach der Verfassungsschrift immerhin noch einen Machtstaat nach außen275. Nach Ranke, Meinecke, Heller und Rosenzweig, die Hegel im Prinzip im Licht der gleichen Prämissen mit unterschiedlicher Schärfe angegriffen 269
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ebd. „Aber kömmt wie der Strahl aus dem Gewölke kömmt, aus Gedanken vielleicht geistig und reif die Tat". Rosenzweig 1920, Bd. II. 242. Als Mitschuldige an den Ereignissen von 1866 und 1871 gelten allerdings Dahlmann und Stahl. op. cit. Bd. I. 88 ff. op. cit. Bd. I. 115, 145. op. cit. Bd. I. 185. op. cit. Bd. II. 131, 173.
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hatten, verflachte die Kraft dieser ursprünglich noch die großen Zusammenhänge der Geschichtsphilosophie spiegelnden, fruchtbaren kritischen Tradition. Die alte Panlogismusanklage durchsetzte sich mit neuen Weltanschauungen, etwa mit der lebensphilosophischen wie sie sich, über Dilthey vermittelt, bei Vogel zur Kritik des Hegeischen Universalismus wandelte, oder der Vorwurf der Marionettentheorie wurde zur gängigen Münze auf dem Markt liberaler Hegelkritik, ein Geldstück, das in Deutschland nicht weniger als in den angelsächsischen Ländern bald wohlfeil angeboten werden sollte. Vogel, der Hegels Gesellschaftsbegriff in einer soliden Arbeit untersucht, schlägt nicht die Brücke von Hegel zu Bismarck, aber seine Deutung trifft sich im Resultat mit Hellers und Meineckes Linie der Kritik. Zwar hat Vogel nichts dagegen einzuwenden, daß Hegel die atomistische Gesellschaft sowohl gegen den Naturalismus eines paradiesischen Urzustandes als auch gegen den Eudämonismus einer mit bloßer Bedürfnisbefriedigung sich zufriedengebenden Lehre absetzt276, weil er erst durch den Staat die höheren geistigen Zwecke des Daseins verwirklicht sieht, aber dieser Staat scheint ihm mit der „Enttierung" der Bedürfnisse dann zugleich den Individualismus der Gesellschaft rückgängig zu machen. Hegel vervollständigt die Abgrenzung seiner Staatslehre von Naturalismus und Eudämonismus durch eine Kritik am „geistlosen Mechanismus" des Gesellschaftslebens, an den „Vertragstheorien" und an der Willkürfreiheit eines Rousseau oder Fichte277. Ein metaphysischer Panlogismus, der Grundfehler des ganzen Systems, beginnt sich auch politisch auszuwirken. Die Hegeische Allgewalt der Vernunft, für den im Umkreis lebensphilosophischer Gedanken interpretierenden Vogel278 eine Unterschätzung des -Logischen und Individuellen, hat eine Auflösung der Willensfreiheit in Erkenntnis zur Folge279, sie bindet die Einzelnen zu eng an den metaphysisch überhöhten Staat. „Hegels Panlogismus läßt Staat und Individuum so fest ineinander wurzeln, daß von der Selbständigkeit des Individuums nicht viel übrig bleibt"280; d. h. konkret, Hegels „Sittlichkeit ist überindividuell", im Freiheitsbegriff überwiegt die Notwendig276 p Vogel, Hegels Gesellschaftsbegriff und seine geschichtliche Fortbildung durch Lorenz v. Stein, Marx, Engels und Lassalle, Berlin 1925, 15. 277 op. cit. 73. 278 op. cit. 82, 97. 279 op. cit. 94. 280 op. cit. 95.
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keit281, die „Geringschätzung der Volkssouveränität" widerspricht für Vogel wie früher für Rüge Hegels eigenem Vernunftglauben282, und auch die Gewaltlehre vom Krieg und der Nutzlosigkeit des Völkerrechts paßt nicht zu den Prämissen einer Vernunftphilosophie283. Die Metaphysizierung des Staates und der Glaube an die Allgewalt der Vernunft lassen nur den Weltgeist wirken, wo doch die Einzelnen tätig sein sollten. „So vergewaltigt der Universalismus den Individualismus"284. Als ein Exempel der weiten Verbreitung des Vorwurfs der Marionettentheorie, eines Topos, der quasi als Restform der geschichtsphilosophischen Kritik (Rankes und Meineckes) weiterlebte, kann uns die Hegelkritik Theodor Litts dienen, der in den fünfziger Jahren auch bei dem Versuch einer kritischen Erneuerung der Hegeischen Philosophie nicht auf die alte Formel verzichten wollte. Von der Logik, die „ein fortgesetztes Hin und Her zwischen der abstrakten Reinheit des Begriffs und der konkreten Plastik des Realen"285 aufscheinen läßt, zieht Litt die Verbindungslinie zum „objektiven Geist". Denn wie die Logik nur scheinbar in sich ruht, so bedarf auch der objektive Geist der Individuen, die ihn tragen286; wie die Logik ihre Einheit nur durch die gewaltsame Integration des Empirischen erzwingt, so rettet die Identität des Geistes nur die gewaltsame Eingliederung alles Individuellen. Dabei werden nicht nur 281 282 283
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op. cit. 77. op. cit. 82. op. cit. 85f. op. cit. 95. Vogel, der „Macht" als etwas Sittliches anerkennt und sie keineswegs vorschnell mit der Gewalt identifiziert, erhebt den Universalismusvorwurf durchaus auf seinem höchstem Niveau. Wie die Rechtshegelianer sieht er das Allgemeine erst über die Wechselbestimmung von Individuum und Staat übergreifen. Im Geiste Diltheys kommt er Hegels Intention sehr nahe, wenn er einmal sagt: „Hegels Stellung zu der Frage über das Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum bestimmt letztlich seinen Individualitätsbegriff. Der Begriff der Individualität . . . entspricht dem Begriff des Unterschieds. Unterschiede muß die absolute Vernunft sich setzen, sonst wäre sie ein einförmiges Etwas, ein leeres Nichts . . . Je größer der Reichtum an Unterschieden ist, desto entwickelter ist die Vernunft. Diese würde in sich zerfallen, wenn das Individuelle neben dem Gegensätzlichen nicht auch Allgemeines in sich trüge. Das Zusammenhaltende sind nicht die Besonderheiten, sondern die Allgemeinheiten" (op. cit. 98). Th. Litt, Hegel. Versuch einer kritischen Erneuerung, Heidelberg 1953, 253, 239ff. Litt wollte die Logik Hegels für die Wissenschaftstheorie nutzbar machen, was seiner Ansicht nach die Aufgabe ihres Absolutheitsanspruchs voraussetzt. Dann allerdings könnte sie, meinte er, für die Mathematik (Seinslogik), für die mathematischen Naturwissenschaften (Wesenslogik) und für eine Grundlegung der Geisteswissenschaften (subjektive Logik) noch hilfreich sein (op. cit. 279). Uns kann Litts interessantes Buch nur als Kritik der politischen Philosophie beschäftigen. op. cit. 118.
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die Individuen, sondern auch die Staaten zu Marionetten, da es ja keinen Sinn hat, einem Staat Selbstbewußtsein zuzuschreiben, Staaten sich also von vorneherein nicht bewußt mit den Zielen des Weltgeistes identifizieren können. Letztlich garantiert der Logos seine Präsenz nur selber. Freiheit bleibt in Hegels Philosophie ein leeres Wort. Wie Meinecke zieht Litt das Fazit, daß es zu jener „Entmündigung des persönlichen Lebens" kommen muß, „die den Menschen zur Marionette in der Hand des Weltgeistes herabwürdigt"287.
5.2. Hegel als Bismarck-Hegelianer und Konservativer in der angelsächsischen Kritik Q. Dewey, L. T. Hobhouse, C. E. Vaughan, G. H. Sabine, S. Hook, E. F. Carritt, J. Plamenatz) Eine starke Strömung der angelsächsischen Hegeldeutung hat (weitgehend) unabhängig von der deutschen Kritik ihr eigenes Bild eines konservativen, die Bismarck-Zeit antizipierenden Hegel entwickelt. Während eine Vielzahl angelsächsischer Hegelianer wie Stirling, Green, Caird, 287
op. cit. 146. „. . . von der Inthronisierung des Logos zur Entmündigung des Subjekts" (op. cit. 293) wäre demnach Hegels Devise! Andere Autoren, für die (außer den angelsächsischen und deutschen Kritiken, die noch geschildert werden) die Formel der Marionettentheorie zentraler Angriffspunkt bei Hegel war und werden sollte, sind bspw. Iljm und Beerling. Vor allem Iljins von Lenin hochgelobtes, bereits 1918 in russischer Sprache erschienenes Buch bedient sich des Musters dieser Kritik, wenn es den verachteten empirischen Stoff „mit einem getarnten Triumph" über die Spekulation siegen sieht (I. Iljin, Die Philosophie Hegels als kontemplative Gotteslehre, Bern 1946, 318); auch Iljin schien der Weltgeist nicht imstande zu sein, „den schlechten Eigenwillen des sinnlichen ,Elementes' erschöpfend zu überwinden" (op. cit. 306), so daß Hegel nicht nur die bürgerliche Gesellschaft als „Konzession" (op. cit. 310) an das empirische Chaos abzuleisten hatte, sondern er auch dem angeblich spekulativ konstruierten Staat die „ganz bestimmte historische Form einer ständischen Monarchie auf feudalen Grundlagen, mit liberalen Ausbesserungen und mit kriegerischem Hang zur nationalen Ausschließlichkeit" unterschob (op. cit. 318); Hegel konzipierte die Theodizee in Form eines panlogistischen Monismus (op. cit. 350), ohne den in der Welt leidenden Gott noch „als Gott" rechtfertigen zu können (op. cit. 382). Anders als Iljins großes Buch über die kontemplative Gotteslehre konzentriert sich Beerlings Studie ganz auf eine durchdringende (man darf sagen, die bisher gründlichste) Kritik der „List der Vernunft", für welche das Absolute selbst zugleich „the subject and the object of its own illusion" wird (R. F. Beerling, De List Der Rede In De Geschiedenisfilosofie Van Hegel, Arnhem 1957, 173); die List der Vernunft beweist die Kraft der Dialektik, indem sie ihren eigenen Schöpfer überlistet („Hegel, the revealer of the mysteries of Absolute Reason, outwitted by its tricks . . ." op. cit. 174). Die welthistorischen Individuen kennen zwar den nächsten Fortschritt der Idee, sind aber ansonsten „senseless puppets in the network of the Idea" (op. cit. 169).
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Wallace, Ritchie, Bradley, Bosanquet, Muirhead, McTaggart, Royce oder Collingwood Hegel je auf ihre Weise umformte und produktiv erneuerte, hat sich vor allem während der Zeit des Ersten Weltkrieges die Ansicht durchzusetzen begonnen, Hegel sei ein Konservativer und ein Nationalist gewesen, der Burke näher stand als Paine, der Macht und Recht identifizierte, Krieg und Sieg verherrlichte und an eine unmittelbare Sittlichkeit glaubte und appellierte. So wird es verständlich, wenn Carritt, allerdings stark übertreibend, meinte, dies sei für achtzig Jahre die übliche Interpretation gewesen288, oder wenn Hook glaubt konstatieren zu können: „Most expositors of Hegel, and not only his critics, have regarded Hegel as a conservative thinker . . ."289. Schon bei Dewey, dem großen Pragmatisten, treffen wir auf die typischen Muster angelsächsischer Hegelkritik, die allerdings eingebettet sind in die Frage des Pragmatisten nach dem seltsamen Zusammenhang von deutscher Ideologie und Wirklichkeit. Verwundert steht er vor der Hegeischen Philosophie, die ihm nur wieder zu bezeugen scheint, was das ganze deutsche Denken und Politisieren kennzeichnet: den eigenartigen Widerspruch zwischen der pragmatischen Organisation aller technischen und politischen Angelegenheiten und der gleichzeitigen Feindschaft gegenüber aller pragmatischen Philosophie290. Kants Zwei-Welten-Lehre hat für Dewey diesen Gegensatz präfiguriert, Hegels Spekulation bringt ihn noch einmal zum Ausdruck, wenn sie das Wirkliche als das Vernünftige feiert 288
289 290
E. F. Carritt, Reply (1940), in: Hegel's Political Philosophy, W. Kaufmann (Ed.), New York 1970, 43. Carritt übertreibt, wenn er seine These mit Wallace, Green, Bradley, Ritchie, Bosanquet, Lord, Reyburn und Sabine stützen möchte, die eigentlich bis auf Sabine mehr Hegelapologeten als Kritiker gewesen sind; siehe die ausführliche Darstellung des englischen Neo-Hegelianismus bei H. Haldar, Neo-Hegelianism, London 1927 (über Stirling, Green, Caird, Wallace, Ritchie, Bradley, Bosanquet, Watson, Jones, Muirhead, Mackenzie, Haldane, McTaggart); ders., Hegelianism and Human Personality, Calcutta 1910 (ein Versuch, die Ansichten von Caird, Wallace und McTaggart über Hegels logische Behandlung des „Absoluten" und der „Persönlichkeit" zu vereinen); oder vgl. die kurze, aber solide Schilderung bei E. Barker, Political Thought in England. From Herbert Spencer to the present day, New YorkLondon 1922 (über Green 23 ff., Bradley und Bosanquet 61 ff.) sowie H. Höhne, Der Hegelianismus in der englischen Philosophie, Halle 1936. Carritt dürfte allerdings insofern recht haben, als die angelsächsische Hegelrezeption nie ganz unkritisch war; auch gab es bereits vor dem Ersten Weltkrieg (analog zu Frankreich) liberalkritische Hegelinterpretationen; ein Beispiel: R. Mackintosh, Hegel and Hegelianism, Edinburgh 1903 („Hegel's contempt for the subjective", op. cit. 207; „Hegel is a Prussian bureaucrat", op. cit. 209; „Hegel's admiration for war and corresponding contempt for the enthusiasts of peace are rather startling", op. cit. 211). S. Hook, Hegel and his Apologists (1966), in: Kaufmann 1970, 88. J. Dewey, German Philosophy and Politics, New York 1915, 30.
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und dadurch alle pragmatische Experimentierlust im Keime erstickt. So hätte sich Hegel gegen Hayms Vorwurf der Glorifizierung des Bestehenden nicht zur Wehr setzen müssen; denn was für Haym ein Vorwurf war, bedeutete für Hegel den Vorzug seiner Lehre, die im Satz „the actual is rational"291 ihr Fundament besitzt. Hegel, den Dewey einen „Brutalist"292 nennen möchte, vertrat „the divine right of States"293, reduzierte Moralität auf die Assimilation an die Sitten294, schrieb eine Geschichtsphilosophie „in nationalistic terms"295, ignorierte „all future possibility of a genuinely international federation"296 und ließ sich dafür durch Sieg297 und Krieg298 den Fortschritt des Weltgeistes bestätigen — ein Glück, so meint Dewey, daß er starb, „before his contemplative piety could behold Bismarck"299. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges ist Hohhouse schon bereit, Hegel für die „Leiden von Europa" sowie für die „Rückwärtsbewegung" verantwortlich zu machen, „welche die kulturschaffenden Tendenzen des 18. und 19. Jahrhunderts weitgehend aufgehalten hat"300. Hegel und seinen, wie er meint, „getreuesten Interpreten"301, Bosanquet, kritisierend, rückt er die historischen Perspektiven zurecht. Es sei ganz falsch, „den deutschen Militarismus als ein Produkt der Reaktion gegen den schöngeistigen Idealismus der Vorbismarckschen Ära anzusehen"302. Denn die „politische Reaktion" habe „mit Hegel begonnen"303, dessen Schule den demokratischen und humanitären Strömungen von Anfang an Widerstand geleistet habe. „Die Hegeische Auffassung war bestimmt, dem Prinzip der Freiheit die. Spitze abzubrechen. Sie identifizierte Freiheit mit Gesetz, 291 292 293 294 295 296 297 298 299
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op. cit. 110. op. cit. 107. op. cit. 111. ebd. op. cit. 115. op. cit. 118. op. cit. 114. op. cit. 118. op. cit. 112. L. T. Hobhouse, Die metaphysische Staatstheorie, Leipzig 1924, 110. Das zuerst 1918 in London erschienene Buch war nur in der deutschen Fassung zugänglich. Daß hier wieder einmal der Zeitgeist, oder genauer der Krieg, zum Anstoß der Hegelkritik wurde, beweisen nicht nur Hobhouses Thesen, sondern auch das Schlüsselerlebnis, das ihn inspirierte; als er im Garten saß und sich Notizen über Hegels Freiheitsbegriff machte, fand ein deutscher Luftangriff statt, siehe Haldar 1927, 296/97. Hobhouse 1924, 9. op. cit. 15. ebd.
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Gleichheit mit Disziplin, definierte Persönlichkeit selbst als / das Aufgehen des Individuums im Staate . . ,"304. Der Hegeische Idealismus, der „das Gute und Vernünftige" bereits ,,in seinen wesentlichen Bestandteilen"305 für realisiert hielt, war so im Grunde ein „Konservatismus"306, ein undemokratischer dazu307, der in der Theorie vorwegnahm, was sich zur Zeit Bismarcks erfüllte. Hegels Lehre „stellt den Staat über die Moral, sie faßt den Krieg als ein notwendiges Vorkommnis im staatlichen Leben auf, sie verurteilt die Humanität und verwirft eine Föderation oder Liga der Nation, kurz und gut, sie ist eine Theorie, die aufs beste zu der Periode des Militarismus . . . paßt . . ,"308. Was sich schon so entschieden formuliert bei Dewey und Hobhouse findet, wird damals durch die soliden Geschichten der politischen Philosophie verbreitet, die Vaughan und Sabine vorgelegt haben, von Vaughan allerdings nur auf zweideutige Weise, indem er einmal Hegel als „idolater of the Prussian bureaucracy"309 und als Verherrlicher des Bestehenden310 angriff, indem er ein anderes Mal Hegel gegen den Vorwurf der Unterdrückung des Individuums ausdrücklich beschützte311. So ist die Erinnerung an Hegel (und Fichte) für immer mit der Theorie des „absoluten Staates" belastet, „to which Bismarck harnessed the principle of nationality . . .", und doch „würden" Fichte und Hegel zurückgeschreckt sein „before the stark congealment of blood and iron, in which their theories have resulted"312. Nach welchem Prinzip Vaughan Kritik und Zustimmung mischt, ist nicht ganz klar erkennbar, doch scheint die Gesamt-
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op. cit. 15/16. op. cit. 91. 306 ebd. 307 Hegels System verneine „Freiheit, Gleichheit und Demokratie", weil es den Einzelnen keinen Anteil an der Regierung gewähre, Volksrepräsentation und Pressefreiheit ablehne, op. cit. 106. 308 op. cit. 17. Dabei bemerkt Hobhouse zu Recht die Inkonsequenz der Hegeischen Lehre. „Da diese Staaten geistige Wesen sind, müßte man annehmen, daß ihre Beziehungen geistiger Art wären und a fortiori einen sittlichen und rechtlichen Charakter trügen", op. cit. 109. 309 C. E. Vaughan, Studies in the History of Political Philosophy before and after Rousseau, Vol. II., Manchester 1925, New York 21960, 96. 310 Vaughan 21960, Vol. II. 295; vgl. 182. 311 op. cit. Vol. II. 160ff. Der Einzelne werde der Gemeinschaft nicht geopfert, sondern umgekehrt werde die Gemeinschaft als „the only possible ground for the free development of the individual . . . and for his very existence as a moral being" (op. cit. 163) anerkannt. 312 op. cit. Vol. I. 3. 305
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tendenz sogar eher für eine fortschrittliche Vernunftphilosophie als für eine reaktionäre Machtphilosophie zu plädieren. Zwar ist Hegel nicht frei von einer Disposition, „to applaud the existing fact just because it is a fact, and to deify successful brutality just because it has succeeded"313. Aber das sind„shortcomings", die entschuldbar sind314. Wenn Hegel die Mitte zwischen den progressiven und konservativen Elementen des Rechts verfehlt, dann ist es die „Anwendung" der Prinzipien auf seine Zeit315, nicht ein prinzipielles Versagen, das ihn irreführt. Vaughans zweideutige Auslegung ordnete Hegel zumindest als Uberwinder der „individualistischen Theorien"316 ein, die seit der Reformation in Europa dominierten; Kants Ausgang vom individuellen Bewußtsein wird bei Hegel zum Ausgang von den organisierten Institutionen317. Immer noch zweischneidig, aber doch schon mit dem verlagerten Schwergewicht auf „Nationalismus" und „Konservatismus" hat Sabine in seiner Geschichte der politischen Philosophie Hegel einen Platz angewiesen. Wie Vaughan so schließt auch er nicht schon aus Hegels Abkehr vom Individualismus auf eine reaktionäre Philosophie. Hegels politische Lehre war „profoundly conservative, or if one prefers counterrevolutionary"318, nicht aber reaktionär oder quietistisch319. Sie darf sogar, und das arbeitet Sabine schön heraus, als gelungene Synthese zweier einseitiger Richtungen gelten. Denn sie brachte wieder zu Bewußtsein, was sowohl im Provinzialismus und Partikularismus der deutschen politischen Landschaft als auch im Individualismus der revolutionären Theorie, vor allem im Jakobinismus, in Vergessenheit geraten war320. Deutschland hatte nicht die Geschichte Englands und Frankreichs hinter sich, von Ländern, in denen von Anfang an auch gegen den Staat die individuelle Freiheit erkämpft wurde, von Ländern, in denen die Industrialisierung weiter fortgeschritten war als in Deutschland, in denen schließlich die Revolutionen nicht bis 1848 vertagt worden waren. Deutschland zerfiel in Kleinstaaten, die Industrialisierung war relativ zurückgeblieben, die feudalen Strukturen waren kaum gebrochen und die Revolutionen ließen auf sich warten321. 313 314
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op. cit. Vol. II. 182. ebd. Sinngemäß op. cit. Vol. II. 149. op. cit. Vol. II. 163. op. cit. Vol. II. 143. G. H. Sabine, A History of Political Theory, New York 1937, 21950, 31962, 621. Sabine 31962, 636. op. cit. 648, 652f. op. cit. 648ff.
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Auf der Folie dieser deutschen Zustände kann Hegels politische Lehre erst eingeschätzt werden. Nach einer ähnlichen Situationsanalyse wie Marx findet Sabine hier den Schlüssel für Hegels a-individuelle Konzeption. Denn gegen den feudalen Partikularismus setzt Hegel ähnlich wie Bodin die nationale konstitutionelle Monarchie als die einzige Bedingung, welche die Existenz des Staates garantieren kann. „Freedom as Hegel understood it had nothing to do with the individualism of English und French political thought but was rather a quality reflected upon the individual by the national power of self-determination"322. In dem Nationalstaat, der „seine" Zwecke verfolgt, kommen die Individuen zu kurz. Sie werden zum bloßen „Mittel"323, sie zählen recht wenig im Staat324, der Macht und Recht gleichsetzt325. Das Fazit Sabines liest sich denn auch wie eine Formel von Heller und Meinecke: „Hegel's political philosophy was the classic statement of nationalism in a form which had discarded the individualism and the implicit cosmopolitanism of the right of man"326. Schon ein Jahr vor Sabine hatte Hook in seiner lesenswerten Darstellung der Linkshegelianer Marxens soziale Revolution der politischen Akkommodation Hegels gegenüberstellt327, genauso wie er Hegels „retrospektive" Philosophie mit Marxens „sozialer Praxis" konfrontierte328. Zwar hat Hegel „Wirklichkeit" und „Existenz" unterschieden, aber damit ist die Frage nach dem Kriterium dessen, was „vernünftig" ist, allererst gestellt und nicht beantwortet. ,,. . . what was the criterion for distinguishing between the greater and lesser reality of any finite existence — such as the Prussian state under Frederick William III.? It was an easy wisdom to say that no state was completely real or completely unreal. That did not tell us whether a republican democracy was superior to a limited monarchy . . ,"329. Hegel überhöht den Staat metaphysisch; er läßt den Einzelnen ihren Wert erst durch den Staat zukommen330. Um
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op. cit. 633. op. cit. 638. ebd. op. cit. 645. op. cit. 637. Hooks Buch erschien zuerst in London 1936, dann New York 21950, 31958; Hook 3 1958, 19ff. op. cit. 22 ff. op. cit. 20. op. cit. 22.
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Hegels Akkommodation steht es, da habe er sich, meint Hook, durch „close study" überzeugt, „even worse . . . than it was pictured by the most critical of his biographers (Haym, R. . . .)"331. Heute hat Hook diese Grundeinstellung beibehalten. Polemisch kämpft er gegen die seit einigen Jahren einsetzenden Versuche, Hegel zum „Liberalen" zu erklären, der „fast schon" ein Demokrat gewesen sein soll. Gegen diese Rehabilitation, welche die verschwiegene Absicht verfolgt, Hegel wieder in den „main stream of Western European political theory" (Pelczynski) einzugliedern, setzt Hook das Bild des „natural conservative"332 Hegel, den doch eine Welt von liberalen Ideen trennt. Ein liberaler Denker, so definiert Hook mit politischen Minimalkriterien, müßte eintreten für „moral primacy of the individual in appraising institutional life, acceptance of a free market of ideas, tolerance of political opposition, appreciation of diversity, openmindedness of alternatives, endorsement of the right to selfdetermination, national, social and personal, including the moral right to revolution if the demand for selfdetermination is persistently frustrated"333. Alle diese Kennzeichen darf Hegel aber nicht für sich beanspruchen. Zwar war er kein Faschist („a conservative, national thinker, not a racist, not a totalitarian"334), aber seinen Idealvorstellungen kommt der Staat Bismarcks am nächsten, „blood, iron, fraud, passion, ,ideals', and all"335. Zwar ist es übertrieben, wie Heller daran zu glauben, Bismarck selbst sei ein Hegelianer gewesen, „even though he couldn't read him"336, aber mit den Droysen, Duncker, Lasson, Rößler und Plenge bleiben genug Hegelianer übrig, die Hegels politische Philosophie, seine organische Staatstheorie und seine Kriegskonzeption verbreiteten und fortleben ließen, so daß Hook sogar behauptet: „It (Hegel's philosophy, H. O.) remained the most influential political philosophy in Germany up to World War I"337. 331 332 333
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op. cit. 19n. S. Hook, Hegel Rehabilitated? (1965), in: Kaufmann 1970, 69. op. cit. 68. Hook (1966), in: Kaufmann 1970, 87. „. . . his (Hegel's, H. O.) emphasis on Reason made the Nazis uneasy", Hook (1965), in: op. cit. 56. Hook (1966), in: op. cit. 102. Nur ein Konservativer und Nationalist wie Bismarck kann die Rolle des machiavellistischen Architekten des Deutschen Reiches ausfüllen, die Hegel in der Verfassungsschrift entwirft, Hook (1965), in: op. cit. 64. „. . . for Hegel, Bismarck's Germany would have been close to his ideal of the ,free' state" (op. cit. 61). Hook (1966), in op. cit. 103. op. cit. 102.
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Sieben Einwände noch äußerlicher Art („external evidence") sprechen bereits gegen Hegels Liberalität338: 1. Hegel war ein Gegner sowohl der Julirevolution als auch der Englischen Reformbill; 2. während etwa ein Paine den Staat als notwendiges Übel ansieht, die Erbmonarchie ablehnt und im „House of Commons" das einzige republikanische, freiheitliche Element des Staates sieht, lehrt Hegel einen „Staatsfetischismus", die metaphysische Notwendigkeit der Erbmonarchie und eine Stärkung der monarchischen und aristokratischen Elemente; 3. Hegel kritisiert ausdrücklich das „atomistische Prinzip" des Liberalismus; 4. Hegel kam in ein Preußen, in dem die Restauration schon begonnen hatte und erfreute sich dort des Wohlwollens von Altenstein „and the Prussian police"339; 5. als „the house philosopher of the Prussian regime"340 ließ Hegel die Fahnen der Rechtsphilosophie vom Drucker noch einmal zurückkommen, um den Angriff auf Fries einzuschieben („Hegel's kicking a man already down"341); die Burschenschaften, für die Fries sprach, waren aber keineswegs so „reaktionär", wie sie heute von den Hegelapologeten dargestellt werden; 6. Hegels blasphemische, den Staat vergottende Sprache ist ein Indiz der Illiberalität; und schließlich ist 7. noch ein ganzes Sammelsurium von Einstellungen aufzählbar, die gegen Hegels Liberalität zeugen: seine Kriegskonzeption, die Vorstellung von der Geschichte als dem höchsten Gerichtshof, seine geringe Meinung von der Pressefreiheit, seine Herabsetzung des Repräsentativsystems, sein Anspruch, alle Bürger müßten zu einer Kirche gehören, und seine Ansicht, Verfassungen würden durch die Geschichte gegeben und nicht „gemacht". Freilich gibt es auch philosophischere Kriterien für Hegels Konservatismus: den metaphysischen „doubletalk" über Wirklichkeit und Existenz342, der keine operationale Definition anbietet, sondern dem Beharren auf dem status quo dient, die Sollenskritik343, die Delegation der Reformen und Revolutionen an den Weltgeist344, die harmonisierende 338 339 340 341 342 343
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op. cit. 88ff. op. cit. 92. op. cit. 93. op. cit. 94. op. cit. 96. op. cit. 96f. Hegel ist nicht gegen Revolutionen in der Vergangenheit, er ist nur gegen Revolutionen in der Gegenwart. Er möchte nach Hook quasi, wie auch Habermas meint, die Früchte der Revolution genießen nach Abzug der Revolution selber. „The only good revolutions are dead ones, like extinct volcanoes on whose ridges of cooled lava a fertile soil can develop in time", Hook (1965), in: op. cit. 62. Daß Hegel den Ausbruch der Revolution
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Aufhebung der Individuen in die Sittlichkeit (was nach Hook schon genügen würde, um den Konservatismus festzumachen) und schließlich Hegels „philistine nationalism"345, an dessen Idee eines geeinten Reiches Hook sogar die Anregung für die Genese des philosophischen Systems bindet, da es der Gegenzug gegen falsche französische und deutsche Freiheitsideen gewesen sei, der Hegels Idee eines geeinten Reiches inspirierte346, jenes Reiches, das schließlich mit Bismarck Realität wurde. Hegel, so meinte Hook zusammenfassend, kann kein Liberaler gewesen sein, der sich auch nur annähernd mit Paine, Locke, Jefferson, Bentham und Mill zusammenbringen ließe. „. . . Hegel is the model of a small-minded, timid Continental conservative. There is no more reason to regard Hegel as a liberal than Plato as a democrat"347. Hegel und Burke, nicht Hegel und Paine, so lauten die Geistesverwandtschaften. Ähnlich wie Hook hatte schon 1940 Carritt gegen den damals „unzeitgemäßen" Versuch der Hegel-Liberalisierung durch Knox argumentiert. Hatte Hook wenigstens noch sieben Beweisstücke und einige philosophische Argumente parat, Carritt genügten vier Formeln der Hegelkritik. Da ist zuerst die unentschuldbare Verherrlichung des Krieges, die sich aus dem rechtlosen Zustand im Verhältnis der Staaten zueinander ergibt und von Hegel noch mit der Romantik der „shining sabres" geschönt wird348, da ist an zweiter Stelle die indirekte Identifizierung von Macht und Recht, die Hegel zwar in Gedanken trennt, aber auf solche Weise, „that whatever we see prevailing, we can know, however wrong it appears, to be right"349; da folgt als drittes die Unterdrückung der Gewissens- und Pressefreiheit, die Hegel dem von Gott autorisierten Staat subordiniert350, und da ist viertens, mit dem klassischen Argument, das
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begrüßt, sagt noch nichts über die Einschätzung des Verlaufs. „Even the Daughters of the American Revolution and the John Birch Society celebrate with great fervor on every July 4th the events of 1776", op. cit. 67. Hook (1966), in: op. cit. 100; Hegel „an ardent nationalist", Hook (1965), in: op. cit. 59. Hook (1966), in: op. cit. 99. op. cit. 96. Eine Kritik Hooks sparen wir uns auf, bis wir Avineris, Knox' und Kaufmanns Gegeneinwände entwickeln. Carritt (1940), in: op. cit. 33f. op. cit. 35. Hegel meine mit Schiller: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht"; „the de facto state is also de jure . . .", op. cit. 39. op. cit. 37f. Dabei scheint Carritt das Wort vom Staat als „Gott auf Erden" wörtlich zu nehmen; er übersetzt, worauf Kaufmann hingewiesen hat, nicht einmal korrekt: ,,The existence of the state is the process of God upon earth", op. cit. 36.
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Individuum werde zum bloßen Mittel für den Staat351, die Liste der Carrittschen Vorwürfe schon beschlossen. Hook und Carritt repräsentieren die alte Garde der Hegelkritiker, die beim kleinsten Anzeichen der Illiberalität ihrem Gegner Hegel keinen Pardon mehr geben wollten. Erst Plamenatz, der Hegel im Inhalt nicht weniger scharf, aber in der Form schon versöhnlicher kritisiert, läßt wieder ein Verständnis ahnen, das nicht gleich darauf aus ist, den in Hegel vermuteten politischen Feind zu erledigen. Immerhin war Hegel ein „profound social and political theorist"352, auch wenn weder seine Metaphysik noch seine Geschichtsphilosophie oder seine Staatslehre für Plamenatz akzeptabel sein können353. Es sind diesmal schon wieder sechs Vorwürfe plus einige philosophische Argumente, die Plamenatz gegen Hegel zu erheben weiß, in einem Buch, das den Charme einer OxfordVorlesung noch spüren läßt. Hegel soll nämlich sechs Widersprüchen und Vorurteilen aufgesessen sein, einem, wie Plamenatz meint, „European" und einem „Protestant Bias"354, einer inkonsistenten Fortschrittslehre355, einem Machiavelli übertreffenden Historizismus, der in seiner Vergötzung
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op. cit. 38. Als Beleg soll z. B. § 337Z der Rechtsphilosophie dienen können. J. Plamenatz, Man and Society, Vol. 2, Oxford 41968, 131; ähnlich sein zweischneidiges Urteil, Hegels Gedanken über Freiheit seien, trotz der Dunkelheiten und Perversitäten seiner Philosophie, „admirable", J. Plamenatz, History as the realization of freedom, in: Hegel's Political Philosophy. Problems and Perspectives, Z. A. Pelczynski (Ed.), Cambridge 1971, 51. 353 Plamenatz möchte die für ihn unannehmbare Metaphysik nicht wörtlich, sondern nur „metaphorical" nehmen, was zu erfrischenden Vergleichen (z. B. der Dialektik mit einer coherence theory of truth, 41968, 138), aber auch zu kolossalen Mißverständnissen (z. B. einer Charakterisierung der Logik als einer „Deduction of the Categories", op. cit. 140) führt. Die Phänomenologie wird in seltsamer Anlehnung an Kojeve gelesen (op. cit. 150ff.), was zur liberal-kritischen Deutung der Rechtsphilosophie nicht passen will, in der auch bei Plamenatz weder der „Weltstaat" noch „Napoleon" eine Rolle spielen. 354 ·\ / es aucn ungerecht sein dürfte, Hegels weitem Horizont einen „provincial look" (op. cit. 204f.) zu unterstellen, dem einfach die europäischen (weil eigenen) Institutionen als die höchsten gelten, so ist es doch bemerkenswert, daß Plamenatz die sowohl links wie in der Mitte so beliebte Gleichsetzung „Protestantismus" = „Religion der Freiheit" nicht widerspruchlos hinnimmt. Denn so freiheitlich die Lehre von der „priesthood of all believers" auch ist, weder haben die protestantischen Kirchen das „Gewissen" für sich gepachtet, noch kann man manche lutherische und calvinistische Doktrin wie die von der „Gnade" so recht mit dem Freiheitspathos vereinen (op. cit. 209ff.). 355 Plamenatz unterschiebt Hegels Geschichtsauffassung einen Fortschritt mit strengem Notwendigkeitscharakter, den er dann bspw. bei den orientalischen Völkern vermißt (op. cit. 213); auch scheinen ihm die Griechen nicht die Nachfolger der Orientalen zu sein („a certain phase failed to give rise to the phase which . . . necessarily comes after it", op. cit. 214). 352
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der welthistorischen Individuen das Böse legitimiert356, einer Präferenz für die „German World"357 und, last not least, einem „Dislike of Democracy", was Hegel wie Burke dazu verleite, vor den speziellen Gefahren zu warnen, welche der Freiheit in der Demokratie drohen, ohne jedoch zu beweisen, daß diese unüberwindbar sind358. Wie für Hook so ist auch für Plamenatz Hegels Staat nicht totalitär359, aber doch in hohem Grade undemokratisch und illiberal. Da hilft kein Hinweis auf das Differenz-Argument, das Plamenatz bei Weil entdeckt hat; denn letzten Endes ist doch Preußen ein Staat, in dem die Freiheit für Hegel zu ihrer vollen Verwirklichung gekommen ist, und „whatever the difference between the State described in the Philosophy of Right and the Prussian State, both are undemocratic"360. Der Naturrechtler, der die Menschenrechte als „atomistische" kritisiert361, der Staatslehrer, der vom „Weltstaat" nichts wissen will362 und sich sogar vom skrupellosen Gebrauch der Macht beeindruckt zeigt363, der Philosoph schließlich, der den Menschen nur im Staat Mensch sein läßt, in einem Staat, den er Familie und Gesellschaft überordnet, kann einfach kein Liberaler oder Demokrat gewesen sein. Die unverfängliche klassische Lehre, nach welcher erst der Mensch in der Gemeinschaft moralisch, rational und frei sein kann, verschärft sich beim Hegel Plamenatz' zu der Konzeption, nur der Staat lasse das Mensch-Sein des Menschen zur Entfaltung kommen, das soll heißen, nur der Staat, nicht etwa Familie und Gesellschaft, und das soll auch heißen, nicht nur irgendein Staat, sondern derjenige, der die Freiheit verwirklicht hat364. Damit entgeht Hegel zwar noch den Fallstricken
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Machiavelli dagegen „neither condemned nor justified the great criminal" (op. cit. 267). Ein Einwand, der auf sehr schwachen Füßen steht, da Plamenatz selbst die „german world" „Italy, Spain and France" einschließen sieht, er aber doch noch „considerable traces of nationalism" und sogar „racialism" entdecken will (op. cit. 208). op. cit. 213. op. cit. 212. op. cit. 263. op. cit. 212. op. cit. 260f., 266f. Den sonst gern in diesem Kontext angeschlossenen Vorwurf der Kriegsglorifizierung will Plamenatz nicht erheben (op. cit. 261). op. cit. 267. op. cit. 242, 265f. „Der" Staat könnte das Mensch-Sein des Menschen bei Hegel doch nur dann ausmachen, wenn er Familie und Gesellschaft ausschlösse, ein „bestimmter" Staat nur, wenn Hegel so ungeschichtlich dächte wie Plamenatz selbst, der behauptet, der Mensch könne rational und frei sein, „as much in an African tribe as in a liberal society of the Western type" (op. cit. 242, Hervorhebung H. O.). Die angeblich so skandalöse Stellung des Staates „über" Familie und Gesellschaft ergibt sich für Plamenatz
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des Totalitarismus, weil er „absoluten Gehorsam" nur für den Staat fordert, in dem Freiheit bereits realisiert ist365, dennoch hat er für Plamenatz die exzessiven Ansprüche seiner Staatslehre vollauf bewiesen. Ja Plamenatz sieht sogar (obwohl er Gregoires subtile Widerlegung des Vorwurfs der Staatsvergottung kennt) etwas vom Glanz des Prädikats „göttlich" auf den Hegeischen Staat fallen366. Plamenatz hatte Hegel immerhin als ernstzunehmenden Denker erkannt, der nicht bloß Absurditäten verbreitet hat. Freilich, seine liberale Toleranz erreichte schon ihren Höhepunkt, wenn er Hegel für nicht illiberaler (und sogar etwas liberaler367) halten wollte als Burke oder einen der „old Whigs". Die aktualistischen Wurzeln seiner eigenen Hegeldeutung, handelt es sich um den Nationalismusvorwurf (der erst aus der deutschen politischen Geschichte nach Hegel erklärlich wird) oder die höchst ungerechte Anklage, Hegel sei noch nicht liberal und demokratisch genug gewesen, durchschaut Plamenatz sowenig wie Hook. Wie dieser kann auch er in der Abkehr Hegels vom Liberalismus und Individualismus nur Illiberalität, nicht aber ein kritisches Potential entdecken, das Hegel bewußt gegen die neuzeitliche Naturrechtslehre und die Gefahren der bürgerlichen Gesellschaft einzusetzen sucht. Dabei war Plamenatz eher als Hook auf dem besten Wege, durch einige Zwischentöne anzudeuten, daß die grellen Farben einer Schulrichtung nicht genügen, ein Bild des ganzen Hegel zu malen.
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nur deshalb, weil er die Dialektik allein in einer Richtung (nicht aber von oben und unten) liest. Zunächst wäre erst einmal die wechselseitige Abhängigkeit von Staat einerseits und Familie und Gesellschaft andererseits nachzuvollziehen gewesen; daß der Staat in diesem Sinne nicht „höher" steht als andere unverzichtbare Gemeinschaftsformen, hätte Hegel so gut wie Plamenatz behaupten können, daß er dagegen nicht auch umfassender und autarker (und damit „höher") ist, wohl nicht. Erst nach der Berücksichtigung der Wechselbestimmung hätte eine etwaige Subordination der Teile durch das Ganze nachgewiesen werden können, vorausgesetzt die (bei den Rechtshegelianern oft versuchte) Demonstration gelänge, den Staat als eine Macht zu zeigen, welche die wechselseitige Abhängigkeit noch einmal überformt. op. cit. 262f. op. cit. 234. „. . . even a philosopher when he uses such words as God or divine, cannot altogether deprive them of their customary associations . . .". Liberaler, weil Hegel anders als die Whigs auch „la carriere ouverte aux talents" vertreten habe (op. cit. 264, 258).
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5.3. Die Kritik am Vorläufer des Totalitarismus 5.3.7. Hegel als Ideologe der „geschlossenen" Gesellschaft und als Feind der westlichen Demokratie (K. R. Popper)368 Ähnlich radikal wie Heller Hegeische Philosophie und Bismarckpolitik als Verbündete angreift, so bekämpft Popper die Allianz von Hegel und Hitler. Seine unglaublich populäre Kritik369 verdankt ihre Verbreitung wohl Poppers Namen als Wissenschaftstheoretiker, den antihegelschen Ressentiments der angelsächsischen Philosophie, vor allem aber der weltanschaulichen Einstellung der Argumentation, die mit ihrem Kampf für die „offene" Gesellschaft die Stimmung der westlichen Welt am Ausgang des Zweiten Weltkrieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit in einem Nerv getroffen hat. Popper schrieb sein Buch bestürzt über den Einmarsch der nationalsozialistischen Truppen in Österreich370, erfüllt von der Überzeugung, daß der zum Krieg angetretene Faschismus wieder eine Phase im ewigen Kampf zwischen „offener" und „geschlossener" Gesellschaft symbolisiert. Die Geschichtsphilosophie, die Popper als Basis seiner Hegelkritik benutzt, substituiert der Geschichte dabei ein triadisches Entwicklungsschema. In der ersten Phase existierte die „geschlossene" Gesellschaft, eine 368
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Schon 1941 hatte sich McGovern als würdiger Vorkämpfer Poppers erwiesen, als er Hegel gleichzeitig als „official philosopher" Preußens, als Bismarckschen Nationalisten, aber vor allem als „the great forerunner or .morning star' of the Fascist theory of the State" auftreten ließ, W. M. McGovem, From Luther to Hitler. The History of FascistNazi Political Philosophy, Boston 1941, New York 21973, 259ff., 263, 266, 335. Für alle die glauben, Poppers Hegeldeutung sei nicht zu übertreffen, oder besser zu unterbieten, hier ist ein Buch, das die Entscheidung schwer macht! Wir haben dennoch auf das Vergnügen einer Darstellung verzichtet, da Poppers Version dieser Hegelkritik sicher die einflußreichere gewesen ist. Nur eine kleine Blütenlese: „. . . he (Hegel, H. O.) feit that he was an inspired prophet voicing the thoughts of God" (op. cit. 263), „To Hegel the very fact that he felt more at home in Prussia than in Austria meant that Prussia, not Austria, must become the leader of the German People in the formation of a strong national state" (op. cit. 269), „The state . . . should be revered as an »earthly God"' (op. cit. 272) u. s. f. Niemand geringerer als B. Russell nannte den Angriff auf Hegel „tödlich" (auf dem Waschzettel der 3. Auflage 31949). Das Buch hat die m. W. siebte Auflage erreicht. K. R. Popper, The Open Society and its Enemies, Vol. I. The Spell of Plato, Vol. II. The High Tide of Prophecy. Hegel, Marx and the Aftermath, London 1945, 21947, 3 1949, dann eine durchgesehene Auflage 41952, 51957, 61962, 71966, New York 1963, 2 1967. Auf deutsch, ders., Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I. Der Zauber Platos, Bd. II. Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, Bern 1957, 21970. Popper 21970, Bd. I. 6.
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„magische, stammesgebundene oder kollektivistische"371 Gemeinschaft, die sich treffend mit dem Bild eines Organismus vergleichen läßt. Denn die Menschen werden durch die Bande des Blutes und durch ein gemeinsames Schicksal zusammengehalten; die Sitten herrschen noch wie Naturgesetze. Aus dieser primitiven Gesellschaftsform wurde bei den Griechen durch eine „Revolution" 372 die „offene" Gesellschaft, in der an die Stelle des Herdenmenschen ein rationales Wesen tritt, das seine Geschichte nicht mehr dem Schicksal überlassen, sondern sie vernünftig planen will. Das Heraustreten der Menschen aus der geschlossenen Gesellschaft bedeutet jedoch einen Schock, so etwas wie die traumatische Erfahrung einer zweiten Geburt; der Verlust der natürlichen Ordnung erzeugt ein „Unbehagen", die Sehnsucht nach der Rückkehr in die Stammesgemeinschaft stellt sich ein. Seit der Zeit der Griechen ist damit der Weg frei für den „ewigen Kampf" der Gesellschaftsformen. Wie Plato für Popper den Bruch mit der geschlossenen Gesellschaft rückgängig machen will und bereits die politischen Werkzeuge bereitstellt, die dann in der weiteren Geschichte die Rückkehr ins verlorene Paradies herbeiführen sollen (Totalitarismus, Nationalismus, Kollektivismus)373, so hat damals Sokrates für die offene Gesellschaft gekämpft, hinter die die Menschen nur um den Preis der Barbarei zurückfallen können374. Nach der Phase der unmittelbaren Einheit und der Entzweiung ist in der Geschichte jetzt immer ein zweifacher Weg begehbar, die Rückkehr ins vermeintliche oder der endgültige Schritt ins wahre Paradies. Popper schließt sich hier an Vorstellungen an, die vertraut klingen und die sich schwerlich in die Idee eines kritischen Rationalismus fügen. Schon für den Popperschüler Topitsch müßten solche Vorstellungen eher den Erlösungsmythen und dem Rhythmus von Sündenfall und Erlösung entsprechen als der ideologiekritischen Absicht einer rationalen Philosophie. Aber es ist die Perspektive einer triadisch-globalen Geschichtsphilosophie, in der Popper Hegel dann auftreten läßt, und zwar als den modernen Propagandisten von Totalitarismus und Hordentum, der sich in die Gegner der offenen Gesellschaft einreiht und zwischen dem Lehrer des 371 372 373
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op. cit. Bd. I. 233ff. op. cit. Bd. I. 236. op. cit. Bd. I. 264. „Es gibt keine Rückkehr in einen harmonischen Naturzustand. Wenn wir uns zurückwenden, dann müssen wir den ganzen Weg gehen — wir müssen zu Bestien werden", op. cit. Bd. I. 268.
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Ständestaates Plato375, dem Essentialisten Aristoteles376 und dem Historizisten Marx einen prominenten Platz erhält. Poppers Polemik entspricht dem Gegner, den er sich zurechtstutzt. Die Simplifizierung muß einen Überschuß an reaktionärer Gesinnung erzeugen, damit die Brücke von Hegel zum Faschismus auch begehbar wird377. Die Liste der Simplifikationen ist lang und negativ beeindruckend. In der „Hochflut der Reaktion"378 wurde Hegel nach Preußen berufen, um dort offiziell gegen die Ideen von 1789 vorzugehen. Diesen Auftrag erfüllt er denn auch konsequent im Dienst an seinem „Brotgeber" Friedrich Wilhelm III. Wie der König so lehrt auch sein Staatsideologe, „daß der Staat alles ist und das Individuum nichts"379. Moralische und rechtliche Ansprüche der Einzelnen zergehen vor der Lehre, die Macht und Recht identifiziert380. Allein der Staat erfaßt die Wahrheit381, die konstitutionelle Monarchie verwandelt sich unterderhand in eine absolute, die Gleichheit der Individuen vexiert in die Ungleichheit; die liberalen Ideen des Nationalismus werden von Hegel denunziert. Es sind im Kern sechs Appelle, durch die Hegel die Instinkte der Horde wieder beleben möchte: 1. der Nationalismus, nach dem eine Nation jeweils zur Weltherrschaft berufen ist382, 2. die Entgegensetzung der Staaten, die einander von Natur Feind sind und sich nur im Krieg behaupten können383, 3. die Entmoralisierung des Staates, die den Erfolg zum Richter macht und das Tor für propagandistische Lügen öffnet384, 4. 375 376
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op. cit. Bd. I. 126ff. Die Kritik an den aristotelischen Wurzeln der Hegeischen Philosophie gibt nur wenig her. Sie läuft darauf hinaus, „Wesensbegriffe" für unwissenschaftlich zu erklären und an ihre Stelle nominalistische Formeln zu setzen. Aristoteles und Hegel begehen im Lichte dieser Präferenz den Fehler zu fragen, „Was ist ein junges Pferd?", statt zu formulieren, „Wie sollen wir ein junges Pferd nennen?", op. cit. Bd. II. 21, 59ff. Dies stellt Theunissen heraus, der allerdings die beachtlichen Seiten dieser bei Popper auf ihrem Tiefpunkt angelangten liberal-kritischen Deutungsrichtung nicht so in seinen Ansatz einbezieht wie die linkshegelianische Fragestellung, deren Anliegen er ganz hervorragend integrierte, Theunissen (1) 1970, 16ff. Popper 21970, Bd. II. 46. op. cit. Bd. II. 41. op. cit. Bd. II. 53. op. cit. Bd. II. 55ff. op. cit. Bd. II. 64ff., 81 ff. Hegel soll sogar der Vater der „historischen Theorien der Nation" sein (op. cit. Bd. II. 74), deren andere Quellen (wie etwa die Romantik, die Burschenschaften und den Historismus) Popper wohl nicht kennt. Auch bemerkt er keinen Konflikt zwischen dem Vorwurf der servilen Preußenapologetik und dem Vorwurf des Nationalismus. op. cit. Bd. II. 83f. op. cit. Bd. II. 84ff.
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die Versittlichung des Krieges und die Glorifizierung von „Krieg, Schicksal und Ruhm"385, 5. die Verherrlichung der „großen Männer" und „Führer386 und 6. die Idealisierung des „heroischen" Lebens als des Maßstabs der Moral387. Und durch weitere Verschiebungen, die Popper im Stile von Larenz vornimmt, werden auch die restlichen fasces erhältlich, die, zum Bündel geknüpft, den Faschismus ausmachen. „Geist" ersetzt man durch „Blut" und „Rasse"388, die welthistorischen Individuen durch das „Führerprinzip"389 und das „Schicksal" durch die Hitlersche „Vorsehung". Nun ist an der Art, wie Popper seine Vorwürfe vorträgt, so ziemlich alles falsch, was nur falsch gemacht werden kann. Der sonst beachtenswerte universalistische Ansatz wird so überspitzt, daß er ständig an Hegel vorbeizielt, ja daß er nicht einmal mehr die wirklich faschistischen Hegelianer wie Larenz, Häring, Binder usf. trifft. Diese haben Hegel für den Totalitarismus mißbraucht, aber sie hatten doch alle mehr Skrupel als Popper. Sie haben Hegels Anspruch auf Bewahrung der Rechte der Individuen wenigstens noch verbal in ihre wechselseitige Bestimmung von Individuum und Gemeinschaft eingebracht, sie waren manchmal ehrlich genug zu sagen, daß manches in Hegels Lehren gar nicht recht zum Nationalsozialismus passen will390. Aber Popper kennt nicht einmal die nationalsozialistischen Rechtshegelianer, die man mit Recht als solche bezeichnen darf, sondern er erweckt den Anschein, als ob damals alle Ideologen des Nationalsozialismus von Hegel beeinflußt gewesen wären. Das ist, selbst wenn man lasche Maßstäbe anlegt, einfach falsch. Marcuse hat gezeigt391, daß die Chefideologen des Nationalsozialismus mit Hegel wenig anfangen konnten, ja daß sie ihn ausdrücklich ablehnten. Denn der nationalsozialistische Staat soll kein Selbstzweck sein (Rosenberg, Hitler), an die Stelle der Zweiteilung von Gesellschaft und Staat soll die Triade von Staat, Bewegung und Volk treten (Carl Schmitt), die „idealistische" Kultur, zu der Hegel noch 385 386
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op. cit. Bd. II. 87ff. op. cit. Bd. II. 93 ff. op. cit. Bd. II. 95ff. op. cit. Bd. II. 79. op. cit. Bd. II. 93. Bezeichnend etwa Larenz, wenn er sagt: „Ist er (Hegel, H. O.) uns deshalb auch noch kein ,Vorläufer' des Dritten Reiches, so sehen wir in ihm doch weit mehr als nur den »preußischen* Staatsphilosophen' . . .", Larenz 1940, 64. Man sah Parallelen zwischen Hegel und dem Faschismus, aber auch Differenzen. Marcuse 71967, 409 ff.
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gehörte, soll durch eine „heroische" abgelöst werden (Ernst Krieck), und es sind gerade Hegels Pochen auf die Vernunft, seine Kritik am Aktionismus und seine humanistischen Ideale, die als „antigermanisch" verworfen werden (Franz Böhm). Der Rassismus, Nationalismus und Antirationalismus der Burschenschaften, meint Marcuse, die Rollen der liberalen Kritik vertauschend, stand dem Nationalsozialismus näher als Hegel392! Walter Kaufmann, der sich am eindringlichsten gegen Popper wandte, hat auf die ironische Pointe aufmerksam gemacht, die in Poppers Wahl seiner Bundesgenossen sich enthüllt. Denn wenn Popper auf der einen Seite die falschen Nationalsozialisten als Kronzeugen bemüht, so sind Schopenhauer, Wagner und Fries, die ihm als brave Hegelgegner gelten, gerade auf die Weise rassistisch, wie Hegel es hätte sein sollen393. Der Zusammenhang, der Hegel und die Philosophen nach ihm verbindet, wird von Popper wohl nach dem Motto „post hoc ergo propter hoc" rekonstruiert394. Popper selbst hatte bekannt, daß er das Phänomen Hegel nicht erklären, sondern „bekämpfen" wolle395. Aber was man bekämpft, sollte man dort treffen wollen, wo es sich tatsächlich aufhält. Popper vernachlässigt die ganze Hegelforschung; er flickt, worauf Kaufmann hinwies, Zitate einfach zusammen. Hegel wird, so meinte ein Marxist, noch übler von Popper behandelt als Marx396. Die Konzeption der offenen Gesell392
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Genauso wie Marcuse verweist auch Lukacs ganz zu Recht auf die Hegelantipathie von Bäumler, Böhm, Krieck und Rosenberg, G. Lukacs, Schicksalswende. Beiträge zu einer neuen deutschen Ideologie, Berlin 1948, 37ff. „Es ist klar, daß dieser neue Typus von Mensch, diese widerwärtige Mischung von barbarischen Henkern und rückgratlosen Lakaien, mit dem Denken und Fühlen der klassischen deutschen Periode, mit der Periode Goethes und Hegels nichts gemein haben kann" (op. cit. 66). Andererseits zeigt sich im von Marcuse inszenierten Verwechslungsspiel „Hegel und die Burschenschaften" nur das Interesse des Marxisten, den Kirchenvater Hegel mit einem neuen Sündenbock vor dem Faschismusvorwurf zu entlasten. Trotz Deutschtümelei, Antisemitismus und Gefühlsduselei waren die Burschenschaften (auch) Zentren der liberalen und fortschrittlichen Bestrebungen der damaligen Zeit. Dieselbe Geschichtsklitterung aus liberal-apologetischem Motiv übrigens bei Avineri (IV. 5.2.). W. Kaufmann, Hegel. Legende und Wirklichkeit, in: Zeitschrift für philosophische Forschung Bd. 10, Heft l (1956), 219. Alle Genannten waren Antisemiten. Der Rassismus, nach Popper durch die Formel „Hegel + Haeckel" erhältlich, wird auch in seinen wahren Ursprüngen nicht erkannt. Etwa Gobineau, auf den Cassirer verweist (siehe hier anschließend 5.3.3), wird nicht erwähnt, ganz zu schweigen von Chamberlain, Förster, Langbehn, Stöcker usf. op. cit. 191 ff. Popper 21970, Bd. II. 40. So Cornforth in einer marxistischen Auseinandersetzung mit der Philosophie der offenen Gesellschaft. Cornforth ist streckenweise durchaus bereit, die Verdienste dieser Konzep-
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schaft, von deren Basis Popper gegen Hegel kämpft, ist selber einem düsteren Bild der bürgerlichen Gesellschaft nicht unähnlich, die freilich bei Hegel ungleich geschichtsmächtiger und sachhaltiger gefaßt wird. Denn wenn Poppers offene Gemeinschaft einmal die Gesellschaft der rationalen Bürger ist, so ist sie auch eine Lebensform, die auf dem Sprung ist, in „Verdinglichung" umzuschlagen, nach Poppers eigenem Bild eine Gesellschaft, in der die Menschen nur noch in geschlossenen Fahrzeugen herumfahren, sich allein durch maschinell geschriebene Briefe verständigen und sich nie mehr „von Angesicht zu Angesicht sehen"397. Diese Vision einer totalen Verdinglichung benennt nach Popper den möglichen Preis, der für die Lösung von der geschlossenen Gesellschaft bezahlt werden muß und dessen Kosten kompensiert werden durch die neuen persönlichen und geistigen Beziehungen nicht-,,natürlicher" Art, welche die neue Gesellschaft eröffnet. Freilich eine totalitäre Demokratievorstellung398, die nun im Rollentausch Popper statt Hegel zum totalitären Denker werden läßt, folgt daraus kaum. Dazu ist Poppers „piecemeal engineering" doch zu glaubhaft, dazu nimmt er zu eindeutig Stellung für die liberal garantierte Freiheit, die durch die Fiktion einer „totalen" Gesellschaft noch nicht als Ideal hinfällig wird. Allein an einem Punkt nähert sich Popper einer philosophischen Auseinandersetzung, und zwar dann, wenn er die Einheit von Vernunft und Wirklichkeit, jene alte Angriffsfläche der Hegeischen Philosophie, zergliedert und in eine dreifache Äquivokation auffächert. Denn „Idee = Wirklichkeit" bedeute einmal im Sinne Platos „Ideal = wirklich", zum anderen „Idee = Vernunft" im Sinne Kants und schließlich in Hegels ureigenster Wendung „wirklich = Vernunft"399. Der ethische und juristische Positivismus, „die Lehre, daß das Bestehende gut ist", muß sich daraus nach Popper zwangsläufig ergeben400. Die Identität von Vernunft und Wirklichkeit ist die eine „Säule" der Hegeischen Philosophie, der „Widerspruch" die andere. Das dialektische Fortschreiten von These und Antithese zur Synthese leiste sich jeweils
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tion anzuerkennen. Popper „misrepresents Hegel on a scale that makes his misrepresentation of Marx seem almost like scholarly accuracy". A Reply to Dr. Karl Popper's Refutation of Marxism, New York 1968, 68. Popper 21970, Bd. II. 235. Mit diesem Vorwurf überzieht Maurer seine ansonsten brillante Popper-Kritik. R. K. Maurer, Popper und die totalitäre Demokratie, in: Der Staat Bd. 3 (1964), 483ff. Popper 21970, Bd. II. 53. ebd.
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kontradiktorische Widersprüche, die zur Zerstörung jeder Argumentation führen müssen401. Hatte Popper mit der Identität von Wirklichkeit und Vernunft noch ein echtes Problem der Hegelforschung angesprochen, seine „zweite Säule" der Hegeischen Philosophie ist wieder eine Simplifizierung und summa summarum eine Verwechslung. Nicht nur daß Popper die leidige Legende von „These-Antithese-Synthese" noch einmal aufwärmt402, auch der Nachweis der Zerstörung der Argumentation bei der Annahme kontradiktorischer Prämissen geht an Hegel vorbei. Zwar hat der alte Satz „ex absurdis sequitur quodlibet" auch heute noch seine Gültigkeit403, aber kontradiktorische Widersprüche in den einzelnen Gedankenschritten des Hegeischen Systems wird man kaum finden können404. Es ist erst Topitsch, ein Schüler Poppers, der die Potentiale des kritischen Rationalismus gegen Hegel glücklicher einsetzt.
5.3.2. Hegel als Herrschaftsideologe und mystischer Heilslehrer (E. Topitsch) Anders als Popper, der Hegels Verbindung zum Nationalsozialismus, man muß schon sagen, aus der Luft greift, kann Topitsch die Verwandtschaft zwischen Hegel und Hitler begründen. Denn Topitsch kennt über Heller die alten Rechtshegelianer wie Rößler und A. Lasson, er selbst ist es, der auf Binder, Larenz u. a. aufmerksam macht405. Freilich, Topitsch unterbestimmt das Niveau der alten sowie der neueren Rechtshegelianer, indem er primär an einer ideologiekritischen Aktion interessiert zu sein scheint, die die Leiche im Keller der akademischen deutschen Nachkriegsphilosophie entdecken helfen soll. So wird das zentrale Problem von Gesellschaft und Staat nicht aufgegriffen, so wird auch der „Anspruch" des Rechtshegelianismus auf Einlösung der Rechte der Einzelnen sowie 401
op. cit. Bd. II. 51 f.; K. R. Popper, Was ist Dialektik?, in: Logik der Sozialwissenschaften, E. Topitsch (Hrsg.), Köln-Berlin 1968, 262ff. 402 Hegel verwendet die Begriffe nur einmal, um Kants Vorgehen zu beschreiben, Gesch. d. Phil. SW XIX, 610. Siehe G.E.Müller, The Hegel Legend of ,Thesis-AntithesisSynthesis', in: Journal of the History of Ideas, Vol. XIX (June 1958), 41 Iff. 403 Mehr scheint mir Popper in seinem Dialektik-Aufsatz nicht zu beweisen. 404 Ygj dj e subtilen Ausführungen von Fr. Gregoire, fitudes Hegeliennes. Les Points Capitaux Du Systeme, Louvain-Paris 1958, 54 ff. 405 E. Topitsch, Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie, Neuwied-Berlin 1967, 63ff.; Topitsch 1966, 36ff.
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der Interessen der Allgemeinheit verkannt. Aber Topitsch hat unzweifelhaft das Verdienst gehabt, überhaupt an die tabuisierte rechtshegelianische Philosophie während des Dritten Reiches erinnert zu haben. Seine wissenschaftstheoretischen, logischen und ideologiekritischen Einwände sind schon subtiler und treffsicherer als Poppers Polemik. Nicht kontradiktorische Widersprüche, wie Popper sie vermutete, sondern die unentschiedene und ununterscheidbare Vagheit der Hegelschen Begriffe diskreditieren die Dialektik. Die verschiedensten politischen Strömungen können von ihr Gebrauch machen, weil sie allein mit „Leerformeln" operiert. Der Anspruch universeller Gültigkeit von Dialektik muß die Entleerung der Begriffe notwendig hervorrufen. Wenn ein und dieselbe Denkweise den Übergang von Sein zu Nichts zu Werden, von orientalischer zu griechisch-römischer und germanischer Welt, von Erdorganismus zu Pflanze und Tier, von Kunst zu Religion und Philosophie (usf.) erklärt, dann werden die Aussagen einer solchen Wissenschaft die Struktur von Sätzen mit totalem Spielraum haben406. Der wissenschaftstheoretisch präzise Sinn des Leerformelvorwurfs besagt, daß Aussagen mit totalem Spielraum stets wahr, aber auch ohne jede empirische Information sind407. Diese Eigenschaft macht sie unwiderlegbar und bei den Ideologen verschiedenster Schattierungen beliebt, da es im Belieben des Einzelnen steht, in die Formel einzusetzen, was ihm gefällt. So kann die dialektische Negation als „unerschöpfliche Quelle von Äquivokationen" dienen, als logischer Widerspruch, realwissenschaftliche Darlegung, wertende Ablehnung, sozialer Konflikt, Abfolge von Entwicklungsstadien und als bloße Verschiedenheit408, aber man kann auch wie Binder oder Max Wundt in die negative Phase gerade das ein-
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Der totale Spielraum einer Satzformel läßt sich genauer definieren als die Klasse aller möglichen Zuordnungen von Wahrheitswerten zu den bewertbaren Zeichen einer Satzformel. Nach Carnap ist er „total", wenn er bei jeder Bewertung „L-wahr" ist, er ist „leer", wenn er bei jeder möglichen Bewertung „L-falsch" ist. R. Carnap, Einführung in die symbolische Logik, Wien 1960, 16 — 19. Spielraum und empirischer Gehalt sind umgekehrt proportional, brauchbare wissenschaftliche Hypothesen liegen deshalb zwischen totalem und leerem Spielraum. Zu diesem wissenschaftstheoretisch oft diskutierten Komplex: K. R. Popper, Logik der Forschung, Tübingen 971, 87; Tractatus 4. 463 und W. Kneale, Probability and Induction, Oxford 1966, 173-190. Topitsch 1967, 54; ders., Über Leerformeln, in: Probleme der Wissenschaftstheorie, Festschrift für Viktor Kraft, E. Topitsch (Hrsg.), Wien 1960, 251 ff. Ein einfaches Beispiel sind Sätze von der Art: „Morgen wird es entweder regnen oder nicht regnen". Topitsch 1960, 251; Topitsch 1967, 55.
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schieben, was man bekämpft, etwa die Weimarer Republik oder die Individualität409. Nicht kontradiktorische Widersprüche, sondern Leerformeln sind das Geheimnis der Dialektik. Sie werden bei Hegel inhaltlich mit totalitären Tendenzen besetzt. Wissenschaftslogisch präziser als Popper (wenn auch in dessen Geist) formuliert Topitsch auch den anderen Einwand Poppers gegen die Vermengung von theoretischer Idee, normativem Ideal und empirischer Realität. Denn die totalitären Tendenzen gehen auf die Vermischung von Deskriptionen mit Normen zurück, auf denen Hegels teleologische Denkweise basiert410. In der Natur lassen sich invariante Entwicklungen von Organismen feststellen, aber schon in diesem Bereich darf die Invarianz nicht mit einem normativen Telos verwechselt werden. In Geschichte und Gesellschaft kennen wir nicht einmal vergleichbare Invarianzen, geschweige denn ein quasi im voraus festliegendes Ziel, auf welches das menschliche Handeln so zutreiben muß, wie die Eichel sich notwendig in die Eiche verwandelt. Gerade erst weil Handeln nicht wie ein Naturvorgang determiniert ist, ist es der Leitung durch Normen bedürftig (und fähig). Zwischen der Erfassung von „Natur" und „Geist", um es vereinfacht auszudrücken, besteht somit ein fundamentaler Unterschied. Eine Geschichtsphilosophie kann nicht in Analogie zur Naturwissenschaft eine bestimmte soziale Ordnung als Telos prognostizieren. Da empirische Invarianzen fehlen, bleibt nur noch ein Weg übrig. Wer trotz fehlender Invarianzen ein Telos für die soziale Ordnung definiert, der vermischt Werturteile mit Deskriptionen; der „wahre" oder „der seinem Begriff entsprechende" Staat, das sind keine deskriptiven Definitionen, sondern verschleierte Werturteile411. Indem der soziale Bereich aber wie die Natur teleologisch gedeutet wird, werden die Werturteile behandelt als wären sie so etwas wie jene Deskriptionen, mit deren Hilfe wir Enwicklungen der Natur beschreiben. Die Übertragung der ideologischen Denkweise auf die Pragmata kann damit als ein Herrschaftsinstrument wirken, das sich durch die angeblich deskriptive Rolle der Definitionen und durch den Aufweis der Unausweichlichkeit des Telos vorzüglich für Ideologien eignet. Mit der Definition des „wahren" Staates wird eigentlich nur behauptet, „. . . eine bestimmte — bestehende oder erwünschte — Ordnung mensch409 410 411
Topitsch 1967, 60, 68 ff. op. cit. 56ff. op. cit. 60.
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liehen Zusammenlebens besitze einen von allem Werten und Wollen der Individuen unabhängigen Wertvorrang vor allen übrigen . . . sei Endzweck"412. Nicht nur theoretische Idee und Norm, auch theoretische Idee, Norm und Wirklichkeit gehen in der Identität von Vernunft und Wirklichkeit durcheinander. Die Unterscheidung von „Wirklichkeit" und „Existenz", durch die Hegel „wahres" Sein und Erscheinen voneinander trennt, ist für Topitsch genauso fatal wie für Scheidler und Haym, für Meinecke und Litt. Denn wenn Hegel schon zwischen wahrem und bloß existierendem Sein unterscheiden muß, dann ist dies gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, daß auch „unwahres Sein" vorhanden ist, daß das wahre Sein nur noch „ein Ausschnitt aus der Fülle des faktisch Vorhandenen" sein kann, daß schließlich der Totalitätsanspruch der Philosophie Hegels gefährdet wird413. Topitsch argumentiert hier inhaltlich wie Meinecke. Hegel muß, soll sein Anspruch nicht in sich zusammenbrechen, das bloß erscheinende Sein als notwendiges Übel und Mittel rechtfertigen, dessen der Logos zu seiner Realisierung bedarf. Auf diese Weise glückt zwar die Rettung von Totalitätsanspruch und Monismus, aber der Preis, der bezahlt werden muß, ist hoch. Der Weltgeist, der sich nur auf moralisch fragwürdige Weise verwirklichen kann, wird selbst kompromittiert. Theodizee und Ethik geraten in einen Konflikt. Nur der Historizismus kann schließlich die Ansprüche des unwahren Seins abweisen, das auch den Vernunfttitel einklagen könnte. Der Erfolg muß letztlich wahres und erscheinendes Sein trennen. Aber wie das Telos der sozialen Ordnung so liegt auch der Erfolg nicht im voraus fest. Der Historizismus Hegels verträgt sich nur noch mit einer retrospektiven Philosophie, die für die Zukunft nichts zu sagen hat414. Neben die wissenschaftstheoretischen und typisch liberal-kritischen Argumente läßt Topitsch noch die größere Perspektive einer ideologiekritischen Sehweise treten, in deren Blickfeld Hegel gleich zweimal erscheint. Denn einmal denkt Hegel in den Bildern eines technomorphen Mythos, der teleologisch-organisch die Entwicklung des Logos nach dem Muster planvollen menschlichen Handelns begreift, zum anderen verwendet Hegel das Schema der ekstatisch-kathartischen Mythen von Fall 412
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op. cit. 62; Topitsch 1960, 259; E. Topitsch, Kritik der Hegel-Apologeten, in: Kaltenbrunner 1970, 347. E. Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, Wien 1958, 248 ff. op. cit. 251.
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und Erlösung. Erlaubt der technomorphe Mythos die Immunisierung von vorausgesetzten Wertungen, die Polemik gegen die „unorganischen" Denkweisen des Verstandes, der Aufklärung und der Naturwissenschaft415, die Abgrenzung von den abstrakten ,,Summenbegriffen" und der „mechanistischen" Staatsauffassung, so ist der Erlösungsmythos ein ausgezeichnetes Mittel, um Individuelles zu verketzern. Der zunächst unvollkommene Logos muß sich entäußern und verendlichen, um dann wieder zu sich zurückzukehren. Innerhalb dieses Rhythmus von Entzweiung und Versöhnung kann alles Individuelle nur als sperriges Hindernis auftauchen, das sich der gebotenen Rückkehr in den Urgrund entziehen will und somit gleichbedeutend mit dem „Bösen" ist. „Denn als böse gilt demnach alles . . . Individuelle, das in seiner . . . Individualität verharren und nicht zum Urgrund zurückkehren will"416. Der numinose Schauer, den Hegels „Wortmusik" erzeugt417, hat, nimmt man die Komponenten zusammen, einen handfesten politischen Hintersinn. Die verschleierte Voraussetzung von Wertungen im Verein mit der erlösungsmythischen Integrierung alles Individuellen konfrontieren den Einzelnen mit einer angeblich vorgegebenen „wahren" Ordnung, die nicht moralisch oder durch Einwände des „Verstandesdenkens" bekrittelt werden darf. „Die Struktur des ,wahren Staates' . . . ist ein Abbild der gesamten werthaften Weltordnung und daher allem menschlichen Dafürhalten und bloßen »Meinen' entzogen — dieses Motiv verbindet Hegel mit den sozio-kosmischen Herrschaftsideologien"418. „Der individuelle Wille", so beteuert Topitsch mehrmals, „ist in dieser universalen Ordnung des ,allgemeinen Willens' aufgegangen"419. Topitsch wählt einmal ein Motto von Meinecke, das in der Tat seine Hegelauslegung eindeutig fixiert: „Der deutsche Machtstaatsgedanke, dessen Geschichte mit Hegel begann, sollte in Hitler seine ärgste und verhängnisvollste Steigerung erfahren"420. Hegels Philosophie konnte nicht nur zufällig von den Bismarck-Anhängern und einigen Intransigenten des Dritten Reiches für ihre Zwecke eingesetzt werden. Aber trotz dieser Geistesverwandtschaft, die auch Topitsch aus dem Ethos der offenen Gesellschaft bekämpft, war Hegel doch nicht ein Faschist. Manches in 415 416 417 418 419
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Topitsch 1966, 38; Topitsch 1967, 92; Topitsch 1970, 354. Topitsch 1967, 23/24 und vorher. Topitsch 1960, 261 f. Topitsch 1967, 62. op. cit. 32; vgl. 34, 39, 92. Meinecke 1946, 28.
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seinen Anschauungen war den Nationalsozialisten nicht willkommen, „die kontemplativ-rückschauende Einstellung seiner Geschichtsphilosophie, die starke Betonung des monarchischen Prinzips, die Verbundenheit mit der abendländischen Kulturtradition und die christliche Grundhaltung"421. Die Kontinuität zwischen den Ansichten von Hegel, Bismarck und Hitler ergibt sich dennoch tendenziell. Es sind zu viele Lehren, welche eine Gemeinsamkeit bezeugen: „der unbedingte Vorrang des ,autoritär-organischen' Staates vor der ,individualistisch-atomistischen' bürgerlichen Gesellschaft", „die Ablehnung der liberalen Demokratie", „die Verklärung des Machtkampfes zwischen den Staaten", „die Herabsetzung des am Prinzip allgemeiner Kontrollierbarkeit orientierten Denkens der Wissenschaften . . . zum bloßen Verstandesdenken" und „die entsprechende Einschätzung der von diesem Denken bestimmten westlichen Aufklärung"422.
5.3.3. Hegel als einer der Väter vom Mythos des 20. Jahrhunderts (E. Cassirer) Ahnlich ausgewogen wie Topitsch konstruiert Ernst Cassirer in seinem politischen Testament, jenem Buch, das er in seinen letzten Lebensjahren schrieb423, eine tendenzielle Verwandtschaft zwischen Hegel und dem Mythos des 20. Jahrhunderts. Ohne Hegel simplifizierend zum Lehrer einer Heroenmoral oder eines Rassenfanatismus zu machen, spürt Cassirer diese Elemente des modernen Mythos bei Carlyle und Gobineau auf. Der schottische Puritaner hält am Beginn der Viktorianischen Epoche seines Landes Vorlesungen „On Heroes, Hero Worship and the Heroic in History", der französische Aristokrat verkündet die Ungleichheit der Rassen in seinem „Essai sur l'inegalite des races humaines"424. Hegel war kein Reaktionär vom Schlage der Carlyle oder Gobineau, dafür stand er den Idealen der Französischen Revolution stets zu nahe425. Aber er hat doch unbewußt die Pandorabüchse geöffnet. Es war sein tragisches Schicksal, „that he unconsciously unchained the most irrational powers that have ever appeared in man's social and political life. No other system 421 422 423 424 425
Topitsch 1966, 47. Topitsch 1967, 92. E. Cassirer, The Myth of the State (1946), New York 21955. op. cit. 235ff., 280ff. op. cit. 341.
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has done so much for the preparation of facism and imperialism as Hegel's / doctrine of the state . . ,"426. Zunächst muß Hegel als Antipode eines sokratisch verstandenen Plato gelten, der gegen das Ethos, das nur auf basiert, das neue Sokratische Wissen der und des wendet. Hegels „Sittlichkeit" ist dem „mythischen" Vertrauen auf die Autorität der traditionellen Sitten näher als das Sokratische Fragen nach dem Guten427. „Conservatism is, therefore, one of the most characteristic features in Hegel's ethical theory"428. Freilich intendierte Hegel mehr, sein Weltgeist sollte über die Nationen übergreifen und sich nicht auf ein bestimmtes Volk alleine beziehen, aber Hegels Welt war letztlich sehr klein, das zerfallende Deutsche Reich und dann Preußen. Die Idee, die Hegel nicht nur in den Köpfen der Menschen, sondern auch in der Welt als Realität akzeptiert, führt eine Tendenz zur Versöhnung mit nahezu allem mit sich, was als Macht existiert. „Hegel could reconcile himself to almost everything — supposing it had proved its right by its power"429. So preist er den in Jena einreitenden Napoleon 1806 als die „Weltseele", so wird er zum preußischen Staatsphilosophen, als Preußen die führende Rolle zu spielen beginnt. Wie für Meinecke, Litt, Iljin u. a. so dreht sich auch für Cassirer Hegels Metaphysik um das alte Theodizeeproblem430. Hegel transponiert es auf eine neue Stufe, weil er, fern von allem Optimismus, gerade das physische Übel und das moralische Böse hervorhebt, statt es zu eliminieren. Dazu mußte er freilich die Kluft zwischen mundus sensibilis und mundus intelligibilis überbrücken, mußte er den Gegensatz von civitas terrena und civitas divina sowie den zwischen dem Reich der Natur und dem Reich der Zwecke einebnen. Hegel nähert sich einem Pantheismus, allerdings nicht einem spinozistischer Provenienz, wenn damit eine akosmistische oder eine naturphilosophische Version dieser Lehre gemeint sein soll, die sich in die Formel „Deus sive natura" pressen ließe. Besser paßt auf Hegels Philosophie das Motto „Deus sive historia" als Leitgedanke eines geschichtsphilosophischen Pantheismus, der nicht alle Realität in die Substanz hineinziehen will. Hegel differenziert zwischen Wirklichkeit und Existenz. Der Vorwurf ihrer Vermengung, so scheint es, wird 426 427 428 429
430
op. op. op. op. op.
cit. 343/344. cit. 86ff. cit. 316. cit. 342. cit. 319ff.
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von Cassirer nicht unterstützt. „He (Hegel, H. O.) never identified reality with empirical existence"431. Erst eine Stufe höher nimmt Cassirer die typischen liberal-kritischen Einwände auf. Zwar unterscheidet Hegel zwischen Wirklichkeit und Existenz, aber, so fragt sich Cassirer wie Hook, wie soll man diese Unterscheidung sozio-politisch und historisch anwenden? „To this question the Hegelian system can only give one answer. The history of the world is the judgment of the world . . ,"432. Die uns bekannten Vorwürfe lassen sich auf dieser Stufe auch für Cassirer wieder erheben. Hatte Augustinus noch die civitas terrena als unvollkommenes Abbild der civitas divina betrachtet, für Hegel verschwimmen Staat und göttliche Idee zur Einheit, so daß „an entirely new type of absolutism"433 entsteht. Schon ab 1802 bekämpft Hegel das Naturrecht, die Vertragstheorien, die nur „subjektive" Moralität, die „mechanischen", „atomistischen" Staatstheorien434, statt dessen entwirft er das Bild eines organischen Ganzen, das „früher" ist als seine Teile. Der Krieg wird dem Friedensideal Kants vorgezogen, die philanthropischen Ideale werden zurückgewiesen, und die welthistorischen Individuen dürfen sich wie der Staat eines moralischen Freibriefs erfreuen. Zwischen Machiavelli und Nietzsche steht Hegel in der Mitte, vom einen übernimmt er die „virtu", die Tüchtigkeit der starken Leidenschaft, vom anderen antizipiert er den Immoralismus. „He introduced that concept of sacra egoismo which after him has played such a decisive role in modern political life . . . He himself regarded the individuals as marionettes in the great puppet show of universal history"435. Kein Philosoph hat wie Hegel den Staat mit der göttlichen Idee verschmolzen, niemand vor ihm hat eine Nation als jeweiligen Repräsentanten des Weltgeistes glorifiziert und ihr nur rechtlose Staaten gegenüber treten lassen436. Und dennoch, Hegels Philosophie und der Totalitär is mus decken sich nicht völlig437. Noch bleibt der absolute Geist dem Zugriff des Staates entzogen, noch war Macht nicht einfach physische Gewalt, und noch predigt die Philosophie nicht das totalitäre Evangelium der „Gleichschaltung". Hegel hat, so meint Cassirer, ein Bruchstück vom Mythos des 431 432 433 434 435 436
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op. cit. op. cit. op. cit. op. cit. op. cit. op. cit. op. cit.
328. 343. 332. 331 ff. 338. 344. 345ff.
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Die liberale Kritik an Hegels Universalismus
20. Jahrhunderts vorzubereiten geholfen, einen totalen Staat hätte er selbst noch verabscheut.
5.3.4. Hegel und die deutsche Vergangenheitsbewältigung (W. Apelt, A. v. Martin) Popper hatte seinen Anti-Hegel unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Besetzung Österreichs verfaßt, Cassirer schrieb im Exil in New Haven, noch am Ende seines Lebens beunruhigt von der Dunkelheit der Mythen, welche die Menschheit auch nach Tausenden von Jahren wieder in die Barbarei zurückwerfen können438. Symbolisieren beide unter dem Einfluß des ausgehenden Krieges geschriebene Interpretationen, so repräsentieren von Martin und Apelt die unmittelbare Nachkriegszeit, als man in Deutschland mit der „Vergangenheitsbewältigung" begann. Für Martin und für Apelt fand der geistige Zusammenbruch schon vor der Katastrophe des Dritten Reiches statt, und zwar in der durch Hegel bezeichneten Umwandlung der abendländischen Tradition, deren positive Werte ein Kant noch vertrat439. Kant hatte nämlich noch an die sittliche Vernunft, an den Rechtsstaat und den Frieden geglaubt440, in seiner Philosophie kulminierte noch die „naturrechtliche Staatsauffassung der Aufklärung"441, eine Lehre von gesetzlich gesicherter Freiheit, bürgerlicher Gleichheit und Selbständigkeit, von Völkerbund, Friede und Weltbürgerrecht. Aber nicht Kant, sondern Hegel hat auf das 19. Jahrhundert eingewirkt. Hegel verkörpert den Umschwung vom Rechtsstaat zum Machtstaat, vom Kosmopolitismus zum Nationalismus, vom Ideal des Friedens zum Ideal des Krieges442. Mit Hegel bricht der Machiavellismus aus den politischen Grenzen aus. „So wird aus der Lehre vom Machtstaat — die bei Machiavelli noch im wesentlichen ein reines Politikum ist — eine Philosophie, eine Ethik, ja
438 439
440
441 442
op. cit. 374f. Als „Wetterleuchten" der Raubtier-Ethik und der Gewaltherrschaft der Stärkeren, die Nietzsche und Spengler prophezeien und Himmler und Hitler vollstrecken, sieht auch Schrpter Hegel. M. Schröter, Untergangsphilosophie? Von Hegel zu Spengler, München 1948, 4ff. A. v. Martin, Geistige Wegbereiter des deutschen Zusammenbruchs. Hegel, Nietzsche, Spengler, Recklinghausen 1948, lOff. W. Apelt, Hegelscher Machtstaat und Kantisches Weltbürgertum, München 1948, 7. op. cit. 11 ff.; v. Martin 1948, 18ff.
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eine Religion"443. Das Gewissen wird entthront wie das Naturrecht, an die Stelle alles Subjektiven tritt die Souveränität des Staates, die Hegel, noch über Bodin und Friedrich II. hinausgehend, glorifiziert444. Der Weltgeist und seine Geschichte haben nicht mehr wie bei Voltaire ihr Zentrum in der Kultur, sondern in einem „Voluntarismus", der sich in Macht, Erfolg und Sieg legitimiert445. Hegels Rolle sehen Apelt und von Martin ähnlich wie Topitsch und Cassirer. Hegel war nicht die alleinige Quelle für den Nationalismus, den auch die Romantik und der Historismus auf ihre Weise geschürt haben446. Um aus seiner Machtstaatslehre einen Totalitarismus zu machen, bedurfte es noch der Treitschke und Nietzsche447. Aber dennoch darf auch die Verbindung zwischen Hegel-Bismarck-Hitler nicht übersehen werden. Hegel hat an der Verwandlung des politisch-philosophischen Klimas nach Kant einen nicht zu unterschätzenden Anteil, er war sogar „der erste Deutsche, der jede universale Rechtsidee zu bestreiten wagt, jedes Naturrecht und jedes Völkerrecht, alles Übernationale in Recht und Moral, wie es vom klassischen Altertum an über das christliche Mittelalter bis hin zum philanthropischen 18. Jahrhundert gegolten hatte"448. Eine Bilanz im Geiste der Vergangenheitsbewältigung kann den Anfang einer neuen Staatsgesinnung deshalb nicht bei Hegel suchen, sondern nur bei Kant, im Christentum und im Naturrecht, die alle noch um das Individuum zentriert gewesen waren449.
5.3.5. Noch einmal: Hegel, Hegelianismus und die deutsche Katastrophe (H. Kiesewetter) Die Leitmotive der liberalen deutschen Hegelkritik wiederholen sich noch einmal in Kiesewetters Buch „Von Hegel zu Hitler", das deutsche Vergangenheitsbewältigung, aber auch eine versteckte Waffe im Kampf zwischen kritischem Rationalismus und noch heute von Hegelscher Dialektik genährtem Linkshegelianismus sein soll. Der an Popper, Albert und 443 444 445
446 447 448 449
v. Martin 1948, 11; Apelt 1948, 13. v. Martin 1948, 18. op. cit. 19. Apelt 1948, 9. Apelt 1948, 15; v. Martin 1948, 34. v. Martin 1948, 18. Apelt 1948, 7ff., 12, 16.
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Topitsch gerichtete Positivismusvorwurf wird zurückgegeben, indem auf die Rolle des Rechtshegelianismus aufmerksam gemacht wird, der quasi mit fliegenden dialektischen Fahnen zum Konservatismus und Totalitarismus überlaufen konnte. Allerdings verspricht Kiesewetter (eher Topitsch als Popper folgend), „keine Identität zwischen Hegelscher und nationalsozialistischer Staatstheorie"450 aufzuweisen, doch hält er sein Versprechen nicht ganz ein, wenn am Ende wieder ein Hegel präsentiert wird, der nur rechte Schüler gehabt zu haben scheint. Kiesewetter legt die bisher ausführlichste und informativste Ideengeschichte des Rechtshegelianismus vor, die zum ersten Mal in aller Ausführlichkeit Hellers Ergebnisse aufnimmt und sie um die von Topitsch immer wieder geforderte chronique scandaleuse des nationalsozialistischen Rechtshegelianismus erweitert. Doch noch immer begegnen wir einigen typischen Schwächen dieses genres, wie sie seit Heller allzu offenkundig sind. Auch Kiesewetter traut der Macht des Hegeischen Einflusses zuviel zu, wenn er ihn immer noch auf Denker wirken sieht, die auch bei großzügiger Auslegung nicht Hegelianer genannt werden können451; auch er spielt den Anteil der Rechtshegelianer am nationalsozialistischen Denken hoch452 (was nach der langen Verdrängung freilich verzeihlich ist); auch 450 451
452
Kiesewetter 1974, 19. Kiesewetter hat die lange Liste der bei Heller als Hegelianer rubrizierten Juristen, Historiker und Philosophen schon um A. Müller, Luden, Leo, Carlyle, G. Hugo u. a. gekürzt, dennoch katalogisiert er weiter Völkerrechtler wie Heffter und Pütter (op. cit. 157ff.), Historiker wie Droysen (op. cit. 170ff.) und sogar Apologeten des Ersten Weltkrieges wie Bernhardi und Plenge (op. cit. 195 ff.) als Hegelianer von echtem Schrot und Korn. Auch Carl Schmitt oder E. R. Huber, die ihr konkretes Ordnungsdenken eher aus Haurious Institutionenlehre und Müllers romantischer Staatstheorie als aus Hegels Denken mischten, werden als Rechtshegelianer aufgeführt, ganz wie Koellreutter, Steding und Forsthoff, die zwar Nationalsozialisten, aber keine Rechtshegelianer waren. Diese Staatsrechtler und Kulturkritiker haben Hegel mehr erwähnt, um ihre Thesen ein wenig aufzubessern, als um mit Hegeischen Einsichten Wichtiges zu sagen; typisch dafür die vielzitierten Worte Schmitts über den Hegeischen Geist, der über Marx und Lenin nach Moskau gewandet (C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, München 1932, 50), nun aber mit dem Ende des Hegeischen Beamtenstaates am 30. 01. 1933 „gestorben" sei (C. Schmitt, Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, Hamburg 1934, 31 f.). Der Rechtshegelianismus soll zwar nur einer der vielen Flüsse sein, aus dem sich der Strom des Nationalsozialismus bildete (Kiesewetter 1974, 19), doch nennt Kiesewetter die Hegeische Machtstaatsideologie auch „konsumtiv" für das Dritte Reich (op. cit. 21). Daß so anerkannte Ideologen wie Rosenberg, Bäumler, Krieck, Böhm und Hitler selbst nichts mit Hegel anfangen konnten, wird genauso verschwiegen wie die Vielzahl der Quellen von Gobineau über Vacher de Lapouge, Chamberlain, Ploetz, Ludendorff, Eckart, Darre, Günther bis zu Möller van den Brück und anderen Autoren der konservativen Revolution.
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er verschweigt noch den Restbestand an Liberalität bei den BismarckHegelianern, auch er differenziert nicht zwischen sekundären und tertiären Quellen, und noch immer darf nur ein sich nie wandelnder Hegel auftreten, der von 1785453 bis 1831 Machtstaatsdenker (und nur Machtstaatsdenker) gewesen sein soll. Wie es seit Heller in dieser Tradition üblich geworden ist, so verwandelt auch Kiesewetter Hegel in einen Rechtshegelianer, manchmal sogar noch in einen aus dem Popperschen Gruselkabinett, dem die Subordination der Religion unter den Staat454, das Motto „Der Staat ist alles"455 und „Staatsvergottung"456 anzulasten sind; meist jedoch ist der Hegel Kiesewetters ein begabterer Rechtshegelianer als Poppers schrecklicher simplificateur. Zwar hat dieser Hegel in der Verfassungsschrift nur einen „Machtstaat machiavellistischer Prägung"457 entworfen, der „außerhalb des Rechts und über allem Recht"458 steht, zwar hat er in der Landständeschrift „das monarchische Alleinvertretungsprinzip"459 verteidigt, zwar ist die ganze Rechtsphilosophie für Kiesewetter nur ein Handbuch für Machiavellisten und Machtstaatsverehrer460, aber immerhin ist dieser Hegel nicht mehr ein so plumper Ideologe wie der Staatsvergötterer Poppers. So hat Hegel sich davor gehütet, Preußen spiegelbildlich in der Rechtsphilosophie abzubilden; er hatte andere Möglichkeiten sicherzustellen, daß Preußen „rechtmäßig seine reaktionären Maßnahmen" mit der Hegeischen Staatstheorie rechtfertigen konnte461. Denn Hegel hat quasi einen dialektischen Schleier scheinbar fortschrittlicher Institutionen über die Rechtsphilosophie gebreitet, um dahinter desto kräftiger gegen alle liberalen und rechtsstaatlichen Errungenschaften wirken zu können, er hat andererseits 453
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461
Die „Unterredung zwischen Dreien" (Antonius, Octavius, Lepidus) aus dem Tagebuch des Gymnasiasten Hegel bezeugt schon den Beginn des Hegeischen Machiavellismus (op. cit. 47)! op. cit. 135. op. cit. 138. op. cit. 112. op. cit. 48. op. cit. 33. op. cit. 63 ff. Das abstrakte Recht entziehe dem Einzelnen die Verfügungsgewalt über Leben und Eigentum (op. cit. 90), die Individualethik im Sinne Kants verwandele sich in eine Sittlichkeit, in der „Staatsethik und Machtstaat ineinanderfallen" (op. cit. 94), die Familie fungiere nur als „Säule eines autoritären Staates" (op. cit. 96), die Gesellschaft werde entpolitisiert (op. cit. lOOff.), damit sie um so besser dem autoritären Staat untergeordnet werden könne. op. cit. 84.
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offensichtlich rückschrittliche Einrichtungen wie die „Stände" proklamiert, um durch solche entpolitisierenden Instanzen den Integrationsdruck für den Einzelnen zu erhöhen und ihn in eine „ständische Gesellschaftsordnung zurückzuführen, die in vielem dem Restaurationscharakter des vormärzlichen Preußen entsprach, dem politischen Pluralismus freier Gesellschaften jedoch konträr gegenübersteht"462. Was seit Rosenkranz Hegels gemäßigte Position bezeugen soll, bekundet für Kiesewetter nur Hegels Kunst der dialektischen Augenwischerei. Diese fordert eine Verfassung, aber so, daß dies der „Rechtfertigung des verfassungslosen Zustandes in Preußen"463 dient, diese postuliert die Freiheit der öffentlichen Meinung und sieht zu, daß daraus eine Zensur bei der „Kritik machtstaatlicher Verordnungen"464 entsteht, diese begrüßt die gesellschaftliche Emanzipation im Dualismus von Gesellschaft und Staat und versteht es gleichwohl, ihn in die „Allgewalt des Staates"465 aufzulösen. Kiesewetter liest die Antithetik nicht (wie etwa Lübbe) als gekonnt und bewußt ausgleichende Strategie einer maßvollen Politik. Aus dem Geist derselben Parteilichkeit, aus der heraus so viele liberale Apologeten jede in Preußen noch nicht vorhandene (aber bei Hegel schon erwähnte) Institution quasi als Schwalbe eines demokratischen Sommers begrüßen, erblickt Kiesewetter hinter der fortschrittlichen Hülle nur die Zeichen der längst vergangenen Zeit, deren ständische und vor-demokratische Ordnung sich im 20. Jahrhundert so verhängnisvoll erneuern sollte. Statt diese Einseitigkeit, die Hegels Rechtsstaat nur als liberales Mäntelchen über einer ansonsten reaktionären Staatskonstruktion zu würdigen bereit ist, weiter zu verfolgen466, muß es für unser Ziel einer Annäherung der Hegelschulen fruchtbarer sein, uns von Kiesewetter über mögliche universalistische Tendenzen bei Hegel belehren zu lassen. Denn Kiesewetters Liste universalismusverdächtiger Elemente der Hegeischen Staatstheorie schließt mehr ein als die uns reichlich vertrauten Phänomene des äußeren Staatsrechts, mehr als den Historizismusvorwurf, mehr als die bekannte Gegnerschaft gegen Kant-Fichte, das individualistische Natur462
463 464 465
466
H. Kiesewetter, Hegels ständische Konzeption der bürgerlichen Gesellschaft, in: HegelJahrbuch 1971, W. R. Beyer (Hrsg.), Meisenheim/Glan 1972, 97. op. cit. 116. op. cit. 121. op. cit. 130. Kiesewetters Übertretungen im Lichte der Wahrheiten des Hegelbildes der Mitte zurechtzurücken, habe ich in meiner Besprechung des Buches versucht, in: Philosophisches Jahrbuch Bd. 82, 1. Hbbd. (1975), 227-234.
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recht und die Vertragstheorie. Kiesewetter trägt in die bekannten Koordinaten weitere Punkte ein, aus denen sich ein universalistisches Profil abzuzeichnen beginnt, Konstruktionselemente des Hegeischen Staates, die sich liberaler und demokratischer Vereinnahmung entziehen und doch bei Hegel eine prominente Rolle spielen. Die Integrationsfunktion der Stände467, die gekoppelt ist mit der Zurückweisung des demokratischen Wahlrechts468, die Ablehnung des „Machens" von Verfassungen469, die Zurücknahme der demokratischen Gewaltenteilung in eine obskure dialektische Vermittlung470, die Uberordnung des Staates über die nur relative Sphäre der Gesellschaft471, die an der Person des Monarchen festgemachte Souveränität472, die in der Gefahr schwebt, in Dezisionismus abzugleiten, das alles sind Lehren, die uns in Hegel zwar nicht, wie es Kiesewetter will, einen Rechtshegelianer, aber doch einen Philosophen erkennen lassen, der auch der Vater der Rößler und Lassen, der Binder und Larenz gewesen ist, ein zwischen rechts und links changierender Denker, der allein als Lehrer des modernen Rechtsstaates so wenig erfaßt wird wie als NurKonservativer oder Nur-Universalist.
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471 472
Kiesewetter 1974, 100 ff. op. cit. 119f. op. cit. 115. op. cit. 118f. op. cit. 132ff. op. cit. 124ff.
IV. Die Apologie des modernen freiheitlichen Rechtsstaats durch die Hegeische Mitte Die heute in der westlichen Welt wohl einflußreichste Strömung der Hegelauslegung stellt sich der linkshegelianischen Kritik am Antiindividualismus des Systems genauso entgegen wie der rechtshegelianischen Berufung auf den Vater des modernen Universalismus. Statt die Illiberalität des konservativen Denkers anzuklagen, welcher der Macht, dem Totalitarismus oder dem Historizismus verfallen gewesen sein soll, erhebt man einen Hegel auf den Schild, der selbst schon geleistet hat, was seine Kritiker bei ihm vermissen, das systematische und sozio-politische Begreifen des „modernen" Individuums, dem im (Vergangenheit und Zukunft vermittelnden) System ebenso ein Ehrenplatz angewiesen wird wie im Hegeischen (Freiheit und Recht) bewahrenden Staat. Einflußreich oder gar vorherrschend war dieser Flügel der Hegelschule freilich nicht immer. Sein Licht begann erst mit dem ostpreußischen Liberalen Rosenkranz zu leuchten, auf den die meisten Strategien schon zurückführbar sind, die in der Verteidigung der mittleren Position Hegels ständig wiederkehren (1.); es wurde gegen den hegelfeindlichen Wind der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Michelet und einigen Autoren des „Gedankens" vor dem Verlöschen bewahrt (2.), es flackerte wieder auf, als Rosenzweig die apologetischen Argumente dieser Tradition zum ersten Mal theologisch-politisch fundierte und im christlichen Denker Hegel den Bewahrer der Freiheit des Einzelnen entdeckte (3.), es glimmte für ein paar Jahrzehnte weiter, als vereinzelte Interpreten Hegel vor dem einflußreichen Angriff der Ranke-Meinecke-Heller-Kritik zu schützen suchten (4.), Giese durch eine Art „dialektischer" Interpretation des Geistbegriffes, Löwenstein durch den Aufweis der zwar doppelgesichtigen, aber im Grunde liberalen Staatslehre Hegels, Trott zu Solz durch die Hervorhebung des „Gewissens" und Heimsoeth durch die Herausarbeitung der bei Hegel geglückten Aufhebung der Autonomie-Moral. Zum blendenden Licht, in dessen Glanz die anderen Schulen dem Blick fast verdunkelt wurden, wurde die Hegelauslegung der Mitte aber erst in der Nachkriegszeit, als man den verketzerten Hegel als Lehrer von Freiheit und Recht in
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Frankreich (5.1.) und in den angelsächsischen Ländern (5.2.) zu rehabilitieren begann. Nun schien die Kritik der Akkommodationskritik endgültig den preußischen Reformer freizugeben (Weil), der klassische Sinn der Hegeischen Politik eine Synthese mit der modernen Freiheit einzugehen (Fleischmann), Hegel sogar zum heimlichen preußischen Oppositionellen avancieren zu können (d'Hondt) und die Hegeische Staatslehre die wechselseitige Bezogenheit zweier „fins en soi" anzuzeigen: des Individuums und des Staates (Gregoire). Ja man machte sich in England und Amerika, wo Hegel jahrzehntelang als Anti-Liberaler attackiert worden war, daran, ihn in die Ahnenreihe der Väter der (westlichen) Demokratie einzuweisen, in der sein Bild wohl so etwa zwischen Locke und Mill hängen sollte. Auch wenn mancher sich nur zögernd zu dem Festakt entschloß (z. B. Findlay), aufgehängt wurde das Bild dann doch (Knox, Kaufmann, Pelczynski, Avineri, Taylor). Ihren endgültigen Höhepunkt konnte die Einweisung Hegels ins juste milieu westlicher liberaler und demokratischer Theorie allerdings nur in Deutschland erreichen. Joachim Ritter führte die Französische Revolution so in Hegels Philosophie ein, daß es zu einer Revolutionierung der Hegelauslegung kam, welche die Augen der akademischen Hegelinterpreten für immer vor der links- und rechtshegelianischen Alternative zu verschließen schien (6.1.). Hegel konnte als politisch unverdächtiger Erneuerer der ethischen Politik auftreten, ja er schien sogar eine Synthese von klassischer Metaphysik und neuzeitlicher Politik (und Geschichtsphilosophie) zu leisten, in welcher die Akkommodationsgefahr und der Universalismusverdacht scheinbar endgültig ausgeräumt wurden. Die Ritterschule vollendete das Bild eines so recht in unsere Zeit passenden Hegel (6.2.), indem sie aus dem theologischen Sinn der Hegeischen Philosophie die Freiheit des Einzelnen ableitete (Rohrmoser), indem sie die christliche „Gegenwart" der Hegeischen Versöhnung von dem Verdacht auf endgeschichtliche Überschätzung der eigenen Zeit reinigte (Maurer), indem sie Hegels christlich modernen Staat und seinen politischen Protestantismus feierte (Rohrmoser, Maurer) oder Hegels Politik im Namen einer neuen Hermeneutik mit dem Stempel eines liberalen Pragmatismus versah (Marquard, Saß, Lübbe). Mit Theunissen aber schien die theologisch-politische Leseweise der Hegeischen Mitte wieder auf das Niveau der linkshegelianischen Auseinandersetzung zurückzuführen. Nun konnte gegen die linke Kritik am Ursprungsphilosophen ein Hegel ausgespielt werden, der als christlicher Denker Emanzipation und zukünftige Realisierung von Freiheit fordert und doch zugleich die rücksichtslose weltverändernde Praxis
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Der Ausgleich zwischen den Extremen als Strategie der alten Hegeischen Mitte
ablehnt, welche die in Christus an sich schon geschehene Versöhnung verkennt (7.). Freilich wird sich auch für die Hegeische Mitte erweisen, was für den linken und rechten Flügel der Hegel-Schule gilt, eine aktualistische Abhängigkeit von der Politik der Zeit, welche in diesem Fall nicht aus der Abwehr preußisch-restaurativer oder bürgerlicher Politik und auch nicht aus der Anpassung an das konservative Preußen, ans Bismarck-Reich oder den Volksstaat entspringt, sondern aus der ostpreußisch-liberalen, linksliberalen und demokratischen Stimmung dieser Strömung des Hegelianismus geboren wird. Sicher hat man gerade bei der Hegeischen Mitte oft den Eindruck, als ob hier nur der unparteiische Ausgleich zwischen den politischen Extremen angestrebt würde, wie ihn der ehrliche Makler Rosenkranz so augenfällig demonstriert. Aber auch diese in ihren besten Repräsentanten reflektierteste Schule der Hegelauslegung hat auch ihr „Interesse", jenes besonders in den angelsächsischen Ländern und in Frankreich unübersehbare und in Deutschland heimlich wirkende Motiv, Hegel nun doch wieder in die Reihe der Väter der westlichen Demokratie zu integrieren, aus den ihn die böswilligen Kritiker oder die ungeliebten Freunde verstoßen haben. Auch die Mitte bedarf der Relativierung durch die dreiteilige Leseweise, die ihren Konkurrenten auch gegen sie recht gibt. Erst der linke, rechte und mittlere Hegel zusammen erlaubt ein Porträt, aus dessen Strichen sich ein als Hegel erkennbarer Philosoph so nach und nach ergibt.
1. Der politische und philosophische Ausgleich zwischen den Extremen als Strategie der alten Hegeischen Mitte (K. Rosenkranz) Die ausgewogene, sich von extremen Hegelauslegungen jeglicher Provenienz abgrenzende Hegeldeutung der „Mitte" repräsentiert im 19. Jahrhundert niemand besser als Karl Rosenkranz, der akademische Sprecher jenes traditionsreichen ostpreußischen Liberalismus, dessen politische Wünsche und Ideale stets die konstitutionelle Monarchie symbolisierte1. 1
Rosenkranz (1805 — 1879) wird von Herre als „akademischer Verkünder des Liberalismus" zutreffend charakterisiert. P. Herre (Hrsg.), Karl Rosenkranz. Politische Briefe und Aufsätze 1848-1856, Leipzig 1919, XI. Die politische Liberalität Rosenkranzens entspricht „in seltsamer Kongenialität dem Charakter der liberalen Bewegung in Ostpreußen" (op. cit. X.), dem klassischen Land des vormärzlichen Liberalismus; sie wird außer durch die Schriften von Rosenkranz auch durch seine Freundschaft mit Theodor von Schön,
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Hatte sich Rüge dem Zeitgeist verschrieben, der ihm die Forderung eingab, aus der Philosophie selbst müsse eine Partei werden, so greift Rosenkranz in einem aufsehenerregenden Vortrag 1843 den kursierenden Begriff der Partei auf, um ihm seinen politischen Platz anzuweisen, um zugleich jedoch die Philosophie besonnen aus diesem Streit herauszuhalten. „Die Philosophie ist an und für sich parteilos und noch besser unparteiisch. Der Philosoph soll es auch sein. Er soll es sein! . . . Absolut unparteiisch ist nur Gott. Aber das Streben nach der Unparteilichkeit ist uns deshalb nicht erlassen, und dies Streben ist weder eine Schwäche noch eine Anmaßung, sondern eine Notwendigkeit. Die Parteilichkeit des Philosophen als solchen besteht also in dem Ringen nach Unparteilichkeit"2. Die Regierung hat gegenüber den extremen Parteien der Linken wie der Rechten dieselbe Stellung einzunehmen wie die Partei der Mitte auch. Sie muß, quasi als Hegeische ,,List der Vernunft", die Extreme einander abarbeiten lassen, um den einseitigen Erfolg einer Seite zu verhindern und die Früchte des Kampfes fürs Ganze nutzbar zu machen. „Sie muß das Unmaß der Restauration der retrograden und das Unmaß der Revolution der progressiven Partei in dem Maß der Reform des Bestehenden vereinigen und nur diese zum Gesetz werden lassen"3. Rosenkranz kann als erster Hegelianer den liberalen Balanceakt zwischen den Extremen bezeugen, durch seine politische Tätigkeit, seine politische Schriftstellerei und seine philosophischen Werke. Unparteiisch und zugleich engagiert zu sein, dieses Ideal läßt Rosenkranz die großen Fragen der Zeit fast sine ira et studio angehen. Mit dem gleichen Gespür
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„dem Haupte des ostpreußischen Liberalismus" (op. cit. XIII.; vgl. auch den Briefwechsel mit Schön, op. cit. 3ff.), durch seine Verbindung zu Kultusminister von Auerswald (op. cit. XVII. ff.) und durch seine aktive politische Tätigkeit bestätigt. 1849 wird Rosenkranz in die erste Kammer gewählt, in der er in der Zentrumspartei für die Konstitution arbeitet, seit 1848 war er Vortragender Rat im Kultusministerium in Berlin. Seine akademische Laufbahn führte ihn von Halle, wo er sich 1831 habilitierte, 1838 nach Königsberg, wo er vor und nach seiner politischen Tätigkeit als anerkannter Lehrer wirkte. Die Darstellung der politischen Jahre Rosenkranz' bei Herre ist empfehlenswert (op. cit. VII.—XXXII.), das Buch von R. Quäbicker (K. Rosenkranz. Eine Studie zur Geschichte der Hegeischen Philosophie, Leipzig 1879) enthält wenig Biographisches, aber eine, wenn auch blasse, so doch im ganzen zutreffende Darstellung von Rosenkranz' „eigener" Philosophie. Als Literaturkritiker wird der vielseitige Rosenkranz in dem interessanten Buch von Japtok vorgestellt, E. Japtok, Karl Rosenkranz als Literaturkritiker, Freiburg 1964. K. Rosenkranz, Über den Begriff der politischen Partei. Rede zum 18. Januar 1843 am Krönungsfest Preußens in der Königl. Deutschen Gesellschaft zu Königsberg 1843. Zitiert nach dem Wiederabdruck in: Lübbe 1962, 68. op. cit. 84.
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Der Ausgleich zwischen den Extremen als Strategie der alten Hegeischen Mitte
für den Geist der Zeit wie Rüge, doch ohne dessen Vergötzung der jeweils neuen Ideen, hat er schon 1831 den Begriff der „Öffentlichkeit" auf das „Volk" als Subjekt und Objekt bezogen. Weder als heilige Kuh eines Historizismus, für den die Majorität den Zeitgeist und die Vernunft nicht verfehlen kann, noch als Gegenstand polizeilicher Gesinnungsschnüffelei läßt sich die „öffentliche Meinung" erfassen. Wie ihr mit den Mitteln der Denunziation und der Verhaftung nicht beizukommen ist, da sie „dem Geist gehört"4 und sich nicht einsperren läßt, so darf sie nicht zur „Mode des Geistes" entarten5. Die Mitte, sie liegt hier jenseits von polizeistaatlicher Kontrolle und historizistischer Zeitgeistgläubigkeit, die den Anspruch politischer Vernunft nicht ersetzen kann. Die Mitte einzuhalten hieß für Rosenkranz damals auch, nicht die Augen vor der sozialen Frage zu verschließen, ohne wiederum linkshegelianischen Verkürzungen des Konflikts auf die Formel von „Arbeit und Kapital" oder auf das Problem des zu reduzierenden Staates aufzusitzen. „Jede politische Revolution oder Reform", schrieb er im Revolutionsjahr 1848, „kann nicht umhin auch in den Zuständen der bürgerlichen Gesellschaft, in den Formen des Verkehrs usw. entsprechend Veränderungen zu erzeugen, sowie umgekehrt die Umstimmung des Tons der Gesellschaft . . . zuletzt in entsprechende Veränderung des Staates ausmünden muß"6. Schon Anfang der vierziger Jahre hatte er, so scheint es, die drängende Problematik der sozialen Frage erkannt7, die sich weder gesellschaftspolitisch noch nur-politisch seiner realistischen Voraussicht nach wird lösen lassen. So drängend die Problematik auch ist, so kann es nicht darum gehen, „aus Deutschland einen Arbeiterstaat zu machen"8, in dem auf einmal alle Bürger nur noch Arbeiter sind. Weder läßt sich „von 4
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K. Rosenkranz, Kurzer Begriff der öffentlichen Meinung. Vorgelesen in der GartenGesellschaft zu Halle (1831), zitiert nach dem Wiederabdruck in: Lübbe 1962, 63. „Die öffentliche Meinung ist ... die zauberische Macht, welcher Alles huldigt und deren Stempel sich unbewußt allem Reflektieren und Handeln der Zeitgenossen wie eine Mode des Geistes aufdrückt. Eine solche Entschiedenheit muß unausweichlich einen Bruch mit dem Vergangenen herbeiführen, weil sie das jüngste Kind eines Zeitalters und hiermit seine Führerin ist" (ebd.). K. Rosenkranz, Die Bedeutung der gegenwärtigen Revolution und die daraus entspringende Aufgabe der Abgeordneten, in: Königsberger Hartungsche Zeitung vom 6. Mai 1848, zitiert nach dem Wiederabdruck in: Herre 1919, 95; auch in: Lübbe 1962, 142ff. „Ich bin hier in Königsberg einer der ersten gewesen, der sich des sogenannten Volks, des Gesindes und der Arbeiter usw. angenommen hat. Ich berufe mich auf mein Buch: Königsberg und die Königsberger, 1842. Zuletzt habe ich über alle diese / Punkte öffentlich in meiner Rede über Pestalozzi mich ausgelassen und gezeigt, wie wir darauf hinarbeiten müssen, den Pöbel durch Bildung und Arbeit aufzuheben", op. cit. 96/97. op. cit. 98.
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heute auf morgen" die Gesellschaft umkrempeln, noch haben soziale Veränderungen ohne politische Reformen einen Sinn. Die Aufgabe eines Abgeordneten kann zunächst nur in der „Begründung der preußischen und deutschen Verfassung", also in einer „politischen" Zielsetzung, liegen. Zwischen revolutionärer Gesellschaftsveränderung und politisch reaktionärer Abstinenz von Reformen trifft ein verständiger Konservatismus die rechte Mitte. „Die Revolution schreitet immer vorwärts in die Zukunft und gewöhnt sich deshalb an ideale Kombinationen, über welche sie den Maßstab der Wirklichkeit verliert. Ihr steht daher die Reaktion entgegen, welche in der Anschauung des Bestehenden wurzelt. Der verständige Konservatismus will nur, was nach den geschichtlich gegebenen Bedingungen wirklich möglich ist"9. Rosenkranz' gemäßig liberale Einstellung sowie sein Kampf für die konstitutionelle Monarchie10, so hat man den Eindruck, scheinen dem, was Hegel 1848 gewollt „hätte", näher als Ruges linksdemokratische Agitationspolitik oder Erdmanns Konservierung des feudalen Preußens. Weder von Rüge und Haym noch von Erdmann läßt sich Rosenkranz jedenfalls in seinem Urteil über „Hegel und Preußen" beirren. In seiner Entgegnung auf Hayms Hegelbuch sowie in seinen anderen Hegelschriften nimmt er in souveräner Sachbeherrschung die künftigen Strategien der Hegeischen Mitte vorweg. Zunächst entschärft er die Vorwürfe gegen die Einheit von Vernunft und Wirklichkeit. Wie Hegel in der Natur Zufälligkeit und Unvollkommenheit ausdrücklich hervorhob, so hat er auch explizit die von Natur oder durch Freiheit in „Verirrung" gebrachten Erscheinungsformen der „Idee" herausgestellt. „Hegel hat nie geleugnet, daß es schlechte Menschen, schlechte Staaten, unvernünftige Regierungen, mißratene / Kunstwerke, schlechte Religionen, abergläubische Kulte, d. h. unvernünftige Philosophien geben könne. Aber alle diese Erscheinungen, obwohl sie Dasein haben, verdienen eben deswegen, weil sie dem Begriff der Vernunft nicht entsprechen, auch nicht den emphatischen Namen der Wirklichkeit. Wahrhaft wirklich ist nur das Vernünftige"11. 9 10
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K. Rosenkranz, Die Revolution und die Reaktion (1848), in: Herre 1919, 107. Auch über die konstitutionelle Monarchie schrieb Rosenkranz einen interessanten Aufsatz, der sie als einzige Staatsform darzustellen versucht, die die „Einheit" des Staates und Freiheit und Gleichheit der Bürger gewährleistet. K. Rosenkranz, Republik und konstitutionelle Monarchie (März 1849), in: Neue Studien, 1. Band, Studien zur Kulturgeschichte, Leipzig 1875, 136ff., in: Lübbe 1962, 164ff. Rosenkranz (1) 1870, 301/302. Allerdings hat Hegel sich den „Schein der Zufriedenheit mit dem Weltlauf" durch die Sollenskritik zugezogen. K. Rosenkranz, Hegel, in: Neue
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Erinnert Rosenkranz damit an die Hegeische Unterscheidung von „Wirklichkeit und Existenz", die allerdings auch Scheidler, Haym und Engels nicht unbekannt gewesen war, so komplementiert er diese apologetische Strategie durch eine zweite, welche die „Kontinuität" in Hegels Denken von Jena bis Berlin herausschält und so dem Vorwurf der Akkommodation an Preußen die historische Basis entzieht12. Den Subjektivisten Fries kritisiert Hegel nicht erst in der Vorrede der Rechtsphilosophie von 1821, sondern schon 181213, schon in Jena deduziert er die vielkritisierte, angeblich preußisch-servile Lehre vom Erbkönigtum auf genau dieselbe Weise wie in Heidelberg und Berlin14, Religion und kirchliche Orthodoxie hat Hegel in der Phänomenologie schon genauso beschrieben wie in der Rechtsphilosophie15. Diese spater vor allem von Rosenzweig benutzte Vorgehensweise kann zumindest die psychologisch-moralischen Vorwürfe sowie die historische Genauigkeit des Akkommodationsvorwurfs erschüttern. Hinzu tritt eine dritte Strategie, die neben der Kontinuität in Hegels eigenem Denken die Differenz zwischen Hegels philosophischem Staat und dem tatsächlich existierenden Preußen, seinen Institutionen, seinen tatsächlich anerkannten Ideologien und seiner Politik historisch demonstriert. Die von Haym angegriffene Restaurationstendenz der Religionsphilosophie, die sich angeblich an die lutherische Dogmatik und Orthodoxie anpaßte, widerspricht der preußischen Kirchenpolitik, „denn diese betrieb . . . die Union und trat damals gegen die Lutheraner sogar mit Gewaltsamkeit auf"16. Die gleiche Diskrepanz zwischen Hegelscher Philosophie und preußischem Staat beweisen die Lehren der Rechtsphilosophie, in der Hegel in keinem Paragraphen den empirisch gegebenen Staat kopiert. „Preußen war damals kein konstitutioneller Staat, er besaß keine Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Rechtspflege, keine Preßfreiheit, keine
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Studien, 3. Band, Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte, Leipzig 1877, zitiert nach dem Wiederabdruck in: Lübbe 1962, 42. Übrigens eine meisterhafte Kurzcharakteristik der Hegeischen politischen Philosophie. Wir werden im folgenden oft von „Wirklichkeits-Existenz-" bzw. „Kontinuitäts-Argument" sprechen; Hegel unterscheidet zwar zwischen „zufälliger Existenz" und dem „Dasein", das teils „Erscheinung", teils „Wirklichkeit sei (Enz. SW VIII, §6 A; Enz. 1830, Nic./Pögg. § 6 A), doch werden wir der Einfachheit halber und zur Erinnerung an den linkshegelianischen Sprachgebrauch die terminologische Vielfalt auf den Gegensatz „Wirklichkeit-Existenz" verkürzen. K. Rosenkranz, Apologie Hegels gegen Dr. Rudolf Haym, Berlin 1858, 35. op. cit. 46; Rosenkranz (1) 1870, 153; Rosenkranz 1877, in Lübbe 1962, 33. Rosenkranz 1858, 51. op. cit. 51/52.
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Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, keinen Anteil des Volkes an der Gesetzgebung und der Steuerbewilligung — und alles das lehrte Hegel als philosophische Notwendigkeit"17. Preußen konnte sich auf ganz andere Ideologen berufen, die zur Unterstützung seiner Politik antraten, auf den von Hegel angegriffenen von Haller und den Hegelgegnerjulius Stahl. Mit den konservativen Legitimitätstheorien hatte Hegel aber nichts zu schaffen; denn sein „Monarch" wird den Gesetzen der Konstitution unterworfen18. Freilich ist es kein demokratischer Staat, den Hegel dagegen setzt, sondern ein ständisch gegliederter, der „die Vertretung des Volks bei der Gesetzgebung nicht atomistisch, nach der Kopfzahl, sondern ständisch durch eine grundbesitzliche Aristokratie und durch gewählte Repräsentanten der bürgerlichen Korporationen organisiert wissen will", eine Staatskonstruktion, durch die Hegel sich auch die Sympathien der damaligen Linksdemokraten wie Rüge verscherzte19. Es ist weder nur der patriarchalische Staat der Feudalzeit noch der auf den Materialismus der Gesellschaft reduzierte Staat der Linkshegelianer, noch ein ungesetzlicher autoritärer Staat, den Hegel seiner Staatslehre substituiert. In ähnlicher Terminologie wie Erdmann, aber in anderer politischer Einstellung grenzt Rosenkranz Hegels umfassende Staatskonstruktion immer wieder von den verstümmelten reaktionären und revolutionären Gemeinschaften ab. Die drei sittlichen Gemeinschaftsformen Hegels, Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat, lassen sich als patriarchalischer „Naturstaat", ständischer „Kulturstaat" und politischer „Zentralstaat" in der Form der konstitutionellen Monarchie auf den Begriff bringen20. Die Gesellschaft integriert in sich die Familie, jedoch nicht so, daß Hegel sie zum Modell seines Staates erhoben hätte. Wie der Naturstaat nur eine Seite am Staatsleben ausmachen kann und Hegel nicht den Patriarchalstaat der Traditionalisten 17
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Rosenkranz (1) 1870, 152. Eine der vielen Parallelstellen: „Aber den damaligen preußischen Staat kann Hegel nicht kopiert haben, denn er lehrte ja die Notwendigkeit der konstitutionellen Monarchie, der Volksvertretung, die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, die Öffentlichkeit der Rechtspflege, des Geschworenengerichts und der Freiheit der öffentlichen Meinung". Rosenkranz 1858, 38. Vgl. auch Rosenkranz 1877, in: Lübbe 1962, 36 f. Rosenkranz (l) 1870, 153. op. cit. 160. K. Rosenkranz, Meine Reform der Hegeischen Philosophie. Sendschreiben an Dr. J. U. Wirth, Königsberg 1852, 68. Der Dreiteilung soll ferner die Einteilung der Seelenkräfte korrespondieren: Familie (Gefühl), bürgerliche Gesellschaft (Verstand), konstitutioneller Staat (Vernunft), ebd. Vgl. auch Rosenkranz (1) 1870, 160; K. Rosenkranz, Erläuterungen zu Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Berlin (2) 1870, 103 und Rosenkranz 1877, in: Lübbe 1962, 37.
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verabsolutiert, so kann auch die Gesellschaft, welche die Familie in sich aufnimmt, nur der „Notstaat" sein, dessen Verwaltungsstruktur für den eigentlichen Staat Hegels kein Vorbild darstellt21. „Erst der Staat, der vom Bewußtsein der Freiheit ausgeht und mit ihm alle seine Gemeinden, Familien und Individuen durchdringt, ist der wahre Staat . . . Wenn man von Hegel so spricht, als ob er einen polizeilichen oder bürokratischen Staat im Sinne gehabt habe, in welchem die Allwissenheit und Allmacht der Regierung alle individuelle Lebendigkeit ertötet, wie Fichte in seinem geschlossenen Handelsstaat getan hatte, so verkennt man ihn aufs höchste"22. Das Schicksal der Hegeischen Lehre ist demnach das Schicksal eines jeden Liberalismus, der sich sowohl der doppelten Verwechslung mit extremen Positionen als auch der doppelten Kritik durch beide ausgesetzt sieht. Zwischen den Stühlen zu sitzen, das verbindet den liberalen Hegel mit dem liberalen Rosenkranz. „Die Staatslehre Hegels konnte keine der Parteien befriedigen, in deren Mitte sie erschien. Dem Feudalismus, der sich so gern patriarchalische Verfassung betitelt, widersprach er durch die Forderung der Gesetzmäßigkeit; der abstrakten Demokratie, welche der Volkssouveränität schmeichelt, durch die Forderung der Monarchie; der Aristokratie durch die Forderung einer Vertretung des Volkes, der Bürokratie des Beamtenstaates durch die Forderung der Preßfreiheit, des Schwurgerichts und der Selbständigkeit der Korporationen; der Hierarchie aller Konfessionen durch die Forderung der Unterordnung der Religion in ihrer Erscheinung als Kirche unter die Souveränität des Staates und durch die Forderung der Emanzipation der Wissenschaften von der Autorität der Kirche; dem Industriestaat, der das Volk durch den Köder des Reichtums und des materiellen Wohllebens für die Sklaverei der Fabrikarbeit zu 21
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Rosenkranz anerkennt hier implizit das Recht der rechtshegelianischen Hegeldeutung, den Staatszweck von der Gesellschaft abzuheben, jedoch ist es kein an Preußen modellierter Staat wie bei Erdmann, noch der Bismarcksche Machtstaat, den Rosenkranz über die Gesellschaft stellt, sondern eben die gesetzlich gesicherte Monarchie. Die Übereinstimmung mit den Rechtshegelianern ist genauso eine partielle wie die mit den Linkshegelianern. In diesem Sinne muß man auch Passagen folgender Art lesen: „Hegel wollte im Staat nicht eine bloße Schutzanstalt für die Sicherheit der Personen und des Eigentums, er wollte in ihm nicht bloß (Hervorhebung, H. O.) ein Kollektivum von moralischen Souveränen, sondern ein lebendiges Ganzes, in welchem die Einzelnen gemeinsam dasselbe sittliche Werk, die Freiheit, als ihre eigenste Notwendigkeit hervorbrächten", Rosenkranz 1877, in: Lübbe 1962, 31. Rosenkranz (1) 1870, 160. Alle Unterschiede zwischen Hegels „Staat" (und Lehre) und dem preußischen Staat und (seinen Ideologien) fassen wir von nun an unter dem Stichwort „Differenzargument" zusammen.
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fangen sucht, durch die Forderung der Sittlichkeit als des absoluten Staatszwecks; dem aufgeklärten Despotismus endlich, der alles für, nichts aber durch das Volk tun will, durch die Forderung einer Verfassung . . ,"23. Statt den patriarchalischen Naturstaat in die Begriffe „Land" und „Nation", den Polizeistaat in die von „Volk" und „Reich" zu transponieren, wie es Erdmann vorexerziert hatte, sieht Rosenkranz Hegel die Momente in der konstitutionellen Monarchie aufheben, die am besten Freiheit und Gleichheit der Bürger gesetzlich sichert. Nicht die preußischen Zustände, sondern die „Idee des Staates"24 hatte der Berliner Hegel im Auge, als er seinen Staat beschrieb. Und diesen Staat hat er keineswegs verabsolutiert. Kunst, Religion und Wissenschaft (auch dies ein immer wiederkehrendes Argument der Hegeischen Mitte) hat Hegel dem Zugriff des Staates entzogen und über den objektiven Geist gestellt25. Auch 1827, als die zweite Auflage der Enzyklopädie erscheint, hat Hegel nichts gelehrt, „was die Idee der Freiheit verleugnet"26. Selbst die heraufziehenden Wolken der Juli-Revolution, welche die demokratische und republikanische Stimmung der dreißiger Jahre bereits ahnen ließen, haben ihn nicht davon abbringen können, an seinen monarchistischen rechtsstaatlichen Vorstellungen festzuhalten. War er auch kein Demokrat oder Republikaner, ein Parteigänger des Rechtsstaates moderner Prägung ist er nach Rosenkranz Zeit seines Lebens gewesen27. Blickt man von der Warte der Hegelforschung des 20. Jahrhunderts auf das Werk von Rosenkranz zurück, dann beweist sich das Gerede vom Fortschritt der Forschung wieder einmal als Augen wischerei. Niemand hat im 19. Jahrhundert an die „Ergebnisse" der Rosenkranzschen Interpretation angeknüpft, sie kontinuierlich verbessert und ausgebaut. Zum Paradigma der Hegelauslegung wurde Hayms furioses und „zeitgemäßes" Buch, nicht Rosenkranz' akademisch nüchterne, „unparteiliche" und besonnene Interpretation28. Zwar war es in der Folgezeit immer wieder 23 24 25 26 27
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op. cit. 162; Rosenkranz 1877, in: Lübbe 1962, 46. Rosenkranz 1852, 69. Rosenkranz (l) 1870, 161. Rosenkranz (2) 1870, 103. Rosenkranz wendet sich gegen die beliebte, damals z. B. von Michelet vertretene (und in der „Philosophischen Gesellschaft" diskutierte) These vom älteren Hegel, der sich mehr und mehr der Restauration anpaßt; siehe Fußnote 46 (IV. 3.). Die Zugehörigkeit Rosenkranz' zur vergangenen Epoche und Hayms Verbundenheit mit der neuen Zeit manifestiert schon ihr unterschiedlicher „Stil" sehr deutlich. „Die Sprache von Rosenkranz reicht, über Hegel und Goethe, noch in die Bildung des 18. Jahrhunderts zurück, das politische Pathos und die gewollt kommerzielle Audrucksweise von Haym ist schon ganz im neuen Jahrhundert zu Hause", Löwith 31969, 71.
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Die Zeitschrift „Der Gedanke" und die Hegelverteidigung Michelets
möglich, unter dem Schutt des eingefallenen Systems einzelne apologetische Argumente wieder hervorzuziehen29, aber es blieb der Hegelforschung unserer Tage vorbehalten, aus den verstreuten Strategien allmählich wieder einen Ansatz zusammenzusetzen, der ein ähnlich nach rechts und links vermittelndes Deutungsmuster sein kann, wie es Rosenkranz5 Hegelauslegung gewesen war. Andere Hegelianer des 19. Jahrhunderts, die einen gemäßigten Hegelianismus zu bewahren versuchten, reklamierten die mittlere Position schon nicht mehr mit der souveränen Zuversicht, die Rosenkranz' Argumente noch ausstrahlten. Die Hegelapologetik Hinrichs und Michelets schwankt schon zwischen der Kapitulation vor dem hegelfeindlichen Geist der Zeit und einer gewissen Trotzhaltung, die selbst nur dokumentiert, daß die Erfahrungen nach 1848 und 1870 im Verein mit dem Materialismus, Szientismus und Neukantianismus dieser Jahre kein politisches oder geistiges Klima mehr förderten, das dem politischen Hegelianismus der Mitte oder einer Philosophie des „Geistes" günstig gewesen wäre30.
2. Die "Zeitschrift „Der Gedanke". Michelets Hegelverteidigung in hegelfeindlicher Zeit Während Rosenkranz die Strategien der Hegelverteidigung entwickelte, die erst wieder im 20. Jahrhundert in ihrer Bedeutung erkennbar werden sollten, bietet die quasi-offizielle Hegelverteidigung der Berliner Philosophischen Gesellschaft31 das traurige Bild einer sich selbst überlebenden 29
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So war der berühmte Paragraph 6 der Enzyklopädie auch weniger intimen Hegelkennern schnell zugänglich; Rüge, Haym, Scheidler, Engels und Rosenkranz hatten ihn erwähnt, fast jeder spätere Hegelapologet sollte sich seiner bedienen. Der Hinweis auf die Trennung von objektivem und absolutem Geist, auch er bot sich als einfache Verteidigungslinie an, schien doch schon ein Blick auf die Gliederungen der Enzyklopädie diese Abgrenzung bestätigen zu können. Eine ausgezeichnete Schilderung des sogenannten „Zusammenbruchs" der Hegeischen Philosophie, vor allem nach 1870, gibt Lübbe (21974, 76ff.). Wie „unzeitgemäß" Hegel tatsächlich noch werden sollte, beweist anschaulich D. F. Strauß' „Der alte und der neue Glaube" (Leipzig 1872), eine in mehreren Auflagen erschienene Bestandsaufnahme des bildungs bürgerlichen Bewußtseins, die Kant, Lessing, Schiller, Goedie, Mozart, Beethoven, Darwin u. a. feiert, Hegel aber nur ein einziges Mal beiläufig erwähnt (Leipzig 41904, 34; Lübbe 21974, 86). Auf Anregung des Grafen v. Cieszkowski und Michelets beschlossen die in Berlin „anwesenden Freunde Hegels" am 05. 01. 1843 einen philosophischen Verein zu gründen, mit dem Zweck, „vereint für die nähere Verständigung und allseitige Fortbildung der
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Schule, die zwischen der Beschwörung der großen alten Zeit (als man noch zu Füßen des Meisters saß) und den Forderungen des Tages keinen rechten Weg mehr findet. Zwar tritt man noch mit der Gewißheit an, daß der „Gedanke" die Grundlage allen Geschehens bleibt „als die in allen Dingen sich selbst bewegende Macht der allgemeinen Vernunft"32, zwar traut man sich zu, die „Entwicklung der neueren Philosophie . . . in das System der Wahrheit selber (aufzulösen)"33, aber die Geschichte der Philosophischen Gesellschaft, ihres Organs, des „Gedankens", wie das Schicksal ihres Mentors, Carl Ludwig Michelets, spiegeln allzu deutlich den Niedergang der hochgesteckten Pläne und Erwartungen34. Was Michelet schon 1838 als Aufgabe des künftigen Hegelianismus gefordert hatte, die „Verständigung der Hegel'schen Schule unter sich", die „Widerlegung . . . der . . . im Prinzip überwundenen Standpunkte", die „Einführung der philosophischen Prinzipien in alle übrigen Wissenschaften" sowie die Formierung
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Philosophie zu wirken", C. L. Michelet, Geschichte des Philosophischen Vereins zu Berlin, in: Der Gedanke. Philosophische Zeitschrift. Organ der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin, Bd. l, Heft l (1861), 66. C. L. Michelet, Unser Programm, op. cit. 3. op. cit. 6. Nachdem man sich ab 1846 zunächst an Noacks „Jahrbüchern für spekulative Philosophie" beteiligt hatte, nachdem die nach 1849 immer höher steigende „Sündflut des Rückschritts" (C. L. Michelet, Geschichte der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin, in: Der Gedanke . . ., Bd. l, Heft 2 [1861], 172) die Mitglieder des Vereins zunächst verstummen ließ, schien der Neubeginn von 1854 einem Ende näher als einem Anfang, wußte man doch nicht, ob eine „Tischgesellschaft" dem philosophischen Club nicht vorzuziehen sei, C. L. Michelet, Geschichte der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin, in: Der Gedanke . . ., Bd. l, Heft 3 (1861), 241. Zwar erschien dann vom 01. 10. 1860 ab „Der Gedanke", aber schon am 25. 01. 1862 wurde das Statut der Gesellschaft erneuert, „indem der Name Hegel als der Philosophie noch einen zu persönlichen Charakter verleihend fortfiel", C. L. Michelet, Das Ziel der Philosophischen Gesellschaft, in: Der Gedanke . . ., Bd. 4, Heft l (1863), 65. Neben der allgemeinen Abwendung von Hegel waren es philosophisch der aufblühende Neukantianismus und politisch der wuchernde Nationalismus, zwischen denen der Hegelianismus des „Gedankens" zerrieben wurde. In seltsamer Verquickung von Nationalismus und Kritizismus wurde bereits 1864 ein neues Programm gefordert, welches beim „Erkenntnisproblem als der Grundfrage der Deutschen Philosophie" einsetzen sollte, Th. Sträter, Die Neugestaltung und Erweiterung der Zeitschrift, in: Der Gedanke . . ., Bd. 5, Heft 4 (1864), 272. Sich zumindest auch einen Kantianer zu nennen, wurde zur Pflicht; „Kantianer sind wir denn allererst recht . . .", behauptete selbst Michelet, C. L. Michelet, Wo stehen wir jetzt in der Philosophie?, in: Der Gedanke . . ., Bd. 7, Heft l (1867), 9. Und 1884 war es dann soweit; Michelet, Initiator und Motor des „Gedankens", wurde als letzter aus der alu-n Garde durch die Intrigen des damaligen Vorsitzenden v. Kirchmann der Philosophischen Gesellschaft abspenstig gemacht, C. L. Michelet, Schluß der Geschichte der Philosophischen Gesellschaft, in: Der Gedanke. Fliegende Blätter in zwanglosen Heften, Bd. 9, Heft l (1884), 1-18.
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der Wirklichkeit durch eine „Philosophie der Tat"35, das alles wurde immer schwerer realisierbar, je mehr sich spekulative Theisten, Materialisten, Szientisten und Neukantianer von Hegel abzuwenden begannen. Die politische Grundrichtung des „Gedankens" zeigt dem Leser heute ein zweifaches Bild, die Gefährdung der Liberalität durch den sich steigernden Nationalismus, aber auch die Bewahrung einer gemäßigten Position in einer radikalen Zeit. Letztlich wird nur mit nationalen Farben eingefärbt, was doch ein liberales Hegelbild bleibt. Wenn etwa Märcker bei Hegel „den Begriff der Nationalität" vermißt, wenn er, dem Zeitgeist gemäß, die Naturbedingungen des Staates spinozistisch wieder sichtbar machen will, wenn er sogar Goethes „Humanus" in das Symbol eines neuen Nationalismus verwandelt, der sich vom Humanismus lösen soll36, dann stößt er noch auf den Widerstand der meisten Autoren des „Gedankens". Zwar hätten ein Rößler, der Mitglied der Philosophischen Gesellschaft war, oder A. Lasson, der später ihr Vorsitzender werden sollte, Märcker sicher freudig beigepflichtet. Doch Lassalle, Cieszkowski und allen voran Michelet betonen den Geistcharakter der „Nationalität", die weder mit einem chauvinistischen noch mit einem antihumanistischen Ideal identisch sein muß37. Die Reduktion des Geistes auf Natur wird noch entschieden abgelehnt. Dennoch kann Michelet Hegel eigentlich nur verteidigen, indem er ihn in 35
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Noch 1867 glaubte Michelet an die Aktualität dieses Programms, C. L. Michelet, Wo stehen wir jetzt in der Philosophie?, op. cit. 5; sinngemäß schon Michelet 1838, Bd. II. 609 f. Über den Begriff der Nationalität in der Rechtsphilosophie. Diskussion vom 23. 02. und 30. 03. 1861, in: Der Gedanke . . ., Bd. 2, Heft 3 (1861), 242f. Nach F. A. Märcker darf die Menschheit „nicht dahin kommen, eine allgemeine Humanität zu repräsentieren" (op. cit. 243)! Dies habe schon Goethe sagen wollen, wenn er seinen „Humanus" im Gedicht „Geheimnisse" (1784/85) die zwölf Ritter (als Symbole der Nationalitäten) verlassen lasse. Diese Goethe-Deutung ist sicher falsch, da Goethe einmal „Epochen" in der Geschichte der Religion und Humanität symbolisieren wollte, zum anderen, weil er ausdrücklich das Scheiden des „Humanus" damit erklärt, daß „sein Geist sich in ihnen allen verkörpert, allen angehörig, keines irdischen Gewandes mehr bedarf", J. W. Goethe, Über das Fragment: Die Geheimnisse (1816), Sämtliche Werke Bd. 2, K. Goedecke (Hrsg.), Stuttgart o. J., 309. F. Lassalle: „Nur als geistige Macht hat die Nationalität ihr Recht" (Über den Begriff der Nationalität in der Rechtsphilosophie, op. cit. 251). A. v. Cieszkowski: „Die Nationalität ist überhaupt nichts anderes als die soziale Persönlichkeit eines Volkes" (op. cit. 246). Michelet, der die Wechselwirkung der natürlichen und geistigen Elemente in Hegels „Volksgeist" erkennt, will den „Humanus" nicht wie Märcker deuten. Denn „wenn Hegel keineswegs will, daß die Nationalitäten in die falbe Allgemeinheit der Idee des Menschengeistes untergehen, so brauchen wir doch nicht die allgemeine Idee des Vernunftstaates aufzugeben, um die Nationalität zu erhalten . . ." (op. cit. 245).
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einen Kantianer verwandelt. Dabei hat Hegel spätestens ab Jena das Ideal eines kosmopolitischen Vernunftstaates stets ausdrücklich verworfen38. Wie alle Hegelianer der Mitte schießt auch Michelet über das Ziel hinaus, geht es um die Verteidigung des verehrten Lehrers. Aber wie Michelet den apologetischen Überschwang der Hegeischen Mitte bezeugt, so teilt er auch die Stärken dieser Richtung der Hegeldeutung. Denn wie die meisten seiner Mitstreiter so will auch er das Bild eines Hegel bewahrt sehen, der ohne „scholastische Beschönigung der gegebenen Zustände"39 für die konstitutionelle Monarchie eingetreten ist40, als ein Mann, der weder den Titel eines „Hofphilosophen" noch den Schimpfnamen eines „Lobredners des Bestehenden"41 verdient. Ähnlich wie Rosenkranz Hegel 1870 unverfänglich als „Nationalphilosophen" feierte, so hat auch Michelet Hegel verbal nationalisiert; sein Wirken als das „eines echt Deutschen Mannes" sollte „aufs Innigste mit dem großen Kampf zusammen (-hängen), den Deutschland jetzt . . . kämpft"42, schon der junge Hegel habe sich als „praktischer Philosoph" zunächst „im nationalen Sinne"43 gezeigt, ja der Theseus, dem Hegel in der Verfassungsschrift die gewaltsame Rettung des sterbenden Reiches zugetraut hatte, war für Michelet 1870 niemand anderer als Kaiser Wil-
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Die Diskussion um den Begriff der Nationalität hat somit eine doppelte ironische Pointe; Märcker schildert, ohne es zu wissen, den Spinozismus des „äußeren Staatsrechts" bei Hegel, auch wenn er den Geistbegriff zu sehr zur Natur gravitieren läßt; Michelet verteidigt Hegel mit der Idee des Weltstaates, die dieser explicite ablehnt. Kant (und nicht Hegel) stand auch Pate, wenn Michelet nach seinem großen Durchgang durch die „Geschichte der Menschheit" im „Weltbürgerrecht" „die Spitze und Krone der Geschichte" erblickt, C. L. Michelet, Die Geschichte der Menschheit in ihrem Entwicklungsgange seit dem Jahre 1775 bis auf die neuesten Zeiten, 2. Teil, Berlin 1860, 586. 39 Gegen diesen beliebten Vorwurf verwahrten sich so unterschiedliche Hegelianer wie Lassalle und der zum Anhänger der ständischen Monarchie bekehrte Leopold von Henning, der auf Hegels „feurige Lobrede" auf die Französische Revolution verweist, Über Hegels Sinnesänderung. Sitzungsbericht der Philosophischen Gesellschaft, in: Der Gedanke . . ., Bd. 2, Heft l (1861), 76ff. 40 So Förster, der Körner-Freund und ehemalige Held der Freiheitskriege, der wie Michelet immer von Hegels „Repräsentativ-Verfassung" spricht, F. Förster, Hegel als Hofphilosoph, in: Der Gedanke . . ., Bd. 4, Heft l (1863), 60. Hegel habe, weiß der selbst als Demagoge verfolgte Förster zu berichten, in den Jahren der Restauration die „sehr heikle Verfassungsangelegenheit" wiederholt zur Sprache gebracht (op. cit. 60), auch habe er die Freiheit von Wissenschaft und Lehre verteidigt (op. cit. 61). 41 Der Vorwurf der „süddeutschen Freisinnigen" trifft nach Michelet, wenigstens in seiner moralischen Form, nicht zu (Michelet 1860, 2. Teil 31). 42 C. L. Michelet, Festrede an Hegels hundertjährigem Geburtstag, in: Der Gedanke . . ., Bd. 8, Heft 3 (1871), 127. 43 C. L. Michelet, Gedächtnisrede auf Hegel, op. cit. 154.
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heim I.44. Aber wie Rosenkranz hat Michelet, trotz seiner nationalen Sprache, die liberalen Elemente der Hegeischen Staatslehre auch in der Bismarck-Zeit nicht verschwiegen. Hinter Hegels Staatskonstruktion erkennt er das englische Vorbild45, seine ständig wiederholte Liste modernfreiheitlicher Institutionen, die Hegels Staat gewähren sollte, stimmt bis ins einzelne überein mit dem Katalog Rosenkranz', mit dem dieser die Angriffe auf den „preußischen Staatsphilosophen" abzuwehren wußte46. Freilich war mit den fortschrittlichen Elementen der Hegeischen Staatsphilosophie nach 1848, im wahrsten Sinne des Wortes, kein „Staat mehr zu machen". Nach dem Scheitern der Revolution, für die Michelet ähnlich wie Rosenkranz agitiert hatte, war die Behauptung einer Annäherung an eine „nachgeschichtliche Zeit" von Frieden und Freiheit mehr Beschwörung als Realität47. Die Hoffnung auf die Verwirklichung der 44
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op. cit. 156. Michelet 1871, 137; C. L. Michelet, Hegel, der unwiderlegte Weltphilosoph, Leipzig 1870, 49. So heißt es in nahezu jeder Schrift, Hegel habe die Monarchie „mit allen Garantien der modernen Freiheit (umgeben) wie Öffentlichkeit der Kammern, Pressfreiheit, Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Rechtspflege, Geschworenengerichte u. s.w.", Michelet 1871, 137; ähnlich Michelet 1870, 49; Michelet 1860 2. Teil, 31. Seine eigene Version einer hegelianischen Repräsentatiwerfassung hatte Michelet 1848 aus den drei logischen Schlußformen abzuleiten versucht, wobei die gesetzgebende Gewalt den terminus maior, die Verwaltung den terminus medius und die Exekutive den terminus minor im Schlüsse des Staatslebens darstellen sollten, C. L. Michelet, Ableitung der Repräsentativ-Verfassung aus den drei logischen Schlußformen (1848), in: Der Gedanke . . ., Bd. 2, Heft l (1861), 13 — 26. Der etwas links von Rosenkranz anzusiedelnde Michelet forderte ein allgemeines und gleiches Wahlrecht, die Abschaffung des Adels, die soziale Versöhnung der Stände, ein Wahlkaisertum für das Reich und eine konstitutionelle Erbmonarchie für Preußen (siehe Lübbe 21974, 71). Der bei Hegel nie die Lehre vom konstitutionellen modernen Staat verleugnende Michelet hat allerdings den Hegel der Enzyklopädien von 1827 und 1830 den Liberalismus der früheren Jahre ablegen und eine gewandelte Lehre von der Monarchie, von den Geschworenengerichten, dem Steuerbewilligungsrecht und der Teilnahme des Volkes an der Regierung verkünden sehen (Michelet 1860 2. Teil, 33ff.; Michelet 1870, 46ff.; Michelet 1871, 137ff.), eine häufig geäußerte These, der erst im zweiten Band bei der Diskussion Iltings und der verschiedenen Editionen der Rechtsphilosophie und Enzyklopädie nachgegangen werden soll. In grotesker Verkennung der Zeichen der Zeit hatte Michelet 1860 noch einmal jene Erfüllung der Geschichte nahen sehen, die Hegel seit seinen Jenenser Jahren am Schluß der Geschichte der Philosophie mit emphatischen Worten anzukündigen pflegte (Gesch. d. Phil. SW XIX, 689). Weder damals noch 1860 hatte sich aber das „blinde Schicksal" in das Wissen der Menschheit von sich und von ihrer Geschichte aufgelöst, noch waren Michelets spezielle Prophezeiungen begründet, wenn er an das Ende der Kriege in Europa, den Rechtsstaat als Staat der Zukunft und an die Macht des Christentums glaubte, das „alle Menschen mit . . . bewußter Liebe umschlingen" werde, Michelet 1860 2. Teil, 586 ff.
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Freiheit verschob sich von Europa auf Amerika, wo sich durchzusetzen schien, was 48 in Europa nicht erkämpft werden konnte48. Der rapide Fortschritt der Technik wurde zum Lückenbüßer für das Schneckentempo der politischen Weltvernunft49. In immer abgelegeneren Regionen des Balkans oder gar beim „Aufstand der Tscherkessen" mußte Michelet dem Fortgang des Weltgeistes zu folgen versuchen50. Sein aus der Enttäuschung des Jahres 1849 geborener Vorschlag, die vom Marktplatz vertriebene Freiheit „in Bürgervereinshäusern zu kultivieren"51, war bereits der Beginn des Rückzugs in die Atmosphäre der Biertischpolitik, die in der Geschichte der Berliner Philosophischen Gesellschaft durchaus ihre Parallele besitzt. „Der Sieg der Vernunft" wurde auch hier „zum Inhalt von Trinksprüchen"52. Der Hegelianismus der Mitte, dem, so glaubten es Rosenkranz, Hinrichs und Michelet, 1848 noch einmal der Wind der Geschichte im Rücken zu wehen schien, wurde, weil er sich nicht wie der Rechtshegelianismus Rößlers oder A. Lassons dem ganz neuen Geist akkommodierte, erfaßt von der Resignation, die so manchen Bildungsbürger in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergriff.
3. Die Verstärkung der historischen Argumente Rosenkranz' und der Beginn der theologisch-politischen Deutung (Fr. Rosenzweig) Während Rosenkranz, Hinrichs und Michelet noch eine Gruppe mehr oder weniger apologetischer Hegelianer der Mitte bildeten, wurde Hegelverteidigung in der Zeit nach Rosenkranz' Tod im Jahre 1879 bis zur Hegel-Renaissance in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine Sache von Einzelkämpfern auf verlorenem Posten. Das bei Michelet gegen den Geist der Zeit bewahrte Wissen um die „weltgeschichtliche" Bedeu48
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„Hauptgrundsatz Amerikas" schien Michelet „die unendliche Freiheit der Person in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Geiste" (op. cit. 493 — 584); auch für Hinrichs war Amerika das große Wunschbild, in dem die Träume von 48 Wahrheit wurden: „Amerika, du hast es besser / Als unser Continent der alte . . .", schrieb er Goethe zitierend, H. F. W. Hinrichs, Die Könige. Entwicklungsgeschichte des Königtums von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Leipzig 21853, 467ff., zit. nach Lübbe 2 1974, 78. ,,. . . die auf die ganze Erde auszudehnende Überwindung des Raumes und der Zeit durch Fernschreiber, Eisenbahnen, Kanäle und Dampfschiffe" mußte das universale Sichbewußtwerden des Weltgeistes verbürgen, Michelet 1860, 2. Teil 512. Lübbe 21974, 79. op. cit. 79/80. op. cit. 80.
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tung der Hegeischen Philosophie war nun restlos geschwunden. Sieht man vom lebensphilosophischen Interesse am jungen Hegel ab, so blieb allenfalls noch ein historischer Hegelzugang lebendig, den die (gar nicht uninformativen) Studien über den „Volksgeist" (Brie, Dittmann, Trescher, Kantorowicz) oder jene philosophiegeschichtlichen Darstellungen bezeugen, die Hegel um eines anderen Denkers willen oder im Zusammenhang einer philosophischen Bewegung thematisieren53. Rosenzweig ist eigentlich der erste, der im 20. Jahrhundert wieder eine systematische Hegelauslegung in Angriff nimmt, die weder die kritischen Muster der Linkshegelianer reproduziert, noch sich an die rechtshegelianische Akklamation anlehnt. Zwar hat er sich auch, wie wir bereits gesehen haben54, im Stile Meineckes von Hegel distanziert; zugleich aber hat er ihn verteidigt, einmal indem er sich der historischen Verteidigungsstrategien Rosenkranz' bediente (die er noch weiter entwickelt und verfeinert), zum anderen durch eine neue theologisch-politische Leseweise, die sich später bei Giese, Weil, Rohrmoser, Maurer, Saß, Theunissen und vielen anderen als eines der wichtigsten Instrumente der Hegelinterpretation dieser Tradition bewähren sollte. Hatte Rosenkranz auf die Kontinuität der Fries-Kritik, der Erbmonarchielehre sowie der Kirchen- und Religionskonzeption von Jena bis Berlin aufmerksam gemacht, so komplementiert Rosenzweig diese Argumentation durch den Hinweis auf die Korporationslehre und die Stellung der Beamtenschaft in Hegels Staat. Die Organisation der Stände in „Korporationen" als eines der Mittel, mit Hilfe dessen Hegel den Antagonismus der bürgerlichen Gesellschaft in das sittliche Leben reintegrieren will, läßt sich bereits 1802 nachweisen, wenn sie nicht sogar schon auf das Jahr 1799 und auf Hegels Beschäftigung mit dem englischen Armengesetz zurückführbar ist; mit der „preußischen" Reaktion auf Hardenbergs Zerstörung der Zünfte hat diese Lehre jedenfalls nichts gemein55. Die Asso53
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G. Sodeur, Vergleichende Untersuchung der Staatsidee Kants und Hegels, Borna 1893; Th. G. Masaryk, Die philosophischen und sociologischen Grundlagen des Marxismus, Wien 1899, Neudr. Osnabrück 1964; ferner neben dem bereits erwähnten Buch von Koigen „Zur Vorgeschichte des modernen philosophischen Socialismus in Deutschland": J. Plenge, Marx und Hegel, Tübingen 1911; W. Metzger, Gesellschaft, Recht und Staat in der Ethik des deutschen Idealismus, Heidelberg 1917, 307-45; L. Duguit, J. J. Rousseau, Kant et Hegel, Paris 1918; S. Heiander, Marx und Hegel. Eine kritische Studie über sozialdemokratische Weltanschauung, Jena 1922; S. Marck, Hegelianismus und Marxismus, Berlin 1922. Hierill. 5.1. Rosenzweig 1920, Bd. II. 163.
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ziation von preußischem Beamtentum und Administration bei Hegel ist gleichfalls so falsch wie sie prima facie naheliegend ist. Die Hochschätzung des Beamtentums geht seit 1801 durch alle politischen Aufsätze Hegels hindurch, sie wird 1820 durch die Betonung der Selbstverwaltung sogar „zurückgedrängt"56. Rosenkranz hatte die Situation des besonnenen Staatsphilosophen geschildert, der sich nicht zum Sprecher einer politischen Partei Preußens machte, sondern es riskierte, sich die Sympathie des Adels genauso zu verscherzen wie die der späteren Linksdemokraten, die der Propheten des materiellen Wohllebens genauso wie die der Ideologen einer aufgeklärten Despotie. Auch Rosenzweig, der aus einem ähnlichen Fundus an historischem Wissen schöpfen konnte wie Rosenkranz, sieht ganz klar, daß die Differenzen zwischen Hegels Staatslehre und preußischem Staat die konkreten Affinitäten überwiegen. Zwar scheint sich Hegel an die preußische „Heeresverfassung" und an das „Allgemeine Landrecht" anzulehnen57, aber diesen sekundären Phänomenen steht die eindrucksvolle Liste von Differenzen gegenüber, die Hegel von den konservativen Ideologen Preußens genauso trennen wie von den Wegbereitern der Französischen Revolution58. Weder Rousseaus Einzelwille, der immerhin noch den „Ge-
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op. cit. Bd. II. 165, 148f. Selbst die Selbstverwaltungslehre ist keine Anlehnung an die Städteordnung des Freiherrn vom Stein, da sie bereits in der Verfassungsschrift auftaucht. Wahrscheinlicher dürfte eine gemeinsame Beeinflussung durch englische Zustände sein, die Hegel und Stein zu unbewußten Bundesgenossen werden ließ. Anklänge an das „Allgemeine Landrecht" finden sich nach Rosenzweig in Hegels juristischer Behandlung von „Eigentum", „Besitznahme", „Vertrag", „Ehezweck", „Ehescheidung", „Kindererziehung", „Erbrecht", „Standesgerichten" sowie bei der Ordnung der Beziehung von Kirche und Staat, op. cit. Bd. II. 108, 114f., 116, 117, 212, 186, 190. Diese Einschätzung des Zusammenhanges der Hegeischen Rechtsphilosophie mit dem „Allgemeinen Landrecht" erscheint realistischer als Hocevars Versuch, aus dem Landrecht „das" Modell der Rechtsphilosophie zu machen. Obwohl Hocevar interessante Gemeinsamkeiten entdeckt, die Rosenzweig noch übersehen hatte, die Parallelen der sozialständischen Gliederung, die hier wie dort fehlende Verwendung des Begriffs „Staatsbürger", die gemeinsame Ausklammerung der Gewaltenteilung, die ähnliche Definition der Beamtenschaft, den Hegel und die Autoren des Landrechts verbindenden Aristotelismus u. a. m., wird die Tragweite dieser Parallelen nicht ganz einsichtig. Hocevar selbst schildert die Unterschiede, welche die Hegeische Monarchie-Lehre sowie seine Ablehnung des Vertragsdenkens vom Landrecht trennen; er selbst sieht Hegel hinter Bestimmungen des Landrechts zurückfallen (in ältere Traditionen ä la Majer und Moser); er selbst erkennt, wie Hegel mit den Forderungen nach Geschworenengerichten, Öffentlichkeit von gerichtlichen und landständischen Verhandlungen, nach gemeindlicher Selbstverwaltung und Ähnlichem preußischen Zuständen historisch vorauseilt; er selbst spricht davon, daß Hegel es vermieden habe, „seine in der Rechtsphilosophie konzipierten
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danken" des Willens und der Freiheit für Hegel (wenn auch subjektivistisch verzerrt) aufstellte, noch Hallers Naturalismus und Herrschaft der Stärkeren (die nur auf die empirischen Einzelheiten der menschlichen Natur aufbaut), treffen Hegels Intention. Denn seine Position ist „zwischen" revolutionären Lehren und Legitimitätstheorien politisch beheimatet59. Hegels Staatsmodell verdankt dem englischen Parlamentssystem mehr als den preußischen Verhältnissen. Die Sicht der Selbstverwaltung, der Wahl, der sozialen Frage und der Repräsentation tragen die Zeichen angelsächsischer Herkunft60. Die Schwurgerichte, denen Gentz den Rang eines „Axioms der Revolution" bescheinigt hatte, erhalten in Hegels Rechtsphilosophie ihren Platz, obwohl es sie in Preußen zu dieser Zeit gar nicht gab61. Die damals eigentlich brennenden Streitpunkte, wer das Budget kontrollieren darf oder wer das Recht besitzt, neue Steuern zu erheben, diese strittigen Fragen greift Hegel gar nicht auf. Sogar die „Hauptfrage" des preußischen Staatslebens, „ob Einheitsstaat oder preußische ,Staaten', ob Reichsstände oder Provinzialstände"62 erwähnt der angeblich königlich preußische Hofphilosoph mit keinem Wort. Rosenzweig rettet das Kontinuitäts- und Differenzargument von Rosenkranz ins 20. Jahrhundert hinüber. Wie sein großer Vorgänger so widerlegt auch er die historische Seite der Akkommodationskritik, insoweit diese in der Hegeischen Staatsphilosophie eine konkrete Abbildung preußischer Institutionen glaubte vorfinden zu können. Den philosophischen Vorwurf einer Systemtendenz zur Anpassung ans Bestehende möchte er aber nicht mit der stumpfen Waffe des Wirklichkeits-ExistenzArguments beseitigen. Seit Rosenzweig steht der Hegelapologetik vielmehr eine neue Strategie zur Verfügung, welche der linkshegelianischen Kritik auf ihrem eigenen Boden begegnet und quasi das Gegenstück zur emanzipationsphilosophischen Hegelvereinnahmung und Hegelablehnung der Linkshegelianer bildet. Es ist die an der Nahtstelle von Religion und
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Institutionen mit den preußischen direkt in Beziehung zu setzen". Dennoch sind die Untersuchungen Hocevars ähnlich informativ wie die Jacques d'Hondts (hier IV. 5.1.3), R. K. Hocevar, Hegel und das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten von 1794, in: Der Staat Bd. 11, Heft 2 (1972), 189ff., 198f., 200ff.; ders., Hegel und der Preußische Staat. Ein Kommentar zur Rechtsphilosophie von 1821, München 1973, 13ff., 40, 43ff. Rosenzweig 1920, Bd. II. 190ff. op. cit. Bd. II. 165ff., 228ff. op. cit. Bd. II. 164. op. cit. Bd. II. 167.
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Politik festgemachte Deutung, welche Hegel nicht in der Rolle Feuerbachs auftreten läßt, sondern gerade am christlichen Gewand der späten Hegelschen Philosophie die Zeichen einer weder reaktionären noch revolutionären Politik erkennt. Rosenzweig rückt die Angel der alten Kontroversen um Hegels theologische und politische Position in ein neues Licht63. Vernunft und Wirklichkeit sind im berühmten Motto der Rechtsphilosophie so aufeinander bezogen, daß der erste Teilsatz von der Wirklichkeit der Vernunft den „zu innerst revolutionären Gedanken" spiegelt, daß seit Bestehen des Christentums die Vernunft den Maßstab aller menschlichen Institutionen abzugeben hat. Mit der Verkündigung des Gottesreiches auf Erden ist die Vernunft wirklich geworden, das ist der zentrale Inhalt der berüchtigten Formel. Weil dies so ist und seit dies so ist, besteht der Auftrag an das Erkennen, die Vernünftigkeit des Wirklichen zu erfassen. Der Nachsatz des Mottos ist als „Grundsatz des Erkennens" nur die Folge des revolutionären Vernunftgebots. Vernunft, um es überspitzt zu sagen, ist Maßstab der Wirklichkeit, nicht Wirklichkeit die Elle der Vernunft. Nur die Linkshegelianer hatten Hegeische Philosophie, Protestantismus und Politik in der Hegelnachfolge miteinander verbunden und gegeneinander ausgespielt. Auch nur sie hatten die prinzipielle Religionskritik mit der Emanzipation verknüpft. Rosenzweig ist der erste, der einmal eine andere Kombination erprobt: die Ableitung eines politisch weder reaktionären noch revolutionären Standpunkts aus den „christlichen" Gehalten des mißverstandenen Systems. Hatte die linkshegelianische Formel gelautet: „Emanzipation durch die Kritik des theologischen Systems", seit Rosenzweig scheint auch eine andere Formel denkbar: „Freiheit durch Affirmation des christlichen Sinns der Hegeischen Philosophie". Mit Rosenzweig beginnt die theologisch-politische Deutung der Hegelschen Mitte, mit seiner Darstellung entstehen zugleich die Probleme dieser „Christianisierung" der Politik. Kann denn die christliche Fundierung der Hegeischen Philosophie die liberale Kritik der Geschichtsphilosophie oder die linkshegelianische an der Akkommodation entkräften? (1) Ins Auge springt zunächst die zweideutige Redeweise, die einmal ein Wirklich-Geworden-Sein der Vernunft suggeriert, einmal dem Handelnden aufträgt, „die Vernunft in der Welt auszuwirken". Rosenzweig scheint damit zu meinen, was Theunissen aus seinen Worten herausliest, „die göttliche Tat" der Erlösung als „Bedingung" vernünftigen Handelns 63
Im Folgenden eine Paraphrase von op. cit. Bd. II. 79.
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und Erkennens von Vernunft64. Anerkennung des Auftrags zur Verwirklichung von Vernunft, Realisierung des Auftrags und Erkenntnis der vorhandenen Vernunft gehen quasi wie ein unmittelbares Grund-FolgeVerhältnis direkt ineinander über65. Damit läßt Rosenzweig verschwimmen, was besser getrennt werden sollte, die in der Geschichte wirkende Vernunft, das Bewußtsein der Handelnden und die Philosophie, welche die Vernunft in der Geschichte nach-denkt. Rosenzweig überspielt die Schwierigkeit, wer bei Hegel das Subjekt der Geschichte ist, genauso wie er Handeln und nachträgliches Erkennen vorschnell zur Einheit werden läßt. Zwar war es Hegels Lehre, daß es in der Geschichte „vernünftig" zugeht; zwar hat die „Vernunft" selbst einen eminent wichtigen christlich-theologischen Sinn. Aber Rosenzweigs Interpretationsmodell bleibt noch entschieden zu einfach, um Hegels vieldeutiges Schema der Geschichtsdeutung simulieren zu können. Die in der Geschichte wirkende Vernunft kongruiert mit dem Bewußtsein der Handelnden für Hegel doch höchstens partiell. Die Kritik an der Marionettentheorie, wie sie Ranke, Meinecke, Litt, Cassirer, Topitsch, Iljin, Beerling und viele andere vorgebracht haben, betont, wie immer man ihre kritische Kraft letztlich beurteilt, ganz zu Recht die Differenz zwischen der einfachen Vorstellung einer von den Menschen „gemachten" Geschichte und der komplizierteren Konstruktion Hegels, die sich der „List der Vernunft" bedient und erst nachträglich die Erkenntnis der zuvor verborgenen Rationalität erlaubt. Selbst den Denkern und Tätern, die es unternehmen, die Welt bewußt nach dem Maßstab der Vernunft zu gestalten und zu konstruieren, entgeht nach Hegel die Pointe ihrer Absichten und Theorien66. Auch für sie erntet erst die Philosophie (Hegels) die Früchte einer höheren Vernunft, die sich weder mit dem Selbstverständnis der Philosophen noch mit dem Bewußtsein der welthistorischen Agenten deckt. Statt ein im voraus bewußtes Handlungsprinzip zu sein, ist „Vernunft" bei Hegel ein nachträgliches Erkenntnisprinzip, das, überspitzt
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Theunissen (1) 1870, 26. So heißt es ohne weitere Differenzierung: „. . . daß nur weil und wo das Vernünftige anerkannt wird als das zu Verwirklichende, auch das Wirkliche als Verwirklichung des Vernünftigen erkannt werden dürfe und müsse . . . Nur weil die Weltgeschichte das Weltgericht ist, das nach dem Gesetz der Vernunft seine unwiderruflichen Sprüche fällt, nur deshalb ist das Wirkliche vernünftig", Rosenzweig 1920, Bd. II. 176. Dies läßt sich deutlich ablesen an fast allen Schilderungen der Aufklärung, der Französischen Revolution und der Philosophien Kants, Fichtes und Schellings, z.B. Phil. d. Gesch. SW XI, 548ff.; Gesch. d. Phil. SW XIX, 534ff. u. ö.
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formuliert, trotz der herrschenden Unvernunft die Rationalität der Geschichte einzuholen ermöglicht. (2) Rosenzweig läßt Handeln und Erkennen so ineinanderfließen, wie sie bei Hegel sich nur hätten vereinen können, wäre ihm der sein Handeln im voraus vernünftig planende Einzelne mehr als das von der Leidenschaft getriebene weltgeschichtliche Individuum, mehr auch als Volksgeister oder Weltgeist die treibende Kraft des Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit gewesen. Dabei stößt Rosenzweig selbst noch auf ein Kennzeichen der Philosophie des älteren Hegel, das den ganzen theologisch-politischen Deutungsansatz mehr schwächt, als er zu ahnen scheint: die endgeschichtliche Tendenz des Systems, die sich gerade auch aus Hegels „Begreifen" des Christentums ergibt. Während der junge Hegel nämlich seine triadische Geschichtsauffassung in einer postchristlichen Gegenwart kulminieren lasse, löse anfangs in der Religionsgeschichte, dann in der Enzyklopädie die christliche Gegenwart die nachchristliche Zukunft ab67. Die Geschichte, zunächst selbst das Absolute, werde durch die „einsame"68 Sphäre des absoluten Geistes ersetzt. Die nun letzte, germanisch-christliche Epoche sei von nun an ewig, die vollendete Form des Geistes, ein viertes Weltreich „wie das danielsche: es ist das Reich, des kein Ende sein wird"69. Rosenzweig erspart es sich (darin wegweisend für die spätere theologisch-politische Hegelverteidigung), die Rolle der Philosophie näher zu analysieren, die bei Hegel durch das „Begreifen" der immerwährenden Gegenwart des Christentums dazu führt, daß die für den Christen in der Welt offene Zukunft sich in die Feier einer auch innerweltlich schon vorhandenen Versöhnung verwandelt. Hegels doppelsinnige Aufhebung des Christentums, die eine Anerkennung, aber auch eine unerhörte Säkularisierung dieser Religion bedeutet, Rosenzweig untersucht sie nicht mehr, obwohl gerade sie die Relevanz des Christentums als des „Urphänomens für das Zusammenstimmen von Wirklichkeit und Vernunft"70 wieder fraglich werden lassen könnte71. Wie Rosenzweigs unscharfe Differenzierungen nicht ausreichen, der liberalen Kritik an der Geschichts67 68 69 70
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Rosenzweig 1920, Bd. II. 183. op. cit. Bd. II. 178. op. cit. Bd. II. 183. op. cit. Bd. II. 182. Wie der theologisch-politische Ansatz angesichts der Rolle der Philosophie bei Hegel einzuschätzen ist, wird uns bei der Diskussion der Interpretationen von Weil (IV. 5.1.1.), Maurer (IV. 6.2.2. und 6.2.3.) und Theunissen (IV. 7.) beschäftigen.
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Kritik der liberalen Kritik im Stile von Heller und Meinecke
philosophic den Boden unter den Füßen wegzuziehen, so vermögen sie auch die Akkommodationskritik nicht zu entkräften. Erstens fällt es schwer einzusehen, wie der christliche Sinn von Vernunft ein Kriterium für die Beurteilung der konkreten Institutionen abgeben können soll, die Hegel darstellt (Erbkönigtum, Zweikammersystem, Majorate usf.), zweitens scheint sich Rosenzweig mit der Anerkennung der „merkwürdigen Gegensätzlichkeit" einer Entwicklung behauptenden und jede Novität zugleich abstreitenden Philosophie die linkshegelianischen Systemprobleme wieder einzuhandeln. Die Abschlußhaftigkeit dieses Denkens, die Enthistorisierung, die Überschätzung der eigenen Epoche, die Vertheoretisierung der Praxis72, alle das Syndrom der Akkommodation erzeugenden Tendenzen lassen sich mit Rosenzweigschen Mitteln nicht mehr abweisen. Rosenzweigs Buch wird sicher noch für lange Zeit ein Standardwerk der Hegelforschung bleiben. Der glänzende Stil, der historische Reichtum, die Verfeinerung der apologetischen Strategien, die Einführung der theologisch-politischen Interpretation im Sinne der Hegeischen Mitte, ja auch der Versuch, ganze Schulrichtungen wie liberale Kritik und Hegelverteidigung zu vereinen, all dies kann heute noch Maßstäbe setzen. Dennoch, gelungen sind Rosenzweig die systematischen Synthesen nicht. Noch scheint die Tragweite des theologisch-politischen Ansatzes dunkel, noch konfligiert das Vertrauen auf die über das Christentum vermittelte Einheit von Wirklichkeit und Vernunft mit der Kritik am anti-individualistischen Machtstaatsdenken, Typen der Hegelauslegung, die bei Rosenzweig weder in ihrem Konflikt durchschaut noch in einer höheren Einheit verbunden werden. 4. Kritik der liberalen Kritik im Stile von Meinecke und Heller Wer, von Rosenzweig ausgehend, weitere Untersuchungen aufspüren will, die in den zwanziger oder dreißiger Jahren einen konzentrierten Einsatz verschiedener Strategien der Hegelverteidigung anbieten, wird die Suche bald enttäuscht abbrechen. Der Einblick in Bibliographien bestätigt die Vorherrschaft der liberalen Kritiker und der Rechtshegelianer. Zwar
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Rosenzweig glaubt, sich gerade dieser Konsequenz entziehen zu können, indem er das Theorie-Praxis-Problem personalisiert, den „Heroen" die Praxis, den Philosophen (Hegel) die Theorie zuschiebt. Dies hat Theunissen schon mit Recht kritisiert, Theunissen (1) 1970, 26.
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finden sich immer Einzelne, die Hegels Ansichten paraphrasierend wiedergeben oder durch irgendeine Strategie der Hegelverteidigung ins rechte Licht rücken wollen73, aber nur einige wenige Auslegungen wie die von Giese, Löwenstein, Trott zu Solz und Heimsoeth lassen etwas vom Geist einer fundierten und komplexen Hegelapologie erkennen. Allerdings wird von all diesen Autoren aus einer Verteidigungsstellung argumentiert; man wendet sich gegen die Heller-Meinecke-Linie der Kritik auf solche Weise, daß auch die Rettungsversuche noch etwas vom liberal-kritischen oder rechtshegelianischen Klima jener Jahre merken lassen.
4.1. Der Geist als das „eigene" Wesen des Individuums (G. Giese) G. Giese nimmt 1926 Sprangers Anliegen einer neuen realpolitischen Erziehung wieder auf, ohne allerdings das humanistische Erziehungsideal verabschieden zu wollen; eher im Sinne der kulturell-nationalen Ideale der Jugendbewegung als der späteren „nationalpolitischen Erziehung" wird Hegels Staatslehre von Giese jetzt noch als Vorbild einer Politik gefeiert, die einer sowohl nationalen wie humanistischen Erziehung als Ziel dienen kann74. Dabei enthält Gieses Buch, wie man es wohl erwarten könnte, 73
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Paraphrasierende Interpretationen von unterschiedlicher Qualität sind die von H. A. Reybum, The Ethical Theory of Hegel. A Study of the Philosophy of Right, Oxford 1921; W. T. Stace, The Philosophy of Hegel, London 1924; K. Leese, Die Geschichtsphilosophie Hegels, Berlin 1922; H. Wenke, Hegels Theorie des objektiven Geistes, Halle 1927; Leese, der im Prinzip dieselbe Interpretation wie Löwenstein vertreten will, begnügt sich damit, Hegels Staat als „Kulturstaat" (Leese 1922, 111) zu definieren, von den Individuen und welthistorischen Persönlichkeiten zu behaupten, sie seien in der „Stufenleiter der Zwecke" (op. cit. 119) nicht nur Mittel, sondern auch Selbstzwecke, und Ranke entgegenzuhalten, die Eigenart der Epochen bleibe in der Aufhebung eben aufbewahrt (op. cit. 137 Anm.); daß die „Unmasse der Individuen geringerer Ordnung" (op. cit. 137) von den großen Männern und diese wiederum vom Weltgeist „verbraucht" werden, sei nur der Zug eines „herben und entsagungsvollen Heroismus" (op. cit. 138). Emge begnügt sich mit einer einzigen Verteidigungsstrategie, dem Wirklichkeits-ExistenzArgument; „Wirklichkeit" habe bei Hegel weder mit dem etwas gemein, was im Alltagsleben „wirklich" genannt wird, noch dürfe sie mit dem „Dasein" (als nur seinslogisch bestimmten endlichen Etwas), der „Existenz" (als dem nur für den Gedanken in Erscheinung tretenden Dasein) oder dem „Zufälligen" ( als dem nur möglicherweise Wirklichen) vertauscht werden, C. A. Emge, Vernunft und Wirklichkeit bei Hegel, Riga 1926, 8, 9, lOf. Giese kleidet sein Erziehungsideal manchmal in Formeln, die einen staatsautoritären Klang hören lassen (z. B. „Erziehung zum dienenden Glied des Ganzen"). Aber was er deutlicher als Spranger anzielt, ist ein Ausgleich zwischen unpolitischer neuhumanistischer und realpolitischer Erziehung, die gerade auch Persönlichkeitsbildung im Sinne
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Kritik der liberalen Kritik im Stile von Heller und Meinecke
keine typisch pädagogische Philosophie aus zweiter Hand. Vielmehr wird Hegel auf philosophischem und der damaligen Hegelforschung angemessenen Niveau ausgelegt. Heller und Meinecke haben für Giese nur partiell Hegels Intention getroffen, Heller hat ein Moment des Hegeischen Staatsgedankens einseitig verabsolutiert, und noch Meinecke verzeichnet die Geschichtsphilosophie durch seine Marionettentheorie. Gegen Heller sticht nach Giese das „Argument von der Trennung des objektiven und absoluten Geistes", das Giese ambivalent begründet. Denn einerseits sind Kunst, Wissenschaft und Religion selbst Momente eines Staatslebens, so daß auch sie durch den Staat erst möglich werden; andererseits haben sie ihren Zweck nicht allein in der Macht des Staates, zu dem sie gehören, sondern ebensogut kann man sagen, hat der Staat seinen Zweck erst in der Blüte von Kunst und Wissenschaft und im freien religiösen Leben75. Die Freiheitszugeständnisse, die Heller bemerkte, werden nicht um der Macht des Ganzen willen von Hegel eingeräumt. Macht, die sich behauptet und durchsetzt, darf der Staat nach Hegel nur sein, weil er geistig-sittliche und kulturelle Lebensform ist. Nicht ein „nationaler" Machtstaat, sondern Meineckes Kulturnation trifft Hegels Staatslehre; Macht aber „ist nur deshalb berechtigt, vernünftig und sittlich, weil sie, wie der Staat und Sittlichkeit überhaupt, im Geist, in der Gemeinschaft der Gewissen als ,unsichtbarer Staat' begründet ist; der Staat ist nur Macht, weil und insofern er ... geistiges Individuum . . . Werterfüllung und Kultur ist"76.
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des Humanismus sein soll, G. Giese, Hegels Staatsidee und der Begriff der Staatserziehung, Halle 1926, 143ff., 171. Auch die von ihm edierte Sammlung Hegelscher Staatsschriften führt durch ihre Überschriften wie „Die preußische Staatsphilosophie" oder „Bekenntnis zu Preußen" eher in die Irre, als daß sie Gieses Intentionen klar zum Ausdruck brächte. Giese verbindet mit diesen Etiketten nämlich keineswegs die Vorstellung vom Philosophen der Restauration. Vielmehr möchte er Hegel eine preußische Staatsgesinnung im Geist der Tradition Friedrichs II. zuschreiben, eine Gesinnung, welche Hegel die kantische Gewissensethik bewahren lasse und ihn nicht dazu verleite, seinen Staat an Preußen zu akkommodieren (hier verweist Giese auf den Paragraphen 6 der Enzyklopädie). Siehe G. Giese, Hegel und der preußische Staat, Berlin 1930, 14, 18, 21 u. ö. Erst 1937 hat Giese den Humanismus seiner Erziehungslehre verleugnet, sich Kriecks „nationalpolitischer Erziehung" angepaßt und Hegel zum „völkischen" Denker uminterpretiert, G. Giese, Politische Pädagogik und Staatswissenschaft, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 97 Bd. (1937), 389ff. Giese 1926, 105, 102ff. op. cit. 109. Giese gibt allerdings Heller und Meinecke insoweit recht, als auch er Hegel die Nachtseite der Staatsräson übersehen sieht. Hegel hat zwischen einer „sittlich berechtigten und einer . . . unsittlichen Machtpolitik" keine Grenze gezogen (op. cit. 112), doch glaubt Giese, dies sei dem Philosophen sowieso verwehrt.
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Meinecke erfaßt Hegel schon besser als Heller, aber seine Marionettentheorie zielt immer noch an Hegel vorbei. Denn der Weltgeist ist kein „transzendenter" Direktor einer Marionettenbühne. Gieses Darstellung vom Verhältnis Weltgeist-Volksgeist-Einzelner gehört zu den stärksten Partien des Buches, die auch heute noch diskussionswürdig sind. Giese versucht nämlich, sich dem Verständnis des Weltgeistes über den Begriff des Geistes allgemein und den des Volksgeistes im besonderen zu nähern. Allein der Charakter des Geistes kann die Einheit des Einzelnen mit dem Volksgeist und die des einzelnen Volksgeistes mit dem Weltgeist aufschlüsseln. Nicht als Resultat der kulturellen Kräfte wie bei Montesquieu, sondern als Schöpfer aller Lebensäußerungen eines Volkes quasi als „Künstler", nicht als geheimnisvolle Lebenskraft wie bei Herder und auch nicht als mythisch-dunkler Urgrund wie in der historischen Rechtsschule, sondern als wissende Vernunft hat Hegel den Volksgeist definiert77. Dieser läßt sich aber von den einzelnen Menschen nicht als fremde Macht abgrenzen, sondern wohnt in seinen Trägern als ihre Substanz, „der Volksgeist ist nur die begriffliche Formulierung für die wesentliche Einheit der innerhalb eines Volkes lebenden Menschen . . ."78. Der Einzelne „ist in dieser Substanz. Aber diese . . . steht ihm nicht als etwas Äußerliches . . . gegenüber . . . sie ist vielmehr der innerste Kern seines eigensten Wesens"79. Wie Einzelmensch und Volksgeist so sind auch Volks- und Weltgeist durch ein geistiges Band ineinander verflochten. Kantorowicz und Dittmann, die vor Meineckes Marionettentheorie eine „Lückenbüßertheorie" für das Verhältnis Volksgeister-Weltgeist aufgestellt hatten80, lassen sich 77
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Hier lehnt sich Giese an Trescher an, mit deren Auffassung er sich überhaupt am meisten verbunden weiß. H. Trescher, Hegel und Montesquieu, Leipzig 1918, 89. Giese 1926, 91. op. cit. 96. Kantorowicz hatte in seinem historisch ungemein informativen Aufsatz, der Montesquieu, Voltaire, Moser, Savigny und die Romantik zu Hegel in Beziehung setzt und von ihm abgrenzt, behauptet, die Volksgeister würden zu „Mitteln" des Weltgeistes; „in seiner (Hegels, H. O.) Metaphysik bedeutet Volksgeist keineswegs das gemein/same Bewußtsein, der durch natürliche Momente zur Einheit verbundenen Nation, sondern den absoluten Weltgeist auf einer bestimmten Stufe der dialektischen Entwicklung . . .". H. Kantorowicz, Volksgeist und historische Rechtsschule, in: Historische Zeitschrift Bd. 108 (1912), 319/320. Dittmann bezeichnete den Volksgeist als „Lückenbüßer". „Es (das Volk, H. O.) kann weiter nichts tun als die Anlage auszubilden, die Befehle auszuführen, mit denen es vom Weltgeist betraut worden ist". Fr. Dittmann, Der Begriff des Volksgeistes bei Hegel. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Begriffs der Entwicklung im 19. Jahrhundert, Leipzig 1909, 14. Eine kritische Rezension, die noch
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Kritik der liberalen Kritik im Stile von Heller und Meinecke
von Hegels mythologischer Redeweise irreführen. „Der Weltgeist ist nicht ein jenseits aller Geschichte und der bestimmten Völker befindlicher Gott, der den Völkern Aufträge gibt und ihnen ihre Freiheit und Selbständigkeit raubt. Der Weltgeist ist Geist überhaupt"81. Das aber bedeutet für Giese wiederum, daß Allgemeines und Einzelnes nicht in ein transzendentes Wesen und eine reale Vielheit zerrissen werden, sondern, daß die einzelnen Volksgeister im „Allgemeinen" genauso ihr eigenes und nicht ein fremdes Wesen finden wie die Individuen in ihrem Volk82. Giese ist überzeugt, daß sich auch unterhalb der Pyramide von Volksund Weltgeist das Verhältnis von Individuum und Staat sowie von Moralität und Sittlichkeit mit Hilfe des dialektischen Geistbegriffes lösen läßt. Dafür spricht nicht nur die Trennung von Wirklichkeit und Existenz, die gegen den Verdacht auf Konservatismus, Quietismus und Optimismus gewendet werden muß83, sondern noch stärker die religiöse Fundierung der Politik, an die Giese als ein früher Erbe Rosenzweigs erinnert. Religion, nicht als Herrschaftsinstrument84, sondern als Ausdruck unbedingter Gesinnung, die sich von allem Endlichen und Natürlichen gereinigt hat und sich mit dem Absoluten eins weiß85, fundiert im Inneren der Subjekte die Beziehung, die in der Welt durch den Staat die Versöhnung Wirklichkeit werden läßt. Der Staat ruht auf der sittlichen Gesinnung seiner Bürger, diese wiederum auf der religiösen. Nur in diesem Sinn ist der Staat der „Gang Gottes in der Welt", weil er den im Gewissen innerlichen göttlichen Geist in die Wirklichkeit einströmen läßt. Hegel hat den Staat weder mit religiösen Begriffen vergöttlicht noch ihn über die Religion gestellt, wie es seit Hayms Tagen ständig wiederholt wurde. „Der Staat geht zwar aus der Religion hervor, die Religion ist seine treibende Kraft, aber er ist nicht selbst Religion . . . / Von einer Gleichsetzung des Staates mit der Religion oder von einer Stellung des Staates über Religion, Kunst und Wissenschaft kann bei Hegel keine Rede sein"86.
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vor Giese den Lückenbüßer-Vorwurf Dittmanns angreift, G. Lassen, Zur Staats- und Geschichtsphilosophie Hegels, in: Zeitschrift für Politik Bd. 4 (1911), 586f. Don auch eine ausführliche Besprechung der historisch interessanten Arbeit von Brie, S. Brie, Der Volksgeist bei Hegel und in der historischen Rechtsschule, Berlin-Leipzig 1909, op. cit. 581 ff. Giese 1926, 95. op. cit. 111. op. cit. 28 f. op. cit. 119. op. cit. 120. op. cit. 124/125.
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Giese erweist sich als guter Schüler von Rosenzweig und Rosenkranz, deren Hinweis auf die Trennung von absolutem und objektivem Geist er genauso reproduziert wie die theologische Fundierung der Politik. Alle Gieseschen Strategien aber umklammert ein nun zum ersten Mal für die Hegelianer der Mitte reklamiertes Argument, das im Anschluß an die neuzeitliche Tradition von Wissen (Gewißheit) und Hervorbringen (Hobbes, de Vico, Kant)87 auch für den Freiheitsbegriff eine Identität von Individuum und Allgemeinheit deswegen unterstellt, weil den Einzelnen in den Institutionen und in der Geschichte keine „fremde" Realität, sondern ihr eigenes, „selbstgeschaffenes" Wesen begegnet88. Der Staat, so lautet der Kern des Arguments, ist deswegen eine Erfüllung und keine Beschränkung der Freiheit, weil die Einzelnen in der Gemeinschaft selbstgegebenen Gesetzen gehorchen und selbstgeschaffenen Institutionen dienen; nicht die sich nur als „Willkürfreiheit" verstehende libertas, welche Abwesenheit von Zwang fordert, sondern die „affirmative" Freiheit als Freisein in der Bindung macht den Sinn „wahrer" Freiheit aus89. Hegels Versuch, eine institutionelle Ethik auf dem Boden der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie zu errichten, war von dem Anspruch getragen worden, die Rechte des modernen Subjekts, das nur anerkennen will, was es als „vernünftig" einsehen kann, zu respektieren, augenfällig in all den Beteuerungen, mit denen Hegel versichert, die „Moralität" in die „Sittlichkeit" einzubringen. Die Linkshegelianer, allen voran Marx, verlegten die Einheit des Individuums mit seinem selbstproduzierten Wesen in die Gesellschaft der Zukunft, die Rechtshegelianer beanspruchten die Einheit von Mensch und „geschaffenem Staat" für ihre verschiedenen Gemeinschaftsformen. Und seit Giese verstehen es nun auch die Hegelianer der Mitte, Hegels Staatslehre mit dem Wort von der „erfüllten" oder „affirmativen" Freiheit zu schmücken. Giese, die Rechtshegelianer und Hegel verbindet die Parteinahme für den Staat und seine Institutionen, deren freiheitssichernden Sinn diese Allianz mit Recht gegen den linkshegelianischen Monopolanspruch der Gesellschaft wendet. Aber ob es deshalb auch erlaubt ist, von einer 87
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Welche Rolle diese Tradition für Hegel spielt, wird noch in einem komplizierten Klärungsprozeß aufzudecken sein, da sich bei Hegel der Anspruch auf diese Modernität gleichzeitig im antik-naturrechtlichen Rahmen bricht. Siehe vor allem IV. 5.1. Siehe z. B. op. cit. 75. „Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich vorgeschrieben hat, ist Freiheit", heißt die berühmte Formel bei Rousseau, J. J. Rousseau, Du contrat social, ou principe du droit politique (1762), I, 8.
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Kritik der liberalen Kritik im Stile von Heller und Meinecke
Freiheit „in" der Bindung zu sprechen, ist eine andere Frage. Zwar scheint die Beliebtheit des Arguments vom Wiederfinden des selbsterzeugten Wesens den Verdacht zu wecken, daß es diese Lehre allen recht macht und doch tatsächlich niemand; nahezu alles scheint aus der Hand des Menschen stammen zu können und, wie immer sich eines vom anderen unterscheidet, dennoch eine Identifikation des Einzelnen mit seiner Gemeinschaft zu erlauben: Hobbes' zwischen Absolutismus und Individualismus schwankender Souverän, Rousseaus zwischen direkter Demokratie und Totalitarismus schillerndes Gemeinwesen, Kants formaler Rechtsstaat, Hegels Erbmonarchie, die kommunistische Gesellschaft Marx', der organische Machtstaat und sogar der totalitäre Volksstaat der Rechtshegelianer. Aber trotz dieser nahezu leerformelhaften Vielverwendbarkeit wohnt diesem Gedanken, wird er wie bei Hegel mit der Vorstellung einer affirmativen Freiheit gekoppelt, eine Tendenz zum Anti-Individualismus und Anti-Pluralismus inne, die ihn besonders für radikale linke wie rechte Ideologien geeignet macht. So recht zum Einsatz kommen kann diese Denkweise nämlich immer dann, wenn es darum geht, dem Individuum die saure Bindung ans Allgemeine mit dem schönen Wort der Freiheit der Fülle zu versüßen. Man argumentiert ja nicht, daß wir frei sind, „weil" wir Gesetzen und Institutionen gehorchen, sondern behauptet darüber hinaus, daß unsere Freiheit den Ort ihrer Erfüllung schon „in" den Institutionen und „im" Gehorsam gegenüber dem Staat besitzt90. So läßt sich, wenn man nur will, durch ein dialektisches Kunststück auch noch aus den Ketten der Einzelnen die Freiheit des Ganzen hervorzaubern. In diesem Sinne konnten die Rechtshegelianer einen Freiheitsbegriff verwenden, der die Freiheit von Zwang als Willkürfreiheit abwertete und sie durch die Freiheit des Volksgenossen in der Volksgemeinschaft ersetzte; ähnlich konnten die Linkshegelianer, freilich ohne den Rekurs auf die staatlichen Institutionen, voraussetzen, daß die Selbsterzeugung der Gesellschaft bereits die Garantie dafür an die Hand gibt, daß die Freiheit der Einzelnen mit der allgemeinen Notwendigkeit eine versöhnte Synthese eingehen wird. Der Effekt, der sich 90
„Hegel mag recht haben, wenn er meint, daß es ohne Gesetze, Verfassung, Staat keine echte Freiheit geben kann. Damit ist aber lange nicht gesagt, daß Freiheit im Gehorsam gegenüber den Gesetzen besteht und daß etwa der Staat objektivierte Freiheit ist. Es bedeutet nicht, daß die fraglichen Gesetze selbst (und damit auch der Staat selbst . . .) der Freiheitsraum sind und daß wir somit frei sind, indem — und nicht nur weil — wir Gesetzen gehorchen und an einem Staat teilnehmen", Lobkowicz, in: Gebhardt 1968, 128/129.
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dadurch einstellte, ist tendenziell der gleiche, der im Rechtshegelianismus im Verein mit dem Organismus-Gedanken wirkte, die enge Kettung der Individuen ans Ganze. Verdeckt die Erzeugung des „eigenen Wesens" einmal die Auflösung der individuellen Identität in den starken Staat, das andere Mal dient sie zur Verschleierung der Verschmelzung mit der Gesellschaft, deren Ansprüche nicht weniger umfassend sind als die des autoritären Staates. Hegel war freilich weder Rechts- noch Linkshegelianer in dem Sinn, daß er einem Macht- oder Volksstaat oder einer verabsolutierten Gesellschaft ideologisch hätte dienen wollen. Seine Verwendung des neuzeitlichen Gedankens vom „Hervorbringen, Verstehen, Wiederfinden des eigenen Wesens" stand im Kontext einer Philosophie, die gerade gegen die unmittelbare Substanz antiker Gemeinschaften das Recht der modernen Subjektivität einbringen wollte. Dennoch verbirgt sich in diesem Argument auch in der Hegeischen Form ein eher universalistisch-integratives als individualistisch-freiheitliches Element, das nicht gerade dazu geeignet ist, Hegel zu helfen, auf dem schmalem Weg zwischen Staatsüberhöhung und Gesellschaftsverabsolutierung die Balance zu halten. Jedenfalls täten Hegelianer der Mitte gut daran, ihren Lehrer des modernen Rechtsstaats nicht mit dem Hinweis auf diesen Zug seiner Staatslehre zu verteidigen.
4.2. Die liberale Staatsphilosophie Hegels zwischen Revolution und Konservatismus (J. Löwenstein) Auf eindeutige Weise, aber mit dem Schwerpunkt auf Hegels „liberaler" Lösung des Problems von Individuum und Gemeinschaft hat ein Jahr nach Giese Löwenstein Hegels praktische Philosophie ausgelegt. Wie für Giese so sind auch für ihn Meinecke und Heller die Gegner, die es zu bekämpfen gilt, anders als Giese verkürzt er jedoch die Breite der Problemstellung, indem er Hayms psychologische Version des Akkommodationsvorwurfes, die ja wirklich den unwichtigsten Teil dieses kritischen Komplexes ausmacht, noch einmal aufwärmt. Und zwar feiert Hayms Geschichte von der Weltflucht Hegels in die Theorie fröhliche Urständ im Gewand lebensphilosophisch-existentieller Begriffe. Noch auf den Spuren von Giese bewegt sich zunächst Löwensteins Antikritik der Kritik an der Marionettentheorie wie an der Akkommodation des Systems. Nur dann wäre der Vorwurf einer Marionettentheorie berechtigt, „wenn durch die Geschichte ein ihr äußerlicher Zweck ver-
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Kritik der liberalen Kritik im Stile von Heller und Meinecke
wirklicht würde . . ."91. Da aber das Zusichkommen des Geistes das Telos der Entwicklung für die Völker wie für die Individuen realisiert, geht die von Ranke inspirierte Kritik Meineckes völlig an Hegels Intentionen vorbei. Gerade die dialektische Entwicklung erfaßt die Einmaligkeit jeder Gestalt. Eine „brutale Machttheorie" hat Hegel nicht lehren wollen, das beweisen seine Polemik gegen Hallers Macht des Stärkeren92 sowie sein Staatsbegriff, der sich mit der „Totalität aller weltlichen Kulturerscheinungen" deckt93. Soweit geht Löwenstein mit Giese noch den gleichen Weg. Ja er schlägt sogar Wege ein, die von Giese nicht begangen werden und die alle auf den Hegel der Hegeischen Mitte zulaufen. Hegel steht nämlich in der Mitte zwischen den rechten und linken Ideologen der preußischen Politik. Gegen die konterrevolutionären Strömungen hat er am Freiheitsprinzip der Französischen Revolution festgehalten94, sein Volksgeist ist kein bewußtloses Wesen, sondern die „selbstbewußte sittliche Substanz"95. Mit der historischen Rechtsschule und der Romantik verbindet ihn die Einbeziehung der historischen Kontinuität, mit Rousseau und der Revolution die Anerkennung der modernen Freiheitsforderungen96. Ritters Einsicht vorwegnehmend, behauptet Löwenstein: „So ist Hegels Geschieht*- und Staatsgedanke zugleich konservativ und revolutionär gerichtet, aber sowohl gegen den Konservatismus, wenn er ohne Bezug auf die Gegenwart und das Freiheitswollen ist, wie gegen den Revolutionarismus und Liberalismus, wenn sie abstrakt und ohne historisches Bewußtsein auftreten. In diesem Sinne hat Hegel gegen rechts (Haller, Savigny, die württembergischen Altrechtler, die katholische und die protestantische Orthodoxie) wie gegen links (Fries, die dogmatischen Liberalen und die Burschenschaften) gekämpft"97.
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J. Löwenstein, Hegels Staatsidee. Ihr Doppelgesicht und ihr Einfluß im 19. Jahrhundert, Berlin 1927, 28. op. cit. 48. op. cit. 29. op. cit. 42. ebd. „Daß Hegel den Staat auf diesen beiden Prinzipien aufbaut, auf dem Volksgeist, dem historisch-substantiellen Zusammenhang und dem freien Willen der Subjektivität, ermöglicht ihm, das historische Denken mit den modernen Freiheitsforderungen zu verbinden und umgekehrt diesen ihren abstrakt negativen Charakter zu nehmen. Damit hat Hegel einen tiefen Begriff des modernen Staates gewonnen", op. cit. 33. op. cit. 43.
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Aber wenn Hegels Verfassungsidee auch der der preußischen Reformer entspricht98, auch wenn er die modernen Freiheitsrechte in sein Staatsideal einbringt", so bildet dies doch nur ein Profil des „Doppelgesichts" der Hegeischen Staatslehre. Dieses entsteht aus der fundamentalen Zweideutigkeit der Hegeischen Philosophie selbst. Schon der junge Hegel benutzt seine dialektische „Methode" zunächst für die Bewältigung existentieller Probleme, später auch als ein Mittel, „das Irrationale und Absolute selbst zu denken"100. Dadurch aber bedeutet Dialektik von nun an ein „überrationales" und „überobjektives"101 Spekulieren, das den Anspruch auf Rationalität erhebt, andererseits vergißt Hegel, der selbst die £7&errationalität der Spekulation herausstellt, daß seine Denkweise nicht „logisch-stringent", sondern „existentiell-glaubenshaft" ist102. Läuft dieser Einwand darauf hinaus, Hegel vorzuwerfen, er sei noch nicht entschieden genug Lebensphilosoph gewesen, so mündet seine Übertragung auf die Staatslehre in Hayms psychologische Konstruktion der Weltflucht Hegels ein. Hegels optimistischer Vernunftglaube, der ihn die existentiellen Ursprünge seiner Denkweise vergessen läßt, erzeugt eine „Weltfremdheit" und „Ahnungslosigkeit"103, die zur völligen Blindheit gegenüber der politischen Realität führt. Hegel verklärt die Gegenwart so stark, daß unter dem harmonistischen Schein die „wirklichen Mächte" und „die politische Restauration" nicht mehr sichtbar werden104. „Die Vorrede zur Rechtsphilosophie bekämpfte nur die Linke, sagte aber kein Won zur Verurteilung der Reaktion und sanktionierte den bestehenden Staat"105. Löwensteins Interpretation zeigt, daß die Hegelapologeten der Mitte ähnlich wie Bloch, Marcuse und Garaudy sich manchmal auch auf einen fundamental doppelgesichtigen Hegel festlegen wollen. Wie in der marxistischen Hegelauslegung bleibt es jedoch nicht bei dieser Zweideutigkeit allein. Löwenstein, der das kritische Potential des Akkommodationsvorwurfs durch sein Psychologisieren sowieso schon verkürzt, neigt am
98
op. cit. 47. „Freiheit des Eigentums und der Person, Privatrecht, Freiheit der Gewerbe, Glaubensfreiheit, Pressefreiheit und freier Zutritt zu allen Staatsämtern usw. . . .", op. cit. 45. 100 op. cit. 13. 101 op. cit. 15. 102 op. cit. 16. 103 op. cit. 57. 104 op. cit. 52. 105 op. cit. 62.
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Ende doch zur Annahme, daß der Hegel der Mitte der „eigentliche" Hegel ist, welcher nur gegen seine Intention quasi die Fehlleistung begeht, die politische Wirklichkeit falsch zu deuten106. Denn wenn Hegel in der Geschichte zwangsläufig als der preußische Staatsphilosoph erschien, dann nicht auf Grund seiner philosophischen Prinzipien. Wenn die Eule der Minerva bildlich bezeichnet, daß der ältere Hegel die Philosophie nur auf die Vergangenheit bezieht, dann ist seine Lehre „faktisch — aber nicht ideell! — , ,konservativ' und quietistisch geworden. Doch hat er (Hegel, H. O.) auch jetzt seine ,liberale' Staatsphilosophie nicht verraten"107.
4.3. Hegel und die Macht des Gewissens (A. v. Trott zu Solz) Adam von Trott zu Solz, ähnlich wie Giese von der Jugendbewegung beeinflußt, aber anders als Giese und Löwenstein Anhänger eines ethischen Sozialismus108, schrieb seine Dissertation über Hegel noch zu einer Zeit, als er sich selbst als Hegelianer verstand. Der erste Teil des Buches soll expressis verbis eine „unkritische" Reproduktion der Hegeischen Staatslehre sein109; der zweite Teil fragt ausschließlich nach der Anwendbarkeit der Hegeischen Lehre auf die eigene Zeit110. Trott zu Solz spielt im großen und ganzen Gieses Darstellung gegen die Machtstaatsdeutung und den Vorwurf der Marionettentheorie aus111. Aber er gibt der Auslegung seine ganz persönliche und durch sein späteres Leben bestätigte Wendung, wenn er den Begriff des Gewissens ins 106
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Strenggenommen möchte Löwenstein zwei politische Janusköpfe aufweisen, den von Reichsidee und Partikularismus und den erwähnten von liberaler Mitte und Sanktionierung des preußischen Staats. op. cit. 52; vgl. auch op. cit. 62, 63 unten. A. v. Trott zu Solz, ein Mitglied des Kreisauer Kreises, das in verschiedenen Missionen in London, Washington und Stockholm um Unterstützung für den Umsturz geworben hatte, wurde durch Freislers Volksgerichtshof verurteilt und am 26. 08. 1944 in BerlinPlötzensee hingerichtet. Eine Kurz-Biographie dieses außergewöhnlichen Mannes gibt der Historiker der deutschen Opposition H. Rothfels, Zum Geleit, in: A. v. Trott zu Solz, Hegels Staatsphilosophie und das Internationale Recht, Göttingen 1932, Neudr. Göttingen 1967, V—XIX; ausführlicher der englische Diplomat Ch. Sykes, Eine deutsche Tragödie. Adam von Trott zu Solz, Düsseldorf-Köln 1969. Trott zu Solz 1932, 9. op. cit. 10. Die Individuen finden im Staat wieder ihr „eigenes" Wesen (op. cit. 41), der Geist (egal ob Volks- oder Weltgeist) ist wieder „durchgehende Immanenz" (op. cit. 54f., 59 Fußnote, 135 Fußnote), die „Idee" kann sich wiederum nur in den Individuen selbst realisieren (op. cit. 108, 11 u. ö.).
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Zentrum rückt. Im „konkreten Wollen", so heißt es, sind individuelle Freiheit und Staat so aufeinander bezogen, daß „der konkrete Einzelwille zum schöpferischen Träger des allgemeinen Weltsinns wird. In dieser Funktion des wahrhaften Gewissens liegt für das Wesen seiner (Hegels, H. O.) ganzen politischen Philosophie eine nicht nur spekulative, sondern weit entscheidendere praktische Konsequenz, wie sie etwa die Auffassung, daß hier das Subjektive . . . zur Marionette herabgewürdigt sei, einzusehen vermag"112. Die Einzelnen werden nicht auf dem Altar der Macht geopfert, sondern in die sittliche, ethisch fundierte und rechtlich reglementierte „Macht" des Staates geht der freie Wille des gewissenhaften Bürgers ein113. Die Lauterkeit der Gesinnung Trott zu Solz' läßt sich nicht bestreiten. Aber kann Hegel als Zeuge für die „Macht" des reinen Gewissens dienen, ein Hegel, der gerade die „schöne Seele" und die Reinheit des guten Herzens im Namen einer Sittlichkeit verspottet, die über dem Gewissen stehen soll? Trott zu Solz freilich versteht „Gewissen" ähnlich wie Hegel nicht als rein innerliche Instanz (etwa einer Kantischen guten Gesinnung), sondern gerade als Gewißheit des Rechten im „äußeren" Leben der Gemeinschaft. Ja Trott zu Solz glaubt sogar an eine durchführbare Parallelität zwischen der Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit und der Transformierung der „bloßen" Ideale Kants in Hegels „äußeres Staatsrecht". Denn auch das Verhalten der Staaten „bestimmt sich grundsätzlich nach dem gleichen praktischen Bewegungsprinzip aller politischen Wirklichkeit aus der Entscheidung des sittlichen Gewissens . . ,"114. Wie Hegel das nur abstrakte Gute Kants in der Sittlichkeit verankert, so konkretisiert er Kants Friedensideal und Völkerrechtsordnung in den „historischpolitischen Gegebenheiten"115. Trott zu Solz konzediert allein, daß manche Ansichten Hegels „zeitbedingt" sind. Die Meinung etwa, den Traktaten zwischen den Staaten fehle der Stoff, weil die souveränen Staatsgebilde in sich ruhen, wurde sehr schnell durch die Geschichte widerlegt, welche die Staaten immer mehr weltwirtschaftlich verknüpfte, eine Entwicklung, die Hegel in der Analyse der bürgerlichen Gesellschaft vorwegnimmt, um sie dann aber in der Staatslehre wieder auszulassen116. Eine Aktualisierung Hegels stößt hier an 112 113 114
115 116
op. op. op. op. op.
cit. cit. cit. cit. cit.
104. 56, 67, 129. 136. 137, vgl. auch op. cit. 77. 51 Fußnote, 80ff.
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ihr größtes Hindernis. Die „liberale Beurteilung des Privatrechtverkehrs" müßte allererst auf die Staatslehre übertragen werden117. Diese Übertragung könne aber, wenn schon nicht nach den Buchstaben, so doch im Geiste der Hegeischen Philosophie stattfinden. Denn Hegel habe sich eine „internationale Rechtsordnung" als „moralisches Ziel" gewünscht. Wenn er das Sollen völlig hätte ausschalten wollen, so lautet das negative Argument, dann hätte er es als „Schein" negiert118. Die Ethisierung der Rechtsphilosophie im Namen des Gewissens kann durch das Zugeständnis einer gewissen Zeitbedingtheit der Hegeischen Lehre ihre Glaubwürdigkeit nicht erhöhen. Wenn es auch Hegels Anspruch war, das Gewissen in die Sittlichkeit hineinzunehmen, so müssen sich Anspruch und Erfüllung nicht decken. Die Akkommodationstendenz des Systems und manche universalistische Züge der Staatslehre, wie sie die Rechtshegelianer aufdeckten119, scheinen eher für eine Überwindung als für eine Konservierung des Gewissens in der Sittlichkeit zu sprechen. Der Hinweis auf das „eigene" selbstproduzierte „Wesen" kann sowenig wie bei Giese die Marionettentheorie ausreichend diskreditieren. Das äußere Staatsrecht widersetzt sich noch stärker dem Versuch einer Liberalisierung. Denn Trott zu Solz überspielt nicht nur die Absage an Kosmopolitismus, Völkerrecht und Humanität, er verschweigt auch, daß die Beziehung der Staaten auf eine „abstrakte" Entgegensetzung zurückfällt, in der nur einander ausschließende souveräne Gebilde sich gegenüberstehen. Die ganze Gedankenentwicklung des äußeren Staatsrechts ähnelt mit der nur abstrakten Anerkennung der Staaten der Problematik des abstrakten Rechts eher als dem Niveau der Sittlichkeit, auf dem die Individuen miteinander „versöhnt" werden120. Angesichts von Kants Kosmopolitismus, Friedensideal und humanitär-aufklärerischer Ein117 118
119
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op. cit. 89f. op. cit. 78. Hier wäre nicht an die preußisch-konservativen, machtstaatlichen oder totalitären Ubertreibungen zu denken, sondern an die Erfassung des geistigen Klimas bei Hegel, das Kant-Fichte, die naturrechtliche Zentrierung um den Einzelnen, den Vertragsgedanken, den Liberalismus etc. hinter sich läßt und dafür den „organischen" Staat und eine Sittlichkeit setzt, welche den „inneren" Maßstab des Gewissens gerade an die Institutionen und ans „Allgemeine" verweist. Nach dem Erreichen der Sittlichkeit, in der Freiheit zur Natur des Selbstbewußtseins und zur „vorhandenen Welt" (Rph 1821, SW VII, § 142) geworden sein sollte, dürfte eine Beziehung atomistischer, sich ausschließender Gebilde in Hegels Konstruktion gar nicht mehr möglich sein. In gewissem Sinn wird sogar die Parallele zum abstrakten Recht noch unterboten, da Hegel die Existenz eines Prätors bestreitet und die zur „Rechtspflege" analogen Organe nicht einmal postuliert werden. Siehe auch IV. 5.1.1.1.
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Stellung kann sich Hegels „äußeres Staatsrecht", um ein Wort Adornos zu gebrauchen, auch „nicht mehr hinter der Naivetät mangelnder geschichtlicher Erfahrung . . . verschanzen"121. Trott zu Solz, der Hegel liberalkonservativ auslegt, kann die Einwände gegen das Hegeische Staatsrecht nicht ausräumen122.
4.4. Sittlich-geistige Macht und moralische Autonomie (H. Heimsoeth) In die Tradition der Gegenkritik an der liberalen Hegelkritik reiht sich auch Heinz Heimsoeth ein. Zwar erinnern Züge seiner Deutung an das „restaurative" Hegelbild mancher neuerer Rechtshegelianer, so vor allem die Glorifizierung der „Genien", die jenseits aller „landläufiger Moralanschauungen" das staatliche „Schicksal" und die politischen „Notwendigkeiten" gestalten123. Aber entschiedener als Binder, Larenz, Häring nimmt er die Verantwortung der welthistorischen Individuen in die Sittlichkeit zurück. Zwar ist der Staat „wesenhaft Macht", aber Macht nicht im Sinne naturhafter Gewalt, sondern als „Macht des Gerechten und Sittlichen"124. Nicht ein übergreifendes Ganzes, sondern ein Wechselverhältnis von Individuum und Allgemeinheit macht den Kern der Hegelschen Politik aus, die zugleich „Moral" sein soll. Nur in Anführungszeichen setzt Heimsoeth Hegels „Universalismus". Der Eigenwert der Person wird nicht dem Ganzen geopfert. Wenn Hegel manchmal das Recht des Staates als das höchste herausstellt, so bedeutet dies nicht die Uberordnung eines naturalistisch konzipierten Organismus über die bloßen Glieder, auch nicht die Majorisierung des Einzelnen, 121 122
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124
Adorno 21970, 331. Beyer klassifiziert das Buch von Trott zu Solz als „volkskonservativ", wogegen noch nichts einzuwenden wäre, wenn dazu der liberale, ums Individuum zentrierte Einschlag mitangegeben würde. Dann ordnet er es aber auch unter die Rubrik „restaurativ" ein, weil Trott zu Solz die „politische Ethik" wiederherstellen möchte. Wenn jede politische Ethik restaurativ genannt werden darf, dann müßte Beyer nicht nur Aristoteles und die ganze Schulphilosophie, sondern auch Hegel selbst als restaurativen Philosophen einstufen, was ihm aber fern liegt. Schade, daß Beyers manchmal so informatives Buch dauernd solche Verkürzungen enthält. Beyer 21967, 136. Beyer hat dieses Mal wohl recht, Heimsoeth insgesamt beim „restaurativen" Hegelzugang einzuordnen. Sieht man jedoch den Aufsatz allein, dann läßt sich eine Zuteilung zur Mitte noch vertreten, trotz des Wandeins auf „schmalem Grat", das Heimsoeth ä la Mussolini den „Genien" zuschreibt. Beyer 21967, 131 f. H. Heimsoeth, Politik und Moral in Hegels Geschichtsphilosophie (1934/35), in: Studien zur Philosophiegeschichte (= Kant-Studien, Ergänzungshefte Nr. 82), Köln 1961, 35. op. cit. 26.
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Die Rehabilitation Hegels im Licht der westlichen Demokratievorstellungen
der dem quantitativen Überwiegen der Interessen vieler untergeordnet würde125, und schon gar nicht eine Vergöttlichung des omnipotenten Staates wie bei Hobbes126. Hegels Überwindung der „Moral" hat nur den Sinn, eine private und unpolitische Lebensform im Staat und in der Sittlichkeit zu verankern, in denen allein sie realisierbar wird127. Heimsoeth erkennt die Wechselbestimmung von Individuum und Geist, die eine Abwertung der Individuen zu bloßen „Akzidenzien" und „Modi" der Substanz verhindert. „Das Leben und der Geist . . . sind nicht unpersönliches Walten einer abstrakt-allgemeinen Vernunft, die in ihrer Realisation nur gleichsam äußerlich an Ichpunkten ansetzen . . . muß; sondern zum Wesen des Geistes und seines Selbstwerdens gehört das Eindringen und Hindurchgehen durch das individuelle Selbstbewußtsein"128. Der Staat, der als sittliche Substanz die sittlichen Entscheidungen fundieren können soll, muß in der modernen Zeit von seinem eigenen Wesen her die Autonomie der Einzelnen als ein Extrem und als belebende Seele seiner Institutionen akzeptieren129. Wie die Einzelnen nur im Staat sittlich leben können, so kann der Staat in der Moderne kein Leben mehr haben ohne die Anerkennung der unendlichen Autonomie der Individuen. Ganz das Gleiche aber gilt von der Weltgeschichte, von deren „lautem Lärm" Hegel Moralität, Sittlichkeit und Religiosität ausdrücklich ausnimmt. Nie war für Hegel das unendliche Recht der Einzelnen bloßes „Moment"130.
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op. cit. 27. „Hegels ,universalistische' Staatslehre stellt, zufolge ihres Fundaments im ethischen Idealismus der Freiheit als personaler Autonomie . . . gerade einen äußersten Gegensatz dar zu dem Staatsgedanken etwa eines Hobbes . . .", op. cit. 39. op. cit. 29, 41 u. ö. op. cit. 33, 39. op. cit. 38f. „Gerade die Lehre vom Staat als sittlicher Substanz fordert in der Vollendung des Gedankens von der , unendlichen subjektiven Substantialität der Sittlichkeit' grundsätzlich individuelle Autonomie . . .", op. cit. 39. op. cit. 40f. Heimsoeth beruft sich auf die §§ 5, 35, 105, 108, 124, 125, 135, § 185Z der Rph von 1821 und vor allem auf die Passagen in der Geschichtsphilosophie, SW XI, 64, 68. Wir werden sehen, daß die Aufzählung von Hegeischen Äußerungen nicht weiterhilft, da sich pro und contra den Universalismus beliebig lange Listen von Zitaten aufstellen lassen.
Die Apologie des modernen Rechtsstaates durch die Hegeische Mitte
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5. Hegel als Lehrer des „modernen" Rechtsstaates oder die Rehabilitation Hegels im Lichte der westlichen Demokratievorstellungen Rosenkranz hatte noch als Einzelgänger Hegel brav gegen Angriffe von allen Seiten verteidigt, nach Rosenzweig fanden sich nur noch spärliche Belege für eine Hegelapologie bei Giese, Löwenstein, Trott zu Solz und anderen. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber hat sich die Szene völlig gewandelt. Rechtshegelianische Interpretationen sind gänzlich verschwunden, neben die marxistische Hegelauslegung tritt als akademisch einflußreichste Tradition eine starke Schule der Hegeischen Mitte, die nicht nur in Deutschland, sondern in fast allen westlichen Ländern Hegel „liberal" auslegt und in ihm den Lehrer des „modernen" Staates und den Philosophen von Recht und Freiheit erblickt.
5.1. Hegel als Liberaler und „Beinahe-Demokrat" in der historischen und systematischen Hegelapologetik Frankreichs Ahnlich wie die deutsche und angelsächsische Geschichte der Hegelinterpretation hat auch die französische mehrere Phasen durchlaufen, von der zeitweiligen Hegelbegeisterung Cousins über die Jahre, in denen Hayms Hegelbuch die Diskussion dominierte, über die unterschiedlich starke Hegelrezeption bei Vera, Taine oder Renan bis zu jenen Interpreten, die sich auch in Frankreich als Kritiker eines Bismarck vorwegnehmenden Hegel oder als Apologeten eines liberaleren Hegelbildes gruppieren ließen131. So prägte nach Ausbruch des Krieges von 1870/71 131
Über all diese Phasen berichtet informativ B. Knoop, Hegel und die Franzosen, Stuttgart-Berlin 1941. Vielleicht gerade auf Grund seines faschistischen Vorurteils, das Knoop an den Herrschaftsanspruch des germanischen Geistes wie an einen den NaziStaat antizipierenden Hegel glauben läßt (op. cit. 52), arbeitet Knoop das Wechselspiel zwischen französischer Hegelbegeisterung und der Abwehr „germanischer" Überfremdung gut heraus. Knoop beschreibt Cousin, der noch Militärwesen und Philosophie für das „letzte Wort" eines Volkes hielt (op. cit. 72, 68ff.), ferner den Baron Barchou de Penhoen, der im Sinne der Linkshegelianer eine Allianz DeutschlandFrankreich propagierte, weiterhin Willm, Charles de Remusat, den Hayms Kritik übernehmenden Scherer, Vera, Neffzter, die Kritiker des Bismarck-Hegel: Caro, Beaussire, Vermeil, Andler, Delbos, die sich gegen die „romantische" deutsche Überfremdung verwahrenden Reynaud und Lasserres, schließlich Lucien Herr, Basch, Taine, Renan sowie die Repräsentanten der neuen mit der Phänomenologie, Logik und Religionsphilosophie befaßten Hegelrenaissance wie Wahl, Hippolyte, Koyre u. a. m. (op. cit. 3lff.,68ff.).
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Die Rehabilitation Hegels im Licht der westlichen Demokratievorstellungen
Caro die bezeichnende Formel von den „deux Allemagne", die angesichts der Verherrlichung von Krieg und Gewalt sowie der Heiligung von Macht und Erfolg zu unterscheiden seien, zwei Bilder Deutschlands, auf denen als Gruppe einmal „Kant, Goethe, Beethoven" und ein anderes Mal „Friedrich II., Bismarck und Hegel" erscheinen132; so benutzt Charles Andler 1917 den Begriff des „pangermanisme"133, in dem sich die Vorwürfe gegen die Philosophie kristallisieren, die nur, wie man meinte, das deutsche Machtstreben geistig legalisierte; und so beginnt die Hegelapologie bereits 1921 mit dem Buch von Victor Basch, der Hegel wieder näher an Aufklärung und französische Philosophie rückt und ihn vor dem Vorwurf des „pangermanisme prussien" sowie vor der Anklage des Bellizismus zu bewahren versucht134. Die große Zeit der Hegelapologie schlug jedoch in Frankreich wieder analog zu Deutschland und England-Amerika erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als man begann, Hegel mit einer in Frankreich noch nicht dagewesenen Vehemenz zu „liberalisieren".
5.1.1. Säkularisierte Politik und preußische Reformen (E. Weil) Die folgenreiche Geschichte der Hegelvereinnahmung beginnt in Frankreich mit den Studien von Eric Weil, die zwei Ziele verfolgen: eine subtile Auslegung des Verhältnisses von Religion und Politik bei Hegel und eine historische Argumentation, die sich nicht des altbekannten Differenzargumentes bedient, sondern in kühner Wendung Hegel direkt mit den fortschrittlichen Bestrebungen des reformerischen Preußen verbindet. Für Eric Weil ist die Philosophie Hegels an der entscheidenden Stelle in der Geschichte des politischen Denkens beheimatet, an der die Säkularisierung der Politik schon den „politischen Atheismus" ahnen läßt. In einer Kojeve verwandten Sehweise (jedoch ungleich ausgewogener) zergliedert Weil den Problemkreis von Politik und Religion bei Hegel so, daß er Hegel das Christentum (die Religion der Freiheit des Individuums) als historische Größe anerkennen, zugleich aber als eine geschichtliche Macht
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Knoop 1941, 40. Ch. Andler, Le pangermanisme philosophique, Paris 1917. V. Basch, Les doctrines politiques des philosophes classiques de l'Allemagne, Paris 1927. Ein näheres Eingehen auf diese Traditionen wollen wir uns ersparen, sie werden nur erwähnt um anzudeuten, daß sich der Raster unserer Einteilung der Interpretationen auch an der Geschichte der französischen Hegeldeutung bewähren könnte.
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auffassen sieht, die ihre Aufgabe bereits erfüllt hat und eigentlich mehr als Philosophie, als „Gedanke", denn als Lebensform weiterexistiert135. Es hat also einen guten Sinn zu behaupten, Hegel sei ein christlicher Philosoph und zugleich ein nach-christlicher Denker. Dem Inhalt nach sind für Hegel Religion und Philosophie identisch, nicht aber der Form nach. Denn die Religion besitzt nur im Gefühl, was die Philosophie in Gedanken begreift. Damit aber, so meint Weil, kann nur noch die Philosophie über die Wahrheit des gemeinsamen Inhalts entscheiden136. Wie für Rosenzweig und für Giese folgt auch für Weil aus der christlichen Fundierung der Politik ihr „moderner" freiheitlicher Sinn, der gar nichts mit der Verherrlichung des Faktischen gemein hat. Der Staat hat nach der Französischen Revolution die christlichen Freiheitsansprüche realisiert. Weil dies so ist, darf er als „vernünftiger" apostrophiert werden, oder umgekehrt, das Christentum darf als „Kriterium" dienen, „mit dessen Hilfe die Vernünftigkeit und ,Modernität' jedes gegebenen Staates sich bestimmen läßt"137. Der christliche Glaube wird nicht totaliter zur abgelebten Gestalt eines vergangenen Geistes. Für den Einzelnen bleiben Vorstellung, Anschauung und Gefühl der „natürliche Zugang" zum Absoluten. Der Staat hat auch keinerlei Legitimation, die Religion als Privatangelegenheit eines jeden Bürgers zu kontrollieren oder zu beaufsichtigen. Für das Verhältnis des Staates zur Kirche, die nicht mehr nur innerliche Privatsache, sondern sich im Staat organisierende Gemeinde ist, ergibt sich freilich eine andere Konsequenz. Daß der Staat das Christentum prinzipiell verwirklicht hat, hat nämlich auch den Sinn, daß er nicht „gegen das Prinzip des Christentums", aber „nach" ihm ein höheres Recht beanspruchen darf138, wohlgemerkt nicht gegenüber der Innerlichkeit und der Privatreligion, aber gegenüber der sich in der Welt und im Staat realisierenden Kirche. Denn das staatliche und das gesellschaftliche Leben hat sich durch die Einlösung der christlichen Ideale auch endgültig von der Religion emanzipiert. „Auf der Ebene des gesellschaftlichen und politischen Lebens", formuliert Weil
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E. Weil, Die Säkularisierung der Politik und des politischen Denkens in der Neuzeit, in: Marxismus-Studien IV, Tübingen 1962, 151. In welchem Sinn der Begriff „Säkularisierung" überhaupt auf Hegels Philosophie angewendet werden darf und inwieweit Weils (und Löwiths verwandte) These (z. B. Löwith 31969, 48) anderen Deutungen standhält, wird noch geklärt (siehe vor allem IV. 6.2.3.). op. cit. 149. op. cit. 152. ebd.
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pointiert, „hat das Christentum seine Rolle gespielt, aber auch ausgespielt"139. Die anspruchsvolle theologisch-politische Sehweise der zweideutigen Säkularisierung der Politik wird schon in Weils Hegelbuch angedeutet, zentral ist sie dort leider nicht140. Statt dessen unternimmt Weil den historischen Gewaltstreich, Hegel mit einem rein progressiven Preußen zu liieren. Akkommodation, so lautet sein Grundargument, scheidet aus, weil Preußen 1820/21 gar kein reaktionärer Staat gewesen ist. Eine vielversprechende Perspektive kann Weils Fragestellung freilich nur dann sein, wenn man wie Weil selber bereit ist, von vorneherein zwei Reduktionen mitzumachen. Einmal muß man im Akkommodationsproblem den Kern aller Vorwürfe gegen Hegels politische Philosophie erblicken141, zum anderen muß man Marx und Engels für die einzigen Hegelapologeten halten, die Hegel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verteidigt haben142. Weil kennt offensichtlich von Rosenkranz nur die „Apologie Hegels gegen Dr. Rudolf Haym", nicht aber die anderen Schriften, welche zusammengenommen die Hegelverteidigung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausmachen. Rosenkranz' Differenz- und Kontinuitätsargument erübrigen Weils Versuch einer Hegelentlastung durch eine liberale Verklärung des Preußens von 1820/21; Marx und Engels können aber nur als Kronzeugen einer solchen Apologie gelten, die das systematische Niveau der alten Kritik gar nicht diskutieren will. Denn freilich hat Marx ganz entschieden die moralische und psychologische Besserwisserei der Akkommodationskritiker angegriffen, und auch Engels hat sich burschikos, im Kasinoton, gegen die Unverschämtheit gewandt, „einen Kerl wie Hegel mit dem Wort: ,Preuß' abfertigen zu wollen", aber beide haben gerade die systematische Seite dieser Kritik am abgeschlosse139
op. cit. 151 Fußnote. Genaugenommen schneiden sich bei Hegel sogar drei Motive, das antichristliche der totalen „ Laizisierung" des sozio-politischen Lebens, das antiklerikale „in der antikatholischen Einstellung" und das atheistische, das Gott in der Welt „rein weltlich" existieren läßt und seine Uber-Existenz nur noch im Gedanken konzediert, op. cit. 152ff., 157. 140 E. Weil, Hegel et l'fitat, Paris 1950, 47ff. 141 „Comme Platon est l'inventeur des idees . . . comme Aristote est l'homme de la logique formelle . . . Descartes, le heros de la clarte, Kant, le rigoriste, Hegel est l'homme pour lequel l'fitat est tout, l'individu rien, la morale une forme subordonnee de la vie de l'esprit: en un mot, il est l'apologiste de l'fitat prussien" (Hervorhebung, H. O.), op. cit. 11. 142 Als Beleg dient Weil der Brief von Engels vom 8. Mai 1870 und der von Marx vom 10. Mai 1870, op. cit. 15 Fußnote; beide Briefe in: MEW Bd. 32, 500ff.
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nen, vertheoretisierten und die Empirie logifizierenden System mitunterschrieben und sogar ausgebaut143. Weil sieht die ganze Problematik durch die Brille des Historikers; wie später bei Jacques d' Hondt werden Belege gesammelt für die Liberalität des preußischen Staates bzw. die Einstellung Hegels, der auf einmal mit Stein und Hardenberg in dieselbe Ahnengalerie gestellt wird. Hegels Preußen, so erfährt es der staunende Leser, der an Rüge oder Haym denkt, war „un Etat avance" „comparee a la France de la Restauration ou a l'Angleterre d' avant la Reforme de 1832, ä l' Autriche de Metternich . . ,"144. Erst nach 1830 (!) wird die Reformphase durch die konterrevolutionäre Entwicklung abgelöst145. Hegel, so läßt sich folgern, hat sich ganz zu Recht (etwa in seiner Antrittsrede) auf Preußen als Beispiel eines modernen, auf Freiheit gegründeten Staates berufen. „En 1830 comme en 1818, Hegel considere done la Prusse comme l'Etat moderne par excellence (ce qui semble exact du point de vue de l'historien) et la voit ainsi parce qu'il la voit fondee sur la liberte"146. Weils Auslegung basiert auf einer Textparaphrase, die den Freiheitsund Rechtsstandpunkt der Hegeischen „modernen" Staatslehre immer wieder herausstellt147. Gegen die Verwechslung mit einer Glorifizierung des Bestehenden sticht das Wirklichkeits-Existenz-Argument148, gegen die Anklage einer Verherrlichung der Macht Hegels Kritik an der Gewalttheorie eines von Haller, dessen Macht des Stärkeren und dessen Naturalismus Hegel durch einen Rechtsstaat ersetzt, der auf dem Vernunftrecht basiert149. Nun muß Weil die Tatsache befremden, daß im äußeren Staatsrecht das Wort „Macht" in anderer Bedeutung auftaucht, als er sie glaubhaft 143 144
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Siehe hier II. 1.2. und H. 2; MEW Bd. 32, 501. Weil 1950, 19. Das Preußen der Reform besitzt alle Errungenschaften der Revolution: „la propriete terrienne devient alienable (ä seule exception des majorats), les paysans sont liberes, les corvees supprimees presque partout, les villes leur autonomie administrative, les dietes provinciales sont reformees et reformees, la plus grande partie des droits de la noblesse abolie, la science affranchie du contröle immediat de l'Etat, l'armee de metier transformee en armee populaire. En somme, presque toutes les acquisitions de la Revolution sont octroyees au peuple de Prusse.", op. cit. 18. op. cit. 19. op. cit. 22. op. cit. 27, 29, 31 ff., 46: „la conscience morale est aufgehoben, sublimee, realisee, maintenue . . .", die Aufhebung des Christentums als der Religion der Freiheit im Begriff der Philosophie, op. cit. 47ff.; op. cit. 103 u. ö. op. cit. 25. „L'essence de l'Etat est la loi, non point la loi du plus fort . . . mais la loi de la raison . . .", op. cit. 52.
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machen will. Während Giese die dialektische Geiststruktur auch für das Staatsrecht reklamierte und Trott zu Solz die sittliche Entscheidung auch hier noch garantiert sah, schlägt Weil eine andere, naheliegende Strategie ein. Was Historiker wie Droysen gelehrt hatten und was wohl auch dem common sense Verständnis von Macht weitgehend entspricht, Macht als eine Tatsache, das und nicht mehr soll auch Hegel behauptet haben. Daß Staaten amoralisch handeln, sei eine „Möglichkeit", die Hegel parallel zur Möglichkeit des moralischen Subjekts zum Guten oder Bösen feststelle150; das fehlende Völkerrecht konstatiert Hegel analog151, und die gleich nüchterne Sprache der facts kennzeichnet Hegels Haltung gegenüber dem Nationalstaat. „Hegel a justifie l'Etat national et souverain comme le physicien justifie l'orage: en comprenant ce qu'il y a de raison dans le phenomene; et puisqu'on n'a jamais accuse les physiciens d'etre opposes ä l'installation des paratonnerres, il serait injuste d'imputer a Hegel une doctrine du quietisme politique"152. So verführerisch diese Reinwaschung Hegels prima facie sein mag, sie kann nicht genügen, Hegel wieder mit dem Weltbürger Kant in eine Reihe zu setzen. Topitsch hat schon darauf verwiesen, daß der Vergleich mit der Einstellung des Physikers hinkt. Ein Physiker wird kaum „Betrachtungen über die Vernünftigkeit des Gewitters oder des Blitzes" anstellen153. Was für den Physiker sinnlos ist, so können wir Topitsch ergänzen, ist für den Moralphilosophen aber gerade die eigentliche Aufgabe. Ein Gewitter kann niemand sinnvoll loben oder tadeln. Handlungen und Institutionen aber unterliegen den Maßstäben der Moral. Wie Hegel dazu kommt, Handlungen und Institutionen wie Naturereignisse darzustellen, das wäre allererst zu klären und nicht als Teil einer Entlastungsstrategie zu verwenden. Weils Untersuchung, immer wieder der Bezugspunkt anderer liberaler Hegelverteidigungen, kann nur partiell leisten, was sie leisten sollte. Zwar ist die Auslegung im Sinne der zweideutigen Säkularisierungstendenz der politischen Philosophie subtil, zwar gelingt es Weil, eine Vielzahl von Belegen zu sammeln, aus denen hervorgeht, wie Hegel das unendliche Recht der subjektiven Freiheit in seine Staatslehre einzubringen gedenkt. Aber Weil verkürzt das Universalismusproblem auf die Akkommodationskritik, diese noch einmal auf ihre historische Nebenbedeutung. Und selbst 150
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op. cit. 75. „II ne dit pas que cet etat des choses soit un etat parfait, il n'en prend pas la defense; il constate et il comprend", op. cit. 77. op. cit. 78. Topitsch 1970, 351 Fußnote.
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in diesem Metier, der historischen Ausleuchtung der preußischen politischen Bühne, fixiert Weil den Scheinwerfer nur auf eine Seite. Weils Bild des reformerischen „£tat avance", so könnte man es auch ausdrücken, spiegelt nur die eine Seite des preußischen Vexierbildes. Zwar lassen sich die Reformbestrebungen auch noch im Preußen der Jahre 1820/21 aufspüren, aber da ist noch das andere Preußen, das nicht erst unter den alten Farben des Reformpreußens hervorgekratzt werden muß, sondern die alte Bemalung gerade mit den neuen Motiven der Restauration zu überdecken beginnt, ein Preußen, das auf die Politik der Karlsbader Beschlüsse einschwenkt, eine unglaublich strenge Zensur durchsetzt, die Turner und Wartburgredner verfolgt, ein Preußen, in dem ein Humboldt resigniert und ein Altenstein und Hardenberg sich anpassen müssen, „um vielleicht doch noch zu retten, was zu retten war"154. Seit Hayms Darstellung des doppelgesichtigen Preußens sollten Versuche, Hegel zu exkulpieren, indem man Preußen einseitig liberalisiert, eigentlich nicht mehr unternommen werden. Preußen war 1820/21 noch immer der Staat der Stein-Hardenbergschen Reformen, es war zugleich der Staat der einsetzenden Restauration. Aber selbst wenn Weil das Preußen Hegels historisch zuverlässiger geschildert hätte, viel Argumentatives ergibt sich für eine philosophische Deutung Hegels daraus nicht. Rosenkranz' Differenz-Argument, das zeigt, wie das tatsächliche Preußen und Hegels Staatslehre auseinanderklaffen, hat (im Verein mit dem Kontinuitätsargument) sowohl der Hegelverteidigung durch eine Liberalisierung Preußens als auch der Hegelkritik durch den Hinweis auf das restaurative Preußen weitgehend die Basis entzogen. Weils verschwiegene Absicht läßt seine Strategie, wenn schon nicht argumentativer, dann vielleicht doch verständlicher erscheinen. Es ist dies die heute so weit verbreitete Vorgehensweise, die Hegel am liebsten zum Liberalen oder Demokraten ernennen möchte, der sich nicht prinzipiell von den Vertragstheoretikern und den Vätern der westlichen Demokratie 154
Iltings Kritik an Weil, welche den Beginn der Restaurationsphase bereits 1819 „mit den Karlsbader Beschlüssen und der Entlassung Humboldts" ansetzt (I, Bd. L, 96), ist zuzustimmen; seine eigene, Hegel doppelsinnig (als im Grunde liberal, sich aber dennoch 1819 akkommodierend) auslegende Interpretation könnte allerdings einer ähnlichen Fixierung auf die historische Perspektive der Akkommodation aufsitzen wie Weils einseitige Darstellung der preußischen Zustände. Ob dies allerdings der Fall ist, soll erst der zweite Band klären, wenn die verschiedenen Editionen der Rechtsphilosophie interpretiert werden und sich die These von der Akkommodation von 1819 vor dem Kontinuitäts- und Differenzargument bewähren muß.
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unterscheidet. Zwar konzediert Weil noch widerwillig, daß das Preußen zur Zeit Hegels kein demokratischer Staat gewesen ist155, aber den Titel eines „modernen" Rechtsstaates soll es doch schon beanspruchen dürfen. Wie die Menschen in den modernen Staaten in Freiheit an der Kontrolle der Staatsorgane und an Entscheidungen teilnehmen, so sind ihre Rechte in Hegels Staat bewahrt. Man dürfe also sagen, „la theorie hegelienne de l'Etat est correcte parce qu'elle analyse correctement l'Etat reel de son epoque et de la notre"156.
5.1.2. Antikisierende Politik und freiheitlicher Staat (E. Fleischmann) Seit Weil wird unter Hegels „modernem Staat" ein Rechtsstaat westlicher Provenienz verstanden, der Freiheit und Recht der Individuen garantiert. Eugene Fleischmann, ein Schüler Weils, setzt diese „Demokratisierung" Hegels entschlossen fort, indem er gleichfalls Preußen und Hegels Staatslehre mit einem liberalen Anstrich übertüncht, unter dem die Restauration nicht mehr durchscheinen kann. Hegels „F_tat moderne" ist nämlich „edifie sur les cendres de la Revolution francaise . . ,"157. Fleischmann verfolgt die ehrenwerte Absicht, seine und Weils These in Form eines Kommentars zu demonstrieren. Hand in Hand mit dieser löblichen Konzeption geht allerdings die wenig empfehlenswerte Methode, ohne Rücksicht auf die Sekundärliteratur, den Text für sich „sprechen" zu lassen. Daraus ergibt sich dann mit einer gewissen Zwangsläufigkeit eine farblose Paraphrase der Paragraphen, die sich dort, wo sie sich exponiert, auch sofort an die spärlichen sekundären Quellen wie Weil und Knox anlehnt158. Wie Weil es schon bewiesen haben soll, hat Hegel keine „apologie de l'Etat prussien" geliefert159. Denn Hegel sieht das politische Leben seiner Zeit ,,ä la lumiere du nouveau principe que la Revolution frangaise a realise 155
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„La Prusse n'etait, certes, pas un £tat democratique au sens moderne . . .", Weil 1950, 19. op. cit. 71 und 70. E. Fleischmann, La philosophic politique de Hegel. Sous forme d'un commentaire des fondements de la philosophic du droit, Paris 1964, III. Kommentare, die ähnlich zuverlässig sein sollten wie Aristoteles-Kommentare, werden gerade bei Hegel nicht ohne eine Katalogisierung der Deutungen auskommen können. Wenn die Texte eines neueren Philosophen nicht von der Wirkungsgeschichte abtrennbar sind, dann gewiß die Hegels. op. cit. 7.
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pour la premiere fois: la liberte de l'individu . . ."16°. Am „tournant decisif", am Übergang von Moralität in Sittlichkeit bewahrheitet sich Hegels Anspruch, subjektive und objektive Freiheit zu versöhnen161, wie dann auch der Staat die subjektive Freiheit respektieren muß162. Hegels Anerkennung der „monarchic constitutionnelle" bedeutet eine Parteinahme für die Rechte der Person163, sie demonstriert zugleich, daß Hegel sich nicht der absolutistischen Politik Friedrich Wilhelms III. anpaßte, sondern ihr sogar entgegentrat164. Fleischmann reproduziert also Weils These, mit der leichten Verschärfung, Hegel nun fast schon eine Widerstandsrolle gegen die preußische Politik zuzutrauen. Allerdings überzeugt diese Ausstellung eines „Persilscheins" genausowenig wie bei Weil. Durch eine bloße Paraphrase der Rechtsphilosophie von 1820/21 wird sich Hegels Souveränitätslehre kaum klären165. Das äußere Staatsrecht mit seinen rechtshegelianisch so beliebten Lehren vom Krieg, vom Naturzustand der Staaten und vom bloßen Sollen des Völkerrechts verteidigt Fleischmann sogar noch ungeschickter als sein Lehrer Weil. Der geistige Wert des Todes im Kriege166 ist doch ein schlechter Trost für den Naturzustand zwischen den Staaten, und die Lehre vom Guten, das sich nicht ohne das Böse realisieren kann (die Freiheit eines Staates nicht ohne den Krieg und die Gewalt), ist keine Selbstverständlichkeit, sondern gerade das zu erklärende Ärgernis.
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op. cit. 6; vgl. op. cit. 16, 23, 176, 371. op. cit. 179ff. 162 op. cit. 255ff.; z. B. „. . . le röle de l'Etat consiste ä donner libre cours ä l'evolution personelle des citoyens et ä leurs interets particuliers . . .", op. cit. 262; vgl. op. cit. 269. Fleischmann geht sogar einmal soweit, Hegel Stimer und Marx vorwegnehmen zu sehen, weil er (etwa am Beispiel der Antigone oder Sokrates') den Widerstand des moralischen Subjekts gegen „normal degradation" anerkannt habe, E. Fleischmann, The role of the individual in pre-revolutionary society: Stirner, Marx, and Hegel, in: Pelczynski 1971, 228/29. 163 Fleischmann zählt auf „le droit de propriete, les libertes individuelles, les droits sociaux — droit au travail et liberte d'association — et finalment le droit des autorites locales ä exercer leurs functions dans le cadre determine par la loi", Fleischmann 1964, 297; ähnlich 30If., 304,308. 164 Zum § 268 der Rechtsphilosophie von 1821 meint Fleischmann: ,,11 serait difficile de lire dans ce passage une apologie du regime de Frederic-Guillaume III, monarque qui refusait systematiquement toute idee de constitution", op. cit. 313. 165 K.-H. Ilting, Rezension: E. Fleischmann, La philosophic politique de Hegel, in: HegelStudien Bd. 3 (1965), 391. 166 £)er TOCJ nat m-cnt die Bedeutung eines Naturereignisses, sondern die einer „signification", „le sacrifice volontaire de leur vie pour defendre une ,valeur': la liberte", Fleischmann 1964, 341. 161
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Fleischmann geht mit leichter Hand über die Probleme des äußeren Staatsrechts hinweg. Sein ganzer Kommentar, so löblich er der Idee nach ist, wäre auch als bloße Reproduktion der Gedanken Weils kaum von Interesse, wenn Fleischmann nicht eine wichtige alte Leseweise der Hegelschen Staatslehre in Erinnerung gebracht hätte, den Zusammenhang von Hegels Politik und klassischer politischer Lehre. „Hegel est le dernier representant de la philosophic politique classique — celle des Grecs —, il a encore ose penser que la ,chose publique', la politique, est un ,but en soi£ . . . Pour lui comme pour Aristote, c'est uniquement dans l'fitat que l'on peut changer la vie en un ,bien-vivre', en une vie sensee, differente de celle des animaux"167. Hegels Nähe zu Aristoteles erlaubt ähnlich wie die christliche Fundierung der Politik den Schluß auf Hegels nicht-reaktionäre Position. Die Uberordnung des Staates über die Gesellschaft hat im Lichte dieser Einsicht nicht den Sinn, den autoritären Staat gegen den Nachtwächterstaat auszuspielen, sondern die politische Gemeinschaft soll als Sphäre des von der Gesellschaft als dem Bereich des bloßen Lebens abgespalten werden. Nicht autoritärer Staat und liberalistisch freie Gesellschaft, sondern Gemeinschaft des Überlebens gegen Gemeinschaft des guten Lebens, das ist das relevante Gegensatzpaar. Hegel möchte Ethik und Politik wieder vereinen, seine „Sittlichkeit" erinnert an das Wortspiel von und , seine Arete ist wieder eine 168 Mitte und eine „zweite" Natur genauso wie der Staat wieder als ein Selbstzweck gilt. Fleischmann erkennt diese Parallelen, ohne jedoch ihre ganze Tragweite politisch umsetzen zu können. Es wird noch weiterer Anregungen bedürfen, bis die Rolle der Antikisierung für die Einschätzung der Relation von Moralität und Sittlichkeit wie auch für die Beziehung von Gesellschaft und Staat in ihrer ganzen Bedeutung absehbar wird. Wie verträgt sich die Antikisierung der Ethik mit der Kritik am nur substantiellen Standpunkt des Plato und Aristoteles? Und restauriert nicht Hegel die alte Trichotomie von Ökonomie, Ethik und Politik auf dem Boden einer gewandelten politischen Landschaft? Hat sich zwischen die Ethik und die Politik nicht die moderne Ökonomie genauso geschoben wie die Gesellschaft zwischen den Einzelnen und den Staat?
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op. cit. III. op. cit. 168, 180, 192 ff.
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5.1.3 Freimaurerei und (heimlicher) politischer Widerstand (J. d'Hondt) Die Interpretationen von Fleischmann und Weil kulminierten nicht in philosophischen, sondern in historischen Argumenten, wie sie noch stärker Jacques d'Hondt einzusetzen weiß. In minutiöser Kleinarbeit hat er Belege ausfindig gemacht, welche die revolutionäre Einstellung des jungen Hegel dokumentieren sollen169, und mit gleicher Akribie hat er die politischen Aktivitäten des Berliner Hegel durchforscht, um zu demonstrieren, daß wenigstens seine Taten die Liberalität eindeutig offenbaren, die seine Worte manchmal verdecken170. Es sind vor allem französische Quellen171, und hier zur Überraschung des Lesers vor allem solche aus dem Umkreis der Freimaurerei, aus denen sich nach d'Hondt die Ansichten des jungen Hegel speisen. So informiert etwa die Zeitschrift „Minerva" Hegel über die Französische Revolution172, die „Minerva" wiederum ist mit der girondistischen „chronique du mois" in Verbindung zu setzen, diese erscheint im freimaurerischen Verlag des „Cercle social". Das ist der Stil, in dem d'Hondt argumentiert; Hinweise auf mögliche persönliche Kontakte oder Querverbindungen in der Lektüre, die sich manchmal erst über mehrere Bezugspunkte erschließen. Der Stiftler Reinhard, der unter dem Direktorium zum Außenminister der Republik avancierte, Oelsner, der Verfasser der „Historischen Briefe aus Paris über die Begebenheiten in Frankreich"173, bayrische Illuminaten und andere Geheimbündler174, die Familie Gogel, der Hölderlinfreund Sinclair, Ehrmann, Hufnagel, Windischmann, Kastner, Günderode und so mancher andere (wie Niethammer, Frommann, Johannes Schulze) kommen als mögliche Kontakte Hegels mit der Freimaurerei ins Spiel175. Das Gedicht „Eleusis"176, die Phänomenologie, gelesen als Bildungsroman im Stile des 169
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J. d'Hondt, Hegel secret. Recherches sur les sources cachees de la pensee de Hegel, Paris 1968. J. d'Hondt, Hegel in seiner Zeit. Berlin, 1818-1831, Berlin 1973. So übernehme Hegel die Kritik am Privateigentum, das die fraternite der lebendigen Gemeinschaft behindert, von Bonneville, die Melancholie über den Untergang der alten Reiche beim Anblick ihrer großen Ruinen von Volney, die Phänomenologie der Revolution von Rabaut de Saint-Etiennes' „Almanach historique de la Revolution frangaise pour l'annee 1792", das Scheitern der christlichen Liebesreligion von Mercier, d'Hondt 1968, 53ff.,83ff., IHff., 154ff. op. cit. 7ff. op. cit. 14-23. op. cit. 44-83. op. cit. 282ff. op. cit. 227ff.
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Wilhelm Meister177, die Begriffe „Licht, Liebe, Leben", berühmt durch die Grabinschrift Herders und durch seinen Vers „Licht, Liebe und Leben hervorzuzaubern, ist das Ziel der Freimaurerei"178, Phönix-Symbol179, Proteus-Bild und Isis-Kult180, die „Rose im Kreuz"181, die „Eule der Minerva"182 und vielleicht sogar die „unsichtbare Kirche"183 (= die Loge) lassen sich als Anleihen aus der Bilder- und Gedankenwelt der Freimaurerei konkretisieren. Jacques d'Hondts Suche nach den verborgenen Quellen des Hegelschen Denkens zehrt vom Faszinosum der Detektivarbeit. Die primär ethisch-politische Zielsetzung des Tübinger und Berner Hegel scheint die Geistesverwandtschaft mit der Freimaurerei genauso zu bezeugen wie Hegels Affekt gegen jede nicht durch Vernunft autorisierte Religion. Wie Lessing kämpft der junge Hegel für religiöse Toleranz, wie die Freimaurerei hat er den Republikanismus und Demokratismus auf seine Fahnen geschrieben. D'Hondts Belege können freilich die Last der Deutung nicht ganz tragen184. Hegel in die Loge aufzunehmen hat zwar den Vorteil, der Suche nach verborgenen Quellen die Krone aufzusetzen (denn durch die freimaurerische Pflicht zur Geheimhaltung wird gleich noch im Stile einer Verschwörungstheorie die Begründung dafür mitgeliefert, warum der Autor sich selbst nicht offenbart), aber zuviel in Hegels Gedankengängen widerspricht dieser These. In Tübingen (wie auch ab Jena) läßt sich Hegels Ablehnung des Kosmopolitismus nicht mit dem Ideal eines allgemeinen Menschheitsbundes vereinen. Was Hegel damals am Christentum be177 178 179
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op. cit. 308-313. op. cit. 308. op. cit. 315. op. cit. 318ff. op. cit. 321. op. cit. 322. op. cit. 239ff., 325ff. Eine Entscheidung über d'Hondts Theorie läßt sich, gerade was die wichtige Frage nach der Herkunft solcher Begriffe wie „unsichtbare Kirche" angeht, nur in Auseinandersetzung mit der konkurrierenden Pietismus-These fällen, welche vorgibt, die meisten Bilder und Begriffe des jungen Hegel genauso erklären zu können. D'Hondts Vermutungen, denen sich auch Scheit weitgehend anschließt (Scheit 1973, 22ff.), sollen erst am Text endgültig überprüft werden (Bd. II., II. 4.). Pöggeler scheint jedoch die realistischere Einstellung einzunehmen, wenn er trotz mancher Zugänge, die Hegel zu freimaurerischem Gedankengut gehabt haben mag, etwa die Deutung des Gedichts „Eleusis" als zu „weitgehend" empfindet. O. Pöggeler, Philosophie und Revolution beim jungen Hegel, in: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, FreiburgMünchen 1973, 29 Fußnote.
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kämpfte, genau dies stellte sich in der Geschichte der Freimaurerei ein, der Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Gleichheitsforderung und Logenbildung, Demokratismus und der Gliederung in „Grade", zwischen Vernunftglauben und ausgeprägten Zeremonien und Riten. Der junge Hegel, der den Fetischglauben, die kirchliche Ständebildung und die Zeremonien kritisiert, hätte er nicht auch die Freimaurerei angreifen müssen? Hegel als Freimaurer, das erinnert doch zu sehr an die bekannten Theorien, die hinter allem Unglück der Welt Jesuiten, Freimaurer und Juden vermuten185. Endgültig widerlegen lassen sich solche Verschwörungstheorien nicht, aber im selben Grade sind sie auch unbeweisbar. Eine Lösung in der Manier d'Hondts kommt dem Bedürfnis nach einer handfesten Erklärung der schwammigen Jugendschriften gewiß entgegen, aber statt auf ihre scheinbare Konkretion zu bauen, sollte man die gesammelten Belege eher als Steinchen des Mosaiks ansehen, aus dem sich ein Teil des Bildes vom revolutionsbegeisterten und (in seinen Berner Tagen) auch radikalen jungen Hegel zusammensetzen läßt. Die politischen Aktivitäten des Berliner Hegel, die d'Hondt als Anwalt der Liberalität seines Mandanten vor dem Gerichtshof der Akkommodationskritiker ausbreitet, sollten wir ganz analog nicht als das nehmen, was sie nach d'Hondt wohl letztlich sein sollen, historische Belege, die ein Licht auch auf den Philosophen Hegel werfen. Philosophische Argumente sind jene „Fakten" nicht, durch die uns d'Hondt den älteren Hegel als den „widerspenstigen Bürger, den Freund der Verfolgten"186 nahebringen will. Als Pendant zur moralischen und nur-historischen Seite der Akkommodationskritik dürfen sie aber ihren Platz im Gebäude der liberalen Hegelapologetik erhalten. Löwenstein und Weil hatten Hegel in die distinguierte Gesellschaft der Stein und Hardenberg aufgenommen. Fleischmann war schon nahe daran gewesen, Hegel als preußischen Oppositionellen zu feiern, Jacques d'Hondt macht aus dem politisch-handelnden Hegel tatsächlich einen Widerständler gegen die Restauration. Immerhin leistet er sich nicht Weils historische Schnitzer, sondern geht zunächst einmal von einem zugleich progressiven und feudalen, reformerischen und restaurativen Preußen aus187, dann aber wird Hegel mit allen Mitteln liberalisiert. 185 186 187
Jacques d'Hondt soll nicht politisch in diese Ecke gestellt werden. d'Hondt 1973, 7. op. cit. 16ff.
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Hardenberg, Altenstein und Schulze haben Hegel gefördert, also war Hegel ein Liberaler188; als Gegner Hegels fungierten der König selbst, der Kronprinz, der Hof und einige „Doktrinäre der Restauration", Ancillon, von Haller und Savigny189, also summa summarum Antiliberale. Ja selbst in Fries bekämpft der fortschrittliche Hegel den Rechtsliberalismus, den Chauvinismus, Antisemitismus und die Deutschtümelei der Burschenschaften190. Hegel hat zwischen der Feindschaft in der Sache und der Freundschaft in der Person zu unterscheiden gewußt. So unterstützte er persönlich auch den Burschenschaften nahestehende Liberale wie de Wette und ehemalige Burschenschaftler wie Asverus und Carove. Er war nicht nur der berühmt-berüchtigte Fries-Kritiker, er war auch ein unermüdlicher Helfer der Verfolgten, der für die Oppositionellen v. Henning191, Asverus192, Ulrich193, Carove194, Förster195, Cousin196 und de Wette197 mit „kalkuliertem Risiko"198 intervenierte, so oft er nur konnte.
5.1.4. Individuum und Staat als „fins en soi reciproques" (Fr. Gregoire) Eine gewisse Klimax der historischen Liberalisierung Hegels ist in Frankreich nicht zu verkennen. Die apologetische Absicht führt oft dazu, daß das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Für Weil war Hegel ein Liberaler, weil ganz Preußen eifrig reformierte, für Fleischmann, weil er mit den Reformern paktierte und für d'Hondt schließlich, weil er, wenn schon nicht mit Worten, so doch mit Taten, sich als oppositioneller Liberaler erwies. Systematische Perspektiven warf diese Vorgehensweise nur nebenbei ab, bei Weil das Säkularisierungstheorem, bei Fleischmann das Argument von der antikisierenden ethisch-politischen Philosophie.
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op. cit. 36-47. op. cit. 56-67. op. cit. 69ff. Allerdings schildert d'Hondt auch, was die angelsächsische Hegelapologetik verschweigt, die „Verdienste" der Burschenschaften, ihr Eintreten für die individuellen Freiheitsrechte und die Einlösung des Verfassungsversprechens (op. cit. 83ff.). op. cit. 103 f. op. cit. 104ff. op. cit. 106. op. cit. 106ff. op. cit. 108ff. op. cit. HOff. op. cit. 92-94. op. cit. 143.
Die Apologie des modernen Rechtsstaates durch die Hegeische Mitte
275
Als Repräsentant einer anderen, systematischen und nicht historischen Vorgehensweise kann uns Franz Gregoire gelten, der mehrere Perspektiven der Hegeischen Philosophie entschlüsselt. Seine anerkannt beste Einzelleistung innerhalb der insgesamt bemerkenswerten Aufsätze ist die Studie „La Divinite de l'fitat"199. In ihr stellt Gregoire erst einmal ganz nüchtern die schwankende Ausgangsbasis jeder Hegelauslegung fest, der sich alle die entziehen wollen, die Hegel einfach mit Zitaten verteidigen. Die Berufung auf Hegelzitate, die das unendliche Recht der Subjektivität proklamieren, ist als einseitige Strategie, für sich genommen, wertlos. Denn zu jeder provindividualistischen Äußerung findet der aufmerksame Hegelleser eine antiindividualistische. So ist der Staat einmal „göttlich" und von absoluter Autorität, eine Substanz, der letzte „Zweck" der Individuen sogar ein Selbstzweck, ein anderes Mal heißt es, die Individuen besitzen einen unendlichen Wert, sie sind auch „fin derniere", das Christentum schätzt Hegel als Religion der individuellen Freiheit und die ganze Weltgeschichte hat Freiheit zum Ziel200. Genaugenommen sind mit der Einsicht in diesen Sachverhalt sogar zwei Methoden ausgeschlossen: sowohl die Hegelapologie als auch die Hegelkritik durch Hegelzitate. Beide sind erst dann sinnvoll, wenn sie durch zusätzliche Strategien abgesichert werden. Was bei einem Denker wie Kant noch genügen könnte, bei Hegel scheidet es aus, weil seine Äußerungen selbst „profondement antinomique" sind. Gregoire schlägt dann auch verschiedene, uns schon bekannte Wege ein, um aus dem Labyrinth einen Ausweg zu finden. Erstens trennt er, wie in der Hegeischen Mitte üblich, den absoluten Geist vom objektiven. Denn der Staat ist nur „la fin supreme du monde"201 (Kunst, Religion und Philosophie repräsentieren erst das ganze Universum), zweitens erkennt auch er die Differenz zwischen Hegels Staatslehre und dem Preußen von 1821, worauf seit Rosenkranz immer wieder hingewiesen wurde202. Und natürlich weiß Gregoire auch, daß Wirklichkeit und Existenz unterschieden werden müssen. Die Vernünftigkeit des Wirklichen erstreckt sich auf 199
200 201 202
Das Urteil von van der Meulen: „Diese Studie ist ein Meisterstück sachlich abwägender historischer Darstellung, das der vielschichtigen Hegeischen Lehre in vollem Umfang gerecht wird und dessen Studium man jedem empfehlen kann, bevor er eigene Interpretationskünste erproben möchte". J. van der Meulen, Rezension: Franz Gregoire, £tudes Hegeliennes. Les points capitaux du Systeme, in: Hegel-Studien Bd. 3 (1965), 374/375. Dem ist nichts hinzuzufügen. Fr. Gregoire, fitudes Hegeliennes. Les points capitaux du Systeme, Paris 1958, 221 ff. op. cit. 260. op. cit. 313.
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Die Rehabilitation Hegels im Licht der westlichen Demokratievorstellungen
die Realität „im Prinzip", ohne daß damit den unvollkommenen Zuständen der Mantel verklärender Begriffe übergeworfen würde203. Drei Irrwege hat Gregoire damit schon ausgeschaltet. Seine eigentliche Leistung vollbringt er jedoch, indem er einen der beliebtesten Holzwege der Hegelforschung versperrt. Seit ihrer Geburtsstunde hat Hegels Staatsphilosophie der Vorwurf der heidnischen Staatsvergötterung begleitet, meist noch vorgetragen als Vergleich zwischen Hobbes und Hegel, die sich beide vor dem sterblichen Gott verneigen. Das Wort „göttlich", von Hegel dem Staate freigebig zugeteilt, schien für Generationen von Hegelforschern zu beweisen, wie der Staat mit dem Absoluten der Religion eine Mischehe eingeht, die einen autoritären illegitimus erzeugt. Gregoire ist der erste, der sich der prosaischen Aufgabe unterzieht, die Textbasis dieses schillernden Vorwurfs einmal zu sichten. Dabei stellt er schon rein philologisch fest, daß das Prädikat „göttlich" dem Staat nur unter anderen Subjekten, fast möchte man sagen, unter ferner liefen zukommt. „Göttlich" war für Hegel die Familie204, die Verfassung205, die menschliche Natur206, die Intelligenz und Vernunft207, sogar die Natur selbst208 und natürlich auch der Staat. Welchen Sinn hat aber dieser weitgespannte Begriff? Die „Göttlichkeit" von Natur, Staat, Familie und Vernunft läßt sich nach Gregoire in eine Vielzahl von Bedeutungen aufsplittern. Der „göttliche" Staat kann zunächst einmal nicht mehr bedeuten, als daß auch der Staat „un des moments immanents de l'Absolu" ist209. Manchmal verwendet Hegel die Sprache der Religion, um dann mit „göttlich" alles zu bezeichnen, was von Gott gewollt ist, und dazu gehören nicht nur der Mensch und seine Vernunft, sondern auch der Staat und die Natur210. Der Terminus „göttlich" steht im Kontext einer Polemik gegen die Vertragstheorien im Stile Rousseaus und gegen die Vergöttlichung des Individuums in der Romantik211. Und schließlich spricht Hegel durch den Mund eines Plato und Aristoteles, wenn er den Staat als göttlichen Selbstzweck im Sinn 203
204 205 206
207 208 209 210
op. nur op. op. op. op. op. op. op. op.
cit. 333 Fußnote, 314ff. Das Motto der Rechtsphilosophie kann Gregoire allerdings durch Tautologisierung rechtfertigen (ähnlich wie Rosenzweig). cit. 236, 239, 332, 334, 335. cit. 335. cit. 333. cit. 332f. cit. 332. cit. 332. cit. 333. cit.
Die Apologie des modernen Rechtsstaates durch die Hegeische Mitte
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der antiken Philosophie definiert212. Wenn Hegel den Staat mit dem Prädikat göttlich schmückt, „Hegel voulait signifier que l'Etat est pour Phomme une fin en soi, une fin derniere, partielle mais eminente, parce qu'il est un moment eleve du Rationnel total"213. Etwa zu gleichen Zeit wie Joachim Ritter nähert sich Gregoire dem Problem des „Atheismus der sittlichen Welt", das die Gegenkräfte beim Namen nennt, gegen die Hegel das Göttliche, nicht nur in der Natur und im Gewissen der Einzelnen, sondern auch im Staat als Gegenstand der Erkenntnis restituieren möchte. Wenn Hegel das „Ewige" im Jetzt der Philosophie zu erkennen aufgibt, dann ist er damit von seinen linken Schülern genauso geschieden wie von seinen liberalen Kritikern, die den klassischen Sinn dieser „Göttlichkeit" des Geistes übersehen. Gregoire grenzt Hegel noch nicht von seinen linken Nachlaßverwaltern ab. Aber gegen die „totalitäre" Hegelakklamation (und damit implizit gegen die korrespondierende liberale Kritik) wendet er seine positive Deutung vom Verhältnis von Individuum und Staat. Denn, so lautet die zentrale These, Staat und Individuum sind beide füreinander „fins en soi reciproques"214, oder wie er einmal genauer formuliert, „fin pour 1'autre de teile sorte que, pour une part, — une part d'ailleurs hautement preponderante, — Pfitat est la fin ultime des individus consideres dans leurs avantages exterieurs et, pour une part, — une part moindre, — les individus, en tant qu'hommes, sont la fin ultime de l'fitat"215. In der Form der Lehre von den sich wechselseitig respektierenden Endzwecken knüpft Gregoire unbewußt an das Schema der wechselseitigen Bedürftigkeit von Individuum und Staat wieder an, das die Rechtshegelianer wie Häring, aber auch Hegelapologeten wie Giese als Kernpunkt der Hegeischen Lehre von Individuum und Gemeinschaft herausgestellt hatten. Aber während die Rechtshegelianer noch als wesentliche These hinzufügten, die „Freiheitszugeständnisse" seien um des Lebens des Ganzen willen von Hegel eingebracht worden, geht Gregoire diesen Weg zum Universalismus nicht mehr mit, sondern beharrt auf der Konfrontation nicht aufeinander reduzierbarer Endzwecke. „Konkrete Freiheit" kann für Hegel nur die Synthese sein, in die sowohl die „liberte objective" des Staates als auch die „libertes subjectives" des 212 213
214 215
op. cit. 335f. op. cit. 336. op. cit. 292ff. Fr. Gregoire, L'Etat hegelienne est-il totalitaire?, m: Revue Philosophique de Louvain, Tome 60 (1962), 244.
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Die Rehabilitation Hegels im Licht der westlichen Demokratievorstellungen
Einzelnen zugleich eingegangen sind216. Wer daher die Rechtsphilosophie mit einer etatistisch gefärbten Brille liest, wird finden, was er sucht, etwa die Anerkennung der Rechte der Individuen, die sich auf diese nur insoweit erstreckt, als sie „membres de l'fitat" sind217. Wer aber den Liberalen Hegel sucht, wird sein Vorurteil auch bestätigen können; denn Hegel spricht den Einzelnen auch die Menschenrechte zu. Das Recht auf Eigentum wird nicht aus Utilitätsrücksichten deduziert, sondern es gehört der Person als solcher; Gleichheit, Freiheit und sogar „Glück" und „Wohl" sind Rechte des Menschen als Menschen218. Die systematische Synthese von Staat und Individuum spiegelt sich historisch gerade in dem Dreischritt, in dem Hegel die antike Unterordnung der „Individuen" (These) mit der modernen Subordinierung des Staates unter die Individuen (Antithese) im „Etat moderne hegelienne" vereint, der wie der moderne Staat die Menschen- und Bürgerrechte respektiert, der wie der antike Staat jedoch auch die Unterordnung der Individuen unter seinen Endzweck geltend machen kann219. Zur „preponderance" des Endzwecks Staat darf es nur dort kommen, wo die „avantages exterieurs" der Einzelnen auf dem Spiel stehen (wie etwa im Krieg)220. Vor den Menschen- und Bürgerrechten aber muß der Staat genauso haltmachen wie vor dem unantastbaren religiösen Leben und der Freiheit der Wissenschaft. Das Verhältnis von Ganzem und Teil löst Hegel dementsprechend nicht nach dem Modell der Beziehung eines ganzen Organismus auf ein einzelnes Glied. Anders als bei den Rechtshegelianern (und in der klassischen Tradition) ist die Relation von Individuum und Staat nach dem Bild einer Beziehung zwischen zwei einzelnen Organen konzipiert. Setzt man organisches Ganzes und Glied in Beziehung, dann wird die Konsequenz unausweichlich, die Aristoteles in der berühmten Passage der Politik aufzeigt. Hand und Fuß existieren nur noch dem Namen nach, „wenn der
216 217 218 219
220
Gregoire 1962, 250f. Fußnote. Gregoire 1958, 283 ff. op. cit. 285ff. Gregoire 1962, 248. Zum selben systematischen Ergebnis kommt Kienner, der die „Doppelfunktion der Grundrechte" bei Hegel gewährleistet sieht als „Sicherung des Staates und der Bürger gegen die Privatleidenschaften der Einzelnen einerseits und andererseits gegen den Mißbrauch der Gewalt durch die Privatinteressen der Behörden und Beamten". Hegel hebt die subjektive Freiheit in der objektiven für Kienner gerade so auf, daß die Rechte des Einzelnen und des Staates ausbalanciert werden. H. Kienner, Der Grund der Grundrechte bei Hegel, in: Schweizer Monatshefte 47. Jg., Heft 3 (1967), 258, 255. Gregoire 1958, 298.
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ganze Leib dahin ist"221. Die Individuen aber sind mehr als ein Glied des Ganzen, das sein Leben nur dem Organismus verdankt. Der moderne Staat, der autonome Individuen als Bürger in sich aufnehmen muß, braucht ein anderes Analogon als die Polis des Plato oder Aristoteles, „ein höheres organisches Leben", das selbständige Subjekte und substantielle Mächte zugleich vereint222. Staat und Individuum wechselseitig als Endzwecke aufeinander bezogen wie ein Organ auf ein anderes, das ist die Wahrheit über Hegels politische Lehre, weil es auch die Wahrheit über Hegels Denkstil einschließt. In anderen Studien über Hegels System hat Gregoire die absolute Idee zum Zentrum des Systems erklärt und ihre Entwicklung in „Widersprüchen" näher analysiert223. Die absolute Idee als causa materialis und causa efficiens entfaltet sich zum Geist durch sehr verschiedene Widersprüche, durch konträre Entgegensetzung, notwendige Antagonismen, konstitutive Korrelationen und durch die ständige Drohung der logischen Kontradiktion. Die Angel der Dialektik bildet dabei der Widerspruch als „correlation constitutive et mouvement essentiel"224, d. h. der Widerspruch als zunächst statische Relation, die dann aus sich heraus sich entwickelt, dynamisiert wird und ihre Relata so aufeinander bezieht, daß eines vom anderen völlig „durchdrungen" ist. Die Göttlichkeit des Staates bei Hegel, die Gregoire zunächst mit den bekannten Strategien der Hegeischen Mitte und dann mit Hilfe einer nüchternen philologischen Untersuchung des Wortes „göttlich" vor dem Vorwurf der Staatsverherrlichung bewahrte, soll durch die Absicherung im Denkstil Hegels ihre letzte Stütze erhalten. Aber so gerne wir uns von Gregoire bis jetzt haben führen lassen, diesen letzten Schritt können wir nicht mehr mit ihm gehen. Freilich, einiges an Gregoires Darstellung ist auch hier noch klärend, operiert Hegel doch mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen des „Widerspruchs". Eine logische Kontradiktion läßt er sich kaum zu schulden kommen. Ansich und Fürsich, Möglichkeit und Aktualität sind nicht logisch sich ausschließend gefaßt, sondern eher nur, 221 222
223
224
Pol. I, 2, 1253a20ff. Hegel diskutiert die berühmte Stelle aus der Politik des Aristoteles genau in diesem Sinn, Gesch. der Phil. SW XVIII, 400; Gregoire 1962, 246f.; Gregoire 1958, 250f. Gregoire unterscheidet im ganzen fünf Bedeutungen der absoluten Idee, die hier nicht untersucht werden können. Er selbst jedenfalls scheint die vierte in seiner Skala zu favorisieren. Demnach wäre die absolute Idee „un centre unique de pensee, sans conscience propre et constituant ä la fois le Substrat et la cause de l'univers", Gregoire 1958, 205. Doch heißt es auch: „Hegel a empörte sons secret dans la tombe", op. cit. 216. op. cit. 73ff., 114ff.
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wie Gregoire es ausdrückt, von der Kontradiktion „bedroht", der Hegels dynamische Begriffsentwicklung aber ständig entflieht225. Dialektik ist ein Denken in „Widersprüchen" mit dem Ziel, Widersprüche zu vermeiden. Denn was sich kontradiktorisch widerspricht, kann für Hegel nicht existieren. Sehr wohl aber hat Bestand, was nicht nur auf sich, sondern auch auf anderes korrelativ bezogen ist. Wenn also Staat und Individuum dialektisch, im Sinne der „correlation constitutive", aufeinander verweisen, dann können sie, das wäre Gregoires unausgesprochene Quintessenz, sowohl als selbständige Zwecke für sich existieren als auch zur totalen „Durchdringung" gebracht werden, ohne daß eine Kontradiktion zu befürchten wäre, ohne daß auch ein Relatum auf das jeweilige andere übergreift, durch das es selbst konstituiert ist. Die Ausklammerung der logischen Kontradiktion ist zwar nicht unkontrovers226, aber Hegel scheint es doch, wie immer man die Funktionsweise des Widerspruchs in seiner Dialektik interpretiert, vermieden zu haben, die Stufen der Begriffsentwicklung zur selben Zeit oder in derselben Hinsicht mit sich ausschließenden Aussagen zu fassen. Der nur relative Status der einzelnen Entwicklungsschritte läßt sie einer EntwederOder-Kontradiktion entgehen; diese ließe sich allenfalls als Metastruktur der gesamten Begriffsbewegung aufweisen227. Aber Gregoires Deutung, die (in scholastischen Begriffen formuliert) Dialektik in „transzendentale" Relationen oder, moderner formuliert, in „internal relations" auflöst, wirft uns, trifft sie Hegels Intentionen, auf das schon bei Marx aufge225 226
227
op. cit. 95 Fußnote, 116. So haben z. B. van der Meulen und Sarlemijn gerade die Existenz des Widerspruchs bei Hegel behauptet. Nach van der Meulen kann Seiendes bei Hegel nur bestehen, nicht solange es „ohne" Widerspruch ist, sondern solange es den Widerspruch aushält (van der Meulen 1965, 377f.); wie dies genauer zu fassen sein könnte, hat van der Meulen in seiner Explikation der „gebrochenen Mitte" verdeutlicht. Logisch gesehen symbolisiert diese den „tetradischen" Denkstil Hegels, für den das dritte Moment jeweils nicht nur Synthese, sondern auch neue Unmittelbarkeit bedeutet, konkreter den endlichen Geist, der sowohl ein Beisichselbstsein als auch ein „Hinausgerissensein in die Gegenständlichkeit" aushaken muß, J. van der Meulen, Die gebrochene Mitte, Hamburg 1958, 185. Sarlemijn hält den Widerspruch für existent, weil bei Hegel die entgegengesetzten Bestimmungen in einer Einheit „entgegengesetzt und somit widerspruchsvoll" seien (A. Sarlemijn, Die Hegeische Dialektik, Berlin-New York 1971, 93); Gregoire irre, wenn er behaupte, die Dinge würden widerspruchsvoll durch die Leugnung ihrer Bezogenheit; der Widerspruch beruhe vielmehr „auf der Selbständigkeit und der Bezogenheit" (ebd.), die „zusammen" erst die widerspruchsvolle Struktur eines Dinges ausmachten. Siehe den Schlußabschnitt des zweiten Bandes „Individuum und Dialektik", welcher der Frage der Widersprüchlichkeit und Relationalität im Vergleich zur vorhegelschen Dialektik nachgeht.
Die Apologie des modernen Rechtsstaates durch die Hegeische Mitte
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tauchte Problem zurück. Wie kann ein Selbstsein und eine Nicht-Identität in einer Logik noch Platz haben, in der jedes Seiende seine Identität der Beziehung auf sein „Anderes" verdankt? Die relationalistische Leseweise der Dialektik erlaubt es Gregoire zwar, das Wechselverhältnis der Relata politisch umzusetzen und gegen totalitäre Deutungen auszuspielen; aber diese Strategie wird um den Preis der Auflösung der Relata in die Relation erkauft. So gerät die Dialektik nicht in die Schere der logischen Kontradiktion, aber sie wird erfaßt vom Wirbel der Relationen, der sich weiter und weiter dreht und jede Bestimmung wieder durch eine andere zu dem machen muß, was sie ist.
5.2. Die angelsächsische Reintegrierung Hegels ,,in the main stream of Western political theory"228 (T. M. Knox, J. N. Findlay, W. Kaufmann, Z. A. Pelczynski, Sh. Avineri, Ch. Taylor) „Hegel in den angelsächsischen Ländern", dieses Thema muß nicht gleichbedeutend sein mit Titeln wie „Wissenschaftstheorie contra Spekulation" oder „Hegelscher Konservatismus contra angelsächsische Liberalität". Die Geschichte der amerikanischen Hegelaneignung hat mit einer Gruppe liberaler bis linkshegelianischer Interpreten begonnen, die ihren Kampf für Demokratie oder Sozialismus mit — freilich weitgedehnten — Hegeischen Begriffen zu verbrämen wußten229. Aber trotz großer Hege228 £)er bezeichnende Slogan stammt von Pelczynski. Z. A. Pelczynski (Ed.), Hegel's Political Writings. Introductory Essay, Oxford 1964, 134. 229 Die sogenannten „Ohio-Hegelians", J. B. Stallo, P. Kaufmann, M. Conway und A. Willich, haben sich eher durch ihre praktischen demokratischen Aktivitäten als durch ihre Hegeldeutung ausgezeichnet. Wie die späteren „Hegelians of St. Louis" (D. J. Snider, H. C. Brokmeyer, W. T. Harris) sich hauptsächlich mit der Phänomenologie und der Logik befaßten, so schwankte das Interesse der „Ohio-Hegelians" zwischen Naturphilosophie, Theologie und Rechtsphilosophie hin und her. Jener berühmte August Willich, der preußischer Leutnant, Mitglied im „Bund der Kommunisten", Führer des Freikorps im badisch-pfälzischen Aufstand und schließlich General im amerikanischen Bürgerkrieg gewesen war, ist als braver Soldat, politischer Organisator und praktischer Sozialist sowieso nur eine Erscheinung am Rande des theoretischen Linkshegelianismus; Conway dürfte als Schüler von D. F. Strauß sowie als Evolutionist, Kaufmann als Sozialreformer und Pädagoge Verdienste gehabt haben; jedoch scheint allein Stallo ein theoretisch ernstzunehmender Geist gewesen zu sein, dessen Meriten freilich eher in der Wissenschaftstheorie (er beeinflußte Emerson und Mach) als in der Deutung der politischen Philosophie Hegels zu finden sind; Stallo glaubte, in der Logik des individuellen und allgemeinen Willens liege bei Hegel die Konsequenz, daß der Staat „essentially democratic" sein müsse. Die Geschichte der „Ohio-Hegelians" jetzt bei
282
Die Rehabilitation Hegels im Licht der westlichen Demokratievorstellungen
lianer wie Royce, Bradley oder Collingwood, schien Hegel vom Beginn des 20. Jahrhunderts an doppelt aus der Entwicklung des Denkens in Amerika und England auszuscheren, als spekulativer Philosoph, mit dem die aufblühende Wissenschaftstheorie nichts mehr anfangen konnte, wie als politischer Denker, der mehr und mehr mit den dunklen Seiten im Buch der deutschen Geschichte assoziiert wurde. Es bedurfte einer Wiederentdeckung eigener Art, bis man in Hegel einen politischen Denker erkannte, dessen Staat sich als „modern state" bezeichnen läßt, und es bedurfte komplizierter (etwa über den späten Wittgenstein und die Hermeneutik sich kreuzender) Wege, bis Hegels Philosophie soweit vom Odium der Unwissenschaftlichkeit gereinigt schien, daß auch ein analytischer Philosoph sich den Einsichten seiner Staatsphilosophie nähern konnte. Knox, ein Schüler Collingwoods und mit Mure und Foster einer aus dem verlorenen Haufen der Oxford-Hegelianer, die sich in den dreißiger Jahren gegen den logischen Empirismus zu behaupten suchten, war meines Wissens der erste, der bewußt damit begann, den ausgestoßenen Hegel wieder in die Geschichte des liberalen westlichen Denkens einzugliedern. Angeregt durch Fosters Hegel-Buch230, begann er, einige Werke Hegels, darunter auch die Rechtsphilosophie, neu zu übersetzen231. So mit dem Text besser vertraut als mit den kursierenden Hegel-Legenden konnte er sich schon 1940 zu der damals unpopulären Ansicht bekennen, daß „Hegel und Preußen" sowie „Hegel und der Machtstaat" weniger miteinander zu schaffen haben, als es die Hegelkritiker glauben machen wollen. Denn Hegels Staat ist weder ein Abbild Preußens noch des Bismarckschen Machtstaates, er ist „a description of the essence of modern political life . . ,"232.
230 231
232
L. D. Easton, Hegel's First American Followers, Ohio 1966; Stallo, op. cit. 40f., 250ff.; die Geschichte der „St. Louis-Hegelians", deren „Journal of Speculative Philosophy" immerhin das erste englischsprachige philosophische periodical war, bei J. O. Riedl, The Hegelians of St. Louis, Missouri and their Influence in the United States, in: J. J. O'Malley et. al., The Legacy of Hegel, The Hague 1973, 268ff. M. B. Foster, The Political Philosophies of Plato and Hegel, Oxford 1935. Auf Anregung von Helmut Kühn übersetzte er mit Kroner die Jugendschriften, T. M. Knox/R. Kroner (Transl.), Hegel's Early Theological Writings, Chicago 1946; dazu die Rechtsphilosophie, T. M. Knox (Transl.), The Philosophy of Right, Oxford 1942, und die politischen Aufsätze, T. M. Knox (Transl.), Hegel's Political Writings, Oxford 1964. Seinen eigenen Weg zu Hegel beschreibt Knox, T. M. Knox, Hegel in English-speaking countries since 1919, in: Hegel-Studien Bd. l (1961), 315ff. T. M. Knox, Hegel and Prussianism (1940), in: Kaufmann 1970, 22.
Die Apologie des modernen Rechtsstaates durch die Hegeische Mitte
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Knox setzt die typischen Hilfsmittel ein, die seit Rosenkranz und Rosenzweig der Hegelapologetik zur Verfügung stehen. Es sind dies wieder das Differenz-233 und Kontinuitätsargument234, die Trennung des absoluten Geistes vom objektiven und der Hinweis auf Hegels aktive Rolle bei der Unterstützung von de Wette und Carove235. Zugleich attackiert er den Vorwurf des Machiavellismus, auch hier wieder im Stile der uns bekannten Methoden. „Macht" galt Hegel nicht als „Recht", weil er von Hallers Herrschaft des Stärkeren kritisierte236, weil er sich stets gegen den Despotismus und für die unverletzliche Heiligkeit des Gewissens aussprach237. Statt „might is right" zu lehren, hat Hegel nach Knox „right is mighty" zum Grundsatz seiner Staatsphilosophie machen wollen238. Knox kämpfte damals fast auf verlorenem Posten. Erst nach dem Krieg sammelten sich mehr und mehr Philosophen um die Fahne der liberalen Hegelauslegung. Das Heranwachsen der Hegeischen Mitte zu einer eigenen Gruppierung konnte erst Realität werden, als die den Krieg begleitenden ideologischen Rauchschwaden vom Wind der Zeit auseinandergewirbelt wurden. Ein neuerwachtes Hegelinteresse signalisierte die Tatsache, daß ein Analytiker wie Findlay, der die Subtilitäten der Principia Mathematica und des Tractatus beherrscht, sich entschloß, zwei Jahre Hegel zu studieren, um eine „re-examination" vorzulegen, oder daß aus ganz anderem Geist, aus der Stimmung eines redseligen Bildungsbürgertums, Walter Kaufmann eine historisch lebendige „reinterpretation" schrieb, die in Amerika wieder Leben in die erstarrte hegelianische Szene brachte. Freilich, Findlays populäres Buch, das Hegel für manchen Analytiker erst wieder hoffähig machte239, enthält nur eine knappe Skizze der politischen Philosophie Hegels; sie macht nur ein Siebtel des ganzen Buches 233
234
235 236 237
238 239
Hier begegnet uns wieder einmal die Liste, die Schwurgerichte, Öffentlichkeit, konstitutionelle Monarchie, Pressefreiheit etc. einschließt (ebd.). Knox entdeckt eine Kontinuität allerdings nur im Angriff auf Fries, den Hegel schon 1811 und 1812 attackiert hatte (op. cit. 17), nicht in den Lehren über Erbmonarchie, Kirche, Korporation und Beamtenschaft; Hegel habe mit den „Zielen" der Burschenschaften, nicht mit ihren „Methoden" sympathisiert; die Fries-Kritik habe zeigen sollen, daß Haller nicht die einzige Alternative zu Fries sei, sondern daß an die Stelle des sentimentalen Liberalismus der Hegeische gesetzt werden solle. op. cit. 20. op. cit. 23. op. cit. 24. T. M. Knox, Rebuttal, op. cit. 45. Eine berechtigte Würdigung der Verdienste Findlays bei F. G. Weiss, A Critical Survey of Hegel Scholarship in English: 1962-1969, in: O'Malley et. al. 1973, 24ff.
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Die Rehabilitation Hegels im Licht der westlichen Demokratievorstellungen
aus und steckt leider auch noch voll von alten angelsächsischen Vorurteilen. So differenziert Findlay die theoretischen Probleme im Lichte seiner Wittgensteinschen Prämissen angeht, so lebendig er auch den Geist-Begriff und die Dialektik, Phänomenologie und Enzyklopädie rational rekonstruiert240, wir begegnen doch wieder dem altbekannten Vorwurf, Hegel verrate die autonome Moral an eine unreflektierte Sittlichkeit241, ja noch ganz im Stile von Hook wird Hegel zum provinziellen preußischen Konservativen erklärt, der in seinen politischen Lehren das Niveau eines britischen Hinterbänklers nicht überschreitet242. Aber der muffige Geruch der preußischen Amtsstuben, der nach Findlay durch die Rechtsphilosophie zieht, ist immerhin nicht mehr der Verwesungsgestank von Dachau oder Auschwitz, den noch Popper zu verspüren meinte. Ein Hauch besserer Zeiten scheint doch für Findlay schon durch Hegels Lehre zu wehen. Denn die Gleichheit aller vor dem Gesetz, ein kodifiziertes Recht, Öffentlichkeit der Verhandlungen243, freie Berufswahl und religiöse Toleranz244, alles dies fordert Hegel. Die „Idee des Staates" und nicht einen existierenden Staat hat Hegel beschrieben245, seine zentrale Botschaft war die Lehre von der „constitutional monarchy"246. Wenn wir ganz genau nachlesen, dann ist auch Findlay schon 240
241
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243 244 245 246
Dabei geht Findlay nur manchmal ein bißchen zu weit, wenn er Hegel fast zu einem englischen Empiristen macht, der alle Metaphysik perhorresziert (siehe das Schlußkapitel des Buches). Allerdings dürfte seine „Demythologisierung", welche gerade die teleologischen, realistischen und sogar materialistischen Seiten der Dialektik hervorhebt, fruchtbarer sein als die ständige Wiederholung des Vorwurfs, das System verflüchtige die Empirie in den „Geist"; siehe auch J. N. Findlay, Hegel der Realist, in: HegelStudien Beiheft l (1964), 141 ff.; die Hegeische Erfahrungsphilosophie ist der Aristotelischen Metaphysik mit ihrem Ausgang von den „individuals" ja tatsächlich ähnlicher als deduktiven (etwa mathematischen) Systemen. Die Analyse der Dialektik enthält auch eine für deutsche Interpreten höchst wichtige Warnung, wenn sie deren Notwendigkeitscharakter als a-formalen relativiert (die Triade bedeutet eine „Methode" wie die terza rima in der Divina Commedia), wenn sie überhaupt auf die Diskrepanz zwischen dialektischem Anspruch und tatsächlicher Vorgehensweise ständig hinweist. Siehe die Rezension,]. E. Smith, Rezension:]. N. Findlay, Hegel. A Re-Examination, in: HegelStudien Bd. l (1961), 326ff. „Conscientious Morality" werde einer „Customary Morality" subordiniert. J. N. Findlay, Hegel. A Re-Examination, London-New York 1958; unter dem Titel „The Philosophy of Hegel. An Introduction and Re-Examination", New York 21962, 31966, 322. Hegels politische Philosophie „is small-minded and provincial, at its best it achieves the level of inspiration of an average British back bench conservatism", op. cit. 331. op. cit. 325. op. cit. 327. op. cit. 326. op. cit. 328.
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ein bißchen dabei, den „modernen" Staat bei Hegel zu entdecken. Hegels Monarchie läßt den Feudalismus hinter sich, die Funktionen des Monarchen sind „in fact, in accord with modern British constitutional practice"247. Und am Ende heißt es sogar: „Despite his (Hegel's H. .) later verging towards reaction, he remains the philosopher of Reformation, ,inwardness', of liberal Humanism, of perpetual, orderly revolution"248. Findlays Deutung bleibt noch zweideutig, widersprüchlich sogar249, eine Repräsentation der alten Legenden, die bestenfalls gerade dabei ist, in die neue Lehre vom modernen Staat umzuschlagen. Walter Kaufmann hatte da schon früher den Ballast der Hegellegenden abgeworfen und bereits 1951, in seiner schon erwähnten Popper-Rezension, den Standpunkt der Hegeischen Mitte bezogen. Ohne sich selbst zu widersprechen wie Findlay, sieht er Hegel die „Idee" des Staates entwerfen250, zwischen Wirklichkeit und Existenz unterscheiden, den Rechtsstaat konzipieren, den absoluten Geist über den objektiven setzen251 und sogar eine Kriegslehre entwickeln, die durch ihre rein retrospektive Einstellung sowie durch ihre Zeitgebundenheit entschuldbar ist252. Kaufmanns Hegelbuch läßt allerdings die anspruchsvollen theoretischen Analysen vermissen, die Findlay an Hand des späten Systems entfaltet hatte. Findlay schrieb als systematischer Denker, Kaufmann als gebildeter Fabulierer, der Hegel als Bildungsphänomen etwa zwischen Goethes Faust und Nietzsche (aber auch so manchem anderen) einordnet. Dieses Bildungsallerlei, das manchmal eine recht persönliche Färbung annimmt253,
247 248
249
250 251 252
253
op. cit. 329. op. cit. 359. So heißt es dann im Gegensatz zur richtigen Einordnung Hegels in die Streiter für die konstitutionelle Monarchie und für die „Idee" des Staates leider Gottes auch wieder: Hegels politische Philosophie „describes with faithful accuracy the political arrangements of the monarchy in which Hegel spent his later years", op. cit. 331. Aber die preußische Monarchie war damals weder nach englischen noch nach deutschen Maßstäben „konstitutionell", und wenn Hegel Preußen abmalt, dann hat er eben nicht die „Idee" des Staates konstruiert. Kaufmann 1956, 202f., 205. op. cit. 204f. op. cit. 214f. So teilt Kaufmann offenherzig mit, daß er Hegel 1942 „in a honeymoon spirit" gelesen habe und daß sich Royce im Faculty Club einen Apfel als Mittagessen bestellte. In der wirren Entstehungszeit der Phänomenologie kommt Hegels unehelichem Sohn eine Schlüsselstellung für Hegels „state of mind" zu u. a. m. W. Kaufmann, Hegel. A Reinterpretation, New York 1965, 21966, VIIIf., 91 ff. Allerdings muß der Gerechtigkeit halber auch gesagt werden, daß Kaufmanns Übersetzungen oft kleine Meisterstücke sind,
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enthält jedoch einige Klarstellungen, die angesichts der eingeschliffenen Vorurteile gesagt werden mußten und gesagt werden durften254. Ja man kann Kaufmann sogar die Exposition der Gliederungen der Geistphilosophie verzeihen, da sie im Dienste des altbekannten Argumentes steht, das auf die höhere Stellung des absoluten Geistes im Verhältnis zum objektiven verweist255. Geschichte, Freiheit und Staat werden von Kaufmann im Sinne der Hegeischen Mitte aufeinander bezogen256, allerdings in einem referierenden Stil, der sich rein reproduktiv auf Hegelzitate stützt. Als klare Analyse der Theorie und als historisch lebendige Studie haben die Hegelbücher Findlays und Kaufmanns der Hegelforschung in England und Amerika neues Prestige verschafft257. Ihr Beitrag zur Deutung der politischen Philosophie Hegels blieb eher bescheiden, und es sind erst Autoren wie Pelczynski, Avineri und Taylor, die sich von ihrem starken Interesse an Hegels Politik wieder zu jener Art von Auslegung führen lassen, die schon Knox skizziert hatte. Pelczynski, ein Schüler von Foster und Knox, hatte schon 1964 der Knoxschen Übersetzung der politischen Publikationen Hegels eine Einleitung von 137 Seiten vorausgeschickt, die ganz im Sinne der Hegeischen Mitte geschrieben war. Die zentrale These lautet dort: Hegels „theory of the modern state . . . is not radically different in approach, method of argument, and level of theorizing from the political theory of Hobbes,
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op. cit. 289ff.; W. Kaufmann, Hegel. Text and Commentary, New York 1965, die bisher beste Übertragung der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes. K. Hartmann hat recht, wenn er sagt: „Amerikanischen Lesern kann sicherlich mehr Theorie zugemutet werden", K. Hartmann, Rezension: W. Kaufmann, Hegel. Reinterpretation, Texts and Commentary, in: Hegel-Studien Bd. 4 (1967), 284. Aber dennoch hat auch gerade in Amerika eine biographische Darstellung des „Interessanten", wenigstens noch 1965, eine gewisse Berechtigung gehabt. Kaufmann 21966, 154 f. Für Hegel kulminiert die Geschichte nicht im preußischen Staat von 1820, sondern grundlegende Lehre ist, daß der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit dazu geführt hat, daß in den protestantischen Staaten des Nordens „all men as such are free", op. cit. 260. Religion und Moralität werden dem Gang des Weltgeistes nicht subordiniert (hier zitiert Kaufmann dieselben Passagen wie Giese und Heimsoeth), op. cit. 264f. Hegels Staat vereint bonum commune und subjektive Freiheit, op. cit. 265 f. Kaufmann kritisiert zu Recht die falschen Übersetzungen des Satzes „es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist" (Rph 1821, § 258 Z) durch Knox, Hook und Carritt, W. Kaufmann, From Shakespeare to Existentialism, Boston 1959, 91; ders., Introduction, in: Kaufmann 1970, 4. Das Anwachsen der Hegelveröffentlichungen in englischer Sprache nach Findlays „clearing of the air" bei Weiss (Weiss, in: O'Malley et. al. 1973, 25ff.), der über sein eigenes Buch, die Studien von Kaminsky, Mure, Kaufmann, Loewenberg, Fackenheim, Müller, Soll, Walsh sowie über neuere Hegel-Übersetzungen informiert.
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Locke, Montesquieu or Rousseau. Like them, Hegel describes or prescribes . . . a ,model' or ,pure type' of the state which is internally consistent, pragmatically sound, largely ,actualized' in fact, and which in his opinion fits better then any other ,model' the basic social, cultural, and moral realities of nineteencentury Western Europe"258. Der aktualistische Zug der Hegeischen Mitte, die Hegels „modernen Staat" aus der Sicht des Konstitutionalismus und Demokratismus Westeuropas liberalisiert, hat damit auch in England Schule gemacht259. Preußenverherrlichung und Machtstaatsdeutung werden als Legenden kritisiert. Denn selbst in der Verfassungsschrift, dem Hegeischen Werk, das noch am ehesten einen Machiavellismus oder die Vorahnung der Bismarckschen Machtpolitik enthalten könnte, antizipiert Hegel nur scheinbar die Zeit von Blut und Eisen; tatsächlich favorisiert er das liberale Österreich und nicht Preußen oder das Reich260, und nichts unterstützt die These, „that for Hegel force rather than law is the essence of the state"261. Historische Existenz und philosophisch begriffene Wirklichkeit (von Pelczynski richtig als „actuality" übersetzt) hat Hegel auch noch 1820 getrennt; sein Staat war ein Idealtyp, nicht ein verklärtes Preußen262. Hegel hat sowenig mit dem Machtstaat zu schaffen, daß die Realitätsnähe des Hegeischen Staates sogar ein wenig dadurch gefährdet wird, „that he ignored the force of nationalism in the modern world"263. Wie schon Rosenkranz so verpflichtet Pelczynski Hegel auf die Einstellung eines „politischen Rationalismus", der die liberale Mitte hält zwischen Traditionalismus und Revolution. Nach der Reformation war die Französische Revolution für Hegel das bedeutendste weltgeschichtliche Ereignis der Neuzeit264, das er als Maßstab an alles nur „Positive" an258 Pelczynski 1964, 135. Noch kürzlich hat Pelczynski behauptet, „there cannot be any doubt at all which theory of the modern state — the Hegelian or Marxian — fits reality better". Z. A. Pelczynski, Hegel's political philosophy: some thoughts on its contemporary relevance, in: Pelczynski 1971, 235. Bis 1914/18 soll Hegels politische Philosophie „realistischer" als die Marxsche gewesen sein, da der Staat „would successfully cope with the problems posed by the dynamism of civil society", ebd. 259 yor Pelczynski hatte Friedrich eine ähnliche liberalisierende Auslegung angedeutet und Hegel nicht vorschnell zum Vater des Totalitarismus erklärt. C. J. Friedrich, The Power of Negation. Hegel's Dialectic and Totalitarian Ideology, in: A Hegel Symposium, D. C. Travis (Ed.), Austin/Texas, 1962, 29ff. 260 Pelczynski 1964, 16. 261 Z. A. Pelczynski, The Hegelian conception of the state, in: Pelczynski 1971, 3. 262 Pelczynski 1964, 115. 263 Z. A. Pelczynski, Hegel Again, in: Kaufmann 1970, 83; vgl. Pelczynski 1971, 235. 264 Pelczynski, in: Kaufmann 1970, 84.
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legte265. Der Terror der Revolution, den Hegel sich aus dem abstrakten Willen des revolutionären Subjekts erklärt, läßt ihn freilich auch die Revolution nicht absolut setzen, sondern als ein „Fieber" erkennen, mit dessen Hilfe der Organismus des Staates gesundet. Hegel verwirft die Revolution, ohne mit Burke gemeinsame Sache zu machen. Denn gerade Burkes Traditionalismus symbolisiert, was Hegel ständig bekämpfte266. Pelczynski nähert sich hier auf einem anderen Wege dem gleichen Ergebnis wie Habermas, ohne allerdings die Konsequenz ganz klar auszusprechen. Was mit der Revolution weltgeschichtlich Realität wurde, das anerkennt Hegel, die Revolution selbst lehnt er jedoch ab. Pelczynski formuliert dieses Ergebnis nicht, aber er funktioniert die Revolution stillschweigend in eine Reform um. Denn was Hegel an der Revolution schätzt, ist nicht der hektische Umsturz, sondern die mit diesem epochalen Ereignis in die Welt gekommene Vernunft267. Der politische Rationalist Hegel will die politische Realität nicht traditionalistisch konservieren, sondern nach den Maßstäben von Freiheit, Gleichheit und Recht verändern. Diese Veränderung darf nicht die Gewaltkur der Revolution sein, die ihre Kinder erfahrungsgemäß frißt, sondern politische Veränderung muß für Hegel die Form einer „peaceful, gradual and constitutional reform"268 annehmen, die Pelczynski sogar mit Poppers „piecemeal engineering" vergleichen möchte269. Pelczynski ist also dabei, Hegel in die Rolle eines kritischen Rationalisten schlüpfen zu lassen. Rationalismus und „Stückwerk-Sozialtechnik" kennzeichnen Hegels „liberale" Politik, es fehlt nur noch die Parteinahme für die offene Gesellschaft. Diesen Begriff wendet Pelczynski nicht an, aber Hegels Staat entspricht doch genau den Anforderungen, die ein westlicher Liberaler an den Staat stellt. Nachdem Hegel weder Preußen verherrlicht noch den Machtstaat feiert, nachdem sein politischer Rationalismus und sein Reformismus erkannt sind, kann auch sein Staat als „moderne" 265 266
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Pelczynski 1964, 29. op. cit. 37ff.; etwas ausgewogener versucht Suter neben den Unterschieden in Burkes und Hegels Lehren (vollständige Ablehnung der Französischen Revolution und prudence des Staatsmannes bei Burke, Ablehnung und Anerkennung der Revolution sowie politische Theorie bei Hegel) auch Gemeinsamkeiten herauszustellen (die Kritik am abstrakten Individualismus der Vertragstheorien, insbesondere der Rousseaus, die Aristoteles-Nähe, die organische Staatslehre u. a. m.), J. F. Suter, Burke, Hegel, and the French Revolution, in: Pelczynski 1971, 52ff. op. cit. 36. op. cit. 53. op. cit. 42.
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Gemeinschaft gewürdigt werden, „modern", weil Hegel nicht den Absolutismus, sondern die konstitutionelle Monarchie270, nicht mehr nur den substantiellen Staat der Antike, sondern den Staat lehrt, der die neuzeitliche Subjektivität in sich aushallen kann, weil er schließlich zwischen Bürokratismus und Anarchie die mittlere Lösung findet271, die den Staat nicht auflöst und doch viele private, soziale und lokale Freiheitsräume zuläßt272. Es war Hegels „Hauptanliegen", sowohl die integrierende Funktion des gemeinsamen sittlichen Lebens (wie etwa in der Familie) als auch die disintegrierende der Subjektivität (etwa in der bürgerlichen Gesellschaft) zugleich in einem Staat zu vereinen und zu einem stabilen politischen Ausgleich zu bringen273. Hooks These vom konservativen Hegel erscheint Pelczynski nun als Ausbruch einer „righteous liberal-democratic-radical indignation"274, die ein gemäßigter Liberaler als künstliche Aufregung durchschauen kann. Aber ist es nicht eher Pelczynski als Hook, der den bei den Hegelianern der Mitte üblichen emotionalen Gebrauch von Worten wie „liberal", „moderner" Staat etc. unfreiwillig bezeugen kann? Walter Kaufmann hat ein bißchen belustigt festgestellt, daß sowohl Hook als auch Pelczynski, Avineri, Knox und Carritt zu meinen scheinen, es sei „gut" ein Liberaler und „schlecht" ein Konservativer zu sein275. Daran ist ein gutes Stück Wahrheit, auch wenn Kaufmanns Vorschlag, alle politischen Klassifizierungen fallen zu lassen, selber zu weit geht. Der Versuch, Hegel zum Liberalen zu ernennen, ist als ein Aktualismus durchschaubar, er enthält selbst, wie alle anderen, je auf ihre Weise zeitabhängigen Hegelauslegungen einen wahren Kern. Pelczynski symbolisiert für den angelsächsischen Raum die radikale Liberalisierung Hegels, für die in Frankreich Weil und Fleischmann stehen. Selbst Mitkämpfern an der gleichen Front (wie Avineri) ist diese einseitige Einordnung Hegels, die ihn nicht mehr als nach rechts und links vermittelnden Theoretiker sieht, zu radikal geworden. Soweit Pelczynski Hegel als Anhänger der konstitutionellen Monarchie und als Theoretiker des politischen Rationalismus schildert, klingt seine Deutung glaubhaft (obwohl sich ein ungutes Gefühl einstellt, wenn Pelczynski den kritischen 270 271 272
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op. cit. 64, 98ff., 108, 137. op. cit. 68. op. cit. 64. Pelczynski 1971, 17 u. ö. Pelczynski, in: Kaufmann 1970, 81. Kaufmann 1970, 8.
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Rationalismus terminologisch als Folie der Darstellung benutzt). Aber dort, wo Pelczynski dann sogar Hegel und Bentham verschwistert, da schüttet er das Kind offensichtlich mit dem Bade aus276. Avineri kann wie Knox und Pelczynski einen weiteren Schritt der angelsächsischen Hegelforschung in Richtung auf eine immer besser besetzte und gesicherte „Mitte" der Hegelauslegung symbolisieren. Sein Buch mit dem bezeichnenden Titel „Hegel's Theory of the Modern State" ist (mit der jüngst erschienenen Studie von Taylor) die bisher gelungenste liberal-apologetische Darstellung von Hegels politischer Philosophie in englischer Sprache, eine Deutung, durch welche der endgültige Anschluß des angelsächsischen Hegelianismus ans kontinentale Niveau der Hegelauslegung sicher gestellt sein dürfte. Wie die Hegelkritiker so erkennt auch Avineri, daß Hegels Staatskonstruktion sich fundamental unterscheidet vom „klassischen Liberalismus", der den Staat stets als verdächtiges, notwendiges Übel oder bestenfalls als den Garanten vorstaatlicher Freiheitsrechte verstand277. Hegel war der Theoretiker des modernen Staates, nicht weil er im klassischen liberalen Sinn ein laissez faire der ökonomischen Mächte predigte, sondern weil er im Gegenteil die Einsicht in die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft (dem entscheidenden Phänomen der Neuzeit) mit der zusätzlichen Erkenntnis verband, daß dieser „Golem . . . should not be allowed to run free"278. Wie für Knox, Pelczynski, Weil und Fleischmann so nimmt auch für Avineri Hegel die Ideen der Französischen Revolution auf, ohne ihre politischen „Lösungen" zu unterstützen279. Gerade Rousseaus individualistisch konzipierter Wille hat die Anarchie und den terreur verschuldet280, schon in Jena wendet sich Hegel von den modernen Naturrechtstheorien ab281. Sein Staat ist kein Handlanger für die ökonomischen Interessen der Gesellschaft, sondern was Hegel auf dem Boden der durch die Gesellschaft geschaffenen Realität anstrebt, ist eine Synthese von „homo oeconomicus" und „ ", die Einführung der klassischen Arete in die neue
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Sh. Avineri, Rezension: Hegel's Political Writings. Transl. by T. M. Knox. With an Introductory Essay by Z. A. Pelczynski, in: Hegel-Studien Bd. 4 (1967), 260. Sh. Avineri, Hegel's Theory of the Modern State, Cambrige 1972, 181. op. cit. 240. op. cit. 7f., 47ff., 184. op. cit. 184. op. cit. 82ff.
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soziale Schichtung282. Während die Gesellschaft die Einzelnen isoliert, schafft erst der die Gesellschaft bändigende Staat eine Form der Allgemeinheit, die das gute Leben ermöglicht. Wenn Avineri somit die politischen Übertreibungen Pelczynskis vermeidet, so stimmt er doch prinzipiell mit dessen Analyse des „modernen" Staates überein. „Modern" ist Hegels Staatskonstruktion nicht nur, weil sie die von Rousseau noch offen gelassenen Probleme der neuen bürgerlichen Gesellschaft politisch lösen soll283, sondern auch weil Hegel von der Verfassungsschrift bis zum Aufsatz über die Reformbill im Geiste des politischen Rationalismus alles nur Positive den nachrevolutionären Maßstäben der Vernunft unterwirft284, weil Hegel eine Verwaltung konzipiert, die unabhängig vom Druck der Gesellschaft auf Grund rationaler Kriterien im Sinne des bonum commune entscheiden soll285, weil anders als in der Antike Hegels Staat gerade die subjektive Freiheit in sich aushaken und ihr „its due place" verschaffen muß286, weil Hegel den Absolutismus verabschiedet und die adäquate Form des modernen Staates für ihn die „konstitutionelle Monarchie" ist287 und weil Hegels Staat nicht auf Gewalt und Macht, sondern auf der „rule of law" basiert288. Hegels Staat als modernen zu apostrophieren setzt bei Avineri wie bei seinen Vorgängern voraus, daß die leidige Akkommodationskritik genauso aus der Welt geschafft werden kann wie jede Nähe Hegels zum Bismarckoder Machtstaat. Das Wort „modern" kann zwar für Avineri nicht mehr heißen, „aus dem Geist der liberalen Theorien ä la Bentham oder Rousseau", aber es hat doch immer noch den Sinn, auf den Zusammenhang zwischen Hegels Philosophie und der Geschichte zu verweisen, der wir den Rechtsstaat westlicher Provenienz verdanken, den Staat, der die Bürger- und Menschenrechte respektiert. Die Widerlegung der Akkommodationskritik bei Avineri liest sich wie eine Zusammenfassung aller Argumente, die in der französischen und angelsächsischen Hegelapologetik vorgebracht wurden. Es ist die gleiche Mischung aus qualitativ sehr unterschiedlichen historischen Hinweisen
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op. op. op. op. op. op. op. op.
cit. 85, 240. cit. X. cit. 72 ff. cit. 155ff., Hegels Bürokratie „almost identical with the Weberian ideal type", cit. 160. cit. 167. cit. 185ff. cit. 190ff, 112.
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und philosophischen Auslegungen, auf die wir wieder stoßen; und leider kommt auch Avineri nicht ganz ohne die Übertreibungen seiner Vorgänger aus. Von Weil übernimmt Avineri die neue Legende der Hegeischen Mitte, nach der das Preußen von 1820/21 nur der „Etat avance" der Reformer gewesen sein soll289, wie bei d'Hondt und Knox wächst Hegel geradezu in eine Widerstandsrolle hinein. Hegels Theorie der Repräsentation skizziert nicht nur, wie es seit Rosenkranz heißt, eine in Preußen nicht vorhandene Institution, sondern sie muß sogar für eine „oblique critique of Prussian conditions" herhalten290. Konservative Höflinge, wie von Wittgenstein und der Berliner Polizeipräsident von Kamptz, haben den Oppositionellen Hegel geradezu verfolgt291, der, angestachelt durch eine eindrucksvolle Zivilcourage, für Henning, Carove, Asverus, de Wette und Cousin interveniert292. Wie schon Marcuse, der als Marxist immerhin ein Interesse daran hatte, Hegel als einen der Kirchenväter des Marxismus vor jeder Verbindung mit dem Faschismus zu exkulpieren, wie Marcuse also läßt auch Avineri den mit dem Faschismusverdacht belasteten Hegel und die Burschenschaften die Rollen tauschen. Mit den chauvinistischen, schwärmerischen, Bücher verbrennenden und die Juden diskriminierenden Studenten sowie ihrem Mentor Fries sollen die historischen Kräfte vor uns stehen, „that ultimately culminated in the victory of Nazism in Germany . . ,"293. Es gab also, das ist die Quintessenz, nichts, was Hegel an Fries oder den Burschenschaften hätte verteidigen müssen. Nicht so historisch verzerrt und auch für die philosophische Seite der Akkommodationskritik letztlich belanglos wie diese Strategien, die Hegels vermeintliche Bündnispartner wie den preußischen Staat liberalisieren oder seine Gegner wie Fries und die Burschenschaften als Faschisten abqualifizieren, sind andere traditionelle und neue Argumente, die Avineri noch
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op. cit. 116. op. cit. 117. ebd., op. cit. 131. op. cit. 130f. op. cit. 122. Bei Avineri läßt sich diese übertriebene Schilderung wohl nur aus einer verständlichen jüdischen Reaktion auf den Antisemitismus der Burschenschaften erklären. Zwar hatte Fries in den Heidelberger Jahrbüchern tatsächlich ein antisemitisches Pamphlet veröffentlicht, mit dem Titel „Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden" (1816). Aber so gewiß sich eine Deutschtümelei verbunden mit einem gewissen Antisemitismus bei den Burschenschaften nachweisen läßt, sie waren doch auch (oder trotzdem noch) Zentren der „liberalen" Bestrebungen der damaligen Zeit.
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zusätzlich gegen die Akkommodationskritik wendet. Kunst, Religion und Philosophie, so erfahren wir wieder einmal, waren für Hegel „beyond the strict limit of the state"294. Das Wirklichkeits-Existenz-Argument wird wie bei Pelczynski zum Motto eines politischen Rationalismus hochstilisiert. Es soll allen Ernstes dazu dienen können, den Verdacht auf Quietismus und reaktionären Positivismus zu entkräften und eine „kritische", „rationale" Politik glaubhaft zu machen, die alle „Existenz am Wesen" mißt295. Gegen die Akkommodationstendenz des „geschlossenen" Systems zeugen zudem noch die Ehrlichkeit, mit der Hegel gesteht, nicht immer eine Patentlösung bereitzuhalten (so konzediere er, keine definitive Lösung für die Probleme der Gesellschaft zu besitzen296), und schließlich auch die Existenz prophetischer Äußerungen, welche die zukünftige Rolle der Slawen und der Weltmächte Rußland und Amerika ahnen lassen297. Bei näherem Hinsehen scheint beides jedoch gleich forciert und überzeichnet, die Aufnahme Hegels in den Kreis der Popperschen Rationalisten genauso wie die Widerlegung des „abschlußhaften" Systems. „Amerika als Land der Zukunft", noch das klarste der zweideutigen Zitate298, erfreut sich in Amerika verständlicher Beliebtheit. Aber zur Lösung eines Systemproblems reichen solche beiläufigen Bemerkungen doch wohl kaum aus299. Avineri greift nach Strohhalmen, um Hegels Liberalität zu retten. Die Kriegslehre wird ausführlich (freilich nicht zureichend) exkulpiert300. Als 294
op. cit. 114. op. cit. 123ff. 296 op. cit. 154. 297 Z. B. Phil. d. Gesch. SW XI, 129f., 447; Br. Bd. II., 297/298. 298 Heißt es im Brief an Boris von Uexküll vom 28. Nov. 1821 noch einigermaßen deutlich: „Sie sind so glücklich ein Vaterland zu haben, das einen so großen Platz in dem Gebiete der Weltgeschichte einnimmt und das ohne Zweifel eine noch viel höhere Bestimmung hat" (Br. Bd. II., 297/298), so läßt sich aus dem Zitat über die Rolle der Slawen schon nur noch mit Anstrengung eine echte Zukunftsbezogenheit herauspressen. Denn Hegel schließt den Absatz dort mit den Worten: „Dennoch aber bleibt diese ganze Masse aus unserer Betrachtung ausgeschlossen, weil sie bisher nicht als ein selbständiges Moment in der Reihe der Gestaltungen der Vernunft in der Welt aufgetreten ist. Ob dies in der Folge geschehen wird, geht uns hier nicht an; denn in der Geschichte haben wir es mit der Vergangenheit zu tun" (Phil. d. Gesch. SW XI, 447, Hervorhebung, H. O.). 299 Dies scheint auch Avineri zu ahnen, wenn er von den Zitaten behauptet, sie seien „mere footnotes to a very impressive . . . corpus of philosophical thinking", Avineri 1972, 238. Diese realistischere Einschätzung auch bei Löwith 31969, 55. 300 Avineri möchte zeigen, daß Hegels Kriegstheorie nicht in eine nationalistische oder totalitäre Ideologie paßt, „which naturally would tend to glorify and romanticize both 295
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einziger Fehler der Hegeischen Konstruktion gilt die mangelnde Voraussicht, die Hegel den Nationalismus als eine der treibenden Mächte des 19. und 20. Jahrhunderts genausowenig ahnen läßt301 wie den modernen, totalen Krieg302. Hegel als Nationalist, das allerdings zeigt Avineri überzeugend, ist der Name für eine der typischen Hegellegenden. Dem Nationalismusverdacht liegt ein ähnlicher Anachronismus zugrunde, wie wir ihn in Ruges Verwechselspiel mit den verschiedenen Phasen der preußischen Entwicklung am Werk sahen303. Denn zunächst galt Hegel den Nationalliberalen wie Haym gerade deshalb als antiliberaler Antinationalist, weil man Hegel mit Preußen assoziierte. Erst als Preußen seine Politik änderte und sich zum Vorkämpfer der nationalen Einheit machte, konnte man den Preußen Hegel als Nationalisten angreifen304. Die Phasenverschiebung wurde möglich, weil sich Autoren wie Rosenkranz und Köstlin dem Geist von 1870 anpaßten und beide 1. aus der Verfassungsschrift einen quasi nationalistischen Extrakt destillierten, weil sie 2. den ganzen Hegel nur als Nationalisten feiern wollten. Dabei stellt Hegel selbst in der Verfassungsschrift fest, daß auch am Beginn des 19. Jahrhunderts kein Bedürfnis besteht, einen Staat zu schaffen, in dem Sitte, Tradition, Sprache und Kultur
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the conduct of the war itself and its results" (op. cit. 204). Denn l. betone Hegel (was auch Fleischmann vertritt) quasi den „existentialistischen" Sinn des Krieges, der die Relativität der menschlichen Existenz aufscheinen lasse (op. cit. 198), ein Test für die Solidarität der Bürger sei (op. cit. 199), ja sogar noch die „ultimate meaningless of the act of war itself" (op. cit. 204) ausdrücke; 2. wolle Hegel (was schon Weil behauptete und auch von Smith dargelegt wird, C. I. Smith, Hegel on War, in: Journal of the History of Ideas Vol. XXVI [1965], 284f.) nur „beschreiben", was ist, nicht sagen, daß es so sein soll (Avineri 1972, 201; vgl. ders., The Problem of War in Hegel's Thought, in: Journal of the History of Ideas, Vol. XXII [1961], 463ff.). Dem entgegenzusetzen wären: Hegels Romantik der „blanken Säbel" (Rph 1821, SW VII, §324Z), der in der „existentialistischen" Rechtfertigung durchschimmernde Zynismus sowie der fragwürdige Status der „Deskriptionen" (Diesen bemerkt D. P. Verene, Hegel's account of war, in: Pelczynski 1971, 172ff.; Verene setzt die doppeldeutigen, deskriptiven wie präskriptiven Aussagen Hegels zu dessen allgemeiner „presentation of actuality" in Beziehung, ohne jedoch plausibel zu machen, wie dies Hegel entlasten könnte). Hinter Hegels „äußerem Staatsrecht" verbirgt sich ja mehr als eine bloße „Deskription", nämlich die Abwehr aller Sollensforderungen sowie die aus der Akkommodationstendenz des Systems sich ergebende Gefahr historizistischer Verklärung bestehender Zustände. Zudem wäre wieder einmal an die Inkonsequenz zu erinnern, die für eine Geistphilosophie in der abstrakten Entgegensetzung der Staaten liegen muß. Avineri 1972, 241. op. cit. 205. Siehe hier II. 1.1. Sh. Avineri, Hegel and Nationalism (1961), in: Kaufmann 1970, 113.
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einheitlich sind305. Während Haym Hegel noch als frankophilen NapoleonAnhänger und Kritiker der „nationalen" Burschenschaften, sozusagen als vaterlandslosen Gesellen, bekämpft, nach 1870 wird der ehemals vaterlandslose Preuße zum Theoretiker der Nation, die es erst 40 Jahre nach seinem Tode gab. Die Sachlage ist in der Tat kurios. Sie bestätigt noch einmal das Bild von den aktualistischen Verzerrungen der Hegeldeutungen. Avineri kämpft hier für die rechte Sache, allerdings mit nicht ganz akkuraten historischen Daten306 sowie mit unglücklich gewählten Zeugen. Rosenkranz' Schrift von 1870 hatte den nationalen Schriftsteller Hegel, nicht den Nationalisten zum Thema, und Köstlins verwaschene Popularisierung blieb m. W. ohne Einfluß. Avineri hat freilich recht, an die Verwirrung zu erinnern, die in angelsächsischen Ländern die alte Übersetzung von Sibree schuf, der „germanische Welt" mit „The German World" übersetzte307. Hegels Abfolge geschichtlicher Welten ist aber kein Katalog von Nationalstaaten. Der Volksgeist bedeutet weder die romantisch-mystische Verklärung eines germanischen Urvolkes noch die nationalistische Glorifizierung eines modernen Staates308. Den Versuch, das germanische Urrecht wiederzubeleben, kritisiert Hegel an der historischen Rechtsschule309, seine Staatsidee repräsentiert wohl ein griechischer Staatenbund eher als ein Bundesstaat310, die weltgeschichtlich dominierenden Völker schießlich, denen Hegel ein „absolutes" Recht zuspricht, sollen, ganz so wie es Meinecke, Giese, Trott zu Solz und Heimsoeth meinten, „kulturell" die Führung übernehmen, nicht aber politisch als „Nationen". Avineri schützt Hegel auch vor dem Vorwurf des Nationalismus mit allen Mitteln. Ein Autor wie Meinecke, der weniger vom apologetischen Interesse getrieben wird als Avineri, würde Hegels Souveränitätslehre auch
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op. cit. 115. Avineri beruft sich auf einen Abschnitt der Verfassungsschrift (H 36). „Prior to 1870, nobody ever identified Hegel with German nationalism" (Sh. Avineri, Hook's Hegel [1968], in: Kaufmann 1970, 76) ist falsch, weil Rößler schon 1857 und Lassen 1868 Hegel „national" auslegen. Auch stimmt natürlich nicht, daß Haym der erste war, „to castigate Hegel for accommodation with Prussia", Avineri 1972, 115. 307 Avineri 1961, in: Kaufmann 1970, 130; Avineri 1972, 222 Fußnote. 308 j)er Volksgeist stehe vielmehr für das Gesamt der kulturellen Äußerungen eines Volkes, für die Unabhängigkeit der alten Stadtstaaten und die Idee der Schönheit und Moralität. So die chronologische Reihenfolge der Entwicklungsstadien nach Avineri, Avineri 1961, in: Kaufmann 1970, 116, 121. 309 op. cit. 128. 310 op. cit. 129. 306
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als ein Element im Strom der geistigen Bewegungen anerkennen können, die (wie damals die Romantik) den Staat als eine Individualität erkennen lernten. Dennoch bleibt der Versuch, Hegel als „Nationalisten" zu feiern oder zu verdammen, einer der Irrwege der Hegelforschung, welcher der Bismarck-Zeit, nicht Hegel selbst anzulasten ist. Avineri hat den Anschluß der angelsächsischen Interpretation der Hegeischen Philosophie an das kontinentale Niveau wiederhergestellt. Jetzt liegt eine umfassende Studie von Taylor vor, welche für die Gesamtdeutung Hegels eine ähnliche Funktion erfüllen dürfte311. Wie sein Vorgänger Avineri weiß auch Taylor wieder um die Aktualität der Hegeischen politischen Philosophie, die höchst zeitgemäß ist, auch wenn Hegels Synthesen heute zerbrochen sind312. Denn das große Problem, das Hegel politisch-philosophisch lösen wollte, ist uns nach Taylor auch heute noch ungelöst zur Bewältigung aufgetragen: die Konzeption einer „situated freedom" zu finden, die, anders als die moderne, absolute und inhaltsleere Selbst-Bestimmung313, eine Freiheit wiedergewinnen hilft, die auf die Ordnung der Natur, der Geschichte und der Gemeinschaft rückbezogen ist. Wie Findlay über Wittgenstein zu Hegel fand, so ist auch Taylor ein analytischer Philosoph, der über den späten Wittgenstein und dessen Affinität zur Hermeneutik die intersubjektiven Gehalte des Hegeischen „Geistes" wiederentdeckte. So erklärt sich, was dieses Buch auszeichnet, die große Klarheit des wissenschaftstheoretischen Ausdrucks, die trotz der tiefen Durchdringung der philosophischen Gedankenwelt Hegels nie verloren geht, so wird aber auch verständlich, woran auch diese, Hegel scheinbar neu-entdeckende Arbeit noch krankt, an einer allzu breiten Textparaphrase und dem Verzicht auf die Einbeziehung größerer Mengen der Sekundärliteratur. Soweit Taylor ein Vorbild der Hegelauslegung besitzt, läßt er sich von Avineri inspirieren, dessen Hegelbild er bis in
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Ch. Taylor, Hegel, Cambridge 1975. Taylor nimmt, vielleicht etwas voreilig, an, daß 1. niemand mehr an Hegels „central ontological thesis" glaube, „that the Universe is posited by a Spirit whose essence is rational necessity" (op. cit. 538), daß 2. keiner mehr den Hegeischen Optimismus teile, die „horrors and nightmares of history . . . were behind us" (op. cit. 545). Recht eindrucksvoll der Aufweis der Leere des modernen emanzipatorischen Freiheitsbegriffes! Seine historische Spannweite schließt für Taylor ein: „the classical liberalism from Locke to Bentham . . . the Rousseauian conception of freedom as obeying only oneself . . . the Kantian notion of autonomy and its successors right up to the Marxian idea of the realm of freedom" (op. cit. 560).
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Einzelheiten reproduziert314. Jedoch geht er auch, was entscheidender ist, in einem so weiten Schritt über Avineri und die ganze bisherige angelsächsische Art und Weise der Hegeldeutung hinaus, daß die Hoffnung begründet erscheint, jetzt sei das Ende der einseitigen Hegel-Liberalisierung und damit die Möglichkeit eines rapprochements zwischen liberalkritischer und liberal-apologetischer Richtung der angelsächsischer Hegelforschung in Sicht. Mit Taylor könnte das Ende der einseitigen Hegelverketzerung und Hegelverteidigung insofern erreicht sein, als ihm beide Ansätze allein gleich viel (oder gleich wenig) wert zu sein scheinen. Hegel als „liberal" oder „konservativ" zu klassifizieren, das muß zu „laughable misinterpretations"315 führen. Denn man kann Hegel „liberal" nennen, weil er, getreu den Prinzipien von 1789, einen „modern state" entwirft, der um die Herrschaft des Gesetzes und die Freiheitsrechte des vernünftigen Individuums zentriert ist316, man darf ihn genauso gut als „Konservativen" einstufen, der entschieden zurückweist, was für klassische Liberale wie Locke oder Mill die Grundlage des Staates ausmachen sollte, „individual liberty, equality . . . the responsibility of government to the governed"317. Taylor läßt eine tiefe Sympathie gerade für die Seiten der Hegeischen politischen Philosophie durchblicken, die Hegel in den Ruf gebracht
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Ebenso wie Avineri kennt Taylor das Wirklichkeits-Existenz-Argument (op. cit. 422), wie sein Vorgänger trennt auch er Hegels „rationale" Staatslehre vom Legitimismus eines Haller oder von der Verurteilung der Französischen Revolution im Geiste Burkes (op. cit. 423ff.); Hegels Gegner wie Fries und die Burschenschaften werden wieder ein wenig einseitig als Chauvinisten und Antisemiten abqualifiziert (op. cit. 421 Fußnote), wieder soll der endgeschichtliche Sinn der Geschichtsphilosophie durch Hegels Äußerungen über Amerika und Rußland relativiert werden (op. cit. 426), wieder wird Hegels „äußeres Staatsrecht" samt seiner Kriegslehre nur unzureichend verteidigt; denn mit der paraphrasierenden Bemerkung, der Staat als Zentrum der Identität seiner Bürger „must remain an individual against others" (op. cit. 448), läßt sich der Hegeische Rückschritt hinter Kants Kosmopolitismus und Friedensideal nicht aus der Welt schaffen. Noch einmal soll das „Differenz-Argument" die Unterschiede zwischen Hegels „constitutional monarchy" (op. cit. 441) und dem preußischen Staat enthüllen (op. cit. 425, 452), noch einmal wird die Entstehung des Akkommodations- oder des Nationalismusvorwurfes aus der politischen Entwicklung Deutschlands nach Hegel erklärt (op. cit. 456f.), eine wichtige Erkenntnis, die Taylor allerdings so genau von Avineri übernimmt, daß er wie dieser den Ursprung der Akkommodationsthese erst bei Haym ansetzt (op. cit. 457 Fußnote). op. cit. 375. op. cit. 449/50. Taylor nennt „freedom of conscience, freedom to select his profession, the security of his property and freedom of economic enterprise". op. cit. 450.
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Die Rehabilitation Hegels im Licht der westlichen Demokratievorstellungen
haben, ein konservativer oder gar reaktionärer Denker zu sein. Die Kritik des individualistischen Naturrechts im Stile Rousseaus oder Kants318, die Sittlichkeit, welche die Moralität überformt319, die Eingliederung der Individuen in Stände (die Hand in Hand geht mit einer Ablehnung des demokratischen Wahlrechts)320, der Staat als „Substanz", „Wesen" oder „Selbstzweck"321, der „Volksgeist"322 und die (uns den Sinn unseres Handelns verbergende) „List der Vernunft"323, sie alle werden mit dem Ausdruck „konservativ" höchstens etikettiert, aber nicht begriffen. Denn hinter ihnen verbirgt sich einmal eine legitime Kritik am Atomismus und Utilitarismus der liberalen Staatstheorie, die mit ihrem Ausgang vom isolierten Individuum und seinen „needs" und „interests"324 den Konsens, der Gemeinschaft trägt, nie selbst begründen, sondern nur voraussetzen kann, zum anderen eine Philosophie der „community", die eher als einen konservativen Universalismus die Wahrheit über den Menschen als animal sociale ausdrückt. Gerade die für Liberale wie Plamenatz so anstößige Lehre vom Menschen, der nur im Staat Mensch werden kann, bedeutet für den Wittgenstein-Kenner Taylor (der bereits im Sprachspiel den Konnex von Sprache, Leben und Intersubjektivität zu würdigen gelernt hat) keinen Skandal, sondern eine tiefe, immer (und gerade in der Moderne) wieder aktuelle Einsicht in das politische Wesen des Menschen325. Hegel hat sehr wohl die bürgerliche Gesellschaft in ihrer atomistischen Struktur durchschaut, er hat den radikalen Freiheitsbegriff der Moderne als leeren und sogar als tendenziell anarchischen und revolutionären erkannt, gleichwohl hat er versucht, ihn im Rahmen eines nicht-individualistischen Naturrechts in eine neue-alte Sittlichkeit, in die Ordnung eines ständisch gegliederten Gemeinwesens, in den Volksgeist, kurz in die Konzeption einer „situated freedom" zu integrieren. Hegel wollte an das erinnern, das seine Gemeinschaft nicht nach einer utilitaristischen Planskizze entwirft, sondern in sie wie in einen „Organismus" hineinwächst326, ein noch im Scheitern bedeutsamer Versuch, der nicht 318 319 320
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op. cit. 365ff. op. cit. 377. op. cit. 445. op. cit. 379ff. op. cit. 380. op. cit. 420. op. cit. 459. op. cit. 381 ff. Taylor erkennt, daß die Normen der Gemeinschaft für Hegel nicht einfach „human inventions" sind (op. cit. 386); das Organismus-Bild gilt ihm ähnlich wie Gregoire nicht
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gelingen konnte, weil Hegel die kranke Moderne mit den Mitteln einer alten Ontologie zu heilen suchte. Taylor nennt sie (in Verkennung der engen Verbindung Hegels mit der modernen Geschichtsphilosophie) ständig die Ontologie eines „cosmic spirit"327, während sie für Hegel doch genauso eine „Ontologie des geschichtlichen Geistes" gewesen ist. Aber wie immer die Elemente der Hegeischen Mischung von Antike und Moderne zu gewichten sind, Taylors Buch, das den liberalen Hegelkritikern konzediert, daß Hegel kein Liberaler war, das aber doch Verständnis bekundet für die nicht-liberalen Züge der Hegeischen Staatslehre, könnte der Anstoß werden, der die Hegelforscher Amerikas und Englands zwingt, die festgefahrenen Gleise ihrer einseitigen Hegelauslegung zu verlassen. 6. Der Höhepunkt der deutschen Hegelapologetik. Joachim Ritter und seine Schule Was schon Anfang der fünfziger Jahre in Frankreich begann und sich nun auch in angelsächsischen Ländern durchgesetzt hat, die westliche „liberale" Deutung Hegels als des Lehrers des „modernen" freiheitlichen Rechtsstaates, dem hat Joachim Ritter in Deutschland so zum Durchbruch verholfen, daß die hegelianisch mittlere Hegelauslegung fast zum akademischen Normalfall geworden ist. Nach Rosenkranz, also nach fast 100 Jahren, wurde zum ersten Mal wieder eine Deutung vorgelegt, die nicht nur wie die von Rosenzweig, Giese, Löwenstein, Trott zu Solz, Heimsoeth oder die Nachkriegs-Interpretation von Seeberger328 die mehr
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als eine Zweck-Mittel-Relation von Ganzem und Teil, sondern als ein Verhältnis von „parts of an organism" (ebd.). op. cit. 388 u. ö. Der Züricher Privatgelehrte Seeberger ist einer der wenigen, die außerhalb der RitterSchule Hegelapologie betreiben. Sein dem „subjektiven Geist" gewidmetes Buch verteidigte Hegel zwar schon im Vorspann gegen die geläufigen Vorwürfe wie Akkommodation an Preußen (W. Seeberger, Hegel oder die Entwicklung des Geistes zur Freiheit, Stuttgart 1961, 44f.), „Konservatismus" (op. cit. 45f.), „Staatsvergottung" (op. cit. 46ff.), „Revolutionarismus" (op. cit. 50f.), Prae-Marxismus (op. cit. 51 ff.), „Hybris" (op. cit. 61 ff.), „Vollendung der Philosophie" (op. cit. 63ff.), „Quietismus" (op. cit. 65f.) und „Verherrlichung des Krieges" (op. cit. 66ff.) mit den üblichen Strategien der „Mitte", doch blieb die Ausführung noch hinter dem Programm zurück, weil Seeberger anders als der in großen Perspektiven interpretierende Ritter Hegelzitate und eigene Paraphrase bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen ließ, weil er zudem die entwicklungsgeschichtlichen Differenzen Hegels ineinander verwischte. Eine Würdigung des ansonsten verdienstvollen Buches bei W. Kern, Hegel-Bücher 1961-1971. Ein Auswahlbericht (6. Teil), in: Theologie und Philosophie 48. Jg., Heft 3 (1973), 400.
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Joachim Ritter und seine Schule
oder weniger typischen Strategien der Hegelverteidigung einsetzte, sondern zum ersten Mal wurde wieder eine Auslegung entwickelt, die sowohl die links- als auch rechtshegelianischen Anliegen in sich aufnahm, ohne Hegel selbst zum Rechts- oder Linkshegelianer zu machen. Von den Linkshegelianern übernimmt Joachim Ritter Hegels Parteinahme für die Französische Revolution und die bürgerliche Gesellschaft, ohne zugleich Hegel als Akommodationsphilosophen zu kritisieren. Damit wird die Ambivalenz der doppelzüngigen Hegelbegeisterung der heutigen Linkshegelianer vermieden, ohne daß ihr Anliegen verlorengeht. Mit den Rechtshegelianern verbindet Ritters Deutung die Erkenntnis, daß Theorie und Politik bei Hegel noch einen klassischen Sinn besitzen, der aus der Tradition des abendländischen Denkens aufgeschlüsselt werden muß, von den Rechtshegelianern trennt ihn die Gemeinsamkeit mit Hegels linken Schülern, das Beharren auf der Nähe zur Revolution und zu ihren Idealen von Freiheit und Gleichheit, die es verbieten, den klassischen Sinn des Staates bei Hegel in eine Lehre vom autoritären Macht- oder Volksstaat zu verwandeln. Aber die zwei Zentren der Hegelauslegung Ritters, Revolution bzw. bürgerliche Gesellschaft und Hegels klassische Theorie und Politik, bedürfen eingehender Prüfung, von welcher die Anerkennung, die Ritters Deutung genießt, nicht ablenken darf. Ritters Schüler, die durch Kenntnisse und Formulierungskünste aus der Masse der deutschen Berufsphilosophen herausragen, haben seine Deutung so weit verbreitet, daß es schwerfällt, sich ihr überhaupt zu entziehen. Aber kommt Ritter den Linkshegelianern nicht zu weit entgegen, wenn er Revolution und Gesellschaft zu den zentralen Kategorien hochstilisiert? Und läßt sich die Beziehung Hegels zur philosophischen Tradition so schildern, wie Ritter sie beschreibt? 6.1. Hegel als Metaphysiker der Politik und Onto-Theologe, als Denker der modernen Gesellschaft und Philosoph der Revolution Q. Ritter) Joachim Ritter hat zur Absicherung seiner Deutung auf manche der Strategien zurückgegriffen, die wir schon als übertriebene, apologetische Hegelverteidigungen bei Eric Weil, Avineri, Marcuse u. a. auftauchen sahen329. Aber die üblichen Methoden der Liberalisierung Hegels sind nur einseitige Darstellung des preußischen ,,£tat avance" wird genauso übernommen wie Marcuses halbwahre Beschreibung des nur „pseudodemokratischen" Charakters der Burschenschaften. Hegels (gewiß ehrenhafter) Einsatz für Asversus, de Wette, Carove
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Marginalien an der großangelegten Deutung, welche die Auseinandersetzung wieder auf ein Niveau hebt, das sie bei Rosenkranz noch besaß. Der Klarheit halber wollen wir die essayistisch formulierte Interpretation Ritters in zwei Thesen auseinanderbrechen, die eng ineinander verzahnt sind, aber doch gesondert untersucht werden müssen. Die erste, die man die „onto-theologische" These nennen könnte, lautet: (1) Hegel holt die Politik in die Metaphysik zurück, die für ihn immer noch die „theoretische Wissenschaft vom Sein des Seienden" bedeutet, Wissenschaft von jenem Sein, das „zugleich mit der Vernunft und dem Göttlichen der Tradition identisch bleibt"330, dem „Göttlichen", das der Mensch für Aristoteles und Thomas im nachzuahmen versucht, dem Vernünftigen, das seit Parmenides und Anaxagoras als Identität von Denken und Sein oder als philosophisches 331 Weltprinzip war . Die zweite, die nicht nur prima facie, sondern auch in einem eminenten Sinn sich nicht zur ersten zu fügen scheint, heißt: (2) „. . . es gibt keine zweite Philosophie, die so sehr und his in ihre innersten Antriebe hinein Philosophie der Revolution ist wie die Hegels"332, „Diese Revolution der Emanzipation g e h t . . . für Hegel in allen ihren Formen . . . auf die bürgerliche Gesellschaft zurück; diese ist selbst die Revolution im Grunde . . ,"333. Man müßte diese These vielleicht als die revolutionär-soziologische bezeichnen. 6.1.1. Hegel als „klassischer" Philosoph im Kampf gegen den Atheismus der sittlichen Welt Mit der Behauptung (1) scheint Ritter zunächst nur das zu versuchen, was etwa zur gleichen Zeit Gregoire anstrebte, eine Klarstellung dessen,
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und Cousin, so hat man wieder das Gefühl, soll als Zeugnis der liberalen Grundeinstellung Hegels, nicht einfach als Zeichen seiner Menschlichkeit gewertet werden. J. Ritter, Hegel und die Französische Revolution (1957), in: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Fft. a. M. 1969, 239 und 249. Ritters Aufsätze werden, soweit nicht anders vermerkt, im Folgenden aus diesem Sammelband, unter Angabe des ersten Erscheinungsjahres, zitiert. op. cit. 186. op. cit. 187. op. cit. 192. op. cit. 227.
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was „göttlich" bei Hegel denn genau heißt. Denn Ritter erklärt das „Göttliche", auf das Hegel rekurriert, durch die gleiche Rückbesinnung auf die griechische Tradition, aus der Gregoire Hegels Ansatz sich entwickeln sieht. Aber anders als in Gregoires historischer und philologischer Argumentation bleibt bei Ritter unausgesprochen die ganze systematische Problematik des Linkshegelianismus im Hintergrund. Denn die Göttlichkeit des theoretischen Lebens und der Theorie selbst, das ist es ja, was den Philosophen Hegel von den „letzten" Philosophen unterscheidet, als die sich seine linken Schüler verstanden. Die Linkshegelianer können zwar das Verdienst beanspruchen, die Aktualität der Hegeischen Philosophie erkannt und wachgehalten zu haben334, aber indem sie die Philosophie selbst nur noch als Gedanken der Zeit begriffen, verloren sie den entscheidenden Bezug, durch den Hegels Denken noch in der Tradition der abendländischen Philosophie verbleibt. Die Verkürzung des Theoriebegriffs auf den „Gedanken der Zeit" läßt die Linkshegelianer nicht mehr akzeptieren, was Hegel mit der „Vergöttlichung" des Staates bezweckt. R. Haym, der etwas unpassend die Rolle des linkshegelianischen Buhmannes für Ritter symbolisiert (eine Rolle, die als Philosoph des Zeitgeistes besser Rüge und als Philosoph der Gesellschaft besser Marx eingenommen hätte335), R. Haym, der die Emanzipation der Gesellschaft vom Himmel der Religion und Metaphysik begrüßt, muß sich dagegen verwahren, daß Hegel quasi die Befreiung wieder rückgängig machen will, indem er Gesellschaft und Staat in die Metaphysik zurücknimmt. Aber damit hat Haym, wenn wir Ritter glauben dürfen, die Pointe der Hegeischen Intention gerade verfehlt. Wenn Hegel die „gottlose" Realität der Gegenwart wieder an die Substanz der Tradition bindet, dann vergöttlicht er den Staat genausowenig wie er das Faktische als solches heilig spricht. Was seit Rüge und Haym als Kardinalfehler der Hegeischen Staatslehre galt, verbirgt nach Ritter gerade die heimliche Stärke der Hegeischen Philosophie. Indem diese sich das Vernünftige und Göttliche der Tradition nicht nehmen läßt, ist nämlich gerade sie in der Lage, die Gefahr zu bannen, die der gegen334
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Allerdings übertreibt Ritter genauso wie sein Gewährsmann Vogel, wenn er bloß den Linkshegelianern ein Wissen um die epochale Bedeutung der Hegeischen Philosophie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konzediert, op. cit. 242. Rosenkranz und auch C. Rößler, das haben wir schon gezeigt, haben durchaus aus der Einsicht in das gleiche Problemniveau andere Deutungsmuster entwickelt, siehe hier III. 2.1. und IV. 1. R. Haym war weder Antimetaphysiker noch Positivist; auch erkennt er das Problem der Gesellschaft, auf das Ritter alles zuschneidet, gerade nicht; siehe hier II. 2.
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wältigen Vernunft durch den „Atheismus der sittlichen Welt"336 droht, jener geistigen Einstellung, die sich weigert, in der „sittlichen Welt" noch das „Göttliche" und „Substantielle" anzuerkennen. Es sind nicht nur die linken Revolutionäre (oder Linksliberale wie Haym), die in der Gegenwart nur „das Ende der alten Welt und die Befreiung von den ,irreal' gewordenen Mächten der Religion und Metaphysik" konstatieren337, auch die scheinbar entgegengesetzten Strömungen wie Romantik und Restauration verstehen die gegenwärtige Epoche nur als den „Verlust des Wahren, Heiligen und Schönen, als Untergang des Menschseins des Menschen selbst"338. Die restaurative Romantik glaubt in der Trauer um die verlorene Heimat des Menschen, das Göttliche nur noch in der Innerlichkeit der Subjekte bewahren zu können, die revolutionären Emanzipationstheoretiker leugnen die Vernunft der Tradition, weil sie die neue Zeit allein als Befreiung von den alten Mächten begrüßen. Beide Bewegungen, als komplementäre Pole eines Phänomens geeint, zerschneiden die geschichtliche Kontinuität von Vergangenheit und Zukunft, weil die einen die Gegenwart um der Vergangenheit, die anderen die Vergangenheit um der Gegenwart willen ausblenden. Restauration als Wiederbelebung des Alten, weil es alt ist, und Emanzipation als Vergötzung des Neuen, weil es neu ist, symbolisieren zwei Seiten einer Medaille, zwei Aspekte der einen „Entzweiung", die schon der junge Hegel als das zentrale Phänomen seiner Zeit begreift. Entzweiung als Realität aber heißt für Ritter nichts anderes als die Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft339, welche die „Diskontinuität" von Herkunft und Zukunft durchsetzt, die sich in restaurativer Romantik und revolutionärer Emanzipationsgläubigkeit spiegelt. Aber wenn der Atheismus der sittlichen Welt sozusagen sein fundamentum in re besitzt, wie kann der Vernunft und Göttlichkeit noch eine Gefahr drohen, die nicht schon eingetreten ist? Der Sinn der ersten These läßt sich jetzt nicht mehr verstehen, wenn nicht auch die zweite Behauptung (2) kurz angesprochen wird340. Denn das Begreifen der Gegenwart ist nach Ritter gerade mit dem Anknüpfen an die Tradition eng verbunden. Die Gesellschaft fungiert in einer dialek336 337 338
339 340
Rph 1821, SW VII, 25. op. cit. 212. ebd. Z. B. op. cit. 218/219, 223, 226ff. u. ö. Die zweite These soll im Moment nur soweit erörtert werden, als sie die Bedingung für das Verständnis der ersten These darstellt.
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tischen Doppelrolle. Einmal realisiert sie die Ideen der Revolution und ermöglicht Freiheit und Gleichheit als politische Rechte aller Menschen (und zwar gerade dadurch, daß sie den Menschen als Natur- und Bedürfniswesen aus allen überkommenen Bindungen „emanzipiert" und ihn auf der Basis einer allen gleichen Bedürfnisnatur egalisiert). Zum anderen aber verbirgt sich in dieser Entzweiungsfunktion, durch die der Mensch aus den Banden der Familie, der Sitten, Gebräuche, der Privilegien und Zünfte gelöst wird, zugleich die positive Bedeutung, welche die Zeit der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur als Geschichtsbruch, sondern als eine Entwicklungsphase verstehbar macht, in der das Substantielle und Göttliche der Tradition bewahrt ist. Es erfordert eine gewisse „dialektische" Anstrengung, Ritters Deutung hier nachzuvollziehen. Denn gerade die „geschichtslose" Basis der bürgerlichen Gesellschaft, der Mensch als bloßes Naturwesen, verkörpert das „geschichtliche" Wesen der Zeit. Indem die Gesellschaft nur das Bedürfniswesen beansprucht, läßt sie alle trans-natürlichen Bestimmungen des Menschen frei und erlaubt über die abstrakte Gleichheit und Freiheit hinausgehende Besonderheit. Statt wie die Linkshegelianer den Menschen auf den homo oeconomicus zu reduzieren und mit der geschichtlichen Herkunft zu brechen, erlaubt die positive Freisetzung der trans-natürlichen Freiheit des Menschen durch die Gesellschaft die Anknüpfung an die Kontinuität mit der „Herkunft". Indem die Gesellschaft „nur den Natürlichen Willen' des Menschen zum Inhalt hat, gibt sie ihm daher die }wahren Bestimmungen der Freiheit' und seines Selbstseins frei. In dieser Freigabe liegt der positive geschichtliche Sinn der abstrakten Freiheit und ihrer emanzipativen Konstituierung durch die Entzweiung"341. Damit ist klar geworden, daß Ritter wie Rosenkranz Hegel in die Mitte zwischen Revolution und Restauration stellt, indem er Hegel beide kritisieren und gegeneinander ausspielen sieht. Der Versuch der restaurativen Romantik, sich nur antithetisch zur sozio-politischen Revolution zu verhalten und das Göttliche im Inneren der Individuen als Heiliges, Schönes und Wahres zu bewahren, gefährdet durch die Negation der mit der Entzweiung Realität gewordenen Vernunft gerade das, was sie sichern möchte. Wenn „der subjektive Sinn das göttliche vor ihr (der modernen Gesellschaft, H. O.) zu retten versucht, wird mit diesem Retten der Gesellschaft die Substanz entzogen, die sie geschichtlich trägt. Die haltenden Kräfte werden zerstört; das Retten ruft den Untergang herbei, den es 341
op. cit. 229.
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verhindern will"342. Die revolutionären Apologeten, die nur die negative emancipatio des Naturwesens Mensch feiern, verspielen in gleicher Weise die geschichtliche Substanz, die durch die abstrakte Freiheit und Gleichheit auf dem Boden der Gesellschaft alleine nicht befriedigt werden kann. Die absolut gesetzte abstrakte Freiheit verwandelt die Revolution in die „Furie des Verschwindens", die jede politische Ordnung zerstört und als Antithese die Mächte der Reaktion aus sich erzeugt343. Die unbeschränkte, verabsolutierte Gesellschaft vernichtet in sich die von der Entzweiung freigesetzten „Mächte des persönlichen Lebens, der Subjektivität und der Herkunft . . ,"344. Hegels Rückbesinnung auf das „Göttliche" und „Vernünftige" der Tradition geht somit mit der Erkenntnis der „Zeit" eine Identität ein, die das Ungeheuerliche und Nie-Dagewesene des Hegeischen Philosophiebegriffes ausmacht. „Hegel setzt die traditionelle metaphysische Theorie unmittelbar und als diese mit der Erkenntnis der Zeit und der Gegenwart gleich. Die Philosophie als Erkenntnis des Seins ist zugleich ,ihre Zeit in Gedanken erfaßt'"345. Ritters großangelegte Deutung bringt die klassische Theorie genauso ins Spiel wie Hegels Wendung der Philosophie auf die Erkenntnis der Zeit, die beide zusammen erst die Doppelsinnigkeit des Hegeischen Philosophiebegriffs, seine Stellung in und jenseits der Tradition markieren. Aber überschätzt Ritter nicht die Kontinuität zwischen klassischer Tradition und Hegelschem Denken? War die Theorie der Griechen so ontotheologisch, wie Ritter sie auffaßt? Und läßt sie sich tatsächlich mit einer Philosophie vereinen, die sich zugleich ihrer Zeit verschreibt? Es wird sich lohnen, wenn wir zunächst einmal trennen, was freilich letztlich bei Hegel eine geistphilosophische Einheit bildet, nämlich praktische und theoretische Philosophie. Hegel steht in der Tat auf den Schultern des Aristoteles, dessen politische Ethik er genauso wiederbeleben wollte, wie er dessen Feier der göttlichen noch weiter zelebrierte. Aber zugleich bricht Hegel mit dieser Tradition mindestens genauso radikal, wie er sie weiterleben läßt.
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op. cit. 233. op. cit. 225. op. cit. 232. Ritter 1957, 189.
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6.1.1.1. Die zweideutige Wiederherstellung der ethischen Politik (1) Hegels Begriff der Sittlichkeit hat anerkanntermaßen die Aufgabe, die Kantische Trennung von Legalität und Moral, ja überhaupt die ganze „moderne" Gesinnungs- und Autonomiemoral mit Hilfe des klassischen, ethisch-politischen Naturrechts zu überwinden. Schon die ersten Rezensenten der Rechtsphilosophie und Rudolf Haym hatten diese Gräzisierung bemerkt, die neuere Hegelapologetik hat sie wieder in Erinnerung gebracht und als gesicherte Erkenntnis etabliert, gesichert in dem Sinne, daß Hegels Intention nicht mehr ernsthaft bestritten werden kann346. Anders als der Schulphilosoph Wolff oder als Kant schränkt Hegel die Ethik nicht mehr auf die Gesinnung der Individuen ein. Handeln wird vielmehr wieder eingebettet in die Institutionen, Gewohnheiten, Sitten und Gesetze347. 348 Bei Hegel wiederholt sich das alte Wortspiel von und . Sittlichkeit wird wieder als jene „Mitte" definiert, die vom Menschen 346
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Neuere Interpretationen, welche an Hegels Restitution des Naturrechts erinnern, sind die hier schon besprochenen von Weil, Fleischmann, Gregoire, Avineri, Taylor. Hinzuzählen lassen sich H. Schmidt, Verheißung und Schrecken der Freiheit. Von der Krise des antik-abendländischen Weltverständnisses dargestellt im Blick auf Hegels Erfahrung der Geschichte, Stuttgart-Berlin 1964 (betont stark die „graezisierenden" Anschauungen des jungen Hegel), K.-H. Ilting, Hegels Auseinandersetzung mit der aristotelischen Politik, in: Philosophisches Jahrbuch 71. Jg. (1963/64), 38ff., besonders 43-49 (bahnbrechende Schilderung des aristotelischen Einflusses in Jena). Lesenswert auch vom gleichen Autor K.-H. Ilting, The structure of Hegel's Philosophy of Right, in: Pelczynski 1971, 90-110; immer noch wertvoll J. G. Gray, Hegel and Greek Thought, New York 21968, vor allem 53-68; sehr gut auch N. Bobbio, Hegel und die Naturrechtslehre (1967), in: Hegel in der Sicht der neueren Forschung, I. Fetscher (Hrsg.), Darmstadt 1973, 291 ff. Weniger geglückt die Hegel als Gnostiker kritisierende Auslegung von Schmolz, in der sich eine Uberdehnung der schon überdehntenGnosisthese Vögelins spiegelt, F. M. Schmolz, Zerstörung und Rekonstruktion der politischen Ethik, München 1963, 19ff. J. Ritter, Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik (1966), 292ff. Wörtlich in den Randbemerkungen Hegels zu § 151 (Rph 1821, Hoff. 417); Ritter 1966, 295; J. Ritter, .Politik' und ,Ethik' in der praktischen Philosophie des Aristoteles (1967), 111. „Gewohnheit" bedeutet dabei für Hegel wie für Aristoteles nicht nur eine Mechanisierung des Verhaltens. Wie Funkes subtile Begriffsgeschichte deutlich zeigt, bleibt Hegels Phänomenologie der „Gewohnheit" zwischen Natur und vollbewußter Freiheit angesiedelt; die Gewohnheit wird weder als nicht-natürliche, erlernte Befreiung von der Natur einseitig zu einem völligen Bei-Sich-Sein des Geistes verklärt noch als mechanische Notwendigkeit abgewertet. „Lesen", von Hegel als Beispiel angeführt, wird einerseits erlernt, es erlaubt, zur Gewohnheit geworden, zugleich „das Zurückziehen des Geistes" aus der Tätigkeit (Enz. SW X, § 410). Gewohnheiten wie Institutionen haben für Hegel
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keine außergewöhnlichen Heldentaten fordert, sondern verlangt, „in den gegebenen Verhältnissen" zwischen einem Zuviel und Zuwenig das rechte Maß zu treffen349. Dem aristotelischen Sammeln von Verfassungen, dem Bezug auf die , der Hochschätzung des und der Erfahrung selbst, der Aversion gegen die Deduktion aus einer abstrakten „Natur" des Menschen entspricht Hegels Naturrecht, das „jede Form der unmittelbaren Deduktion von Rechtsregeln aus der Idee hinter sich (läßt)"350. Wie Aristoteles Freiheit als „Selbstsein-Können"351 des Menschen auf die Polis als den Ort ihrer Erfüllung bezieht, so begreift Hegel Freiheit als Aktualisierung der menschlichen „Natur", die sich nur ethischpolitisch erfüllt. Gelangt für Aristoteles allein der Mensch „nicht von Natur, sondern , ethisch* zur Verwirklichung seiner Natur"352, bleiben für ihn die menschlichen Anlagen ohne die Institutionen bloße Möglichkeiten, so ist Freiheit bei Hegel gleichfalls ein „Vermögen" und ein „Ansich", das seine Aktualisierung erst im „Reich der verwirklichten Freiheit" (d. h. der Sittlichkeit) erreicht353. (2) Wenn Ritters These von der Wiederherstellung der alteuropäischen ethischen Politik angegriffen wird, dann nicht, weil Hegels Intention nicht glaubhaft nachzuweisen wäre. Die Liste der klassischen Elemente in Hegels Naturrecht ließe sich sogar noch verlängern354. Es soll auch nicht geleugnet werden, daß Hegels Begriff von Sittlichkeit im Licht der klassischen Lehre vom guten Leben gesehen werden muß, daß gerade diese Wendung bei Hegel die Überwindung der Gesellschaft als der bloßen
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schon ihren Komplexität reduzierenden Sinn, der nicht nur Mechanisierung und Erstarrung, sondern auch Befreiung einschließt. G. Funke, Gewohnheit, Bonn 1958, Hegel (496ff.), Aristoteles (46ff.). Rph 1821, SW VII, § 150; Ritter 1966, 306. J. Ritter, .Naturrecht' bei Aristoteles (1963), 149ff.; Ritter 1957, 264. Der Rückgriff des Aristoteles auf das, was „man sagt", spiegele eine ähnliche „Affirmation des Seins im Seienden" wie Hegels Satz von der Vernünftigkeit des Wirklichen. J. Ritter, Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks (1956), 65 Fußnote. Met. I. 2, 982b 25f. Ritter 1967, 127. J. Ritter, Person und Eigentum. Zu Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts" §§ 34 bis 81 (1961), 265. In der Rechtsphilosophie klingen nicht nur die Paragraphen 150 und 151 aristotelisch, sondern auch die §§ 142, 152, 153, 197, 214Z, 258, 268. Eine Arbeit, die sich einmal ausschließlich den Parallelen zwischen altem und Hegelschem Naturrecht widmen würde und nicht bloß kursorisch (wie in den französischen und angelsächsischen Darstellungen) oder auf den jungen (Schmidt, Ilting 1963/64) oder älteren Hegel beschränkt (Ilting 1971, Schmolz) das Thema angehen würde, wäre sehr zu wünschen.
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Subsistenzbasis der Menschen entschlüsselt355. Hier kreuzt sich das rechtshegelianische Anliegen, den sittlichen Staatszweck vor dem platten Materialismus der Gesellschaft zu retten, mit den traditionellen Gehalten der Hegeischen Philosophie. Aber so unbezweifelbar die Hegeische Intention auch ist, genauso fragwürdig erscheint ihre Realisierbarkeit angesichts der konkurrierenden Ansprüche, die Hegel selbst auf die Modernität seines Ansatzes erhebt. Spricht die unbezweifelbare Intention einer Wiederherstellung der antiken Ethik nicht eher gegen die hegelianisch-mittlere Deutung des Denkens der Individualität als dafür? Was den Griechen noch recht war, kann doch Hegel als einem Philosophen der Neuzeit nicht mehr in unveränderter Form billig sein?! Ins Zwielicht von antikem individualitätslosem Denken und moderner Subjektivitätsphilosophie scheint Hegel zunächst zu geraten, wenn man sich fragt, ob nicht schon die „Sittlichkeit" des Aristoteles einen Autoritarismus implizierte, der die de facto bereits untergehende Polis und die durch die Sophisten und Sokrates markierte aufbrechende Freiheit mit der Substanz der „Institutionen" unterläuft, ob nicht dann, wenn Hegel diese „Sittlichkeit" dem modernen Individuum zumutet, eine sozusagen „doppelte" Substantialisierung vorgenommen wird, die ihre direkte Absicht hinter der Maske der ehrwürdigen Tradition versteckt. Diesem simplem Raster entziehen sich Aristoteles und Hegel noch ohne Mühe. Schon Aristoteles will nicht dem bloßen Bewahren des Alten, weil es alt ist, noch der Rückkehr zu den Zeiten des unbeschränkt geltenden das Wort reden. Den Standpunkt seines Naturrechts gewinnt er gerade im Bewußtsein um die „Legitimitätskrise" der Gesetze der Väter, und wenn die sophistische Alternative von bloßem Brauch und gesetztem Recht im Naturrecht aufgehoben wird, so soll damit nicht zugleich eine Politik des bloßen Beharrens festgeschrieben werden356. Ganz genauso aber hat Hegel dem modernen Subjekt die Freude an seiner Autonomie nicht durch das Feiern der Substanz vergällen wollen. Immer 355
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Wir werden allerdings sehen (IV. 6.1.2.), daß gerade dieses Element bei Ritter unterrepräsentiert ist, da er die bürgerliche Gesellschaft zu stark ins Zentrum rückt. Ritter 1967, 120 ff. Aristoteles diskutiert das Problem der Bewegung der Sitten ausführlich (Pol. II, 4, 1268b 26ff.). Er entscheidet sich auf Grund der Berichte über die Vernunftlosigkeit der ältesten Vorfahren und über die Primitivität der alten Sitten, auf Grund der gewinnbringenden Veränderungen in den Wissenschaften und auf Grund der Unmöglichkeit, Gesetze zu schaffen, die alle Einzelfälle abdecken, (aus dem Tatbestand also, aus dem sich auch die Epikie-Lehre ableiten läßt) für eine behutsame Reformpolitik. So heißt es, „daß gewisse Gesetze zu gewissen Zeiten eine Änderung erfahren müssen" (Pol. II, 4, 1268b 26ff.).
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wieder stellt er heraus, daß in Griechenland nur die „substantielle" Freiheit den Staat fundierte357. Erst beim Untergang der Polis tritt eine Vorahnung des christlichen und modernen Prinzips der individuellen Freiheit in Erscheinung, symbolisiert durch den Sokrates, der den tragischen Konflikt mit der nur substantiellen Freiheit der Polis an sich erleiden muß358. Die ganze lange Arbeit der Weltgeschichte, die den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit vorantreibt, liegt zwischen der Antike und Hegels „modernem" Naturrecht. Denn dieses soll, anders als bei den Griechen, „das große Prinzip der Subjektivität und Moralität" in sich aufnehmen359. Ritters Deutung endet anscheinend dort, wo auch Gregoire seine Auslegung kulminieren läßt. Keine Glorifizierung der Griechen auf Kosten des modernen Subjekts, sondern eine „Synthese" von antiker Sittlichkeit und moderner Freiheit, kein die Individuen vergewaltigender Staat, sondern ein Wechselverhältnis reziproker Selbstzwecke, das ist die Quintessenz der modernen ethischen Politik360. Mit der Wiedergabe des Hegeischen Anspruchs kann das letzte Wort über den Sinn der Wiederherstellung des alten Naturrechts aber nicht gesprochen sein. Zwei Richtungen der Auslegung scheinen immer noch denkbar: Einmal könnte sich in der Rückkehr zum alten Naturrecht doch ein Universalismus verbergen, weil diese Rückwendung zugleich einen Abschied vom modernen Naturrecht einschließt, zum anderen könnten (gerade durch den gleichzeitigen Anspruch auf Modernität) nicht nur die erwünschten individualistischen, sondern zugleich modern-universalistische Elemente in Hegels Konstruktion Eingang finden, ja es könnte summa summarum zu einem solchen Einbruch neuzeitlicher Strukturmomente kommen, daß die Synthese des alten mit dem neuen Denken nicht mehr gelingen kann. (3) Die Rückkehr zur alten Tradition des Naturrechts birgt eine universalistische Schwerkraft, auch wenn Joachim Ritter dies leugnet. Man fühlt sich an Gedanken erinnert, die wir schon bei Erdmann, bei den 357
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„Die Grenze der klassischen Theorie", meint Ritter einmal, „ist für Hegel die Grenze der griechischen Welt, die Beschränkung des Bürgerseins auf die Freien als eines Standes, der neben sich die Unfreien als Bedingung seines Bestehens hat. Hierauf bezieht sich die berüchtigt-berühmte Formel . . ., daß zuerst einer, dann einige, dann alle frei werden, und daß in der Ausbildung der universalen Freiheit der Sinn der Weltgeschichte liegt". Ritter 1956, 81/82. Ritter 1966, 288. op. cit. 300. Auf diese Lehre scheinen die Ausführungen op. cit. 300ff. hinauszulaufen.
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Bismarck-Hegelianern und Nationalsozialisten auftauchen sahen und nun teilweise als alt-naturrechtliche Bilder erkennen. Die „sittliche Totalität" des Volkes war zwar niemals bei Hegel selbst die Volksgemeinschaft der Nationalsozialisten, aber die Polis, die Hegel noch in Jena als Volk feiert361, scheint doch das Ganze entschieden vor die Individuen zu setzen. Daß das „Volk eher der Natur nach (ist) als der Einzelne"362, zitiert der junge Hegel allzu gerne. Zugleich bedeutet die Rückkehr zum alten Universalismus den Bruch mit den individualistischen Elementen der modernen Naturrechtstheorien. Anders als bei Hobbes, Pufendorf, Rousseau, Fichte und Kant hat der Einzelne bei Hegel den Rang des Grundsteins für den Bau der Staatskonstruktion an die Gemeinschaft abgetreten363. Das Ganze von Volk und Staat läßt sich nicht mehr aus den „atomistisehen" Willen der Einzelnen zusammensetzen. Die Hegel mit Hume, Bentham und Saint-Simon verbindende Kritik am Gesellschaftsvertrag364 kann dies ebensogut bezeugen wie die Kritik an Rousseau und Fichte, denen Hegel den individualistischen Ausgangspunkt ihrer Konstruktionen nie vorzuwerfen versäumt365. Mit der Auffassung des Naturzustandes als des Ortes der Gewalttätigkeit und Rechtlosigkeit, die Hegel mit Hobbes noch vereint366, verbindet Hegel zugleich die Absage an diese „Fiktion". Der Naturzustand kann keine rechts setzende Kraft für sich beanspruchen, da nur in Gesellschaft und Staat das Recht seine Existenz haben kann367. Die moderne Lehre von -porgesellschaftlichen Rechten des einzelnen Menschen hat ihre stützenden Elemente damit verloren. Ohne Gesellschaftsvertrag und Naturzustandslehre scheint ihr der Weg in die Staatskonstruktion versperrt. Da es außerhalb des einzelnen Staates keinen 361
Auf das „Volk" als „Polis" verweisen Ilting (1963/64, 42) und Bobbio (Bobbio 1967, in: Fetscher 1973, 299). 362 NA, GW IV, 467. 363 Dies zeigt Bobbio (Bobbio 1967, in: Fetscher 1973, 299f.). 364 1802 bedauert Hegel bereits das Einschieichen „eines solchen untergeordneten Verhältnisses . . . in die absolute Majestät der sittlichen Totalität" (NA, GW IV, 477). In der Folge sind die sittlichen Verhältnisse wie Familie, Staat und (selbst) Gesellschaft für Hegel immer vom Vertragsgedanken ausgenommen, der „nur" einen Rechtsstandpunkt und eine „willkürliche Übereinstimmung . . . über eine willkürliche und zufällige Sache" (Enz. 1817, SW VI, §440) symbolisiert. 365 Der antiindividualistische Affekt in der Ablehnung des Vertragsgedankens wird in der Rousseaukritik besonders deutlich, Rph 1821, SW VII, § 258 A. 366 Av/jg Hobbes lehnt auch Hegel „das leere Gerede von einem natürlich guten Zustand" ab (Gesch. d. Phil. SW XIX, 443). Im Naturzustand herrscht für ihn wie für Hobbes der „Krieg aller gegen alle" (Gesch. d. Phil. SW XVIII, 271). Wie Hobbes predigt auch er das Verlassen des Naturzustandes (z. B. Enz. 1817, SW VI, § 415 A). 367 In diesem Zusammenhang Enz. 1817, SW VI, § 415 A.
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Rechtszustand gibt, verbietet sich zugleich der Gedanke an Kosmopolitismus oder Völkerrecht368. Der überindividuelle organische Staat Hegels scheint doch der Keim zu sein, aus dem der Rechtshegelianismus erblühen konnte. (4) Ritter blendet den Abschied vom modernen Naturrecht aus, ohne den die Rückkehr zur alten Tradition nicht gelingen könnte; er verschweigt (um des liberalen Hegelbildes willen) zugleich den Universalismus, den Hegel die Nähe zur neuzeitlichen Naturrechtslehre aufnehmen läßt. Der im Rechtshegelianismus in Kriegsverherrlichung und Völkerrechtsverletzung seine Rolle spielende Staatsrechtsbegriff verdankt sich nämlich schon bei Hegel dem modernen Universalismus, der aus der Umwandlung des Vertrags- und Naturzustandstheorems geboren wird. Hegel löst beide aus ihren Fundamenten, aber er bewahrt sie an veränderter Stelle und in neuer Funktion. Der Vertrag verliert seine vorpolitische, fiktive oder historische Rolle369, um eine untergeordnete Stellung in der Rechtslehre zu erhalten370, der Naturzustand wandert gleichfalls von seinem, durch Abstraktion von allen gesellschaftlichen Beziehungen entstandenen Ort ins äußere Staatsrecht, in dem nun die Staaten untereinander den rechtlosen und gewalttätigen Kampf aller gegen alle perpetuieren371. Diese Umwandlung des neuzeitlichen Naturrechts reflektiert auch bei Hegel jene mit Hobbes, Machiavelli und Spinoza verbundene Wandlung der Politik vom „praktischen Wissen zur pragmatischen Kunst der Machttechnik"372. Auch wenn Hegel nicht die ganze Politik am Maßstab des Überlebens mißt, in seinem äußeren Staatsrecht spiegelt sich der moderne Strang des naturrechtlichen Denkens, wohl vor allem in spinozistischer, individualitätsfeindlicher Form373. 368 369
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Beide Gedanken bei Bobbio (1967), in: Fetscher 1973, 313. Auch wenn bei manchen Autoren der Naturzustand zwischen „Fiktion" und historischem Ereignis schwankt (Hobbes, Rousseau), lag die Bedeutung des Vertrages für die meisten wohl eher in seiner hypothetischen Nachvollziehbarkeit als in seiner Faktizität (Hobbes, Locke, Rousseau, Kant). Schon 1805/06 wird der „Vertrag" als rechtliche Form des Tauschvorganges im „wirklichen Geist" unterhalb der „Konstitution" angesiedelt (JR, 217ff.), seit Heidelberg findet er stets im abstrakten Recht seinen Platz (Enz. 1817, SW VI, §§ 408ff.). Hegel nennt in Jena das äußere Staats-„Recht" einmal selbst einen „Naturzustand" 260). J. Habermas, Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie (1961), in: Habermas 41971, 62ff. Individualitätsfeindlich wirken müssen die Kriegslehre und die enge Bindung des Einzelnen an seinen Staat, die sich indirekt aus der Ablehnung von Völkerrecht und Kosmopolitismus ergeben. Ilting, der auf den modernen Strang des Naturrechts aufmerksam
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Die antikisierende Staatslehre verkörpert den Abgesang aufs moderne Naturrecht, soweit es seine Konstruktionen allein auf das Individuum baute. Der Universalismus beginnt in die freigewordenen Räume einzudringen. Das individualistische abstrakte Recht und die Autonomiemoral dominiert die Sittlichkeit, der Staat fängt an sich um die Moralität seiner Bürger zu sorgen (die ihn bei Kant noch nichts angeht), die Willkürfreiheit wird von der konkreten Freiheit überformt. Zugleich besetzt im Schutz von Hobbes, Machiavelli und Spinoza der souveräne Staat den Platz der humanen Ideale Kants. Völkerrecht und Kosmopolitismus werden durch eine (auf der Stufe der Gedankenentwicklung nur um den Preis der Inkonsistenz mögliche) abstrakte Entgegensetzung der Staaten logisch wegspekuliert, der Krieg darf im neuen „Naturzustand" die Erschütterung der Einzelnen bewerkstelligen, die sich in der Endlichkeit „einzuhausen" beginnen374. (5) Freilich stößt man auch hier quasi wieder an eine Gummiwand. Eine von Antike und Moderne zugleich gespeiste universalistische Tendenz scheint sicher auszumachen, zugleich bricht sich auch diese (wenigstens teilweise) in der Nähe zum modernen Subjektivismus. Zwar läßt sich der Universalismus im äußeren Staatsrecht auf gar keine Weise wegdisputieren, aber die Ablehnung der modernen Konstruktionen wie Vertrags- und Naturzustandslehre ist nicht einfach eine antiliberale Schurkerei, wie es wohl Bobbio und Ilting zu vermuten scheinen. Wenn der ganz junge Hegel schon die Träume von einer wiederaufblühenden Polis der Realität der neuen Zeit opfert375, wenn die Priorität des „Volkes" bei Hegel expressis verbis nicht die Dominanz des Aristotelischen StaatsOrganismus über die Glieder bedeuten soll376, so bewährt sich diese
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macht (Ilting 1963/64, 50ff.), hat in diesem Punkte eine echte Korrektur an Ritter eingebracht. Ob sich allerdings die ganze politische Philosophie des frühen Jenenser Hegel als spinozistisch-universalistische kritisieren läßt, ist äußerst fraglich. Das Substanz-Modus-Denken überwindet schon der späte Frankfurter Hegel, sobald er die Positivität nicht mehr verketzert, sondern als immanentes Moment des Allgemeinen begreifen lernt. Auch schließt die Entzweiungslehre schon in Jena die Anerkennung des Individuums ein. Z. B. Rph 1821, SW VII, §324. Mit der Erkenntnis des „Naturcharakters" des äußeren Staatsrechts dürfte die endgültige Widerlegung der Exkulpationen der Kriegslehre im Stile von d'Hondt, Weil, Avineri und Trott zu Solz geleistet sein. Wir werden sehen, daß diese Einsicht sich schon in Bern Bahn bricht. So auch Scheit 1973, 34 f. Z. B. schon in Jena (JR, 251) wird das „höhere Prinzip" der neuen Zeit gegen die Alten ausgespielt, später der Organismus-Vergleich des Aristoteles als universalistischer kritisiert (Gesch. d. Phil. SW XVII, 400, siehe Gregoire unter IV. 5.1.4.). Allerdings ist auch
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Modernität darin, daß Hegel die Abkehr von der Moderne auch noch in ihrem Namen motiviert und er seine Kritik im Namen seiner FreiheitsVorstellung und gerade in Abwehrstellung gegen einen möglichen Naturalismus vorträgt, der den Naturzustand dazu benutzt, dem angeblich zentralen „Individuum" die Herrschaft des Hobbesschen Souverän oder gar die des Stärkeren (im Sinne von Hallers) schmackhaft zu machen377. Der Naturzustand ist, Universalismus hin oder her, ja eine recht fragwürdige Konstruktion, egal ob er nun eher als ein historisches Faktum oder eher als „Fiktion"378 verstanden werden soll. Schon der jüngere Hegel hat erkannt, daß die Berufung auf ihn zirkulär wird. Denn zunächst erhält man die „nackte" Natur nur durch Abstraktion von allem Willkürlichen und Zufälligen; da aber ein Kriterium der Abstraktion fehlt, das Notwendiges von Zufälligem zu scheiden erlaubt, legt man nur in das „Chaos" hinein, was man später noch benötigt, sei es ein Geselligkeitstrieb, der das Zustandekommen der Gemeinschaft erklärt, sei es ein Naturalismus, der die Ordnung der Natur als Ordnung des Staates den Menschen andienen soll379. Der Naturmensch hat für Hegel noch kein „Recht auf Alles", denn Recht setzt die Befreiung von der Natur voraus. Zwar begibt sich Hegel der Möglichkeit, for-politische Rechte des Menschen zu begründen, aber damit ist nicht die Existenz ira«5-politischer Rechte ausgeschlossen. Bei den Rechtshegelianern wurde die Gemeinschaft zur alleinigen rechtssetzenden Kraft, mit der am Ende aufleuchtenden Konsequenz, daß erst die Gliedperson überhaupt Rechte besaß, nicht der Mensch als Mensch oder als Einzelner. Hegel lehrt zwar „kein Recht ohne politische Gemeinschaft", aber der Mensch ist für ihn nicht nur der homo politicus. Gegen die Rechtsbegründung aus der „Natur" sticht die Gründung des Rechts auf „Freiheit". Menschenrechte aber sind nicht nur politische Rechte, sondern mehr: Rechte des „innerlichen" Menschen genauso wie Rechte des Gläubigen, Künstlers, Wissenschaftlers. Die Gemeinschaft, welche die notwendige Bedingung des Rechts verkörpert, muß nicht zugleich die zureichende Bedingung repräsentieren, aus der allein das Recht fließt. Wie
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dieser Organismusgedanke eine der Hegeischen Zweideutigkeiten, an der Anspruch auf Modernität und alter Universalismus kollidieren. Wir werden diesen Punkt noch in der endgültigen Abrechnung klären. Ritter hat den Zusammenhang von „Recht und Freiheit" bei Hegel überzeugend nachgewiesen, vor allem auch in dem Sinn, daß die Abhängigkeit des Menschen von der Natur für Hegel überwunden sein muß, wenn Recht entstehen soll (Ritter 1962, 271 ff.). NA, GW IV, 424. op. cit. 426.
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Hobbes durch sein Vertragsmodell und seine Naturzustandsfiktion nicht daran gehindert wurde, einen mächtigen Souverän zu konstruieren, genausowenig muß aus dem Fehlen dieser vor-politischen Modelle sich automatisch ein autoritäres Staatsbild ergeben380. Hegels Bekenntnisse zum „Rechtsstaat", die wir von Findlay, Gregoire, Weil u.a. schon kennen, sind nicht zu übersehen381, auch bei Hegel geht die „Declaration des droits de l'homme et du citoyen" in die Staatslehre ein382. Freilich eine eindeutige Klärung der Mischung moderner und alter, universalistischer und individualistischer Elemente ergibt sich daraus noch nicht. Die Rolle von Revolution, Gesellschaft und Staat bedarf noch einer gründlicheren Analyse, um die Anteile zu scheiden. Trotz des Anspruchs auf Bewahrung der neuzeitlichen Subjektivität und ihrer Rechte ist die Verabschiedung des modernen Naturrechts, soweit es um den Einzelnen konstruiert war, wohl kaum abzustreiten. Auch wenn Hegel den Menschen noch davor bewahrt zum politischen Rechtsgenossen zu werden, eigent380
Die Chancengleichheit und Freiheit in der fiktiven Vertragssituation verträgt sich mit der nachträglichen Ungleichheit in der sozio-politischen Realität genauso wie mit der faktischen Unfreiheit. Die Vertragskontrahenten können sich, um zwei Pole zu nennen, für die absolute Macht eines Souveräns genauso entscheiden wie für die unmittelbare Demokratie. 381 Ritter hat einmal Hegels Bekenntnisse in gedrängter Form zusammengestellt. Nicht nur die Liste der progressiven Einrichtungen des Hegeischen Staates läßt sich da wieder anführen (also „Geschworenengerichte", Rph 1821, SW VII, §228, „Öffentlichkeit der Rechtspflege", op. cit. §221, §224 u. s. f.), sondern auch das Engagement für die Herrschaft des „Gesetzes", das allein Rechte und Pflichten im Staat bestimmen soll (op. cit. § 258 A). Der Monarch wird diesem Gesetz unterworfen (op. cit. § 273, § 279), Staatsgeschäfte und Gewalten sind für Hegel kein „feudales" Privateigentum mehr (op. cit. § 277). Die Anerkennung des Gesetzes scheidet Hegel von naturalistischen Herrschaftsideologien von Kallikles bis Haller (op. cit. § 258 A). Der Rechtsstaat verwirklicht die mit dem Christentum aufkommende Freiheit des Menschen als Menschen (op. cit. § 62, § 124), er respektiert das Gewissen (op. cit. § 94 Z). Hegel bejaht Judenemanzipation und Toleranz für religiöse Sekten (op. cit. § 270). J. Ritter, Hegel, in: Staatslexikon Bd. IV., Freiburg 1959, 29-32. 382 ~wir Werden noch sehen, wie Ritter Revolution und Gesellschaft eine mit dem Universalwerden der Rechte des Menschen gekoppelte Rolle spielen sieht. „Der Mensch gilt so", heißt es zu Beginn des Abschnitts „Rechtspflege", „weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener u. s. f. ist . . ." (Rph 1821, SW VII, § 209 A). Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte nimmt Hegel in der Philosophie der Geschichte auf, wo er vom „absoluten Willen" als „ewigem" Recht spricht (Phil. d. Gesch. SW XI, 553), um dann Freiheit und Gleichheit als „natürliche Rechte" im Namen der Deklaration anzuerkennen (op. cit. 554) und um schließlich als Gesetze zu spezifizieren: Freiheit des Eigentums, der Person, des Gewerbes, der Berufswahl (op. cit. 558). Nusser sieht Hegel die Artikel l, 2, 4, 5, 7, 8, 10 und 17 anerkennen und nur 3 und 6 ablehnen (K.-H. Nusser, Hegels Dialektik und das Prinzip der Revolution, München-Salzburg 1973, 86).
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lieh zeigen nur abstraktes Recht und Moralit t noch die „individualistische" Einstellung, die sich als Ausgangspunkt des modernen Naturrechts erkennen l t. Wenn Kant und seine Rechts- und Staatskonstruktion „liberal" genannt werden darf, Hegels Staat, der nicht mehr die Protektion des Einzelnen und seiner Sicherheit zum Zweck hat, ist es nicht mehr383. (6) Hegel entsch rft noch einmal, was als gef hrliches universalistisches Gep ck die Fahrt in die Vergangenheit zu begleiten schien. Statt sich endg ltig von der Moderne zu verabschieden, springt er unerwartet auf den Zug des neuzeitlichen Naturrechts auf, um als blinder Passagier (ohne die Fahrkarte der Vertrags- und Naturzustandslehre) noch den Zielort des Rechststaates zu erreichen. Endg ltig abgefahren ist der moderne Zug aber auch f r Hegel, wenn wir uns einmal die Struktur der traditionellen Lehren genauer vor Augen halten. Ritter hat n mlich, wenn er Hegel in die Tradition des Naturrechts einweist, jene ehrw rdige Str mung im Blick, die bei Aristoteles entspringt, die Wissenschaftslehren der Scholastik tr gt384 und noch in ihren Ausl ufern in der Schulphilosophie des Christian Wolff greifbar wird385. Die F cher Ethik, konomie, Politik und die ungeschiedene Einheit von Gesellschaft und Staat waren Markenzeichen dieser Schule386. Bei Hegel aber bleibt die klassische Trichotomie 383
In diesem Sinne von „liberal" mu man wohl mit Ilting gegen Interpreten wie Weil oder Fleischmann, Knox oder Avineri sagen: „Hegel is not a theoretician of the liberal state" (Ilting, in: Pelczynski 1971, 95). Freilich mu Hegels in dieser Bedeutung „illiberaler" Staat durch seinen eigenen naturrechtlichen Ansatz noch nicht den Charakter eines Rechtsstaates verlieren. Iltings Verdikt spiegelt wieder nur eine Seite des Hegeischen Staates; aber sicher eine, die im Zuge der beliebten Hegel-Liberalisierung heute gerne bersehen wird. 384 Siehe Hennis 1963, 30 (der auf M. Grabmann, Die mittelalterlichen Kommentare zur Politik des Aristoteles, Sammelband der Bayrischen Akademie der Wissenschaften Bd. II., Heft 10, 1941, verweist) oder H. Maier, Die Lehre der Politik an den lteren deutschen Universit ten, in: Politische Wissenschaft in Deutschland, M nchen 1969, 20, 247. 385 Ritter 1963, 133ff. 386 Noch Heineccius ging von der Identit t von Gesellschaft und Staat aus; siehe den Nachweis f r die „Elementa juris naturae et gentium" (Halle 1738) bei U. Scheuner, Hegel und die deutsche Staatslehre des 19. u. 20. Jahrhunderts, in: Studium Berolinense, Berlin 1960, 131; sogar noch die Schlosser- bersetzung der Politik des Aristoteles aus dem Jahre 1798 erinnert an die Formel, welche die Begriffe Gesellschaft und Staat bei Albertus Magnus, Thomas, Melanchthon, Bodin, Hobbes, Spinoza, Locke und Kant begleitet harte: ή πόλις και ή κοινωνία ή πολιτική oder civitas sive societas civilis sive res publica (Genauere Nachweise bei Riedel 1962, in: Riedel 1969, 141 ff.). Die traditionelle Gliederung konnte der junge Hegel noch aus Sulzers „Kurzem Begriff der Gelehrsamkeit" (1754) lernen, den er teilweise exzerpierte (Dok. 112 — 115).
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nicht, was sie einmal war. Die Ökonomie spaltet sich in „Familie" und „Gesellschaft", die „Ethik" in „Sittlichkeit" und „Moralität". Die unmittelbare Identität von Staat und Gesellschaft zerfällt. Ritter scheint die Verschiebungen als Veränderungen auf dem Boden einer im Grunde gleichbleibenden Tradition zu deuten387. Aber sie sind mehr: Ein Zerbrechen der alten Gefäße, welche die neuen Kräfte nicht auszuhalten vermögen. (6a) Wenn Hegel die Ökonomie in die Rechtsphilosophie aufnimmt, dann steht er nicht mehr auf den Schultern des Aristoteles oder seiner Tradition. Bis ins 18. Jahrhundert war die Ökonomie Lehre vom geblieben, von jenem „ganzen Haus", das seine eigentliche Grundlage in der Bauern- und Adelskultur der Antike und des Mittelalters gehabt hatte. O. Brunner hat uns die „Hausväterliteratur" überliefert, die noch zu Beginn der Neuzeit jene kuriose Mischung von Hausverwaltungs- und Sittenlehre, von Gebetsanleitung, Kochrezepten und pädagogischer Elternhilfe enthielt388. Sie erinnert uns augenfällig an den ganzheitlichen ethischreligiösen-pädagogischen und noch nicht ökonomischen (d. h. noch nicht rentabilitätsorientierten) Sinn der alten „Wirtschaft". Erst als die kleinstädtische Familie sich aus dem Hausverband löste und sich in den Städten Haushalt und Betrieb trennten, trat auch der „Rationalität" des Betriebs die „Sentimentalität" der Familie gegenüber389. Aus der Hausgemeinschaft, die noch den ganzen Menschen umsorgte und versorgte, entsteht die Kleinfamilie, deren Basis die Beziehung sich liebender Personen wird. Freigesetzt wird zugleich eine neue Ökonomie, die sich als Hauswirtschaftslehre nicht mehr bescheiden kann. Sie nimmt über Merkantilismus und Physiokratismus den Weg zur klassischen Volkswirtschaft. Ihre Subjekte sind nicht mehr die quasi organischen Glieder des Hauses, sondern die aus der Hausgemeinschaft losgerissenen Agenten von Handel und Tausch, die Produzenten und Konsumenten. Hegel hat genau diese Entwicklung in der begrifflichen Struktur seines „Naturrechts" zum Ausdruck gebracht. Die „sentimentale" Kleinfamilie, deren Band nun die „Liebe" geworden ist, löst bei ihm den alteuropäischen Hausverband ab, und zwar mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. Während Kant die Familie noch unter dem Titel societas 387 388
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Ritter 1967, 108 Fußnote. O. Brunner, Das „ganze Haus" und die alteuropäische „Ökonomik", in: Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956, 34ff. op. cit. 42.
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domestica („Häusliche Gesellschaft"390) auftreten und den Mann die Frau, beide die Kinder und die Familie das Gesinde „erwerben" läßt, während Kant dem Hausherrenrecht noch einen eigenen Paragraphen widmet391, hat sich Hegel doch schon weiter von der auslaufenden Schultradition entfernt. Zwar kehrt die alte Verkettung von status oeconomicus und status politicus in Gestalt der Ständelehre wieder, zugleich aber hat das Haus mit seinen verschiedenen Freundschaften und Ständen (vom status parentalis und coniugalis bis zum status herilis) seine Analogie zu den politischen Herrschaftsformen verloren. Wenn Kant die sibisufficientia noch zur Bedingung der bürgerlichen Persönlichkeit erhebt392, Hegel hat die politische Freiheit und Gleichheit vom Stand des pater familias gelöst; die despotische Herrschaft des Herrn über den Sklaven hat sich zur Vertragsbeziehung zweier Kontrahenten verwandelt, in welcher nur noch auf Zeit oder für ganz bestimmte Dienstleistungen die Arbeitskraft veräußert werden kann393; indem die Liebe zur Grundbestimmung der Familie wurde, ist die neue Rolle der Frau wenigstens im Ansatz eingebracht, auch wenn Hegel die schwärmerische Sentimentalität der romantischen Liebesvorstellung nicht teilt394. An die Stelle des Eltern, Kinder und Gesinde umfassenden „Hauses" ist bei Hegel die auf Eltern und Kinder eingeschränkte „Familie" getreten395. So erhält, auch wenn bei Hegel analog zum kantischen Widerspruch zwischen Hausherrenrecht und Menschenrechten die Spannung zwischen Ständelehren und Menschenrechten 390 391 392
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I. Kant, Metaphysik der Sitten. Rechtslehre (1797/98), § 24ff., A B 106ff. op. cit. § 30, AB 115ff. Wie das Gesinde für Kant noch „sachenrechtlich" zum Besitzstand des Hausherrn gehört, so entbehren alle, die „nach der Verfügung anderer . . . genötigt (sind) . . . Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten" der bürgerlichen Persönlichkeit (op. cit. §46, A 165/B 195ff.), d.h. in concerto der Geselle bei einem Kaufmann, der Dienstbote, der Unmündige, „alles Frauenzimmer". Vgl. auch I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), A 244 ff. Rph 1821, SW VII, §67. Obwohl Hegel oft die Rolle der Frau ganz im Sinne seiner Zeit beschreibt (Rph 1821, SW VII, § 166), so wird seine „moderne" Familienlehre doch von derselben historischen Woge getragen wie Schlegels Lucinde, auch wenn Hegel die schwärmerische Gefühlsseligkeit im Stile des Lucinde-Romans ablehnte und er im Ehevertrag keine Verunreinigung des Gefühls erblicken konnte (op. cit. SW VII, § 164 Z). Die Ehe sollte für ihn Liebesgemeinschaft und Geschlechtsverhältnis und bürgerlicher Kontrakt zugleich sein (op. cit. § 161 Z). Primär fundieren aber sollte sie die „Liebe" als jenes geistige Band, das dem modernen Begriff der individuellen Person Anerkennung verschafft. Schon Kant hatte das „Gesinde" einen Vertrag mit der Hausherrenschaft schließen lassen und es so von der „Familie" getrennt, Kant 1797/98, §30, A B 117. Bei Hegel tauchte es unter „Familie" gar nicht mehr auf.
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besteht, doch der Mensch als vom Hausstand getrenntes Wesen seine Rechte. Wie sich bei Hegel das große Bild des ganzen Hauses auf die „sentimentale" Familie einengt, so weitet sich die Perspektive des neuen Naturrechts, um die zur Volkswirtschaft gewordene Ökonomie aufzunehmen. Ihre Bedeutung für das beginnnende 19. Jahrhundert war Hegel vielleicht schon beim Studium des Merkantilisten Steuart396, ganz gewiß aber bei der Lektüre der Klassiker Smith, Say und Ricardo aufgegangen397. Nicht mehr die landwirtschaftliche Urerzeugung und auch nicht der Handel, sondern die vom Eigennutz angestachelte „Arbeit" muß für Hegel die Entstehung des Reichtums und „Wohls" erklären398. Zwar möchte Hegel noch immer die eigennützige Wirtschaft ethisch-politisch im Zaum halten, aber der Ort ihrer sittlichen Verankerung hat sich vom Haus auf die Sphäre des Staates verlagert. Auch wenn die Wirtschaft damit noch einmal in einem sittlichen (politischen) Zweck fundiert wird, es ist eine Wirtschaft, die sich vom Ethos emanzipiert hat und nicht mehr an sich auf das „gute Leben" schon bezogen ist399. Manches in Hegels Beschreibung der Familie mag uns heute noch an den erinnern, hat sich doch die starke Position des „Hausherrn" selbst nach der Auflösung des „Tertiärpatriarchalismus" noch lange ge396
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Nach Rosenkranz hatte sich Hegel vom 19. 02. bis zum 16. 05. 1799 einen Kommentar zu Steuarts Staatswirtschaft erarbeitet, der „alle" Gedanken über das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft bereits enthalten haben soll, K. Rosenkranz, G. W. F. Hegels Leben, Berlin 1844, Reprogr. Nachdr. Darmstadt 1969, 86. Nachdem dieser Kommentar wie so manches aus Hegels Jugendzeit verschollen ist, läßt sich eine Widerspiegelung dieser ökonomischen Studien wenigstens in Frankfurt noch nicht nachweisen (da muß man Chamley und Nusser wohl gegen Lukäcs zustimmen, P. Chamley, Economie Politique et Philosophie chez Steuart et Hegel, Paris 1963; Nusser 1973, 24). Wohl erst in Jena wären Anspielungen auf Steuart zu entdecken; jedoch scheint Hegel dort öfter Smith als Quelle zu benutzen. Hegels über die Popularphilosophie vermittelte Aufnahme der Nationalökonomie in Jena ganz ausgezeichnet bei M. Riedel, Die Rezeption der Nationalökonomie, in: Riedel 1969, 75ff. Rph 1821, SW VII, § 182 A. Z. B. op. cit. § 196. So hat sich auch bei Hegel der Sinn des Wirtschaftens, das bei Aristoteles noch ganz im Dienst der Beschaffung der Güter für das „gute Leben" steht, tendenziell von der „natürlichen" Erwerbskunst auf die Chrematistik verschoben. Der Prozeß, der die Hauswirtschaft, parallel zum Verschwinden der agrarischen Wirtschaftsweise, zur ethosfreien Technologie (etwa zur reinen Wirtschaftslehre einer Kommerzienwissenschaft) werden ließ und die aristotelische Orientierung am Gebrauchswert durch die am Tauschwert ablöste, hat bei Hegel seine Spuren hinterlassen; siehe G. Bien, Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles, Freiburg-München 1973, 275ff.; Maier 1969, 39.
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halten400. Aber man kann nicht übersehen, daß Hegel, auch wenn er an die Penaten, die Pietät und das „Göttliche" der Familie erinnert401, doch nicht mehr die Lehre vom „Haus" tradiert, sondern die Realität der neuen Familie begrifflich einholt. Zusammen mit der Anerkennung der Nationalökonomie ergibt sich daraus ein wichtiger Traditionsbruch, der das Gefüge des alten Naturrechts nicht nur formal, sondern auch inhaltlich sprengt402. (6b) Einen weiteren Bruch signalisiert die Spaltung von Gesellschaft und Staat, die Hegel gleichfalls als ein Resultat der modernen Welt anerkennt. Die in der aristotelischen Schultradition und auch noch bei Kant weiterlebende Gleichsetzung der societas civilis mit der civitas403 läßt Hegel zerbrechen, weil er um die Entpolitisierung der societas und die Privatisierung des aus den Ständen, Zünften, Privilegien sowie aus seiner engen Zugehörigkeit zu einer „bourg" oder „cite" entlassenen Menschen weiß. Es ist jener große Prozeß, der sich in den Wandlungen der Begriffe bourgeois und citoyen und in der Problemstellung der politischen Philosophie bei den Enzyklopädisten und bei Rousseau am augenfälligsten bemerkbar macht.404 Hegel löst ihn auf seine Weise, indem er den bourgeois als Privatmensch das Konkretum der „Vorstellung" des Menschen sein läßt405, indem er zugleich versucht, die Trennung des Privatstandes vom Staat durch die Korporationen und andere Vermittlungsformen aufzuheben. Marxens Kritik des Staatsrechts hatte von der gleichen Einsicht in die Emanzipation der Gesellschaft vom Staat ihren Ausgang genommen. Sie 400
„Tertiärpatriachalismus" nennt Schelsky jenen neuen familiären Autoritätstypus, der nach dem Wegfall der „natürlichen" Autorität des pater familias im alten „Haus" die Vatergewalt aus der Unterhaltspflicht des Vaters gegenüber der Familie abzuleiten begann. In dieser Umwandlung liegt zwar eine gewisse Kontinuität der Vaterrolle, die jedoch letztlich nicht über die veränderte Situation des nun außer Haus arbeitenden und sich zu Hause rekreierenden Mannes hinwegtäuschen kann; siehe H. Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, Stuttgart 31955, 314ff.; H. Ringeling, Die Frau in der heutigen Familie, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 8. Jg. (1964), 130f. 401 Rph 1821, SW VII, § 163 A, § 257 A. 402 Die sehr starke Abhängigkeit des jüngeren Hegel von der Aristotelischen Ökonomie, wie sie bspw. das System der Sittlichkeit spiegelt, entkräftet die These vom Traditionsbruch nicht, da auch damals schon die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft die aristotelischen Formeln zu verwandeln beginnt, siehe Riedel 1969, 80 ff. 403 Metaphysik der Sitten. Rechtslehre (1797/98), § 46, A 155/B 195ff. 404 Ausführlich dazu Riedels Lexikon-Artikel „Bürger, bourgeois, citoyen" in: Ritter Bd. I, 1971, 963 ff. 405 Rph 1821, SW VII, § 190 A.
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sollte an die Trennung der Bereiche den Hebel einer weltverändernden Praxis ansetzen406. Hegel dagegen hatte den Staat die Gesellschaft und ihre Antagonismen versöhnen lassen. Wenn damit auch wieder eine Identität von bourgeois und citoyen, von Gesellschaft und Staat erreicht werden sollte, die alte ungebrochene Einheit der societas civilis mit der civitas war es nicht. Wie die Gesellschaft sich nicht mehr aus der aggregierten Summe der Hausgemeinschaften zusammensetzt407, so hat sich analog zum Verhältnis von Ökonomie und Familie / Gesellschaft nicht nur die begriffliche Form der alten soziopolitischen Einheit, sondern auch ihr Inhalt gewandelt. (6c) Hegel greift zwar hinter Hobbes, Machiavelli, Bodin, Thomasius und Boehmer auf die aristotelische Tradition zurück, für die immer galt, was der Untertitel der Rechtsphilosophie ausdrückt, die Einheit von „Naturrecht und Staatswissenschaft". Aber der Versuch, die neuzeitliche Abspaltung von der Politik rückgängig zu machen408, hat sich doch schon zu sehr mit dem Subjekt der Neuzeit eingelassen, um noch eine wirklich zur aristotelischen Tradition passende Politik zu ermöglichen. Die Moral ist, wie es der Anhang zur Kantischen Schrift über den „ewigen Frieden" so treffend ausdrückt, in „Mißhelligkeit"409 zur Politik getreten. Nicht nur Familien- und Gesellschaftslehre sowie die zerbrochene und erst wieder herzustellende Einheit von Gesellschaft und Staat, auch der Begriff des Naturrechts selbst kann dem modernen Subjekt nicht mehr in seiner aristotelischen Form eine politische Heimat sein. Aus der ehrfürchtigen Betrachtung der Gesetze des Alls wird auch bei Hegel das geschichtliche Denken, das nicht mehr der Natur die Gesetze ablauscht, sondern sie als vom Menschen hervorgebrachte deutet. Mit dem neuzeitlichen Verständnis des Menschen bricht für das alte Naturrecht die Zeit der großen Veränderungen an, die auch bei Hegel noch ihren Niederschlag finden. Das praktische Wissen des Aristoteles, dessen noch bescheidener Präzisionsanspruch sich der Struktur des Gegenstandes verdankte, der zeitlichen, veränderbaren, kontingenten und aus 406
Siehe hier II. 1.3. Nach Riedel findet sich diese Vorstellung noch in Thomasius' „Kurtzem Entwurf der politischen Klugheit" (1725); Riedel 1962, in: Riedel 1969, 144. 408 £)je Auflösung der professio Ethices vel Politices und die Scheidung des Naturrechts von der praktischen Philosophie, von Politik und Moral, läßt sich bereits im Titel von Pufendorfs Heidelberger Lehrstuhl ablesen, der zum ersten Mal allem für die Disziplin „Naturrecht" vergeben werden sollte, Hennis 1963, 28; Maier 1969, 37. 409 I. Kant, Über die Mißhelligkeit zwischen der Moral und der Politik, in Absicht auf den ewigen Frieden (1795/96), A 66/B 71 ff. 407
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Einzelerfahrungen bestehenden Welt der Pragmata, wird zwar noch manchmal tradiert410, aber im gro en ganzen setzt sich doch die neue Denkweise durch, die, geblendet von den Triumphen der Mathematik und Naturwissenschaft, das ehemals praktische Wissen der Theorie subordiniert und es entweder als Machttechnik poietisiert oder von einer pr zisen Theorie leiten l t, die unmittelbar in Handlungsanweisungen umschlagen soll411. Die moderne Macht der Theorie spiegelt die Macht des neuzeitlichen Subjekts, das seine Welt aus sich hervorbringt und geschichtlich erzeugt. Theorie und Kosmos, Handlungswelt und praktisches Wissen haben f r das Naturrecht moderner Pr gung keine eindeutige Beziehung mehr. Zwar hat schon Aristoteles die „ewigen" Gesetze des Naturrechts nicht ganz statisch konzipiert412, aber sein Begriff von φύσις ist doch nicht der einer geschichtlichen Natur und auch nicht der einer Natur, die der Mensch aus sich hervorbringt. Die Gesetze der Natur sind dem Menschen f r Aristoteles vorgeschrieben, nicht aber schreibt der Mensch seiner Natur die Gesetze vor413. Die selbst-gegebenen Gesetze und die selbstgemachte Geschichte, die von de Vico ber Rousseau bis Kant und Fichte die moderne Moral und das Entwicklungsdenken trugen, gehen bei Hegel in das Naturrecht ein, das eine lineare Geschichtsentwicklung durchl uft. Die Freiheit, die ihre Physis f r Aristoteles nur in der Polis erreichen kann, kann sich bei Hegel zugleich nur noch geschichtlich aktualisieren, von ihrem „Ansichsein" in der orientalischen Welt bis zum An-und410 411
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So in den Lehren von der „civilis prudentia" bei de Vico und der „prudence" bei Burke. Siehe Habermas 1961, in: Habermas 41971, 48ff. Hand in Hand mit dieser entscheidenden Verschiebung ging die Abwertung der φρόνησις, die bei Hegel keine Funktion mehr besitzt. Politik wurde zu einer „Klugheit", die entweder zum neutralen Verm gen einer beliebige Zwecke kalkulierenden Geschicktheit oder sogar zur abf lligen Schlauheit und Gerissenheit verkam, mit der sich ein „Weltmann" (= „der ein weltliches Amt bekleidende Politicus") G ter wie „Ehre, Reichtum und Gem chlichkeit" (Walch) zu verschaffen verstand; Hinweise auf die Wolffianer Walch und Baumeister bei Bien 1973, 217ff.; die zur Gerissenheit absinkende Klugheit bei W. Hennis, Zum Problem der deutschen Staatsanschauung, in: Politik als praktische Wissenschaft, M nchen 1968, 12, 245; die christliche Vorgeschichte dieses Bedeutungswandels (z. B. die Uberordnung des ewigen ber das gute Leben, ethica solitaria des Mittelalters etc.) bei Maier 1969, 20ff. Man denke an das Beispiel in EN, V, 10. Die rechte Hand ist von Natur st rker, und doch k nnten alle so weit kommen, in beiden H nden dieselbe Kraft zu haben. „φυσικόν μεν το πανταχού την αυτήν έχον δύναμιν, και ου τω δοκείν ή μη", ΕΝ, V, 10, 1134b 19 — 20. berspitzt formuliert k nnte man sagen, bei Hegel ist das Naturrecht genauso vom Menschen gemacht wie das „positive" Recht, das bei Aristoteles noch in der Idaren Trennung von φύσις und θέσις geschieden war.
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Fürsichsein in den Tagen Hegels. Daß die Basis des Naturrechts „das Gegenteil der Naturbestimmung" ist414, hat nicht nur den Sinn auf die Freiheit im Gegensatz zum Naturzustand zu verweisen, es schließt auch den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit ein, an den das Recht weltgeschichtlich gebunden ist. Unsere Leitfrage nach dem Mischungsverhältnis des alten Naturrechts mit dem neuen im Bezugsfeld von Universalismus und Individualismus verweist uns nun auf einen größeren Zusammenhang. Nicht nur Gesellschaft, Revolution und Staat, auch die Theorie und ihr Status zwischen Kosmos und Geschichte müssen bestimmt werden, wenn es eine Hegel und Ritter nicht unterbietende Lösung geben soll. Die Wiederherstellung des „Göttlichen", mit Hilfe dessen Hegel den Atheismus der sittlichen Welt exorziert, wird nach Ritter ja von der „Theorie" getragen, die Hegel gegen die Strömungen der Zeit einsetzt, einer Theorie, die ähnlich Heterogenes vereinen soll wie das Naturrecht selbst, eine Philosophie der geschichtlichen Welt mit der Schau des ewigen Kosmos. Fassen wir, bevor wir uns dem Status der Theorie und der revolutionär-soziologischen These (2) zuwenden, die zwischen Antike und Neuzeit hin- und herschillernde Wiederherstellung des Naturrechts in kurzen Thesen zusammen, welche unsere Gemeinsamkeiten und Differenzen mit Ritter betonen: (1) Ritters These von der Wiederherstellung der ethischen Politik durch Hegel läßt sich nicht bestreiten. (2) Auch kann man der Arete-Lehre des Aristoteles genausowenig einen simplen Traditionalismus oder Autoritarismus unterschieben wie Hegels Sittlichkeitsbegriff. Wie der eine für behutsame Reformen eintritt, so möchte der andere im alten Rahmen das moderne Subjekt zu Hause sein lassen. (3) Aber in der Wiederherstellung der ethischen Politik steckt doch mehr Universalismus, als Ritter überhaupt zu thematisieren bereit ist, und zwar deshalb, weil die Rückkehr zugleich einen Abschied vom modernen Naturrecht bedeutet. Die Sittlichkeit scheint das abstrakte Recht und die Moralität zu dominieren, vom Einzelnen ausgehendes Vertrags- oder Naturzustandsdenken ein am Ganzen der Gemeinschaft orientierter Ansatz abzulösen. (4) Zugleich verbirgt sich in der Umwandlung der Vertrags- und Naturzustandslehre, von denen die eine ins abstrakte Recht, die andere 414
Enz. SW X, § 502 A.
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ins äußere Staatsrecht wandert, ein Anschluß an den universalistischen Strang des modernen Naturrechts, an jene Schule, die sich als pragmatische Machttechnik und Kriegslehre bei Hobbes, Machiavelli und Spinoza entwickelt hatte. Bei Hegel verdrängt sie die kosmopolitischen, Frieden und Völkerrecht fordernden Ideale Kants, die eine Glorifizierung des Krieges und des Kampfes der Staaten ersetzt. (5) Aber auch der dreifache Universalismus, den die Rückkehr zum alten Naturrecht, die Verabschiedung des neuen und sogar die verbleibende Nähe zur neuzeitlichen Machttechnik speisen, wird noch einmal durch die Lehre vom freiheitlichen Rechtsstaat gebremst. Zwar kann Hegel die Rechte des Menschen und des Bürgers nicht vor-politisch ableiten, aber er kann sie doch trans-politisch konstruieren. Nicht der Machtstaat oder der totale Volksstaat, sondern allein der Rechtsstaat gewährleistet für Hegel die innerstaatliche Freiheit des Menschen, ein Staat, der sich allerdings nicht aus den Interessen der Einzelnen legitimieren muß. (6) Die Anerkennung des modernen Subjekts erzeugt bei Hegel sogar Traditionsbrüche, die sich nicht mehr der Wiederherstellung der aristotelischen Tradition integrieren lassen, sondern ihre Auflösung sind: (6a) Der Oikos zerfällt in Familie und Gesellschaft, um dem „natürlichen" Einzelnen und dem „wirtschaftenden" Individuum in der neuen sentimentalen Familie und der (nicht mehr die Summe der Häuser bedeutenden) Gesellschaft Anerkennung zu verschaffen. (6b) Ganz genauso zersetzt sich die alte Identität von Gesellschaft und Staat, um der Entpolitisierung und Privatisierung des bourgeois Platz zu machen, jenes bourgeois, dessen Einheit mit dem citoyen nicht mehr unmittelbar gegeben ist, sondern erst hergestellt werden muß. (6c) Letztlich sprengt das moderne Subjekt sogar den Begriff des Naturrechts selbst. Die Autonomie-Moral kollidiert mit der Sittlichkeit, das ewige Naturrecht mit der geschichtlichen Welt. Hegels Staatslehre gerät in den Einflußbereich der neuzeitlichen Theorie, welche mit ihrem Präzisionsanspruch aufs praktische Wissen übergreift, sie gerät zugleich in den Fortschritt einer vom Menschen gemachten geschichtlichen Welt, deren Gesetze nicht mehr unabhängig von der Zustimmung der Menschen gelten415. 415
Übereinstimmung mit Ritter im Prinzip dokumentieren (1), (2) und (5), auf Differenzen deuten (3) und (4) als von Ritter unbemerkte alte und neuzeitliche universalistische Tendenzen und (6a-c) als irreparable Brüche mit der alten Tradition.
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6.1.1.2. Die zweideutige Restitution der „göttlichen" Theoria Wie Hegel neuen Wein in die alten, aber auch teilweise neuen Schläuche des Naturrechts gießt, so knüpft er ähnlich zweideutig an die Theoria an, deren Vermächtnis er ganz ohne Zweifel bewähren wollte und auch im Gegensatz zu seinen linken Schülern bewahrt hat, aber eben wieder in einer Form, die zwischen den antiken Voraussetzungen des Begriffs und dem in der Neuzeit veränderten „Kosmos" changiert. So erblickt der Leser einmal die Flamme der Theoria, die noch rein zu leuchten scheint, ein anderes Mal drängen sich die Bilder der geschichtlichen Welt dem Auge auf, einer Welt, in der die „schöne Ordnung" durch die vom Menschen gemachte Geschichte abgelöst ist. Ritter, der den Sinn von wieder hauptsächlich bei Aristoteles festmacht, kann den Theoretiker Aristoteles glaubwürdig mit dem Theoretiker Hegel verschwistern. Wie für den einen die Theoria als selbstzweckhafte, von der Sphäre der , der und befreite 416 Schau „göttlich" war , genauso feiert für den anderen auch nach über 2000 Jahren die Theorie noch immer den „Gottesdienst", durch den sich schon die ersten Philosophen der Schau erfreuten417. Zwar blieb Hegels historisch geschärftem Blick nicht verborgen, daß die Einsamkeit des theoretischen Lebens mit dem Ende der Antike und des Mittelalters verschwand, leben die Philosophen der Moderne doch „in einem gemeinschaftlichen Stande mit Anderen im Staate"418, sind sie doch „in den Zustand der Gegenwart" verflochten419, aber wenn sich die soziologischen Bedingungen gewandelt haben, die bei den Griechen das exklusive Leben des Philosophen und im Mittelalter die contemplatio des Mönchs ermöglichten, so ist damit für Hegel die klassische Konzeption der „reinen" Theoria nicht zugleich verabschiedet. Ganz bewußt erinnert die Vorrede der Logik von 1831 an den Status der Aristotelischen Theorie, die „das Bedürfnis des schon befriedigten Bedürfnisses . . . Abstraktion von dem Stoffe des Anschauens, Einbildens usf., der konkreten Interessen des Begehrens, der Triebe des Willens" voraussetzt. Die schönen Worte, die auf dieses Zitat folgen, werfen ein bezeichnendes Licht auf den funda416 417
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Met. I., l,981b 17ff. „Denn auch die Philosophie", heißt es einmal in der Aesthetik, „hat keinen anderen Gegenstand als Gott, / und ist so wesentlich rationelle Theologie, und als im Dienste der Wahrheit fortdauernder Gottesdienst". Aesth. SW XII, 147/148; vgl. Ritter 1953, 16 Fußnote. Gesch. d. Phil. SW XIX, 275f. op. cit. 280.
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mentalen Unterschied, der Hegel sowohl von der Kierkegaardschen „Leidenschaft" als auch von der kritischen Theorie eines Marx abgrenzt: „In den stillen Räumen des zu sich selbst gekommenen und nur in sich seienden Denkens schweigen die Interessen, welche das Leben der Völker und der Individuen bewegen"420. Immer wieder setzt der klassische Theoretiker Hegel am Anfang oder am Ende eines Werkes die „leidenschaftslose Stille der nur denkenden Erkenntnis" von der Zerstreuung in die Zeitinteressen, Bedürfnisse und Leidenschaften ab, so als ob er das Umschlagen der Theorie in die „praktische" Philosophie seiner Schüler noch geahnt hätte421. Wenn es um den Gegensatz zwischen Hegel und seinen linken Schülern geht, dann verbindet Hegel mit Aristoteles' Konzeption der reinen, selbstzweckhaften Theorie mehr als mit der kritischen Theorie seiner Nachfolger422. Aber die Genauigkeit, mit der Hegel die veränderte Situation des Philosophen registriert, dessen Leben in der Moderne nicht mehr durch den genus vitae des theoretischen Lebens abgedeckt ist, läßt doch ahnen, daß auch durch diesen klassischen Zug wieder ein moderner Hintergrund hindurchscheinen wird. Was Ritter unter der Rubrik der „göttlichen" Theoria zusammenfaßt, machen seine Aufsätze zu Aristoteles deutlich. Einmal wird ein nicht unkontroverser theologischer Sinn der griechischen Theoria behauptet423, 420 421
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Logik SW IV, 24; vgl. auch Gesch. d. Phil. SW XVII, 81. Hier wäre an das berühmte Ende der Enzyklopädie zu erinnern (Enz. SW X, 475/476), an das der angeblich arrogante Hegel einfach Aristoteles* Worte aus Met. , 7 über , und das setzt („one of the most extraordinary examples of intellectual humility in the history of philosophy", F. G. Weiss in seiner schönen Darstellung „Hegel's Critique of Aristotle's Philosophy of Mind", The Hague 1969, 3), aber auch an das Ende der Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, wo es heißt: „Aus dem Überdruß an den Bewegungen der unmittelbaren Leidenschaften in der Wirklichkeit macht sich die Philosophie zur Betrachtung heraus . . ." (Phil. d. Gesch. SW XI, 569), und schließlich an die häufige Formel von der „Not der Zeit", die genau die heraufbrechende Theoriefeindlichkeit markiert, Heidelberger Antrittsrede (1816), SW XVII, 19f.; Anrede an seine Zuhörer bei Eröffnung der Vorlesungen in Berlin (1818), SW VIII, 33, 36; Vorrede zur Enzyklopädie von 1830, op. cit. 30 u. ö. Diese Erkenntnis teilt Ritter mit Gray („Hegel shared the passion for knowledge for its own sake to a degree that has characterized few others in all history, Gray 21968, 82) und Fulda, der für die theoretische Selbstkritik argumentiert, also quasi die Kritikfähigkeit der klassischen Theorie gegen die angemaßte Kritik der kritischen Theorie ausspielt. H. F. Fulda, Das Recht der Philosophie in Hegels Philosophie des Rechts, Fft. a. M. 1968. Siehe auch die zutreffende Darstellung bei Riedel 1965, 193ff. So entdecken manche einen „emanzipatonschen" Sinn der Theorie bei den Vorsokratikern, deren Weg quasi vom Mythos zum Logos führte (Burnet, Windelband, During, Hoffmann, Capelle). Manche lokalisieren die Entstehung der Wissenschaft bei den ionischen Naturphilosophen; sie sehen erst bei Plato die Theoria den Weg ins
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eine These, mit der sich Ritter allerdings in der distinguierten Gesellschaft vieler Kenner der Antike befindet424, zum anderen wird die „G ttlichkeit" der Schau bei Aristoteles n her aufgeschl sselt als die der T tigkeit, die eigentlich den G ttern geh rt und f r die Sterblichen ein „Geschenk" symbolisiert425, zum anderen als die des Gegenstandes, des „μάλιστα έπιστητόν"426, des „Grundes"427 und der „ganzen Natur"428, deren Prinzip von Ruhe und Bewegung die Physik, deren unbewegte K rper die Mathematik und deren unk rperliche unbewegte Wesenheiten die Theologie erforscht429. Ritter versucht, die anti-theologischen Deutungen des Theoriebegriffs mit den theologischen zu synthetisieren, und zwar nicht in dem nahe-
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Metaphysisch-Religi se nehmen (Kroll). Ein den Stand der Forschung meist gut wiedergebender Autor wie During betont den anti-metaphysischen „Physiker" Aristoteles, der die Theorie aus dem Nebel der Mythologie ins Licht der Wissenschaft bringt (I. During, Aristoteles, Heidelberg 1966). J. Ritter, Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles (1953), 14ff., 32f. Gewichtige Gr nde sprechen f r diese „theologische" Leseweise. Immer wieder taucht die Verbindung von θεωρία und θεός in der Erinnerung an die fr hen Auguren und priesterlichen Astronomen auf, die vom templum die Ordnung des Himmels bestaunten (Bahnbrechend f r dies und anderes mehr F. Boll, Vita Contemplativa. Festrede zum zehnj hrigen Stiftungsfest der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Stiftung Heinrich Lanz am 24. April 1920, Heidelberg 1920, 7, 27), immer wieder beruft man sich auf den θεωρός, den Festgesandten zu sakralen Spielen, den die Griechen etymologisch zu Unrecht, aber der Sache nach legitim mit θεός assoziierten (die Etymologie am besten bei Boll 1920, 23; aber auch Lobkowicz 1967, 6; G. Picht, Der Sinn der Unterscheidung von Theorie und Praxis in der griechischen Philosophie, in: Zeitschrift f r evangelische Ethik 8. Jg. Heft l [1964], 336; an den Zusammenhang von Theorie und „Fest" erinnern stets H. K hn, Das Sein und das Gute, M nchen 1962, 400ff., 238 und J. Pieper, Mu e und Kult, M nchen 1948). Gern nacherz hlt werden die sch nen Topoi von Anaxagoras, der die Menschen durch ihre Geburt in ein Fest Gottes eintreten sah, bei dem die einen Vergn gen, manche Gewinn und andere wieder nur die Schau der sch nsten Dinge suchen (Boll 1920, 10; Lobkowicz 1967, 5f.; die Quellen Cicero, Tusc. V, 3, 8-9; Jamblichus, De vita Phyth. 58-59), oder auch jene andere berlieferung, nach der Anaxagoras auf die Frage, wer der Gl cklichste sei, geantwortet haben soll, der „ohne Leid und in Reinheit nach der Gerechtigkeit lebe oder in der Teilhabe an der g ttlichen Schau . . ." (Picht 1964, 325; EE I, 4, 1215b 6ff.). F r den „theologischen" Sinn der Theoria argumentieren ferner W. J ger, The Theology of the Early Greek Philosophers, Oxford 1947; A. J. Festugiere, Contemplation et vie contemplative selon Platon, Paris 21950 und Ph. Merlan, From Platonism to Neoplatonism, The Hague 1953. Platonikern f llt die Anerkennung des religi sen Sinns verst ndlicherweise am leichtesten. Met. I, 2, 982b 28-29. Met. I, 2, 982a 31; VI, l, 1026a 18ff. Phys. 111,4, 203 b 6 ff. Met. XII, 8, 1074b 3. Met. VI, l, 1025b 18ff.; Met. XI, 7, 1064a 28-1064b 6.
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liegenden Sinn, daß er die entmythologisierende Bedeutung der „Forschung", wie sie manchmal bei Aristoteles so greifbar nahe erscheint, mit dem religiösen Gehalt der Theoria vereint, sondern in der etwas überraschenden Wendung, die eine Verbindung des Göttlichen der Theorie mit der Praxis des Lebensvollzuges suggeriert. Wie die ersten Philosophen versucht Aristoteles den göttlichen Grund der Welt zu denken, anders als sie bezieht er durch seine Verankerung der Theorie in der Praxis das ehemals ferne Göttliche in den Lebenszusammenhang ein430. „Das Wissen des Göttlichen wird zum Wissen der Gründe und Ursachen der Dinge, weil die göttliche Weltordnung die Welt des Menschen in seinem geschichtlichen und gesellschaftlichen Dasein ist"431. Hier wird der Leser zum ersten Male stutzig. Was mag Ritter veranlaßt haben, schon bei Aristoteles eine Theorie des Menschen „in seinem geschichtlichen und gesellschaftlichen Dasein" zu vermuten? Vielleicht wollte Aristoteles die Lehre der „Alten" entmythologisieren, indem er das mythisch ferne Göttliche der Theorie der Welt zu erkennen gab, aber was hat jene Wendung mit einer Theorie der Geschichte oder Gesellschaft zu tun? Es scheint, daß Ritter die Brücke von Hegel zu Aristoteles wohl deshalb schlagen kann, weil er Aristoteles hegelianisiert, um dann später Hegel zu aristotelisieren!432 Der erste Grund, der Joachim Ritter veranlaßt hat, schon bei Aristoteles eine Theorie „des geschichtlichen und gesellschaftlichen Daseins" zu suchen, erinnert an das Platonisch-Aristotelische Ideal des theoretischen Lebens, jener Lebeweise, „zu der der Mensch dann kommt, wenn er sich von der Theoria des Göttlichen und der göttlichen Ordnung / leiten läßt"433. Theoretisches Leben rangiert letztlich deshalb über dem apolaustischen und politischen, weil es das eigentlich Übermenschliche anstrebt, das unsterbliche, glückliche Leben der Götter, das weder im halbtierischen Genuß noch in der aufreibenden Politik, sondern allein im stetigen, autarken und mit Muße durchführbaren Leben der Schau „immer wieder" angezielt werden kann434. 430 431 432
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Ritter 1953, 29. op. cit. 30, Hervorhebung, H. O. Wenn wir diesem Verdacht jetzt näher nachgehen, scheinen wir vom Thema abzuschweifen. Tatsächlich stehen wir an der Schwelle der Einsicht in die zentralen Differenzen, die Hegel von den antiken Philosophen trennen. Ritter 1953, 19/20. Für diesen Sachverhalt prägt Aristoteles eigens den Iterativ „ ", der sowohl die Identität und Differenz zwischen Göttern und Menschen als auch den ständig wiederholten Aufstiegsversuch bezeichnet (EN X, 7, 1777b 33). Der Kern des Gegen-
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Die Verbindung der Schau des G ttlichen mit dem „Leben" des Philosophen hat allerdings eine gewisse Exklusivit t, die Ritter nur andeutet; man sp rt doch durch die Argumente des Aristoteles hindurch eine apologetische Absicht, die ihn das theoretische Leben gegen den anerkannten und hochgesch tzten βίος des praktischen, d. h. politischen Lebens verteidigen l t435. Ritters Blick wird durch eine verschwiegene Platonisierung des Aristoteles getr bt. Denn, was Ritter im Auge hat, ist wohl nicht die bei Aristoteles h chst fragw rdige Verbindung zwischen Ethos und Theorie, sondern der durch die μίμησις gekn pfte Zusammenhang zwischen der sch nen Ordnung des Alls und dem Leben des Philosophen, der selbst zu einem κόσμιος und einem Mikrokosmos wird, indem seine Seele die Gesetze des Kosmos spiegelt. Eigentlich nur bei Plato werden die Gesetze der Stadt ein Abbild Gottes, so da Kosmologie, Theorie und Politik tats chlich ineinander bergehen436, eigentlich nur Plato versatzes von Theorie und Praxis meint bei den Griechen tats chlich den Unterschied zwischen dem, was im Menschen menschlich (sterblich) und dem, was in ihm g ttlich ist (Lobkowicz 1967, 26/27; Picht 1964, 342). Ihm korrespondiert die Lehre vom zusammengesetzten Wesen „Mensch", wie sie so stark im Phaidros-Mythos und auch in der Aristotelischen Lehre vom νους auftaucht, der bekanntlich θύραθεν in den Menschen eintritt. 435 Noch Plato und Aristoteles m ssen sich wie schon Xenophanes gegen die adeligen Tugendideale der archaischen Zeit rechtfertigen; die Dreiteilung der genera vitae bei Aristoteles und Platos Philosophenk nig sind so Versuche, zwischen den Tugenden der V ter und dem theoretischen Leben zu vermitteln (Picht 1964, 325, 329). Die spezifisch griechische Hochsch tzung des politischen Lebens (Lobkowicz 1967, 24), die sich etwa in der Leichenrede des Perikles auf typische Weise manifestiert, spricht er doch von dem αχρείος, der nicht am staatlichen Leben teilnimmt (sondern, das ist die witzige Pointe, sich statt dessen um alles k mmert, was ihn nichts angeht, Boll 1920, 30), diese Hochsch tzung fordert eine verst rkte Legitimation des tendenziell apolitischen theoretischen Lebens. Die allgemeine Aversion gegen die Nutzlosigkeit und Weltfremdheit der sich von der Polis absondernden Theoretiker begleitet die Geschichte der Philosophie als Theorie vom angeblich in den Brunnen st rzenden Thaies bis hin zur Polemik gegen die „Flohsprungmesser" und die Alexandrinischen „B cherw rmer", die als „Hungerleider", „m ige Schw tzer" und „Gr bler" beschimpft werden (dies wieder am besten bei Boll, der sowohl diese Aversion als auch die Verherrlichung des theoretischen Lebens bei Cicero, Seneca, Epikur und Boethius referiert, Boll 1920, 13, 29-34). F r das theoretische Leben als h chste Lebensform spricht nach Aristoteles seine Leitung durch den g ttlichen νους, seine Stetigkeit, Lusterf llung und Autarkie, die nicht einmal der anderen Menschen bedarf, seine Selbstzweckhaftigkeit und seine alle politisch-praktische T tigkeit bertreffende Mu e (alles EN X, 7) und schlie lich die Tatsache, da es die Schau realisiert, die eigentlich den G ttern zukommt (EN X, 8, 1178b 8ff.). 436 Schon f r Plato war die θεωρία ein „Geschenk" der G tter, auf deren Fl geln sich die vom K rper gel ste Seele zur Unsterblichkeit erheben konnte. Wie die geordneten Schwingungen der Musik den Menschen bilden, so wird der, der die vom νους
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schränkt „die Kosmologie und Naturlehre des Timaios noch unmittelbar mit der Frage nach der besten politeia". Bei Aristoteles, der Platos „vermittlungslose Identifikation von Theorie und Praxis"437 ja gerade nicht mehr wiederholen will, läßt sich ein direktes Abhängigkeitsverhältnis von Metaphysik und Politik nicht nachweisen, auch wenn man ontologische Prinzipien, Physis-Lehre und manches andere in der Politik wiederfinden kann438. Nur mit Plato ließe sich stützen, was Ritter für Aristoteles reklamiert, die unmittelbare Verbindung von und Praxis (im 439 engeren Sinn) . Aber selbst wenn Ritter mit Plato belegen könnte, was er für Aristoteles behauptet, so bleibt doch fragwürdig, was selbst die platonische Einheit von Kosmologie, Theorie und Politik mit einer Metaphysik des „geschichtlichen und gesellschaftlichen Daseins" oder, wie Ritter einmal phänomenologisch formuliert, mit einer Theorie der „Lebenswelt" zu tun haben soll440. Das der Politeia wird ja auch von Plato nicht nach
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bewegte Ordnung der Gestirne schaut, zur Nachahmung der Ordnung gelenkt (Timaios 47a —d, 90a —d). Wer auf das ewige Seiende blickt, hat keine Zeit „hinunterzublicken auf das Treiben der Menschen . . .", wie es im VI. Buch heißt; der Philosoph zeichnet vielmehr auf die kathartisch von den gereinigte Tafel der Seele das Schema der guten Verfassung, im ständigen Hin- und Herblicken von der Tafel auf die des Gerechten, Schönen und Besonnenen (Politeia VI, 13, 501a —502a). Bien 1973, 163ff. Darauf verweist zu Recht Manfred Riedel in dem schönen Aufsatz „Metaphysik und Politik bei Aristoteles", in: Philosophisches Jahrbuch 77 Jg. (1970), 2ff. Da Praxis nicht nur Werden, Wachsen, Schlafen, Wachen (De part. anim. I, 4, 645b 14ff.) und die Bewegung der Gestirne (De caelo II, 12, 292a 20ff.), sondern auch die Theorie selbst umfaßt, die sogar eine höhere Form von Praxis als die nach außen und auf andere gerichtete sein soll (Pol. VII, 3, 1325b 16ff.), meint Praxis hier die engere Bedeutung der spezifisch menschlichen und politischen Tätigkeit. Daß diese bei Aristoteles anders als bei Plato nicht unmittelbar mit der Theorie verknüpft ist, demonstriert Bien, der zwischen „theorie- und philosophieloser Praxis, praktischer Vernunft und praktischer Philosophie" differenziert und die alte, schon zwischen Walter und Teichmüller kontroverse Frage nach dem Verhältnis von und praktischer Philosophie durch die Unterscheidung zwischen dem Mann der reinen Theorie (der ohne Verbindung zur Praxis ist), dem in der Schule Ethik und Politik vortragenden Philosophen (der den Lebensvollzug der Bürger beeinflussen will) und den Adressaten außerhalb der Schule lösen möchte; nur weil Aristoteles ein bürgerliches Leben ohne Theorie für möglich hält, kann er Wissenschaft und politische Verantwortung ganz anders trennen, als sie Plato in der Lehre von den Philosophenkönigen verbindet. Siehe G. Bien, Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie des Aristoteles, in: Philosophischesjahrbuch 76 Jg. (1968/69), 264 ff.; Bien 1973, 124ff., 160 — 162, 163ff. Ritter könnte sich allenfalls auf den Protreptikos berufen, der noch eine stark platonisierende Theoretisierung der Praxis enthält; siehe die Rekonstruktion bei During, During 1966, 406ff. (z. B. b 46-49). Ritter 1953, 22.
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dem Bilde einer geschichtlichen (oder gar vom Menschen hervorgebrachten) Welt gezeichnet, sondern nach der Vorlage des ewigen (!) Kosmos, den der Mensch nicht handelnd verändert, sondern „nur" schaut. Es wäre auch ein Mißverständnis das mit der verbundene Bildungsideal humanistisch, als ein um den Menschen zentriertes, aufzufassen. Der Mensch wird von dem Bildner, von dem das Gleichnis des VI. Buches erzählt, „nicht als ein Menschen- sondern als Götterbild" geformt441. Das „Göttliche" wird bei Plato nicht in die Welt der Sterblichen heruntergezogen, es dient eher als Flügel für die Seele des Menschen, der sich dem übermenschlich Göttlichen anzugleichen sucht. Ratters Erinnerung an die Verbindung des theoretischen Lebens mit dem Ethos suggeriert eine Analogie zwischen antikem Bildungsgedanken und Hegelscher Theorie-Praxis-Lehre, die sich kaum aufrechterhalten läßt. Von der griechischen „Metaphysik" der Politik wird auf die „metaphysische" Politik des klassischen Philosophen Hegel geschlossen. Nicht nur die -Lehre, auch die Analyse von Metaphysik A verführt Ritter zu dieser Analogie. Denn am berühmten Anfang von Metaphysik A wird, so meint er, über die Stufen Erfahrung, Techne, Sophia die Wissenschaft von den „ersten" Gründen und Ursachen abgeleitet. „WissenDaß", handwerkliches und künstlerisches Kennen der Ursachen der Dinge erlauben per analogiam den Schluß auf die . Das aber heißt für Ritter, von den „Wissenschaften des praktischen Daseins"442, ja sogar vom „Lebensvollzug"443, der das Göttliche der Theoria schon enthalte, werde zur Metaphysik geführt. Diese wiederum wird als Entfaltung des quasi lebensweltlich gegebenen Göttlichen praxisleitend. „Die göttliche Ordnung, die die Theorie anschaut, ist die Ordnung der Welt, in welche der in einer praktischen Kunst und ihrer Wissenschaft gebildete Mensch als ein sie Wissender gestellt ist. Diesen durch Kunst und Wissenschaft . . . vermittelten Instand des Menschen in der Welt macht die Theorie zur Grundlage ihrer theologischen Weisung . . ."444. Die zweite Verkettung von Theorie und Praxis enthält noch einmal Elemente, die eine übertriebene Ähnlichkeit zwischen Hegel und den griechischen Philosophen suggerieren. Nicht so sehr durch das, was Ritter sagt, sondern eher durch das, was er nicht sagt, schieben sich Aristotelesund Hegelbild zu nahe aneinander. Denn nicht erwähnt werden l. die bei 441 442 443 444
Picht 1964, 332. Ritter 1953, 25. op. cit. 28. op. cit. 26.
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Aristoteles und in seiner Tradition so stark betonte Eigenart des praktischen im Unterschied zum theoretischen Wissen und, eng damit zusammenh ngend, der jeweils unterschiedliche Gegenstand der φρόνησις und der θεωρία; nur unzureichend dargestellt bleiben als Folge davon 2. die Differenz des Theoriebegriffs bei Aristoteles und Hegel und, wieder damit verbunden, der unterschiedliche Gegenstand der alten und der neuen Philosophie. Die enge Verbindung von Theorie und Praxis, die Ritter demonstrieren will, l uft der Eigenart des praktischen Wissens zuwider. Episteme praktike und Theoria trennt die fehlende ακρίβεια. Die ganze Wendung zum Empirischen, durch die Ritter Hegel und Aristoteles noch zu Recht vergleicht, hat bei Aristoteles nicht dieselben Gr nde wie bei Hegel. W hrend Hegel im Namen der neuzeitlichen Philosophie eine „Theorie" der Ethik und Politik konstruiert, hat das Sammeln der Verfassungen und Sprichw rter, die Hochsch tzung der Sitten, Gewohnheiten, Gesetze und der Erfahrung selbst bei Aristoteles seinen Grund im Charakter des praktischen Wissens, das durch Erfahrung und Handeln erworben werden mu , weil es kein Wissen von theoretischer Pr zision sein kann. W hrend die theoretische Wissenschaft das Ewige, das Ansich, den Grund, das Notwendige und Allgemeine mit h chster Genauigkeit erfa t, bezieht sich das praktische Wissen auf die menschlichen Pragmata, d. h. auf das Zeitliche, Relative, Ver nderliche und Einzelne445. Ποίησις als auch πράξις sind erst dort sinnvolle T tigkeiten, wo der Gegenstand auch Ver nderung zul t, wo etwas „entsteht, was da sein und auch nicht sein kann", etwas, das weder notwendig existiert noch sein Dasein der Natur verdankt446. Die αρχή des Gegenstandes liegt bei den poietischen Wissenschaften als νους und τέχνη im Produzenten, beim Handeln in der προαίρεσις447. Die theoretischen Wissenschaften aber erforschen einen Gegenstand, der dem Einflu der menschlichen Handlungen entzogen ist, der seinen „Anfang" in sich selbst besitzt448. 445
Met. II, 2, 993b 21-24; EN VI, 3-5. „Allgemein", „notwendig", „unver nderlich", „Grund", „Mittelbegriff" scheinen Synonyma f r Aristoteles zu sein, etwa Anal. Post. I, 4, 73b 26; I, 24, 85b 26-27; I, 33, 88b 30; II, 2, 90a 6-7. Das praktische Wissen n hen sich, obwohl die τέχνη ein Wissen um Ursachen und Gr nde einschlie t, manchmal der δόξα und der αϊσθησις, Anal. Post. I, 33, 88b 30; De anima II, 5, 417b 22ff. Die φρόνησις geht als erfahrene Einsicht aufs Einzelne, EN VI, 8,1141 b 14ff. Dort hei t es auch: „ . . . ή δε πραξις περί τα καθ' έκαστα, ΕΝ VI, 8, 1141b 16. 446 ΕΝ VI, 4, 1140a 12-15. 447 Met. VI, 1, 1025b 18-28; XI, 7, 1064a lOff. 448 Met. VI, 1, 1026a 10ff.;XI, 7, 1064a 15-19.
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Für Aristoteles verbietet sich das Etikett von einer Metaphysik der Politik genauso wie der heute so beliebte Begriff einer „politischen Theorie". Die Praxis, die sich in ihrem Vollzug erfüllt, erlaubt kein abtrennbares und keine „Außendirektion"; anders als in der Moderne wehrt sie eine „Ubertechne" der Politik ab449. Ganz genauso ist sie noch gegen die Ansprüche einer Theorie gefeit, die ihren Exaktheitsanspruch auf Ethik und Politik ausdehnen will. Ökonomie, Ethik und Politik bilden den Raster einer von der Theorie abgespaltenen praktischen Philosophie, welche sich noch mit der Präzision bescheidet, „die der gegebene Gegenstand gestattet"450. Die Schlußfolgerung liegt auf der Hand. Wenn Aristoteles schon kein Metaphysiker der Politik gewesen ist, dann kann Hegel sich nicht in eine Tradition einreihen, die es so gar nicht gegeben hat. Hegels Philosophie restituiert die institutionelle Ethik der Griechen auf zweideutige Weise, sie läßt auch die Flamme der reinen, göttlichen Theorie weiter leuchten. Eine „metaphysische" Fundierung der praktischen Philosophie kann sie aber nicht im Namen der klassischen Tradition beanspruchen. Hennis, Joachim, Riedel und Lobkowicz bilden die Allianz, deren Analyse des praktischen Wissens bei Aristoteles gegen Ritter gewendet werden muß451. Die Hegeische Theorie kann nur im Namen der neuzeitlichen Veränderungen sowohl des Wissens als auch des Gegenstandes der Philosophie auf Ethik und Politik übergreifen. Dieselbe Allianz muß noch einmal (verstärkt durch Löwith und Kühn) gegen Ritter und seine „Aristotelisierung" der Hegeischen Theorie-Praxis-Lehre Front machen. Der Exaktheitsanspruch der Hegeischen Philosophie verdankt sich nicht antiker Verkettung von Metaphysik und Politik, sondern dem modernen Erkenntnisideal, wie es die zweite Regel Descartes', die Unterordnung der ehemals „praktischen" Philosophie unter die Methode des „Novum Organon" bei Francis Bacon, die nach dem Muster der Geometrie vorgenommene Poietisierung der Politik bei Hobbes und die Verwissenschaftlichung der Politik bei David Hume bezeugen452. Auf Hegel hat diese 449 450
451
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Bubner 1971, 32. EN I, 7, 1098 a 29. Um das Argument nicht zu komplizieren, unterschieben wir schon der komplexeren Wissenseinteilung des Aristoteles jene erst im Peripatos geschaffene Trias des praktischen Wissens. Hennis 1963, 36-40; H.Joachim, The Nicomachean Ethics, Oxford 1951, 24-26. Riedel 1965, z. B. 224-226; Lobowicz 1967, 9-15; Lobkowicz 1968, 115. Hier wäre noch einmal auf Hennis zu verweisen, der uns nähere Belege erspart (Hennis 1963, 40ff.). Bei Lobkowicz die Nachgeschichte der provisorischen Ethik Descartes': Lockes Mathematisierung der Ethik, Spinozas Ethik more geometnco, Leibniz' Vergleich
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Tradition als selbstverständlicher Zug moderner Theorien wohl vor allem über Kant und Fichte eingewirkt453. Wie Fichte schon die Grenzen der Kantischen Vernunft in der Tathandlung des Ich aufzulösen begann, so hat Hegel, für den auch die bei Fichte noch vorhandene theoretische Grenze der Vernunft gefallen war, ein „absolutes Wissen" beansprucht, das der Theorie eine unerhörte Einheit mit der praktischen Philosophie ver-
der moralischen Gesetze mit denen der Mechanik und Wolffs Anwendung der mathematischen Methode auf die praktische Philosophie (Lobkowicz 1967, 119f.). 453 Auch wenn Kant erhebliche Unterschiede zwischen Theorie und Praxis beschreibt (der unterschiedliche Gegenstand, hier Natur dort Freiheit, die unterschiedliche Reichweite, hier Kettung an Erfahrung und phänomenale Welt, dort spekulative Postulate und intelligible Welt), auch wenn die Erkenntnis eingeschränkt bleibt, um dem Glauben wie der Ethik Platz zu machen (Man denke an die Lösung der 3. Antinomie, L. W. Beck, Studies in the Philosophy of Kant, New York 1965, 11 ff.; Lobkowicz 1967, 130), auch wenn die Urteilskraft als Bindeglied zwischen Theorie und Praxis ihre komplizierte Rolle spielt, so schlägt doch auch bei Kant das moderne Ideal von Mathematik und Naturwissenschaft insofern auf die praktische Philosophie durch, als es in der Vereinheitlichung der Vernunft, die Kant ohne Zweifel anstrebt, letztlich doch zu einer, nur auf modernem Boden möglichen Theoretisierung der praktischen Philosophie kommt. Die eine Vernunft, welche die Wissenschaft von der Natur und von der Freiheit umfaßt (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Vorrede [1785], A 14), enthält hier wie dort „Gesetze" und synthetische Urteile a priori. Theoretische und praktische Wissenschaft unterscheiden sich, vereinfacht gesagt, nur in der Anwendung. Bezeichnend der Aufsatz über den „Gemeinspruch", der mit den Worten schließt: „Was aus Vernunftgründen für die Theorie gilt, das gilt auch für die Praxis", Kant 1793, A 284. In gewissem Sinn haben Ethik und Politik bei Kant weniger von Erfahrung zu lernen als die Mathematik (Lobkowicz 1967, 121; Kant 1793, A 204). Fichte, der sich stets rühmte, die von Kant versprochene Einheit der Vernunft tatsächlich geleistet zu haben, hat die Schranken, die Kant der Vernunft gezogen hatte, insofern schon durchbrochen, als er die dem Menschen von Kant noch verwehrte Einsicht einer intellektuellen Anschauung (I. Kant, Kritik der Urteilskraft [1790/1793], §77, A 340/B 344ff.) für möglich erklärte und durch den „Machtspruch der Vernunft" (J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre [1794], AW I, 300) in der praktischen Philosophie die Einheit herbeiführen wollte, die der theoretischen Vernunft verwehrt blieb. Da dem Erkennen die Deduktion des „Nicht-Ich" nur insofern gelingt, als es als überhaupt vom Ich gesetztes noch erkannt werden kann, fällt es dem unendlichen Streben des Ich anheim, den Anstoß und Widerstand des Nicht-Ich ständig zu vernichten. Auch wenn Fichte manchmal die Mathematik mit der leeren „Formularphilosophie" vergleicht (J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts. System der Sittenlehre [1796], AW II, 10), so hat er doch für seine in der praktischen Vernunft zentrierte Philosophie den Anspruch auf mathematische Präzision erhoben (siehe J. Widmann, Analyse der formalen Strukturen des transzendentalen Wissens in J. G. Fichtes 2. Darstellung der Wissenschaftslehre aus dem Jahre 1804, Diss. München 1961). Hegel kann in dieser Kant-Fichte-Perspektive als der Schlußpunkt gelten, insofern als er die auch bei Fichte noch vorhandene Grenze der theoretischen Vernunft entschränkt und so die Bedingung für eine die praktische Philosophie völlig umgreifende Theorie schafft. Ich habe diesen Entschränkungsprozeß in anderem Zusammenhang dargestellt, Ottmann 1973, 65 ff.
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schaffte, die selbst die bei Kant und Fichte schon manifeste Vertheoretisierung der praktischen Philosophie noch übertraf. Für Hegel haben moderne Naturwissenschaft und Mathematik die Rolle des Leitbildes ausgespielt. Aber das im Zusammenhang mit der neuen Interpretation jener vom Menschen erzeugten Wissenschaft entstandene Erkenntnisideal ist sowohl in Hegels Staatslehre wie in seine Geschichtsphilosophie eingegangen. Die Neubestimmung von „verum et factum convertuntur", die de Vico dargelegt hatte454, der Gedanke, der in der Neuzeit Gewißheit und Machen aneinander knüpfte455, zeigt auf der Seite des Gegenstandes jenen Bruch der „neuen Wissenschaft" mit der alten Philosophie, den auf der Seite des Wissens die unterschiedlichen Ansprüche der Theorie auf Exaktheit und Reichweite reflektieren. Der Mensch, der die Geschichte als sein Produkt zu erkennen anfängt, löst als neuer Gegenstand die immergleiche Ordnung des Kosmos ab456. Nur deshalb konnte Hegel überhaupt der Vater der von seinen Schülern reklamierten weltverändernden Praxis werden, weil schon er in eminenter Weise die Ablösung der antiken Leitbilder verkörpert. Das Zusammenspiel von , , und ist nicht länger das Vorbild der „Vernunft in der Geschichte". „Die periodischen re-volutionen der Himmelskörper", sagt Löwith einmal pointiert, „lassen sich nicht durch geschichtliche Revolutionen verändern"457, wohl aber, so können wir ergänzen, die Gestalten des objektiven Geistes, die von den Individuen „hervorgebracht" werden. Ritter weiß natürlich, daß die philosophia perennis sich bei Hegel in eine „geschichtliche" Philosophie verwandelt458, aber er hält die Synthese 454
455
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Von der vom Menschen gemachten historischen Welt hatte de Vico behauptet: „es kann nirgends größere Gewißheit geben als da, wo der, der die Dinge schafft, sie auch erzählt. So verfährt diese Wissenschaft gerade so wie die Geometrie, die die Welt der Größen, während sie sie ihren Grundsätzen entsprechend aufbaut und betrachtet, selbst schafft; doch mit umso mehr Realität, als die Gesetze über die menschlichen Angelegenheiten mehr Realität haben als Punkte, Linien, Flächen und Figuren . . .", G. Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker 1. Buch, 4. Abt. (1744), nach der Übersetzung von E. Auerbach, München 1924, 139. Er findet sich schon bei Hobbes („Earum tantum rerum scientia per demonstrationem illam a priore hominibus concessa est, quorum generatio dependet ab ipsorum hominum arbitrio", De homine X, 4) und in starker Ausprägung auch bei Kant, dessen ganze Kopernikanische Wende sowie die berühmte Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft als Beispiel dienen können (I. Kant, Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft [1787], B Xff.). Für Fichte, der die radikalste Verbindung von produzierendem Ich und Gewißheit lehrte, erübrigen sich nähere Hinweise. Vgl. dazu Riedel 1965, 204ff. Löwith 1962, 31.
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von antikem Kosmos- und modernem Geschichtsdenken f r gelungen. Sowohl die von Hegel behauptete Identit t des νους des Anaxagoras mit der „Vernunft" der Franz sischen Revolution459 als auch die Einheit der Erkenntnis der „Substanz, die immanent" und des „Ewigen, das gegenw rtig" ist, mit dem Erfassen des „Gegenw rtigen und Wirklichen"460 scheinen ihm die Griechentum und Moderne gegl ckt umgreifende Konzeption zu bezeugen. Aber auch wenn Hegels ursprungsphilosophischer Denkstil manche heute noch an das griechische Kreislaufschema erinnert, in das Bild der ewig kreisenden Gestirne pa t nicht der Pfeil der Geschichte, die Hegel auf ein Ziel zutreiben sieht. Helmut K hn hat die Unvereinbarkeit des Fortschrittsgedankens mit der alten επάνοδος-Lehre stets betont461, Karl L with hat immer auf die Rolle de.s Christentums f r die Geschichtsphilosophie verwiesen. Zwar war den Griechen ein Entwicklungsdenken nicht v llig fremd462, aber was Hegel in den Zeitbegriff, ja sogar in den Begriff der Vernunft einbringt, l t sich nicht mehr mit den Worten έπίδοσις (προκοπή) oder λόγος alleine umgreifen. Vernunft hat bei Hegel 458 459 460
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Ritter 1957, 168 Fu note. Phil. d. Gesch. SW XI, 557. Rph 1821, SW VII, 32, 33. Helmut K hn legt Hegel im Stile von Litt, Cassirer und Meinecke aus. Er plaziert ihn an den Umschlagspunkt in der Geschichte des Geistes, an dem die „g ttliche Vorsehung" sich so in „menschliche Wissenschaft" verwandelt, da die alte Tradition des Aufstiegsgedankens dem Historismus verf llt und die Philosophie als Erkenntnis des Guten als Guten sich in Ideologie zu verwandeln beginnt. Hegels Philosophie, welche die Theorie als Gedanken der Zeit bestimmt, hat „indirekt" „der Verf lschungsform des praktischphilosophischen Wissens eine unerh rte Chance er ffnet". H. K hn, Der Ursprung der Ideologie aus dem Geist der Philosophie Hegels, in: Hegel-Studien Bd. 6 (1971), 198. Indem Hegel die „Zeit" in die Philosophie einl t, wird seine Theorie der zweideutige Anfang der historistischen Effekte: des „Verschmelzungseffekts" (Verschmelzung von politischer Leidenschaft und geschichtsphilosophischer Idee), des „Ideologisierungseffektes" (historische Funktionalisierung des Gedankens) und des „Totalisierungseffekts" (Integration der Bildungswelt in die politische Sph re), H. K hn, Der Staat, M nchen 1967, 333ff. Indem Hegel das „philosophische Geschehen des Aufstiegs . . . analogisch gleichsetzt mit der realen Geschichte der Menschheit" (K hn 1971, 200), kann er zum Ausgangspunkt der mit Heidegger endenden Paradoxie werden, in der das Sein als „Sein ist Zeit" uns mitspielt, statt mit uns zu spielen. Helmut K hn formuliert quasi platonisch die Kritik am Historizismus der Marionettentheorie. Man sehe das erstaunliche Buch von L. Edelstein, The Idea of Progre in Classical Antiquity, Baltimore 1967 und den sch nen Lexikon-Artikel von J. Ritter, der auf Xenophanes („suchend im Fortgang der Zeit das Bessere finden"), auf die Anerkennung des Fortschritts bei den Sophisten, auf Aristoteles' Diskussion des νόμος πάτριος, auf die Abkehr vom hesiodschen goldenen Zeitalter u. a. m. als Beweise f r eine έπίδοσιςund προκοπή-Lehre verweist, J. Ritter, Fortschritt, in: Ritter Bd. II, 1972, 1032ff.
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zumindest auch seinen zweideutig christlich-philosophischen Sinn genauso wie die mit dem Christentum in die Welt gekommene Zeitvorstellung erst das Schema von Ursprung-Entzweiung-Versöhnung und den Gedanken einer lineraren Entwicklung erklärt463. Der Einfluß des Christentums auf Hegels Philosophie ist Ritter freilich genauso bekannt wie die Zweideutigkeit der das Ewige erfassen wollenden und zugleich sich geschichtlich verstehenden Lehre464. Aber hier wie schon zuvor verdunkelt der Einfluß des griechischen Denkens den Stellenwert, der dem Christentum als Folie des Hegeischen Denkens, des Vernunft- und Geistbegriffes, der Geschichtsphilosophie und des Erfassens der gegenwärtigen Vernunft tatsächlich zukommt. Ritters Synthesen, deren Elemente gewiß nicht geleugnet werden können, geben der „Tradition", was eher der Moderne und dem Christentum gehört. Letztlich stehen wir an demselben Punkt wie in der Diskussion des Naturrechts. So unbestreitbar die restituierende Absicht Hegels in jedem Falle ist, so unvereinbar scheinen die Elemente, die er mischen möchte. Versuchen wir wieder (mit fortlaufender Numerierung) im Pro und Contra gegen Ritters Darstellung unsere Thesen zusammenzufassen: (7) Hegel beabsichtigte, anders als seine linken Schüler, das Licht der reinen, selbstzweckhaften Theoria auch in der „Not der Zeit" weiter leuchten zu lassen. (8) Aber die Aristoteles und Hegel zugleich umgreifende „leidenschaftslose Stille der nur denkenden Erkenntnis" umfaßt nicht zugleich eine beiden gemeinsame „metaphysische" Politik, da die Platonische Verbindung von Kosmologie-Theorie-Politik bei Aristoteles schon soweit durchbrochen ist, daß es bei ihm keine „Theorie" der Politik mehr gibt. Einer solchen widerspricht 463
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Für Hegel betont dies Löwith, z. B. Löwith 31969, 48, 60ff. Unabhängig von Hegel könnte man den Sachverhalt mit Bultmanns Hilfe belegen, der die m Analogie zum Kreislauf der Natur gedachte politische Geschichte der Griechen mit der Entstehung der christlichen Geschichtsschreibung aus dem Ausbleiben der Parusie konfrontiert. Erst damals entsteht „Weltgeschichte im strengen Sinn" als eine die ganze Geschichte umfassende Zeitberechnung, erst damals erhält auch der ganze Geschichtsverlauf einen Sinn, der ideologisch gedeutet (und in der Aufklärung säkularisiert) werden konnte. R. Bultmann, Das Verständnis der Geschichte im Griechentum und im Christentum, in: Politische Ordnung und menschliche Existenz. Festgabe für Erich Voegelin zum 60. Geburtstag, A. Dempf/H. Arendt, Fr. Engel-Janosi (Hrsg.), München 1962, 59ff., 66. Z. B. erklärt Ritter den Zusammenhang von Reformation und politischer Freiheit, J. Ritter, Hegel und die Reformation (1968), 310ff.
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(9) die Eigenart des praktischen Wissens und der eigentümliche Gegenstand der praktischen Philosophie genauso wie (10) der erst in der Neuzeit möglich gewordene Anspruch einer präzisen Theorie der Politik und Geschichte. Aristoteles kennt weder ein „geschichtliches" noch ein im modernen Sinne „gesellschaftliches" Dasein. Erst die neuzeitlichen Theorien ersetzen den ewigen Kosmos durch die geschichtliche Welt, die ewige Wiederkehr des Gleichen durch den Fortschrittsgedanken. Kreislauf und linearer Fortschritt, unbeeinflußbarer Kosmos und vom Menschen gemachte Geschichte gehen so wenig in eine Einheit zusammen wie die ewigen Gesetze des alten und die geschichtlichen des neuen Naturrechts. (11) Zwischen die Griechen und Hegels Geschichtsphilosophie, zwischen Kreislauf- und Fortschrittsgedanke, zwischen und Vernunft schiebt sich auch das Christentum, ohne welches weder der Hegelsche Geschichts- noch der Vernunftbegriff zureichend bestimmt werden kann. Erst „griechischer plus christlicher Logos" kann eine angemessenere Formel für die Definition von Vernunft und Geist bei Hegel lauten. Die „Göttlichkeit" der Theorie erinnert uns bei Hegel nicht nur an die Griechen. Der absolute Geist spiegelt nicht nur den und das erste Bewegende, sondern auch das Antlitz des christlichen Gottes, dessen Dienst die Hegeische Philosophie genauso feiert wie den der göttlichen Theorie. Der Atheismus der sittlichen Welt wird von Hegel sowohl im Namen von Naturrecht und klassischer Tradition als auch im Zeichen des Kreuzes ausgetrieben. Die Versöhnung der Zeit wäre ohne die christliche Erlösung bei Hegel nicht denkbar, das läßt sich mit Rosenzweig und Giese, und wie wir noch sehen werden, mit Rohrmoser, Maurer und Theunissen als Korrektur an Ritter formulieren. Ritter hatte die göttliche Theorie der Griechen als Hegeische Waffe gegen die Linkshegelianer einsetzen wollen. Der „Positivist" Haym sollte sich in Verkennung des klassischen Sinns der Theorie gegen die Metaphysizierung von Gesellschaft und Staat gewandt haben. Da diese „Metaphysik" der Politik keineswegs klassisch im Sinne Ritters ist, muß die Argumentation gegen Haym und die Linkshegelianer zusammenbrechen. In der Synthese des Unvereinbaren kann es sehr wohl zu einer Metaphysizierung geschichtlicher Existenzen kommen. Die Akkommodationskritik in ihrer systematischen Form ist durch Ritters These (1) nicht widerlegt. Allein die These (2) kann noch klärende Argumente bringen, falls die Abgrenzung nach links gelingen soll.
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6.1.2. Hegel als Philosoph von Revolution und Gesellschaft Die Philosophie, welche die Gegenwart des „Ewigen" begreifen will, kann nicht zugleich die „Zeit" im Rahmen der klassischen Tradition erfassen. Dieses Ergebnis der bisherigen Diskussion durchschneidet das für Ritter höchst wichtige Band, das die onto-theologische mit der revolutionär-soziologischen These verbindet. Aber auch unabhängig von der Verbindung enthält die These (2) noch fragwürdige Interpretationen, die eine gesonderte Prüfung verdienen. Auch hier haben wir es eigentlich mit zwei Unterthesen zu tun, die für Ritter zusammenhängen, aber sich nicht selbstverständlich zusammenfügen. Die erste lautet: (2 a) „. . . es gibt keine zweite Philosophie, die so sehr und bis in ihre innersten Antriebe hinein Philosophie der Revolution ist wie die Hegels"465. Die zweite heißt: (2b) „Diese Revolution der Emanzipation geht . . . für Hegel in allen ihren Formen . . . auf die bürgerliche Gesellschaft zurück; diese ist selbst die Revolution im Grunde"466. In etwas abgemilderter Form wird heute niemand die Subthese (2 a) bestreiten. Ganz gleich welche Rolle Hegel dem revolutionären Subjekt letztlich zuschreibt, die Früchte der Revolution möchte er in jedem Falle ernten467. Seine Philosophie begreift die Revolution als eine hervorragende Phase im Fortschritt des Bewußtseins der Freiheit, als Universal-Werden von Freiheit und Gleichheit, die als Rechte aller Menschen politisch durchgesetzt werden sollen. Hegels Revolutionsanerkennung sticht, egal ob es sich um den jungen Stiftler oder um den Berliner Professor handelt, gegen die Versuche, ihn einseitig auf die Seite der Restauration zu schlagen468. Dabei war Hegel zugleich, und auch das hat Ritter nicht übersehen, kein Revolutionseuphoriker, der im Namen der geliebten Freiheit die Augen vor den Folgen des Umsturzes verschlossen hätte. Daß die Revolution wie Saturn die eigenen Kinder frißt469, hat Hegel philoso465 466 467
468 469
Hervorhebung, H. O.; bei Ritter (1957, 192) steht die ganze These in Kursivschrift. op. cit. 227; Hervorhebung, H. O. Dies gibt selbst Habermas zu, der Hegel das revolutionäre Subjekt im Namen des Weltgeistes wegfeiern sieht. Hegel legitimiert „die Revolutionierung der Wirklichkeit unter Abzug der Revolution selbst", Habermas (1962), in: Habermas 41971, 132. Ritter 1957, 192-209. Dieser passende, von Büchner seinem Danton in den Mund gelegte Vergleich geht auf Vergniaud zurück, siehe K. Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, Fft. a. M. 2 1969, 192.
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phisch aus der absoluten Freiheit abgeleitet470, die als Revolutionsprinzip jede Verobjektivierung nur als Beschränkung erfaßt und sich als „Furie des Verschwindens" selbst perpetuiert. Ihre Abstraktheit symbolisiert die Guillotine, die tatsächlich die Gleichheit aller auf ihre böse Pointe bringt. Ritter mischt Revolutionsanerkennung und Revolutionskritik hier noch genau nach Hegels Rezept. Wie Knox, Pelczynski und Avineri, wie Weil, Fleischmann und Gregoire kann auch er das weltgeschichtliche Recht der revolutionären Ideale gegen alles nur positive „Recht" anrufen, das sich durch sein Alter vor der Vernunft und ihren Ansprüchen sicher weiß471. Fraglich dagegen wird die Einschätzung, welche die Revolution bis in die „innersten Antriebe" von Hegels Philosophie zurückreichen sieht. Die Negativität der revolutionären Freiheit und ihre Unfähigkeit, stabile politische Ordnung zuzulassen, verweisen selbst schon darauf, daß die Revolution (wie es Ritter auch noch formuliert) die Aufgabe nur „stellt", welche die Zeit zu lösen hat472. Was unter der Trikolore begann, hat ja auch tatsächlich unter Napoleon und der Bourbonenlilie und in Deutschland im Zeichen einer Restaurationspolitik geendet. Welche Instanz löst aber dann die Aufgabe, welche die Revolution nicht durchsetzen kann? Ritter vertauscht das Bild der wehenden Trikolore unversehens mit dem der modernen Arbeitsgesellschaft, welche mit ihren Fabriken und Städten, mit ihren Maschinen und ihrem weltweiten Handel das Gesicht der mittelalterlichen und feudalen Welt verändert473. Aber auf der Bühne der Weltgeschichte kann die Gesellschaft quasi nur einen Akt lang die Rolle des Vollstreckers der Revolution spielen. Zwar sind auch bei Hegel Revolution und Gesellschaft in einer wichtigen Doppelrolle geeint, aber weder Revolution noch Gesellschaft scheinen für Hegel die beiden Hauptdarsteller gewesen zu sein, die Ritter in ihnen vermutet. 470 471
472 473
Z. B. in der Phänomenologie, Phän. 413-423. Nicht nur für die Ständeschrift gilt, was Ritter von dort zitiert. „Hundertjähriges und wirkliches positives Recht" geht „mit Recht zu Grunde . . . wenn die Basis wegfällt, welche die Bedingung seiner Existenz ist" (Ständeschrift 1817, SW VI, 397). Dort heißt es auch: „Allein ob das, was altes Recht und Verfassung heißt, recht oder schlecht ist, kann nicht aufs Alter ankommen" (op. cit. 396). Ritter 1957, 196. Die Umrisse dieser modernen Gesellschaft zeichnet Ritter mit einigen präzisen Strichen. Die Stände lösen sich auf (Rph 1821, SW VII, §§ 203, 204), die Hand ersetzt die Maschine (op. cit. § 188), es bilden sich Klassen (op. cit. §§ 243, 244), die familiäre Fürsorge wird durch die staatliche ersetzt (op. cit. § 242), aus dem Überfluß an Gutem entstehen Expansion (op. cit. § 246) und Kolonisation (op. cit. § 248), so daß die bürgerliche Gesellschaft „potentielle Weltgesellschaft" ist. Ritter 1959, 32.
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Die Verbindung der Subthesen (2 a) und (2 b) äußert sich im Drama der Weltgeschichte in der Doppelrolle, welche Revolution und Gesellschaft streckenweise als einen Akteur erscheinen läßt. Ist die Losung der Revolution Freiheit und Gleichheit, so läßt Ritter vor uns eine Gesellschaft auftreten, die gleichfalls Gleichheit (auf der Basis einer allen Menschen „gleichen" Bedürfnisnatur) und Freiheit (sowohl als Befreiung von der Natur wie als geschichtliche Emanzipation) zu ihrem Ziele hat. Die Gesellschaft kann die Befreiung aus der Abhängigkeit von der Natur als ihre Leistung beanspruchen, eine Befreiung, welche erst den Prozeß der „Versachlichung" ermöglicht, der aus den Dingen der Natur Sachen des Eigentums werden läßt474. Bürgerliches Eigentum, einerseits sichtbarer Ausdruck der Bearbeitung der Natur, ist andererseits Bedingung individueller Freiheit475, welche als Recht auf Sachen durch die Rechtsordnung geschützt wird. Neben die Befreiung von der Natur durch Arbeit tritt die geschichtliche Emanzipation, welche die Gesellschaft durch ihre Beschränkung auf das durch Arbeit seine Bedürfnisbefriedigung findende Wesen herbeiführt. Da der Einzelne nicht mehr als Glied einer Nation oder als Anhänger einer Glaubensgemeinschaft oder als Sohn einer Familie gilt476, vollzieht die Gesellschaft den heilsamen Schnitt, der nach der Lösung von den traditionellen Bindungen Freiheit als Recht überall dort erblühen läßt, wo die materialistischen Arme der Gesellschaft das Leben des Einzelnen nicht mehr einengen dürfen. Willensfreiheit, Sittlichkeit, Religion werden unveräußerliche Rechte nicht nur des Hausherrn oder Standesmitgliedes, sondern der Person selbst, deren Rechtsfähigkeit die Gesellschaft im Namen der Revolution weltweit zu realisieren beginnt477. Ganz so optimistisch sieht allerdings selbst Ritter den Ausgang des Dramas nicht. Wie jede gute Komödie scheint auch die von Gesellschaft und Revolution für ihn am Abgrund zu schweben, aber eben nur zeit-
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Ritter 1962, 272 ff. op. cit. 267. In diesem Sinne erfaßt die Gesellschaft das concretum „Mensch". „Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener u. s. f. ist . . ." (Rph 1821, SW VII, § 209 A). Aus dem Sohn der Familie wird der Sohn der Gesellschaft (op. cit. § 238). Hier ist also die Stelle, an der Revolution und Gesellschaft ihre Relevanz für das Recht des Menschen als Menschen beweisen. Die Unveräußerlichkeit der Person zeigt sich in der begrenzten Veräußerbarkeit der Arbeit auf Zeit (op. cit. §§ 66, 67, 80) und in der Überwindung des noch bei Kant „auf dingliche Art persönlichen Rechts" (I. Kant, Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, 1797/98, §22ff., AB 105ff.), das sich bei Hegel zum Recht der Person auf Sachen wandelt (Ritter 1962, 277ff.).
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weilig, wobei der Betrachter doch des guten Ausgangs gewiß sein darf. So hat die „Versachlichung aller äußeren Verhältnisse" als Boden für die „Freiheit des Selbstseins"478 zwar die Kehrseite einer Verdinglichung der menschlichen Beziehungen479, auch birgt die Gesellschaft die Gefahr, sich zum totunrTzu setzen, das den Menschen in sich verschlingt480, aber Ritter kennt den deus ex machina, der das tragische Ende verhindert: Es ist der Staat, der gegen die Gesellschaft deren emanzipatorische Leistung verteidigt481. Damit scheint Ritter endlich zu sagen, was dem Zuschauer des Geschehens ständig auf der Zunge liegt, der Ruf nach dem Hegeischen Hauptdarsteller des Dramas, der weder in der Revolution noch in der Gesellschaft zu finden ist. Aber Ritter beläßt dem Staat doch nur eine Nebenrolle. Zu spät kommt er ins Spiel, um Gesellschaft und Revolution noch als Verkünder und Realisator der Freiheit verdrängen zu können. Nur als kleine Charge tritt auf, was nach Hegel erst die wahre Freiheit in der Welt durchsetzen kann. Schon die Revolution reicht insofern nicht bis in die „innersten Antriebe" der Hegeischen Philosophie zurück, als ihr Freiheitsprinzip als solches gar nicht verobjektivierbar ist und der Staat Hegels nicht die „absolute" Freiheit mit ihren anarchischen Konsequenzen, sondern die Wirklichkeit jener „konkreten" Freiheit darstellt482, deren Idee erst in der Sittlichkeit zur „vorhandenen Welt" werden kann483. Wenn Hegel „die Idee der Freiheit" nur im Staat „wahrhaft" -sein läßt484, dann drückt sich darin eine Priorität des Staates sowohl vor der Revolution als auch vor allen individualistischen Errungenschaften aus, sei es das abstrakte Recht, die Autonomie-Moral, die natürliche Gemeinschaft der Familie oder der
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Ritter 1968, 316. Ritter 1962, 273. Ritter 1957, 232. Hegel hat in der Tat schon geahnt, daß totalitäre Kräfte in der Gesellschaft schlummern. „Die bürgerliche Gesellschaft ist ... die ungeheure Macht, die den Menschen an sich reißt, von ihm fordert, daß er für sie arbeite und daß er alles durch sie und vermittels ihrer tue", Rph 1821, SW VII, § 238 Z. So muß die Staatslehre „die geschichtliche Substanz der modernen Gesellschaft geltend . . . machen und diejenigen Bestimmungen in ihren Begriff aufnehmen, die aus ihrem (der Gesellschaft, H. O.) abstrakten Natur- und Emanzipationsprinzip und ohne Zusammenhang mit der geschichtlichen Substanz nicht gewonnen werden können", Ritter 1957, 231. Rph 1821, SW VII, §260. op. cit. § 142. op. cit. § 57 A, § 258 Z, § 260 Z, § 261 Z.
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bürgerliche „Not- und Verstandesstaat"485. Die Freiheit, welche die Revolution an ihre Fahnen heften wollte, bleibt in der Realität „formell"486. Im Willen des revolutionären Subjekts wird sie als absolute verstanden, in der Verwirklichung führt sie zu Selbstzerstörung und Gleichmacherei, welche nicht egalisiert, sondern nivelliert, welche statt der Herrschaft des Gesetzes die Regentschaft des Schreckens, statt des sittlichen Lebens den in der Tat allen gleichen Tod bringt. Die gesellschaftlich realisierte Freiheit schien Hegel sogar noch begrenzter als die revolutionäre. Denn wenn Hegel die klassische Nationalökonomie aufnimmt, dann hat auch bei ihm die Lehre von der „invisible hand" die Konsequenz, daß sich quasi naturgesetzlich Reichtum und Wohl aus dem Eigennutz der Produzenten ergeben. Was mit ihnen geschieht, wissen die Glieder der Gesellschaft nicht selbst487. Zwar bleibt auch den Revolutionären letztlich die Pointe ihres Handelns verborgen, da der Weltgeist nicht sanktioniert, was sich das revolutionäre Subjekt vornimmt, die Durchsetzung „absoluter" willkürlicher Freiheit, aber immerhin proklamiert die Revolution in vollerem Bewußtsein ihr neues Freiheits- und Vernunftprinzip. In der Gesellschaft aber vollzieht sich die Umwälzung völlig hinter dem Rücken der Subjekte, zudem auch hier im Namen einer Freiheit, die für Hegel als gesellschaftliche nicht weniger „formell" ist denn als revolutionäre, d. h. keine konkret-allgemeine Freiheit ist, welche die Ansprüche des modernen Individuums mit der Allgemeinheit versöhnt. Was für die Revolution gilt, trifft demnach auch für die Gesellschaft zu. Wie die konkrete Freiheit der abstrakt-revolutionären so geht dem Not- und Verstandesstaat der eigentliche Staat voran. Was die Rechtshegelianer von Erdmann bis Schmidt ostinato vorgetragen haben, erweist sich als resistent gegenüber Ritters Versuch, Hegel zu „soziologisieren"
48s Mit Habermas ließe sich hier vereinfacht sagen, „das abstrakte Recht und die gefeierte Revolution" ersetzen „der substantielle Staat und die gefürchtete Revolution", Habermas 1966, in: Habermas "1971, 162ff. 486 Phil. d. Gesch. SW XI, 554. 487 Wie Smith vom „merchant" sagt, „he is ... led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention" (A. Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations [1776], book IV., chap. 2), so streicht auch Hegel das bewußtlose automatische Geschehen heraus. „Das Interesse der Idee . . . das nicht im Bewußtsein dieser Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft als solcher liegt, ist der Prozeß, die Einzelheit und Natürlichkeit derselben durch die Naturnotwendigkeit ebenso als durch die Willkür der Bedürfnisse zur formellen (!) Allgemeinheit des Wissens und Wollens zu erheben" (Rph 1821, SW VII, § 187). Vgl. Nusser 1970, 277 Fußnote.
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und zu „revolutionieren". Die Gesellschaft bedeutete für Hegel tatsächlich nur die relative Totalität, die in der Sittlichkeit des Staates aufgehoben werden muß488. Mehr als Theorie der Revolution und Gesellschaft ist Hegels Lehre Philosophie der nachrevolutionären Zeit, in welcher der Staat mehr als die Gesellschaft erntet, was die Revolution nur säte. Die Revolution der Emanzipation kann für Hegel nicht „in allen ihren Formen" auf die bürgerliche Gesellschaft zurückgehen. Die Sicherung der geschichtlichen Substanz durch den Staat würde sich erübrigen, wenn die Gesellschaft die Rolle von Entzweiung und Versöhnung zugleich würde ausfüllen können489. Indem Ritter Revolution und Gesellschaft Entzweiung und Versöhnung tragen läßt, geht er eine Koalition mit Marx, Kojeve und Lukäcs ein490. Aber man wird Hegel gründlich mißdeuten, wenn man ihn allein auf die Probleme von Gesellschaft und Revolution abhören will. Nicht nur der Staat wird von Ritter stiefmütterlich behandelt, auch die ganzen Sphären des absoluten Geistes, die ja auch den Rhythmus von Entzweiung und Versöhnung in sich tragen, bleiben ausgeschlossen. Dabei war die Gesellschaft (denkt man etwa an Frankfurt zurück) „nicht so sehr die Wurzel, als eine eindrucksvolle Hegeische Anwendung der Grunderfahrung von Entzweiung und Versöhnung"491. Das „Leben", der „Geist" und das Absolute selbst tragen für Hegel ab Frankfurt die Entzweiung in sich. Sie alle aber sind als Totalität durch den Begriff der Gesellschaft unter bestimmt. Wie schon bei der Diskussion des Theoriebegriffs muß wieder auf das Christentum verwiesen werden, das von Frankfurt bis Berlin eine entscheidendere Rolle auch für die Problematik von Entzweiung und Versöhnung spielt, eine Rolle, mit der die Gesellschaft nicht konkurrieren kann. Ritters Interpretation, die (hier ist der Superlativ erlaubt) einflußreichste Deutung der politischen Theorie Hegels in diesem Jahrhundert, setzt doch kürzer an als die Auslegung von Rosenkranz, mit welcher die Geschichte der Hegeischen Mitte begann. Indem die Gesellschaft ungebührlich zentral wird, beschwört Ritter die Gefahr der linkshegeliani488
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Außer den Rechtshegelianern vertritt dies H. G. Gadamer, Rezension: J. Ritter, Hegel und die Französische Revolution, in: Philosophisches Jahrbuch, 5. Jg. (1957), 306. So ganz richtig Nusser 1973, 19 Fußnote. Darauf verweisen Gadamer 1957, 306 und Nusser 1973, 19 Fußnote, 220-223. Gadamer 1957, 307. Allerdings soll das nicht heißen, daß Hegel etwa in Tübingen und Bern der „christliche" Theologe war, den manche Ritter-Schüler aus ihm gemacht haben. Dennoch bleibt wahr, daß die Dialektik mehr mit der Theologie als mit der Soziologie gezeugt wurde.
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sehen Hegelreduktion herauf. Zugleich gelingt weder die Abgrenzung nach rechts noch nach links. Es genügt nicht, den Revolutionsphilosophen zu feiern, wenn sich auch das andere Bild des antiquarischen Hegel, des Ursprungsphilosophen und Systemdenkers aufdrängt. Die systematischen Vorwürfe der Linkshegelianer, ihre Kritik am System, das metaphysische Wesenheiten mit relativen geschichtlichen Existenzen vermengt, jene Sicht des abgeschlossenen, die eigene Zeit überschätzenden und letztlich Staat, Kunst, Religion und Philosophie enthistorisierenden Gedankengebäudes läßt sich mit Ritters naturrechtlicher und griechisch-moderner Leseweise nicht entkräften. Zugleich kann Ritters Sicht der Synthesen von Naturrecht, Theoria und modernem Subjektivismus jetzt endgültig als eine Konstruktion durchschaut werden, in der das Mischungsverhältnis die Tendenz zum Universalismus unterrepräsentiert. Was der preußische Konservative Erdmann, was die Bismarck-Hegelianer und Nationalsozialisten gegen die Linkshegelianer gewendet haben, das behält auch gegen den mit den Linkshegelianern paktierenden Ritter seine Gültigkeit, die Dominanz des Staates über die Revolution und ihre individualistischen Errungenschaften vom abstrakten Recht bis zur Gesellschaft. Die dreiteilige, alle Schulen der Hegelauslegung einbeziehende Deutung umfaßt somit auch noch die anspruchsvolle Deutung von Ritter. Was Habermas Hegel bescheinigt, die mit ungeheuerer Kraft zusammengehaltene liberale, linkshegelianische und konservative Tendenz, außen sich darin, daß man Ritters Thesen in abgeschwächter Form stets zustimmen muß und daß doch die gegenläufigen Tendenzen jenseits des durch Gesellschaft und Revolution eingegrenzten Horizonts auftauchen, die mögliche Akkommodation des Systems genauso wie ein gegen Revolution und Gesellschaft wirkender Staats-Universalismus492.
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Habermas' für unser Vorgehen so vorbildlicher Versuch, sowohl die Revolutionsnähe (im Sinne Ritters) als auch die Aufhebung der Revolution in die substantielle Sittlichkeit (im Sinne von Larenz) und schließlich noch die Kritik am die Gesellschaft überformenden autoritären Staat (im Stile Marcuses) einzubringen, könnte quasi den linkshegehamschen Synthese versuch einer Vereinigung aller Deutungsrichtungen ähnlich repräsentieren wie Ritters Interpretation das liberale Vereinigungsmodell. Aber wie Ritter nur für die Mitte, so kann Habermas nur für die Hegeische Linke stehen, die zu Hegels klassischem Theoriebegriff keine rechte Beziehung mehr finden kann. Dabei dürfte erst im Zusammenhang der Akkommodationskritik, nicht schon aus dem Blickwinkel einer angeblich die Reinheit der klassischen Theorie schon überwundenhabenden „Kritik" Hegels theoretische „Enthaltsamkeit" ein Vorwurf sein. Fuldas Bindung der Kritikfähigkeit der Theorie an ihre Reinheit sticht gegen die Tendenz Habermas' und anderer Links-
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Damit ergeben sich für die Beurteilung von Ritters zweiter These folgende Argumente: (12) Die zweite, revolutionär-soziologische These Ritters läßt sich, ohne ihre überscharfen Formulierungen, genausowenig bestreiten wie die erste. Die Revolution spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle für Hegels Philosophie, Freiheit und Gleichheit werden in der Gesellschaft universal. Hegel feiert die Revolution und begrüßt die gesellschaftliche Emanzipation, auch wenn er den revolutionären Terror verabscheut und ganz genau erkennt, daß die Revolution nicht die Freiheit bringen kann, die ihre Fahnen verkünden. Die Gesellschaft löst erst Befreiung ein (sowohl von der Macht der Natur als auch von den geschichtlichen Bindungen). (13) Aber weder Revolution noch Gesellschaft spielen die Hauptrolle in Hegels Szenarium, die Ritter ihnen zuspricht. Der revolutionären, abstrakten Freiheit ist die „konkrete", der gesellschaftlichen, formellen die wahre Freiheit des politischen Lebens übergeordnet. Revolutionäre und gesellschaftliche Freiheit sind aber trotz gleicher Abstraktheit nicht ganz identisch. Während die eine eher vom bewußten revolutionären Subjekt in Taten umgesetzt wird, setzt sich die andere mehr naturgesetzlich, hinter dem Rücken der Agenten, durch. (14) Gesellschaft und Revolution sind als Träger von Entzweiung und Versöhnung überfordert. Zwar hat die Gesellschaft sowohl einen negativ den Menschen von der Herkunft trennenden als ihn positiv freisetzenden Sinn, aber Entzweiung und Versöhnung sind Strukturen der ganzen Hegeischen Philosophie, welche die Entzweiung im Leben, im Geist und im Absoluten selbst erkennt, in einem Absoluten, dessen Totalität die Gesellschaft nicht ausfüllt. Wieder unterschätzt Ritter die Bedeutung des Christentums, das der Gesellschaft als Modell von Entzweiung und Versöhnung zumindest gleichwertig ist. (15) Ritter paktiert mit Philosophen wie Lukäcs gegen Hegel. Die Trennschärfe der Abgrenzung zu den Rechts- und Linkshegelianern verschwimmt. Unser dreigliedriger Ansatz, der alle Schulen ins Spiel bringt, reklamiert gegen Ritter die Akkommodationskritik in ihrer systematischen Form genauso wie die rechtshegelianische Lehre von Hegelianer, die sich der direkten Praxis enthaltende Theorie schon zu kritisieren; Habermas 1962, in: Habermas "1971, 140-46; Habermas 1966, in: op. cit. 164ff.
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der Dominanz des Staates, die auf die Uberordnung des Staates über abstraktes Recht, Moralität und Gesellschaft mit Recht verweist. Hegel ist Philosoph der Revolution und der Gesellschaft, er ist mehr noch Philosoph des Staates und christlicher Denker.
6.2. Die Liberalisierung Hegels in der Ritter-Schule493 Über Joachim Ritters Deutung ließe sich mehr sagen, als bisher gesagt wurde. So könnte man versuchen, den „hermeneutischen" Hintersinn in Ritters Denken herauszuschälen494, der auch auf Schüler wie Marquard und Lübbe eingewirkt hat. Statt dessen wenden wir uns der Wirkungsgeschichte Ritters zu, die — allerdings — schon so verzweigt ist, daß auch sie im Rahmen unseres Themas nicht mehr zureichend dargestellt werden kann. Wenn Joachim Riedel auf dem Hintergrund des griechischen Denkens Hegel eine ungelungene Synthese von und neuzeitlicher 495 perceptio sowie eine Poietisierung der Praxis vorwirft , wenn Habermas die Revolution ohne die Revolutionäre in Hegels Philosophie eingehen und verschwinden sieht, wenn Theunissen den theologisch-politischen Sinn zur christlichen Basis des Hegeischen Systems und der Politik erklärt, dann sind dies alles Entwicklungen der neuen Hegelrezeption, die noch in ihrer gegen Ritter gerichteten Wendung ohne Ritter nicht denkbar wären. Die Ritter-Schule verlagert die Gewichtungen Ritters. Sie versucht, das Zentrum des Hegeischen Denkens in der theologischen Politik zu lokalisieren; zugleich ist sie bestrebt, die von Ritter etwas vernachlässigten Bereiche (die eigentliche Staatslehre und die Geschichtsphilosophie) dem modifizierten Ansatz einzupassen. Von Bedeutung sind: die Einbringung der theologisch-politischen Leseweise durch die Deutung des jungen Hegel (6.2.1.); der Versuch, anhand der Phänomenologie quasi die End493
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Der Begriff „Schule" soll keinen schlechten Beigeschmack, etwa im Sinne des klassischen „ ", ausdrücken. Er soll allein die Geschlossenheit andeuten, die sich in der liberalen Auslegungstendenz manifestiert. Gerade die Ritter-Schüler sind Musterbeispiele dafür, wie Denkanstöße eines „Lehrers" produktiv weiterentwickelt werden können. Dies unternimmt auf subtile Weise Pöggeler. O. Pöggeler, Rezension: J. Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, in: Hegel-Studien Bd. 7 (1972), 282 ff. Riedels Kritik an Ritter entspricht unserer Kritik an der Unmöglichkeit, Kosmos- und Geschichtsdenken zu einen. Allerdings teilen wir nicht Riedels (damaligen) Löwithschen Heideggerianismus und auch nicht die Kritik an der Poietisierung der Praxis (z. B. Riedel 1965, 105 ff.), die u. E. nur auf das äußere Staatsrecht zutrifft.
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geschichtlichkeit des Hegeischen Systems zu eskamotieren (6.2.2.); die Bemühung, Hegels spätere Staatslehre theologisch-politisch als Philosophie des modernen Staates sowie als politischen Protestantismus zu deuten (6.2.3.); die gegen die linkshegelianischen Vorwürfe gerichtete „Hermeneutik", welche die Hegeische Sollenskritik und Überschätzung der eigenen Epoche in die Abwehr geschichtlicher Regression umfunktionieren möchte (6.2.4.); die gleichfalls „hermeneutische" Liberalisierung der Hegeischen Staatslehre, die in bewußter, fortschrittlich-rückschrittlicher Antithetik Radikalität vermeiden soll (6.2.5.); sowie schließlich das gewagte Manöver, das aus Hegels Geschichtsphilosophie jene „pragmatische" Politik hervorzuholen sucht, die die Rechtsphilosophie nicht so offensichtlich zu ermöglichen scheint (6.2.6.). Wir erhalten somit wieder ein Bild des ganzen, jüngeren wie älteren Hegel, das gegen rechts und links seine eigenen Konturen gewinnt.
6.2.1. Die Subjektivität im theologisch-politischen Denken des jungen Hegel (G. Rohrmoser) Was bei Rosenzweig fast versteckt blieb und in Deutschland seit Giese meist nicht bemerkt worden war, hatte sich unabhängig von Ritter in Italien und Frankreich eigentlich schon durchgesetzt, die Erkenntnis, daß besonders der junge Hegel weder allein mit Lukäcs noch mit Dilthey/ Häring, sondern nur politisch und theologisch zugleich sich dem Verständnis erschließt496. Ritters linkslastige Präferenz für den Gesellschaftsphilosophen enthüllt sich gerade im Blick auf den jungen Hegel als einseitige Vorliebe. Rohrmoser, der weder die romanischen noch die älteren deutschen Arbeiten der theologisch-politischen Auslegung aufnimmt, läßt sich systematisch vom jungen Hegel über die Alternative Dilthey/Lukäcs (und damit auch über Ritter) hinausführen497. Dabei kommt es zu zwei Gedankenbewegungen. Einmal vollzieht Rohrmoser eine notwendige Korrektur an Ritter, die das Theologische verstärkt einbringt, zugleich aber wird die Theologisierung sogar etwas zu weit getrieben, sieht man die eher anti-christliche Einstellung des Berner Hegel oder bringt man gar die 496
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So Negri 1958, Peperzak 1960 und andere bei Kern (1962, 100-114) besprochene Studien. G. Rohrmoser, Subjektivität und Verdinglichung. Theologie und Gesellschaft im Denken des jungen Hegel, Gütersloh 1961, 22 ff.
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Ansprüche der Philosophie ins Spiel, die der Religion ihren Rang als Versöhnungsinstanz nach Frankfurt streitig macht. Rohrmoser führt gleich zu Beginn auf ein Hegel angemessenes Niveau, wenn er die folgenreichen Ansätze dreier großer Hegelschüler als einseitige Zerstörungen der Hegeischen Philosophie mit Hegel in Frage stellt. Gegenüber Kierkegaards theologischer Destruktion der Hegeischen Metaphysik gilt es erst einmal die von Hegel selbst eingebrachte Subjektivität aufzuspüren, gegen die anthropologische Zerstörung eines Feuerbach muß Hegels nicht dem Naturalismus und der Geschichtslosigkeit verfallende Unmittelbarkeit erst herausgearbeitet werden und gegen Marx' gesellschaftlich-dialektische Verabschiedung wird der Hinweis auf das schon von Hegel geleistete Begreifen der „Verdinglichung" unerläßlich, ein Begreifen, das aus der Entfremdungsstruktur der Gesellschaft weder eine Revolutionsforderung im Stile von Marx noch einen existenzphilosophischen Appell zur Rückkehr in eine vor-verdinglichte Welt werden läßt, sondern Verdinglichung als „Bedingung der Möglichkeit des Freiseins des Menschen" erfaßt498. Rohrmoser schert mit diesem beachtlichen Ansatz aus so manchen Kierkegaard, Feuerbach und Marx entlehnten Theologien der letzten Jahre aus, ein Vorgang, der unserer Frage nach der Subjektivität nicht als Leitfaden dienen kann. Man sieht aber: Rohrmoser bleibt noch Ritterschüler, wenn auch für ihn die Freiheit aus der Verdinglichung der Gesellschaft (bei Ritter hieß dies „Versachlichung") geboren wird. Zugleich aber muß die Gesellschaft für Rohrmoser ihre bei Ritter entscheidende Rolle für die Entzweiung und die Versöhnung aufgeben. Das Ganze der Hegeischen Philosophie erstellt sich aus den Polen von Subjektivität und Verdinglichung erst dann, wenn die Entzweiung soziologisch und theologisch bestimmt wird, wenn man weder der Gesellschaft noch der Religion allein die Versöhnung zutraut499. Rohrmoser erinnert an den Zusammenhang von Religion und Freiheit, die bei Hegel so miteinander verbunden sind, daß ein politisch freies Leben ohne eine ihm gemäße Religion für Hegel nicht denkbar war. Wie es Religionen und Orthodoxien gibt, die den Menschen von seinem eigenen Wesen entfremden und sich als Herrschaftsideologien benutzen lassen, so existieren schon für den jungen Hegel auch andere Formen des 498
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op. cit. 17. Noch genauer besteht Rohmosers Abkehr von Ritter darin, die Entzweiung selbst nicht mehr die Versöhnung tragen zu lassen, op. cit. 86 Fußnote.
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Glaubens, die ein freiheitliches Leben in der Gemeinschaft fundieren. In diesem Sinne sind die Entzweiungsformen, deren Gegensätze der junge Hegel entfaltet, immer auch theologisch: subjektive Subjektivität Liebe Ich absolute Subjektivität
— objektive Religion — Positivität — Schicksal — Ding — Atheismus der sittlichen Welt.
Die Zerrissenheit des modernen Daseins, deren geistige Spiegelung Rohrmoser von Heidegger, Nietzsche und Marx aus in Hegel zurückträgt, kündigt sich bereits beim jungen Hegel an, in der Gegenüberstellung von subjektiver und objektiver Religion; jene erinnert an die von Hegel idealisierte Polis, diese steht für die Entfremdung des modernen Menschen500. Derselbe Zerfall der Lebenseinheit enthüllt sich in der „Positivität", deren Kritik für Rohrmoser aber weder eine Revolutionsbegeisterung Hegels501 noch einen Atheismus (im Sinne Lukäcs') ausdrücken kann. Wenn Hegel die Positivität als „eine vom produktiven Leben der Subjektivität abgelöste bestehende Objektivität" kritisiert502, dann geht es ihm um die Reintegration des abgespaltenen Lebens, die „unaufhebbar durch das religiöse Verhältnis . . . ermöglicht wird"503. Politischer Atheismus ist die Positivitätskritik nur als Angriff auf die supranaturalistische Orthodoxie, die ihr übermächtiges Gottesbild in religiöse Herrschaft über Menschen verwandelt und so in der Tat einen vom Menschen geschaffenen Gott besitzt, an den die Schätze der Erde verschleudert wurden504. Rohrmoser kann gegen Lukäcs' Versuch, Hegels Philosophie als idealistische Verbrämung der gesellschaftlichen Widersprüche zu lesen, die Doppelsinnigkeit des Hegeischen Denkens geltend machen. Aber was wohl als Darstellung des Berner Hegel firmieren soll, zeigt eine eigentümliche Rückwärtsgewandtheit. Von Frankfurt und der Wendung zur Anerkennung des Christentums deutet Rohrmoser immer noch (wie zuvor 500
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op. cit. 26. Die Revolutionsnähe bezeuge damals allein die „Verneinung eines theokratischen Systems" (op. cit. 39). Rohrmoser unterschätzt offensichtlich die Tübinger und Berner Revolutionsnähe schon hier. op. cit. 36/37. op. cit. 35. op. cit. 40f.
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Dilthey und Häring) den ganz frühen Hegel505. So nimmt er die „Religion" zu leichten Herzens als „christliche", ohne sich zu fragen, was denn die Tübinger und Berner Manuskripte mit einem noch so gedehnten Kirchen-Christentum zu tun haben können. Die Religion und das „ReichGottes"-Ideal scheinen damals doch eher die aufklärerische und auch bei Kant-Fichte vorgegebene Ethisierung der Religion zu spiegeln, die nicht mehr als ein Synonym für die moralisch-politische Besserung des Menschengeschlechtes bedeutet506. Nicht in diesen zu kurzen und stark konstruierten Gedankengängen liegt die Leistung von Rohrmosers Interpretation. Sie tritt erst in der Deutung des Frankfurter Hegel zutage. Auch wenn man Rohrmoser dort nicht ganz zustimmen kann, jene von ihm bemerkte Wandlung Hegels in der Einstellung zur Positivität, die einen unabziehbaren christlichen Hintergrund besitzt, diese Wandlung bedeutet für den Hegel nach 1800 einen solch wichtigen Schlüssel, daß ohne ihn die Lehre von der Subjektivität, von Individuum und Freiheit gänzlich unverstanden bleiben muß. In Frankfurt kündigt sich ein entscheidender Schritt an, der Hegels Einstellung zum Individuum auf eine neue Basis stellt. Solange die kirchliche Orthodoxie die Religion für Hegel mit Positivität, mit erstarrtem Leben belastete, konnte ihm die Synthese seines politisch-religiösen Ideals einer freien Gemeinschaft nicht gelingen. Erst als er in seiner Kritik an der Positivität ein Analogen zu Christi Kritik am Judentum erkennt507, erst als sich seine Kritik christlicher Orthodoxie in eine Anerkennung der christlichen Religion verwandelt, eröffnet sich die Möglichkeit, eine neue Einstellung zur Positivität zu finden, die nicht mehr in schroffem Gegensatz zur Subjektivität stehen muß, sondern als Erstarrung, Fixierung und Tod ein dem „Leben" selbst notwendiges Moment ausmachen darf. Die bereits im Gegensatzpaar Schicksal-Liebe aufbrechende Neubewertung der Positivität schlägt endgültig durch im Systemfragment, in dem Hegel das 505
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Dem liegt wohl letztlich ein schon von Kimmerle bemerktes philologisches Versehen zugrunde. Rohrmoser erkennt nicht, daß das Manuskript „Die Positivität des Christentums", das nur teilweise von 1795/96 oder 1797 stammt, bei Nohl eine Überarbeitung (N 139-151) von 1800 (!) enthält. H. Kimmerle, Zur theologischen Hegelinterpretation, in: Hegel-Studien Bd. 3 (1965), 359 Fußnote. Dort auch der Hinweis auf die Verwechslung von „Systemfragment" (1800) und „ältestem Systemprogramm" (1796). Vgl. Rohrmoser 1961, 33-41, 54; Seh 130, 133. Hier wären wieder Peperzak (1960, 45, 88f.), Wolf (1960, 63, 79) und Scheit (1973, 27ff., 40ff.) zu nennen, welche den Republikanismus und den moralischen Sinn von „Volksreligion" und „Reich Gottes" betonen. Rohrmoser 1961, 47.
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Leben als „Verbindung der Verbindung und der Nicht-Verbindung" und den Tod als immanente Bedingung des sich selbst erhaltenden Ganzen definiert508. Mit der Aufnahme der „Nichtverbindung" in die Verbindung ist jene Formel von der „Identität der Identität und Nicht-Identität" präfiguriert, die später den logischen Ort von Individualität definiert. Schon in Frankfun schafft Hegel mit dieser Neuorientierung die Voraussetzung für die künftige Sicht der Entzweiung und die darin eingeschlossene Rolle des Individuums. Die Jenenser Überwindung der Kantischen und Fichteschen Reflexionsphilosophie, die mit „Ich" und „Ding" den Gegensatz reiner Subjektivität und Subjekt- und vernunftloser Objektivität auf höherer Stufe nur wiederholt509, ist damit vorgezeichnet; die Absage an die Gefühlsreligion ä la Jacobi wird möglich, eine Absage an die Flucht in die Innerlichkeit, die nur den Atheismus der sittlichen Welt als Konsequenz provoziert510. Überwunden ist damit die Aufklärung, deren Dualismen Hegel seit Tübingen bekämpft. Das „Schöne" und die „Bilder" werden nicht mehr zum „Ding" wie auch der „Hain" nicht mehr zu „Hölzern" wird, wenn die Zusammengehörigkeit der eskapistischen Subjektivität mit dem trostlosen Zustand der Welt durchschaut ist, wenn sich der zeitgenössische Kult der schönen Seele als romantischer Freibrief für die Tatenlosigkeit des Subjekts enthüllt. Die so die Bahnen Hegeischen Denkens entscheidend formende Wende vollzieht die Anerkennung von Positivität und Individualität auf dem Hintergrund der Anerkennung des faktischen „positiven" Todes Gottes in Christus, der nicht nur dem Individuum Jesus, sondern auch der Individualität als solcher ihr Recht verschafft. „Gott selbst ist tot" steht, so könnte man sagen, schon mit großen Buchstaben als Überschrift über dem Tor, durch das das Individuum den systematischen Eingang in Hegels Versöhnung findet. Neben dem Erlösungsereignis hat für Hegels Wende zur Vereinigungsphilosophie Hölderlin einen, daran hat D. Henrich vor kurzem erinnert, wichtigen Einfluß gehabt511. Aber dennoch, die Neubewertung des Todes Gottes spielt eine entscheidende Rolle für Hegels weitere Philosophie der Individualität. Gegenüber jedem Versuch, Hegel noch in Jena einen rein 508 509 510
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op. cit. 46. op. cit. 72. op. cit. 76. Siehe Bd. II den Abschnitt III. über Frankfurt.
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negativen Begriff des Individuums oder einen Schellingschen-Spinozistischen Substanzbegriff zu unterstellen512, muß man sich mit Rohrmoser solidarisieren, der trotz der starken Schelling-Abhängigkeit, die niemand leugnen kann513, die im Rückgriff auf Fichte eingebrachte und schon zuvor religiös gesicherte Subjektivität betont514. Aber es ist eine andere Verschiebung, die mit Kritikern wie Riedel wiederum Rohrmoser vorgehalten werden muß515. Auch wenn bei Hegel die „verleumdete Realität" christlich rehabilitiert wird, die Religion, die Rohrmoser anstelle der Ritterschen Gesellschaft die Versöhnung tragen läßt, ist immer noch genauso überfordert wie diese. Zwar fungiert die Gesellschaft bei Rohrmoser (anders als bei Ritter) nicht mehr als letztlich ausreichende Versöhnungsinstanz516, — aber jetzt heißt es von der Religion, sie vollbringe die „vollständige Rückkehr aus der totalen Entäußerung in das gesellschaftlich-verdinglichende Sein", sie sei der „Ort der Versöhnung", sie hebe in sich die in die Allgemeinheit entäußerte Einzelheit auf517. Rohrmoser liest den jungen Hegel damit auf eine Weise „theologisch", die genauso übertrieben ist wie die materialistisch-revolutionäre Lesart von 512
J. Riedel, Hegels Kritik des Naturrechts (1967), in: Riedel 1969, 55ff.; Ilting 1963/64, 48 f. 513 Rohrmoser beschreibt sie selbst im Zusammenhang der „Tragödie im Sittlichen", in welcher die Polis als Verneinung des einzelnen Subjekts untergeht und dem Begreifen der Gesellschaft sowie der Geschichte des christlichen Gottes Platz machen muß. Verneinung individueller Positivität, Ausscheiden der Gesellschaft aus dem Rahmen der Sittlichkeit und Begreifen des Todes Gottes in der Form des unglücklichen Bewußtseins sind nach Rohrmoser Schranken des damaligen Hegeischen Denkens selbst, die auf die Abhängigkeit von Schellings intellektueller Anschauung zurückgehen sollen, die eine „vermittlungsunbedürftige Unmittelbarkeit" ist, op. cit. 94. 514 op. cit. 95, 107. 515 J. Riedel, Rezension: G. Rohrmoser, Subjektivität und Verdinglichung. Theologie und Gesellschaft im Denken des jungen Hegel, in: Philosophische Rundschau 12. Jg. (1964), 127; Kimmerle 1965, 360; W. Kern, Hegel-Bücher 1961-1968. Ein Auswahlbericht (3. Teil), in: Theologie und Philosophie 44. Jg., Heft 2 (1969), 254f. 516 Rohrmoser skizziert gegen Ende seines Buches eine überknappe Entwicklung des Gesellschaftsbegriffs bei Hegel, dessen endgültige Anerkennung er in der Jenenser Realphilosophie erkennt. Mit der Gesellschaft als „Herrschaft des allgemeinen formalen Rechts" (Rohrmoser 1961, 111) anerkennt Hegel das „Recht des für sich seienden Einzelnen" (ebd.). Erst die Frankfurter Wende erlaubt auch hier, Individuum und „Gesetz" zu vereinen! Aber die gesetzliche Sicherung der Rechte des Einzelnen bleibt „formal" (op. cit. 112). Der Staat gleicht erst die Ungerechtigkeit der Gesellschaft aus, ein Ausgleich, der „um der individuellen Selbstbestimmung willen" aber auch nur relativ sein kann (und erst in der Religion zur Einheit des Einzelnen mit dem Allgemeinen findet). 517 op. cit. 113, Hervorhebung, H. O.
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Lukäcs. Das liegt wohl zum Teil an der Sicherheit, mit der er von den pietistischen Geburtsmalen der Hegeischen Philosophie überzeugt ist518, die sich bis heute nicht eindeutig haben belegen lassen519. Aber selbst wenn der Pietismus sich einmal wider Erwarten als gesicherte Quelle erweisen sollte, der Philosophie kann er ab Jena den Rang als sowohl Entzweiung wie Versöhnung tragende Instanz nicht ablaufen. Auch von der Philosophie ist die Hoffnung auf eine Versöhnung der entzweiten Welt erzeugt520, von ihr und nicht schon von der Religion wird „die vollständige Rückkehr" geleistet. Das heißt, nicht nur der Philosophie und der von ihr vollbrachten Versöhnung kommt eine größere Relevanz für die Erfassung des Hegelschen Denkens zu, als Rohrmoser vermutet, auch die bisher so erfolgreich abgewiesene linkshegelianische Sicht drängt sich insofern auf, als die Frage der begrifflich aufgehobenen Religion zugleich die nach dem Sinn der Philosophie stellt, welche die Versöhnung der Zeit zu leisten vorgibt. Der spekulative Karfreitrag, den Rohrmoser „allzu christlich positiv" aufnimmt521, ist nicht der Karfreitag der sich ins Christentum auflösenden 518
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So schon G. Rohrmoser, Zur Vorgeschichte der Jugendschriften, in: Zeitschrift für philosophische Forschung Bd. 14 (1960), 182ff. und wieder G. Rohrmoser, Emanzipation und Freiheit, München 1970, 62 ff. Über Johann Jakob Moser und Friedrich Carl von Mosers Begriff der „unsichtbaren Kirche" soll der Weg zu Johann Albrecht Bengel, Friedrich Christoph Oetinger und damit zu Hegel führen. Außer der „unsichtbaren Kirche" könnten Hegel und die Pietisten die gleiche Sozialrevolutionäre Stimmung (Oetinger und Bengel), die Begriffe „Liebe" und „Leben" (Oetinger) und die „geschichtliche" Theorie verbinden, welche bei Oetinger als „eine in der Geschichte sich vermittelnde Ganzheit" Hegels Geschichtsmetaphysik vorwegnimmt. Rohrmoser schließt sich an eine alte Tradition an, die sich besonders in der Schellingdeutung als fruchtbar erwies. A. Wenke, Junghegeltum und Pietismus in Schwaben, Dresden 1907; R. Schneider, Schellings und Hegels schwäbische Geistesahnen, Würzburg 1938; E. Benz, Johann Albrecht Bengel und die Philosophie des deutschen Idealismus, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 27. Jg. (1953), 528ff. (wobei Benz sogar die „List der Vernunft" aus dieser Tradition ableitet. Benz 1953, 543); ders., Schellings theologische Geistesahnen, Wiesbaden 1955. Zwar gab es im Stift den pietistischen Repetenten Christian Adam Dann und den Hegelfreund Leutwein, der selbst drei Bücher über die Johannes-Apokalypse im Stile Bengels verfaßte; dennoch muß man manchmal zugeben (Schneider 1938, 17; Rohrmoser 1964, 187): es fehlt an konkreten Belegen. In Tübingen jedenfalls läßt sich nach Durchsicht der Repetitionen und Loci durch Brecht und Sandberger nichts Handfestes finden. M. Brecht/J. Sandberger, Hegels Begegnung mit der Theologie im Tübinger Stift, in: Hegel-Studien Bd. 5 (1969), 47ff., vor allem 47—51. Systematische Einwände erhebt auch Scheit (1973, 18ff.), der zu Recht vor einer Überschätzung der „theologischen" Gehalte (in Tübingen und Bern) warnt. Allererst in Frankfurt treten sie auf, aber auch dort müssen sie nicht aus dem Pietismus hergeleitet werden. Siehe Bd. II., II. 4. Rohrmoser streitet dies ab, op. cit. 80. Riedel 1964, 127.
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Spekulation, sondern eher der Karfreitag des sich in Spekulation auflösenden Christentums. „Der Inhalt der Religion", so heißt es in Jena unüberhörbar, „ist wohl wahr, aber dies Wahrsein ist eine Versicherung ohne Einsicht. Diese Einsicht ist die Philosophie, (die) absolute Wissenschaft — derselbe Inhalt als der der Religion, aber (in der) Form des Begriffs"522. Rohrmoser bringt gegen Ritter verdienstvoll die Rolle der Religion ins Spiel, die für Hegel entscheidend mit der Freiheit des Einzelnen und dem freien Leben der Gemeinschaft verknüpft ist. Aber die orthodoxe, manchmal rechtstheologische Christianisierung Hegels523 kann der unverfängliche Zeuge für Hegels Freiheitsbegriff nicht mehr sein, wenn diese Religion und ihre Freiheitsrolle vom „Begriff" überlagert werden. Hegel kann dem orthodoxen Anliegen von Rohrmoser schlecht dienen, da er nicht nur das Christentum und seine Freiheit anerkennt, sondern auch auf eine höchst doppeldeutige Weise säkularisiert, zu einem inn er-weltlichen Prozeß macht, in dem die „Erlösung" nicht nur der glaubenden Gemeinde in ihrem Kultus zuteil wird, sondern endgültig erst der Philosophie zu verdanken ist, welche die nachchristliche Geschichte als säkularisierte Heilsgeschichte und die „Gegenwart" als ausgezeichnete Epoche der Versöhnung begreift524. Zwar war für Hegel das Christentum die „absolute" Religion, aber seine „philosophische" Erfüllung nimmt ihm die auf die Zukunft gerichtete Spannung, die ihm als orthodoxem Glauben bis heute wesentlich blieb. Sie beraubt es der Zukunft um einer Gegenwart willen, welche die Weihen der Versöhnung trotz ihres Freiheitsniveaus letztlich genausowenig verdient wie irgendeine andere. Die Überschätzung der eigenen Zeit erzeugt aber im systematischen Begreifen der Epoche genau jene Tendenz zur Vertheoretisierung und Metaphysizierung, welcher Hegels Philosophie ihre Gravitation zum Bestehenden verschafft.
522 j]^ 272; zuerst gegen Rohrmoser ausgespielt von Kimmerle (1965, 360), dann von Kern (1969), 254. 523 So ist es höchst einseitig zu behaupten, für Hegel sei die Erlösung in der Menschwerdung Gottes „kein erst durch die Gemeinde zu realisierendes Postulat" (Rohrmoser 1961, 80). Auch bei Hegel scheint der Hl. Geist der Gemeinde gesandt zu werden, damit sich die Erlösung vollendet (vgl. Scheit 1973, 71 ff., 120ff.). Christus „wird" der „Geist", siehe Phän. 545. 524 Inwieweit Weils und Löwiths Formel von „Ende" und „Vollendung" des Christentums bei Hegel diesen Vorgang umschreiben kann, klärt sich im übernächsten Abschnitt (IV. 6.2.3.).
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6.2.2. Hegels Phänomenologie und die Versöhnung in der absoluten Gegenwart (R. K. Maurer) Die von uns als mißlungen kritisierte Versöhnung griechischen und modernen Denkens, die nach Ritter bei Hegel vorliegen sollte, sowie die Rohrmoser vorzuwerfende Ausblendung der Philosophie und ihres Akkommodationsproblems nimmt Maurer auf, der die Phänomenologie als eine Geschichtsphilosophie interpretiert, welche ganz und gar nicht mit dem Problem einer endgeschichtlichen Tendenz zu kämpfen hat, sondern auf einmalige Weise Metaphysik und Geschichte vereint, vereint in einer Synthese, in der Herkunft und Zukunft zugleich Eingang finden, ohne daß die Vergangenheit historistisch-naiv oder die Zukunft marxistisch-vergangenheitslos eingebracht wird. Maurers Buch, eines der brillantesten und funkelndsten Produkte der Ritterschule525, reiht vor unseren Augen die Repräsentanten einer historistisch gefährdeten Geisteswissenschaft und die eines auf Zukunft verpflichteten Marxismus auf, die eine heimliche Gemeinsamkeit verbindet, das Unverständnis für die Synthese von Metaphysik und Geschichte, die sich zum ersten und letzten Mal bei Hegel abzeichnen soll. Die Pointe, die Maurer der Entwicklung unterschiebt, ist auf raffinierte Weise doppelbödig. Man klagt gegen das metaphysische System im Namen der Anthropologie (Feuerbach), der Gesellschaft (Marx), der historischen Vernunft (Haym) und Geisteswissenschaft (Dilthey), einer ontologischen Theologie (Neuscholastik) und Onto-Theologie (Heidegger) und schließlich sogar im Namen des marxistischen Endes der Geschichte im Napoleonischen Weltstaat (Kojeve), aber die Geschichte als „Prozessualität", welche man nach Abzug, Unterlaufen und Kritik der Hegeischen Metaphysik erhält, schließt bei näherem Hinsehen dann doch wieder eine prima philosophia ein, die allerdings anders als bei Hegel in der Schere einer an die Geschichte ausgelieferten Philosophie historizistisch oder aber in einer letztlich ungeschichtlichen Ontologie substantialistisch zerschnitten wird. Damit verfällt der Mensch einem zweifach möglichen Geschichtsdenken, das ihm l. (besonders extrem aufleuchtend bei Kojeve, aber auch schon bei Feuerbach und Marx) eine 525
Maurers großartiges Buch kann hier nur im eingeengten Blickwinkel unserer Frage vorgestellt werden. Weder die Einleitungsproblematik der Phänomenologie noch die für die Systemprobleme so entscheidenden letzten Paragraphen der Enzyklopädie, noch Maurers Sicht der Logik können hier diskutiert werden (Maurer 1965, 26 — 33, 85ff., 159ff.); auch ist es unmöglich, den historischen Reichtum und die Farbigkeit dieser Dissertation annähernd wiederzugeben.
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letztlich geschichtslose Selbsterzeugung zumutet, die ohne Beziehung zu einer Vergangenheit den Menschen von einem vor-geschichtlichen Anfang zu einem nach-geschichtlichen Ende führt (und ständig in der Gefahr schwebt, der Geschichte die „Natur" zu substituieren), das ihm 2. (besonders kraß bei Heidegger, aber auch schon bei Hay m, Dilthey und der Neuscholastik) eine Geschichte präsentiert, welche gerade nicht vom Menschen erzeugt ist, sondern in der der Geist der Welt „sich" als „Geschichte der Welt" entfaltet (Haym)526, in welcher Geschichte analog zur Naturwissenschaft objektivistisch und historistisch gefaßt wird (Dilthey)527, in der die Ontologie jede Geschichte verdrängt (Neuscholastik)528 oder eine „Geschichtlichkeit ohne Geschichte" (Sein und Zeit) und „eine ontische Geschichte als Seinsgeschick" (nach der Kehre) das Selbst und die Geschichte ontologisieren529. Wird also einmal eine Zukunft ohne Vergangenheit aus einer haltlosen Gegenwart herausgesetzt, so wird das andere Mal das Gegenwärtige der Substanz, der Geschichtlichkeit oder dem Seinsgeschick geopfert. Maurers atemberaubender Zug historischer Gestalten beginnt seine Prozession bei einem Hegel, der noch alle widerstreitenden Tendenzen in sich birgt, der der Anthropologie gibt, was der Anthropologie gehört, der Natur und Geschichte, Natur und Logik (Metaphysik) in der „Mitte" seines Systems vereint530, so daß von der Phänomenologie gesagt werden kann, sie sei wegen der Notwendigkeit, mit welcher der Geist für Hegel erscheinen muß, und wegen des Wertes der die Ontologie sprengenden 526
527 528 529
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op. cit. 106. Allerdings bleibt die Diltheydeutung eigentümlich freundlich, op. cit. 109-115, 171 f. op. cit. 121 ff. op. cit. 129. Hegels System oder Absolutes muß „erscheinen", insofern ist es geschichtlich. Die erste Erscheinung „Logik-Natur-Geist" (Enz. SW X, § 575) symbolisiert die Naturgeschichte des Geistes, die zweite „Natur-Geist-Logik" (op. cit. § 576) quasi die Freiheitsgeschichte der Natur und die dritte „Geist-Logik-Natur" die Ineinssetzung beider Prozesse, in der die Erscheinung aufgehoben wird und der Geschichtsfortschritt in die erinnernde Bewegung der Philosophie zurückgeht. Die Phänomenologie soll den zweiten Erscheinungsmodus repräsentieren (Maurer 1965, 83ff., 88). Hier müßten die höchst diffizilen Probleme besprochen werden, was denn die Tatsache bedeutet, daß Hegel stets die enzyklopädische Form „Logik-Natur-Geist" beibehielt, d. h. anders gesagt, ob nicht die berühmten Schlüsse mit ganz großer Vorsicht zu beurteilen sind. Puntel, der auch die Phänomenologie als zweiten Schluß deutet, plädiert sogar für eine unausgeführte gleichberechtigte Hegeische Philosophie im Sinne des dritten Schlusses (Puntel 1973). Fulda dagegen hatte starke Argumente für die enge Beziehung von Logik und Phänomenologie entwickelt. H. F. Fulda, Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik, Fft. a. M. 1965; vgl. Ottmann 1973.
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Subjektivität „Nicht weniger Metaphysik, wenn auch nicht mehr Ontologie"531. Hinter Maurers prächtiger Konzeption steckt offensichtlich Ritters Ansatz, der Hegel sowohl die griechische Metaphysik als auch die Philosophie der Zeit, Herkunft und Zukunft im Begreifen der Gegenwart vereinen sah. Ritters Kritik am antimetaphysischen Positivisten Haym sowie die am vergangenheitslosen, die Kontinuität der Herkunft mit der Zukunft zerstörenden Linkshegelianismus scheint der produktive Denkimpuls zu sein, von dem Maurers bunter Zug der nach-hegelschen Philosophien angestoßen wird. Aber Maurer hat auch schon die Rohrmosersche Korrektur mitvollzogen. Die vorphänomenologische Philosophie des Individuums wird im Sinne von Rohrmoser (und Schwarz532) theologisch fundiert. Dennoch taucht bei Maurer ähnlich wie bei Rohrmoser, trotz des Feuerwerks an Scharfsinn und trotz der blendenden historischen Glanzlichter, die Frage nach der Möglichkeit der Versöhnung wieder auf. Maurer durchbricht den soziologischen Ansatz Ritters, indem er die „Gegenwart", welche Hegels Philosophie begreift, als Präsenz der christlichen Erlösung deutet533. Vergangenheit und Zukunft oder Herkunft und Zukunft, wie es seit Ritter heißt, vereinigen sich „im erfüllten Jetzt", weil das „Ende" der Geschichte, statt transgeschichtlich zu sein, mit seinem „Anfang" schon in der Erscheinung des Absoluten als Christus zusammenliegt. Nur weil dies so ist, kann der „Geist" die „Schädelstätte" sein, in welcher der „Tod" der Individuen und geschichtlichen Gestalten zugleich m die Erinnerung zurückgenommen wird, m der er als „Gewesenheit des Unvergänglichen . . . Aufbewahrung dieser zeitlosen Vergangenheit"534 ist, nur weil Hegel den Tod Christi als „Anfang" und „Ende" der
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op. cit. 90. op. cit. 34ff. Schwarz arbeitet den christlichen Sinn der phänomenologischen Wende heraus, an deren Anfang die durchs Christentum vermittelte Anerkennung des Individuums steht, J. Schwarz, Die Vorbereitung der Phänomenologie des Geistes in Hegels Jenenser Systementwürfen; in: Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie Bd. II (1936), 127ff. 533 £)er Rekurs auf Jas Christentum sehr deutlich auch in dem Aufsatz: R. K. Maurer, Endgeschichtliche Aspekte der Hegeischen Philosophie. Zur Kritik des neuen Chiliasmus, in: Philosophisches Jahrbuch 75. Jg. (1968), 88ff., 108. Maurer kann sich auf Passagen der Philosophie der Geschichte stützen, in der es z. B. heißt: „. . . die christliche Welt ist die Welt der Vollendung; das Prinzip ist erfüllt und damit ist das Ende der Tage voll geworden . . ." (Phil. d. Gesch. SW XI, 438), oder „. . . die Philosophie, als sich mit dem Wahren beschäftigend, hat es mit ewig Gegenwärtigem zu tun. Alles ist ihr in der Vergangenheit unverloren, denn die Idee ist präsent, der Geist unsterblich, d. h. er ist nicht vorbei und ist noch nicht, sondern ist wesentlich itzt" (op. cit. 120). 534 Maurer 1965, 77 und 78.
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Geschichte denkt, kann er das reine Denken in das Selbst zugleich übergehen und zurückkehren535 oder die Logik in die Naturphilosophie einen Übergang machen lassen, der keiner ist536. Soweit Maurer damit „Geist" und „System" aus dem Bilde des in Christus sterbenden und auferstehenden Gottes sich entfalten sieht, leistet er für den späten Jenenser und den älteren Hegel, was Rohrmoser für Frankfurt aufdeckte. Ohne den „Tod Gottes" bleibt das Geheimnis der Entzweiung, ohne die zeitlose Parusie des auferstandenen Gottes das Geheimnis der Hegeischen Versöhnung verborgen. Wie der Frankfurter Begriff des „Lebens" so kann auch der spätere Begriff des „Geistes" das „Selbst" nur integrieren, weil „das göttliche Selbst" als Einheit des Einzelnen und Allgemeinen mit seiner Menschwerdung den absoluten Wert jedes Individuums bezeugt hat. Das „System" kann die Naturgeschichte der Freiheit mit der Freiheitsgeschichte der Natur allein deshalb vereinen, weil Gott nicht nur Mensch, sondern auch Natur und Geschichte geworden ist, weil er die vormals das bloße „Anderssein" verkörpernde Natur als numinose entzaubert, um sie als Anderssein des Menschen dem Menschen zu weihen; das ehemalige „Gefängnis" öffnet seine Tore, um den einst von der Naturreligion geknechteten oder sich dem Kosmos einordnenden Menschen als freies geschichtliches Wesen hervortreten zu lassen537. Aber wie Rohrmoser den spekulativen Karfreitag nicht für die Orthodoxie unserer Tage retten konnte, so kann auch Maurer das endgeschichtliche Denken nicht mit der absoluten Gegenwart des Christentums entlasten. Zwar bleibt die christlich gedachte Entzweiung „offen"538, da sie die Parusie als Gegenwart Christi nicht mit dem Ende der innerweltlichen 535 536 537
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Phän. 529, 563. Maurer 1965, 78. Maurer scheint allerdings den christlichen Sinn der bei Hegel „geheiligten" Natur etwas zu strapazieren, wenn er „Natur" zur „Basis" oder „Substanz" der Hegeischen Freiheit erklären möchte. Was Maurer aus Hegel herausinterpretiert, trifft Schelling eher als Hegel. In dieser Hinsicht bleibt Theunissen wohl gegen Maurer im Recht, wenn Maurer diese Rolle der Natur gegen die eher sozio-politische und religiös-kultische Interpretation von „Freiheit" bei Theunissen wenden will. Anders als Schelling hat Hegel zwischen dem „Geist" und der „Natur" qua „Entäußerung" des Geistes oder (sogar) qua „Abfall der Idee von sich selbst" (z. B. Enz. SW IX, § 248 A) eine scharfe Grenze gezogen, siehe R. K. Maurer, Die Aktualität der Hegeischen Geschichtsphilosophie, in: R. Heede/J. Ritter (Hrsg.), Hegel-Bilanz. Zur Aktualität und Inaktualität der Philosophie Hegels, Fft. a. M. 1973, 155ff., vgl. auch die Diskussionsbemerkung von Theunissen (op. cit. 188). Maurer 1965, 115, 161.
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Zeit schon gleichsetzt (in der Christus als Auferstandener wiederkehrt, insofern er für alle Menschen offenbar wird), aber bei Hegel schließt die Philosophie jene Offenheit mit dem Anspruch auf das Begreifen der Gegenwart zu. Die gläubige Ungewißheit über den Tag, an dem der Herr kommt539 (wie der Dieb in der Nacht540), verwandelt sich bei Hegel in die philosophische Gewißheit von der Gegenwart der Vernunft. Der Totalitätsanspruch der Hegeischen Philosophie, die ihre Vorläufer in sich zu begreifen vorgibt, sowie der von Hegel der eigenen Philosophie zugeschriebene Anspruch, das Telos der Geschichte nicht nur in der „Vorstellung" des Glaubens und im Kultus der Gläubigen, sondern auch im „Begriff" zu besitzen, setzt schon rein logisch voraus, daß diese Philosophie sich selbst nicht als eine relative Existenz versteht, die genauso im Gang der Geschichte nur ihre Zeit in Gedanken erfaßt wie andere Philosophien auch. Zwar spiegelt auch sie den Gedanken der Zeit, aber die von ihr beanspruchte Synthese verlangt, daß sie zugleich über ihre Epoche hinaus ist, hinaus im Sinne einer gewissen Endgültigkeit, welche erst die aus dem Strom der Zeit herausgehobene Position verschafft, welche den Rückblick auf die Geschichte nicht selbst wieder einen zeitlichen sein läßt. Wenn Kierkegaard die Paradoxie mit aller Schärfe festgehalten hat, die sich aus der Bedürftigkeit unserer Existenz ergibt, welche das Ewige in der Zeit zu denken verlangt, und wenn er allein dem Sprung des Gläubigen die Aufhebung zutraute, so versucht Hegel, quasi sub specie aeternitatis, die Zeit zu denken und dem Gläubigen nur die Vorstellung und den Kultus als unzureichende Aufhebung der Antithese zu belassen. Hegel kann nur teilweise als „metaphysischer" Kritiker des Prozessualismus, als Kämpfer gegen Traditionalismus und Futurismus dienen. Die Heilung der Diskontinuität von Herkunft und Zukunft wird mit einem hohen Preis bezahlt, mit der philosophischen Weihe einer Gegenwart, die eine solche Segnung des Begriffs nicht verdiente. Die Schulden, welche die nach-hegelsche Philosophie machte, gehen so zum Teil auch auf Hegels eigenes Konto. Zwar muß man ganz wie Rohrmoser und Maurer den christlichen Sinn der Hegeischen Philosophie gegen das ausspielen, was nach Hegel dem Individuum zugemutet wird, man muß Hegel als nicht-einseitige Synthese der Einseitigkeiten seiner Schüler zu verstehen suchen und sein „Individuum" vor den Ansprüchen des Historismus genauso bewahren wie vor dem ungedeckten marxistischen 539
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Mt 24, 36; 24, 42. l Thess 5, 3.
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Wechsel auf eine aus vergangenheitsloser Gegenwart geborene Zukunft, vor dem Naturalismus ä la Feuerbach genauso wie vor dem Soziologismus eines Marx, vor der Substanz-Ontologie genauso wie vor dem nebelhaften Seinsgeschick (all dies leistet Maurer vorbildlich), aber man muß dann auch bereit sein zuzugeben, was aus der begrifflichen Aufhebung des Christentums an gegenteiliger Tendenz sich entwickelt. Der Auszug aus der Gegenwart in die Zukunft, den die Linkshegelianer vollzogen, war ein Traditionsbruch mit verhängnisvollen Folgen. Aber er war zugleich eine verständliche Reaktion auf die theoretische Feier der gegenwärtigen Vernunft, welche die christliche Offenheit auf Zukunft in die begriffliche „Prozeßbremsung" verwandelte. Maurers Motto „Bis hierher und von daher geht die Geschichte"541 umfaßt bei Hegel nicht nur das Geheimnis der Anfang und Ende in der Gegenwart Christi vereinenden Geschichte, es deutet auch auf die philosophische Gegenwart, welche das „bis hierher" erst einlöst. Das Ende der Geschichte erscheint damit doch wieder, getragen von der Vernunft, die, statt das Kreuz als Rose der versöhnten Gegenwart zu feiern, sich als Rose im Kreuz der Gegenwart begreift542.
6.2.3. Moderner Staat und politischer Protestantismus (G. Rohrmoser, R. K. Maurer) Was in der französischen und angelsächsischen Hegelapologetik als Aktualismus greifbar war, begegnet uns auch in der Ritter-Schule wieder, die „Modernisierung" des Hegeischen Staates, die, freilich um eine Stufe anspruchsvoller, auf typische Weise von Rohrmoser und Maurer geleistet wird. Rohrmoser bleibt seiner wegweisenden Analyse des jungen Hegel treu, wenn er sein theologisch-politisches Deutungsprogramm auf den 541
Phil. d. Gesch. SW XI, 410.
542
Hegel kehrt Luthers Wappenspruch „Des Christen Herz auf Rosen geht, wenn's mitten unterm Kreuz steht" philosophisch um (inwieweit das berühmte Bild des Rosenkreuzes allerdings auf Luther oder aber auf Goethe, die Freimaurer und die Rosenkreuzer zurückführbar ist, wird noch im zweiten Band zu klären sein, siehe z. B. G. Lassen, Kreuz und Rose, in: Beiträge zur Hegelforschung, Berlin 1909, 43ff.). Eine ähnliche Kritik, die Hegel den christlichen „Anfang vom Ende" mehr und mehr zu einem philosophischen Ende werden sieht, weil Hegel das mit der Auferstehung Christi verheißene Leben, „das . . . streng extra nos (liegt) und . . . nicht verfügbar (ist)" im Begreifen eingeholt zu haben glaubte, bei W. D. Marsch, Die Gegenwart Christi in der Gesellschaft, München 1965, 270ff.
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älteren Hegel ausdehnt, Maurer konkretisiert die absolute Gegenwart des Christentums in Hegels politischem Protestantismus. Rohrmoser stellt Hegels „moderne" Staatslehre in die politische Mitte, indem er sie eine Doppelrolle jenseits der utopisch-marxistischen Forderung nach dem Absterben des Staates, aber auch jenseits aller reaktionären Politik spielen sieht, welche den Einzelnen im autoritären Staat verschwinden läßt543. Wie Hegel am Staat festhält, um die gesellschaftliche Entfremdung überwinden zu können, genauso läßt er eine Auflösung der Gesellschaft in den Staat nicht zu. Bei Rohrmoser feiert also Rosenkranz' sozio-politisches Abgrenzungsargument Auferstehung, das die Doppelsinnigkeit der Beziehung von Gesellschaft und Staat zur gleichzeitigen Abgrenzung nach rechts und links benutzte. Aber anders als bei Rosenkranz liegt der Hintersinn der mittleren Position bei Rohrmoser wieder im christlichen Kern der Hegeischen Philosophie. Hegels „moderner" Staat basiert auf der christlichen Freiheit des Einzelnen. Der Staat kann somit Teil des Heilszusammenhanges werden544. Kirche und Staat ergänzen sich wechselseitig bei der Verwirklichung der Freiheit des Christenmenschen, die Religion der Kirche, indem sie den Menschen von seinen natürlichen Bestimmungen reinigt und quasi für das „Tun des Allgemeinen" präpariert, der Staat, indem er seinerseits die religiöse „innerliche" Freiheit erst zu realisieren erlaubt545. Was Gesellschaft und Staat nicht aus sich allein leisten können, vollbringt die christliche Gemeinde für sie. Sie vermittelt die Freiheit des Einzelnen mit ihrer objektiven Verwirklichung546. Religion (in der Form des Protestantismus) wird, meint Maurer im Anschluß an Rohrmoser, somit zur „Ermöglichung politischer Frei543
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G. Rohrmoser, Hegels Lehre vom Staat und das Problem der Freiheit in der modernen Gesellschaft, in: Der Staat Bd. 3 (1964), 393. Einer „objektiven Würdigung der Hegelschen Theorie" stehe „in unserer Gegenwart" nichts stärker entgegen als der Vorwurf, in ihr gehe das Individuum unter, ebd.; eine kürzere Version des gleichen Aufsatzes G. Rohrmoser, Die theologischen Voraussetzungen der Hegeischen Lehre vom Staat, in: Hegel-Studien Beiheft l (1964), 139ff. Eine im Resultat verwandte (freilich ohne Rekurs auf die Religion begründete) Analyse des „modernen" Staates bei Hegel gibt Maihofer, soll Hegels Staat doch die Mitte halten zwischen den kollektivistischen und bloß rechts- und wohlfahrtsstaatlich organisierten Gemeinschaften sowie zwischen Antike und Moderne, W. Maihofer, Hegels Prinzip des modernen Staates, in: Schweizer Monatshefte 47. Jg., Heft 3 (1967), 265ff.; vgl. auch den Versuch Maihofers, mit Berufung auf Hegel einen nicht materialistisch verengten „Kritischen Realismus" zu begründen, ders., Von der Philosophie zur Kritik des Rechts, in: Hegel-Jahrbuch 1971, W. R. Beyer (Hrsg.), 50ff. Rohrmoser 1964, 393. op. cit. 399. op. cit 401.
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heit"547; sie formt die „Gesinnung" der Einzelnen und bereitet sie für eine vernünftige politische Allgemeinheit vor. Politik und Religion (= „MetaPolitik") vereinen sich für Hegel keineswegs unmittelbar, weder in einem chiliastischen Fanatismus noch in einer theokratischen Ordnungsvorstellung. Sie treffen sich vielmehr vermittelt über die Gesinnung, die sich als ein Prinzip politischen Maßes erweist, weil sie einmal, anders als die marxistische Vereinnahmung aller Transzendenz, Politik nicht zum „letzten" (und damit tendenziell totalitären) „Horizont" menschlichen Handelns werden läßt548, weil sie zum ändern, anders als die liberale Tradition von Locke bis zu Kant, nicht den „verschleierten Neo-Leviathan der westlichen Demokratie"549 zu konstruieren versucht (indem sie das Gemeinwesen aus der anarchischen Freiheit der Einzelnen hervorgehen ließe). Religion ermöglicht Freiheit, weil sie (zwischen Totalitarismus, Theokratie, fanatischem Chiliasmus und verschleiertem Neo-Leviathan hindurch) Politik als eigenständige Domäne des Handelns freisetzt550. Maurer und Rohrmoser führen die theologisch-politische Hegeldeutung, die noch zögernd bei Rosenzweig, Giese und Weil begann, auf ihren vorläufigen Höhepunkt. Aber wie bei Rosenzweig die konkret-politische Bedeutung dieses Interpretationsansatzes schon nicht einleuchten wollte, so wird auch bei dieser verfeinerten Auslegung die apologetische Kraft der Argumente desto suspekter, je mehr man ihrer politischen Tragweite nachzugehen sucht. Gewiß, auf dem hohen Abstraktionsniveau, das nach dem Zusammenhang von Religion und Freiheit bei Hegel fragt, sind Bedeutung, Meriten und Unverzichtbarkeit der theologisch-politischen Deutungsrichtung hinreichend begründet551. Wir erkennen einen Hegel, der zwischen den Rechts- und Linkshegelianern steht, einen Philosophen, der
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R. K. Maurer, Hegels politischer Protestantismus, in: Hegel-Studien Beiheft 11 (1974), 397. op. cit. 412. op. cit. 412. Hegels christliche Freisetzung der Politik fordere „die Notwendigkeit einer eigenständigen Ausbildung des formellen, abstrakten Rechts; sie anerkennt die Eigengesetzlichkeit der Gesellschaft als des Konkurrenzsystems der Bedürfnisse und Interessen; und der sittliche Staat . . . ist ein Staat irdischer, diesseitiger Vernunft und Gesinnung (politischer, nicht unmittelbar religiöser Ethik)", op. cit. 403. Anwenden läßt sich diese Deutungsrichtung freilich erst ab Frankfurt und Jena, wenn Hegel das Christentum religiös (-spekulativ) anerkennt, also nicht in Tübingen, wenn Hegel die Religion nur als ein Element zur Beförderung eines freien Volkslebens würdigt, und auch nicht in Bern, wenn Hegel das Christentum prinzipiell kritisiert (siehe im zweiten Band I. und II.).
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als (auch) christlicher Denker Freiheit trans-gesellschaftlich und transpolitisch fundiert, einen politischen Theoretiker, der durch seine indirekt religiöse Politik (wenigstens bis zu einem gewissen Grade) die Gefahren überwindet, die sich aus der rechtshegelianischen Feier des Staates oder aus der linkshegelianischen Verabsolutierung der Gesellschaft ergeben müssen. Gerade die nur indirekte Verbindung von Politik und Religion erscheint in ihrer Mischung aus politischer Emanzipation und doch auf Religion gegründeter Gemeinschaft als eine aktuelle und bedeutende Einsicht, werden wir doch auch heute die Religion desto mehr schätzen lernen, je mehr wir die doppelte Abhängigkeit des Rechtsstaates von vorpolitisch geformten und über-politisch geltenden Gesinnungen und Grundwerten zu würdigen bereit sind, von Gesinnungen, welche den Grundkonsens der Bürger stützen und zugleich verhindern, daß Gesellschaft oder Staat oder beide zur letzten Perspektive unseres Handelns werden552. Aber wie die philosophische Uberformung der absoluten Gegenwart des Christentums uns daran hinderte, in Hegel den christlichen Kämpfer gegen Traditionalismus und Prozessualismus zu sehen, genauso zwingt uns die begriffliche Aufhebung des Protestantismus, in Hegel einen Philosophen zu erkennen, der nur bedingt für die Rolle des christlichen Nothelfers eines freiheitlichen Rechtsstaates geeignet ist. Mehr als Protestantismus und Staat scheint Hegel nämlich Philosophie und Politik zu vereinen. Denn obwohl die Religion mit der Philosophie das Absolute selbst zum Inhalt hat (und somit dem Staat und dem objektiven Geist überlegen ist), teilt der Staat die Form des Sich-Wissens mit der Philosophie, ein Sich-Selbst-Begreifen, das wiederum gegenüber der religiösen Empfindung und Vorstellung eine höhere Form der geistigen Selbsterfassung darstellt. Erst die Philosophie kann die Spannung zwischen Religion und Politik lösen, indem sie die Maßstäbe dafür setzt, wie sich beide angesichts ihres doppeldeutigen Über- und Unterordnungsverhältnisses zu verbinden und abzugrenzen haben. Die Philosophie nimmt die Formdifferenz zwischen Glaube, Empfindung und Vorstellung auf der einen und Begreifen auf der anderen Seite zum Grund ihrer Unterscheidung der staatlichen und kirchlichen Rechte. Die aus dem „Inneren" ins „Äußere" tretende Kirche und Gemeinde muß sich (sei es bei Fragen
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Siehe den aufschlußreichen Artikel von Bockenförde, auf den Maurer verweist; E. W. Bockenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie, Stuttgart 1967, 75ff. „Der freiheitliche Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann", op. cit. 93; Maurer 1974, 392.
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des Eigentums, der Ehe oder sogar der „Lehre"553) der objektiven Vernünftigkeit des Staates unterwerfen; andererseits muß der Staat (angesichts der Absolutheit des religiösen Inhalts) das Gewissen und die innerliche Beziehung des Gläubigen zu Gott respektieren. Die Schiedsrichterrolle der Philosophie sowie die philosophische Überlegenheit des Staates lassen erkennen, daß die Religion allein dem Staat nicht mehr entgegentreten kann. Der kraft philosophischer Legitimation die Religion anerkennende, sie jedoch zugleich in ihre Schranken weisende Staat hat sich von der Religion emanzipiert; er ist zu einem eigenartig „weltanschaulich neutralen Staat"554 geworden, der aus der neuzeitlichen Glaubensspaltung hervorging (und von ihr genauso profitiert wie der Kirche die Lösung vom Staat nützt555). Mit dieser weltanschaulichen (fast schon „pluralistischen") Neutralität, die Maurer selbst Hegels Staat zuschreibt, ist die Grenze markiert, an die der theologisch-politische Ansatz stoßen muß. Weder protestantische noch katholische Kirche werden zum Modell staatlicher Organisation556. Politischer Protestantismus ist Hegels Lehre allein als von der „Gesinnung" getragene Politik. Und die nur über die Gesinnung vermittelte „ Christlichkeit" des (ansonsten neutralen) Staates reicht zwangsläufig nicht aus, die politische Hegeldeutung der Mitte dort zu sichern, wo es um die Beurteilung der konkreten Institutionen und Konstruktionselemente des Staates (wie Erbmonarchielehre, Zwei-Kammer-System, Ständelehre etc.) geht. Andererseits wird die an der „Gesinnung" festgemachte Christlichkeit des Hegeischen Staates selbst noch fraglich, wenn man der Bedeutung der
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Hegel plädiert zwar für die Freiheit der kirchlichen Lehre, da (und insoweit) bei ihr das „Innere" überwiegt, dennoch hat der Staat das Recht, sich „gegen Behauptungen, die aus der subjektiven Gestalt der Wahrheit entspringen, mit welcher Versicherung und Autorität sie sich auch umgebe, zu behaupten", Rph 1821, SW VII, § 270A. 554 G. Schmidt, Die Religion in Hegels Staat, in: Philosophischesjahrbuch 74. Jg. (1966/67), 302. sss j)er staat gewinnt das „Prinzip seiner Form" erst durch die Spaltung der Kirche (Rph 1821, SW VII, §270 A); deshalb kann es ihm auch gleichgültig sein, zu welcher Religionsgemeinschaft sich der Bürger bekennt (wenn er nur, wie Hegel fordert, „irgendeiner" Kirche angehört, ebd.; der „starke Staat" könne sogar „Gemeinden in sich aushaken, welche die direkten Pflichten gegen ihn religiös nicht anerkennen", ebd.). Andererseits sei die durch die Kirchenspaltung ermöglichte Herausbildung der sittlichen Wirklichkeit des Geistes „das Glücklichste, was der Kirche für ihre eigene und was dem Gedanken für seine Freiheit und Vernünftigkeit hat widerfahren können" (ebd.). 556 Dazu gleich mehr im nächsten Abschnitt (IV. 7.). Von der Katholischen Kirche hatte Hegel bekanntlich behauptet, mit ihr sei „keine vernünftige Verfassung möglich", Phil. d. Rel. SW XVI, 560; ähnlich Enz. SW X, §552.
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schon öfter erwähnten „Säkularisierung" des Christentums bei Hegel noch weiter nachgeht. Dann erscheint die Gesinnung protestantischer Provenienz nämlich nur als ein Teil jener „subjektiven Freiheit" überhaupt, die uns Hegel mit dem Bild von der „Fahne des freien Geistes"557 vor Augen führt. Zwar war es für Hegel die Reformation, welche diese Fahne aufgepflanzt hatte, aber schon von der Geburtsstunde des Protestantismus an war dieses Symbol eigentlich das Banner einer geschichtlichen Bewegung, deren Ziel darin lag, das Christentum zum „Prinzip der Welt" werden zu lassen. Die nachreformatorische Geschichte hat für Hegel keine andere Aufgabe als die Verweltlichung der christlichen Freiheit, die sich auf dreifache Weise vollziehen soll: durch die „Verbreitung der christlichen Religion" in den Herzen, durch die Ausbildung ihres Prinzips „für den Gedanken" und durch das „Einimpfen" in die Wirklichkeit, „die Gesetze, Sitten, Staatsverfassungen, und was überhaupt zur Wirklichkeit des geistigen Bewußtseins gehört, soll vernünftig werden"558. Und in der Zeit nach der Französischen Revolution hat sich für Hegel diese Versöhnung von Religion und Welt erfüllt; in den Institutionen und Gesetzen des Staates ist von nun ab eingelöst, was das Christentum für sie zu fordern hatte559. Erst jetzt sind wir in der Lage, die durch und durch zweideutige Rolle des Christentums in den Koordinaten von Politik und Philosophie bei Hegel zu begreifen. Hegels Staat darf ein „christlicher" genannt werden, wenn damit ausgedrückt werden soll, daß er die Freiheit des Christenmenschen zur geschichtlichen Voraussetzung und Grundlage hat; er darf mit gleichem Recht als ein „säkularisierter" Staat bezeichnet werden, wenn damit ausgesagt werden soll, daß seine „christliche" Basis einem Verweltlichungsprozeß unterworfen war, in dem sich die Ideale des Christentums zwangsläufig in „weltliche" Freiheit, in moderne Autonomie, Staatsgesinnung, ja sogar „Bildung" verwandeln mußten560. An557 558 559
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Phil. d. Gesch. SW XI, 524. Gesch. d. Phil. SW XIX, 106ff. Als Beleg mag hier der Hinweis auf den letzten Abschnitt der Philosophie der Geschichte genügen, in dem Hegel die Stationen dieser Versöhnung rekonstruiert (Phil. d. Gesch. SW XI, 519ff., vor allen 559ff.). Dort heißt es auch: „Es gibt kein heiliges, kein religiöses Gewissen, das vom weltlichen Rechte getrennt oder ihm gar entgegengesetzt wäre" (op. cit. 568). Selbst wenn die folgende Äußerung gegenüber Niethammer eine ad hominem sein sollte, bezeichnet sie doch eine Tendenz der Hegeischen Philosophie. Den Protestanten seien, schreibt Hegel einmal, „die gelehrten Bildungsanstalten so teuer . . . als die Kirche, und gewiß sind sie so viel wert als diese; der Protestantismus besteht nicht so sehr in
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gesichts dieser systematischen Perspektive kann nicht so sehr ins Gewicht fallen, daß Hegel sich selbst öfter einen „Lutheraner" genannt hat561, ja selbst die schon bedeutsamere Frage, ob für Hegel das „Volk" immer der „Sanktionierung"562 der Sittlichkeit in der Religion bedarf, oder ob er der Meinung war, daß — analog zur römischen Kaiserzeit — für Gebildete und Volk „die Sucht des Privatrechtes und Genusses" an die Stelle von Religion und Sittlichkeit getreten sei, wird zu einem Problem zweiter Ordnung563. Denn die dialektische Konstruktion eines sich in der Welt erfüllenden Christentums macht die zweideutige Stellung dieses Christentums zu Philosophie und Politik schon deutlich. Es darf gefolgert werden, daß Hegel quasi an Philosophie und Politik abtritt, was aus dem Christentum entsprang564. Es darf aber auch die Konsequenz hervorgehoben werden, daß Philosophie und Politik selbst ihrer christlichen Vorgeschichte zu verdanken haben, was sie sind. So hat, angesichts des Staates, der die christliche Freiheit integriert hat, und angesichts der Philosophie, die eine Form des Sich-Wissens des Geistes erreicht hat, welche den Gefährdungen des religiösen Bewußtseins nicht mehr ausgesetzt ist, die
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einer besonderen Konfession als im Geiste des Nachdenkens und höherer vernünftiger Bildung", Hegel an Niethammer am 03. 11. 1810, in: Br. Bd. L, 337. Z. B. Gesch. d. Phil. SW XVII, 105. Die Frage ist ja gerade „Lutheraner" in welchem Sinn. Diesen Begriff verwendet Hegel Enz. SW X, § 552A. So heißt es in der Philosophie der Religion einmal: „Die Gesinnung nimmt nicht notwendig die Form der Religion an; sie kann auch mehr beim Unbestimmten stehen bleiben. Aber in dem, was man das Volk nennt, ist die letzte Wahrheit nicht in Form von Gedanken und Prinzipien, sondern was dem Volk als Recht gelten soll, kann das nur insofern, als es Bestimmtes . . . ist. Dies Bestimmte des Rechts und der Sittlichkeit hat nun für das Volk seine letzte Bewährung nur in der Form einer vorhandenen Religion . . ." (Phil. d. Rel. SW XV, 266). Der berühmte Passus, in dem Hegel den „Stand der unmittelbaren, unbefangenen Religion" (also quasi den Stand des autoritätsgläubigen Volkes), den „Stand des Verstandes, der sogenannten Gebildeten" (also alle, deren Einstellung er seit Jena als „Atheismus der sittlichen Welt" bekämpft) und den „isolierten" Priesterstand" der Philosophie unterscheidet, erweckt dagegen den Eindruck, als ob Hegel durch den Vergleich seiner Epoche mit der profanen, privatistischen römischen Kaiserzeit ausdrücken möchte, daß für Gebildete und Volk „Sittlichkeit" und Einheit von Religion und Sittlichkeit zerfallen sind (Phil. d. Rel. SW XVI, 354ff.). Dieser Schlußfolgerung scheint zu widersprechen, daß Hegel, gerade wenn er die Gefährdung des Christentums in seiner Zeit beschreibt und seine eigene Epoche mit der nur noch am Privaten und am Genuß orientierten römischen Kaiserzeit vergleicht, von der philosophischen Versöhnung behauptet, sie sei nur „partiell ohne äußere Allgemeinheit" (Phil. d. Rel. SW XVI, 356), die Philosophie habe es der zeitlichen und empirischen Gegenwart zu überlassen, „aus ihrem Zwiespalt" herauszufinden (ebd.); dies sei wenigstens nicht die „unmittelbar praktische Sache und Angelegenheit der Philosophie" (ebd.). Zwar ist die Versuchung groß, hieraus „Resignation und Rückzug ins Private"
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Gemeinde der Gläubigen im Grunde die Aufgabe, „sich als solche überflüssig zu machen: ihre Errungenschaft der Freiheit und Gleichheit, das Bewußtsein der Absolutheit des Menschen als Geist kann von ihr nicht bewahrt und realisiert werden, weil sie zu sehr ,Religion* ist"565, so ist angesichts der christlichen Vorbedingungen des Staates aber auch Hegelsche Lehre, daß sich noch in der Verweltlichung die Christlichkeit des Christentums erfüllt. Philosophie und Politik erhalten bei Hegel nicht gegen die Religion recht, wie G. Schmidt zu meinen scheint566, sie erhalten nach ihr recht, wie es Weil und Löwith schon behauptet haben, und sie erhalten nach ihr recht, weil sie für Hegel ihr Recht nur mit ihr erhalten können. Hegels Lehre von Staat und Religion beweist sein Begreifen der eigenen Zeit somit nicht weniger als seine nach rechts und links vermittelnde Staats- und Gesellschaftsphilosophie. Wieder geht es um die Vereinigung eines die Zeit in der Tat beherrschenden Gegensatzes, wenn noch erstrebte Anerkennung des Christentums und doch nicht zu leugnende Verweltlichung des Glaubens auf eine sie, hinter ihrem Rücken, verbindende Einheit zurückgeführt werden sollen. Anders als seine linken Schüler will Hegel damit noch in der Lösung der Welt von ihrem christlichen Ursprung die christlichen Bedingungen der Herkunft bewahren, anders als die Rechtshegelianer erkennt er jenen mächtigen
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abzulesen (so Riedel 1965, 214). Dennoch scheint uns eine Deutung angemessener, welche auch in dieser Äußerung noch den Anspruch auf die Versöhnungsleistung der Philosophie erkennt. Denn einmal möchte Hegel wohl nur in Konsistenz zu seiner sonstigen Lehre ein „unmittelbares" Praktischwerden der Theorie (z. B. in Form einer Platonischen Philosophenherrschaft, siehe Scheit 1973 257f.) abweisen, andererseits könnte die „partielle" Versöhnung sehr wohl auf die fehlende Allgemeinheit des philosophischen Bewußtseins gemünzt sein, eines auf wenige Personen beschränkten Wissens („isolierter Priesterstand", Phil. d. Rel. SW XVI, 354), das als Wissen gleichwohl um die gelungene Versöhnung weiß! Dort heißt es ja auch: „Diesen Mißton (den Untergang der christlichen Gemeinde, H. O.) hat für uns die philosophische Betrachtung aufgelöst" (op. cit. 355). Wie auch immer gefährdet die Religion ist, wenn Gebildete und Volk von ihr abfallen, die Philosophie kann (so ließe sich folgern) zwar nicht direkt praktisch, aber als auch nicht unpraktische Theorie die schon geschichtlich erreichte Identität von Religion und Vernunft bewahren (und es getrost der zeitlichen Gegenwart überlassen, „aus ihrem Zwiespalt" herauszufinden). Scheit 1973, 266. Schmidt betont zu sehr die „prinzipielle Unmischbarkeit" von Religion und Staat bei Hegel (Schmidt 1966/67, 297, ähnlich 295), während er die fundamentale Verträglichkeit nur einmal andeutet (op. cit. 309). Er übersieht, worauf Maurer sich berufen könnte, daß Hegel (trotz aller frühen Kritik am Christentum, die Maurer freilich verschweigt) immer um die Vereinigung von Religion und Politik als sich wechselseitig beeinflussenden Elementen eines lebendigen Volkslebens gerungen hat.
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Prozeß, der das Christentum in der Moderne zu gefährden beginnt, gerade weil es mehr und mehr Teil einer ihre geschichtlichen Bedingungen vergessenden Welt geworden ist. Hegels „politischer Protestantismus" läßt sich folgerichtig weder auf die linkshegelianische Form eines die „Reformation" in die „Reform" und die „Kirche" in die „Schule" verwandelnden Politisierens reduzieren567, noch kann die von Hegel selbst konstatierte Verweltlichung der Religion jene Fundierung des Staates oder jene orthodoxe Religiosität problemlos leisten, die so mancher Rechtshegelianer oder Hegelianer der Mitte mit Hegel aufrechterhalten möchte. Im Lichte der zweiseitigen Beziehung von Religion und Politik-Philosophie leuchtet ein, daß Hegel keine unmittelbare Übertragung allgemeintheologischer (oder gar protestantischer) Kategorien auf Institutionen vorgeworfen werden kann; gegen eine solche „politische Theologie" ist seine Christentum und Verweltlichung vereinende Philosophie gefeit. Andererseits verstehen wir nun beides zugleich: warum Hegel den Begriff der „Säkularisierung" nicht verwendet und warum es doch erlaubt sein muß, mit diesem Begriff gegen ihn zu denken. Hegel konnte ihn in des Wortes ursprünglicher Bedeutung, die immer mit dem Sinn einer „illegitimen" Emanzipation von Kirche und Glauben verknüpft war, nicht benutzen, weil er keineswegs die „Legitimität der Neuzeit" bestreiten wollte. Ganz im Gegenteil! Er versuchte, „die Wirklichkeit dieser Welt" als die „Verwirklichung ihres christlichen Ursprungs" zu deuten, er wollte sogar in dieser Verwirklichung die „gegenwärtige Christlichkeit" der Welt erblicken568. Und doch lag darin mehr an illegitimer Verweltlichung des Glaubens, als es der Glanz der Versöhnung zunächst erwarten läßt. Denn mit seiner dialektischen Christianisierung der sich säkularisierenden Welt mutet Hegel dem Christentum die paradoxe Anstrengung des Begriffs zu, seine eigene Auflösung als seine Erfüllung zu feiern, und dies noch mit dem Hinweis auf einige der schon bereitstehenden Testamentsvollstrecker 567
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Prototypisch für diese linkshegelianisch weitverbreitete Einstellung war sicher Rüge. Das Wortspiel von „Reformation" und „Reform" bei A. Rüge, Preußen und die Reaktion, Leipzig 1838, 92; die Verwandlung der „Kirche" in die „Schule" in: „Die Selbstkritik des Liberalismus", DJ (1843), 11; zit. nach McLellan 1974, 31. So Lübbe (H. Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, Freiburg-München 1965, 38), der Hegels Selbstverständnis ganz ausgezeichnet umschreibt und wohl auch als erster erkannt hat, daß Hegel den Begriff „Säkularisierung" aus gerade diesem Grund nicht verwenden kann. Lübbe definiert die ursprüngliche Bedeutung von Säkularisierung zu Recht durch Illegitimität im Sinne eines „aus politischen Gründen gewollten, oder, auf der anderen Seite, beklagten Raubes" (op. cit. 28) oder als „illegitime Emanzipation von Gütern aus kirchlicher Aufsicht und Sorge" (op. cit 38).
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wie Staat, Bildung oder Philosophie, die in der Welt soviel besser bewahren werden, was dem Christentum nur Sache des Gefühls und der Vorstellung bleibt. Hegel, der „politische Protestant", könnte uns ein fast ideales Modell der Beziehung von Religion und emanzipiertem Staat überliefern. Hegel, der Philosoph, läßt uns dafür mit einem hohen Preis bezahlen, wenn er die Feier seiner eigenen Zeit letztlich auf Kosten der christlichen Versöhnung bestreitet569.
6.2.4. Politische Hermeneutik und regressive Dialektik (O. Marquard) Neben der theologisch-politischen Interpretationsrichtung im Stile von Rohrmoser und Maurer läßt sich eine Strömung in der Ritter-Schule feststellen, welche durch eine Hermeneutisierung Hegels570 den Einwänden gegen die Subordination des Individuums unter ein sich akkommodierendes System entgegentritt. Die „Prozeßbremsung", die Bloch dem antiquarischen Hegel vorwarf und die wir aus der philosophischen Aufhebung des Christentums hervorgehen sahen, stößt auf den Einspruch von Marquard, der die Hegeische Kritik am Sollen von einem Faktor der Akkommodationstendenz in den einer liberalen Progressivität zu verwandeln sucht. Marquard wendet sich ganz zu Recht gegen die lang verbreitete Sicht der kontinuierlichen transzendentalphilosophischen Genealogie von „Kant zu Hegel" (Kroner), welche Hegels Absage an die Transzendentalphilosophie übersieht. Als Sollen s-Kritik ist Hegels Philosophie beides zugleich: Hermeneutik dessen, was ist, und Kritik der postulierenden praktischen Philosophie im Stile Kants und Fichtes571. Dabei darf aber Hegels Hermeneutik nicht mit der neuen verwechselt werden, noch darf die Abkehr von der Transzendentalphilosophie als Zeichen einer Heiligsprechung des Faktischen gelten. 569
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Hier wäre noch viel über das Allerweltswort „Säkularisierung", über den in der protestantischen Theologie weiterlebenden Hegel und über eine genauere Verhältnisbestimmung von objektivem und absolutem Geist zu sagen. Eine weitere Klärung bringt noch die Diskussion von Theunissen (IV. 7.). Ansonsten muß auf den zweiten Band verwiesen werden, der Recht und Unrecht der Hegeischen „Säkularisierung", Löwiths populäre Version dieses Vorwurfs, Blumenbergs brillante Verteidigung der „Legitimität der Neuzeit" und die vom theologisch-politischen Ansatz nicht zureichend erfaßte Rolle der Hegeischen Philosophie weiter differenziert. Den Begriff „Hermeneutik" hatte auch schon Ritter für Hegel verwendet, z. B. Ritter 1961, 266 Fußnote, ebenso Rohrmoser 1961, 85. O. Marquard, Hegel und das Sollen, in: Philosophischesjahrbuch 72. Jg. (1964/65), 107.
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Wenn die neuere Hermeneutik von Heidegger (seiner hörigen, vernehmenden, andenkenden Haltung vor dem Leben, vor Gott, vor dem schenkenden und sich zuschickenden Sein) bis zur Sprachanalyse eine sich dem Faktischen unterwerfende Philosophie ist, so ist Hegels „Hermeneutik" eine andere, ein Verstehen der geschichtlichen Welt, welches das bloß Gegebene entschieden verwirft. Nicht nur die üblichen Argumente im Sinne Ritters und seiner Schüler (Hegels Aufnahme der Revolution, sein Begreifen der Gesellschaft, sein theologisches Denken), sondern die verbleibende Nähe zur Transzendentalphilosophie soll die kritische Distanz zum Faktum garantieren. Erst als „vermitteltes" Moment darf das Gegebene auf Anerkennung rechnen572. Soweit das Sollen dem Freiheitszweck harmoniert, gibt es für Hegel gar nichts, was an ihm zu bemängeln wäre. Gegen das „Nichtige" hält das Sollen allemal das „Wesentliche" im Endlichen fest573. Kritik am Sollen wird Hegels Denken erst dort, wo die Transzendentalphilosophie sich un-hermeneutisch weigert, ihr Sollen an das Sein zu binden. Hegel wollte die Freiheit als „Zweck" weder dem Fichteschen unendlichen Streben noch einer zeitlosen Norm oder einem ansichseienden Wert anvertrauen. Der Fichtesche Progreß perpetuiert nur den Widerspruch zwischen Sollen und Freiheitsverwirklichung, eine Ethik zeitloser Normen verwandelt praktische Probleme in Tatsachenfragen, eine materiale Wertethik löst die Verwirklichung von Freiheit von der Norm selbst ab. Als an Verwirklichung von Freiheit eminent interessierte Philosophie kann Hegels Theorie keine Trennung von Freiheit und Wirklichkeit dulden, welche zur „Realisierungsunempfindlichkeit" für Freiheit führt. Deshalb bezieht sie anders als die Transzendentalphilosophie Freiheit auf den geschichtlichen Stand ihrer Realisierung zurück. Sollenskritik ist demnach Abwehr der Gefahr, welche der Freiheit durch ihre unschuldigen Apologeten droht. Indem sie in ihrem überspitzten Sollen Freiheit und Wirklichkeit trennen, geraten sie unter den Zwang, das bereits bestehende Freiheitsniveau in ihrem Wirklichkeitsbegriff zu unterbieten. Es entsteht ein Klima übertriebener Sorge über den Zustand der Realität, welche den „äußersten Fall" zum „Normalfall" erhebt und die Realität normativ verzerrt. Hegel aber möchte, jenseits 572
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Zwar mag Hegels Philosophie noch der Transzendentalphilosophie als „Vermittlungsforschung" ähneln, aber wie Marquard dazu kommt, Hegel einen Primat der praktischen Vernunft oder ein deduktives (!) Denken als Nähe zu Kant und Fichte zu unterstellen, bleibt unerfindlich (op. cit. llOf.). Logik SW IV, 155/156.
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von „Verleugnungszwang und Regressionseffekt"574, die Wirklichkeit deskriptiv, als schon Erreichtes verstehen, ohne sie wie die neuere „Hermeneutik der Faktizität" zu glorifizieren oder wie die Transzendentalphilosophie einer Regressionsgefahr auszusetzen575. Marquard kann formulieren und brillieren wie die meisten Ritter-Schüler. Da ist gar kein Zweifel. Von nun an muß beim Thema Sollenskritik differenziert werden zwischen dem von Hegel noch zugelassenen Sollen und der höchst ehrenwerten Absicht, die Freiheit vor der Regression zu bewahren. Aber Marquards Umwandlung eines Mangels in einen Vorteil hat doch etwas von einer augenzwinkernden Roß täuscherei. Nicht nur daß er am Ende selbst das Gefühl hat, die Bedingungen zu formulieren, unter denen er heute noch Hegelianer sein kann (das Nicht-Hegelianer-Sein sei noch schwieriger)576, es wird auch nicht ganz einsichtig, warum ein so ehrenwertes Motiv wie die Abwehr einer Regressionsgefahr schon für die Unverfänglichkeit der Resultate zeugen soll. Was „nach" der Sollenskritik passiert, erfahren wir nicht mehr. Da der Zusammenhang von Sollenskritik und Staatslehre oder die Aufhebung der Autonomie-Moral in die zweideutige Sittlichkeit bei Marquard nicht mehr erscheint, wollen auch wir nicht kleinlich sein und uns erst auf dem Niveau der Hermeneutik fragen, ob nicht Hegels Stellung zur Transzendentalphilosophie doch weit eher prozeßbremsende als regressionsabwehrende Resultate erzeugt, ob Hegel also nicht doch Arm in Arm mit dem Hermeneutiker der Faktizität gesehen werden muß, was die prinzipielle, nicht nur andächtige, sondern begriffliche Verbeugung vor dem Gegebenen angeht. Der Entschränkungsprozeß der Kantischen Vernunft, an dessen Ende Hegel steht, hat doch der Philosophie wieder eine Meta574 575
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Marquard 1964/65, 115. Eine eindrucksvolle Anwendung der regressiven Effekte gibt, wohl im heimlichen Blick auf Carl Schmitt und die Weimarer Republik, Martin Kriele, der das „abstrakte" Sollen als Brandstiftung verdächtigt, der gegenüber Hegel den Staat als Feuerwehr einsetze. Ist die Welt einmal in Brand gesteckt, dann wird sich in Bürgerkrieg und Revolution der Staat nicht mehr durchsetzen können, sondern die gesetzlich gesicherte Freiheit wird den Parteien ausgeliefert oder dem „starken Mann". Es können sogar jene auftreten, die den Brand erst legen, um vom Feuerwehrhauptmann zum Diktator des Ganzen zu avancieren. „Die Feuerwehr als Brandstifter" ist allerdings nicht, was Kant und Fichte wollen, die sozusagen eine „fahrlässige" Brandstiftung begehen, wenn sie in relativ vernünftigen Zuständen den Konflikt Subjekt-Staatsmacht heraufbeschwören. „Hegel hält offenbar auch eine regressive Dialektik für möglich, nämlich ein Zerfallen des schon Vermittelten und Versöhnten in seine abstrakten Bestandteile . . .", M. Kriele, Regressive Dialektik, in: Hegel-Jahrbuch 1968/69, W. R. Beyer (Hrsg.), Meisenheim/ Glan 1970, 286ff., 287. Marquard 1964/65, 119.
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physik beschert, die nicht mehr die Bedingungen möglicher Erfahrung und das Faktum des Sittengesetzes oder die die Welt erzeugende Tathandlung bedachte, sondern sich auch als Metaphysik der empirischen Welt verstand, jener Welt, die Kant nur in der praktischen Philosophie, Fichte nur bis zur Grenze des undeduzierbaren Nicht-Ich zu denken wagte. In der metaphysischen Theorie der empirischen und geschichtlichen Welt folgt der Sollenskritik aber mit eiserner Notwendigkeit die metaphysische Rechtfertigung bestehender und empirischer Gestalten, eine Rechtfertigung, die nicht das Bedürfnis nach Veränderung im Namen zu realisierender Vernunft, sondern das Bedürfnis nach nachträglicher Legitimation speist. Statisch wird diese Metaphysik tendenziell durch die Überschätzung der Gegenwart, welche ihr ein Verwirklichtsein der Vernunft zutraut, von der den Menschen nur „die Fessel irgendeines Abstraktums" trennt, „das nicht zum Begriffe befreit ist"577. Die Ausschaltung des Sollens wendet sich nicht nur gegen die regressive Dialektik, sie fungiert mehr noch als Abwehr von Veränderung, Kritik und Praxis. Genausowenig wie die bloß abstrakten Postulate sich aber schon dadurch als rationale ausweisen, daß sie gegen das Bestehende anrennen, ebensowenig hat das Bestehende schon Vorrang vor allem Sollen, weil in ihm eine Regressionsgefahr verborgen liegt. Der liberale Sinn der Regressionsabwehr kippt letztlich um in die prozeßbremsende Verhinderung von Progression. Hegels Hermeneutik nähert sich am Ende doch der Heideggerschen Unterwerfung unters Gegebene. Hält man sich an Gadamers Begriff der Hermeneutik, ist der Ausdruck für Hegel sowieso nicht glücklich gewählt, da die hermeneutische Erfahrung an die Offenheit des Zirkels unabdingbar geknüpft ist, Hegels absolute Reflexion den Zirkel aber schließt, indem sie die Endlichkeit des Bewußtseins, die conditio sine qua non eines jeden „Dialogs" zwischen Vergangenheit und Gegenwart, aufhebt, und, vereinfacht gesagt, durch den Monolog der Hegeischen Gegenwart mit der Vergangenheit ersetzt578.
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Rph 1821, SW VII, 35. H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 21972, 324ff. Diese Tendenz habe ich für die Phänomenologie zu zeigen versucht, Ottmann 1973, 211 ff.
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6.2.5. Politische Antithetik und „gezielter Mangel an Radikalität" (H. Lühhe) Ähnlich raffiniert wie Marquard verwandelt Lübbe Hegels Staatslehre „hermeneutisch". Aus dem Zauberhut der Hermeneutik zieht er eine pragmatische Politik hervor, die den Liberalen von heute noch immer als ideologisches Marschgepäck mit auf den Weg gegeben werden kann. Wie es Marquard und Kriele schon bewiesen haben sollen, beruhe Hegels Politik auf dem „Grundsatz widerlegbarer Vermutung für die Vernünftigkeit des Bestehenden"579, einem Prinzip, das um die Folgen einer politisch postulierenden Theorie pragmatisch besorgt sei, ohne eine Apologie des status quo zu intendieren. Aber während sich Marquard und Kriele auf die schmale Grenze der hermeneutischen Vermutung von Vernunft zurückzogen, erkennt Lübbe wenigstens die Institutionen, die sich beim besten Willen nicht mehr einer heutigen Demokratietheorie einpassen lassen. Die Formel von der „stilistisch konservativen" und „inhaltlich progressiven" Rechtsphilosophie versucht so, die Ambivalenz des politischen Standorts zu umreißen580. Wie bei Gregoire verdankt sich auch bei Lübbe die mehrfache Inanspruchnahme Hegels durch verschiedene Ideologien den einseitigen Leseweisen. Eine „gemäßigte" Fortschrittlichkeit könne die Emanzipation des Eigentums und des Glaubens bezeugen, die keineswegs zur Forderung nach Abschaffung der Majorate oder nach einer vollständigen Trennung von Kirche und Staat führt, aber auch die Einbringung der Volkssouveränität, die Hegel dennoch am Zweikammersystem festhalten läßt. Als Bausteine einer antidemokratischen Theorie der Untertanengesellschaft sind die Kritik am Volk, das Liebäugeln mit der Zensur und die Ständelehre verdächtig. Hegel setzt sich dem Ideologieverdacht aber nur deshalb aus, weil er selbst noch in einem liberalen Ausgleich zusammenhält, was seine Nachfolger trennen. Der hermeneutische Schlüssel verbirgt sich in der ausgleichenden Versöhnung, die sich durch drei „Vermutungen" erschließt: die auf „politisch seitenneutrale Wahrheiten", die auf „pluralistische Fülle" und, schließlich die wichtigste, die auf einen „gezielten Mangel an Radikalität"581. Hegel riskiert die Mehrdeutigkeit und Inkonsequenz be579
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H. Lübbe, Hegels Kritik der politisierten Gesellschaft, in: Schweizer Monatshefte 47. Jg. Heft 3 (1967), 240. op. cit. 241. op. cit. 239.
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wußt, um die Entideologisierung herbeizuführen, ohne die pragmatische Politik nicht durchführbar sein kann. Freiheit in der Gesellschaft und Stände, Pressefreiheit und Zensur, Volkssouveränität und Zweikammersystem sind Gegensatzpaare einer gezielten Antithetik, deren Aufgabe es ist, die durch Gesellschaft und Revolution herbeigeführte Freiheit vor politisch radikaler Vernichtung zu bewahren. Diese würde nämlich vor allem dann eintreten, wenn die Gesellschaft „unmittelbar" politisiert würde, ohne daß Vermittlungsinstanzen ihren privaten oder innerlichen Freiheitsraum achten. Lübbes Pragmatisierung der Hegeischen Staatslehre ist noch einen Grad raffinierter als Marquards Hermeneutik. Denn jetzt müssen auch noch die antidemokratischen Züge der Hegeischen Politik um der Sachneutralität, des Pluralismus und des Mangels an Radikalität willen vom Leser anerkannt werden, auch wenn er sich gegen politische Tendenzen dieser Art sträuben möchte. Hegel hat eine unmittelbare Politisierung der Gesellschaft sicher nicht weniger abgelehnt als eine direkte Vergesellschaftung des Staates. Aber die unbezweifelbare Doppelsinnigkeit der sozio-politischen Lehre darf nicht mit dem Schutzwall hermeneutischer Vermutungen den Freibrief für eine Antithetik erhalten, in der die Kritik am Volk als vulgus, Zensur und Ständelehre sich unversehens in ehrenwerte Leitlinien einer pragmatischen Politik verwandeln. Die Gegensätzlichkeit der Hegeischen Politik, wie sie in der Rechtsphilosophie auf Schritt und Tritt begegnet und in der Tat eine seltene Mischung über den preußischen Staat hinausweisender und zugleich hinter der Zeit zurückbleibender Institutionen enthält, bleibt eine crux der Hegelforschung, nicht eine hermeneutische Glanzleistung. Sie zwingt dazu, wie Lübbe es unternimmt, nach übergreifenden Tendenzen zu suchen. Diese lassen sich aber nicht einfach auf den Nenner der Bewahrung gesellschaftlicher, bürgerlicher oder revolutionärer Freiheit bringen. Lübbe solidarisiert sich noch zu sehr mit Ritters Gewichtung der Gesellschaft, um die andersartige konkrete Freiheit des politischen Lebens als sozio-politisches Vermittlungsproblem bei Hegel ernst zu nehmen. Zwar beruht die Vermittlung von Gesellschaft und Staat auf dem heute noch unüberholten Strukturmodell einer gleichzeitigen Trennung und Beziehung beider Sphären; soweit muß man wohl mit Rohrmoser, Maurer und Lübbe gehen. Aber wie das Prinzip widerlegbarer Vermutung von Vernunft noch keine Prozeßbremsung verhindert, so muß die Kritik der unmittelbaren Politisierung der Gesellschaft keine Garantie für das Gelingen der indirekten Politisierung beinhalten. Insofern sie mit der Zensur
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zweideutig liebäugelt, die Volkssouveränität verdammt und dem Bürger eine Ständelehre verschreibt, treibt sie den Teufel der Politisierung mit dem Beelzebub der Freiheitseinschränkung aus582.
6.2.6. Geschichtsphilosophie und pragmatische Politik (H.-M. Saß, H. Lübbe) Aus dem gleichen Geist der hermeneutischen Entideologisierung Hegels, der Lübbe den „stilistischen" Konservatismus der Rechtsphilosophie auf eine freiheitsbewahrende Pointe bringen läßt, wird auch die Einsicht geboren, welche in der Geschichtsphilosophie Hegels nicht eine Marionettentheorie, sondern die Bedingung der Möglichkeit pragmatischer Politik zu erkennen glaubt. Die Geschichtsphilosophie, welche den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit begreift, hat nach Saß eine appellative Funktion. Sie macht das geschichtsphilosophische Wissen publik, mit der Konsequenz, daß der Einzelne „enthusiasmiert" wird, „sich als Wissender und Vernünftiger zu verhalten und diese Einsicht durch seine politische Tätigkeit zu manifestieren"583. Immerhin konzediert Saß, daß die Rechtsphilosophie diese „pragmatische Strategie des Fortschritts" nicht offenbart, sondern daß sie erst in der Geschichtsphilosophie „theoriefähig" wird584; aber im Rückweg über die geschichtsphilosophische Einsicht in den Stand der Vernunft 582
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584
Freilich dreht man sich hier schnell im Kreis, da die Lübbesche Antwort die Freiheitseinschränkung natürlich wieder als freiheitsbewahrende Hermeneutik deklarieren kann. Aber -wenn man der langen Liste der freiheitlichen Institutionen der Hegeischen Politik (vom Schwurgericht über die Öffentlichkeit der Rechtspflege bis zu den Menschenund Bürgerrechten sowie der prinzipiellen Rechtsstaatlichkeit u. s. f.) die nicht minder lange Liste der antithetischen Einrichtungen kontrastiert, die de facto länger ist als bei Lübbe (sie schließt u. a. ein: eine Deduktion des Monarchen aus der „Natur" der Erbfolge, Rph 1821, SW VII, §§ 279, 280; eine Ablehnung des allgemeinen Wahlrechts, op. cit §§ 281 A, 305; die Behauptung, Verfassungen würden nicht „gemacht", op. cit. §273 A; eine dunkle Gewaltenteilung, die nicht aus ihrer Kontrollfunktion begründet wird, op. cit. § 302; ein Assoziationsrecht, das nicht aus der Natur des Einzelnen abgeleitet ist, siehe G. Heimann, The sources and significance of Hegel's corporate doctrine, in: Pelczynski 1971, l l l f f . ; die mehrfach erwähnten Phänomene des „äußeren Staatsrechts" und so manches andere), — dann fällt es doch von einem gewissen Punkt an schwer, mit dem Mantel liberalen Verzeihens zuzudecken, was sich nicht nur antithetisch-freiheitsbewahrend (dies sei gar nicht geleugnet), sondern in vielem auch einseitig-freiheitsgefährdend auswirken muß. H.-M. Saß, Das Verhältnis der Geschichtsphilosophie zur politischen Praxis bei Hegel, in: Hegel-Jahrbuch 1968/69, W. R. Beyer (Hrsg.), 62. op. cit. 63.
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Joachim Ritter und seine Schule
führt der Appell zum „systemkonformen" Verhalten, welches den Staat, auch wenn er noch nicht völlig vernünftig ist, zu einem vernünftigen werden läßt, wenn der Appell in vernünftiges Handeln der Einzelnen umgeschlagen ist585. Saß bleibt damit immer noch auf der Linie von Marquard und Kriele. Der vermuteten Vernunft der Zeit soll über den Umweg des Appells eine ihr adäquate Praxis verschafft werden. Hegels Politik wäre demnach wahrhaft „pragmatisch", weil sie quasi durch ihre Appelle das (protestantische) „Gewissen" öffentlich werden läßt und zu einer „Kritikstrategie" ermuntert, ohne es zum unmittelbaren (und damit unpragmatischen) Praktischwerden der Theorie zu verleiten, das hinter den Stand schon erreichter Freiheit zurückführen könnte586. Aber obwohl Saß schon von vornherein erst über die Geschichtsphilosophie seine appellative Politik „theoriefähig" werden sieht587, auch über die geschichtsphilosophische Brücke läßt sich Hegels Lehre von Sittlichkeit und Staat nur dann in eine aus Gewissensansprüchen, Kritik und Appell bestehende Politik verwandeln, wenn man Hegel mit einem gemäßigten Bruno Bauer, oder noch eher mit einem Rüge588, die Plätze tauschen läßt. Was Saß beschreibt erinnert mehr an den Verbalradikalismus der Linkshegelianer als an Hegels Begreifen der Versöhnung. „Systemkonformität" erhält unter den Bedingungen eines sich tendenziell akkommodierenden Systems doch einen anderen Beigeschmack, als es Saß' pragmatisch-neutrale Verwendung des Begriffs ausdrücken kann. Appellatives Politisieren war Hegel so fremd wie ein Postulieren im Stile Kants oder Fichtes. Die Theorie, die sich im Besitz der gegenwärtigen Vernunft wußte, bedurfte nicht des Aufrufs, der erst noch ihre Durchsetzung fordert. Aus der Not der direkten politischen Abstinenz der Hegeischen Geschichtsphilosophie, macht auch Lübbe die Tugend einer liberal-pragmatischen Politik. Der geschichtsphilosophisch indirekte Appell zur Systemkonformität wird zur ideologischen Enthaltsamkeit einer Philo585
op. cit. 64, 72. H.-M. Saß, Emanzipation der Freiheit. Hegels Rechtsphilosophie als Strategie pragmatischer Politik- und Rechtskritik, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Bd. LIII, Heft l (1967), 257ff. 587 Kritik kann für Saß selbst nur als institutionalisierte objektiv werden; daß sie als solche in Hegels Rechtsphilosophie nicht vorkommt, wird wieder konzediert (op. cit. 270). see Wenn schon nicht ganz Bauers „reine Kritik" (die Saß einmal von Hegels „konservativpragmatischer Kritikstrategie" abgrenzt, H.-M. Saß, Nachwort zu Bruno Bauer, Feldzüge der reinen Kritik, Fft. a. M. 1968, 225ff.), so trifft Saß' Modell doch Ruges „Kritik als öffentlich räsonierende Publizistik" (Saß 1967, 264) eher als Hegel. 586
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sophie der Geschichte, die sich totalitärer Besetzung entziehen soll. Die Argumentation vollzieht sich im Dreischritt: 1. Hegels Philosophie der Weltgeschichte kennt kein sozial oder politisch identifizierbares individuelles oder kollektives Subjekt589, 2. damit kann sich niemand als „wissender Vollstrecker der Geschichte" aufspielen590, so daß 3., nach der Abwehr totalitärer Ansprüche, der Bürger und der Hegelianer sich der „entfremdeten" Existenz erfreuen können, für welche die besonderen Interessen besondere sein dürfen und für die doch eine Theorie erklärt, wie Fortschritt stattfindet591. „Geschiehtsplanverwalter" haben sich politisch allemal als „Monopolverwalter" universalgeschichtlicher Legitimität verstanden, die im ideologischen horror vacui auch die Felder des intellektuellen Globus mit Theoremen besetzten, die ein nicht-totalitärer Denker weiß lassen wird592. Ob der Führer die Vorsehung für sich reklamiert oder das Proletariat das Rätsel der Geschichte löst, macht da in der Tat wenig Unterschied. Im Prinzip läßt sich dieser Totalitarisierungsverdacht auch fruchtbar auf die Hegel-Schulen beziehen, von denen die nationalsozialistischen Rechtshegelianer und alle Linkshegelianer in gleicher Weise sich im sicheren Besitz des Geschichtsziels glaubten. Aber kann Hegel ein Zeuge für jene bescheiden pragmatische Geschichtstheorie sein, welche kein Subjekt den Thron des absoluten Wissens besteigen läßt? Eine Antwort muß hier wohl nicht eindeutig (wie bei Lübbe), sondern ambivalent ausfallen. Einerseits stattet Hegel kein politisches, soziales oder individuelles Subjekt mit einem Vor-Wissen des Geschichtsziels aus, das ihm das Telos seiner Handlungen vorgäbe, andererseits gibt es doch ein Subjekt der Geschichte, den Weltgeist, eine Instanz, der von der Philosophie ihre Vernünftigkeit bescheinigt wird. Damit enthält sich Hegels Geschichtsphilosophie zwar potentiell-totalitärer Einmischung in die besonderen Interessen der Individuen, Völker und welthistorischen Größen, zugleich aber beansprucht sie theoretisch, was dem Skeptizismus einer liberal-pragmatischen Politik immer noch als Hybris erscheinen müßte und sollte, ein der Philosophie zugängliches Wissen um den Geheimplan der Geschichte. Die Philosophie droht zu verspielen, was schon gewonnen schien, die Freiheit von Ideologie. Denn was von den Philosophen als den „Mysten" 589 590 591 592
H. Lübbe, Geschichtsphilosophie und politische Praxis, in: Kaltenbrunner 1970, 120. op. cit. 126. op. cit. 132. op. cit. 116.
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Hegels Politik als „christliche" Emanzipationsphilosophie
erfaßt wird, welche die „Kabinettsordres gleich im Original" schreiben dürfen593, läßt sich, ist es erst einmal ausgesprochen, dann auch politisch anwenden. Hegel entzieht sich noch im Namen der Theorie der Propagierung dieser „ordres", seine linken Schüler haben ihre Einweihung in die Geheimnisse der Geschichte politisch-ideologisch umgesetzt, egal ob sie mit verbalradikalen Proklamationen oder mit praktisch-revolutionärem Pathos nach der Herbeiführung des Geschichtsziels verlangten. Das Umschlagen der reinen in die kritische Theorie, der theoretischen Abstinenz von Leidenschaft und Interesse in die leidenschaftliche Aktion und emanzipatorisch interessierte Ideologie wurde aber erst möglich auf dem Boden des absoluten Wissens, auf dem die Geschichtsphilosophie der Hegelianer von Cieszkowski bis Marx sicher zu stehen glaubte. Im absoluten Anspruch der Hegeischen Theorie war der Sturm schon enthalten, den seine Schüler als Wind der Geschichte in ihrem Rücken fühlten.
7. Hegels Politik als (weder revolutionäre noch reaktionäre) „christliche" Emanzipationsphilosophie (M. Theunissen) In der Ritter-Schule fanden wir eine ähnliche Tendenz wie in Frankreich und in den angelsächsischen Ländern, eine Kongruenz der Deutungen in der Liberalisierung und Demokratisierung Hegels, die ihn für die Belange pragmatischer liberaler Politik (Marquard, Kriele, Lübbe, Saß) oder für die Zwecke einer Erneuerung der Theologie (Rohrmoser) oder für beides in einem zu aktualisieren suchte. Eine gewisse, vielleicht endgültige Steigerung erfahren diese Versuche in der nuanciert formulierten Auslegung von Theunissen, in der die theologisch-politische Deutung kulminiert. Ein Ausgleich, der Hegel nach rechts und links geschickt verteidigt, läßt den christlichen Denker die Freiheit fordern, die wir nach Theunissen wohl heute meinen sollen, er läßt ihn die vergangenheitslose Praxis ablehnen, die den Menschen zum Ursprung seiner eigenen Geschichte macht. 593
Die schöne Passage wehrt den Vorwurf der Abstraktheit für die Philosophien ab, die Hegel in der Geschichte der Philosophie entfaltet. „Nein! Nein! Es sind Taten des Weltgeistes, meine Herren, und darum des Schicksals. Die Philosophen sind dabei dem Herrn näher, als die sich nähren von den Brosamen des Geistes; sie lesen oder schreiben diese Kabinettsordres gleich im Original: sie sind gehalten diese mitzuschreiben. Die Philosophen sind die , die beim Ruck im innersten Heiligtum mit und dabei gewesen; die Anderen haben ihr besonderes Interesse: diese Herrschaft, diesen Reichtum, dies Mädchen." Gesch. d. Phil. SW XIX, 96.
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Theunissen läßt den Lehrer Hegel seine Schüler mit ihren eigenen Waffen schlagen. Wenn Adornos Kritik der identitätslogischen Ursprungsphilosophie und Blochs Vorwurf des Antiquarismus einmal die linkshegelianische Sicht repräsentieren dürfen594, dann nimmt Theunissen ihr Anliegen scheinbar auf, um dann die rückwärts gewandte Tendenz der Hegeischen Philosophie (ihre „archäologische" Richtung) sofort mit der gegenläufigen „eschatologischen" zu komplementieren. Hegels Philosophie ist quasi im Blochschen Sinne „antiquarisch", aber nicht als antiemanzipatorische „Ursprungsphilosophie", sondern als reine, selbstgenügsame Theoria im griechischen Sinn595. Sie ist eschatologisch auf Zukunft gerichtet, aber nicht als anti-religiöse, sondern als „christliche" Emanzipationsphilosophie. Nicht erst die Kritik der Ursprungsphilosophie, die das transzendente Absolute nach Feuerbach in ihr transzendentes System rettet, sondern schon die Archäologie und Eschatologie vereinende Philosophie Hegels enthält eine Theorie der Freiheit, und sie enthält sie, weil sie vom Christentum „das revolutionär-emanzipatorische Interesse"596 erbt. Theunissen führt uns auf das Niveau der Hegelauslegung zurück, auf dem unser Streifzug durch die Geschichte der Hegelschule begann. Nur scheinen sich jetzt die Seiten zu vertauschen! Aus dem Christentum, das bei den Linkshegelianern für die Unmündigkeit des Menschen steht, wird der Freiheitsimpuls, aus dessen Antrieb Hegel die Geschichte des Menschen auf Freiheit zutreiben sieht, freilich nicht auf eine schrankenlose Freiheit ohne geschichtliche Kontinuität. Ritters Insistieren auf der Kontinuität der Geschichte kehrt auch bei Theunissen wieder, nur trägt nicht die Metaphysik (wie bei Ritter), sondern das Christentum (wie bei Maurer) die Verbindung von Vergangenheit und Zukunft. Hegels Theorie blickt zurück, weil sie aus griechischem „zukunftslosem" Denken entspringt, sie weist nach vorn, weil sie in eschatologischer Haltung Zukunft antizipiert, aber eine Zukunft, welche zugleich schon gewesen und gegenwärtig ist. Während die jüdische „radikale" Eschatologie „den totalen Ausstand des Heils annimmt"597, ist die christliche „gemäßigt", weil für 594
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Adorno und Bloch sind zentral als negative Folie, z. B. Theunissen (2) 1970, 24ff., 356ff., aber die historische Palette ist bunter und schließt Habermas (op. cit. 9ff., 388ff., 420ff.), Kojeve (op. cit. 6f.), Marx (op. cit. 335f., 359f.), Lukäcs (op. cit. 4f.) u. a. Linkshegelianer ein. op. cit. 341 ff. op. cit. 9. op. cit. 348.
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Hegels Politik als „christliche" Emanzipationsphilosophie
sie die Wiederkunft Christi schon „die Zukunft des Gekommenen" bedeutet598. Darin aber ist, um eine lange Geschichte kurz zu machen, eingeschlossen, daß Hegel nichts mit der Dialektik von radikaler Utopie und rücksichtslos-revolutionärem (oder fatalistischem) Handeln zu tun hat, Hegel also weder jüdischer Eschatologe noch linkshegelianischer Revolutionsphilosoph ist. Die Kontinuität der Geschichte als Einheit von Archäologie und Eschatologie wahren sowohl die schon in Christus vollbrachte Erlösung als auch der Kultus, der diese feiert. Hegel verkündet das Reich Gottes (nach Theunissen ein Reich „herrschaftsloser" Freiheit599) als schon gekommenes, d. h. modern übersetzt, der Mensch muß seine Geschichte nicht allein aus sich selber „machen". Die Theorie als archäologische weiß um das ewige Insichsein des absoluten Geistes, die Offenbarung in Christus und die seitdem „subjektiv realisierte Versöhnung"600. Gleichwohl schließen die ewige Gegenwart und das faktische Geschehensein der Versöhnung weder Zukunft noch Praxis aus. In der Einheit von Archäologie und Eschatologie verschmilzt die rückschauende Theorie mit der das erwartenden601 auf solche Weise, daß erst im aktiven Nachvollzug der Erlösung durch die Gläubigen das Reich Gottes weltlich-geschichtliche Wirklichkeit werden kann. Die „christliche" Theorie bedarf nicht einer nachträglich aufgepfropften Praxis, sie ist selbst schon praktisch, und zwar als Teil des „Kultus", der die geschehene Versöhnung aktualisiert602, als vollendetes Endstadium der Innerlichkeit, wo dieses „auf dem Sprunge ist, in die weltverändernde Tat überzugehen"603, und als Synthese bewußter Subjektivität und gedachter objektiver Wahrheit, welche es dem Kultus (!) erst ermöglicht, „weltverändernde Praxis" aus sich hervorgehen zu lassen604. Dem philosophischen Denken wohnt der „Trieb" zur Realisierung von zukünftiger Freiheit selbst schon inne. Als nachträgliches monologisches Sichabscheiden aus dem Kommunikationszusammenhang des Lebens geht die Ein598
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Theunissen (ebd.) nach W. Kreck, Die Zukunft des Gekommenen. Grundprobleme der Eschatologie, München 1961, 81 ff. Sinngemäß: Wo Gott herrscht, ist Menschenherrschaft vernichtet, op. cit. 372. op. cit. 379. Dabei kann sich die Einheit griechischen Kreislaufs- und christlichen Entwicklungsdenkens erstellen, weil das Christentum sowohl die Wiederkehr als auch die Entwicklung im Schema der Heilgeschichte als „Angekommensein des Kommenden" enthält, op. cit. 380. op. cit. 392. op. cit. 396. op. cit. 423.
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samkeit der Philosophie aus der Intersubjektivität hervor, zugleich aber bleibt es nicht bei dieser aristotelischen Trennung vom gemeinsamen Leben, sondern der Kommunikationszusammenhang geht durch die Theorie selbst hindurch, da sie selber „Bedingung der Möglichkeit kommunikativen Handelns" wird605. Als Hermeneutik der geschichtlichen Gegenwart kann Theorie „indirekt praktisch" sein, da sie bewußtseinsverändernd wirkt, im Sinne einer Veränderung, ohne die keine Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse denkbar wäre606. In theologischer Distanz zur Praxis verharrend, wird die einsame Philosophie gleichwohl zur indirekt praktischen Veränderung der geschichtlichen Welt607. Theunissens grandiose Perspektive setzt freilich mehreres voraus. Soll den Linkshegelianern die Kritik an der Ursprungsphilosophie und am Akkommodationssystem mit Erfolg verboten werden, dann muß ein relativ orthodoxer Hegel den Linkshegelianismus integrieren, ohne daß sich seine Philosophie in religiöse „Vorstellung" und „Kultus" auflöst. Die Philosophie darf sich nicht anmaßen, was dem Glauben gehört. Weder darf Hegel die schon geschehene Versöhnung begrifflich auf die eigene Zeit projezieren, noch darf die Philosophie die Zukunft ausblenden, die der christlichen Heilserwartung immanent ist. Hegels „absoluter Geist" muß in Geschichte und Welt zugegen sein, ohne zugleich seine Transzendenz zu verlieren. Um es mit einem Satz zu sagen, Hegels System muß mehr orthodoxe Religionsphilosophie als Philosophie sein. Theunissen erklärt das System als Zusammenfluß von Religions- und Geschichtsphilosophie608, aber die Religion avanciert nicht nur zum Muster der Geschichte, in der Theunissen den ewig in sich ruhenden Geist sich zur Welt und Geschichte entäußern, in Christus sterben und auferstehen und von der menschlichen Praxis aktualisiert werden sieht (und zwar so, daß die Spannung von Sich-Wissen des Menschen in Gott und Selbstbewußtsein Gottes im Menschen sich bei Hegel nie in die linkshegelianische Geburt Gottes aus dem menschlichen Selbstbewußtsein löst609), sondern die recht verstandene Orthodoxie wird zugleich noch zur religiösen Korrekturformel des Systems, die freilich als „Selbstkorrektur" 605 606
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op. cit. 405. op. cit. 417f. Damit verlängert Theunissen Fuldas Deutung der reinen indirekt praktischen Theorie (Fulda 1968) in die Abwehr des Monologisierungsvorwurfs von Habermas (und Feuerbach). op. cit. 60. So gegen Bruno Bauer, op. cit. 223.
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deklariert wird610. Ob dem nicht das Gefühl entspricht, daß sich der Philosophie nicht die Zukunft und die Praxis abpressen lassen, die Theunissen der Religionsphilosophie abzwingt? Mit Theunissen (Rohrmoser, Maurer u. a.) muß den linkshegelianischen Kritikern vorgehalten werden, daß ihr emanzipationsphilosophischer Ikonoklasmus sie nötigt, aus dem Bilde Hegels die freiheitlichen Züge zu streichen, welche dort erst durch die christlichen Farben hineingekommen sind. Tod und Auferstehung Gottes in Christus müssen als eine entscheidende Voraussetzung der Geschichts- und Religionsphilosophie erkannt sein, ohne die weder die Entzweiung noch die Versöhnung, noch die Identität des einzelnen mit dem allgemeinen Selbst bei Hegel auf Hegels Niveau nachvollzogen werden können. Hegel war kein Revolutions- oder Emanzipationsphilosoph, der dem Menschen die „Versöhnung" allein in seine eigenen Hände gelegt hätte. Wie der absolute Geist für ihn ewig in sich ruhte, so war für ihn auch durch Christus die Versöhnung an sich vollbracht, so daß Praxis für Hegel Tun des immer schon Getanen sein mußte. Aber ein Gegenzug der linkshegelianischen Kritik setzt von der Nahtstelle ein, an welcher der Kultus (der bei Hegel gewiß ansich geschehene Versöhnung, „vorgestellten" Besitz und praktische „Aneignung" des Absoluten zugleich vereint611) sich in „weltverändernde" Praxis umsetzen soll und doch wieder die Frage sich aufdrängt, ob nicht quasi die Philosophie das Kirchentor versperrt, aus dem Theunissen die weltverändernden Akteure hinausströmen sieht. Es gibt bei Hegel (und nicht nur beim jungen) ja auch die Kritik an der Verbindung von Religion und Politik, so daß man überspitzt sagen könnte, erst die von Religion gereinigte Theorie ist für Hegel politische Philosophie einer stabilen Ordnung. Die von Theunissen selbst eingebrachte Kritik Hegels am Fanatismus, den die Mesalliance Religion-Politik erzeugen kann, steht nicht alleine612. Der Begriff des „Kultus" muß sich, soll er theologisch-politische Folgen haben, zur „weltlichen Realisation der göttlichen Vorsehung" weiten, eine Gefahr, von der Theunissen selbst den notwendigen Überstieg in die Philosophie ableitet613. Aber der Kultus, ob als religiöse Feier der Versöhnung oder „weltliche Realisation der göttlichen Vorsehung", kann auch bei Theunissen die Erklärungslast 610
op. cit. 316.
611
Die praktische Seite des Kultus betonen gleichfalls zu Recht G. Rohrmoser, Atheismus und Dialektik bei Hegel, in: Studium Generale 21. Jg. (1968), 932 und Scheit 1973, 212ff. Theunissen (2) 1970, 412f. op. cit. 413.
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nicht tragen, die ihm aufgebürdet wird. Die Ansprüche der Glaubensgemeinschaft enden, wo die Innerlichkeit aufhört und das Handeln in der Welt beginnt; die Religion, die in der Welt mitreden will, hat dort meist Unrecht614. Durch die weiten Maschen dieses Kultus müssen wieder die konkreten Institutionen fallen, für die sich mittels des christlichen Freiheitsprinzips kein genauer politischer Ort bestimmen läßt. Der Hegeische Staat, der zwar die Freiheit des Christenmenschen ermöglicht, von ihr (indirekt) fundiert wird und sie respektieren muß, spiegelt mitnichten die Gemeinde der vor Gott gleichen und absolut gleichberechtigten Wesen. Zwar ähnelt die formale Rechtsgleichheit der Gleichheit der Gläubigen in der protestantischen Kirche, aber die abstrakte Gleichheit (und Freiheit) hebt Hegel in die konkrete Sittlichkeit des Staates und in die ständische Organisation des Gemeinwesens auf. Die unmittelbare Beziehung Individuum-Gott wandelt sich politisch in die ständische Repräsentation des Zweikammersystems vor dem Monarchen. Hegels Staat ist also keineswegs so „protestantisch", daß die Unmittelbarkeit vor Gott oder die Egalität der Priester und Laien sich in der politischen Ordnung konkret niederschlagen würden. Man könnte eher Rüge recht geben, wenn er (nach seiner anfänglichen Identifizierung von Preußen, Protestantismus und Hegelschem Staat) sich schließlich zu der Einsicht bekehrte, daß Hegels Staat eher „katholisch" ist, sind die Bürger doch nur „Laien", die Beamten die „Priester" der politischen Hierarchie und nur die obersten Behörden und der Monarch quasi im direkten Besitz des „Absoluten"615. Neben die uns schon bekannten Grenzen der theologisch-politischen Hegeldeutung tritt eine weitere Schwäche, auf die Theunissen selbst den Finger legt. Denn das alte Problem, Apotheose des Staates oder Trennung von objektivem und absolutem Geist, läßt sich wenigstens an einem Punkt der Staatsphilosophie, so scheint es, eindeutig fixieren. In der Monarchielehre kehrt sich nämlich der Zusammenhang von Christentum und Freiheit um. Hegel schmückt den Monarchen mit den Insignien göttlicher Macht 614 615
Gesch. d. Phil. SW XIX, 143. Die Einsicht in den „katholischen" Charakter des Hegeischen Staates muß also schon Rüge, nicht erst (wie bei Scheit 1973, 261 Fußnote) Bruaire zugeschrieben werden (C. Bruaire, Logique et religion chretienne dans la philosophic de Hegel, Paris 1964, 165ff.). Nicht „katholisch" ist Hegels Staat allerdings als den Weltstaat ausschließende Souveränität (Scheit 1973, 264). Überhaupt sind, daran wäre zu erinnern, diese Vergleiche nur als reductiones ad absurdum sinnvoll, da der „weltanschaulich neutrale" und nur auf zweideutige Weise indirekt religiöse Staat Hegels weder direkt protestantisch noch katholisch sein kann.
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und Herrlichkeit. Er darf das „aus sich Anfangende" und „letzte Insichsein" verkörpern, das die Enzyklopädie noch dem absoluten Geist beließ616. Gott, der in Christus in die Zeit kam und den natürlichen Menschen annahm, wird in den Monarchen transsubstantiiert, dessen Erbfolge als Synthese von natürlicher Einzelheit und Allgemeinheit das christliche Paradox der Menschwerdung spiegelt617. Die Gnade Gottes wird zum Begnadigungsrecht des Königs säkularisiert618, ja der Monarch darf sogar, was Hegels Gott nicht erlaubt ist, fern aller Rationalität im Dunkel des Dezisionismus seine Entscheidungen fällen. Statt den weltlichen Herrscher an den Himmel zu projizieren, wie es Feuerbach vermutete, läßt Hegel seine Christologie zur politischen Sanktionierung der Erbmonarchie verkommen. Am Ende fallen dann harte Worte, die man nach dem Versuch, aus Hegels Christentum den Funken der Emanzipation herauszuschlagen, nicht mehr von Theunissen erwartet hatte. „Emanzipationsfeindlicher reaktionärer Staatskult"619, „Projektion der göttlichen Versöhnungswirklichkeit auf die bestehenden Gesellschaftsverhältnisse"620, „Verrat am Evangelium"621, „Unausgeglichenheit von abstrakt reiner und praktisch vermittelter Theorie", von Zukunftsoffenheit und „zukunftsloser Gegenwart"622, das sind die Vorwürfe, die Theunissen im Namen der gemäßigt eschatologischen Theologie dem Akkommodationsphilosophen entgegenhält. Die Monarchie-Lehre mit ihrer gewiß blasphemischen „Destruktion der Christologie" dürfte allerdings kaum ausreichen, eine solche Absage an den eigenen Deutungsansatz zu motivieren. Zweideutig wie sie bei Hegel ist, läßt sie sich auch als Lehre von der konstitutionellen Monarchie deuten, was von Rosenkranz bis Ritter einhellige Meinung der Hegeischen Mitte war623. Es muß ein über die theologische Glorifizierung des 616
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Theunissen (2) 1970, 444; Rph 1821, SW VII, §279A. Theunissen unterschätzt hier, dies nur nebenbei gesagt, die Kontinuität in der Hegeischen Monarchielehre, die zum Teil bis Jena zurückreicht. Rph 1821, SW VII, §280. op. cit. § 282. Theunissen (2) 1970, 447. op. cit. 443. ebd. Theunissen (1) 1970, 89. In den Vorlesungen von 1818/19, 1822/23 und 1824/25 tritt der berühmte Satz vom Monarchen, der nur den Punkt aufs I zu setzen habe, besonders stark hervor (so Ilting in: I, Bd. I., 29ff.). 1824/25 ist der Ton fast „höhnisch", mit dem Hegel die Naturbestimmung des Monarchen einführt. „Jeder denkt also er könne so auch ein König
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Monarchen hinausweisender Grund sein, der eine solch massive Kritik rechtfertigt, nachdem Theunissen so viel Mühe darauf verwandt hat, den christlichen Emanzipationsphilosophen vom atheistisch-revolutionären der Linkshegelianer abzugrenzen. Theunissen selbst läßt uns noch einen Zipfel dieser kritischen Sicht erhäschen, wenn er Hegels Dialektik eine „schlechte" nennt, „in die der Glaube an einen rational vollkommenen durchsichtigen Gott gerät"624, aber dann endet die Deutung in der Ungewißheit, was denn im Spannungsverhältnis von Zukunft und Gegenwart, von abstrakt reiner und indirekt praktischer Theorie, von Eschatologie und Archäologie jeweils überwiegt. Theunissen macht nicht Ernst mit der Rückbeziehung der auch für seine Deutung fatalen Konsequenz, die in der begrifflichen Aufhebung des Christentums liegt. Da bei Theunissen der christliche Emanzipationsphilosoph und der reaktionäre Staatsvergötterer am Ende unvermittelt einander gegenüberstehen, fällt es dem Leser nicht leicht zu entscheiden, was die Quintessenz der Deutung ausmacht. Sieht man den Literaturbericht und das Buch als eine Einheit, dann muß man Theunissen wohl soweit folgen, als er politisch ausgewogen die Situation des preußischen Staates von 1820/21 erfaßt625, als er nicht irgendeine psychologische oder moralische Version des Akkommodationsvorwurfs unterstützt626, ja sogar soweit, als er den christlichen Hegel mit Erfolg gegen den atheistisch-revolutionären der Linkshegelianer abzugrenzen weiß. „Wäre" Hegel der christliche Philosoph, als den Theunissen ihn schildern will, dann „wäre" seine Philosophie gemäßigt eschatologisch, zukunftsoffen und der Gefahr der Akkommodation entzogen. Aber Hegels Monarchielehre ist nur ein Teil der von Theunissen theologisch heruntergespielten Metaphysizierung der geschichtlichen Welt und der Politik, mit der Hegel allen seinen Institutionen den Schein einer logischen Weihe gibt, den sie für eine wirklich christlich eschatologische Theorie nie würden haben können. Präziser formuliert, Hegel zerstört nicht nur seine Christologie reaktionär-politisch, sondern die durch das Christentum seiner Philosophie zugängliche Offenheit auf Zukunft sowie die indirekt praktische Wirksamkeit verspielt
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sein . . . es ist also nichts besonderes auf diese Weise König zu sein" (zit. nach I, Bd. I., 31). Deshalb kann man es auch getrost der Natur überlassen, den Monarchen zu „wählen". Theunissen (2) 1970, 447. So in der Besprechung von Haym, Weil und Rosenzweig, Theunissen (1) 1970, 5, 15f., 22 ff. op. cit. 6, 18.
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Hegels Politik als „christliche" Emanzipationsphilosophie
er durch die logisch-begriffliche Aufhebung der Glaubenslehre, die erst in der Form des Begriffs verklärend auf die politische Realität angewendet wird. Um Theunissens Worte abzuwandeln, Hegel erlaubt der Philosophie, was die Religion (meist) nicht darf, die Verklärung der politischen und geschichtlichen Wirklichkeit. Obwohl die Monarchie-Lehre an die Christologie erinnert, auch sie wird erst als Übergang von „rein spekulativer Natur"627, als Umschlagen des Begriffs der reinen Selbstbestimmung in die Unmittelbarkeit des Seins, zum eigentlichen Skandalen der Hegeischen Vorgehensweise. Das der christlichen Orthodoxie wird durch den Anspruch der Hegeischen Philosophie auf das Begreifen des Absoluten vergegenwärtigt. Die solchermaßen end-gültig werdenden Begriffe nehmen der Theorie ihre indirekt praktische Wirksamkeit, der Eschatologie ihre Zukunft sowie den Institutionen ihre geschichtliche Realität. Erst so kann der Monarch zur Einzelheit des „Begriffs" avancieren, erst so dürfen die Gewalten der Repräsentation der Begriffsmomente dienen628, erst so kann stattfinden, was die Linkshegelianer eine Taschenspielerei (Rüge), die Mystifizierung der Empirie (Feuerbach) oder das Umschlagen der Spekulation in Empirie (Marx) nannten. Theunissen behält freilich gegen die Linkshegelianer insofern recht, als er sieht, was der atheistische Revolutionarismus übersehen muß, die unter der Decke der begrifflichen Überhöhung der Realität schlummernden christlichen Gehalte, die nicht als christliche (wie die Linkshegelianer es meinen), sondern erst als philosophisch aufgehobene, d. h. schon nicht mehr christlich-orthodoxe, anti-emanzipatorisch wirken. Der echt orthodoxen Kritik kann sich Theunissen allerdings nur noch durch den Anspruch auf Korrektur des Systems entziehen, nicht mehr im Namen einer Intention, die nur auslegen will. Denn ohne religionsphilosophische Korrektur bleibt dem System die Akkommodationstendenz, die aus der Überschätzung der eigenen Zeit resultiert, welche wiederum eine ihrer Wurzeln im Begreifen der christlichen Geheimnisse besitzt. Die Theorie Hegels läßt sich nicht auf Religionsphilosophie reduzieren, weil sie (mehr noch) Philosophie der Religion ist. Wenn der Kultus (was Theunissen selbst noch nahelegte) der Philosophie bedarf, damit er aus sich die „weltverändernde" Praxis entlassen kann, dann kann die solchermaßen Bedingung gewordene Theorie nicht selbst ein dem Kultus 627 629
Rph 1821, SW VII, §280. op. cit. § 269, § 272.
Die Apologie des modernen Rechtsstaates durch die Hegeische Mitte
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logisch bei- oder nebengeordnetes Moment bedeuten. Sie ist es für Hegel nach Frankfurt auch nie mehr gewesen. Nicht schon die Einheit von Religions- und Geschichtsphilosophie, erst die Philosophie selbst vollendet die Versöhnung durch ihr Begreifen der gegenwärtigen Vernunft. Nicht dem Gläubigen und der kultischen Feier der Gemeinde, erst der Philosophie erschließt sich die Gegenwart Gottes in der „adäquaten" Form des Absoluten, im Begriff. Das war nicht die Hybris der Person Hegel, aber es war die Anmaßung des Systems, aus der sich die Überschätzung der Zeit und der Verlust der christlich gemäßigten Eschatologie an den Begriff ergeben mußten.
Ausblick Für Hegel, der noch zusammenhielt, was seine Schüler trennten, waren die Rollen zu klein, auf die ihn die Dramaturgie der Schulen gerne verpflichtet hätte. Weder der von links mit Beifall aufgenommene Auftritt des Emanzipationsphilosophen, Atheisten, Materialisten, Krypto-Utopisten, negativen Dialektikers und kritischen Theoretikers, noch die empörte Verabschiedung des idealistischen Mystifizierers und Philosophen eines antiquarischen, sich in sich abschließenden Systems, eines autoritären Staates und einer affirmativen Dialektik, weder die schon ernst beginnende und im Trauerspiel endende Feier des preußischen Konservativen, Machtstaatslehrers oder Vor-Denkers des totalitären Staates, noch das seinen guten Ausgang nehmende Stück, in dem Hegel als Parteigänger der konstitutionellen Monarchie und des Rechtsstaates auftreten durfte, genügten, die Komplexität des Vaters aller Schulen zu spiegeln. Aber wie Hegel in den Rollen nicht aufging, in die ihn die Regie der Schulen einweisen wollte, ganz fremd hat er doch auf keiner Bühne gewirkt. Und am Ende unseres Durchgangs durch die Interpretationen angelangt, scheint nichts leichter als die Aufzählung der Hegellegenden und Hegelbilder, die zusammengesetzt so etwas wie eine „Hegelformel" oder, um Adornos Vergleich zu gebrauchen, eine „Nummernkombination" ergeben müßten, die das Geheimnis der Hegeischen Philosophie erschließt. Freilich wäre uns mit einer solchen „Hegelformel" wenig gedient. Denn die eigentliche Aufgabe steht immer noch bevor. Was bisher an der Geschichte der Deutungen aufgewiesen wurde, bedarf der Bewährung am Text, bedarf vor allem der Zuordnung zu verschiedenen Phasen der Hegeischen Entwicklung. Diese Untersuchung hat bewiesen, wie wenig Hegel sich in der Perspektive nur einer Schule erfassen läßt; die nächste wird demonstrieren, wie wenig ein gleichbleibendes Mischungsverhältnis von Interpretationselementen verschiedener Provenienz den jeweils neuen Konstellationen der Hegeischen Synthesen gerecht werden kann. Schon die Ansichten des Tübinger Stiftlers entgehen dem allzu engen Raster nur einer Schule. Und schon die Wandlungen des Hegeischen
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Denkens zwischen Tübingen und Bern, Bern und Frankfurt, Frankfurt und Jena lassen erkennen, wie wenig sich Hegel mit der Patentlösung einer unveränderlichen Mischung von Deutungsmomenten verschiedener Herkunft erschließt1. Wenn der Tübinger Hegel der zerrissenen Zeit eine ethisch-politisch-,,religiöse" Kur verordnen will, damit die Totalität des Volkslebens zur freien harmonischen Entfaltung ihrer Kräfte gelangt, wenn er Volksreligion und Freiheit zur Einheit eines lebendigen Volkslebens vereinen möchte, wenn er die Mesalliance von Vernunftreligion, Fetischglauben, dogmatisiertem Christentum und despotischer Herrschaft bekämpft, wenn er die Polis verklärt und die Revolution feiert, dann tritt uns bereits ein Hegel entgegen, dessen noch vage und unentwickelte Gedanken sich der Festlegung in einseitigen Schulbegriffen entziehen. Denn theologisch-politisch denkt dieser junge Hegel nicht im Sinne der Hegeischen Mitte; die „Volksreligion" interessiert ihn allein pragmatisch, als ein Mittel zur Beförderung eines freien Volkslebens. Er begrüßt die Revolution, ohne wiederum eindeutig ein Linkshegelianer zu sein; die Revolutionsbegeisterung bricht sich an der Sehnsucht nach einer Wiederbelebung der Polis nicht weniger als am Entsetzen über den Terror der radikalen Revolutionäre. Das ganze ethisch-politisch-„religiöse" Leben eines Volkes hat er in volkspädagogischer praktischer Absicht im Blick und doch ist er kein Rechtshegelianer; zwar geht er von einem noch undifferenziert individuahtätslosen organischen Ganzen aus, aber diese Volkstotalität meint schon damals nicht die Volksgemeinschaft seiner Schüler, sondern die Polis. In Bern beginnt sich die Mischung aus Polissehnsucht, Revolutionsbegeisterung, Religionskritik und pragmatischem Interesse an der Religion zum ersten Mal entscheidend zu wandeln. Die Träume von der Wiederbelebung der Polis zerrinnen (obwohl Hegel sie nie ganz austräumen sollte). An die Stelle jenes noch ganz undifferenzierten Tübinger Ideenkonglomerats setzt sich eine scharfkantige Philosophie, durch welche Hegel seinen linken Schülern auf einmal doch zum Verwechseln ähnlich sieht. Kein Hauch theologischer Intention durchzieht das noch immer moralisch-politische Streben nach einem freien Volksleben. Ganz wie 1
Im folgenden ist keine (in solcher Kürze sowieso unmögliche) Zusammenfassung der Ergebnisse des zweiten Bandes beabsichtigt. Es soll lediglich an Beispielen angedeutet werden, wie der systematische Anspruch der bisher mehr behaupteten Thesen eingelöst werden soll. Der zweite Band faßt Recht und Unrecht der Hegelschulen noch einmal ausdrücklich nach jeder Phase zusammen, unter Berücksichtigung aller direkt-politischen wie fast aller praktisch-philosophischen Schriften von Tübingen bis Berlin.
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zuvor hat die Religion nur eine dem Volksleben dienende Rolle zu spielen. Zwar predigt Hegel die Ankunft des „Reiches Gottes". Aber auch hinter diesem nach Pietismus und Chiliasmus klingenden Begriff verbirgt sich nur eine Chiffre für moralische Absichten, für ein universales Reich (zwar auch nicht der Freimaurer, aber doch) der „Guten" im Sinne Kants. Da spricht kein Pietist, sondern ein Hegel, für den Christentum und Freiheit prinzipiell geschieden sind. Vernunft und Positivität treten für ihn in einen schroffen aufklärerischen Gegensatz, die Tübinger Revolutionsnähe bleibt spürbar, ja dieser erstaunlich nach links tendierende Hegel nimmt eine Feuerbachsche Emanzipationsphilosophie genauso vorweg, wie er eine Art von kritischer Theorie ahnen läßt, die als Ideologiekritik, Aufklärung und Bewußtseinsveränderung praktisch werden soll. Aber kritischer Theoretiker ist Hegel damals (und später) weder als Ideologe einer neuen Gesellschaft noch als Naturalist, noch als Philosoph einer Klasse. In den frühen politischen Schriften konkretisiert sich seine Absicht zum Gegensatz von revolutionärem Pathos und Ratlosigkeit, auch zu einem Reformstreben, das die Kontinuität mit der Herkunftsgeschichte doch nicht radikal brechen möchte. Schon jetzt wird Hegels Staat als moderner Rechtsstaat erkennbar, der auf die in der Revolution proklamierten Rechte gegründet sein soll. Während Hegel somit schon als Ahnherr der Linkshegelianer und der Hegelianer der Mitte sichtbar wird, zeichnen sich vom Vater der Rechtshegelianer höchstens schemenhafte Umrisse ab. Nur das weiter bestehende Interesse an der Ganzheit des Volkslebens sowie der antike Republikanismus lassen sich als Züge universalistischen Denkens reklamieren, als Züge, die wohl nicht ausreichen, aus Hegel einen Rechtshegelianer zu machen. In Frankfurt wiederum scheint das Bild des Fast-Linkshegelianers zum ersten Mal in das des christlichen Philosophen zu changieren. Mit Hilfe von Hölderlin und Fichte und durch die erst jetzt vollzogene Anerkennung des Christentums schließt Hegel allmählich seinen Frieden mit dem vorher nur als Positivität verketzerten Sein; es findet die philosophischreligiöse Geburt der Dialektik statt, welche das bisher undifferenziert volksharmonische oder antithetische Denken zur Aufnahme des Individuellen allererst befähigt. Von jetzt an bildet der theologisch-politische Ansatz die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung eines jeden Hegelverständnisses. Denn zum Hegelianer der Mitte wird Hegel nun genausowenig wie er in Bern nicht zum Linkshegelianer wurde. Weder vergißt er die frühere praktisch-pragmatische Intention noch wird er christlich-orthodox. Auf die Kritik der geschichtlichen Rolle des Christen-
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turns wird auch jetzt nicht verzichtet, und, wenn das „Positive" und Individuelle in die Ganzheiten von „Liebe", „Leben" und später „Geist" integriert werden, dann vollzieht sich dieser Vorgang zwar mit Hilfe der nun anerkannten Religion, zugleich aber schon im Namen von Spekulation und Philosophie. Sicher, eindeutig ist, daß die Dialektik damals ohne Hilfe der politischen Ökonomie geboren wird, welche die Linkshegelianer so gerne in den Rang eines Geburtshelfers erheben möchten. Andrerseits kündigt sich mit dem Erscheinen der Philosophie jene Instanz an, die bei Hegel die Anerkennung des Christentums zugleich als eine Säkularisierung erscheinen läßt. Wenn der theologisch-politische Ansatz so ab Frankfurt seinen (begrenzten) Applikationsbereich findet, andere Typen der Hegelauslegung wie jener Typus der liberalen Kritik am Machtstaat oder jener der linkshegelianischen an der Akkommodation werden eigentlich erst im Übergang von Frankfurt nach Jena oder in Jena selbst anwendbar. Denn erst dann kann sich die Wende zum Sein so auswirken, daß Hegel das Verstehen dessen, was ist, der kritischen Theorie überordnet, daß er seinen (allerdings auch damals nicht aufgegebenen) Rechtsstaat mit Elementen des Machtstaats zu durchsetzen beginnt, daß sich Tendenzen eines sich nach und nach in sich abschließenden Systems bemerkbar machen, das zur Feier des Bestehenden gravitiert. Wie der Frankfurter so läßt sich auch der Jenenser Hegel nicht ohne die hegelianisch-mittlere Deutung des „Entzweiungs"- und Versöhnungsphilosophen verstehen, der die Entzweiung „religiös" anerkennt und durch den Tod Gottes Individuum und moderne Subjektivität geheiligt sein läßt. Aber deutlicher als in Frankfurt tritt Hegel jetzt als Vater aller Schulen hervor. Rechtshegelianer und liberale Kritiker können nun zum ersten Mal ihr Hegelbild bestätigt sehen, wenn, trotz der Entzweiungslehre, die Kritik am modernen individualistischen Naturrecht, universalistische Ständelehren und autoritäre Regierungsmodelle, eine Art von Spinozismus und eine Kriegsverherrlichung sowie ein Überwiegen der Natur im Begriff der Sittlichkeit dominieren und eigentlich erst in den letzten Jenenser Jahren die Wende zur Geistphilosophie das Recht der Natur im Geist durch ein Recht des Geistes in der Natur ablöst. Aber selbst dieser Lehrer des Universalismus läßt die Entzweiungslehre nicht untergehen. Die bürgerliche Gesellschaft wird als emanzipierte in die entstehende Geistphilosophie eingeordnet, ohne daß Hegel wie mancher seiner linken Schüler damit zugleich Arbeit zum Medium der Selbsterzeugung der Gattung hätte hochstilisieren wollen; die Gesellschaft wird eingebettet in eine Philosophie der Anerkennung, welche Praxis nicht auf
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Poiesis reduziert. Freilich kann man, je mehr Hegel den absoluten vom objektiven Geist trennt, nun auch dem Philosophen Hegel begegnen, der einen Ausgleich zwischen Ursprungs- und Emanzipationsphilosophie zu suchen scheint und doch mit seiner vom theologisch-politischen Ansatz nicht erfaßten Uberordnung der Philosophie über die Religion und durch sein sich in sich abschließendes System den christlichen Karfreitag in den spekulativen verwandelt und seine Synthese von Ewigem und Zeitlichem zur Metaphysizierung relativer geschichtlicher Existenzen mißbraucht. Hegel ist im wesentlichen geblieben, was er gegen Ende der Jenenser Jahre war: ein Ökonom, Staatslehrer, Geschichts-, Kunst- und Religionsphilosoph sowie ein Theoretiker, den nur noch die Spiegelung in allen Traditionen annähernd verlebendigen kann. Je mehr sich auf seinen weiteren Stationen von Bamberg bis Berlin sein Gedankengebäude verfestigt und differenziert, desto deutlicher zeichnen sich die vielen Gesichter dieses Denkers ab, der die „Entzweiung" (weder nur sozio-politisch, noch nur theologisch, sondern) in allen Formen des Geistes hatte aufbrechen sehen und diese auch in der Totalität durch das Begreifen der Gegenwart Gottes zu versöhnen gedachte. Kein Linkshegelianer, der sich dem vergangenheitslosen Fortschritt des Zeitgeistes verschrieben, Emanzipation materialistisch oder naturalistisch unterbestimmt, die Gesellschaft zum totum gesetzt oder dem Menschen eine rück-sichtslos weltverändernde Praxis gepredigt hätte. Kein Rechtshegelianer, der einer scheinbar zeitlosen Vernunft vertraut, die gesellschaftlich erreichte Freiheit und Gleichheit dem autoritären Staat, die Revolution der Restauration oder das moderne Subjekt dem alten Naturrecht geopfert hätte. Kein Hegelianer der Mitte, dessen Staat sich einfach in den Strom des westlich-demokratischen Denkens integrieren ließe, kein theologischer Politiker, der uns ein problemlos vorbildliches Modell der Beziehung von Religion und emanzipiertem Staat überliefert hätte, kein christlicher Emanzipationstheologe, der Christentum und säkularisierte Welt noch einmal vereint hätte, ohne ersterem zu schaden und letzteres zu feiern, kein Denker, dem die großen Synthesen von antikem Naturrecht und moderner Subjektivität, von christlicher Versöhnung und Welt, von klassischer Theoria und Geschichte, kurz gesagt, von Griechentum, Christentum und Moderne so gelungen wären, wie es seine Apologeten glauben machen wollen. Kein Hegelianer irgendeiner Schule — und doch von allem etwas. Der Vater der Linkshegelianer, der manchmal kritische Theorie und Emanzipationsphilosophie vorwegnimmt; ein Rechtshegelianer, dessen Staat (nach innen) als organischer Ständestaat und (nach außen) als Machtstaat in so manchen
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Institutionen und Konstruktionselementen schon zum Universalismus tendierte. Am meisten sicher ein Hegelianer der Mitte, der seinen Staat weder konkret nach dem preußischen modellierte, noch zum gesellschaftsgeborenen Klassenstaat, noch zum Machtstaat oder zur totalen Volksgemeinschaft werden ließ, ein Lehrer des modernen Rechtsstaates, der den Staat gleichwohl mit universalistischen Zügen versah und ihn durch die enthistorisierende, metaphysizierende Tendenz seines sich abschließenden Systems auch mit dem Glanz der Philosophie überhöhte. Noch am ehesten jener zweideutige Ursprungs- und Emanzipationsphilosoph, der an sich schon geschehene Versöhnung und Freiheit, gesellschaftliche Emanzipation und Staat, altes Naturrecht und modernes Subjekt, Revolution und Restauration, Herkunft und Zukunft, griechischen Logos und christliche Vernunft, Anerkennung des Christentums und Säkularisation, klassische Theoria und moderne Geschichte noch einmal versöhnen wollte. Und auch wenn Hegel die großen Synthesen nicht gelangen, so bezeichnen sie doch die Probleme, die die nachhegelsche Zeit uns ungelöst überließ. Auch aus Hegels gescheiterten Versöhnungen ist heute mehr zu lernen als aus den Reduktionen seiner Schüler, mehr als aus den kleinen Wahrheiten seiner Kritiker.
Abkürzungsverzeichnis Die üblichen Abkürzungen für Werke der klassischen Autoren der Antike sind nicht eigens augeführt. AB
Erste (A) oder zweite Auflage (B) eines Werkes von Kant nach Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, W. Weischedel (Hrsg.), Wiesbaden 1960 Aesth. Vorlesungen über Aesthetik, nach SW XII—XIV AW I—VI Johann Gottlieb Fichte. Ausgewählte Werke in sechs Bänden, F. Medicus (Hrsg.), Darmstadt 21962 BJ I—XIII Ludwig Feuerbach, Sämtliche Werke in dreizehn Bänden, W. Bolin/F. Jodl (Hrsg.), Neudruck der Ausgabe 1903 bis 1911, eingeleitet von K. Löwith, Bd. XI und XII/XIII herausgegeben von H.-M. Saß, Stuttgart-Bad Cannstatt 1959 ff. Br. Bd. I-III Briefe von und an Hegel, Band I-III, J. Hoffmeister (Hrsg.), Hamburg 1952-54 Br. Bd. IV Briefe von und an Hegel, R. Flechsig (Hrsg.), Hamburg 1960 Diff. Differenz des Fichte'schen und Schelling'schen Systems der Philosophie in Beziehung auf Reinhold's Beiträge zur leichtern Übersicht des Zustandes der Philosophie zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, Istes Heft, nach GW IV, 1-93 DJ Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, drei Bände, Th. Echtermeyer/A. Rüge (Hrsg.), Dresden 1841-1843 Dok. Dokumente zu Hegels Entwicklung, J. Hoffmeister (Hrsg.), Stuttgart 1936 Enz. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, nach SW VIII—X: „System der Philosophie" Enz. 1817 Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Erste Ausgabe, Heidelberg 1817, nach SW VI, 1-310 Enz. 1830, Nic./Pögg. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Dritte Ausgabe, Berlin 1830, nach F. Nicolin/O. Pöggeler (Hrsg.), Hamburg 61959 Gesch. d. Phil. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, nach SW XVII-XIX GW IV Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, Bd. IV: Jenaer kritische Schriften, H. Buchner/O. Pöggeler (Hrsg.), Hamburg 1968
Abkürzungsverzeichnis
H
Heidelberger Antrittsrede (1816)
HJ I, Bd. I
JR K
Logik
MEWBd. l-40 und Ergänzungsband, Erster und Zweiter Teil
N NA
Phän. Phil. d. Gesch. Phil. d. Rel. Rph 1821
Rph 1821, Hoff.
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G. W. F. Hegel, Politische Schriften, J. Habermas (Hrsg.), Fft. a. M. 1966 Vorrede zu den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie vom 28. Oktober 1816, nach SW XVII, 19-22 Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst, drei Bände, Th. Echtermeyer/A. Rüge (Hrsg.), Leipzig 1838-1841 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818 — 1831. Edition und Kommentar in sechs Bänden von K.-H. Ilting. Erster Band, StuttgartBad Cannstatt 1973 Jenenser Realphilosophie I (1803/04), J. Hoffmeister (Hrsg.), Leipzig 1932 Jenaer Realphilosophie. Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie der Natur und des Geistes von 1805 — 1806, J. Hoffmeister (Hrsg.), Hamburg 21969 (Nachdruck der sogenannten „Jenenser Realphilosophie II", Hamburg 1931) H. Kimmerle, Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften, in: Hegel-Studien Bd. 4 (1967), 125-177 Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik, nach SW IV. Zweiter Teil. Die subjektive Logik oder Lehre vom Begriff, nach SW V
Marx-Engels-Werke in vierzig Bänden und zwei Ergänzungsbänden, herausgegeben vom Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED, Berlin 1969 ff. Hegels Theologische Jugendschriften nach den Handschriften der Kgl. Bibliothek in Berlin, H. Nohl (Hrsg.), Tübingen 1907 Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften, in: GW IV, 417-464, 467-485 Phänomenologie des Geistes, J. Hoffmeister (Hrsg.), Hamburg 61952 Vorlesungen über Philosophie der Geschichte, nach SW XI Vorlesungen über Philosophie der Religion, nach SW XV-XVI Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, nach SW VII Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, J. Hoffmeister (Hrsg.), Hamburg41967
Abkürzungsverzeichnis
Sch Ständeschrift 1817
SW I-XX
Verfassungsschrift
G. Schüler, Zur Chronologie von Hegels Jugendschriften, in: Hegel-Studien Bd. 2 (1963), 111-161 Beurteilung der im Druck erschienenen Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahre 1815 und 1816, nach SW VI, 349-490 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, H. Glockner (Hrsg.), Stuttgart-Bad Cannstatt 41965 Die Verfassung Deutschlands, nach H 16 — 19, 23 — 139 und Dok. 282-88
Personenregister Adorno l, 3, 9, 24, 31, 34, 52, 54, 58, 87, 100, 109, 115-123, 123, 259, 379, 388 Ahrens 174 Albert 219 Albertus Magnus 315 Altenstein 37, 199, 267, 274 Anaxagoras 301, 326, 335 Ancillon 274 Andler 261, 262 Antigone 269 Antonius 221 Apelt 4, 125, 218f. Aquin, Th. v. 301, 315 Arendt 336 Aristoteles l, 60, 83, 107, 129, 175, 206, 259, 264, 268, 270, 276, 278f., 288, 301, 305, 306-309, 312, 315, 316, 318, 319, 320, 321, 324-333, 336, 381 Aron 93 Ascheri 46, 47 Asverus 274, 292, 300 Auerbach 334 Auerswald 227 Augustinus 217 Avineri 68, 148f., 200, 208, 225, 281, 289, 290-296, 297, 300, 306, 312, 315, 339 Bach 104 Bachmann 47, 74 Bacon, F. 332 Barchou de Penhoen 261 Barion 61, 73 Barker 193 Barth 44 Basch 261, 262 Bauer, B. 20, 36, 39, 60, 68, 376, 381 Baumeister 321 Bäumler 208, 220 Beaussire 261 Beck 333 Beerling 192, 244 Beethoven 234, 262
Bengel, J. A. 353 Bentham 200, 290, 291, 296, 310 Benz 353 Bernhardi 186, 220 Beyer 16, 20, 21, 22, 30, 259 Berolzheimer 143, 149 Bien 318, 321, 329 Binder 3, 15, 125, 129, 153, 154, 165, 168-182, 187, 207, 210, 211, 223, 259 Bismarck 20, 27, 135, 143, 174, 184, 185, 188, 189, 190, 194, 195, 198, 200, 215, 219, 232, 261, 262, 287, 291, 296 Bloch 10, 15, 31, 34, 72, 87, 91, 93, 94, 100-108, 110, 114, 115, 120, 164, 255, 369, 379 Blumenberg 369 Bobbio 306,310,311,312 Bockenförde 363 Bockmühl 44 Bodin 197, 219, 315, 320 Boehm 114,208,220 Boehmer 320 Boethius 328 Boll 326, 328 Bonald 138, 139 Bonneville 271 Bosanquet 193, 194 Bradley 193, 282 Braun 47 Brecht, F. J. 153 Brecht, M. 353 Brie 240, 250 Brokmeyer 281 Bruaire 383 Brunner 316 Buber 51 Bubner 72 Büchner 338 Bülow, F. 125, 154, 168-182 Buhl 39 Bultmann 336 Burke 25, 137, 138, 139, 193, 200, 202, 203, 288, 297, 321
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Personenregister
Burnet 325 Busse 125, 150, 154, 165-168, 168-182 Caird 192, 193 Capelle 325 Carlyle 215, 220 Carnap 211 Caro 261, 262 Carove 21, 274, 283, 292, 300 Carritt 4, 125, 192, 193, 200f., 286, 289 Cassirer 4, 113, 125, 208, 215-218, 219, 244, 335 Chalybäus 74 Chamberlain 208, 220 Chamley 318 Cicero 326, 328 Cieszkowski 20, 35, 61, 234, 236, 378 Collingwood 193, 282 Con way 281 Cornforth 208 Cousin 261, 274, 292, 301 Croce 114, 126 Dahlmann 174, 189 Dann 353 Danton 338 Darre 220 Darwin 234 Delbos 261 Delbrück 136 Dempf 336 Descartes 51, 52, 264, 332 Dewey 4, 125, 192, 193 f., 195 Dicke 71 Dilthey 78, 88, 93, 112, 152, 158, 165, 190, 191, 347,351, 355, 356 Dittmann 240, 249 Dove 183 Droysen 146f., 198, 220, 266 During 325, 326, 329 Duguit 240 Dulckeit 125, 150, 154, 168-182 Duncker 77, 147, 198 Easton 282 Echtermeyer 35, 76 Eckart 220 Edelstein 335 Ehrmann 271 Eichhorn 76 Emerson 281 Emge 176,247
Engel-Janosi 336 Engels 19, 37, 39, 43, 44, 56f., 69, 72, 81, 101, 190, 230, 234, 264 Epikur 328 Erdmann 15, 21, 22, 23, 30, 35, 124, 125, 126-135, 136, 142, 143, 149, 151, 154, 175, 229, 231, 232, 233, 309, 342, 344 Erler 35 Eucken 148 Fackenheim 286 Fessard 93 Festugiere 326 Fetscher l, 2, 9, 93, 96, 306, 310, 311 Feuerbach 2, 15, 18, 19, 20, 30, 33, 34, 43-58, 62, 63, 69, 71, 73, 74, 76, 77, 78, 81, 91, 95, 98, 107, 115, 116, 117, 118, 120, 243, 348, 355, 360, 379, 381, 386, 390 Fichte 3, 9, 25, 48, 52, 78, 113, 128, 137, 148, 150, 153, 158, 159, 162, 164, 169, 190, 195, 222, 232, 244, 258, 310, 321, 333, 334, 350, 352, 369, 370, 371, 376, 390 Findlay 225, 281, 283-285, 296, 314 Fischer 21, 126 Fleischmann 25, 225, 268-270, 271, 273, 274, 289, 290, 294, 306, 315, 339 Förster, B. 208 Förster, F. 237, 274 Forster 148 Forsthoff 220 Foster 282, 286 Frantz 174 Freisler 256 Freytag 136 Friedrich, C. J. 287 Friedrich II. 219, 248, 262 Friedrich Wilhelm III. 197, 206, 269 Friedrich Wilhelm IV. 39 Fries 26, 79f., 199, 208, 230, 240, 254, 274, 283, 292, 297 Frommann 271 Fulda 97, 325, 344, 356, 381 Funke 306 Gabler 16, 143 Gadamer 9, 343, 372 Gagern 44, 46, 56 Gans 21, 83 Garaudy 15, 100, 225 Gebhardt 7, 16, 17, 35, 74, 82
Personenregister Gentile 114 Gentz 242 Gervinus 35 Giese 224, 240, 247-253, 254, 256, 261, 263, 266, 277, 286, 295, 299, 337, 347, 362 Glockner 126, 134, 153 Gobineau 208, 215, 220 Goedecke 236 Görres 37 Goeschel 16 Goethe 35, 75, 104, 136, 177, 185, 208, 233, 234, 236, 239, 262, 285, 360 Gogel 271 Grabmann 315 Gray 306, 325 Green 192, 193 Gregoire 120, 203, 210, 225, 274-281, 301, 302, 306, 309, 312, 314, 339, 373 Griewank 338 Grün 36 Günderode 271 Günther 220 Haag 116 Habermas 3, 5, 24, 25, 26, 31, 56, 72, 91, 94, 103, 118, 122, 199, 288, 311, 321, 338, 342, 344f., 346, 379, 381 Haeckel 208 Häring 3, 10, 15, 30, 93, 125, 153, 154, 155-165, 168-182, 187, 207, 259, 277, 347, 351 Haldane 193 Haldar 193, 194 Haller 21, 105, 138, 139, 231, 242, 254, 265, 274, 283, 297, 313, 314 Hamlet 136 Hardenberg 80, 240, 265, 267, 273, 274 Harris 281 Hartmann, K. 60, 61, 286 Hartmann, N. 153 Hauriou 220 Haym 2, 3, 22, 34, 40, 74-86, 88, 126, 135, 136, 178, 188, 194, 198, 213, 229, 230, 233, 234, 250, 253, 255, 261, 265, 267, 294, 295, 297, 302f., 306, 337, 355, 356, 357, 385 Heede 358 Heffter 220 Heidegger 109, 112, 335, 349, 355, 356, 370, 372 Heimann, B. 9, 153
399
Heimann, G. 375 Heimsoeth 224, 247, 259f., 286, 295, 299 Heine 20, 35, 36, 37, 42 Heineccius 315 Heinrich 174 Heiander 240 Heller 4, 15, 114, 124, 125, 136, 137, 143, 146, 147, 151, 152, 178, 182, 186-188, 189, 190, 197, 198, 204, 210, 220, 221, 224, 246, 247, 248, 249, 253 Hengstenberg 37 Henning 20, 237, 274, 292 Hennis 7, 315, 320, 321, 332 Henrich l, 5, 97, 351 Herder 78, 185, 249, 272 Herr 261 Herre 226, 227, 228, 229 Herrigel l Herwegh 36 Heß 18, 20, 62, 65, 72 Hessler 77 Hillmann 59, 60, 61 Himmler 218 Hinrichs 4, 21, 76, 127, 136, 234, 239 Hitler 27, 114, 125, 204, 207, 210, 214, 215, 218,219,220 Hobbes 104, 131, 162, 164, 169, 251, 252, 260, 276, 286, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 320, 323, 332, 334 Hobhouse 4, 125, 192, 194f. Hocevar 241 f. Höhn 173 Höhne 193 Hölderlin 189, 351, 390 Hoffmann 325 Hoffmeister 177 Homer 183 d'Hondt 148, 157, 225, 242, 265, 271 -274, 292, 312 Hook 4, 15, 36, 42, 46, 55, 57, 71, 125, 192, 193, 197-200, 202, 203, 217, 284, 286, 289 Horkheimer 24, 116, 121, 122 Horster 72 Hotho 143 Huber 220 Hufnagel 271 Hugo 220 Humboldt 78, 267 Hume 310, 332 Hyppolite 93, 261
400
Personenregister
Koellreutter 173, 220 Iljin 192, 216, 244 Ilting 238, 267, 269, 306, 307, 310, 311, Koeppen 39 312, 315, 352, 384, 385 Körner 237 Köstlin 143, 294, 295 Kohler 149 Jacobi 158, 159, 351 Koigen 18, 240 Jäger 326 Kojeve 15, 31, 34, 93-99, 101, 201, 262, Jamblichus 326 343, 355, 379 Japtok 227 Koyre 93, 96, 261 Jaspers 96 Kraft, V. 210 Jefferson 200 Kreck 380 Joachim 332 Kriek 114, 208, 220, 248 Jodl 47 Kriele 371, 373, 376, 378 Jones 193 Kroll 326 Jünger, E. 169 Kroner 153, 165, 282, 369 Jung 143 Krüger 178 Kühn 282, 326, 332,335 Kallikles 314 Kaltenbrunner l, 213 Lacorte 93 Kaminsky 286 Langbehn 208 Kamptz 292 Kant 1,3,9,25,40, 45,52, 77, 78, 108, 113, Larenz 3, 15, 25, 125, 129, 134, 135, 150, 118, 128, 130, 131, 132, 134, 137, 143, 153, 154, 165, 168-182, 187, 207, 210, 149, 155, 158, 159, 162, 169, 172, 177, 223, 259, 344 196, 209, 217, 218, 219, 221, 222, 234, Lask l 237, 244, 251, 252, 257, 259, 262, 264, Lassalle 21, 190, 236, 237 275, 296, 298, 306, 310, 311, 312, 315, Lasserres 261 316, 317, 319, 320, 321, 323, 333, 334, Lassen, A. 3, 15, 23, 125, 135, 137, 340, 350, 351, 362, 369, 370, 371, 376 143-149, 151, 154, 171, 175, 177, 186, Kantorowicz 240, 249 188, 198, 210, 223, 236, 239 Kastner 271 Lasson, G. 125, 149-151, 153, 165, 170, Kaufmann, E. 125, 149, 151f. 178, 250, 360 Kaufmann, P. 281 Leese 247 Kaufmann, W. 193, 198, 200, 208, 225, Leibniz 333 281, 282, 283, 285f., 287, 289, 294, 296 Lenin 192, 220 Kelly 97 Leo 37, 220 Kern 92, 100, 299, 347, 352, 354 Lepidus 221 Kessel 184 Lessing 78, 234, 272 Kierkegaard 2, 3, 20,21,34, 51, 52,53-55, Leutwein 353 100, 101, 107, 115, 116, 118, 120, 121, Levy 153 325, 348, 359 Lieben 143 Kiesewetter 4, 125, 137, 146, 154, 169, Liebmann 78 176, 177, 219-223 Litt l, 9, 125, 152, 182, 191f., 213, 216, Kimmerle 159, 350, 352, 354 244, 335 Kirchmann 234 Livius 130 Kirschenmann 173 Lobkowicz 7, 21, 35, 43, 56, 77, 252, 326, Kleist 148 328, 332, 333 Kienner 278 Locke 200, 225, 287, 296, 297, 311, 315, Kneale 211 332, 362 Knoop 261, 262 Loewenberg 286 Knox 200, 225, 268, 281, 282f., 286, 289, Löwenstein 224, 247, 253-256, 261, 273, 299 290, 292, 315, 339
Personenregister Löwith 7, 20, 27, 36, 42, 43, 51, 55, 56, 77, 126, 233, 263, 293, 332, 335, 336, 346, 354, 367, 369 Lord 193 Luden 220 Ludendorff 220 Lübbe 16, 19, 20, 21f., 35, 93, 126, 127, 148, 222, 225, 227, 228, 230, 231, 233, 234, 238, 239, 346, 368, 373-378 Luhmann 26 Lukacs 10, 31, 34, 87-93, 94, 99, 101, 102, 155, 157, 164, 165, 208, 318, 343, 345, 347, 349, 353, 379 Luther 360 Lykurg 83 Mach 281 Machiavelli 4, 160, 170, 185, 187, 189, 201, 202, 217, 218, 221, 283, 287, 311, 312, 320, 323 Mackenzie 193 Mackintosh 193 Märcker 236, 237 Maier, H. 41, 315, 318, 320, 321 Maihofer 361 Maistre 138, 139 Majer 241 O'Malley 61, 282, 283, 286 Mandeville 104 Marcic l Marck 240 Marcuse 3, 10, 24, 25, 31, 44, 73, 100, 108-115, 120, 122, 207, 208, 255, 292, 300, 344 Mario 174 Marquard 225, 346, 369-372, 373, 374, 376, 378 Martin 4, 125, 218 f. Marsch 360 Marx 2, 3, 15, 18, 19, 20, 21, 26, 30, 33, 34, 36, 37, 43, 44, 45, 56f., 58-74, 77, 81, 86, 90, 91, 95, 98, 99, 101, 103, 113, 114, 115, 117, 120, 121, 122, 128, 140, 143, 181, 182, 190, 197, 206, 209, 220, 251, 252, 264, 269, 280, 287, 296, 302, 319, 325, 343, 348, 349, 355, 360, 378, 379, 386 Masaryk 240 Massolo 92 Maurer 58, 96, 98, 109, 112, 209, 225, 240, 245, 337, 355-369, 374, 379, 382 Mayer 22, 36, 39, 68
401
Maximilian II. 183 McGovern 204 McLellan 22, 60, 62, 65, 368 McTaggart 193 Meinecke 4, 15, 125, 178, 182, 183-186, 189, 190, 191, 192, 197, 213, 214, 216, 224, 240, 244, 246, 247, 248, 249, 253, 254, 295, 335 Melanchthon 315 Mercier 271 Merlan 326 Merleau-Ponty 93 Metternich 265 Metzger 240 van der Meulen 275, 280 Michelet 4, 15, 17, 20, 21, 22, 61, 76, 127, 224, 233, 234-239 Mill, J. S. 200, 225, 297 Mill, J. 69 Möller van den Brück 220 Mohl 137, 140 Mohler 169 Montesquieu 25, 109, 137, 249, 287 Moog 16, 17, 21 Moser, F. C. 353 Moser, J. J. 241,249,353 Mozart 234 Müller, A. 148, 174, 220 Müller, G. E. 210, 286 Muirhead 193 Mure 282,286 Mussolini 259 Napoleon 94f., 97, 99, 128, 137, 188, 201, 216, 295, 339, 355 Natorp 148 Nauwerk 39 Neffzter 261 Negri 92, 347 Negt 116, 174, 175 Neher 36, 39 Nerrlich 46 Nicolai 173 Niethammer 271, 365, 366 Nietzsche 217, 218, 219, 285, 349 Noack 235 Nohl 88, 350 Nusser 97, 314, 318, 342, 343 Octavius 221 Oelsner 271 Oetinger 353
402
Personenregister
Ritter 4f., 15, 25, 77, 78, 85, 86, 120, 137, 139, 225, 254, 277, 299-346, 347, 348, 352, 354, 357, 358, 369, 370, 374, 379, 384 Ritterbusch 173 Paine 25, 193, 199, 200 Rößler 3, 15, 21, 23, 120, 124, 125, 135, Parmenides 301 136-142, 143-149, 151, 154, 169, 171, Paulus 35 175, 177, 186, 188, 198, 210, 223, 236, Pelczynski 198, 201, 225, 269, 281, 239, 302 286-290, 291, 293, 294, 306, 339 Rohrmoser 89, 92, 97, 225, 240, 336, Peperzak 92, 347, 350 347-354, 355, 357, 358, 359, 360f., 362, Perikles 328 369, 374, 378, 382 Pestalozzi 228 Rosenberg, A. 114,207,208,220 Picht 326, 328, 330 Rosenberg, H. 36, 77, 78, 86 Pieper 326 Rosenkranz 4, 5, 11, 15, 16, 17, 20, 21, Plamenatz 4, 125, 192, 201-203, 298 22, 40, 43, 57, 76, 78, 86, 88, 127, 143, Planck 174 224, 226-234, 237, 238, 239, 240, 241, Plato 83, 101, 116, 137, 200, 205, 206, 242, 251, 261, 264, 267, 275, 283, 287, 209, 216, 264, 270, 276, 279, 325, 327, 292, 294, 295, 299, 301, 302, 304, 318, 328-330, 336 343, 361, 384 Plenge 150, 186, 198, 220, 240 Rosenzweig 4, 10, 125, 165, 170, 171, 178, Ploetz 220 182, 188f., 224, 230, 239-246, 250, 251, Pöggeler 272, 346 261, 263, 276, 283, 299, 337, 347, 362, Popitz 43, 60, 66 385 Popper 4, 15, 113, 124, 125, 148, 187, Rossi 17, 61, 92, 93 204-210, 211, 212, 218, 219, 220, 221, Rothfels 256 284, 288 Rotteck 37, 75 Prantl 126 Rottleuthner 173, 174, 175 Prutz 22 Rousseau 25, 59, 88, 131, 137, 156, 160, Pütter 220 162, 169, 190, 241, 251, 252, 254, 276, Pufendorf 310, 320 287, 288, 290, 291, 296, 298, 310, 311, Puntel 9, 356 319, 321 Royce 193, 282, 285 Quäbicker 227 Rubel 61, 63 Rabaut de Saint-Etienne 271 Rüge 2, 15, 17, 20, 33, 34, 35-43, 44, 45, Ranke 125, 182f., 184, 185, 186, 189, 191, 46, 47, 57, 58, 59, 63, 68, 69, 70, 73, 74, 224, 244, 254 75, 76, 77, 78, 80, 81, 86, 106, 107, 127, Rawidowicz 46, 55, 56 128, 134, 135, 136, 191, 227, 228, 229, Reichelt 24, 172 231, 234, 265, 302, 368, 376, 383, 386 Reinhard 271 Russell 204 Remusat 261 Renan 261 Sabine 4, 15, 114, 125, 192, 193, 195, Reuter 55 196 f. Reyburn 193, 247 Saint-Simon 310 Reynaud 261 Sandberger 17, 353 Ricardo 318 Sarlemijn 280 Riedel 7, 8, 59, 70, 315, 318, 319, 320, Saß 225, 240, 375f., 378 325, 329, 332, 334, 346, 352, 353, 367 Satre 93 Riedl 282 Savigny 149, 254, 274 Riehl 174 Say 318 Ringeling 319 Scheidler 37, 46, 74f., 81, 82, 213, 230, Ritchie 193 234 Oppenheim 21, 135 Orwell 145, 177 Ottmann 222, 333, 356, 372
Personenregister Scheit 92, 272, 312, 350, 353, 354, 367, 382, 383 Schelling 128, 158, 244, 352, 358 Schelsky 319 Scherer 261 Scheuner 315 Schiller 35, 78, 106, 147, 148, 200, 234 Schlegel, F. 78, 138, 139 Schleiermacher 77, 78, 148, 150 Schlözer 36 Schmidt, A. 44, 46, 52, 53, 56, 58, 122 Schmidt, F. J. 143 Schmidt, F. W. 116 Schmidt, G. 364, 367 Schmidt, H. 306, 307 Schmidt, W. 125, 154, 168-182, 342 Schmitt, C. 114, 173, 186, 207, 220, 371 Schmitz l Schmolz 306, 307 Schneider 353 Schön 226 Schönfeld 125, 154, 168-182 Scholz 148 Schopenhauer 208 Schröter 218 Schubarth 74 Schüler 78, 88, 350 Schuffenhauer 44 Schulze 271, 274 Schwarz 357 Seeberger 299 Seneca 328 Sibree 295 Simon 183 Sinclair 271 Smith, A. 162, 318, 342 Smith, C. I. 294 Smith, J. E. 284 Snider 281 Sodeur 240 Sokrates 8, 175, 205, 216, 269, 309 Soll 286 Solon 83 Sontheimer 169 Sophokles 183 Spann 125, 154, 168-182 Spengler 218 Spinoza 52, 216, 237, 311, 312, 315, 323, 332, 352, 391 Spranger 125, 149, 152, 247 Stace 247 Stahl 21, 74, 83, 105, 189, 231
403
Stallo 281, 282 Steding 220 Stein, K. Fhr. vom und zum 241, 265, 267, 273 Stein, L. v. 137, 140, 190 Stenzel 169, 170, 171, 172, 176, 177, 178, 179 Steuart 318 Stirling 192, 193 Stirner 20, 39, 43, 53, 69, 269 Stöcker 208 Sträter 235 Strauß, D. F. 16f., 19, 20, 30, 39, 43, 46, 76, 234, 281 Strauß, H. 36, 42 Stuke 21, 35 Süsser 152 Sulz 149 Sulzer 315 Suter 288 Sykes 256 Taine 261 Taylor 225, 281, 290, 296-299, 306 Teichmüller 329 Thaulow 88 Themistokles 59 Theseus 237 Theunissen 9, 17, 78, 85, 113, 206, 225, 240, 243, 244, 245, 246, 336, 346, 358, 369, 378-387 Thomasius 320 Tillich 169 Toennies 24 Topitsch 4, 15, 124, 125, 137, 146, 153, 205, 210-215, 219, 220, 244, 266 Travis 287 Treitschke 186, 189, 219 Trescher 240, 249 Trott zu Solz 224, 247, 256-259, 261, 266, 295, 299, 312 Tucker 72 Twesten 78 Uexküll 293 Ulrich 274 Vacher de Lapouge 220 Vamhagen 22 Vaughan 4, 125, 192, 195 f. Vera 261 Verene 294
404
Personenregister
Vermeil 261 Vico 251, 321, 334 Voegelin 336 Vogel 125, 182, 190f., 302 Volney 271 Voltaire 219,249 Wagener 20 Wagner 136, 208 Wahl 54,261 Walch 321 Wallace 193 Walsh 286 Walter 329 Walz 173 Watson 193 Weber, A. 148 Weber, M. 291 Weil 148, 202, 225, 240, 245, 262-268, 269, 270, 271, 273, 274, 289, 290, 292, 294, 300, 306, 312, 314, 315, 339, 354, 362, 367, 385 Weiss 283, 286, 325 Welcker 37, 75 Wellmer 120
Wenke 247, 353 Wette 274,283,292,300 Widmann 333 Wieland 36 Wigersma 153, 171, 172, 173 Wilhelm I. 237f. Willich 281 Willm 261 Willms 26 Windelband 126, 325 Windischmann 271 Wirth 231 Wittgenstein, L. 296, 298 Wittgenstein, W. L. Graf v. 292 Woellner 40 Wolf 92, 350 Wolff 7, 306, 315, 333 Wundt 153,168,169,211 Xenophanes 328, 335 Zeller 126 Ziegenfuß 143 Ziegler, L. 148 Ziegler, Th. 150
Sachregister Ästhetik 40, 84, 106 Akkommodation -, als Anpassung an das „restaurative" Preußen von 1821 (pro und contra) 35ff., 80, 221, 231, 237, 248, 262ff., 267, 268ff., 285ff., 291, 360 -, als moralischer Vorwurf 38, 40, 59, 79f., 86, 199, 237 -, psychologisch erklärt 79, 86, 255 f. -, als „Lüge des Prinzips" und Systems 40ff., 59f., 65ff., 80ff., 112f., 121, 179, 243ff., 293, 353f., 358f., 385f. Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten 241 f. Anthropotheismus 43ff., 75, 93ff., 107 Beamtenschaft 38, 240f., 291 Berufswahl, freie 284 Bourgeois-Citoyen 58ff., 64., 181, 319 Bürgerliche Gesellschaft 25f., 63ff., 70, 120, 132f., 140f., 180ff., 228f., 287, 290f., 301 ff., 319ff., 338ff. Burschenschaften 198, 199, 206, 208, 283, 292, 295, 297, 300 Dialektik -, von Ganzem und Teil 9 ff. -, als Leerformel 211 f. -, negative 115 ff. -, regressive 369ff. -, relationalistische 70f., 297ff. - und Widerspruch 65f., 209f., 279f. Differenzargument 183, 202, 230f., 241, 267, 275, 283, 297 Emanzipationsphilosophie 29ff., 43ff., 93ff., 103, 106f., 111, 119, 378ff. Ende der Geschichte 92, 93ff., Ulf., 245f., 293, 297, 354, 355ff., 268f., 286f. England (als Vorbild) 105, 238, 241f., 285 Entzweiung -, einseitig ökonomisch und sozio-politisch 70ff., 87ff., 338ff. -, einseitig theologisch 156 ff.
-, theologisch-politisch (siehe „dieologischpolitische Deutung") —, auch philosophisch (und in allen Formen des absoluten Geistes) 385ff., 392 Französische Revolution 25, 63, 73, 95, 102, 111, 136, 139ff., 155ff., 171, 215, 237, 241, 254, 268, 271, 287f., 301, 338ff., 365 Freimaurerei 271 ff. Geschichtsphilosophie 84, 182ff., 201, 251 ff., 375ff., 381 Gewaltenteilung 164, 223, 241, 375 Gewissen 40 f., 83, 108, 130f., 145f., 150f., 165ff., 172f., 175, 185, 200, 219, 250, 256ff, 265, 283, 284, 312, 376 Göttlichkeit (und Staatsvergottung) 35, 75, 82f., 150, 161, 185, 189, 194, 199, 203, 204, 221, 250, 275ff., 299, 301 ff., 327 Haus (-Wirtschaft) (Oikos) 132, 316ff. Herr und Knecht 93ff. Historische Rechtsschule 105, 113, 139, 142, 145, 148, 185, 254, 295 Historizismus 75, 113, 147, 163, 194, 201, 213, 216, 217, 219, 222, 295 Identität von Vernunft und Wirklichkeit 27ff., 80ff., lOlf., 106, 163, 194, 209ff., 212ff., 229f., 243ff. Kirche und Staat 36ff., 199, 230, 232, 241, 263f., 360ff., 373 Konservatismus 21f., 81, 83, 102, 105, 195ff., 200, 216, 229, 254ff., 284, 299 Kontinuitätsargument 179, 230, 240f., 283 Kriegslehre 105, 128, 146ff., 150f., 177, 191, 192, 195, 200, 206f., 217, 269, 285, 289, 293f., 297, 311,312,323 Kulturstaat 129, 181, 184ff., 188, 231, 247, 248, 254 Liberalismus 21f., 36, 74ff., 135, 137ff., 151, 160, 198ff., 203, 215, 236, 289, 290, 297, 315
406
Sachregister
Machiavellismus 4, 160,170, 185,187,189, 201f., 217, 218, 221, 283, 287, 311f., 323 Machtstaat 111, 143ff., 159f., 186ff., 192ff., 214ff., 218ff., 248, 265f. Majorate 39, 41, 68, 105, 128, 134, 373 Marionettentheorie 28, 182ff., 217, 244, 247-260, 335 Menschen- und Bürgerrechte 63ff., 73, 173f., 202, 219, 231, 238, 265, 269, 278, 284f., 291, 297, 310ff. Monarchie (konstitutionelle, Erb-) 61, 83, 105, 113, 221, 223, 226, 229, 231, 233, 237f., 269, 284, 285, 289, 291, 383ff. Mythos (technomorpher und ekstatischkathartischer) 213 f. Nationalismus 128, 133f., 143, 146f., 159, 187f., 192, 194ff., 198, 200, 202, 203, 206, 217f., 236ff., 247, 262, 266, 287, 294ff., 297 Nationalökonomie 67, 318 Nationalsozialismus 113 f., 165, 168-182, 204-223, 248, 292 Naturrecht (klassisches und seine Veränderungen bei Hegel) 7f., 130, 141, 145, 162, 164, 171 f., 202, 218f., 270, 290f., 306 ff.
Säkularisierung 95,97f., 106f., 245,262ff., 353f., 358ff., 363ff., 384ff. Sittlichkeit (und ihre Stellung zu Moralität und Recht) 71f., 130f., 165ff., 154, 175, 190, 270, 290f., 306ff., 320ff. Sollenskritik 40, 74, 108, 151, 177, 199, 369ff. Spekulative Aufhebung des Christentums 84, 245f., 262ff., 353f., 358ff., 363ff., 384 ff. Ständelehre 39, 156, 164, 167f., 173f., 222, 231 f., 240, 242, 298, 374 System —, reaktionäres versus progressive Methode 81, lOOff. —, totales, „abgeschlossenes" 38, 40ff., 48 ff., 59 ff., 80 ff., 116 ff., 292 f., 358 ff.
Theologisch-politische Deutung 242ff., 250, 262ff., 347ff., 360ff., 378ff. Theorie -, antiquarische 104 ff. —, archäologische 380 ff. -, eschatologische 3 80 ff. -, indirekt praktische 366f., 376ff., 380f. -, klassische, reine (und deren Verwandlung bei Hegel) 7f., 43, 301ff., 324ff., 327ff. -, kritische 40, 44, 60ff., 86, 108ff. Toleranz, religiöse 272, 284, 364 Öffentlichkeit 83, 84, 222, 228, 230, 237, Trennung von absolutem und objektivem Geist 82, 105, 161, 217, 233, 235, 248, 241, 284, 375 250, 275, 286, 293, 365 ff., 383 ff. Offene Gesellschaft l, 205 Organismus - Vergleich 126ff., 138, 217, Unterstützung der politisch Verfolgten 259, 278f., 298 273f., 283, 292, 300f. Ursprungsphilosophie 29ff., 48, 91f., Partei 22, 227 102ff., 111, 119f., 335 Pietismus 353 Verdinglichung (Positivität) 89ff., 209, Politischer Protestantismus 36ff., 201, 348 ff. 243ff., 250, 262ff., 360ff., 376, 382f. Pressefreiheit 40, 199, 200, 232, 238, 274 Verfassung 127, 128, 222f., 255, 375 Vertragstheorien (Kritik der) 131,162,190, 241, 288, 312ff. Quietismus 41, 75, 81, 196, 256, 266, 293, Völkerrecht 147f., 151f., 177, 191, 194, 299 257ff., 269, 312, 323 Volksgeist 104, 105, 109, 175, 236, 249f., Rassismus 175f., 202, 206ff., 292, 297 254, 295, 298, 310 Rechtsstaat 73, 131, 233ff., 238, 265, 269, Volksstaat (totaler) 169 ff. 278, 282, 285, 286f., 291, 297, 312ff., 375 Wahl 39, 128, 223, 238, 298 Restauration 80ff., 128, 138ff., 199,265ff., „ Wirklichkeits-Existenz"- Argument 81, 274, 3CÜff. 105, 197ff., 213, 216f., 229f., 234, 247, Romantik 4, 8, 35, 84, 102f., 137f., 185, 250, 265, 275, 285, 287, 293, 297 206, 254, 276, 296, 303, 317, 351
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Fallgesetz und Massebegriff Zwei wissenschaftshistorische Untersuchungen zur Kosmologie des Johannes Philoponus Groß-Oktav. X, 159 Seiten. 1971. Ganzleinen DM36,ISBN3 11 006428 6 (Band 2)
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Metaphysische und transzendentale Dynamik in Kants opus postumum Groß-Oktav. XII, 224 Seiten. 1971. Ganzleinen DM54,ISBN3 11 001889 6 (Band 3)
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Methodo scientifica pertractatum Mos geometricus und Kalkülbegriff in der philosophischen Theorienbildung des 17. und 18. Jahrhunderts Groß-Oktav. VIII, 170 Seiten. 1971. Ganzleinen DM 72,ISBN3 11 003942 7 (Band 4)
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Substanz und Qualität Ein Beitrag zur Interpretation der platonischen Traktate VI l, 2 und 3 Groß-Oktav. XII, 294Seiten. 1973. Ganzleinen DM68,ISBN3 11 0018995 (Band 5)
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Der Begriff des Empirismus Erkenntnistheoretische Studien am Beispiel John Lockes Groß-Oktav. XII, 283 Seiten. 1973. Ganzleinen DM68,ISBN 3 11 004133 2 (Band 6)
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Das Absolute und die Wirklichkeit in Schellings Philosophie Mit der Erstedition einer Handschrift aus dem Berliner Schelling-Nachlaß Groß-Oktav. VIII, 288 Seiten und 3 Abbildungen auf Kunstdruck (davon 2 Ausschlagtafeln). 1974. Ganzleinen DM 108,ISBN3 11 004329 7 (Band 7) Preisänderungen vorbehalten
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Kritik und Praxis Zur Geschichte des Kritikbegriffs von Kant bis Marx Groß-Oktav. X, 302 Seiten. 1975. Ganzleinen DM92,ISBN3 11 004604 0 (Band 8)
R. Stuhlmann-Laeisz
Kants Logik Eine Interpretation auf der Grundlage von Vorlesungen, veröffentlichten Werken und Nachlaß Groß-Oktav. VIII, 123 Seiten. 1976. Ganzleinen DM52,ISBN 3 11 005840 5 (Band 9)
M. Bartels
Selbstbewußtsein und Unbewußtes Studien zu Freud und Heidegger Groß-Oktav. X, 200 Seiten. 1976. Ganzleinen DM78,ISBN 3 11 005778 6 (Band 10)
A. Sarlemijn
Hegelsche Dialektik Groß-Oktav. X, 206 Seiten. 1971. Ganzleinen DM58,ISBN3 11 001838 X
J. Ringleben
Hegels Theorie der Sünde Die subjektivitäts-logische Konstruktion eines theologischen Begriffs Oktav. 300 Seiten. 1977. Ganzleinen DM 76,ISBN 3 11 006650 5 (Theologische Bibliothek Töpelmann, Band 31)
E. Schmidt
Hegels System der Theologie Oktav. X, 210 Seiten. 1974. Ganzleinen DM54,ISBN3 11 004463 3 (Theologische Bibliothek Töpelmann, Band 26)
K. Hanmann (Hrsg.)
Die ontologische Option Studien zu Hegels Propädeutik, Schellings Hegel-Kritik und Hegels Phänomenologie des Geistes Mit Beiträgen von F. Schneider, Klaus Brinkmann und R. Aschenberg. Groß-Oktav. VIII, 312 Seiten. 1976. Ganzleinen DM 78,ISBN 3 11 006813 3 Preisänderungen vorbehalten